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Glossar der Stammgruppen und Unterarten

 

  • Canis-Proles Hundeabkömmling

  • Feles-Proles Katzenabkömmling (beinhaltet auch Großkatzen)

  • Vulpes-Proles Fuchsabkömmling

  • Dama-Proles Rehabkömmling

  • Capella-Proles Ziegenabkömling

  • Meles-Proles Marderabkömmling

  • Ursus-Proles Bärenabkömmling (Waschbären)

  • Simia-Proles Affenabkömmling (Schimpansen/ Kapuziner Äffchen)

  • Sciurus-Proles Eichhörnchenabkömmling (beinhaltet auch Ratten und Mäuse)

  • Lacerta-Proles Echsenabkömmling

 

Stammgruppe: Vulpes-Proles

Unterart: Amph

Abstammung: Fuchs

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 85 bis 160 Zentimeter (mit Schwanz 137 bis 189 Zentimeter), Widerrist von 77 bis 95 Zentimeter.

Gewicht: 55 bis 86 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Kobaltblaues Fell mit Schattierungen von Schwarz. Der Körperbau ist mit dem des Rotfuchs nahezu identisch.

Charakter: Leise, tückisch.

Merkmale: Weißes Sternenzeichnung auf der Stirn.

Lebensdauer: Der älteste bekannte Amph wird seit neun Jahren in der Forschungsstation Historia beherbergt. Er wird auf ein Alter von mittlerweile zwölf Jahren geschätzt. Es ist nicht abzusehen, wie sich das Derivat-Gen auf den weiteren Alterungsverlauf auswirkt.

Verbreitung: Sehr häufig

Verbreitungsgebiet:  Nord- und Südamerika, Europa und Afrika. 

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Stammgruppe: Meles-Proles

Unterart: Arbor

Abstammung: Es wird davon ausgegangen, dass der ursprüngliche Stammesvater zu den marderartigen Tieren gehörte.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 48 bis 72 Zentimeter (mit Schwanz 92 bis 124 Zentimeter), Widerrist von 30 bis 42 Zentimeter.

Gewicht: 0,8 kg bis 1,7 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Das Deckfell des Körpers ist bei einem rosa Ton angesetzt, mit gelben Schattierungen. Bauch und Schwanz dagegen sind rein gelb. Der Körperbau ähnelt dem eines Maders. Der knöcherne, gezackte Schild am Kopf ist eine Verlängerung des Schädels, hinter dem die kleinen, runden Ohren versteckt sind. Bei den Männchen färbt sich der Schild bei der Werbung um die Partnerin dunkelrot. Der lange Schwanz ist sehr kräftig und dient zum Klettern und festhalten (er schläft mit dem Kopf nach unten hängend in einem Baum). In der spitzen Schnauze verbergen sich messerscharfe Zähnchen. Der Arbor verständigt sich durch Zirp Laute.

Charakter: Der Arbor ist äußerst aggressiv, sobald jemand in die Nähe seines Schlafbaums kommt.

Merkmale: Nachaktiv. Greift er an, geht er immer direkt auf die Augen, und frisst sich anschließend mit den scharfen Krallen, und den spitzen Zähnchen in den Körper hinein. 

Lebensdauer: Der älteste bekannte Arbor wurde neun Jahre in der Forschungsstation Historia beherbergt, bevor er verstorben ist. Nach den erlangten Erkenntnissen, wird davon ausgegangen, dass er eine ungefähre Lebenserwartung von zwölf Jahren hat. 

Verbreitung: sehr selten

Verbreitungsgebiet: Er ist in Süd- und Nordamerika beheimatet, wurde aber auch bereits in Europa gesichtet. 

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Stammgruppe: Capella-Proles

Unterart: Beccus

Abstammung: Untersuchungen belegen, dass der Beccus ursprünglich von der allgemeinen Hausziege abstammt.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 120 bis 152 Zentimeter (mit Schwanz 220 bis 237 Zentimeter), Widerrist von 57 bis 70 Zentimeter.

Gewicht: 12 bis 17 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Ein Beccus ist „großrahmig“ und hat einen langen, buschigen Schwanz. Der Kopf ist etwas länger als breit, und geht hinüber in eine Schnauze mit schnabelartiger Hornspitze. Die Augen stehen weit auseinander, und die Ohren sind am Ansatz groß und breit, und sehr langt. Das weißbraune Fell ist wasserabweisen, und schütz den Beccus auch im tiefsten Winter vor der schlimmsten Kälte.

Charakter: Ruhig. Äußerst intelligent. Rudeltiere.

Merkmale: Die drei hornartigen Auswüchse am Kopf sind neben den scharfen Krallen das wohl auffälligste Merkmal an dem Beccus.

Lebensdauer: Ein Beccus hat eine Lebenserwartung von fünf bis sieben Jahren.

Verbreitung: Normal

Verbreitungsgebiet: Süd- und Nordamerika, Europa. 

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Stammgruppe: Canis-Proles 

Unterart: Candir

Abstammung: Hund

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 182 bis 217 Zentimeter (mit Schwanz 269 bis 303 Zentimeter), Widerrist von 97 bis 105 Zentimeter.

Gewicht: 204 bis 236 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Der Candir ist ein Hundeabkömmling in reinweiß. An den vorderen Beinen hat er einen extrem langen Behang, der sich auf Körper und Rute fortführt. Obwohl er eindeutig die Körperform eines Golden Retrievers aufweist, wird er Umgangssprachlich aufgrund seiner Farbe und Größe oft als der Eisbär unter den Proles bezeichnet. Aufgrund von Kugelgelenken ist der Candir fähig sich wie ein Bär auf zwei Beinen zu halten und seine Vorderpranken als Waffe einzusetzen, doch durch die hängenden Ohren kann er nicht gut hören.

Charakter: Höchst aggressiv. Außergewöhnliche Intelligenz.

Merkmale: zu 90 Prozent kommt der Candir taub zur Welt, doch aufgrund seiner Sehschärfe beeinträchtigt ihn das nur wenig. Der Candir lebt monogam und geht mit dem Tod seines Partners ein.

Lebensdauer: Der älteste bekannte Candir wird seit 17 Jahren in der Forschungsstation Historia beherbergt. Er wird auf ein Alter von mittlerweile 21 Jahren geschätzt. Es ist davon auszugehen, dass er noch zu den ersten Abkömmlingen gehört, die aus der Forschungseinrichtung bei Riverton, Wyoming in den USA in der Nähe vom Yellowstone National Park entkommen sind. Es ist nicht abzusehen, wie sich das Derivat-Gen auf den weiteren Alterungsverlauf auswirkt.

Verbreitung: Selten

Verbreitungsgebiet:  Der Candir ist höchst Anpassungsfähig und mittlerweile auf jedem Kontinent zu finden. Dieses Proles scheut weder heißes Klima noch arktische Kälte.

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Stammgruppe: Feles-Proles

Unterart: Cascus

Abstammung: Der Urvater des Cascus ist die allgemeine Hauskatze.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 47 bis 52 Zentimeter (mit Schwanz 74 bis 77 Zentimeter), Widerrist von 29 bis 33 Zentimeter.

Gewicht: 3 bis 5 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Der Cascus ist ein sehr schlankes, muskulöses Proles. Der Cascus zeichnet sich durch seine extrem langen Beine aus. Die Grundfarbe des Fells ist ein tiefes Schwarz, das nur um das Gesicht, Nacken und Hals durch langes, weißes Haar abgesetzt ist. Der kleine Kopf wirkt in dieser Fülle klein und zierlich.

Charakter: Ausgeprägtes Sozialverhalten untereinander.

Merkmale: Giftig, extrem schnell. Ist immer in einem großen Rudel unterwegs.

Lebensdauer: Ein Cascus hat eine Lebenserwartung von fünf bis sieben Jahren

Verbreitung: normal

Verbreitungsgebiet:  Süd- und Nordamerika, Europa.

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Stammgruppe: Dama-Proles

Unterart: Dorcas

Abstammung: Reh

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 93 bis 140 Zentimeter (mit Schwanz 147 bis 224 Zentimeter), Widerrist von 54 bis 84 Zentimeter.

Gewicht: 28 bis 34 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Das Dorcas ist ein Paarhufer mit schwarzem Fell, das im Gesicht mir einer blauen Maske abgesetzt ist. Größe und Form sind beinahe identisch mit einem Capreolus (Reh). Der abstehende Rückenkamm dient bei dieser Rasse als Erkennungszeichen, dessen Enden sich in der Paarungszeit auch blau färben. Die männlichen Abkömmlinge dieser Art tragen ein dreiendiges Geweih, das mit Giftdrüsen ausgestattet ist. Die Ohren lassen sich in alle Richtungen drehen.

Charakter: Neugierig und sowohl einzeln als auch in Gruppen von mehreren Tieren unterwegs.

Merkmale: Nur die männlichen Vertreter dieser Gattung sind giftig.

Lebensdauer: Ein Dorcas hat eine Lebenserwartung von zehn bis zwölf Jahren

Verbreitung: Normal

Verbreitungsgebiet: Das Dorcas ist eine Prolesgattung, die sich in Europa entwickelt hat und auch nur dort beheimatet ist. 

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Stammgruppe: Canis-Proles

Unterart: Iuba

Abstammung: Es wird davon ausgegangen, dass der ursprüngliche Stammesvater ein Hund war.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 103 bis 132 Zentimeter (mit Schwanz 160 bis 190 Zentimeter), Widerrist von 70 bis 90 Zentimeter.

Gewicht: 81 kg bis 103 kg

Farbe und Aussehen: Schwarz, Weiß, gestreift, und alle Grautöne dazwischen. Der Körperbau ähnelt dem eines Deutschen Schäferhundes. Neben dem dunkelgestreiften Kopf, dem kleinen Ziegenbart, und dem längeren Fell, ist die löwenartige Mähne, die windgeschnitten nach hinten verläuft, das auffälligste Merkmal am Iuba. Er hat einen sehr langen Schwanz (der Körperlänge entsprechend), um beim Klettern das Gleichgewicht halten zu können. Lange Ohren, die in der Mähne leicht untergehen.

Charakter: Der Iuba ist wohl der einzige bekannte Proles, der mit der Aufzucht seiner Jungen das Rudel vergrößert. Außerdem ist er sehr Intelligent, ruhig, und höchst aggressiv.

Merkmale: Tagaktiv. Nachtblind. Kugelgelenke.

Lebensdauer: Der älteste bekannte Iuba wird seit dreizehn Jahren in der Forschungsstation Historia beherbergt. Er wird auf ein Alter von mittlerweile sechzehn Jahren geschätzt. Es ist nicht abzusehen, wie sich das Derivat-Gen auf den weiteren Alterungsverlauf auswirkt.

Verbreitung: Häufig

Verbreitungsgebiet: Zu weiten Teilen in Südamerika und Europa. Auch in Südostasien wurden bereits mehrere Rudel gesichtet.

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Stammgruppe: Ursus-Proles

Unterart: Krant

Abstammung: Studien belegen, dass der Krant ursprünglich vom Waschbären abstammt.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 100 bis 130 Zentimeter (mit Schwanz 160 bis 190 Zentimeter), Widerrist von 70 bis 90 Zentimeter.

Gewicht: 90 bis 155 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Ein schmaler, schwarzer Schädel mit den hornartigen Knochenauswüchsen am Hinterkopf. Die schwarze Färbung zieht sich vom Kopf über die Brust bis hinunter zum Bauch, und geht dann allmählich in das orangerote, lange Deckfell über. Durch seine außergewöhnliche Färbung wird er oft als Sonnenuntergangstier bezeichnet. Kräftiger, kurzer Körper mit langen stämmigen Beinen.

Charakter: Im Rudel sehr sozial.

Merkmale: Holkrallen, die durch Drüsen mit Gift versorgt werden. Das Gift lähmt die Beute

Lebensdauer: 4 bis 6 Jahre

Verbreitung: Sehr häufig

Verbreitungsgebiet:  Durch seine enorme Anpassung, ist der Krant bereits in jedem Teil der Welt zu finden. 

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Stammgruppe: Feles-Proles

Unterart: Lyvara

Abstammung: Der Urvater des Lyvara ist die allgemeine Hauskatze.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 189 bis 212 Zentimeter (mit Schwanz 201 bis 223 Zentimeter), Widerrist von 97 bis 105 Zentimeter.

Gewicht: 192 bis 242 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Der Lyvara gleicht in der Körperform einem Luchs. Auch die charakteristischen Ohrpinsel sind vorhanden, doch in der Größe ist er seinen Artverwandten weit überlegen. Das längliche Fell des Lyvara ist von einem tiefen Rot, durch das sich auf dem ganzen Körper schwarze Streifen wie bei einem Zebra ziehen. Auch die kurze Schnauze des Lyvara ist von einem tiefen Schwarz.

Charakter: Höchst aggressiv. Rudeltier.

Merkmale: Das Auffälligste am Lyvara ist das Streifenmuster.

Lebensdauer: Der älteste bekannte Lyvara, ein Abkömmling der ersten Generation, wird seit dreiundzwanzig Jahren in der Forschungsstation Historia beherbergt. Er wird auf ein Alter von mittlerweile siebenundzwanzig Jahren geschätzt. Es ist nicht abzusehen, wie sich das Derivat-Gen auf den weiteren Alterungsverlauf auswirkt.

Verbreitung: selten

Verbreitungsgebiet:  Nord- und Süd Amerika, Europa, und zu kleinen Teilen Asien.

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Stammgruppe: Canis-Proles 

Unterart: Majes

Abstammung: Trotz seiner filigranen Statur, wird davon ausgegangen, dass er ursprünglich von einem Hund abstammt.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 80 bis 92 Zentimeter (Besitz nur einen Stummelschwanz), Widerrist von 72 bis 86 Zentimeter.

Gewicht: 63 bis 90 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Sehr schmaler Körperbau mit einem ausgeprägtem Brustberiech. Vom Kopf über den Rücken bis hinunter zu seinem Stummelschwanz zieht sich ein schwarzer Streifen. Der Rest seines Pelzes ist eine Mischung aus grauem und blau meliertem Fell.

Charakter: Die Männchen sind Einzelgänger, und gesellen sich nur in der Paarungszeit zu den Gruppen der Weibchen, die zumeist aus 3-7 Proles bestehen. Er ist tagaktiv, und hält sich bevorzugt in bewohnten Gebieten auf.

Merkmale: Blaue Nase, blaue Hohlkrallen. Das Gift des Majes zersetzt seine Beute von innen heraus.

Lebensdauer: 4-7 Jahre

Verbreitung: Häufig

Verbreitungsgebiet: Der Majes ist bereits bis in weite Teile von Asien vorgedrungen, hält sich aber vorzugsweise in wärmeren Gebieten auf. 

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Stammgruppe: Sciurus-Proles

Unterart: Minor

Abstammung: Aufgrund der Größe und der Lebenserwartung, wird davon ausgegangen, dass der Minor von Ratten abstammt.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 19 bis 29 Zentimeter (mit Schwanz 24 bis 35 Zentimeter), Widerrist von 12 bis 16 Zentimeter.

Gewicht: 0,17 bis 0,52 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Der Minor geht durch die Farbskala von brauntönen, über gelb bis hin zu rot. Seine Hinterbeine sind kräftig, und verhältnismäßig lang. In den Vorderpfoten befinden sich Drüsen, über denen er Gift abgeben kann, dass seine Beute über die Haut aufnimmt, und lähmt. Wird ein Mensch attackiert, so sollte er schnellstens einen Arzt aufsuchen, da es sehr schnell zu Ausfällen des Nervensystems und Teillähmung kommen kann.

Charakter: Listig und nachtaktiv.

Merkmale: Aufgrund seiner Größe wurden Minornester bereits an den unzugänglichsten orten entdeckt. Es ist auch schon vorgekommen, dass sie über Lüftungsschächte und Toilettenabflüsse in Wohnräume eingedrungen sind. Der Minor ist sehr flink und wendig, und es empfiehlt sich ihn mit Fallen, oder Feuerwerfern zu eliminieren, da er ein sehr kleines Ziel abgibt. Er ist fähig durch einen Sprung das 10-fache seiner Körpergröße zu überwinden.

Lebensdauer: 2-3 Jahre

Verbreitung: Selten

Verbreitungsgebiet:  Der Minor ist auf Süd und Nordamerika, Europa, Asien und Afrika zu finden.  

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Stammgruppe: Capella-Proles

Unterart: Oryx

Abstammung: Aufgrund der Beschaffenheit des Körpers, der Hufe, und des Geweihs wird davon ausgegangen, dass er ursprünglich von Ziegen abstammt.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 95 bis 115 Zentimeter (mit Schwanz 110 bis 135 Zentimeter), Widerrist von 70 bis 92 Zentimeter.

Gewicht: 27 bis 42 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Der Oryx hat eine einheitlich violette Haarfärbung. Hufe und Halskrangen sind lang behangen, der Rest des Fells ist vergleichbar eher kurz. Der Oryx hat einen Körperbau wie alle Ziegen, nur sind seine Beine verhältnismäßig lang. Auch charakteristisch ist der Ziegenbart, und die auffälligen Hörner, die dicht beieinander stehen, und dann aber V-förmig auseinander Gehen. Sie sind breit und spiralig gewunden.

Charakter: Nomaden, die in kleinen Familienverbänden durch die Gegen ziehen.

Merkmale: Die einzig bekannte Unterart der Capella-Proles.

Lebensdauer: Der älteste bekannte Oryx wird seit dreizehn Jahren in der Forschungsstation Historia beherbergt. Er wird auf ein Alter von mittlerweile sechzehn Jahren geschätzt. Es ist nicht abzusehen, wie sich das Derivat-Gen auf den weiteren Alterungsverlauf auswirkt.

Verbreitung: Normal

Verbreitungsgebiet: Nord- und Südamerika, Europa

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Stammgruppe: Meles-Proles

Unterart: Ossa

Abstammung: Aufgrund seiner Körperbeschaffenheit, wird vermutet, dass der Ossa ursprünglich von den maderartigen Tieren abstammt.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 148 bis 180 Zentimeter (mit Schwanz 167 bis 185 Zentimeter), Widerrist von 37 bis 52 Zentimeter.

Gewicht: 36 bis 52 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Von der Nase bis zum Schwanz verdunkelt sich die Fellfarbe von weiß bis zu einem dunklen Grün. Seitlich abstehende Ohren. Kurze Schnauze. Greifhände. Die Körperform kommt der eines maderartigen Tieres sehr nahe.

Charakter: Rudeltier (Familienverbände)

Merkmale: Mit seinen starken Kiefern ist der Ossa nicht nur in der Lage die Knochen seiner Beute zu zerbeißen, er verspeist sie auch, und lässt do gut wie nichts von seinen Mahlzeiten übrig.

Lebensdauer: Der älteste verzeichnete Ossa hat in der Forschungseinrichtung Historia ein Alter von neun Jahren erreicht.

Verbreitung: Häufig

Verbreitungsgebiet:  Nord- und Süd Amerika, Europa, und zu kleinen Teilen Asien. 

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Stammgruppe: Lacerta-Proles 

Unterart: Pillicula

Abstammung: Eidechse

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 17,5 bis 23,7 Zentimeter (mit Schwanz 36,2 bis 42,9 Zentimeter), Widerrist von 12 bis 18 Zentimeter.

Gewicht: 1,2 bis 2,1 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Der echsenartige Körper ist mit länglichem, beigem Fell bedeckt. Der Hals wirkt zu lang für den Körper. Unter dem knochigem Schild am Hinterkopf liegen zwei kleine Öffnungen für die Gehörgänge. Sowohl der Kopf mit den runden Knopfaugen, als auch die Beine sind nur von weißen Schuppen überzogen. Umgangssprachlich wird er auch als behaarter Drache bezeichnet.

Charakter: Ruhig und tückisch. Da er sich auf seinen kurzen Beinchen nicht schell fortbewegen kann, stellt er sich tot, um potentielle Beute anzulocken. Ansonsten gibt er sich auch mit Insekten zufrieden.

Merkmale: Bringt seine Jungen in Eiern auf die Welt, und brühtet sie aus. Rasiermesserscharfe Zähnchen, die durch Drüsen mit Gift versorgt werden.

Lebensdauer: Der älteste bekannte Pillicula wird seit vierzehn Jahren in der Forschungsstation Historia beherbergt. Er wird auf ein Alter von mittlerweile Siebzehn Jahren geschätzt. Es ist nicht abzusehen, wie sich das Derivat-Gen auf den weiteren Alterungsverlauf auswirkt.

Verbreitung: Häufig

Verbreitungsgebiet: Zumeist in warmen Gebieten auf der ganzen Welt vorzufinden. Nur selten verirrt diese Spezies sich an kältere Orte. 

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Stammgruppe: Feles-Proles

Unterart: Spuma

Abstammung: Trotz seiner Größe konnte belegt werden, dass der Spuma die allgemeine Hauskatze zu seinen Urvätern zählt.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 170 bis 250 Zentimeter (mit Schwanz 290 bis 380 Zentimeter), Widerrist von 120 bis 143 Zentimeter.

Gewicht: 170 bis 215 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Das grüne Deckhaar ist mit schwarzmelierten Streifen auf dem Rücken durchzogen. Brust und Bauchfell sind hellgrün bis weiß. Der Körperbau ähnelt dem eines Löwen, obwohl er mit seinem außergewöhnlich langen Schwaz mit einem Schneeleopard zu vergleichen ist. Für einen Proles ist der Spuma außergewöhnlich kurz behaart, nur Rücken und Schwanz zeugen von der Länge, die für jeden Proles typisch ist.

Charakter: Nachaktiv. Lebt in kleinen Familienverbänden.

Merkmale: Grüne Krallen.

Lebensdauer: Der älteste bekannte Spuma wird seit elf Jahren in der Forschungsstation Historia beherbergt. Er wird auf ein Alter von mittlerweile fünfzehn Jahren geschätzt. Es ist nicht abzusehen, wie sich das Derivat-Gen auf den weiteren Alterungsverlauf auswirkt.

Verbreitung: Selten

Verbreitungsgebiet:  Südamerika, und zu kleinen Teilen auch Europa.

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Stammgruppe: Feles-Proles

Unterart: Toxrin

Abstammung: Katze

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 80 bis 120 Zentimeter (mit Schwanz 130 bis 160 Zentimeter), Wiederrist von 50 cm bis 70 cm

Gewicht: 20 kg bis 35 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Karminrot. Schwarze Maske, schwarze Beine (kurz behaart), schwarze Schwanzspitze. Der Körperbau ähnelt der einer orientalischen Katze (Siam, Bengal, Tonkanese), was unter dem langen Fell jedoch nur schwer zu erkennen ist. Da er fast Blind ist (es wird bei der ganzen Art ein Gendefekt vermutet), benutzt er zur besseren Orientierung die großen, schwarzen Ohren. Der lange Schwanz hilft dem Toxrin beim Klettern das Gleichgewicht zu halten.

Charakter: Einer der wenigen Einzelgänger unter den Proles. Sogar der eigenen Rasse tritt der Toxrin sehr aggressiv gegenüber.

Merkmale: Hole Krallen, die durch Drüsen in den Pfoten mit Gift versorgt werden.

Lebensdauer: Der Toxrin hat nur eine geringe Lebenserwartung von etwa 5 bis 7 Jahren.

Verbreitung: normal

Verbreitungsgebiet: Der Toxrin ist auf Süd und Nordamerika, Europa, Asien und Afrika zu finden.  

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Stammgruppe: Ursus-Proles

Unterart: Virido

Abstammung: Studien belegen, dass der Virido ursprünglich vom Waschbären abstammt.

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 130 bis 190 Zentimeter (besitz einen Stummelschwanz), Widerrist von 70 bis 90 Zentimeter.

Gewicht: 130 bis 175 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Das Fell des Virido ist gelb/grün meliert. Er hat Kugelgelenke, die mit denen eines Bären zu vergleichen sind, und auch die Körperform lässt auf eine Abstammung von einem Bären schließen, doch es wurde nachweislich belegt, das der Urvater zu Gruppe der Procyonidae (Kleinbären/ Waschbären) gehören muss.

Charakter: Rudeltier. Nachtaktiv, und sehr scheu, wodurch es mit dieser Unterart nur selten zu Vorfällen mit Menschen kommt. Sie leben meist in Wäldern, und greifen nur an, wenn man in ihr Territorium eindring.

Merkmale: Ist nur ich sehr kalten Gebieten vorzufinden. Grüne hohlkrallen. Giftig (Vergiftung führt innerhalb von Sekunden zum Tode).

Lebensdauer: 9-12 Jahre

Verbreitung: Selten

Verbreitungsgebiet:  Ausschließlich in Nordamerika beheimatet.  

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Stammgruppe: Canis-Proles 

Unterart: Wrath

Abstammung: Hund

Größe: Kopf-Rumpf-Länge von 120 bis 140 Zentimeter (mit Schwanz 153 bis 170 Zentimeter), Widerrist von 70 bis 90 Zentimeter.

Gewicht: 60 bis 72 Kilogramm

Farbe und Aussehen: Der Körperbau ist dem eines Timberwolfs sehr ähnlich. Die Grundfarbe ist zumeist ein dunkles Kobaltblau, dass an den Pfoten und der Rute hin ins schwarz übergeht; genau wie an den Ohren. Die Augen sind mit weißem Fell umrandet.

Charakter: Im Rudel höchst sozial, und wohl das einzig bekannte Proles, das die Aufzucht im Rudel durchführt. Der Wrath ist höchst aggressiv, wenn es um die Verteidigung seines Reviers geht.

Merkmale: Das wohl auffälligste Merkmal des Wrath sind seine weißumrandeten Augen. Außerdem besitzt er einen sehr kräftigen Kiefer, der sich verkanntet, sobald er seine Beute gepackt hat.

Lebensdauer: Das älteste bekannte Exemplar eines Wrath wurde in der Forschungsstation Historie 9 Jahre alt.

Verbreitung: Häufig

Verbreitungsgebiet:  Er ist ausschließlich in Süd- und Nordamerika beheimatet.

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Prolog

 

„Mami, wann gibt´s Kuchen?“ Ich zupfte an ihrem Kleid, als sie nicht sofort reagierte, um ihr zu zeigen, dass ich langsam ungeduldig wurde. „Ich hab Kuchenhunger.“

Sie unterbrach sich dabei, das Glas unter dem klarem Wasser in der Spüle abzuwaschen und lächelte zu mir hinunter. Mit ihren blonden Haaren sah sie dabei aus wie ein Engel. Ja, meine Mami war ein Engel. „Das dauert noch einen Moment, Grace.“

„Wie lange ist ein Moment?“

„Sobald ich hier fertig bin, muss ich noch den Tisch decken. Aber keine Angst, ich rufe euch dann. Geh doch solange noch im Garten spielen.“

Hm, aber ich wollte aber gar nicht im Garten spielen. Ich hatte schon den ganzen Tag mit Wynn im Garten gespielt, jetzt wollte ich meinen Geburtstagskuchen. „Aber dann verhungere ich noch.“

Sie kniff ihre Augen gespielt kritisch zusammen und spitzte die Lippen ein wenig, während sie mich von Kopf bis Fuß in meinem gelben Sommerkleid musterte. Es war mein Geburtstagskleid, dass wir extra für heute geauft hatten. Ich bekam zu jedem Geburtstag ein neues Kleid. „Du hast recht“, sagte sie dann nachdenklich. „Mein armer Schatz ist ja nur noch Haut und Knochen. Da muss ich mich wohl beeilen.“

Ich nickte eifrig, um ihr zuzustimmen.

„Na, dann geh mal den Papa suchen und sag ihm, dass er mir helfen soll. Und dann kannst du den anderen Kindern sagen, dass es gleich Kuchen gibt.“

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, schon war ich herumgewirbelt und rannte auf der Suche nach meinem Papa aus der Küche hinaus in den Garten. Eben hatte ich ihn hier noch irgendwo gesehen, also wollte ich da als erstes nach ihm gucken. Doch kaum dass ich auf die Terrasse gelaufen war, packten mich zwei starke Arme und hielten mich fest.

„Na wohin so eilig, Geburtstagskind?“

„Onkel Rod, lass mich los!“, forderte ich und versuchte mich aus seiner Umklammerung zu befreien, aber mein Onkel war stark, viel stärker als ich. „Ich muss Papa finden!“

„Und da hast du nicht mal genug Zeit deinem Onkel einen Kuss zu geben?“ Er tippte sich auf die Wange, die mit roten Stoppeln bedeckt war. „Genau da hin?“

„Nein, kann ich nicht.“

„Ach nein?“ Er zog einen Flunsch, wie Mami das immer nannte. „Warum denn nicht?“

Na das war doch wohl offensichtlich. „Du pikst immer.“

„Oh.“ Er machte ein erschrockenes Gesicht, das mich fast zum Lachen brachte. Onkel Roderick war immer lustig. Ich hatte meinen Onkel lieb. „Das ist natürlich ein Problem. Hm, was machen wir denn da?“ Übertrieben nachdenklich tippte er sich gegen das Kinn, während ich ungeduldig darauf wartete, dass er mich endlich losließ. „Oh, ich weiß, wir versuchen es mit Bestechung.“

„Bestechung?“ Ich neigte meinen Kopf zur Seite. „Was heißt das?“

„Das wirst du gleich sehen. Pass auf.“ Er ließ mich los und kramte ein kleines Päckchen in buntem Papier aus seiner Jackentasche.

Meine Augen wurden ganz groß. „Ist das für mich?“

„Aber nur, wenn du das Geburtstagskind bist.“

„Bin ich“, sagte ich eifrig.

„Ach wirklich? Wie alt bist du denn heute geworden?“

„So alt.“ Ich hielt ihm meine ganze Hand direkt vor seine Nase und noch einen Finger von der anderen. „Sechs.“

„Schon sechs Jahre? Da kommst du ja bald in die Schule.“

Wieder nickte ich und zeigte dann auf das kleine Geschenk. „Krieg ich jetzt die Bestechung?“

„Aber nur, wenn ich vorher meinen Kuss bekomme.“

„Na gut.“ Ich gab ihm einen kleinen Kuss auf die Wange, zog das Gesicht dann aber schnell wieder weg. Onkel Roderick pikste nämlich wirklich.

„Na siehst du, war doch gar nicht so schlimm. Hier.“ Er hielt mir das Geschenk hin und schmunzelte, als ich sofort das Papier davon abriss und achtlos auf den Boden fallen ließ. Darin war eine kleine Schachtel, so klein, dass ich sie in meiner Hand verstecken konnte. Ich klappte sie auf und zwei kleine, goldene Ohrringe in Kätzchenform kamen zum Vorschein. Die gleichen, die ich letzte Woche in dem Schaufenster beim Juwelier gesehen hatte. „Oh guck mal!“, rief ich begeistert und hielt ihm mein Geschenk vor die Nase, wie eben meine Finger. „Die habe ich mir schon immer gewünscht!“

„Na, dann habe ich ja das richtige ausgesucht.“

Ich nickte wieder und konnte es noch immer nicht glauben. Mami hatte sie mir nicht kaufen wollen, weil sie zu teurer waren und jetzt lagen sie funkelnd in meiner Hand. „Die muss ich Wynn zeigen.“ Ich ließ meinen Onkel einfach auf der Terrasse hocken und rannte los, nur um nach zwei Schritten wieder zu ihm zurück zu rennen und ihm noch einen Kuss auf die piksige Wange zu geben. „Danke, Onkel Rod.“ Und schon war ich wieder weg und suchte, zwischen Luftballons, Luftschlangen und Geburtstagsgästen, den Garten nach meiner kleinen Schwester Wynn ab. Sie war schon fast vier und fand immer alles toll, was ich toll fand, deswegen musste ich ihr unbedingt meine Ohrstecker zeigen.

Als ich am halbgedeckten Tisch auf der Terrasse vorbeilief, sah ich Papa, der sich mit der Mutter von Moritz unterhielt. Er hatte genauso rote Haare wie ich und Onkel Roderick und deswegen würde ich ihn überall erkennen. Kurz überlegte ich, ob ich ihm noch sagen sollte, dass er zu Mami gehen musste, damit ich meinen Kuchen essen konnte, aber dann entschied ich mich dafür, erst mal Wynn zu suchen, um ihr mein Geschenk zu zeigen.

Ich fand Louis und Benny, die auf meinem Klettergerüst spielten. Und auch Chiara, Melli und Leonie konnte ich sehen. Moriz war oben in meinem Baumhaus und spielte mit Ty und Kevin Pirat, aber Wynn war nicht da. Vorhin hatte ich sie doch aber noch im Sandkasten gesehen. War sie vielleicht in Haus gegangen?

Ich ließ meinen Blick nochmal durch den festlich geschmückten Garten wandern und entdeckte dann den Zipfel eines grünen Kleides in dem Gebüsch vorne am Zaun. Gleich bei Mamis Beeten. Was machte sie da? Mami mochte es doch nicht, wenn wir in ihren Beeten spielten.

„Wynn!“, rief ich, doch sie warf mir nur einen kurzen Blick durch ihr unordentliches, rotes Haar zu, bevor sie noch tiefer in dem Gebüsch verschwand.

Was sollte das? Entschlossen, sie da wegzuholen, lief ich quer durch den Garten. Ich war die große Schwester, deswegen musste ich auf sie aufpassen. Das hatte Papa schon ganz oft gesagt.

Beim Beet passte ich auf Mamis Blumen auf und zog meine kleine Schwester dann am Kleid. „Wynn, komm da raus, hier dürfen wir nicht spielen.“

„Guck mal, Gracy, der lustige Hund“, sagte sie nur.

Hund? Das wollte ich auch sehen. Ich schloss die Hand fester um meine neuen Ohrstecker und drängte mich neugierig zu Wynn in das Gebüsch, bis ich vor unserem grünen Zaun hockte. Da stand wirklich ein Tier auf der anderen Seite auf dem Gehweg, doch ich war mir nicht so sicher, ob das ein Hund war. Es war fast so groß wie ich und hatte eine Mähne wie ein Löwe mit einer langen Schnauze. Und ein Ziegenbärtchen. Und einen ganz plüschigen Schwanz. Es war grau-schwarz, mit dunklen Streifen im Gesicht, aber seine Augen waren ganz seltsam. So gelb wie das Innere von meinem Frühstücksei heute Morgen.

„Ich habe ihn Plüsch genannt, weil er so plüschig aussieht“, erklärte Wynn mir und legte ihre Hände ans Gitter. „Komm, Hundi, Hundi, Hundi“, versuchte sie das Tier näher zu locken, doch es bewegte sich nicht von der Stelle. Es tat eigentlich gar nichts außer uns anzustarren. „Komm her, ich hab was für dich.“ Irgendwo aus ihrem Kleid zauberte sie ein Bonbon hervor und packte es aus.

„Du kannst ihn doch nicht mit einem Bonbon füttern“, tadelte ich sie.

Für einen Moment hielt sie inne und guckte mich an. „Warum nicht?“

„Weil das ungesund ist, davon bekommt er schlechte Zähne.“

Wynn ignorierte meinen Einwand, steckte das Bonbon durch den Zaun und ließ ihn auf die Straße fallen.

Der Hund, der eigentlich keiner war, machte zwei Schritte darauf zu, schnupperte an dem Bonbon und hob dann zähnebleckend den Kopf. Im nächsten Moment rammte er knurrend das Gitter.

Wynn und ich schreckten mit einem Schrei zurück. Ich fiel auf meinen Po und verlor dabei fast das Kästchen mit den Ohrsteckern.

Das seltsame Tier verbiss sich geifernd in den Draht des Zaunes, rüttelte daran und versuchte sich mit den Pfoten darunter durchzugraben, während wir erschrocken weiter zurückwichen. Ich griff mit der freien Hand nach Wynns und zog sie eilig mit mir aus dem Gebüsch, nur um ein weiteres Mal zu erschrecken, als hinter mir Leonie aufschrie und auf etwas in dem Sandkasten zeigte.

Papa kam herbeigelaufen, erstarrte aber sofort. Da war noch so ein Nichthund. Er stand in meinem Sandkasten und fletschte die Zähne, während er langsam auf Melli zuschlich. Einen Moment später stürzte er sich auf sie und begrub den kleinen, schreienden Körper unter sich, der panisch mit den Armen wedelte und doch nichts gegen den überstarken Gegner ausrichten konnte.

Mein Papa rannte wieder los, brüllte dass wir alle ins Haus laufen sollten, da sprangen auf der anderen Seite zwei weitere Plüschs über den Zaun und griffen sofort die Gäste an. Einer schmiss den Tisch um. Das Geschirr fiel klirrend und klappernd zu Boden. Gläser zersprangen und halbvolle Becher mit Saft rollten über die Terrasse.

Durch das Schreien der Kinder angelockt, kam Mami aus dem Haus gerannt und sah sich einem weiteren dieser Tiere gegenüber. Sie versuchte noch schnell die Tür zuzuschlagen, als der Nichthund auf sie zusprang, doch da hatte er sie schon zu Boden gerissen und verbiss sich in ihrer Schulter. Sie kreischte und schrie panisch. Ich konnte es durch den ganzen Garten hören. Mami hatte Angst, er tat ihr weh!

Plötzlich war die Luft erfüllt von Schreien, Weinen und Klagen. Dazwischen immer wieder das Knurren der seltsamen Tiere. Ich hörte Moritz nach seiner Mama rufen und das Kreischen von Chiara. Einer dieser Nichthunde hatte sich in ihr Bein verbissen und zerrte sie knurrend hinter sich her ins nächste Gebüsch, während ein anderer Onkel Roderick, mit dem Handy am Ohr, um das Haus jagte, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte.

Wynn klammerte sich weinend an meinen Arm, während der Plüsch hinter uns immer noch versuchte, sich durch den Zaun zu beißen. In der Zwischenzeit schafften es drei andere in den Garten, die bei der Terrasse über den Zaun sprangen und sich sofort geifernd auf alles stürzten, was sich bewegte – ja, einer erwischte sogar einen anderen Plüsch. Die beiden rollten knurrend und beißend über den Rasen, bevor sie sich trennten und sich auf leichtere Beute stürzten.

Das Schreien von Chiara hallte durch den ganzen Garten, aber ich konnte sie nicht mehr sehen. Ihr Angreifer hatte sich mit ihr ins Gebüsch zurückgezogen.

Mitten auf dem Rasen lag Louis. Zwei Nichthunde zerrten an seinem kleinen Körper, während er weinte und schrie. Ihre Schnauzen waren voller Blut.

„Grace!“, schrie Papa und schlug mit einem Spaten nach einem knurrenden Plüsch. Seine Augen waren panisch geweitet. „Grace, Wynn! Klettert ins Baumhaus, so…ahhh!“

„Papa!“

„Papi!“, schrien Wynn und ich gleichzeitig, als er von dreien dieser Tiere gleichzeitig angegriffen wurde. Papa wehrte sich gegen sie, aber sie bissen und schnappten nach ihm. Ich hörte seine Schreie, sah das viele Blut.

Moritz Mutter rannte quer durch den Garten, bevor sie niedergerissen wurde. Und wieder war da Blut. Überall war Blut.

Der Radau, den der Plüsch am Zaun machte wurde immer größer, aber ich konnte mich nicht bewegen.

„Gracy.“ Weinend zupfte Wynn an meinem Kleid. „Gracy, ich hab Angst.“

Als eine Fensterscheibe klirrte, erwachte ich aus meiner Erstarrung. Klettert ins Baumhaus, hatte Papa gerufen. Wo war Papa? Ich konnte ihn nicht mehr sehen. Aber dafür war hier überall Blut. Und diese Geräusche.

„Gracy“, sagte Wynn wieder.

Und dann stand plötzlich ein Nichthund vor uns. Seine Schnauze war ganz rot und zwischen den gebleckten Zähnen hing ein Fleischfetzen. Er kam näher, während ich mit Wynn langsam zum Gebüsch zurückwich. Er würde uns wehtun, so wie er Mami und Papa wehgetan hatte. Ich hatte Angst, aber ich wusste nicht was ich tun sollte.

Wynn versteckte sich halb hinter mir und weinte immer lauter.

Und dann griff er plötzlich an. Ich schrie auf, als er mich zu Boden riss, spürte den Aufprall, den Schmerz in meinem Gesicht, als die Haut aufriss und wusste ich würde sterben. Er würde mich töten.

Im gleichen Moment zerriss ein lauter Knall die Geräuschkulisse. Das Tier über mir sackte zusammen und drohte mich unter sich zu begraben. Es war schwer und es stank.

Ich weinte, wollte hier weg, wollte zu Mami und Papa. Da war das Gewicht plötzlich von mir verschwunden und ein fremder Mann hockte sich neben mich. „Bist du in Ordnung?“, fragte er mich eindringlich.

Ich konnte nicht antworten, saß nur da, schluchzend und weinend. Mein Gesicht tat so weh.

Der Plüsch lag tot neben ihm im Gras und da waren auf einmal noch andere Leute in unserem Garten. Wo kamen die alle her?

Wynn hatte sich hinter mir zusammengekauert, die Hände auf die Ohren gedrückt und die Augen zusammengekniffen. Sie summte leise vor sich hin, während sie vor und zurück schaukelte und damit alles andere ausschloss.

„Hey, nicht weinen“, sagte der Mann sanft. „Keine Sorge, alles wird wieder gut.“

Ein weiterer Knall tönte durch unseren Garten und noch einer. Das waren Waffen. Die Fremden erschossen die Nichthunde, die jaulend und knurrend zu Boden gingen, aber trotzdem nicht von ihrer Beute ablassen wollten, nicht bevor sie endgültig starben.

„Das sieht halb so schlimm aus, das wird wieder“, sagte der Mann, doch erst als er nach meinem Gesicht greifen wollte, verstand ich wovon er sprach.

Ich wich ängstlich vor ihm zurück, wollte nicht, dass er mich anfasste. Es tat so weh und da tropfte etwas Warmes von meiner Lippe auf mein gelbes Geburtstagskleid. Mein schönes, neues Geburtstagskleid.

Ich wollte Mami und Papa. Schluchzend sah ich mich nach ihnen um, aber sie waren nicht da. Wo war Mami?

„Okay, dann bleibt hier sitzen. Euch kann nichts mehr passieren.“ Der Mann erhob sich, als ein weiterer Knall die Luft zerriss. Ein Tier jaulte. Knurren, Rufe. Die Fremden liefen geschäftig durch den Garten und töteten alles was vier Beine hatte.

Durch den verschwommenen Blick meiner Augen sah ich nicht viel. Nur das Blut. Überall. Und Louis, der nicht mehr schrie und weinte. Er lag nun mit starrem Blick auf unserem Rasen.

Happy Birthday, Grace.

 

°°°°°

Kapitel 01

„Na komm schon!“, feuerte Bay die geifernde Bestie an. „Zeig mir, was du kannst!“

Der Krant, ein Ursus-Proles, mit den Farben der aufgehenden Sonne, schlich knurrend um sein Opfer herum. Dabei behielt er die kleine Handfeuerwaffe des jungen, blonden Mannes fest im Blick. In den Jahren seiner Gefangenschaft hatte er gelernt. Er wusste, wie gefährlich dieses Ding war, dass es Schmerz bedeutete. Aber er hatte Hunger, so großen Hunger. Und manchmal schaffte er es sogar, einen Bissen zu ergattern, bevor der Schmerz kam.

Manchmal.

Seine riesigen Pfoten verursachten kein Geräusch auf dem weichen Sand, während er um sein Opfer herumschlich. Er würde nicht aufgeben, bis er bekommen hatte, was er wollte, oder der Schmerz kam, der ihn zuckend zu Boden schickte. Er würde nicht aufhören, bis sein Hunger gestillt war.

Sein schmaler Schädel mit den hornartigen Knochenauswüchsen am Hinterkopf, war dunkel wie die Schatten der Nacht, genau wie seine wachsamen Augen. Die schwarze Färbung zog sich vom Kopf über die Brust bis hinunter zum Bauch und ging dann allmählich in das orangerote, lange Fell über, das in der Neonbeleuchtung der Arena stumpf und ungepflegt wirkte. Und trotzdem, war er eines der faszinierendsten Geschöpfe, die unser Planet beherbergte. Wie konnte etwas so Schönes, in Wirklichkeit so hässlich sein?

Die Lefzen seiner kurzen Schnauze waren hochgezogen. Geifer tropfte ihm von den Zähnen, wobei sein Knurren die Luft erfüllte. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er sich auf sein Opfer stürzen würde, bis er endlich seinen Hunger stillen konnte.

Als Bay einen Schritt zur Seite machte, um mit seinem Taser genau auf das Herz zielen zu können, brüllte der Krant ihn grollend an. Sein Hunger trieb ihn voran, doch er hatte auch aus der Vergangenheit gelernt. Die Menschen konnten ihm gefährlich werden, solange er nicht in einem Rudel unterwegs war. Er musste vorsichtig sein, wachsam, auf jede Bewegung seines Gegners bedacht.

Zwei Raubtiere, die sich gegenüber standen und nur eines der beiden konnte gewinnen.

„Achte auf den Stein, bevor du darüber stolperst!“, rief unser Mentor Herr Keiper quer durch die Arena der Beluosus Akademie. Schon die ganze Zeit schritt er im Inneren des Zwingers – wie die riesige Voliere unten in der Mitte der Arena von uns genannt wurde – entlang und behielt sowohl seine Lehrlinge, als auch die wechselnden Proles genau im Auge, um Tipps zu rufen, oder im Notfall eingreifen zu können. Das hier war schließlich nur eine Übung und niemand sollte verletzt werden – naja, von den Proles vielleicht mal abgesehen. Was mit ihnen geschah, war egal, sie waren austauschbar.

Durch den Zuruf unseres Mentors einen Moment abgelenkt, ließ Bay seinen Gegner für den Bruchteil einer Sekunde aus den Augen und das war sein Fehler. Der Krant nutzte seine Chance. Er griff sofort an, riss Bay mit sich zu Boden und schnappte knurrend nach ihm. Sein Ziel war Bays Kehle. Menschen waren leichte Beute und dort am empfindlichsten. Nur ein Biss und diese Mahlzeit gehörte ihm. Dann könnte nur noch der Tod ihn von seiner Beute trennen.

Doch Bay wehrte sich, hielt den großen Schädel von seinem Gesicht fern und versuche dabei dieses Biest von sich runter zu stoßen, doch es war zu schwer. Es hatte sein Opfer am Boden und würde es so schnell nicht wieder aufgeben. Zu allem Überfluss hatte Bay bei dem Sturz auch noch seinen Taser verloren und konnte sich jetzt nur noch mit Händen und Füßen wehren.

„Wirf ihn ab!“, rief Herr Keiper ihm zu. „Nun mach schon, oder willst du als Mittagessen enden?!“

Bay gab sein Bestes. Vor Anstrengung war das Gesicht unter dem Helm schon ganz rot angelaufen, doch egal wie sehr er sich bemühte, er schaffte es einfach nicht, sich aus der Umklammerung des Krant zu befreien. Es war vielleicht nur der Abkömmling eines Hundes, aber es war stark und es wollte seine Mahlzeit, koste es, was es wolle.

„Benutze deine Waffen!“, brüllte unser Mentor. Er sah aus, als wolle er jeden Moment explodieren.

„Anfänger“, murmelte ich und lehnte mich auf meinem unbequemen Plastiksitz auf der kreisrunden Tribüne zurück. Im Gegensatz zur unteren Bereich der Arena, wo Flutbeleuchtung herrschte, war es hier oben ziemlich dunkel, was nicht nur an der blauen Farbe der Sitze lag. Auch die steinernen Wände wirkten nicht sehr einladend. Nur die grüne Beleuchtung der Notausgangschilder störte diese mittelalterliche Atmosphäre des großen Gewölbes. Die und der riesige, moderne Stahlkäfig, in dem sich Bay mit dem Krant befand. „Normalerweise liefert er eine bessere Show.“

Neben mir gab meine beste Freundin Evangeline ein unbestimmtes Geräusch von sich, das sowohl eine Zustimmung, als auch eine Bestellung für eine Salamipizza hätte sein können. Sie war gerade etwas zu abgelenkt, um auf mich oder den Unterricht achten zu können.

Vor ein paar Minuten hatte sie ihren Schreibblock aus ihrer Tasche gekramt, auf ihren Knien platziert und schrieb dort nun hektisch Zeile um Zeile voll. Wollte ich wissen, was die da machte? Nicht unbedingt. Würde ich es erfahren? Wahrscheinlich.

Ich richtete meinen Blick wieder hinunter in den Zwinger. Zwar war die untere Fläche mit doppelten Gittern zu allen Seiten gesichert, damit die Proles auch keine Chance auf Freiheit hatten – ja, auch oben drüber war alles dicht, weil manche von den Viechern verdammt gut klettern, oder sehr hoch springen konnten – trotzdem behinderte es die Sicht kaum.

Ich konnte mir gerade noch so ein Augenrollen verkneifen, als ich sah, wie Bay umständlich versuchte an das Messer in der Halterung an seinem Oberschenkel zu kommen. Leider hatte der Krant seine Pranken so gesetzt, dass Bay die Arme nicht groß bewegen konnte. Eigentlich blieb ihm nur die Möglichkeit seine Hände in das Sonnenfell zu krallen, um wenigstens die Schnauze des geifernden Biestes von seinem Hals fern zu halten. Das hörte sich einfacher an, als es war, wenn einem so ein hundert Pfund Proles auf der Brust rumturnte – ja, ich sprach aus eigener Erfahrung. Bay war hier nicht der einzige, der zu Trainingszwecken regelmäßig in den Zwinger musste. Es gehörte hier an der Beluosus Akademie zum wöchentlichen Unterricht. Wir mussten lernen uns auch in den brenzligsten Situationen zu behaupten, wenn wir überleben wollten, denn der Weg, den wir uns ausgesucht hatten, war gefährlich, wenn nicht sogar tödlich.

Sand spritzte zu beiden Seiten der Gegner auf. Bays Beine gruben sich, auf der Suche nach Halt, in den weichen Boden. Doch, obwohl er sich gegen den Proles stemmte, wurde er das Vieh einfach nicht los.

Herr Keiper schritt dabei weiter am Zaun entlang, immer um die beiden herum. Noch war Bay nicht ernsthaft in Gefahr, was zum einen daran lag, dass dem Krant bereits direkt nach seinem Einfangen die Krallen gezogen worden waren und zum anderen, dass sowohl Bay, als auch Herr Keiper selber in ledernen Schutzanzügen steckten, die sie vor schwereren Verletzungen bewahren sollte. Das durch Stahlfäden und Helm mit Halsschutz verstärkte Leder war so steif, dass man sich darin nicht gut bewegen konnte, was wohl auch der Grund dafür war, warum Bay solche Probleme hatte, an sein Messer zu kommen.

Aber im Moment war alles im grünen Bereich, also kein Grund zum Eingreifen – noch nicht.

„Jetzt hau ihm endlich auf die Schnauze!“, brüllte Herr Keiper seinem Lehrling zu. Selbst von hier oben konnte ich sehen, dass der glatzköpfige Mann wieder mal einen hochroten Kopf hatte. „Benutze deinen Kopf, tu was du gelernt hast!“

Als ich vier Reihen unter mir ein Kichern hörte, richtete ich meinen Blick darauf. Dort, in der ersten Reihe der Tribüne, saßen Pia und Marle, die einzigen anderen Mädchen in unserem Ausbildungsjahr.

Die Beluosus Akademie nahm jedes Jahr rund fünfundsiebzig Schüler auf, von denen höchstens zehn Mädchen waren. Die Jagd nach Monster war eben doch eine Männerdomäne – zumindest bildeten die Kerle sich das ganz gern ein. Ich war da ganz anderer Meinung, was nicht nur damit zusammenhing, dass ich selber dem weiblichen Geschlecht angehörte.

Pia kicherte über Bays Unbeholfenheit. Vielleicht sollte ich sie mal daran erinnern, wie sie letzte Woche mit dem Wrath ausgesehen hatte. Da hätte man wirklich glauben können, dass sie in den letzten zwei Jahren hier nichts gelernt hätte.

Aus dem Zwinger hörte ich das wütende Geknurre des Krants, als Bay ihm endlich einen Schlag auf die kurze Schnauze versetzte. Doch das hielt das Vieh nicht davon ab, nach ihm zu schnappen.

Das könnte noch eine Weile dauern.

Gelangweilt ließ ich meinen Blick durch die kleine Arena im Keller der Akademie gleiten. Die Tribüne hatte zwölf Ränge, die sich im Kreis um den Käfig in der Mitte zogen. Selbst wenn die ganze Akademie hier auflaufen würde, blieben noch Plätze frei. Es gab einfach nicht genug Leute, die Venatoren werden wollten, Jäger, die einzig dazu da waren, die Erde von den Monstern dieser Welt zu befreien. Viel zu gefährlich. Die Sterberate bei diesem Job war extrem hoch. Aber die Alternative wäre, sich mit einer Knarre unterm Kissen in seinem Haus einzuschließen und darauf zu hoffen, dass die Monster einen nicht fanden. Das war nicht meins. Ich wollte mich nicht verstecken, ich wollte Rache und deswegen war ich hier. Also nicht hier im Sinne von der Arena, sondern hier im Sinne von hier in der Akademie. Hier in der Arena war ich nur wegen dem Unterricht. Zu Kompliziert? Ja, mein Kopf tat auch langsam weh.

„Kannst du dir mal den Aufsatz durchlesen?“, riss Evangeline mich aus meinen unsinnigen Gedanken. Mit den großen, braunen Augen und dem rötlichen Haar, erinnerte sie mich immer an einen Collie. Auch das schmale, etwas zu spitz geratene Gesicht passte dazu.

Ich senkte den Blick auf ihr Geschreibsel. „Du meinst den Aufsatz, der heute bereits in der ersten Stunde fällig war?“

Ohne darauf eine Antwort zu geben, hielt sie mir den Block so unter die Nase, dass er mir fast im Gesicht klebte. Nun blieb mir die Wahl zwischen zugreifen und zu riskieren, dass sie mir mit der Ecke gleich ein Auge ausstach. Ich entschied mich fürs Zugreifen und bereute es sogleich. Evangeline hatte eine schreckliche Sauklaue und damit, dass sie die ganze Zeit auf den Knien geschrieben hatte, wurde es nicht wirklich besser. Oh Mann, was tat man nicht alles für seine Freunde.

Um die krakelige Schrift entziffern zu können, musste ich mich ein wenig vorbeugen. Zum Glück hatte ich schon einige Erfahrung damit, ihre Hieroglyphen zu übersetzen. Die Entstehung der Monster, lautete die Überschrift. Nun gut, ich war gespannt.

 

Vor nun fast genau vierzehn Jahren wurde in einem Forschungslabor ein Gen entwickelt, das schon Mutationen im Mutterleib verhindern sollte, damit Kinder nicht mehr missgebildet, oder behindert (sowohl körperlich, als auch geistig) auf die Welt kommen könnten. Es wurde an verschiedenen, trächtigen Muttertieren getestet (Affen, Hunde, Katzen, Ratten, Mäuse, Marder und sogar an ein paar Eidechsen, aus was weiß ich für Gründen). Zu Anfang funktionierte alles soweit ganz gut, die ersten Testergebnisse waren geradezu grandios, doch dem ehrgeizigen Doktor Christopher Krynick ging die Forschung zu langsam voran. Tiere sind keine Menschen und die vorgeschriebene Abläufe, bis das Mittel an Menschen getestet werden durften, waren ewig lang. Daher entschloss er sich, das Gen mit radioaktiver Strahlung zum Mutieren zu zwingen, damit es auf Menschen angewendet werden konnte (wie sich das eine mit dem anderen vereinbaren lässt, hab ich bis heute nicht verstanden, aber ich bin ja auch kein Wissenschaftler). Er versuchte eine gametische Genmutation zu kreieren. Seiner Theorie nach, mussten nur zwei Gameten (auch als Geschlechtszellen oder Keimzellen  bezeichnet) zusammengeführt werden (eine davon die genetisch manipulierte). Durch Vereinigung zweier Gameten entsteht eine diploide Zygote, aus der ein neues Individuum entstehen kann. Die Vereinigung der Gameten wird als Geschlechtsvorgang oder Gametogamie bezeichnet. Durch die genmanipulierten Gameten wollte er erreichen, dass es nicht mehr zu Mutationen nach der Befruchtung kommen konnte. Aus den dadurch entstandenen Embryonen, entnahm er zur Weiterforschung weitere Zellen, um die Mega-Supermedizin zu erschaffen, die ihm den Nobelpreis einbringen würde. Leider war der gute Doktor Christopher Krynick ein wenig zu ehrgeizig. Irgendwas ging bei seiner Forschung schief und die, durch das manipulierte Gen entstandenen Babys (Proles) die überlebten, brachten selber missgebildete Junge zur Welt. Mutationen, die nicht nur anders als ihre Art aussahen, sondern auch noch seltsame Eigenschaften entwickelten. So gab es da zum Beispiel einen Hund, der dreimal so groß wurde, wie es für einen Hund seiner Rasse normal war und eine Farbe hatte, die irgendwo zwischen Schwarz und Blau lag (ja, ich meine so richtiges Blau). Außerdem besaß er zusätzliche Krallen, die durch Drüsen mit Gift versorgt wurde. Wurde man mit dieser Kralle verletzt, erlitt man eine Vergiftung, der man innerhalb kürzester Zeit erlag (das Gift hat die Blutgerinnung zerstört. Arterien wurden verstopft und sind irgendwann wie ein Luftballon geplatzt, man verblutete von innen.). Ansonsten wiesen diese Abkömmlinge auch noch Verhaltensstörungen auf. Ihre Instinkte wurden auf drei einfache reduziert. Fressen, Fortpflanzung und Revierverteidigung. Dabei gingen sie äußerst aggressiv vor. Und sie alle waren überdurchschnittlich intelligent. Die Intelligenz dieser ersten Proles, kam der der menschlichen sehr nahe (heute ist das nicht mehr so, heute sind sie nur noch hirnlose Fressmaschinen die auf Fortpflanzung gepolt sind. Naja, die meisten zumindest.). Der wirklich gefährliche Teil der Abkömmlinge – die Proles, wie sie genannt werden (ja, ich weiß, ich hab es oben schon ein paar Mal erwähnt) – wurden getötet, doch der harmlose Teil zur Weiterforschung behalten. Genau wie die Muttertiere (sowohl die trächtigen, als auch die, die bereits Junge bekommen hatten). Zu diesem Zeitpunkt bestand für die Menschheit noch keine Gefahr, da all diese Forschungen im Geheimen hinter verschlossenen Türen einer gesicherten Forschungseinrichtung à la Spionage geführt wurden. Ohne Zugangsberechtigung kam da niemand rein, oder raus und das war auch gut so.

 

Ich zog die Augenbraue hoch. „À la Spionage?“ Das war ja fast noch besser, als ihre in Klammern gesetzten Kommentare, die sie immer in den Text schrieb.

„Lies weiter“, forderte sie mich auf.

Na, das konnte ja etwas werden.

 

Zur gleichen Zeit erfuhr die bis dahin kaum bekannte Tierschutzgruppe Live For Animals von den Tierversuchen in dieser Einrichtung. Sie hatten es geschafft einen ihrer Leute einzuschleusen, um an die Zugangsberechtigung zu kommen und in einer illegalen, nächtlichen Aktion brachen sie in das Gebäude ein, mit dem Vorhaben die Tiere dort zu befreien. Dabei entließen sie nicht nur normale Tiere, sondern auch trächtige, die mit dem Gen infizierte Embryonen in ihrem Bauch trugen. Auch ein paar der Proles kamen frei, griffen ihre Befreier zum Teil an und veranstalteten ein riesiges Blutbad. Es ist nicht genau bekannt, wie viele Tiere die Forschungseinrichtung beherbergt hatte, diese Zahlen wurden für die Öffentlichkeit nie freigegeben. Nur so viel: Ein Großteil wurde freigelassen und von denen, die sich nicht gegenseitig umgebracht hatten, konnten sich etwas mehr als vier Dutzend nicht nur aus den mitgebrachten Käfigen befreien, sondern auch aus dem Gebäude. Durch die Geburten der genmanipulierten Proles und der Paarung mit normalen Tieren, oder auch untereinander, vermehrten sich die Abkömmlinge mit unglaublicher Geschwindigkeit. Durch ihre Verteidigungsfähigkeiten (wie zum Beispiel die Sache mit dem Gift) und der Tatsache, dass sie nicht nur größer waren, als ihre natürlichen Artgenossen, hatten die Proles keine natürlichen Feinde, die ihnen Einhalt gebieten konnten. Alles was sich ihnen in den Weg stellte, wurde gefressen und ja, auch Menschen stehen auf ihrem Speiseplan. Und da man es während der Forschung nicht für nötig erachtet hatte, eine Sicherung einzubauen (wie zum Beispiel Unfruchtbarkeit), pflanzen die Monster sich nun frisch, fröhlich fort und sind damit zu der größten Bedrohung geworden, die der Menschheit jemals gegenübergestanden hat. Nichts kann sie aufhalten.

 

Ende.

 

„Liest sich wie ein schlechter Krimi“, murmelte ich und wandte ihr mein Gesicht zu. Sie wollte eine ehrliche Meinung? Die konnte sie haben. „Das hört sich an, als hätte es ein Kleinkind geschrieben, das sich ein paar Sätze von einem Wissenschaftler hat diktieren lassen und zwischendurch noch ein bisschen mit einem alten Freund chattet.“

„Heißt das, ich kann den nicht so abgeben?“, fragte sie mich ganz entsetzt, als ihr die Arbeit von ganzen zehn Minuten zwischen den Händen zu zerrinnen drohte.

„Das heißt, es würde sicher nicht schaden, wenn du es noch einmal überarbeiten würdest. Ich würde es auch nicht als Aufsatz beschreiben, dafür ist es zu kurz. Und da es der Sachlichkeit nicht dienlich ist, wenn du immer wieder deine persönliche Meinung, oder unpassende Kommentare dazwischen schiebst, würde ich die auch weg lassen. Also, ja, du solltest das dringend noch einmal überarbeiten, wenn du nicht willst, dass Herr Keiper dir dafür das Praktikum streicht.“ Ich reichte ihr den Block zurück und störte mich auch nicht daran, dass sie mitleidig stöhnte. „Wenigstens die Rechtschreibung ist gut. Jedenfalls habe ich keinen Fehler gefunden.“

Sie grummelte etwas Unverständliches.

„Und hin und wieder einen Absatz einzubauen würde auch nicht schaden. Ganz im Gegenteil, es würde das Lesen ungemein erleichtern.“

Dafür bekam ich den Todesblick.

Ich hob ergeben die Hände. „War ja nur ein Vorschlag.“ Mein Gott, sie hatte mich nach meiner Meinung gefragt, also sollte sie ihren Frust jetzt nicht an mir auslassen.

„Das reicht!“, donnerte Herr Keiper unten im Zwinger. Eine Sekunde später blitzte es. Der Krant schrie unmenschlich auf, als der Taser unseres Mentors ihn traf und ihn zuckend zu Boden schickte.

Diese Szene berührte mich nicht im Geringsten. Alle Proles waren Monster und verdienten nichts anderes als den Tod. Nur der Stärkste konnte überleben und in den Jahren seit meiner Geburt war das Leben zu einem einzigen Überlebenskampf geworden. Wer Mitleid mit diesen Wesen zeigte, der würde früher oder später auf ihrer Speisekarte enden.

„Alle hierherkommen, sofort!“

Herr Keiper hatte noch nicht einmal zu Ende gebrüllt, da war die Hälfte der Lehrlinge seines Kurses schon auf dem Weg hinunter zum Zwinger. Auch Evangeline und ich griffen nach unseren Taschen und nahmen die alte Steintreppe in Angriff. Dabei stolperte sie auch fast noch, weil sie versuchte, beim Gehen ihren Aufsatz zu verbessern – keine gute Idee.

Wir durften den Zwinger nicht betreten, da die meisten von uns keine Schutzkleidung trugen. Daher reihten wir uns artig am äußeren Gitter auf und erwarteten ungeduldig, was unser Mentor uns mitzuteilen hatte. Nein, das Ungeduldig war nicht sarkastisch gemeint, sondern wortwörtlich. Dies hier war die letzte Stunde und wir alle wollten endlich nach Hause.

Der Krant winselte, zeigte Bay aber trotzdem die Zähne, als der sich auf die Beine rappelte. Das nahm der Lehrling wohl persönlich. Verärgert trat er eine Ladung Sand in die Richtung des Biests. Dieser zog sich ein wenig zurück. Er hatte immer noch mit den Spasmen durch den Elektroschock zu kämpfen und würde so schnell nicht wieder angreifen. Aber er war noch immer hungrig und würde seine Chance ergreifen, wenn er sie bekam.

„Eve, pack die Sachen weg und hör zu!“

Meine beste Freundin ließ fast ihren Block fallen, als unser Mentor sie direkt ansprach – oder besser gesagt, in ihre Richtung brüllte. Hastig verschwanden Block und Stift in der Tasche. Übrig blieb nur ein kleiner Tintenfleck auf ihrem Daumen.

Herr Keiper sah alle der Reihe nach an, blieb einen Moment bei Evangeline hängen, nur um dann auch den Rest von seinen dreiundzwanzig Lehrlingen in Augenschein zu nehmen. „Hab ich jetzt eure Aufmerksamkeit? Gut. Dann sagt mir, welchen Fehler hat Bay begangen.“ Sein Blick blieb auf meiner besten Freundin hängen – oh weh. „Eve, wie wäre es wenn du es uns sagst.“

„Ähm …“, machte sie und warf mir einen kurzen, hilfesuchenden Blick zu, nur um dann ihr Gewicht von einem Bein aufs andere zu verlagern. Es sah fast aus, als würde sie nervös auf der Stelle tänzeln, weil sie ganz dringend aufs Klo musste. „Er hätte zur Seite springen müssen, als der Krant ihn angegriffen hat?“

Bei der Antwort hätte ich mir am liebsten selber ins Gesicht geklatscht. Und dann auch noch als Frage formuliert. Oh weh, am besten fiel sie gleich auf die Knie, um zu Kreuze zu kriechen.

Das Gesicht unseres Mentors verfinsterte sich. „Es freut mich immer wieder zu sehen, wie gut ihr dem Unterricht folgt und aufpasst. Es geht hier ja schließlich nur um euer Überleben, also keine große Sache.“

Ein paar Meter weiter kicherte Pia wieder. Gott, dieses Mädchen war manchmal so albern.

Herr Keiper ließ den Taser aus seiner Hand in der Halterung an seinem Gürtel verschwinden. „Möchte jemand anderes vielleicht die Frage beantworten?“

„Er hat sich ablenken lassen“, kam es von dem hochgewachsenen Seth. „Er hätte die Gegebenheiten des Bodens mit dem Fuß ertasten müssen, aber stattdessen hat er den Blick abgewandt, um zu sehen, wohin er tritt und das hat der Krant sofort ausgenutzt.“

Unser Mentor nickte. „Das war einer der Fehler. Und der andere?“

Unwissendes Schweigen folgte. Auch ich kannte die Antwort nicht, mir war nur dieser eine Fehler aufgefallen.

Herr Keiper seufzte. „Wo befinden wir uns?“

„Im Zwinger?“, riet Evangeline.

„Und was befindet sich in diesem Zwinger?“

„Sand“, kam es nicht sehr intelligent von Seth.

Doch zu unser aller Überraschung nickte Herr Keiper. „Genau. Der ganze Boden besteht aus weichem Sand. Erinnert sich vielleicht noch jemand, was ich gerufen hatte?“

Die meisten schüttelten den Kopf, doch dieses Mal konnte ich etwas Sinnvolles beitragen. „Sie haben gesagt, er soll auf den Stein aufpassen.“

„Halleluja, es gibt doch noch Lehrlinge die zuhören.“ Er ließ seinen Blick wieder über uns schweifen. „Ich habe gerufen, er soll auf den Stein aufpassen, obwohl es hier nur Sand gibt. Warum habe ich das getan?“

Ja, das fragten wir uns jetzt wohl alle, denn das ergab keinen Sinn. Zumindest nicht aus meiner Sicht.

Als auf der gegenüberliegenden Seite der Zwinger geöffnet wurde und eine weitere Person in die Voliere trat, sah ich kurz rüber. Das war Domenico, der Pfleger der Proles hier in der Akademie. Und mein bester Freund gleich nach Evangeline. Ich winkte ihm unauffällig zu, bevor ich meine Aufmerksamkeit wieder auf unseren Mentor richtete, der noch immer auf eine Antwort wartete.

„Keiner?“ Er sah von einem zum anderen. „Nun gut. Dann hört mal zu. Ab Morgen werdet ihr euer Praktikum bestreiten. Das heißt fünf Tage in der Woche mit einem Venator unterwegs und dort werdet ihr keinen gezähmten Proles gegenüberstehen. Die Bestien dort draußen haben noch ihre Krallen, ihre Zähne und auch ihr Gift. Und wenn sie die Chance bekommen, dann werden sie euch nicht nur töten, sondern auch fressen. Die kleinste Ablenkung kann tödlich sein.“ Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken und sah uns wieder der Reihe nach an. „Manchmal wird es auch Leute geben, normale Zivilisten, die euch vielleicht mit Rufen ablenken, genau wie ich es bei Bay getan habe. Ihr dürft nie, niemals, euer Ziel aus den Augen verlieren.“

Also war das eine Art Demonstration für uns gewesen, unter der Bay leiden musste. Tja, die Mentoren auf der Beluosus Akademie hatten halt ihren ganz eigenen Stil zu unterrichten. Und wenn sie dafür einen Lehrling lächerlich machen mussten, dann war das eben so. Hier ging es ums Überleben, nichts anderes zählte.

Ich warf kurz einen Blick zu Domenico hinüber, als er sich dem grollenden Krant vorsichtig nährte, um ihm die Kette anzulegen, damit er ihn zurück in seinen Käfig bringen konnte. Andere Pfleger nutzen dafür die Angel – ein langer Stock mit einer Schlaufe am Ende – um den Proles nicht zu nahe kommen zu müssen. Aber nicht so Domenico. Er war sowieso sehr eigen, wenn es um die Pflege dieser Viecher ging. Tja, Venatoren und jene die zu solchen werden wollten, waren eben doch ein wenig anders als die übrige Bevölkerung – ja, das schloss auch Pfleger wie meinen besten Freund mit ein.

„Ihr habt euch einen Berufsweg ausgesucht, bei dem ihr mit eurem Leben spielt“, fuhr Herr Keiper fort. „Und ich bin nicht gewillt auch nur einen von euch an diese Biester dort draußen zu verlieren, doch leider kann ich das nicht allein bewerkstelligen, ihr müsst mir dabei schon ein wenig helfen. Klar soweit?“

Zustimmendes Gemurmel erfüllte die Arena.

„Gut. Ab morgen werdet ihr entweder zu den staatlichen Venatoren gehen, oder in die Gilde und da werde ich nicht sein, um im Notfall einzugreifen und euch den Arsch zu retten. Natürlich habt ihr eure Lehrcoachs, aber auch die können nicht immer zur Stelle sein, um euch den Hintern abzuwischen, weil sie damit ihr eigenes Leben riskieren würden und …“

Hinter Bay stieß Domenico einen Fluch aus, als der Krant mit seiner Pranke nach ihm schlug. Er stolperte zurück und hielt sich den Arm. Hatte das Vieh ihn etwa erwischt?

Der Krant knurrte drohend.

„Brauchst du Hilfe?“, fragte er Herr Keiper ihn.

Doch Domenico schüttelte den Kopf und griff nach der Kette, die in den Sand gefallen war. Dabei fiel mir sehr wohl auf, dass er nicht wie sonst seinen rechten Arm benutzte. „Nein, nein, alles okay, ich komm schon klar.“ Er grinste uns an. „Der Kleine hat nur etwas schlechte Laune.“

Was so ziemlich der Dauerzustand bei diesen Viechern war.

Domenico konnte froh sein, dass er wie die anderen im Zwinger einen Schutzanzug trug. Manchmal war er so leichtsinnig, dass ich ihn am liebsten mit dem Kopf voran gegen die nächste Wand geklatscht hätte, nur um ihm ein wenig Vernunft einzubläuen. Als er den Proles dann auch noch mit einem „Komm, mein Süßer“ hinter sich aus dem Zwinger zog, war ich nicht die Einzige die ungläubig den Kopf schüttelte. Wie konnte er nur immer so leichtsinnig sein? Er hatte definitiv einen Knall. Okay, den hatten wir wahrscheinlich alle, denn, wer machte schon freiwillig eine Ausbildung zum Monsterjäger? Aber Domenicos Knall war eben noch eine Nummer größer.

Herr Keiper sah ihm noch einen Augenblick skeptisch hinterher, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf uns richtete. „Was ich euch mit der ganzen Sache eigentlich vermitteln wollte, ist, seid …“

„Immer wachsam“, sagten wir alle im Chor. Das war das Motto eines jeden Venator – und natürlich eines angehenden, so wie wir. Immer wachsam, immer bereit.

Herr Keiper nickte zufrieden. „Hat jemand noch Fragen?“ Einstimmiges Kopfschütteln. „Und jeder weiß wo er morgen hin muss? Gut, dann packt eure Sachen zusammen und macht, dass ihr nach Hause kommt. Wir sehen uns dann am Freitag. Unverletzt, wenn ich bitten darf.“

Das war das Zeichen worauf wir nur alle gewartet hatten. Unterhaltungen setzten ein, als alle ihr Zeug von den Tribünen einsammelten und sich eilig auf den Weg nach Hause machten, bevor Herr Keiper noch etwas einfiel, dass er uns seiner Meinung nach unbedingt mitteilen musste. Ja, das passierte regelmäßig.

„Das wird der Wahnsinn“, schwärmte Evangeline mir auf dem Weg zur Treppe vor. „Endlich dürfen wir bei den großen Jungs mitspielen. Nur noch einmal schlafen.“

Ich zog eine Augenbraue nach oben. „Eve, das hat sich gerade angehört, als würde es aus dem Mund eines Kleinkindes kommen.“

Das ignorierte sie völlig. „Ich freue mich wie wahnsinnig. Wie mein Lehrcoach wohl sein wird? Ich kann es kaum noch erwarten.“

Über so viel Euphorie konnte ich nur den Kopf schütteln. „Dir ist schon klar, dass …“

„Eve!“, rief da Herr Keiper, als er mit Bay zusammen den Zwinger verließ. „Könntest du bitte noch mal zu mir kommen?“

Evangeline zog einen Flunsch. „Warum formuliert er es als Frage? Ich kann doch sowieso nicht nein sagen ohne Ärger zu bekommen“, grummelte sie.

Das ließ mich schmunzeln. „Er ist nur höflich.“

„Als wenn der sowas könnte. Wahrscheinlich will er meinen Aufsatz haben.“ Sie straffte die Schultern. „Okay, ich bin bereit. Wünsch mir Glück.“

„Nun übertreib mal nicht. Gefährlicher als ein Proles ist er sicher nicht.“

„Eve!“, donnerte Herr Keiper, als es ihm zu lange dauerte.

Vielleicht irrte ich mich da ja auch. Ich gab meiner Freundin einen kleinen Schubs. „Nun geh schon. Wir telefonieren.“

„Okay, bis dann.“

Schmunzelnd sah ich zu, wie meine Freundin zu unsrem ungeduldigen Mentor trat. Wenn sie diesen Aufsatz wirklich abgab, würde das mordsmäßigen Ärger geben. Da war es wahrscheinlich besser, einfach zu behaupten, sie hätte ihn nicht gemacht.

Die meisten der anderen waren schon weg, nur noch ein paar vereinzelte Nachzügler waren zu sehen. Ich hing mir meine lederne Kuriertasche über die Schulter und nahm die steinerne Treppe in Angriff, um aus der Arena zu kommen. Ich wollte Domenico noch einen Besuch abstatten, bevor ich nach Hause ging. Dass er seinen Arm vorhin so komisch gehalten hatte, machte mir doch ein wenig Sorgen.

 

°°°

 

Als ich in den für Lehrlinge eigentlich verbotenen Bereich der Akademie trat, schlug mir der Geruch von Stroh, Tier und nassem Fell zur Begrüßung entgegen. Hier, noch hinter der Arena, wurden die Proles in gesicherten Käfigen verwahrt, bis sie in den Zwinger gebracht wurden, damit wir unsere Fähigkeiten an ihnen testen und ausbauen konnten, um eines Tages Jagd auf Ihresgleichen zu machen.

Das einzige Licht, das es hier unten gab, war die triste Neonbeleuchtung der summenden Röhren an der Decke. Es machte diese ganze Atmosphäre hier unten bei Stein und Stahl nur noch kälter.

Ich drückte die Brandtür fest ins Schloss und lief die breite Gasse hinunter. Links und rechts von mir reihten sich die Käfige der Proles dicht aneinander. Doppelt gesichert, wie alles hier. Stahlgitter vom Boden bis zur Decke, dahinter eine kugelsichere Scheibe aus Panzerglas, die sie alle sicher verwahrte, bis sie gebraucht wurden.

Bei meinem Anblick fingen viele der Proles an zu Kurren. Ein besonders aggressives Exemplar sprang sogar gegen die Scheibe. Doch sie war zu dick. Er prallte einfach nur ab und landete kauernd auf dem Boden, von wo aus er mich weiter angrollte.

Kopfschüttelnd lief ich auf der Suche nach Domenico weiter. Diese Biester würden es wohl nie lernen. Eigentlich sollten sie sich doch glücklich schätzen hier gelandet zu sein. Hier hatten sie ein warmes Plätzchen zum Schlafen und jede Menge Futter. Zwar befanden sie sich in Gefangenschaft, aber sie hätten es durchaus schlechter treffen können – zum Beispiel die Tötungsstationen der Venatoren.

„Dom?“, rief ich meinen besten Freund, erwartete aber keine Antwort. Wie ich ihn kannte, saß er wieder bei den geifernden Monstern im Käfig und band ihnen Schleifchen ins Haar und durch die dicke Panzerglasscheibe konnte er mich nun mal nicht hören. Bei dem Gedanken daran, er könnte das wirklich machen, musste ich schmunzeln. Aber es verging mir sofort wieder, als ich an Käfig Nummer siebenunddreißig vorbei kam.

Dieser Proles war ruhig, lauerte auf seine Gelegenheit.

Guck mal, Gracy, der lustige Hund. Ich habe ihn Plüsch genannt, weil er so plüschig aussieht.

Immer wenn ich einen von ihnen sah, hörte ich Wynns kindliche Worte in meinen Ohren. Hätte ich doch nur damals schon verstanden, was das Auftauchen dieser Proles bedeutete, ich hätte so viel Leid vermeiden können. Doch als mein sechster Geburtstag zu einem Massaker wurde, waren die Abkömmlinge noch kaum verbreitet, unbekannt, etwas das man nur aus den Nachrichten kannte. Heute war es anders, heute wusste jeder wer sie waren.

Die gelben Augen unter der langen, windschnittigen Mähne beobachteten mich ruhig. Er wusste wer ich war, da Herr Keiper mich früher oft mit ihm und seinesgleichen in den Zwinger geschickt hatte, damit ich mein Trauma aufarbeiten konnte. Ich war immer als Sieger hinausgegangen. Niemals wieder wollte ich mich so hilflos wie damals fühlen, als aus einem unschuldigen Kindergeburtstag ein Tag des Grauens geworden war.

Niemals wieder würde ich es seinesgleichen gestatten, mich zu verletzten.

Als wüsste er, was ich dachte, zog er die Lefzen hoch und zeigte mir die Zähne, doch ich wandte den Blick nicht ab, tastete mit der Hand nur über die alte Narbe, die quer über meinen Lippen verlief. Die einzige äußere Verletzung, die ich von diesem Tag zurückbehalten hatte. Ein Andenken, dass ich jeden Morgen im Spiegel sah und mich niemals vergessen ließ und mich immer daran erinnerte, warum ich das alles tat.

„Komm, Hundi, Hundi, Hundi“, flüsterte ich die gleichen Worte, die damals Wynns Mund verlassen hatten und verzog meine missgestaltete Lippe zu einem kalten, verzerrten Lächeln.

Der Plüsch – wie ich ihn heute immer noch nannte – sprang ohne Vorwarnung auf mich zu, knallte frontal gegen das Panzerglas und fiel mit einem Jaulen zurück auf den Boden.

Ich verzog keine Miene, als er sich knurrend einige Schritte zurück zurückzog und das Fell dabei so sehr sträubte, dass er fast doppelt so groß wirkte. Nie wieder würde ich vor einem von ihnen zurückweichen.

Ich wandte den Blick auch nicht ab, als im hinteren Teil der Gasse die Tür zur Futterküche geöffnet wurde, denn wer zuerst wegsah, würde damit die Überlegenheit des anderen anerkennen. Außerdem wusste ich, dass es nur Domenico sein konnte. Keiner der anderen Pfleger würde sich um diese Zeit noch hier unten herumtreiben.

„Ah, wie ich sehe, frischst du mal wieder alte Bekanntschaften auf.“ Den Geräuschen nach schritt er die Stallgasse herunter, bis er neben mir zum Stehen kam und auch einen Blick in den Käfig werfen konnte.

Der Plüsch wandte kurz die Augen ab, um den Neuankömmling ins Visier zu nehme und damit hatte ich gewonnen. Er hatte zuerst weggesehen. Das wusste er auch und zog sich leise grollend in sein Nest aus Stroh an der hinteren Wand zurück.

Was bedeutete es, wenn ein Monster vor einem anderen Wesen zurückwich?

„Wenn du sie nicht immer so böse angucken würdest, dann …“

„Dom“, unterbrach ich ihn, bevor er mir wieder sagen konnte, ich solle lieb zu den Ungeheuern sein. „Das da drin ist eine Bestie, die dich bei lebendigem Leibe verschlingen würde, wenn sie dazu jemals die Gelegenheit bekäme.“

„Sie werden einfach nur missverstanden“, widersprach er mir. „Wenn man sich ein wenig mit ihnen beschäftigt, dann sind sie eigentlich ganz lieb.“

Jetzt ging das wieder los. Die armen, missverstandenen Wesen. Wäre er damals an meinem Geburtstag dabei gewesen und hätte erlebt, was ich erlebt hatte, würde er heute nicht so über sie sprechen. „Und wenn sie so harmlos sind, warum trägst du dann immer einen Schutzanzug, wenn du zu ihnen gehst?“

„Ich bin vertrauenswürdig, nicht Lebensmüde.“

Da war ich mir bei ihm manchmal gar nicht so sicher. „Irgendwann wird eines deiner Kuscheltiere dich fressen, dann denkst du nicht mehr so über sie.“ Ich wandte ihm meinen Blick zu.

Er hatte den Helm abgenommen und den ledernen Schutzoverall bis zur Hüfte runter gekrempelt. Sein hübsches Gesicht mit den hohen Wangenknochen, seine kupferfarbenen Haare, die ihm immer ins Gesicht hingen, seine schmale Nase, auf der vereinzelte, ganz zarte Sommersprossen waren und die etwas zu groß geratenen Ohren, das alles war mein bester Freund Domenico.

Doch sei Aussehen interessierte mich im Augenblick weniger, als sein rechter Arm der knapp unter der Schulter deutlich dicker war als sonst. Ich tippte mit dem Finger vorsichtig gegen die Stelle.

„Au!“ Mit einem kleinen Fluch trat er einen Schritt von mir zurück.

„Ich wusste es!“, regte ich mich auf. „Warum zum Teufel benutzt du nicht die verfluchte Angel? Dafür habt ihr die extra!“

„Reg dich ab“, versuchte er mich zu beschwichtigen. „Das wird nur einen blauen Fleck geben.“

Wütend hielt ich ihm den Finger vor die Nase und drückte angestrengt die Lippen zusammen, damit ich ihm nicht all das um die Ohren haute, was mir auf der Zunge lag. Am liebsten hätte ich ihn … ahrrr!

„Ach komm schon, Grace, so schlimm war das doch gar nicht.“

„Dieses Mal nicht“, sagte ich dann schlussendlich und ließ meinen Finger sinken. „Aber irgendwann wirst du so unvorsichtig sein, dass sie dich erwischen und wenn es soweit ist, Dom, dann werde ich dir so in den Arsch treten, dass sogar deine Urenkel es noch spüren können.“

Er grinste und zeigte mir damit sein ganz spezielles Grübchen. „Ich kann es kaum erwarten.“

Was sollte man dazu noch sagen, außer: „Blödmann.“ Ich drehte mich herum und lief den Weg zurück, den ich gerade erst gekommen war.

„Hast du eigentlich etwas Bestimmtes gewollt, oder bist du nur hier gewesen, um mich anzupflaumen?“, rief Domenico mir hinterher.

„Ich war nur hier um dich anzupflaumen.“ Ich zog die schwere Stahltür auf. „Und da wir deinen Arm nicht amputieren mussten und du noch blöde Sprüche reißen kannst, verschwinde ich jetzt.“

„Es ist immer schön, wenn du mich besuchst“, grinste er.

Die Tür fiel hinter mir ins Schloss und sperrte sein leises Lachen ein. Manchmal könnte ich ihn wirklich einfach nur gegen die Wand klatschen. Warum nur musste er immer dieses Risiko eingehen? Okay, ich verstand, dass er seine Ausbildung zum Venator abgebrochen hatte, weil er es einfach nicht über sich brachte, ein anderes Wesen zu töten – egal ob nun genmanipuliert, oder nicht – im Gegensatz zu mir war er eben einfach zu zartfühlig für diesen Job. Aber das hieß doch noch lange nicht, dass er hier als Tierpfleger einen auf Doktor Doolittle machen musste. Die Prolos waren gefährliche Fressmaschinen und ich hoffte, dass er das noch kapierte, bevor einer von ihnen begann, seine Gliedmaßen anzuknabbern.

Seufzend rieb ich mir übers Gesicht, als ich über die seitliche Holztreppe den Keller verließ, um nach oben ins Hauptgebäude zu kommen. Natürlich hätte ich auch den Weg durch die Arena nehmen können, da wäre ich sogar ganze fünf Minuten schneller, aber wie bereits erwähnt, war der Zugang hier unten für Lehrlinge ohne Begleitung eines Mentors eigentlich verboten. Sicherheitsvorschriften. Würde ich den Weg durch die Arena wählen, war zu befürchten, dass ich Herr Keiper, oder einem der anderen Mentoren in die Arme lief. Und da ich keine Lust auf Stress und Erklärungsnöte hatte, nahm ich doch lieber dem Umweg über die Seitentreppe, um oben in den vertäfelten Korridor zu gelangen.

Hier war es etwas heller, freundlicher, wärmer. Der Geruch nach Bohnerwachs erfüllte die Luft. Überall dort, wo keine Türen waren, reihten sich Porträts von ehemaligen Direktoren, Mentoren und Ehrenschülern dicht an dicht. Die Beluosus Akademie ist eine der ältesten Jägerschulen im ganzen Land und nur die besten Schüler werden hier aufgenommen und ausgebildet.

Ich hatte immer hart gearbeitet, um hier einen Platz zu ergattern, denn es galt, wenn man die Beste werden wollte, musste man auch von den Besten geschult werden. Und ich war ehrgeizig genug, um dieses Ziel zu erreichen und der Monsterwelt dort draußen einen kräftigen Tritt in den Hintern zu geben. Dass die Schule praktischerweise nur einen Katzensprung vom Haus meines Onkels entfernt lag, machte das Ganze umso besser.

Um diese Zeit war es in der Akademie sehr still. Die knapp zweihundert Lehrlinge hatten sich schon längst aus dem Staub gemacht. Selbst die Nachzügler waren wahrscheinlich schon alle fast zuhause. Und nun verließ auch ich für die nächsten vier Tage diese schulische Einrichtung durch die große Flügeltür, die aus der viktorianischen Epoche zu stammen schien – genau wie der Rest des Gebäudes. Morgen würde mein dreimonatiges Praktikum in der Venatorengilde starten. Das hieß, ich würde nur noch montags und freitags hier sein. Die Sonntage würden meine einzigen freien Tage in der Woche werden, da ich die restliche Zeit mit meinem Lehrcoach auf Streife gegen würde, um diese Monster zu töten. Ich konnte es kaum erwarten.

Mit diesen Gedanken schritt ich die Freitreppe herunter und verließ das Gelände über den breiten Kiespfad, um den nächsten Bus nicht zu verpassen.

Am Himmel hatten sich dicke Wolken zusammengetürmt, die von dem Regen kündeten, der für diese Jahreszeit völlig normal war. Die letzten Reste des winterlichen Schnees waren schon vor ein paar Wochen geschmolzen und nun befand sich das Wetter in einem ständigen Wechsel zwischen stürmischem Unwetter und strahlendem Sonnenschein. Typisch April eben.

Endlich dürfen wir bei den großen Jungs mitspielen.

Eigentlich hatte Evangeline ja Recht. Ich freute mich auch und frage mich genau wie jeder andere aus meinem Kurs, wie mein Lehrcoach wohl sein würde. Ich wollte auf keinen Fall an so einen Stümper geraten, der alles immer vermasselte. Am liebsten wäre mir eine Frau. Intelligent, listig, schnell. Oder kurz gesagt tödlich, so wie ich sein wollte. Ich hatte bei meiner Bewerbung bei der Gilde sogar extra noch einen förmlichen Brief abgegeben, in dem ich darum bat, vom besten Venator der Gilde unterrichtet zu werden. Ob es klappte würde ich leider erst morgen erfahren. Aber was auch kam, ich würde bestehen, egal was ich dafür tun müsste.

Ja, Monster, nehmt euch in Acht, ich komme und …

Als mein Bus plötzlich an mir vorbeituckerte, vergaß ich meinen Gedanken ganz schnell und nahm fluchend die Beine in die Hand, um ihn noch zu erwischen. Zum Glück war die Haltestelle gleich vorne an der Ecke und da die ältere Dame dort sich sehr viel Zeit beim Einsteigen ließ, schaffte ich es mit Leichtigkeit, ihn zu erwischen. Tja, ich war halt nicht nur gut trainiert, sondern auch sehr schnell. Als zukünftiger Venator musste man das auch sein. Schnelligkeit konnte dein Leben retten.

Es war nicht sehr voll, das war es um diese Zeit nie und so konnte ich ganz hinten problemlos einen Platz am Fenster ergattern. Obwohl sich das Hinsetzten kaum lohnte, da ich sowieso nur vier Stationen fahren musste.

Als der Bus startete, platschte der erste Regentropen gegen das Fenster und verzerrte die Spiegelung meines Gesichtes. Deutlich war nur mein langes, rotes Haar zu erkennen, das mein ovales Gesicht einrahmte und die lange Narbe, die sich von meiner rechten Wange quer über meine Lippen nach unten zum linken Teil meines Kinns zog. Meine Augenfarbe lag irgendwo zwischen Moosgrün und Oliv und wirkte immer irgendwie verwaschen.

Als der Bus drei Stationen zurückgelegt hatte, kübelte es draußen bereits wie aus Eimern.

Seufzend erhob ich mich von meinem Platz, drückte das grüne Knöpfchen, damit der Bus auch anhielt und stellte mich an die Tür. Dabei glitt mein Blick über die Plakate im Bus. Werbung für ein Sonnenstudio, ein schwedisches Möbelhaus und Englischkurse. Alltägliche Dinge, die es auch schon vor den Monstern gab. Doch heute gab es dazwischen immer wieder Plakate wie „Wir garantieren Ihnen die Sicherheit ihrer Familie!“ und „Lernen Sie sich zu schützen“, mit denen die Leute versuchten, anderen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Ja, die Monster waren die größte Plage, die jemals über die Menschheit gekommen war, aber für manch einen war sie auch ein riesiges Geschäft. Der Mensch zog halt aus allem seinen Nutzen, auch aus dem Leid der anderen.

Wir konnten wirklich selbstsüchtige Geschöpfe sein.

Als der Bus hielt und ich ausstieg, zog ich die Mütze meiner Jacke über den Kopf, um dem schlimmsten Regen zu entkommen. Leider waren meine Hosen nicht gegen die tiefen Pfützen gewappnet und so war ich trotz Jacke und der Entfernung von vielleicht fünfzig Metern, zwischen Haltestelle und dem alten, kleinen Häuschen meines Onkels, klitschnass, als ich eilig durch die Tür trat.

„Mistwetter“, fluchte ich leise und stellte Schuhe und Kuriertasche neben die kleine, schäbige Garderobe, bevor ich meine Jacke auszog und sie dazu hängte. „Ich bin wieder da!“, rief ich und steckte den Kopf rechts neben der Garderobe durch die Tür, weil ich das Gemurmel des Fernsehers aus dem Wohnzimmer hörte.

Wynn lag ausgestreckt auf der Couch und zeppte gelangweilt durch die Kanäle. Meine Anwesenheit wurde von ihr nur durch einen kurzen Blick wahrgenommen. War schließlich nichts Besonderes, da ich jeden Tag um diese Zeit nach Hause kam. Mit Jeans, Top und gestylten Haaren, sah sie aus, als würde sie gleich zu einer megaheißen Party aufbrechen und nicht als würde sie den Rest des Nachmittags vor dem Fernseher rumgammeln wollen.

In den letzten Jahren hatte sie sich mit ihren langen, roten Haaren zu einer richtigen Schönheit entwickelt. Wenn sie nur aufhören würde, sich immer das Gesicht mit dem ganzen Make-up zu bemalen. Das wirkte einfach nur billig – das war meine Meinung. Aber laut ihren Freunden sah sie so richtig toll aus und dass die Kerle in der Schule ihr hinterherpfiffen, half wohl auch nicht dabei, meine Meinung zu unterstützen.

Ich hatte ihr schon ein paar Mal gesagt, sie sollte aufhören, sich wie ein Paradiesvogel zu dekorieren, doch dann bekam ich immer zu hören, dass ich doch nur neidisch war, weil ich nicht so hübsch war. Okay, sie hatte Recht, mir stiegen die Kerle nicht gerade nach. Bis auf mein rotes Haar, war ich eben doch nur normaler Durchschnitt, aber ich war zufrieden mit meinem Äußeren.

Neben ihr im Sessel saß Onkel Roderick und versuchte angestrengt dem Programm auf der Mattscheibe zu folgen, was gar nicht so einfach war, da Wynn nach genau drei Sekunden immer weiter schaltete. Sein Haar hatte in den letzten Jahren einen strategischen Rückzug begonnen und war mit seinen ausgeprägten Geheimratsecken nun auf dem besten Wege zu einer Halbglatze. Auch um den Bauch herum hatte er ein wenig zugelegt. Das Gesicht zeichneten heute mehr Falten als damals, aber im Großen und Ganzen hatte er sich eigentlich ganz gut gehalten. Das zumindest war meine Meinung, aber auf meine Meinung wurde hier ja nicht so viel Wert gelegt.

„Onkel Rod?“, sprach ich ihn direkt an, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.

Er wandte mir das Gesicht zu. „Ah, Grace, da bist du ja endlich. Soll ich dir was zu essen machen?“

„Nein, bleib nur sitzen, ich mach mir gleich selber was. Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich da bin.“

Er runzelte die Stirn, als er mich sah. „Warum bist du so nass?“

„Weil es draußen regnet.“ Was auch der Grund war, warum das Essen noch einen Moment warten musste. Erst mal musste ich aus diesen nassen Sachen raus, um mich unter einer schönen, warmen Dusche ein wenig aufzuwärmen.

„Oh wirklich?“ Onkel Roderick sah zum Fenster. „Tatsächlich, es regnet.“

Über so viel Zerstreutheit konnte ich nur den Kopf schütteln. Manchmal hatte ich echt das Gefühl, dass er in seiner eigenen Welt lebte, so geistesabwesend, wie er immer war. Dazu kam noch seine tollpatschige Ader und seine Vergesslichkeit, die uns immer mal wieder kleine Katastrophen bescherte – wie zum Beispiel letzte Woche, wo er den Stecker für den Eisschrank rausgezogen hatte, weil er die Steckdose kurzzeitig für den Bohrer gebraucht hatte, um die lose Jalousie am Küchenfenster wieder fest zu machen. Leider hatte er danach vergessen, den Stecker wieder reinzustecken. Das Ergebnis war ein abgetauter Gefrierschrank, verdorbene Lebensmittel und eine Überschwemmung in der Küche gewesen.

Aber trotz seiner häufigen Gedankenlosigkeit war ich froh, ihn zu haben. Nach dem Tag des Grauens, an dem ich meine Eltern verloren hatte, waren er und Wynn alles was mir noch geblieben war. Er hatte uns ohne Bedenken aufgenommen, zwei traumatisierten Kindern ein liebevolles Zuhause gegeben und war immer für uns da gewesen. Mittlerweile Zwölf Jahre.

Es war sicher nicht immer einfach mit uns gewesen. Noch dazu hatte er nie viel Geld gehabt, aber er hatte uns nie aufgegeben, wie schwer die Zeiten auch gewesen waren.

Ich klopfte mit der Faust gegen den Türrahmen. „Ich geh dann kurz duschen. Wollt ihr dann auch etwas zu Essen haben, oder seid ihr schon satt?“

„Für mich nichts“, sagte Wynn und blieb mit gerunzelter Stirn einen Moment länger an einem Kanal hängen, bevor sie weiter zappte.

„Für mich auch nicht, danke.“

„Okay.“ Ich schnappte mir noch meine Tasche aus dem kleinen Flur, mit der alten geblümten Tapete und brachte sie in mein Zimmer, das ich mir mit Wynn teilen musste, weil das Haus für drei Personen einfach nicht genug Räume besaß.

Hier konnte man genau sehen, wer welche Seite des Zimmers bewohnte. Wynns Seite war voll mit Postern ihrer Lieblingssängerin und einer Fotocollage, die sie mit ihrer besten Freundin gemacht hatte. Ihren Schreibtisch hatte sie so vor ihr unordentliches Bett geschoben, dass ich sie dahinter nicht sehen konnte, wenn sie lag und ihr Kleiderschrank am Fußende war offen, damit die vielen Klamotten darin herausquellen konnten. Kurz, ihre Seite wurde von Chaos und bunten Farben beherrscht.

Meine war das genaue Gegenteil. Der Schreibtisch war ordentlich an die Wand gerückt, das Bett stand gemacht unter dem Fenster und mein Kleiderschrank war verschlossen. Ich hatte keine Poster an der Wand. Dafür eine große Pinnwand über dem Schreibtisch, die voll mit Zeitungsauschnitten über Proles war. Auf meinem Schreibtisch stapelten sich ordentlich Fachzeitschriften, die sich mit Venatoren und ihrer Beute befassten.

Das einzige was wir uns teilen mussten, war das große Regal, das unser Zimmer in der Mitte in zwei Bereiche unterteilte. Aber auch hier sah man deutlich, wem welche Fächer gehörten. Penible Ordnung versus das reine Chaos.

Ich legte meine Tasche ordentlich auf meinen Schreibtisch und verschwand dann in das kleine, geflieste Duschbad auf der anderen Seite vom Flur. Die nassen Klamotten landeten auf einem unordentlichen Haufen neben dem Wäschekorb unterm Waschbecken. Dann stand ich auch schon in der gefliesten Dusche unter dem prasselnden Strahl.

Hmmm, ich war im Himmel. Das warme Wasser tat meiner Haut gut, es entspannte mich vom anstrengenden Tag in der Akademie.

Um uns noch mal einen letzten Crashkurs vor dem Praktikum zu geben, hatte Herr Keiper uns heute besonders hart rangenommen und das spürte ich nun in jedem Knochen. In Monsterkunde Theorie hatte er uns so viel Wissen in den Kopf gehämmert, dass mir davon fast der Schädel geplatzt war – okay, es hieß eigentlich nicht Monsterkunde, sondern Proles Theorie, aber so wurde es nicht mal von den Mentoren genannt. Und als er uns dann auch noch einen Test vor die Nase geklatscht hatte, war ich wohl die einzige gewesen, die nicht laut aufgestöhnt hatte. Und das lag nicht nur daran, dass ich so gut war in dem was ich tat – nein, ich war nicht eingebildet, es war eben einfach eine Tatsache, für die ich hart gearbeitet hatte. Ich war gut und ich wusste es auch, daran war nichts Verwerfliches – sondern dass ich damit wirklich etwas erreichen wollte.

In den anderen Fächern war es heute nicht viel besser gewesen. In Jägersprache mussten wir alles immer und immer wieder wiederholen, bis unsere Köpfe rauchten und Waffenlehre Praxis hatte Herr Keiper uns beim kleinsten Fehler so sehr angebrüllt, dass es mich wunderte, dass er davon nicht ganz heiser geworden war. Danach in Sport mussten wir heute so viel rennen, springen und klettern, dass schon nach kurzer Zeit jeder Muskel in meinem Körper protestiert hatte.

In Monsterkunde Praxis hatten nicht alle in den Zwinger gemusst, aber die, die drinnen waren, haben heute eine Strenge erleben dürfen, die sogar für unseren Mentor übertrieben war. Herr Keiper hatte den Eindruck erweckt, als wollte er alles, was wir bei ihm in den letzten zwei Jahren gelernt hatten, aus den Tiefen unserer Köpfe zerren, um die größtmögliche Chance zu bekommen in jeder auf uns zukommenden Situation richtig zu reagieren.

Erschöpft lehnte ich meinen Kopf gegen die Fliesen und ließ mich noch ein paar Minuten von dem warmen Wasser berieseln, aber als mein Magen dann lautstark zu meckern begann, machte ich, dass ich aus der Dusche kam. Noch schnell die dreckige Wäsche in die Waschmaschine, dann ein kurzer Abstecher in mein Zimmer, um mir eine bequeme Jogginghose und einen weiten Pulli anzuziehen und dann stand ich auch schon, mit einem Handtuchturban auf dem Kopf, vor unserem Kühlschrank in der kleinen Küche und durchstöberte die einzelnen Fächer systematisch nach etwas Essbarem.

Hm, viel war da ja nicht gerade zu finden. Ein abgelaufener Pudding, etwas Belag und eine Tupperdose mit einer seltsamen Masse, die vor ein paar Wochen wohl mal ein Mittagessen gewesen sein könnte – ich warf das Zeug samt Dose in den Mülleimer, bevor sich daran noch jemand eine Lebensmittelvergiftung holen konnte. Onkel Roderick hatte wohl vergessen einkaufen zu gehen. Dann würde ich das nachher wohl wieder machen müssen. Meine Begeisterung hielt sich in Grenzen.

Wenigstens war noch alles für ein Käse-Schinken Sandwich da – naja, zumindest Käse und Schinken. Und in den Tiefen unseres Vorratsschrankes fand ich sogar noch etwas Brot, mit dem man noch keine Steine klopfen konnte.

Ich nahm was ich kriegen konnte, verschwand dann mit den fertigen Sandwiches kurz in mein Zimmer, um meine Lektüre zu besorgen und ging dann bewaffnet damit zurück ins Wohnzimmer, wo sich meine Familie in der Zwischenzeit keinen Millimeter bewegt hatte. Wynn zappte immer noch von einem Programm zum nächsten und Onkel Roderick versuchte weiterhin angestrengt den wechselnden Bildern zu folgen.

Familie. Darum ging ich diesen Weg. Ich würde sie beschützen. Und mich rächen, für das, was sie mir angetan hatten.

Onkel Roderick sah neugierig zu mir rüber. „Ist was, Kleines, oder warum kommst du nicht rein?“

Einem Impuls folgend legte ich meine Sachen auf den kleinen Wohnzimmertisch vor der Couch und nahm meinen Onkel in den Arm.

„Oh.“ Überrascht sah er zu mir auf. „Womit habe ich das denn verdient?“

„Einfach nur so.“ Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange und ja, die pikste auch heute noch. „Ich hab dich lieb, Onkel Rod.“

„Ach Grace.“ Er tätschelte etwas hilflos meinen Arm. „Damit machst du einen alten Mann eine große Freude.“

„Ach, so alt bist du doch noch gar nicht“, warf Wynn von der Seite ein, hielt es dabei aber nicht für nötig, den Blick vom Bildschirm abzuwenden. „Du bist erst … äh …“ Sie runzelte angestrengt die Stirn. „Hm, hab es vergessen.“

Da konnte man nun wirklich nur noch die Augen verdrehen. „Onkel Rod ist zweiundvierzig“, sagte ich, als ich ihn losließ und zur Couch ging. „Ich bin achtzehn und du sechzehn, falls du das auch vergessen haben solltest. Und jetzt nimm die Füße da runter, ich will auch irgendwo sitzen.“

Bevor sie die Gelegenheit bekam, meiner Aufforderung zu folgen, schob ich ihre Beine weg und ließ mich ins Polster fallen. Noch ein Griff zu Buch und Essen, dann machte ich es mir mit untergeschlagenen Beinen bequem und schlug meine völlig zerlesene Lektüre auf, während ich herzhaft mein Sandwich biss.

„Liest du schon wieder diesen Schinken?“ Den Blick von Wynn spürte ich mehr, als dass ich ihn sah. „So interessant kann das doch gar nicht sein.“

Das konnte sie aber auch nur sagen, weil sie nichts außer hirnlosen Teenyzeitschriften las. „Ich lerne. Versuchs auch mal damit, ist gut für deine Zukunft.“

„Aber Grace“, tadelte Onkel Roderick über meinen abfälligen Ton milde. „Sei nicht so. Außerdem hat Wynn schon recht, zu viel lernen ist auch nicht gut. Hin und wieder sollte man sich mal eine Auszeit nehmen und sich ein wenig ausruhen. Das hat noch niemanden geschadet.“

Ich schlug mein Buch zu und sah etwas genervt zu ihm rüber. Dieses Gespräch hatten wir schon so oft geführt, dass ich es langsam in und auswendig konnte. „Ausruhen kann ich mich immer noch, wenn ich tot bin. Morgen beginnt schließlich das Praktikum und da muss ich gut vorbereitet sein, um nicht wie ein totaler Anfänger rüberzukommen.“ So wie manch anderer aus meinem Kurs. „Ich will einmal der beste Venator werden, den es jemals gegeben hat, das habe ich mir fest vorgenommen und dafür muss ich eben viel lernen.“ Ich wollte die Beste der Besten werden.

Wynn durchbohrte mich mit ihrem Blick. Seit diesem Tag vor zwölf Jahren hasste sie alles was mit Proles zu tun hatte und machte es auch sehr deutlich. Und dass ich den Weg des Venators eingeschlagen hatte, passte ihr so gar nicht.

„Hör auf mich so böse anzugucken, ich muss das machen“, rechtfertigte ich mich.

Sie schnaubte. „Du musst das nicht machen, du willst das machen, das ist ein himmelweiter Unterschied.“

Da täuschte sie sich aber gewaltig. Früher hatten die Bilder meines sechsten Geburtstags mich Tag und Nacht heimgesucht und geplagt. Mehr als einmal war ich an dem Rand eines Nervenzusammenbruchs gewesen, war genau wie sie von einer Therapie in die andere gegangen. Ich hatte mich in meinem Leben mit fast allen Psychodocs der Stadt auseinandersetzten müssen, aber nichts davon hatte mir geholfen. Ganz im Gegenteil, es war immer schlimmer geworden. Erst als ich erfahren hatte, dass man sich ausbilden lassen konnte, um gegen die Monster da draußen zu bestehen, erst als ich diesen Weg gesehen hatte, der mir zeigte, wie ich mich in Zukunft schützen konnte, erst da war es mit mir langsam bergauf gegangen. Seitdem hatte ich alles getan, um die Beste zu werden. Die Beste in der Schule, die Beste beim Abschluss, die Beste auf der Beluosus Akademie. Ich wollte in allem die Beste sein, denn nur so würde ich mich niemals wieder so hilflos wie damals fühlen. „Du hast keine Ahnung wovon du sprichst.“

„Nein, du hast keine Ahnung wovon du da sprichst!“ Sie fuhr so schnell aus ihrer Position hoch, dass die Fernbedienung auf den Boden viel. „Glaubst du ich fand es toll Mama und Papa zu verlieren? Meinst du ich würde mich nicht mehr an diesen Tag erinnern, nur weil ich erst vier war? Falsch gedacht. Und jetzt willst du da rausgehen und diesen Viechern auch noch hinterherlaufen, damit sie dich noch schneller erwischen können?!“ Ihre Augen funkelten vor Wut.

„Ich werde sie töten, nicht sie mich“, sagte ich fest.

„Das kannst du doch gar nicht wissen! Gott, wie blöd bist du eigentlich? Guckst du hin und wieder vielleicht mal Nachrichten? Weißt du wie oft da Venatoren sterben, weil sie doch nicht so gut waren, wie sie es sich eingebildet haben? Und du tust auch noch alles, um dich mitten in diesen aussichtslosen Kampf reinzuwerfen. Dein ganzes Leben dreht sich um diesen Mist. Ständig muss ich diesen Scheiß hier reinziehen und mir anhören, wie du in der Arena wieder einem dieser Bestien gegenübergestanden hast und die Kratzer und Blutergüsse sehen, die du deswegen hast. Ich hasse das!“

„Jetzt hör auf, dich hier so künstlich aufzuregen. Ich mache das auch für dich, um dich im Notfall schützen zu können und …“

„Wage es ja nicht zu behaupten, dass du das für mich machst!“, fauchte sie mich an. „Das ist die größte Lüge die jemals aus deinem Mund gekommen ist! Ich hasse den Weg den du eingeschlagen hast! Ich hasse deine fanatische Ader! Willst du unbedingt krepieren? Bitte, dann mach doch, mir doch egal. Fall tot um, ich hasse dich!“

Mit diesen Worten stürmte sie aus dem Wohnzimmer. Einen Moment später knallte unsere Zimmertür. Das Schloss klickte und die Musikanlage nebenan bis zum Anschlag aufgedreht.

Zurück blieben Onkel Roderick und ich in gedrückter Stimmung.

Das war auch nicht zum ersten Mal passiert. Sie verstand einfach nicht, warum ich das wollte, dass ich das brauchte um mich sicher fühlen zu können. Man musste seinen Ängsten entgegentreten und ins Gesicht sehen, nur so konnte man sie überwinden. Ich tat wenigstens etwas Vernünftiges. Sie hingegen schloss sich den ganzen Tag im Haus ein, weil sie Angst hatte auf die Straße zu gehen. Ich konnte gar nicht mehr zählen, wie oft sie so getan hat, als wäre sie krank, nur um nicht in die Schule gehen zu müssen. Zwei Mal hatte sie deswegen die Klasse wiederholen müssen.

Nein, nicht ich beschritt den falschen Weg, sondern sie.

„Schau nicht so, sie meint es nicht böse“, sagte Onkel Roderick irgendwann. „Sie hat nur Angst davor, dass dir etwas passieren könnte.“

„Mir wird aber nichts passieren.“ Ich legte ein angebissenes Brot zurück auf den Teller und strich mit dem Fingern über den Titel meines Buches. Proles – Die Natur im Wandel. „Dafür trainiere ich schließlich so viel. Ich arbeite so hart wie kein anderer, bin die beste in meiner Gruppe. Ich bin in allem die Beste und ich werde es auch weiterhin sein.“

Onkel Roderick tippte die Spitzen seiner Finger gegeneinander, als er über meine Worte nachdachte. „In Gewissen Punkten muss ich dir zustimmen. Du arbeitest wirklich viel und hart und gönnst dir kaum Freizeit. Natürlich hat deine Arbeit zum Teil schon Früchte getragen. In dem was du tust bist du sehr gut, aber auch ich habe manchmal Angst, dass dein Erfolg dich irgendwann zu leichtsinnig werden lässt. Du kennst sicher das Sprichwort, Übermut kommt vor den Fall?“

Bei diesem Spruch verzog ich finster das Gesicht. „Ich bin nicht übermütig.“

„Nein, so habe ich das gar nicht gemeint, was ich eigentlich sagen wollte … ich …“ Unsicher suchte er nach Worten. „Natürlich würde ich es auch begrüßen, wenn du einen weniger gefährlichen Berufsweg eingeschlagen hättest, aber ich werde deinen Wünschen nicht im Weg stehen. Ich bin stolz auf dich, egal für was du dich entscheidest, nur sei bitte vorsichtig. Dass ich meinen Bruder und deine Mutter verloren habe, war schon schwer genug für uns alle, ich möchte nicht auch noch meine Nichte zu Grabe tragen müssen.“

„Ach Onkel Rod, wie oft soll ich es noch sagen, mir wird nichts passieren. Es ist ja nun nicht so, dass ich blindlings und unbewaffnet auf einen Proles zugehen würde. Ich pass auf mich auf, versprochen.“

„Das hoffe ich, Grace, das hoffe ich wirklich.“ Er bückte sich nach der Fernbedienung, um sie vor mich auf den Tisch zu legen und erhob sich dann aus seinem Sessel. „Ich werde mal nach Wynn sehen.“

„Okay.“ Obwohl du dir das eigentlich auch sparen könntest, dachte ich, als ich ihm beim Verlassen des Zimmers hinterher sah. Wenn Wynn so drauf war, kam niemand an sie ran. Sie hatte sich wieder in ihre kleine Welt zurückgezogen.

Früher, als sie noch klein gewesen war, hatte sie, wenn ihr alles zu viel wurde, immer die Hände auf die Ohren gedrückt und mit zusammengekniffenen Augen leise vor sich hin gesummt. Heute machte sie das nicht mehr. Wenn sie mit ihrer Welt heute nicht klar kam, schloss sie sich in ihr Zimmer ein und drehte die Musik voll auf. Ich konnte nur hoffen, dass sie sich bis heute Abend wieder eingekriegt hatte, denn sonst würde ich mal wieder eine Nacht auf der Couch schlafen dürfen – und die war echt unbequem.

Seufzend lehnte ich mich zurück und schlug erneut das völlig zerlesene Buch auf, das ich eigentlich schon auswendig kannte. Aber ich wollte heute noch so viel wie möglich wiederholen, um morgen einen guten Start hinlegen zu können.

Ich ließ meinen Finger über das vertraute Inhaltsverzeichnis gleiten. Vorwort, Evolution, Instinkt, Sozialleben, Physiologie, Fortpflanzung, Abstammung, Stammgruppen und Unterarten.

Wie oft schon hatte ich diese Bewegung mit dem Finger gemacht? Ich konnte es nicht mehr zählen, aber es war wie ein kleines Ritual, das ich absolvieren musste, bevor ich anfangen konnte zu lesen. Ich blätterte eine Seite weiter, beachtete meine handgeschriebenen Notizen am Rand nicht, sondern konzentrierte mich direkt auf den Tex.

 

Vorwort

 

Viele Tiere erregen Angst. Seit jeher haben manche Menschen Furcht vor Schlangen, Kröten, Käuzen und Eulen und auch vor Fledermäusen. Heute allerdings sind viele Vorurteile und irrige Vorstellungen verschwunden, denn das Auftauchen der Proles hat vielem eine neue Bedeutung gegeben.

 

Proles – Die Natur im Wandel ist ein Nachschlagewerk, in dem das Wissen unserer Zeit in 13 Kapiteln geordnet, klar und übersichtlich abgehandelt wird. Es ist zur Unterstützung der heranreifenden Venatoren von Spezialisten in Zusammenarbeit mit ausgebildeten Venatoren verfasst worden und enthält alle nötigen Informationen die im Verlauf der Bildung gefordert werden. Es ist für den täglichen Gebrauch bestimmt und vor allem zum schnellen Nachschlagen geeignet.

 

Evolution

 

Das Tierreich verändert sich ständig. Wir brauchen uns nur einen weißen Raben anzusehen, ein Tier, das sich aufgrund einer Mutation von der Mehrzahl der Vertreter seiner Art unterscheidet.

Der Wandel, in der stammesgeschichtlichen Entwicklung der Organismen wird als Evolution bezeichnet. Auffällige Beweise für das Phänomen der Evolution erbringt die Paläontologie, denn sie zeigt uns, dass früher Tiere auf unserem Planeten lebten, die sich von den uns vertrauten Arten unterscheiden. Das bringt uns zu der Evolutionstheorie.

Zwar waren verschiedene Evolutionstheorien schon von verschiedenen Gelehrten und Schriftstellern entwickelt und verfasst worden, aber erst der französische Naturforscher Jean-Baptiste de Lamarck stellte 1809 eine Evolutionstheorie vor, die auf Anpassung der Umgebung basierte. Fünfzig Jahre später veröffentlichte der britische Biologe Charles Darwin seine berühmte Theorie von der natürlichen Auslese, die – über viele Generationen – zum Wandel der Arten führte.

Obwohl bis heute, von bestimmten Gruppierungen abgelehnt, hat sich die Darwin‘sche Evolutionstheorie in der Biologie durchgesetzt. Besonders in ihrer modernen Form, die sich durch Einbeziehung neuer Erkenntnisse v.a. der Genetik, Populationsbiologie, Biographie, Ökologie, Biochemie und Physiologie seit den 1930er und 1940er Jahren zu einer synthetischen Evolutionstheorie weiterentwickelt hat. Auch für diese gilt, dass noch immer nicht alle an der Evolution beteiligten Faktoren erfasst sind. Sie kann jedoch die heute bekannten Erscheinungen weitgehend erklären und ist in der Lage, künftig bekannt werdende Evolutionsfaktoren aufzunehmen.

Die Paläontologie ermöglicht sogar eine Schätzung der Evolutionsgeschwindigkeit, die bei den verschiedenen Tiergruppen sehr unterschiedliche Werte ergibt. In der Stammesgeschichte des Pferdes bilden sich acht Gattungen in sechzig Millionen Jahren heraus.

In anderen Gruppen stagnierte die Evolution dagegen. Daher haben wir heute noch Tiere vor uns, die ihren Vorfahren aus dem Paläozoikum oder Mesozoikum stark ähneln und meist die einzigen heute noch lebenden Vertreter ihrer Gruppe sind. Bekannt Beispiele für lebende Fossilien sind der Pfeilschwanzkrebs und das Opossum.

 

Und hier Beginnt die Entstehung des Proles.

Doktor Christopher Krynick …

 

Ich blätterte ein paar Seiten weiter. Die Entstehung des Derivat-Gens interessierte mich im Moment nicht besonders. Ich blieb erst wieder bei Fortpflanzung hängen. Paarungsverhalten, Nestbau, Geburt, Aufzucht. Als ich die nächste Seite aufschlug, fiel mir ein Zettel in die Hand, auf dem ich schon vor lange Zeiten Notizen gemacht hatte.

 

Das Derivat-Gen macht es möglich, das die Befruchtung der Eizellen auch speziesübergreifend funktionieren kann. So konnte es geschehen, dass aus ursprünglich sieben Stammgruppen zehn geworden sind, mit jeweils verschiedener Anzahl von Unterarten. (Nach heutigem Stand insgesamt 137 Unterarten aller Stammesgruppen zusammen)

 

  • Canis-Proles Hundeabkömmling

  • Feles-Proles Katzenabkömmling (beinhaltet auch Großkatzen)

  • Vulpes-Proles Fuchsabkömmling

  • Dama-Proles Rehabkömmling

  • Capella-Proles Ziegenabkömling

  • Meles-Proles Marderabkömmling

  • Ursus-Proles Bärenabkömmling (Waschbären)

  • Simia-Proles Affenabkömmling (Schimpansen/ Kapuzineräffchen)

  • Sciurus-Proles Eichhörnchenabkömmling (beinhaltet auch Ratten und Mäuse)

  • Lacerta-Proles Echsenabkömmling

 

Außerdem bewirkt das Derivat-Gen einen sehr langen Fellwuchs, sodass auch Abkömmlinge aus wärmeren Gebieten das ganze Jahr über einen langen Pelz haben, der in den warmen Monaten ausdünnen kann.

 

Proles ist lateinisch und bedeutet übersetzt Abkömmling.

 

Der Ur-Proles hatte noch die größte Ähnlichkeit mit den Urvätern seiner Abstammung. Er unterschied sich zumeist nur in Größe, Färbung und speziellen Fähigkeiten von seinen Artverwandten.

 

Heute zeichnet sich der Proles durch drei sehr ausgeprägte Instinkte aus. Der Suche nach Nahrung, Fortpflanzung und sehr bezeichnenden Territorialverhaltens, wobei er in allen Punkten sehr aggressiv vorgeht. Sie sind alle ohne Ausnahme Allesfresser. Der heutige Proles ist ein Rudeltier. Er tritt nur sehr selten allein auf.

 

Das Aussehen des Proles täuscht über sein wahres Wesen hinweg. So wird er im allgemein als niedlich, oder sogar wunderschön bezeichnet, doch dieses äußere ist eine Täuschung, die, wenn man ihr zum Opfer fällt, den Tod zur Folge hat.

 

Die auffälligsten Merkmale eines Proles sind wohl die zumeist unnatürlichen Färbungen des Fells, das durch alle Töne des Farbspektrums variieren kann. Weit verbreitet sind Blau, Rot, Gelb und Grün. Auch das verhältnismäßig lange Fell eines jeden Proles zählt wohl zu den gemeinsamen Auffälligkeiten. Genau wie das stechende Gelb ihrer Augen.

 

Die ersten Abkömmlinge waren zum Teil noch Pflanzenfresser, dem ist heute nicht mehr so. Proles sind höchst aggressiv und machen bei der Wahl ihrer Beute keine großen Unterschiede.

 

Durch das mutierte Derivat-Gen veränderte sich das äußere Erscheinungsbild der Proles innerhalb weniger Jahre so sehr, dass die Abkömmlinge heute kaum noch mit den Urvätern ihrer Arten zu vergleichen sind. Nie ist in der Evolution eine so schnelle Entwicklung zu verzeichnen gewesen. In jeder neuen Generation können auffällige Abweichungen belegt werden, die von ihrem Äußeren, über ihr Verhalten, bis zum Verteidigungstrieb und den Angriffsfähigkeiten reichen. Dieses Phänomen löst das Derivat-Gen aus, das noch immer für gravierende Mutationen sorgt.

 

Vor der Geburt und für die Zeit der Aufzucht, zieht sich das trächtige Proles-Weibchen vom Rudel zurück, um dem Nachwuchs die größtmögliche Überlebenschance zu geben und sie vor den älteren Mitgliedern des Rudels zu schützen.

 

Der Nachwuchs wird von den Muttertieren geschützt und bis zum Tode verteidigt, doch sobald die jungen Proles erste Anzeichen der Geschlechtsreife zeigen, wird es für sie Zeit das heimatliche Nest zu verlassen und sich einem anderen Rudel anzuschließen, um nicht von den älteren Tieren getötet zu werden. Wahlweise können sie sich auch unterwerfen, doch auch hierbei ist die Überlebensrate nicht sehr hoch. Ein Proles kann drei bis zwölf Jungtiere Pro Wurf bekommen (Durchschnitt, Zahl variiert je nach Stammgruppe und Unterart)

 

Verteidigungsformen: Gift in Krallen und/oder Zähnen, paralysieren durch Elektroschocks (siehe Stachelrochen), gezackte Zähne, Stacheln (Siehe Stachelschwein), u.a.

 

Da der Proles sehr anpassungsfähig ist, ist er heute in so ziemlich jeder Region der Welt vertreten. Die ersten Abkömmlinge stammten aus einem Forschungslabor bei Riverton (Wyoming in den USA), in der Nähe vom Yellowstone National Park. Als blinde Passagiere auf Schiffen und in Flugzeugen, kamen sie über die Ozeane und breiteten sich innerhalb kürzester Zeit sehr weit aus, da keiner der Stammgruppen natürliche Feinde hat und sie bei der Wahl ihrer Geschlechtspartner nicht sehr wählerisch sind.

Die explosionsartige Verbreitung der Proles hat viele Tiere aus ihren angestammten Lebensräumen verdrängt und an den Rand des Aussterbens gebracht. So wurden zum Bespiel bereits seit neun Jahren kein freilebender sibirischer Tiger mehr gesichtet und die bis vor ein paar Jahren noch weit verbreiteten Tüpfelhyänen wurden an den Rand der Ausrottung gebracht. Auch der Bestand freilebenden Wildes wie Rehe, Wildschweine und der Feldhase ist in den letzten Jahren rapide zurückgegangen.

 

Das waren Stichpunkte, die ich mir am Anfang meiner Ausbildung für einen Test rausgeschrieben hatte. Vielleicht sollte ich sie Eve mal mitgeben, damit sie einen manierlichen Aufsatz zustande bekam. Als ich an den Text dachte, denn sie mir in der letzten Stunde gezeigt hatte, konnte ich wieder nur den Kopf schütteln. Manchmal fragte ich mich wirklich, was in dem Kopf meiner besten Freundin vor sich ging. À la Spionage. Darüber würde ich wohl niemals hinwegkommen.

Ich legte meinen Notizzettel zurück in die Seite und blätterte durch das Buch bis zum Verzeichnis Stammgruppen und Unterarten. Seite für Seite blätterte ich das Kapitel durch. Sah mir die Daten an, die Bilder und Zeichnungen, bis ich bei dem Bild von Ihm hängen blieb.

Guck mal, Gracy, der lustige Hund. Ich habe ihn Plüsch genannt, weil er so plüschig aussieht.

Würde dieser eine Satz mich mein Leben lang verhöhnen? Würde ich dem Vergangenen irgendwann einmal entkommen? Ich schloss die Augen, um die Daten in meinem Kopf abzurufen.

 

Stammgruppe: Canis-Proles

Unterart: Iuba

Abstammung: Es wird davon ausgegangen, dass der ursprüngliche Stammesvater ein Hund war.

Größe: Durchschnittlich zwischen 103 cm bis 132 cm Widerrist.

Gewicht: 81 kg bis 103 kg

Farbe: Schwarz, Weiß und alle Grautöne dazwischen.

Aussehen und Charakter: Der Körperbau ähnelt dem eines Deutschen Schäferhundes. Neben dem dunkelgestreiften Kopf, dem kleinen Ziegenbart und dem längeren Fell, ist die löwenartige Mähne, die windschnittig nach hinten verläuft, das auffälligste Merkmal am Iuba. Er hat einen sehr langen Schwanz (der Körperlänge entsprechend), um beim Klettern das Gleichgewicht halten zu können. Lange Ohren, die in der Mähne leicht untergehen. Der Iuba ist wohl der einzige bekannte Proles, der mit der Aufzucht seiner Jungen das Rudel vergrößert. Außerdem ist er sehr intelligent, ruhig und höchst aggressiv.

Merkmale: Tagaktiv. Nachtblind. Kugelgelenke.

Lebensdauer: Der älteste bekannte Iuba wird seit dreizehn Jahren in der Forschungsstation Historia beherbergt. Er wird auf ein Alter von mittlerweile sechzehn Jahren geschätzt. Es ist nicht abzusehen, wie sich das Derivat-Gen auf den weiteren Alterungsverlauf auswirkt.

Verbreitung: Häufig

Verbreitungsgebiet: Zu weiten Teilen in Südamerika und Europa. Auch in Südostasien wurden bereits mehrere Rudel gesichtet.

 

Als ich die Augen wieder aufschlug, sah ich genau in den stechend gelben Blick dieser Bestie. Auf dem Bild sah er so unschuldig aus, harmlos, ja fast hübsch, aber ich kannte das Monster hinter dieser Fassade, hatte am eigenen Leib zu spüren bekommen, wozu dieses Tier fähig war.

Wie von selbst fuhr mein Finger zu der Narbe über meiner Lippe. Oh ja, ich wusste ganz genau, was ein Plüsch anrichten konnte.

Als mein Onkel niedergeschlagen ins Wohnzimmer zurückkam, hörte ich auf, das Foto anzustarren und blätterte schnell weiter. Er musste das nicht mitbekommen. Er machte sich immer viel zu schnell Sorgen.

Seufzend ließ er sich in seinen Sessel fallen, griff nach der Fernbedienung und schaltete auf Nachrichten um. Er musste nichts sagen, ich wusste auch so wie es gelaufen war. Er hatte an der Tür gestanden und geklopft, während Wynn ihn solange ignoriert hatte, bis er aufgab und wieder ging.

Ich blätterte ein paar Seiten weiter zu einem Proles, der so harmlos aussah, dass man die Bestie in ihm gar nicht erwarten würde.

 

Stammgruppe: Meles-Proles

Unterart: Arbor

Abstammung: Es wird davon ausgegangen, dass der ursprüngliche Stammesvater zu den marderartigen Tieren gehörte.

Größe: Durchschnittlich zwischen 48 cm bis 72 cm, mit Schwanz 82 bis 104 cm

Gewicht: 0,8 kg bis 1,7 kg

Farbe: Das Deckfell des Körpers ist bei einem Rosaton angesetzt, mit gelben Schattierungen. Bauch und Schwanz dagegen sind rein gelb.

Aussehen und Charakter: Der Körperbau ähnelt dem eines Marders. Der knöcherne, gezackte Schild am Kopf ist eine Verlängerung des Schädels, hinter dem die kleinen, runden Ohren versteckt sind. Bei den Männchen färbt sich der Schild bei der Werbung um die Partnerin dunkelrot. Der lange Schwanz ist sehr kräftig und dient zum Klettern und Festhalten (er schläft mit dem Kopf nach unten hängend in einem Baum). In der spitzen Schnauze verbergen sich messerscharfe Zähnchen. Der Arbor verständigt sich durch Zirplaute. Außerdem ist er sehr äußerst aggressiv, sobald jemand in die Nähe seines Schlafbaums kommt.

Merkmale: Nachaktiv. Greift er an, geht er immer direkt auf die Augen und frisst sich anschließend mit den scharfen Krallen und den spitzen Zähnchen in den Körper hinein.

Lebensdauer: Der älteste bekannte Arbor wurde neun Jahre in der Forschungsstation Historia beherbergt, bevor er verstorben ist. Nach den erlangten Erkenntnissen, wird davon ausgegangen, dass er eine ungefähre Lebenserwartung von zwölf Jahren hat.

Verbreitung: sehr selten

Verbreitungsgebiet: Er ist in Süd- und Nordamerika beheimatet, wurde aber auch bereits in Europa gesichtet.

 

Diese kleinen Arbors waren wirklich widerliche Viecher. Im Laufe des Unterrichts hatte Herr Keiper hin und wieder Fotos von Proles-Opfern gezeigt. Darunter waren auch Bilder von Leichen gewesen. Wenn einem von uns davon schlecht wurde, sagte er immer: „Jetzt sind es nur Bilder, die ihr seht, aber wenn ihr irgendwann da draußen seid, dann ist es Realität, dann sind die Leichen echt und damit müsst ihr auch fertig werden. Wer das hier schon nicht verkraftet, der ist hier falsch und kann meinen Klassenraum gleich verlassen.“

Es gab Leute die gegangen waren, aber ich hatte nicht dazu gehört, obwohl mir am Anfang regelmäßig das Frühstück die Kehle raufgewandert war.

Einmal war auch ein Bild von einem Todesopfer von einem Arbor dabei gewesen. Eine junge Frau, das Gesicht völlig zerkratzt, die Augen fehlten. Aber das wirklich Schlimme, an diesem Bild, war das Loch im Bauch gewesen, durch dass sich der Arbor ins Innere gefressen hatte, um an die weichen Organe ranzukommen.

Als das Foto geschossen worden war, hatte der Proles sich noch im Körper seines Opfers befunden. Die Spitze seines puschligen, gelben Schwanzes hatte aus dem Loch geragt. Ich bekam heute noch eine Gänsehaut, wenn ich an dieses Bild dachte. Es war wohl das Grausamste, was ich jemals gesehen hatte.

Ich blätterte weiter durch mein Buch. Majes, Amph, Spuma, Minor, Pillicula. Alles lateinische Namen, oder Abwandlungen davon. Erst bei dem Bild von einem feuerroten Proles blieb ich wieder hängen.

 

Stammgruppe: Feles-Proles

Unterart: Toxrin

Abstammung: Katze

Größe: Durchschnittliche Kopfrumpflänge zwischen 80 cm und 120 cm, Wiederrist von 50 cm bis 70 cm

Gewicht: 20 kg bis 35 kg

Farbe: Karminrot. Schwarze Maske, schwarze Beine (kurz behaart), schwarze Schwanzspitze

Aussehen und Charakter: Der Körperbau ähnelt der einer orientalischen Katze (Siam, Bengal, Tonkanese), was unter dem langen Fell jedoch nur schwer zu erkennen ist. Da er fast blind ist (es wird bei der ganzen Art ein Gendefekt vermutet), benutzt er zur besseren Orientierung die großen, schwarzen Ohren. Der lange Schwanz hilft dem Toxrin, beim Klettern das Gleichgewicht zu halten. Einer der wenigen Einzelgänger unter den Proles. Sogar der eigenen Rasse tritt der Toxrin sehr aggressiv gegenüber.

Merkmale: Hohle Krallen, die durch Drüsen in den Pfoten mit Gift versorgt werden.

Lebensdauer: der Toxrin hat nur eine geringe Lebenserwartung von etwa 5 bis 7 Jahren.

Verbreitung: normal

Verbreitungsgebiet: Der Toxrin ist in Süd- und Nordamerika, Europa, Asien und Afrika zu finden.

 

Ja, das Gift dieser Viecher war eine richtig üble Sache. Wenn es in den Körper gelangte, zerfraß es Organe und Blutgefäße von innen nach außen. Man starb nicht immer daran. Wenn man schnell genug das Gegengift bekam, hatte man eine Überlebenschance von etwa zwanzig Prozent, doch was dann folgte, war kein Leben mehr, denn es blieben immer massive Schäden zurück.

Bei der eigentlich harmlosen Abbildung des Toxrin, fragte ich mich nicht zum ersten Mal, wie aus der ursprünglich so wohlwollenden Idee eines genialen Wissenschaftlers etwas so Gefährliches und Bestialisches hatte entstehen können. Tja, das passierte eben, wenn der Mensch versuchte in der Natur herum zu pfuschen. Sie begann sich zu rächen. Und zwar auf einem sehr grausamen Weg.

Als ich aus den Augenwinkeln sah, wie Onkel Roderick den Kopf schüttelte, hob ich den Blick zum Fernseher. Es liefen noch immer die Abendnachrichten und das Foto im Bildschirm hinter der Nachrichtensprecherin erzählte eine Geschichte von Blut und Tod, wie wir sie täglich zu sehen bekamen. „Mach das mal lauter“, bat ich ihn.

Die Lautstärkeanzeige am Bildschirm stieg, bis ich die blonde Frau deutlich verstehen konnte.

„… hat die Gemeinschaft der Venatoren wieder einmal einen schweren Angriff von Proles zu verzeichnen. Die Tragödie ereignete sich heute am frühen Nachmittag in Lissabon. Sieben Menschen wurden dabei verletzt. Zwei tödlich und zwei weitere werden die Nacht nicht überleben. Kanya Witmer ist für uns vor Ort und berichtet über das Geschehen.“

Das Bild wechselte vom Nachrichtenstudio auf einen abgesperrten Bereich in einem noch halb mit Schnee bedeckten, kleinen Park, in dem eine überbezahlte blonde Barbie mit Mikrofon versuchte, sich bei dem starken Wind die Haare aus dem Gesicht zu halten, um vor der Kamera eine besonders gute Figur abzugeben – aber das funktionierte nicht. Wenigstes ihr Bericht war den Umständen entsprechend gut.

Der Ort des Geschehens, ein Spielplatz, war zu dem Zeitpunkt nur von ein paar Jugendlichen benutzt worden, die mit ihrer freien Zeit nichts Besseres anzufangen wussten, als dort rumzulungern, als die Krants, auf der Suche nach ihrer nächsten Mahlzeit, auf sie aufmerksam wurden. Es war ein ganzes Rudel, das hinterrücks über die ahnungslosen Jugendlichen hergefallen war und ein Blutbad angerichtet hatte. Sie hatten keine Chance gehabt.

Beim Eintreffen der Venatoren konnte nur noch Schadensbegrenzung betrieben werden. Elf Krants wurden exekutiert, doch ein Großteil des Rudels war entkommen und würde in der Zukunft sicher für weitere brutale Taten Sorgen.

Die Bilder waren schrecklich, die Tat noch schrecklicher.

Manchmal fragte ich mich, ob der Kamp nicht eigentlich jetzt schon zum Scheitern verurteilt war.

 

°°°°°

Kapitel 02

 

Nervös war ich schon ein bisschen, als ich vor dem imposanten Flachbau der Venatorengilde stand. Dieses Bauwerk, das noch Geschichten aus längst vergessener Zeit erzählte, würde ab heute für die nächsten drei Monate der Mittelpunkt meines Lebens sein. Okay, das war vielleicht doch ein wenig übertrieben, aber aufregend war es schon.

Eigentlich musste ich mir eingestehen, dass dieses Gebäude mit seiner roten Backsteinfassade nicht wirklich eindrucksvoll, sondern einfach nur alt war, vielleicht sogar ein wenig verfallen, aber auf mich wirkte es trotzdem imposant, einfach weil ich wusste, was sich hinter den breiten Holztüren verbarg: Der Traum meiner Zukunft.

Hinter mir stöhnte Seth und ließ seinen genervten Blick unter dem braunen Haar die Straße runter gleiten. „Na endlich, da kommt er.“

Die anderen vier Jungs gaben zustimmende Geräusche von sich.

Seit fast zwanzig Minuten standen wir uns hier die Beine in den Bauch und warteten auf unseren Nachzügler Devin, der nun mit eiligen Schritten auf uns zuhielt.

Wir hatten gestern noch verabredet, alle zusammen hier aufzuschlagen. Okay, eigentlich war er gar nicht zu spät, wir waren nur alle zu früh da gewesen – allen voran ich – aber trotzdem nervte das Warten. Wir waren alle aufgeregt. Die Jungs blödelten schon die ganze Zeit miteinander herum und pöbelten sich gegenseitig an, nur um sich die Zeit ein wenig zu vertreiben. Es war nervig und hier dumm zumzustehen und Däumchen zu drehen, machte das Ganze nicht besser.

In Devins Gesicht stand ein breites Grinsen, als er mit einem „Da bin ich“ bei uns eintraf. „Pünktlich wie die Maurer.“

Genau wie wir anderen war er eher leger gekleidet. Hier bei der Gilde gab es keine Uniformen, wie es bei den staatlichen Venatoren Vorschrift war.

„Dir ist klar“, sagte ich, „dass dieser Spruch darauf zurückzuführen ist, dass die Maurer auf die Minute genau die Kelle aus der Hand legen, um Feierabend zu machen?“

„Feierabend hört sich gut an, aber erst mal will ich es mit Arbeit versuchen.“ Devin legte mir kumpelhaft den Arm um die Schulter. Daran störte ich mich nicht, er war in Ordnung.

„Zur Abwechslung mal, meinst du?“, spottete Seth.

Sie waren zwei von sieben Lehrlingen, die sich freiwillig zu einem Praktikum bei der Gilde gemeldet hatten, da die Plätze bei den staatlichen Venatoren immer knapp begrenzt waren. Und ich war unter ihnen das einzige Mädchen.

„Hin und wieder brauch der Mensch eben etwas Abwechslung“, sagte ich und schob Devins Arm von meiner Schulter. „Und jetzt kommt, wir sind schon spät dran.“

Bay schnaubte. „Das mit dem Lesen der Uhr üben wir aber noch mal. Wir haben noch fast zehn Minuten.“

Das wurde schon aus Prinzip ignoriert, als ich die drei Stufen bestieg, um die Tür dann wohl etwas zu schwungvoll aufzumachen. Aber ich konnte es eben kaum noch erwarten.

Wirkte die Straße draußen ziemlich ruhig und fast leer, so herrschte hier drin das Leben. Die Geräusche von Stimmen und dem Klingeln der Telefone begrüßte uns, als wir nacheinander in den Eingangsbereich traten. Einen Moment ließ ich das Erscheinungsbild der Gilde auf mich wirken. Es war nicht das erste Mal das wir hier waren. Im Rahmen einer Expedition der Beluosus Akademie hatte ich zu Anfang der Ausbildung sowohl schon einmal die Gilde, als auch die staatliche Einrichtung der Venatoren besucht und ich musste sagen, hier hatte sich nicht das Geringste verändert.

Der Eingangsbereich war nicht sehr groß und durch einen langen Tresen von dem Arbeitsareal mit den Schreibtischen abgetrennt. Der alte Parkettboden war immer noch zerkratzt und die dunkel vertäfelten Wände noch immer mit Werbung, Informationen und Postern zum Thema Proles behangen. Sogar die drei alten Holzstühle mit den aufgeplatzten und zugeklebten Polstern schienen noch genau die gleichen vom letzten Mal zu sein.

Während ich den Anblick noch auf mich wirken ließ, trat Devin bereits zu dem langen Holztresen, mit der von den Jahren zerkratzen Oberfläche, um den Mann dahinter auf sich aufmerksam zu machen.

Als wir anderen seinem Beispiel folgten und uns zu ihm gesellten, schaute der Mittdreißiger mit den braunen Augen von seinen Unterlagen auf.

„Hey“, begann Devin. „Wir sind von der Beluosus Akademie und …“

„Ah, dann seid ihr wohl der Nachschub. Lasst euch mal ansehen.“ Er ließ den Blick nacheinander über uns gleiten, verweilte bei mir einen Moment länger als bei den Jungs – ja, mir war bewusst, dass Frauen in diesem Job eher selten waren – und grinste uns dann mit einem Lächeln an, dass sogar seine Augen erreichte. Dabei zeigte er uns einen angeschlagenen Schneidezahn. „Ja, könnte was werden mit euch.“ Er lehnte die Unterarme auf den Tresen und beugte sich ein wenig weiter vor. „Und jetzt könnt ihr es sicher kaum noch erwarten loszulegen und da draußen ein paar Proles in den Hintern zu treten, hab ich recht?“

„Na dafür sind wir ja schließlich hier“, grinste Bay.

Ein Stück weiter am Tresen saß noch eine dunkelhaarige Frau mit Headset an einem Computer und tippte fleißig in die Tasten. Ihr Blick glitt zwar kurz über uns, aber ihre Arbeit war dann wohl doch interessanter.

„Na dann folgt mir mal. Aber bevor wir euch euren Lehrcoachs zuteilen, möchte unsere Meistervenatorin noch ein paar Worte an euch richten. Los, hier lang.“ Er deutete auf den Durchgang im Tresen und wartete bis wir uns alle im Herzen der Gilde versammelt hatten. Hier wo die vielen Schreibtische in Reih und Glied standen, die Aufträge und Notrufe eingingen. Es machte ein bisschen den Eindruck von einem großen Polizeirevier wie man es aus Filmen kannte. Nur die Leute hier schienen lockerer drauf zu sein. Jeans, Shirts und Lederjacken. Ein paar von den Kerlen schienen wirklich raue Gesellen zu sein. Und viele von ihnen hatten auch Narben. Es gab nur eine Auffälligkeit. Nur Männer, keine einzige Frau. Also entweder gab es hier keine, oder die waren gerade alle im Außendienst.

„Genug geguckt?“, lächelte unser Begrüßungskomitee über unsere neugierigen Blicke – ja, ich war nicht die einzige, die sich alles ansah. „Na dann kommt mal mit. Jilin erwartet euch sicher schon.“

Okay, ich revidierte. Es gab hier zumindest eine Frau. Das hatte ich schon gewusst. Sie war sogar die Chefin, die über diese Männerdomäne regierte. So zumindest hatte Herr Keiper es uns einmal gesagt. Bis ein Proles ihn an der Schulter erwischt hatte und ihn damit für den Außendienst untauglich machte, war er in dieser Gilde als Venator tätig gewesen.

Ich war gespannt.

„Ich bin übrigens Maximilian Henning, aber nennt mich ruhig Max“, sagte er, als er uns an den Schreibtischen vorbei in den seitlichen Bereich zu einem Korridor brachte, von dem die Büros, Toiletten und das Konferenzzimmer abgingen. Am Ende des Korridors gab es auch noch eine Treppe, die nach unten in den Keller zu den Trainingsanlagen und der Forschungseinrichtung führte. Das wusste ich noch von meinem letzten Besuch mit dem ganzen Kurs, als wir eine Führung durch das ganze Gebäude bekommen hatten.

Aber jetzt führte uns unser Weg nicht nach links zur Treppe, sondern nach rechts zu den Büroräumen. Dabei kamen wir an dem offenem Krankenzimmer vorbei, in dem sich ein großgewachsener, blonder Mann um die dreißig, gerade einen Verband von der älteren Frau, an den Rippen anlegen ließ. Sie machte den Eindruck des netten Großmütterchens, das einen mit Keksen an der Tür begrüßte. Er dagegen war ein Kerl, den man einfach nur als Leckerbissen bezeichnen konnte. Nicht mal die lange Narbe an seine Schläfe tat seiner Ausstrahlung einen Abbruch. Und dass er obenrum frei war, ließ auch nicht viel Platz für Phantasien.

„Wenn du nicht aufpasst“, raunte Seth mir ins Ohr, „dann fallen dir gleich die Augen raus.“

Leicht angewidert wich ich ein Stück von ihm zurück. Keine Ahnung warum, aber ich konnte den Kerl noch nie ausstehen. „Lass das mal meine Sorge sein.“ Ich warf noch einen letzten Blick in das Krankenzimmer, wo der Mann uns in der Zwischenzeit bemerkt hatte und folgte dann den anderen, ohne auf sein Lächeln einzugehen.

Seth beeilte sich mir nachzukommen. „Wenn du willst, kann ich auch mal mein T-Shirt für dich ausziehen.“

Oh Gott, was sollte das denn jetzt? „Ich verzichte dankend.“ Eilig beschleunigte ich meine Schritte, bis ich neben Devin lief. Hier war ich wenigstens vor blöden Sprüchen sicher.

Maximilian führte uns den Korridor entlang bis zu dem offenstehenden Büro ganz am Ende, wo ein schlichtes Schild mit der Aufschrift Jilin Halco, Meistervenator ankündigte. Während wir uns um Max versammelten, klopfte er mit den Knöcheln gegen den Türrahmen, um die Aufmerksamkeit der Frau hinter dem Schreibtisch zu bekommen. „Hey, Jilin, ich hab hier die Praktikanten von der Beluosus Akademie und sie können es kaum erwarten sich uns anzuschließen.“

„Schick sie rein“, antwortete eine weiche Stimme. „Und sag den Lehrcoachs Bescheid, dass ich sie sehen will.“

„Klar, kein Problem.“ Er machte eine schwungvolle Handbewegung. „Na dann mal rein mit euch. Und keine Angst, heute hat sie gute Laune, das heißt die Gefahr, dass sie euch beißt, ist sehr gering.“

„Ich kann dich hören Max.“

Leise lachend machte er sich auf den Weg zurück. Wir dagegen betraten nacheinander das Büro der Chefin und sahen uns zögern um. Gleich war es soweit.

Hier sah es nicht viel anders aus als im übrigen Gebäude. Holzboden und vertäfelte Wände. Nur der imposante Schreibtisch in der Raummitte hinter dem Jilin Halco in einem ledernen Drehstuhl saß, schien nicht so alt wie die anderen draußen.

„Na los, kommt rein, nicht so schüchtern.“ Die Meistervenatorin war eine schlanke, durchtrainierte Frau Ende dreißig, mit einem kurzen schwarzen Bob auf dem Kopf. Ihre aufmerksamen, grauen Augen sprachen von einer asiatischen Abstammung, während die dunkle Hautfarbe eher an eine afrikanische denken ließ.

Vor ihr auf dem Schreibtisch lagen mehrere Ordner, die ich als unsere Bewerbungsmappen erkannte. Die oberste trug das Bild von einem lächelnden Seth.

„Die Tür könnt ihr offen lassen und sucht euch irgendwo einen Platz.“

Platz suchen war gut. Das war gar nicht so einfach, denn außer ihrem Stuhl gab es hier nur noch vier andere, die innerhalb kürzester Zeit besetzt waren. Aber da ich keine Lust hatte zu stehen, ließ ich mich kurzerhand auf Devins Schoß nieder. Bay und Seth hatten nicht so viel Glück, die mussten stehen bleiben.

„So, da wären wir nun alle.“ Jilin lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und ließ musternd den Blick über uns wandern. Er blieb an mir hängen. „Und siehe da, die weibliche Note unter der raubeinigen Männlichkeit. Eine Seltenheit. Grace Shanks, wenn ich mich nicht täusche?“

Ich nickte. „Ja, das bin ich.“

„Ich habe viel Gutes von dir gehört, sogar ein Empfehlungsschreiben deines Mentors Noelle Keiper bekommen. Du sollst sein bester Lehrling sein.“

„Ja, ich bin ziemlich gut in dem was ich mache.“

Ihr Mundwinkel zuckte. „An Selbstbewusstsein scheint es dir ja nicht zu mangeln.“ Sie ließ ihre Hand über die Ordner wandern, bis sie meinen daraus hervorzog. „Mit deinen Noten hätten die dich drüben bei den Staatlichen mit Kusshand genommen. Wir bekommen meist eher die schwierigen Fälle, die sich nicht so gerne an Regeln halten wollen. Warum also bist du hier gelandet? Du scheinst nicht gerade ein Unruhestifter zu sein.“

Ob ihr klar war, dass die Jungs nichts an den Ohren hatten und jedes ihrer Worte hören konnten? „Ich wollte hierher.“ Als ich mich ihrem eindringlichen Blick gegenüber sah, fühlte ich mich gezwungen noch etwas hinzuzufügen. „Ich mag keine Uniformen.“

Das entlockte ihr ein kleines Lächeln. „Sag mir Grace, warum hast du dich für den Weg des Venators entschieden? Natürlich kenne ich deine Vorgeschichte, aber trotzdem ist es für ein junges Mädchen wie dich etwas ungewöhnlich. Du scheinst sehr intelligent zu sein und hättest in anderen Jobs sicher eine bessere Zukunft vor dir, in der du auch wesentlich mehr verdienen könnest. Außerdem ist es in der Männerdomäne der Venatoren für eine Frau nicht immer ganz einfach. Ich spreche da aus eigenen Erfahrungen.“

Das war wohl das erste Mal, dass ich so direkt gefragt wurde und ich zögerte mit meiner Antwort ein bisschen, weil ich mir nicht sicher war, was genau sie hören wollte. „Naja, die Proles sind eine Gefahr, sie müssen aufgehalten werden.“ Und ich würde persönlich dafür sorgen, dass jedes einzelne dieser Biester für den Tod meiner Eltern büßte.

Lange und eindringlich sah sie mich an, als kannte sie die Wahrheit hinter meinen Worten, schwieg jedoch und wandte ihre Aufmerksamkeit nun Seth zu. Er musste ähnliche Fragen wie ich beantworten, genau wie die anderen Jungs. Sie unterbrach ihr Interview auch nicht, als der Mann aus dem Krankenzimmer ins Büro kam und sich mit verschränkten Armen an die Wand lehnte, um der Unterhaltung zu lauschen.

Und er war auch nicht der Einzige. Nach und nach gesellten sich fünf weitere Männer zu unserer kleinen Gruppe und mir wurde sehr schnell klar, dass das die Lehrcoachs sein mussten. Drei von ihnen kamen ganz nett rüber, zwei schienen nach dem Aussehen ziemlich raue Gesellen zu sein, aber nicht weniger sympathisch, aber keiner von ihnen konnte mit dem Aussehen des Blonden mithalten.

Wer von ihnen wohl mein Lehrcoach werden würde? So wie die Jungs aus meinem Kurs immer wieder Blicke in ihre Richtung warfen, stellten sie sich wohl die gleiche Frage.

Ich warf einen Blick durch die Tür, in Erwartung den siebten Lehrcoach zu sehen, schließlich waren wir auch sieben Praktikanten, doch auch nach zehn Minuten tauchte niemand weiter auf. Hieß das, dass zwei Praktikanten denselben Coach bekamen? Oder vielleicht bildete die Chefin ja auch selber jemanden aus. Konnte das sein? Vielleicht wollte die Frau ja mich als Praktikantin, so als Front gegen die Männerwelt. Das würde mir gefallen. Sie war bestimmt nicht ohne Grund Meisterin der Venatorengilde.

„Ich will helfen“, sagte Bay gerade. Er war der letzte in der Reihe der Befragten. „Ich gehe raus auf die Straße und sehe das ganze Leid. Ich meine, okay, die Politiker und so haben in den letzten Jahren schon eine ganze Menge geleistet, die Städte sicherer gemacht. Heute haben die Proles es nicht mehr so leicht in Häuser einzudringen, aber leider nur bei den Neubauten. Es gibt immer noch viel zu viele Menschen, die in akuter Gefahr schweben und die Waffen, die sie laut Gesetz zum Selbstschutz jetzt bei sich tragen dürfen, bringen nicht viel.“

„Diese Waffen konnten bereits viele Leben retten“, entgegnete Jilin ruhig.

„Viele sind aber nicht alle.“

Der Mundwinkel der Chefin zuckte nach oben. „Da muss ich dir leider zustimmen.“ Sie lehnte sich vor, um die Ordner sorgfältig nebeneinander vor sich aufzureihen. „So, bevor ich euch nun zuteile, gibt es noch ein paar allgemeine Dinge zu sagen. Erstens. Wenn ihr da draußen einen Auftrag erledigt, hört ihr ohne Widerworte auf eure Coachs, auch wenn es euch nicht passt was sie zu sagen haben. Sie haben die Erfahrung, sie wissen wie es läuft und ihre Ansagen können euch das Leben retten. Wer nicht hört, der fliegt noch in der gleichen Minute aus der Gilde und wird keine Zukunft als Venator haben. Weder hier, noch bei den Staatlichen, dafür werde ich sorgen.“

Oh wow, das klang ziemlich hart.

„Zweitens. Für den Zeitraum bei uns, werdet ihr Waffen und einen entsprechenden Ausweis dafür von der Gilde ausgehändigt bekommen, die ausschließlich für den Kampf gegen die Proles gedacht sind. Verwendet ihr sie anderweitig, nehme ich sie euch nicht nur persönlich ab, ihr bekommt von mir auch noch eine Anzeige und fliegt sofort aus der Gilde. Drittens. Ich brauche hier niemanden, der Unruhe stiftet, oder nur auf die Straße will, um ein bisschen rumzuballern. Das hier ist eine ernste Angelegenheit, die Menschenleben sowohl kosten als auch retten kann. Ich werde es auch nicht dulden, dass ihr hier rumgammelt, weil mal nichts zu tun ist. Im Keller haben wir ein großes Sortiment an Trainingsausrüstung. Habt ihr mal ein bisschen Zeit, nutzt diese um in Form zu bleiben. Viertens. Sollte es euch aus irgendeinem Grund mal nicht gut gehen, gesundheitlich meine ich, dann sagt mir das. Wenn ihr nicht topfit seid, kann ich euch nicht auf die Aufträge ansetzten, weil ich nicht gewillt bin, euer Leben aus purem Selbststolz aufs Spiel zu setzten. Natürlich könnt ihr auch zu mir kommen, wenn ihr anderweitig Probleme habt. Ich werde immer ein offenes Ohr für euch haben. Und als letztes …“ Sie lehnte sich zurück und sah uns der Reihe nach fest in die Augen. „Egal um was es geht, ich habe immer das letzte Wort. Wem das nicht passt, dem steht es frei zu gehen.“ Sie ließ die spitzen ihrer Finger über den Rand von Bays Ordner wandern. „Wenn ihr da draußen seid, erinnert euch immer gut an eure Ausbildung. Seid wachsam und bereit. Schon der kleinste Fehler kann die Entscheidung zwischen Leben und Tod bedeuten. Haben das alle verstanden?“

Einstimmiges Nicken.

„Gibt es noch irgendwelche Fragen?“

Nicht von den Praktikanten, aber einer von den Männern, ein Türke mit einem Drachentattoo auf dem Oberarm meldete sich zu Wort. „Ich hätte da noch eine Frage.“

Jilin kniff argwöhnisch die Augen zusammen. „Und die wäre?“

„Bekommen wir für die Aufgabe als Coach eigentlich Vergütungen? Sowas wie Provision, oder so? Ich würde mich auch mit einem Abendessen mit dir zufrieden geben. Sagen wir am Freitag?“

Oh wow, ich wusste gar nicht, dass ein Mensch so böse gucken konnte. Dafür bräuchte Jilin glatt einen Waffenschein.

„Nein, aber ich könnte eine Gehaltskürzung für dich arrangieren, wenn du das möchtest.“

„Wenn du das machst, kann ich das Abendessen aber nicht mehr bezahlen.“

Der blonde Sonnyboy aus dem Krankenzimmer wandte sich ein wenig ab, damit seine Chefin das Lächeln in seinem Gesicht nicht sehen konnte. Auch die anderen Venatoren schienen es schwer zu haben, nicht in ein Grinsen zu verfallen.

Die Meistervenatorin seufzte, als würde das nicht zum ersten Mal passieren, ging aber nicht weiter darauf ein. Stattdessen nahm sie den Ordner von Seth in die Hand und reichte ihn ihm über den Schreibtisch hinweg. „Hier, Aziz, das ist deiner. Nimm ihn und verschwinde aus meinem Büro, bevor ich meine Waffe auf dich richte.“

Der Sonnyboy lachte. „Was nicht das erste Mal wäre, wenn ich mich recht erinnere.“

Aziz nahm den Ordner grinsend entgegen. „Und bestimmt auch nicht das letzte Mal. Komm Grünschnabel, wir gehen mal nach vorne zu Madeleine und sehen nach, was sie so für uns hat.“ Er wartete, bis Seth ihm folgte und verschwand dann mit ihm aus dem Büro. „Und dann werden wir dich erst mal ordentlich ausrüsten.“

„Und bring mir den Jungen lebend wieder!“, rief Jilin ihm noch hinterher.

„Ich werde mir Mühe geben!“, rief er aus dem Korridor grinsend zurück.

Einen kurzen Moment war ich doch ein wenig sprachlos. Das war sicher nur ein Scherz gewesen, auch wenn Jilin nicht so aussah. Galgenhumor von der schwärzesten Sorte. Oder?

Die Meisterin schüttelte genervt den Kopf und griff nach den nächsten zwei Ordnern. „Maik, du bekommst den kleinen Blonden und Greg, du kannst den Langen haben.“

Nacheinander verteilte Jilin Ordner und Praktikanten an die Venatoren, bis nur noch der Sonnyboy an der Wand lehnte.

„Shea, du bekommst Devin und …“ Als sie den Kopf hob, die Hand schon halb nach meinem Ordner ausgestreckt, runzelte sie die Stirn. „Wo, verdammt noch mal, ist Tack?“

Schulterzuckend griff Sonnyboy nach dem Ordner. „Keine Ahnung.“

Sie stöhnte genervt. „Hast du ihn heute schon gesehen?“

„Nee, der war heute noch nicht da. Wird wahrscheinlich auch erst wieder am Abend aufkreuzen, wenn er die Berichte abgeben muss.“

„Das könnte ihm so passen“, knurrte sie vor sich hin und griff nach dem Telefonhörer.

Shea gab Devin das Zeichen mich von seinem Schoß zu schubsten und ihm zu folgen. Aber damit es gar nicht erst so weit kommen konnte, erhob ich mich von allein und nahm auf dem Stuhl daneben Platz. Dann konnte ich nur noch zugucken, wie er mit seinem Lehrcoach verschwand und mich fragen, was das jetzt schon wieder zu bedeuten hatte.

Jilin legte den Telefonhörer auf, nur um noch mal zu wählen. Dieses Mal hielt sie es aber nicht für nötig den Hörer zu benutzen, sondern stellte den Apparat auf Lautsprecher. Es klingelte. Dreimal, viermal, dann wurde sie einfach weggedrückt. Sie zog ein finsteres Gesicht und wiederholte die Prozedur. Einmal und noch einmal. Und noch ein weiteres Mal. Immer mit demselben Ergebnis. Erst beim neunten versuch wurde am anderen Ende abgehoben.

„Was verdammt? Ich bin beschäftigt!“, schnauzte eine unfreundliche Stimmer in den Hörer.

Davon ließ Jilin sich nicht beeindrucken. Völlig entspannt lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück, die Finger immer noch auf der Wahlwiederholung. „Tack, was habe ich dir gestern gesagt?“

„Keine Ahnung.“ Im Hintergrund war das Murmeln einiger aufgebrachter Stimmen zu hören. „Wenn du anfängst zu sprechen, schalten meine Ohren meist auf Durchzug.“

Für einen Moment schloss sie die Augen und atmete tief ein, als müsste sie sich beruhigen. „Ich hab dir gesagt, du bekommst einen Praktikanten, der nun hier bei mir sitzt und auf dich wartet. Also beweg deinen Hintern hierher und hol ihn ab.“

„Vergiss es, ich werde mir keinen Grünschnabel ans Bein binden.“ Damit legte er einfach auf.

O-kay. Was bitte war das gerade gewesen? Hieß das, mein Lehrcoach wollte gar keinen Praktikanten?

Jilin warf mir einen kurzen Blick zu. „Einen Moment noch.“ Sie drückte erneut die Wahlwiederholung und dieses Mal wurde schon beim ersten Klingeln abgenommen.

„Ich habe nein gesagt, ich arbeite allein und das weißt du auch. Also komm mir ja nicht mit irgendwelchem Blödsinn von wegen, ich kann auch kündigen und mir einen anderen Job suchen, wenn mir etwas nicht passt. Gib die Kleine irgendeinem anderen, ich will sie nicht und jetzt hör auf mich zu nerven, ich hab zu arbeiten!“ Damit legte er erneut auf und nur das Tuten erfüllte die Stille im Büro.

Okay, das war … seltsam. Hieß das, dass ich einen Lehrcoach bekommen sollte, der mich gar nicht haben wollte?

Noch ein letztes Mal griff Jilin nach dem Hörer, aber diesmal rief sie vorn am Empfang an. „Max, komm mal bitte in mein Büro.“ Als sie den Hörer zurück auf die Gabel legte, sah sie mich an. Auf den Unterarmen lehnte sie sich vor, die Finger verschränkt. „Du fragst dich sicher, was das zu bedeuten hat.“

Das war noch untertrieben. „Kann man so sagen.“

Sie lehnte sich wieder in ihrem Stuhl zurück, spielte dabei an der Ecke von meinem Ordner herum. „Du hast schriftlich darum gebeten, dem besten Venator unserer Truppe zugeteilt zu werden, um deine Leistungen zu fördern.“ Sie schmunzelte über die Förmlichkeit in meinem Brief. „Tack ist … schwierig, er hat seinen eigenen Kopf, aber er ist auch unweigerlich der beste Venator unserer Gilde.“

„Aber er will keinen Praktikanten.“

„Das hat er nicht zu entscheiden. Ich bin hier die Chefin und ob es ihm nun passt oder nicht, ich gebe hier den Ton an. Er wird sich fügen.“ Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. „Außer, du überlegst es dir noch einmal anders, dann gebe ich dir einen anderen Lehrcoach.“

So abweisend und unfreundlich wie der Kerl sich angehört hatte, war das vielleicht gar keine so schlechte Idee. Andererseits, wenn ich die Beste werden wollte, musste ich vom Besten lernen, auch wenn der … naja, eben so war. „Und wenn er nicht will? Also wenn er mich einfach stehen lässt?“

„Er ist vielleicht etwas schwierig, aber er respektiert mich und befolgt meine Anweisungen, auch wenn er nicht will. Du darfst dich nur nicht von seiner Art abschrecken lassen, dann kann er dir eine Menge beibringen.“ Sie tippte mit dem Finger auf den Schreibtisch. „Es liegt ganz bei dir, ich lasse dir die Wahl.“

Was wohl mehr war, als andere Praktikanten bekamen. Ob das an sowas wie Frauensolidarität lag? „Was ist mit Ihnen? Können Sie mich nicht ausbilden? Sie haben sicher auch eine Menge auf dem Kasten, sonst würden Sie sicher nicht da sitzen.“

Das ließ sie Schmunzeln. „Danke und ja, ich habe eine Menge auf dem Kasten, aber mit mir würdest du nicht glücklich werden. Nachdem mir ein Spuma das linke Bein abgerissen hat, gehe ich nicht mehr in den Außeneinsatz. Auch wenn mir die Jagd manchmal fehlt, mit der Prothese bin ich nicht mehr fit genug dafür.“

Als ich noch über ihre Worte nachdachte, erschien Max im Türrahmen. „Was gibt es?“

„Einen Moment noch.“ Sie richtete ihren Blick wieder auf mich. „Also, wie entscheidest du dich?“

Ganz klar, da gab es nur eine Antwort. „Ich werde es mit ihm versuchen.“

„Damit zeigst du mir, dass ich mich nicht in dir getäuscht habe.“ Sie wandte sich an Max. „Gibt es vorn viel zu tun, oder kannst du dich für eine Stunde frei machen?“

„Nee, ziemlich ruhig heute, das schafft Madeline eine Zeitlang auch allein.“

„Kannst du mir dann einen Gefallen tun und herausfinden, wo Tack sich gerade rumtreibt, um unsere Praktikantin zu ihm zu bringen?“

„Ich soll sie zu Tack bringen?“ Er runzelte die Stirn. „Warum?“

„Weil er sich weigert herzukommen, um seinen Grünschnabel abzuholen.“

Bei dieser Bezeichnung verzog ich missbilligend das Gesicht. Okay, ich hatte bisher nur in der Akademie mit vergleichbar harmlosen Proles gelernt, aber deswegen war ich noch lange kein blutiger Anfänger.

Max dagegen hob ungläubig seine Augenbrauen. „Reese Tack ist dein Lehrcoach?“ Er tätschelte mir fast mitleidig die Schulter. „Ich hoffe du bist hart im Nehmen, Mädel, sonst hältst du es nicht lange mit dem Kerl aus.“

O-kay, vielleicht hätte ich mir doch einen anderen Coach wünschen sollen.

„So, da das nun geklärt ist, raus aus meinem Büro, ich habe zu arbeiten.“ Sie hielt Max den Ordner hin. „Gib ihn Tack und wenn er ihn nicht nehmen will, zieh ihm damit, mit schönen Grüßen von mir, eine über den sturen Schädel.“

Max nahm lächelnd den Ordner und gab mir ein Zeichen, ihm nach draußen zu folgen. „Am besten rüsten wir dich erst mal aus und dann gucken wir, wo wir Tack auftreiben können. Und lass dich von uns nicht verunsichern, er ist kein schlechter Kerl, nur ein wenig …“

„Schwierig“, sagte ich zeitgleich mit ihm. „Ja, das hat mir Jilin schon gesagt.“

„Hat sie dir auch gesagt, warum er so schwierig ist?“ Er führte mich den Korridor entlang nach hinten zur Treppe.

„Nein, nur dass ich mich nicht von seiner Art abschrecken lassen soll.“

„Und damit hat sie ganz recht. Lass dir einfach nichts von ihm gefallen, dann werdet ihr beide sicher bestens miteinander auskommen.“

Das glaubte ich erst, wenn ich es erlebte.

Zusammen gingen wir nach unten in die Waffenkammer, wo ich ein Arbeitsbag bekam, den ich mir um die Hüfte schnallen konnte. Daran gab es verschiedene Halterungen, wo ich zum Beispiel das Armeemesser mit der gezackten Klinge und Taser reinstecken konnte. Auch wurde mir ein kleiner Handflammenwerfer ausgehändigt, wie ihn heute fast jeder bei sich trug. Es sah aus wie eine Sprühflasche für Haarfestiger mit einer Tröte oben dran. Ein Blasrohr mit verschiedenen Pfeilen gehörte auch zur Ausrüstung, genau wie die M1911A1, die ich in das dafür vorgesehenen Holster steckte.

Es war nicht das erste Mal, dass ich eine solche Schusswaffe in der Hand hielt, aber das erste Mal, dass ich damit das Gebäude verlassen durfte. Das war ein ganz komisches Gefühl. Irgendwie aufregend. Ich kam mir damit stärker vor, fast wie ein richtiger Venator.

Danach wurde von mir ein Foto für meinen Gildenausweis gemacht. Aber da die Erstellung ein paar Tage dauern konnte, bekam ich wie alle anderen Praktikanten auch, erst mal einen vorläufigen Ausweis ausgehändigt, der bewies, dass ich auf dem besten Weg war, meinen Traum zu erfüllen.

Voll ausgerüstet und mit einem Ausweis in der Tasche, der mich vom Gesetz her befugte, Jagd auf Proles zu machen, fand ich mich irgendwann mit Max oben am Empfangstresen wieder, wo er sich, neben die Frau mit dem Headset, auf die Arme gestützt lehnte.

Zwischen den Schreibtischen im hinteren Bereich sah ich Devin und Bay mit ihren Coachs, wie sie sich angeregt unterhielten. Die anderen waren nicht da. Wahrscheinlich waren sie schon unterwegs, um die Menschheit vor dem Untergang zu bewahren. Hoffentlich war mein Coach nicht so ein Griff ins Klo, wie es im Moment noch den Anschein erweckte.

„Hey, kannst du mir sagen, wo Tack sich im Augenblick herumtreibt?“, erkundigte sich Max bei der Frau.

„Er hat sich noch nicht von seinem Auftrag zurückgemeldet. Letzter Status war grün, vor …“ Sie runzelte die Stirn, tippte eilig etwas in die Tastatur und scrollte dann mit der Maus über den Bildschirm, bis sie das gesuchte gefunden hatte. „Ah, hier steht es. Reese Tack, letzter Status grün vor zweiundsiebzig Minuten.“

„Grün?“, fragte ich und beugte mich ein wenig vor, um einen besseren Blick auf den Monitor zu haben. „Was bedeutet das?“

„Grün bedeutet, dass Tack zum Zeitpunkt seines letzten Anrufes noch gesund und munter war“, erklärte Max mir. „Jeder Venator muss sich spätestens alle zwei Stunden hier melden, damit wir wissen, wie es ihm geht. Wird die Zeit überschritten, färbt sich sein Status gelb und wir müssen davon ausgehen, dass etwas passiert ist, dass ihn ein Proles erwischt hat und er entweder so schwer verletzt ist, dass er sich nicht mehr bei uns melden kann, oder sogar tot ist.“

„Nach genau zwei Stunden gibt der Computer mir ein Warnsignal“, fuhr die Headset-Frau fort. „Dann rufe ich bei dem entsprechenden Venator an. Kann ich ihn innerhalb von zwanzig Minuten nicht erreichen, wechselt der Status auf Rot und ich schicke ein Team zu seinem Auftrag, damit die da nach dem Rechten sehen können. Es ist nämlich schon vorgekommen, dass der Venator von einem Proles getötet wurde und es erst nach Stunden bemerkt wurde. In der Zwischenzeit hatte der betreffende Proles weitere Menschen getötet und damit sowas nicht mehr passieren kann, haben wir diese Sicherheitsvorrichtung.“ Sie lächelte mich an und reichte mir die Hand. „Ich bin übrigens Madeline.“

„Grace“, sagte ich und nahm ihre Hand. Es war ein fester Griff, der mir zeigte, dass sie hier mehr machte, als den ganzen Tag nur als Tippse zu arbeiten.

„Freut mich, dich kennen zu lernen. Du machst hier jetzt dein Praktikum?“

„Sobald wir meinen Lehrcoach gefunden haben, habe ich das vor.“

„Gefunden?“ Sie zog eine perfekt gezupfte Augenbraue nach oben. „Soll das heißen, du bist Tacks Grünschnabel?“

Da, schon wieder dieses Wort. Was sollte das? „Ich bin Tacks Praktikantin“, verbesserte ich sie. Oder würde es sein, sobald wir ihn gefunden hatten.

Mit einem etwas überraschten „O-kay“ schrieb sie die Adresse von Tacks Auftrag auf einen Notizzettel und reichte ihn dann an Max. Dann wünschte sie mir, in einem äußerst seltsamen Ton, noch viel Glück und schon war ich zusammen mit Max, in einem Wagen der Gilde, auf dem Weg zu meinem Lehrcoach.

Es war nicht wirklich weit, zwanzig Minuten durch die Innenstadt, dann hielt er auch schon in einer Ladenstraße am Bordstein.

„So, hier müsste es sein.“ Er ließ den Blick durch die Frontscheibe wandern, bis er auf einen blauen Geländewagen, wie sein eigener, auf der anderen Straßenseite aufmerksam wurde, der das Zeichen der Gilde auf der Tür trug. Ein gelbes Monsterauge, inmitten eines Fadenkreuzes. „Da, das ist sein Wagen. Und der daneben gehört Judd.“ Er zeigte auf den weißen Lieferwagen, der direkt vor dem von Reese Tack parkte.

„Judd?“

„Unser Kadavermann.“ Als er meinen leicht angeekelten Gesichtsausdruck sah, musste er grinsen. „Judd ist für den Abtransport der getöteten Proles zuständig. Er bringt die Kadaver in die Verbrennungsfabrik. Und das´s er hier ist bedeutet, dass Tack mit seiner Arbeit fertig ist und bereits aufräumt. Er müsste also bald auftauchen.“ Er nahm meinen Ordner vom Armaturenbrett und reichte ihn mir. „Am besten du wartest einfach bei seinem Wagen. Dann kannst du ihm den auch gleich geben.“

Ich nahm dem Ordner, auch wenn ich von dem Plan nicht sonderlich begeistert war. „Und wenn er mich einfach stehen lässt?“

„Lass dich einfach nicht von ihm abwimmeln. So, jetzt muss ich dich aber rausschmeißen, ich muss zurück.“ Er tätschelte mir väterlich die Schulter. „Zeig ihm einfach nur, dass er dich nicht herumschubsen kann, dann wird das schon was.“

„Ich werde es versuchen“, murmelte ich und stieg aus dem Wagen, ganz knapp an einer Pfütze vorbei. Das hätte mir jetzt gerade noch gefehlt. Heute war es wenigstens einmal trocken, aber der gestrige Regen hatte überall seine Spuren hinterlassen.

Max winkte mir noch einmal zum Abschied, als er aus der Parklücke rausfuhr und fädelte sich in den flüssigen Vormittagsverkehr ein. Dann stand ich da etwas unsicher herum und wusste nicht ganz was ich tun sollte. Bisher war überhaupt nichts so gelaufen, wie ich mir das vorgestellt hatte. Aber wie hieß es so schön? Es konnte nur besser werden. Naja, zumindest wenn sich herausstellte, dass dieser Reese Tack doch nicht so schlimm war, wie alle behaupteten. Die Venatoren schienen mir ziemlich zu Übertreibungen zu neigen.

Mit diesem Gedanken sah ich mich nach herankommenden Autos um und überquerte dann eilig die Straße. Dann sah ich mir den blauen Geländewagen ein wenig genauer an. Also, als erstes, der müsste dringend mal eine Waschanlage von innen sehen. Was hatte der Kerl damit gemacht? Eine Rallye durch den Sumpf? Da klebten ja sogar Pflanzenreste dran. Wenn der von außen schon so aussah, dann wollte ich gar nicht so genau wissen, was innen los war.

Ich war ein sauberer und ordnungsliebender Mensch und das ging ja mal gar nicht. Trotzdem riskierte ich einen Blick durch die Scheiben. Es gab nur die beiden vorderen Sitze, hinten war alles für die Ausrüstung umgebaut worden. Festverschraubte Waffenschränke, zusammenklappbare Käfige, eine Angel, Netze und … war das ein Thermometer? Was hatte das denn da zu suchen? Wollte er gucken, ob der Proles Fieber hatte?

Während ich noch über die Antwort dieser Frage sinnierte, ging ein paar Häuser weiter die Haustür auf und spuckte zwei Männer mit einem kleinen Leichensack aus.

Solche Säcke kannte ich nicht nur aus dem Fernseher, sondern auch aus dem Unterricht. Darin wurden tote Abkömmlinge transportiert. Welcher Proles sich auch immer in diese Gegend verirrt hatte, jetzt war er Geschichte. Und da die beiden damit rumrannten, war wohl einer von ihnen mein Lehrcoach.

Der Mann der den Sack über seiner Schulter geschmissen hatte, hatte ungefähr meine Größe von eins sechsundsiebzig. Sein Kopf war komplett kahl und mit seinen stämmigen Armen wirkte er etwas gedrungen.

Der Kerl neben ihm, mit dem langen Ledermantel und dem pockennarbigen Gesicht, überragte mich um gut einen Kopf. Er zog gerade eine Schachtel Zigaretten aus seiner Manteltasche und steckte sich eine Kippe in dem Mund. Als er sich vorbeugte, um den Stängel anzuzünden, fiel ihm das dunkelbraune Haar leicht in die Stirn. Dann nahm er einen kräftigen Zug, gab dem anderen Kerl, der den Sack gerade in seinen Lieferwagen verfrachtete, einen kleinen Klaps auf die Schulter und zog sein Handy aus der Tasche.

Jeder Venator muss sich spätestens alle zwei Stunden hier melden, damit wir wissen, wie es ihm geht.

Damit hatte ich wohl mein Zielobjekt ausfindig gemacht. Na, dann mal los. Ich setzte mich in Bewegung, direkt auf ihn zu, doch er lief einfach an mir vorbei, als hätte er mich nicht gesehen, so vertieft war er in sein Telefonat. Na super.

Ich setzte ihm hinterher, umrundete ihn und stellte mich direkt vor ihn. „Hey, ich bin …“

„Ich telefoniere, falls du das nicht gemerkt hast!“, schnauzte er mich an und ging einfach weiter zu seinem Wagen. „Nur so eine dumme Göre“, hörte ich ihn noch ins Telefon sagen, als er seinen Wagen aufsperrte und sich hinters Steuer schwang.

Oh nein, auf keinen Fall. So leicht würde ich mich sicher nicht abwimmeln lassen, das konnte er ja mal voll vergessen.

Mit drei Schritten war ich am Wagen, riss die Tür auf und schwang mich auf den Beifahrersitz. Ich brauchte einen Moment, um meine Füße zu ordnen, da der ganze Fußraum voller Müll war. Alte Lebensmittelverpackungen, Dosen, Flaschen, leere Zigarettenschachteln, Papier. Es erweckte den Eindruck, als wollte er hier eine eigene Müllkippe aufmachen – das war echt widerlich. Der überquellende Aschenbecher im Armaturenbrett sah auch nicht viel besser aus. Und der ganze Wagen stank so fürchterlich nach Zigarettenqualm und kalter Asche, dass ich angewidert die Nase verzog. Raucher waren nicht nur eklig, sie machten auch noch in vollem Bewusstsein ihren eignen Körper kaputt. Das würde ich wohl niemals verstehen.

Leicht unwillig schob ich mit dem Schuh eine alte Donutschachtel weg und stellte meinen Fuß dahin. Dann sah ich mich einem äußerst finster blickenden Mann gegenüber, der leicht die Stirn runzelte. Seine Augen waren sehr dunkel und die gebräunte Haut ließ sie fast schwarz wirken. Das pockennarbige Gesicht gab ihm ein ziemlich raues und düsteres Aussehen. Das konnte aber auch an der Gewittermiene liegen, die er bei meinem Anblick zog.

Ja, ich gab es ja zu, es war ziemlich dreist so einfach in ein fremdes Auto einzusteigen und normalerweise auch gar nicht meine Art, aber was hätte ich den sonst tun sollen? Er hätte mich sicher einfach auf der Straße stehen lassen und Jilin hatte mir ja gesagt, dass ich mich von ihm nicht abwimmeln lassen sollte.

„Ja, ich bin noch dran“, sagte er mit rauer Stimme und zog einmal an seiner Zigarette.

Ich zog die Tür auf meiner Seite zu und bereute es sogleich, da er den Rauch provozierend in meine Richtung blies und mich damit in eine Nebelwolke hüllte. Husten wedelte ich vor meiner Nase herum und warf ihm einen bösen Blick zu. Das hatte er doch mit voller Absicht gemacht.

„Ja, hab ich verstanden. Schick mir die genauen Daten aufs Handy, ich melde mich dann spätestens in zwei Stunden wieder.“ Ohne mich aus den Augen zu lassen, legte er auf und ließ das kleine Gerät wieder in seiner Manteltasche verschwinden. „Weißt du nicht, dass es für kleine Mädchen gefährlich sein kann, einfach zu einem fremden Mann in den Wagen zu steigen?“

„Nett, dass du dir Sorgen um mich machst, aber ich kann mich wehren, wenn es sein muss.“

„Ich mach mir keine Sorgen um dich, sondern um mich. Wenn das einer gesehen hat, die können mich glatt für pädophil halten.“

Was sollte der Spruch denn bitte? „Also erstens bin ich kein kleines Mädchen mehr und zweitens bist du doch kaum älter als ich. Höchstens Ende zwanzig.“

„Vierundzwanzig und ich könnte dich, trotz deiner Fähigkeiten dich zu wehren, leicht überrumpeln.“

Vierundzwanzig? So jung? Davon mal abgesehen, dass er gar nicht so aussah, wie konnte er jetzt schon einer der Besten sein? Das war doch völlig unglaubwürdig. Aber Jilin hatte das gesagt und wenn ich nicht völlig danebenlag, saß ich hier neben Reese Tack, meinem widerspenstigen Lehrcoach. Und da wir die nächsten drei Monate miteinander klar kommen mussten, sollte ich meine feindliche Haltung wohl besser fallen lassen.

Ich rang mir ein Lächeln von den Lippen ab und hielt ihm meine Hand hin. „Okay, ich versuch es nochmal. Ich bin …“

„Raus.“

Sein Einwurf brachte mich kurz ins Stocken. „Nein, mein Name ist nicht raus, sondern …“ Ich verstummte, als er seinen Arm aufs Lenkrad stütze und sich zu mir vorbeugte, bis sein Gesicht direkt vor meinem war. Das war nicht nur eindeutig zu nahe, das war ja fast schon ein Eingriff in die Privatsphäre.

„Ich sage es dir nur einmal ganz nett. Raus. Aus. Meinem. Wagen.“

Also unter nett verstand ich aber ein bisschen was anderes. „Du verstehst nicht, ich bin …“

„Oh, ich weiß sehr genau wer du bist. Jilin hat mir schließlich schon dein Foto unter die Nase gehalten. Du bist eine von unseren Nachwuchstalenten und ich habe absolut keinen Bock auf dich. Ich arbeite allein, also steig aus.“

Tat ich nicht. Stattdessen griff ich nach dem Gurt und schnallte mich an. Das brachte mir einen echt finsteren Blick ein.

Ganz ruhig drückte er die nur halb gerauchte Zigarette in dem bereits vollen Aschenbecher aus, griff dann über mich hinweg, um meine Tür aufzustoßen und machte sich dann an meinem Sicherheitsgurt zu schaffen. Doch als er ihn löste, hatte ich die Tür bereits wieder zugezogen.

Er gab ein Geräusch von sich, das einem Knurren ähnelte und wollte erneut über mich rüber greifen, doch bevor er das schaffte, hielt ich ihm den Ordner so vors Gesicht, dass er nicht nur seine Sicht blockierte, sondern er ihm praktisch an der Nasenspitze klebte.

„Jilin hat gesagt, dass ich dir den geben soll.“

Er starrte mich finster an.

„Jilin hat auch gesagt, wenn du ihn nicht nehmen willst, dann soll ich ihn dir über den Schädel ziehen und einen schönen Gruß ausrichten.“ Okay, das hatte sie zu Max gesagt, aber der war ja nicht hier, um ihm das auszurichten.

Es war sehr deutlich zu sehen, wie der Ärger in ihm langsam aber sicher anstieg und als er sich auf seinem Sitz zurücklehnte und in seine Manteltasche griff, befürchtete ich schon das Schlimmste, aber er holte nur sein Handy heraus, um nicht weniger verärgert eine Nummer zu wählen.

Während er darauf wartete, dass am anderen Ende abgenommen wurde, schnallte ich mich hastig wieder an und drapierte den Ordner auf dem Müllhaufen in der Mittelkonsole.

„Warum tust du mir das an, ich hab doch ausdrücklich gesagt … ja, ist sie, aber … nein, ich … ja, aber … verdammt, darf ich mal aussprechen?!“

Scheinbar durfte er das nicht, denn er blieb stumm und hörte sich an, was am anderen Ende gesagt wurde, nur um dann einfach aufzulegen. „Glaub ja nicht, dass ich dich mit Samthandschuhen anfassen werde, nur weil du ein Mädchen bist“, knurrte er in meine Richtung und startete den Motor.

Wie er das aussprach, als wäre es eine Beleidigung. „Keine Sorge, das brauchst du nicht. Wir sind hier schließlich nicht im Kindergarten und ich bin es gewohnt, hart rangenommen zu werden.“ Bei der Zweideutigkeit dieser Worte verzog ich das Gesicht, doch im Gegensatz zu den pubertierenden Kerlen in meinem Kurs, ging er mit keiner Regung darauf ein. Murmelte nur etwas Unverständliches, während er seinen Wagen in den Verkehr einfädelte.

Die nächsten Minuten ignorierte er mich einfach. Seine Stirn war in Falten gezogen, als würde er über etwas sehr Schwieriges nachdenken und lockerte sich erst etwas, als er sich erneut eine Zigarette ansteckte. Wenigstens kurbelte er das Fenster herunter, damit ich nicht ersticken musste.

Es war mir echt unverständlich, wie manche Menschen ihre Gesundheit mit diesem Zeug aufs Spiel setzen konnten. Das zeigte doch eigentlich nur, wie dumm sie waren.

Als wir an einer Kreuzung vor einer roten Ampel hielten, versuchte ich meine Beine neu zu ordnen. Davon abgesehen, dass es voll eklig war hier in dem Müllhaufen zu sitzen, war es auch äußerst unbequem.

Er schnipste seinen Zigarettenstummel aus dem Fenster, kurz bevor die Ampel auf Grün schaltete und musterte mich dann von der Seite.

„Was?“, fragte ich, weil dieser Blick mir absolut nicht gefiel.

„Du bist ja ganz schön mager“, sagte er und bog auf der Kreuzung nach rechts in Richtung Stadtrand ab.

Also, das war doch … da blieb mir glatt die Spucke weg. „Ich bin nicht mager, ich bin durchtrainiert, oder sehnig. Nenn es wie du willst, aber untersteh dich, mich als mager zu bezeichnen.“ Das war ein hässliches Wort und es stimmte ja auch nicht.

Reese zuckte nur mit den Schultern. „Wenn du meinst. Aber die Proles wirst du mit deinen dünnen Ärmchen nicht lange auf Abstand halten können.“

„Ich habe genug Muskeln.“ So protzige Arme wie bei ihm, würden bei mir ja auch albern aussehen.

Er schnaubte nur. „Ja sicher. Und flach wie ein Brett bist du auch noch. Vielleicht glaubst du ja deswegen, dass du zum Venator geeignet bist, weil du eine Oberweite wie ein Kerl hast und deswegen glaubst, einer zu sein.“

Da fiel mir doch glatt die Kinnlade runter. „Was bitte geht dich meine Oberweite an? Ich frag ja auch nicht nach der Länge von deinem …“ Okay, dass ich jetzt rot im Gesicht wurde, sprach wohl nicht gerade für mich. „Du weißt schon“, murmelte ich leise in meinen nicht vorhandenen Bart und hoffte, dass er es nicht verstanden hatte.

„Kannst du gerne tun, ich hab keinen Grund mich dafür zu schämen, ganz im Gegenteil und hey, wenn wir schon mal beim Thema sind“, er drehte sich halb zu mir und ließ dabei den Straßenverkehr völlig aus den Augen, was in mir doch etwas Panik auslöste. „Wenn du mal Lust auf eine Nummer hast, darüber lässt sich sicher reden. Ich muss dich dabei ja nicht ansehen.“

Na sag mal, was ging denn bei dem im Kopf ab? „Hast du sie noch alle? Wie kommst du darauf, dass ich mit sowas wie dir ins Bett steigen würde? Das ist mir echt noch nie untergekommen und wenn du glaubst, dass ich es so nötig habe, dass ich …“ Ich verstummte, als mir plötzlich etwas klar wurde. „Du meinst das gar nicht so, du willst mich bloß wegekeln.“ Stur verschränkte ich die Arme vor der Brust. „Aber das kannst du vergessen. Jilin hat mir schon gesagt, dass du nicht ganz einfach bist. Und sie hat auch gesagt, dass du der Beste in der Gilde bist und da ich vom Besten lernen will, werde ich bleiben. Ich werde mich nicht mit dem zweiten Platz zufriedengeben, nur weil du verhaltensgestört und unfähig zu sozialen Kontakten bist – was hoffentlich von deiner beruflichen Kompetenz getoppt wird. Niemand stellt sich zwischen mich und mein Ziel, auch du nicht. Also kannst du dir deine Versuche auch gleich schenken. Du wirst es nicht schaffen, mich zu verjagen und mit eingeklemmtem Schwanz zu einem anderen Venator zu schleichen. Arrangiere dich einfach mit der Situation, dass wir die nächsten drei Monate aufeinander hocken werden, damit machst du es uns beiden einfacher.“

Mit jedem meiner Worte wurde seine Miene ein wenig finsterer. Es schmeckte ihm wohl nicht, dass ich seinen kleinen Plan durchschaut hatte und noch weniger schmeckte es ihm, dass ich zu stur war um mich abschrecken zu lassen. „Gott, ich kann dich jetzt schon nicht leiden.“

„Dann befinden wir uns wohl doch auf gleicher Wellenlänge, mir geht es mit dir nämlich genauso.“

Er grummelte etwas sehr Unfreundliches und lenkte den Wagen auf die andere Spur.

 

°°°

 

„Ich rede, du hältst die Klappe“, befahl Reese, als er auf die Klingel neben dem Namensschild der Familie Miehe drückte.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und verkniff es mir, etwas dazu zu sagen. Langsam ging mir der Kerl echt auf den Keks. Was glaubte er denn, wie inkompetent ich war?

Während wir warten mussten, sah ich mich ein wenig um. Wir standen vor einem Einfamilienhaus, ein Neubau in der besten Gegend der Stadt. Hier wohnte eindeutig jemand, der gut verdiente und auch sehr viel Wert auf Ordnung und Pflege legte. Jeder Busch war präzise beschnitten, jede Blume explizit an ihrem vorgesehenen Platz. Selbst die Rasenfläche war so akkurat gerade, dass man glauben könnte, die einzelnen Halme würden sich nicht trauen, zu lang zu werden, um das Gesamtbild nicht zu beeinträchtigen.

Bis die Haustür sich öffnete, musste Reese noch ein weiteres Mal klingeln und anschießend geduldig warten. Dabei wurde er nicht ärgerlich, wie ich es bei ihm erwartet hätte und setzte sogar ein freundliches Lächeln auf, als die Tür von einem älteren Herren geöffnet wurde. Mein Gott, ich hätte ja nicht geglaubt, dass er sowas könnte. Dieses leichte Verziehen des Mundwinkels machte ihn gleich um Jahre jünger. Jetzt sah man ihm sein Alter auch an.

„Ja bitte?“ Der alte Herr mit dem graumelierten Haar, in dem schicken Zwirn, ließ den Blick fragend von einem zum anderen gleiten.

„Hallo“, begann Reese. „Die Gilde der Venatoren hat mich zu Ihnen geschickt.“ Er griff in die Tasche seines alten Ledermantels und förderte einen eingeschweißten Ausweis mit dem Sicherheitsemblem der Gilde darauf zu Tage. „Sie haben sich bei uns wegen einer Proles-Sichtung gemeldet.“

„Ja, das habe ich. Da“, er deutete an den Rahmen seiner Haustür, an dem deutliche Kratzspuren zu sehen waren. „Er wollte ins Haus, als ich beim Frühstück war. Zum Glück habe ich eine Sicherheitsanlage installieren lassen, als ich das Haus vor ein paar Jahren habe bauen lassen.“ Er deutete auf ein paar elektronische Dioden, die im Türrahmen eingelassen waren. „Ich musste nur den Notschalter drücken, da hat der Proles einen heftigen Stromschlag bekommen.“ Er nickte noch einmal, wie um seine eigene Aussage zu bestätigen.

„Das hat Ihnen vermutlich das Leben gerettet“, sagte Reese und leider hatte er da Recht. Diese Viecher waren schon durch viel härteres Material als Holz gekommen. „Können Sie mir sagen, um was für ein Proles es sich handelte?“

Herr Miehe schüttelte den Kopf bereits, bevor mein Lehrcoach zu Ende gesprochen hatte. „Nein, tut mir leid. Ich konnte nur einen kurzen Blick darauf erhaschen, als es verschwand. Da, durch das Fenster hab ich es kurz gesehen. Aber was genau es war?“ Er zuckte ein wenig hilflos mit den Schultern. „Das weiß ich leider nicht.“

„Können Sie ihn mir dann vielleicht ein wenig beschreiben? Fellfarbe, Größe, Stammgruppe? Der kleinste Hinweis kann mir schon weiterhelfen.“

„Naja, es hatte grünliches Fell und von der Größe her würde ich sagen, wie ein sehr großer Hund, aber das ist nur eine grobe Schätzung. Nachdem er den Stromschlag bekommen hat, ist er einfach zu schnell verschwunden, um einen genaueren Blick auf ihn zu werfen. Nicht, dass mich das gestört hätte.“

„Das glaube ich Ihnen gern“, lächelte Reese. Er trat ein wenig näher und ging in die Hocke, um sich die Kratzer etwas genauer anzusehen. Die Tiefe konnte viel über die Kraft eines Proles erzählen. „Könnte ein Spuma, oder ein Ossa gewesen sein.“

„Oder ein Virido“, warf ich ein, denn Beschreibung von Größe und Farbe passten auch auf diesen Proles.

Reese warf mir einen sehr abschätzenden Blick zu. „Davon abgesehen, dass es den Virido in Europa nicht gibt – wofür ich sehr dankbar bin, denn wir haben hier wirklich schon genug von den anderen Viechern – ist er auch zu klein und könnte niemals so tiefe Spuren im Holz hinterlassen. Dafür sind seine Krallen einfach zu weich.“

Mist, er hatte Recht. Wie hatte mir nur so ein schwerer Fehler unterlaufen können? Und dann auch noch ausgerechnet vor ihm und dem Kunden? Ich spürte geradezu wie sich meine Wangen vor Verlegenheit leicht röteten, aber so schnell würde ich mir keine Blöße geben. „Es wurden auch schon größere Exemplare gesichtet.“ Okay, das war eine schwache Verteidigung, aber mehr hatte ich im Augenblick leider nicht aufzubieten.

Reese verzog äußerst abfällig die Lippen. „Du solltest lieben den Mund halten, sonst könnte noch jemand auf den Gedanken kommen, dass du noch dümmer bist als du aussiehst.“

„Besser dumm als hässlich“, entfuhr es mir etwas zu heftig und ich biss mir auch gleich danach auf die Unterlippe. Normalerweise würde sowas niemals meinen Mund verlassen, aber dieser Kerl brachte mich so auf die Palme, dass ich ihn am liebsten mal kräftig geschüttelt hätte. Und nein, ich würde mich dafür ganz sicher nicht entschuldigen.

Als Reese sich aus der Hocke erhob, hatte diese Bewegung etwas Bedrohliches an sich, dass mich schlucken ließ. „Wenn dich mein Aussehen stört, dann steht es dir jederzeit frei zu gehen. Das hier ist sowieso kein Job für kleine Mädchen. Ich werde dich sicher nicht aufhalten. Nein, ganz im Gegenteil, ich fahr dich sogar nach Hause. Du musst nur einen Ton sagen.“

Das könnte ihm so passen, aber ich würde nicht klein beigeben. Ich gab niemals auf und jetzt würde ich nicht damit anfangen, nur weil er mit jedem zweiten Wort Gemeinheiten auf mich abfeuerte. Ich drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, hielt seinem Blick stand, diesen dunklen fast schwarzen Augen, die mich voller Herablassung herausforderten.

Herr Miehe schaute etwas verwirrt zwischen uns hin und her und blieb schließlich an mir hängen. „Auch wenn der junge Mann sich nicht sehr höflich ausgedrückt hat, so hat er Recht. Venator ist kein Beruf für eine junge Dame.“

„Ganz meine Rede“, schob Reese noch hinterher.

Super, das hatte ich jetzt wirklich noch gebraucht. Gab es eigentlich irgendwo noch Männer, die keine misogyne Ader hatten? Diesen ganzen Quatsch hatte ich mir die letzten zwei Jahre doch schon genug in der Akademie antun müssen. Musste das nicht irgendwann mal ein Ende haben? Eigentlich dachte ich ja, ich würde in einer emanzipierten Gesellschaft leben. „Der Chef der Venatorengilde ist eine Frau. Sie ist sogar Meisterin.“ Ich sah provokativ zu Reese. „Kennt sie deine frauenfeindliche Einstellung?“

Seine Augen verengten sich ein klein wenig. „Jilin weiß viele Dinge über mich.“ Mit diesen kryptischen Worten wandte er sich wieder an Herrn Miehe. „Bevor ich mich auf die Suche nach dem Proles mache, hätte ich da noch eine Frage.“

Ich? Meinte er nicht wir? Wenn er glaubte, mich einfach abhängen zu können, hatte er sich aber geschnitten. Ich würde wie eine Klette an ihm kleben. Okay, ich würde schon einen gewissen Abstand wahren, aber ich würde mich nicht abhängen lassen.

„Wenn ich kann, werde ich sie auch beantworten“, lächelte Herr Miehe.

„Sie sprachen die ganze Zeit nur von einem Proles an ihrer Tür. Heißt das, er war allein? Kein Rudel in der Nähe?“

Stimmt, jetzt wo er es sagte, das war schon seltsam. Zwar tauchten die Proles nicht immer in großen Gruppen, aber mindestens in kleinen Familienrudeln von zwei bis drei Tieren auf. Warum war mir das nicht gleich aufgefallen? Ich wusste das doch, es hätte mir auffallen müssen. Das war der zweite Fehler innerhalb von ein paar Minuten gewesen. Was war denn heute nur los mit mir? Man, ich war eine der besten Lehrlinge, die die Beluosus Akademie jemals gesehen hatte, bei mir ging doch sonst nicht so viel schief.

„Ich habe zumindest keinen anderen gesehen“, erklärte Herr Miehe. „Im Garten und am Haus war nur dieser eine.“

„In Ordnung und vielen Danke für ihre Hilfe.“ Er machte einen Schritt von der Haustür weg. „Ich werde mich dann jetzt mal auf die Socken machen und ein wenig in der Gegend umsehen. Und keine Sorge, ich werde ihn schon finden.“

Da war es schon wieder, dieses ich. Hallo? War ich neuerdings unsichtbar?

„Ist es Ihnen recht, wenn ich mich noch ein wenig in ihrem Garten umschaue, ob ich vielleicht noch eine Spur finde?“, fragte Reese noch.

Herr Miehe nickte. „Natürlich, das ist kein Problem. Hauptsache dieses Biest taucht hier nicht noch einmal auf.“

„Gut, ich danke Ihnen. Und einen schönen Tag noch.“

„Waidmannsheil“, grüßte Herr Miehe noch zum Abschied und schloss dann die Tür hinter sich.

Die nächsten Minuten suchte Reese systematisch den Garten nach weiteren Spuren ab. Ich lief ihm dabei wie ein kleines Hündchen artig hinterher und immer, wenn er sich eine Stelle besonders genau ansah, tat ich es ihm nach um zu sehen, was er da gefunden hatte. Er gab mir keine Erklärungen, keine Hilfestellungen, kein gar nichts. Aber ich muss gestehen, er hatte ein sehr gutes Auge, was diese Sucherei anging. Abgeknickte Zweige, Pfotenspuren, einen Kackhaufen – ja, das war eklig, aber es war ein Beweis dafür, dass der Proles sich länger in diesem Garten aufgehalten hatte – ein kleines Büschel Fell, das in einem Strauch hängengeblieben war. Himmelblau, wenn ich mich nicht täuschte, aber genau konnte ich das nicht erkennen, weil er es halb verdeckt in seiner Hand hin und her drehte.

„Kann ich das auch mal sehen?“, wagte ich mich zu fragen. Ich wollte herausfinden, mit was für einem Proles wir es zu tun hatten und die Beschaffenheit von dem Fell konnte Hinweise darauf liefern.

Reese ließ seine Hand mit dem Fell sinken, als könnte er es kaum fassen, dass ich des Sprechens mächtig war. „Du bist ja immer noch da.“

Ich kniff meine Augen leicht zusammen. Warum nur musste er die ganze Zeit so ablehnend zu mir sein? Ich hatte ihm doch nichts getan. „Ja bin ich und stell dir vor, ich werde auch nicht so einfach verschwinden. Das habe ich dir aber auch schon gesagt.“

„Man, du bist ja wie die Pest, eklig und unerwünscht.“ Er ließ das Fell in seinem Mantel verschwinden, ohne es mir zu zeigen. Dann untersuchte er den Busch, aus dem er das blaue Fell hatte, genauer. „Aber wenn du mir schon am Arsch kleben musst, dann kannst du dich auch mal ein wenig nützlich machen. Geh ein paar Klinken putzen und hör auf mich bei der Arbeit zu stören.“

„Klinken putzen?“

„Ja, Klinken putzen.“ Er drehte sich halb zu mir um. „Beweise sammeln, Spuren suchen. Die Arbeit eines Venator besteht nämlich nicht nur darin, wahllos Prolos abzuschießen. Man muss sie vorher suchen und finden und um das zu erreichen, sucht man im allgemeinen nach Spuren, oder glaubst du hier steht irgendwo ein Leuchtpfeil herum, unter dem der Proles sich platziert, damit wir ihn eliminieren können?“ Er schnaubte äußerst abwertend. „Was zum Teufel bringen die euch eigentlich auf der Akademie bei? Laut Jilin sollst du die Beste in deinem Jahrgang sein. Heißt das, die anderen sind noch dümmer als du?“

Tief durchatmen. „Ich bin nicht dumm.“

„Dafür schaffst du es aber sehr gut, diesen Eindruck zu erwecken und jetzt verschwinde.“ Und schon steckte sein Kopf wieder im Busch.

Okay, mit „Verschwinde“ meinte er in diesem Fall wohl Klinken putzen und nicht „Verschwinde nach Hause“, oder? Ich würde es einfach mal so interpretieren.

Noch etwas zögerlich entfernte ich mich von ihm, bis ich an der ruhigen und fast schon idyllischen Straße stand und überlegte, was genau Reese jetzt von mir erwartete. Natürlich könnte ich ihn einfach fragen, aber da er mir dann wahrscheinlich nur wieder irgendeine Gemeinheit um die Ohren hauen würde, unterließ ich es und klingelte einfach beim Nachbarn nebenan. Ich würde es einfach so machen, wie er. Eine einfache Befragung. Wer weiß, vielleicht hatte ich ja sogar Glück und fand den entscheidenden Hinweis. Dann müsste er zumindest einsehen, dass ich kein Klotz an seinem Bein war und ihm helfen konnte.

Entschlossen drückte ich auf die Klingel und wartete eine geschlagene Minute, bevor ich sah, wie sich die Gardine sich leicht bewegte und das misstrauische Auge einer Frau mich beobachtete. O-kay. Ich setzte ein nettes Lächeln auf, wie ich es bei Reese gesehen hatte und machte ein Zeichen Richtung Tür.

Sie zögerte, dann fiel die Gardine wieder vors Fenster. Einen Moment überlegte ich, ob sie mich jetzt ignorierte, aber dann hörte ich, wie das Schloss von innen aufgedreht wurde. Und noch ein Schloss. Und noch eines. Mein Gott, wie viele Schlösser waren das denn?

Als dann einen Spalt breit geöffnet wurde, lag von innen noch eine Sicherheitskette davor und das misstrauische Auge war wieder da. Es gehörte zu einer recht jungen Frau.

„Ja?“

Okay, jetzt bloß keine Fehler machen. „Hey, hallo, ich bin von der Gilde der Venatoren.“ Ich zog meinen vorläufigen Ausweis raus, wie ich es bei Reese gesehen hatte und redete dabei weiter. „Uns wurde gemeldet … also hier in der Gegend wurde ein Proles gesichtet und nun wollte ich mal fragen …“

Als die Frau einen spitzen Schrei ausstieß, fiel mir vor Schreck nicht nur die Karte aus der Hand, ich wirbelte auch herum, in der Annahme, da würde … ich hatte keine Ahnung, in welcher Annahme, ich tat es einfach. Dann wurde die Tür zugeknallt und die Schlösser hastig geschlossen.

Ich sah zu der Tür, sah zur Straße, ließ meinen Blick wachsam über die Umgebung wandern, aber da war nichts, außer einem hämisch grinsenden Reese, der gerade auf dem Weg zum Nachbarn gegenüber war. Ich ignorierte ihn und überlegte was die Frau eben so erschreckt haben könnte, dass sie meine Trommelfelle zum Klingeln brachte? Aber da war nichts, alles ruhig, so wie es sein sollte.

Stirnrunzelnd bückte ich mich nach meinem Ausweis, als mir ein Gedanke kam. Hatte ich sie vielleicht so erschreckt? Sie schien ja sowieso schon sehr ängstlich und misstrauisch und vielleicht hatte sie ja etwas so Schreckliches erlebt, dass sie allein bei dem Gedanken daran, da könnte sich ein Proles in ihrer Nachbarschaft rumtreiben, Angstzustände bekam. Das war heutzutage leider nicht so außergewöhnlich, wie man vielleicht denken sollte.

Seufzend und mit meiner Karte in der Hand, ging ich ein Haus weiter. Vielleicht hatte ich hier ja mehr Glück.

Dieses Gebäude war etwas heruntergekommener, als die anderen. Auch der Garten wirkte nicht sehr gepflegt und leicht verwildert.

Ich drückte auf die Klingel neben dem Namensschild und musste dieses Mal nur eine halbe Minute warten, bis sie von innen heftig aufgerissen wurde.

„Ja?“, fragte der Kerl in der Tür äußerst unhöflich und musterte mich abfällig.

Ich schluckte. Der trug nichts als Boxershorts und ganz ehrlich, das war kein Mann, dem man nur in Shorts gegenüberstehen wollte. Ich meine, gegen den Bierbauch hatte ich nichts, aber der hatte eine so behaarte Brust, dass er schon beinahe wie ein Affe wirkte.

Reiß dich zusammen, ist doch ganz egal wie er aussieht. Und wenn er King Kong wäre, Hauptsache er beantwortet deine Fragen! „Ähm … ja, hallo“, begann ich nach der Pleite mit der Frau ein wenig verunsichert und hielt ihm kurz meinen Ausweis hin, bevor ich ihn in meiner Hosentasche verschwinden ließ. „Hier in der Gegend wurde ein freilaufender Proles gesichtet und …“

„Was?!“, fuhr er sofort auf. „Ein Proles? In dieser Gegend? Na der soll hier nur auftauchen, den Knall ich ab!“ Er stampfte in den Flur zurück, ließ die Tür aber offen. So konnte ich sehen, dass er damit begann, hektisch in einem Wandschrank im Flur herumzuwühlen.

Ähm … okay.

„Nicky, wo ist meine Flinte?!“, rief er durchs ganze Haus, ohne seine Suche zu unterbrechen.

Flinte?

„Da wo sie immer ist“, rief eine etwas genervte Stimme zurück. Einen Augenblick später trat ein junges Mädchen mit Handtuch und Teller in den Flur – musste seine Tochter sein. „Im Schirmständer.“

Im Schirmständer? Welcher vernünftige Mensch bewahrte seine Waffe bitte in einem Schirmständer auf? Wie es schien, er. Und was er da aus dem Schirmständer zog, war nicht nur eine einfache Flinte, es war eine Remington 870! Scheiße, was sollte das werden?

„Dieses Vieh soll hier nur auftauchen. Dem werde ich´s zeigen!“, donnerte der Kerl und marschierte an seiner Tochter vorbei zur Tür.

Jetzt war es wohl an der Zeit, etwas zu unternehmen, denn auch im Zeitalter der Proles war es gegen das Gesetz, mit einer Waffe in der Stadt rumzuballern. Nur, was sollte ich tun?

„Diese Viecher werden sich noch wünschen, nie geboren zu sein!“

„Nein, bitte, das ist nicht nötig, ich wollte doch nur fragen …“

„Nein?!“ Er sah mich ungläubig an. „Willst du diese Bestien etwa schützen? Gehörst du etwa zu diesen Fanatikern, die Monstern ein Recht auf Leben zusprechen?! Ich sollte dich auch abknallen! Du bist …“

Scheiße, das lief ja völlig aus dem Ruder. „Nein, ich gehöre nicht zu diesen Leuten.“

„… genauso schlimm wie diese menschenfressenden Biester, die …“

Er hörte mir gar nicht zu.

„… Frauen und Kinder fressen, weil irgendwo ein verrückter Wissenschaftler …“

Suchend sah ich mich nach Hilfe um, aber die war nur Reese beim Nachbarn gegenüber. Natürlich war er durch das Geschrei schon auf uns aufmerksam geworden, doch von ihm hatte ich wohl keine Hilfe zu erwarten.

„… mit Dingen rumexperimentiert hat, von denen er keine Ahnung hat und wer darf das jetzt ausbaden?! Wir! Hart arbeitende Menschen wie ich und meine Familie!“

Er war in der Zwischenzeit so nahe, dass ich seinen schlechten Atem im Gesicht spüren konnte. „Es tut mir leid“, versuchte ich zu beschwichtigen. „Ich wollte sie nicht aufregen, ich …“

„Ich habe alles Recht der Welt mich aufzuregen und jetzt geh mir aus dem Weg, das Vieh werde ich abknallen!“ Noch während er sprach schob er mich grob zur Seite und marschierte barfuß in den Garten.

„Nein, bitte, so hören Sie doch.“ Ich warf einen Blick zurück in das Haus zu seiner Tochter, doch die stand nur mit der Schulter an die Wand gelehnt da und trocknete seit bestimmt fünf Minuten gelangweilt den Teller in ihrer Hand ab. Das benehmen ihres Vaters nahm sie ziemlich gleichgültig hin.

„Wo ist dieses Vieh?!“, donnerte der Mann.

Das war der Moment, in dem Reese sich mit gerunzelter Stirn in Bewegung setzte und mit weiten Schritten auf uns zuhielt. Als ich das sah, erfüllte mich ein Gefühl der Erleichterung. Ich war mit dieser Situation völlig überfordert. Sowas wurde uns in der Akademie nicht beigebracht!

„Wo steckt es?!“

„Hören Sie“, versuchte ich es noch einmal. „Ich muss den Proles erst finden, dann …“

„Na das könnte dir so passen, du fanatischer Samariter! Diese Viecher …“

„Hey!“, rief Reese und betrat eilig den Garten. „Gibt es hier ein Problem?“

Der Mann fuhr zu ihm herum. „Ob es hier ein Problem gibt? Ist das ein Scherz? Dieses Weibsbild ist von diesen Gutmenschen, die die Proles unter Naturschutz und so´n Scheiß stellen wollen!“

Reese warf mir einen Blick zu, der mich seine Herablassung genau spüren ließ. Dabei hatte ich doch gar nichts falsch gemacht. „Wenn ich Sie korrigieren darf, sie ist Praktikantin bei der Gilde der Venatoren.“ Er zog seinen Ausweis aus der Tasche, um seine Worte zu belegen. „Und deswegen möchte ich Sie bitten sich zu beruhigen. Es besteht keine Gefahr, wir haben alles im Griff. Zurzeit befinden wir uns auf der Suche nach einem gesichteten Proles. Vielleicht haben Sie ja auch etwas gesehen, dass Sie uns mitteilen können, damit wir es schneller finden?“

Es war deutlich, dass der Mann weiter seiner Wut frönen wollte, doch die Aussicht darauf, zu einer erfolgreichen Proles-Jagd beigetragen zu haben, hatte auch etwas Verlockendes an sich. Er spannte den Kiefer an, sah von Reese zu mir und wieder zurück und schüttelte dann den Kopf. „Nein, ich habe nichts gesehen, aber ich habe heute Nacht seltsame Geräusche gehört. Ich dachte das wären diese Nichtsnutze aus der zweiundsiebzig, aber wenn ich jetzt so darüber nachdenke, dann könnten es auch Proles gewesen sein.“

Wer es glaubt.

„Heute Nacht?“, fragte Reese nach und zog aus seiner Manteltasche Stift und Notizblock, als müsste er sich was Wichtiges notieren. „Können Sie mir sagen wann das gewesen ist? Es wäre sehr wichtig.“

Was?! War das sein Ernst?

„Natürlich kann ich das. Das war kurz nach zehn. Ich weiß das so genau, weil dann immer meine Lieblingssendung beginnt.“

Reese nickte und notierte sich etwas. „Können Sie mir sonst noch etwas sagen? Alles könnte wichtig sein bei der Findung des Proles. Er muss eliminiert werden, bevor er noch größeren Schaden anrichten kann.“

„Ja, natürlich, ich verstehe.“ Er verzog angestrengt das Gesicht, als stünde er vor der Aufgabe, eins und eins zusammen zu zählen. „Ja, ich erinnere mich, da war noch etwas vor ein paar Tagen. Da hab ich etwas Rotes über die Straße rennen sehen. Das war bestimmt der Proles.“

„Ganz sicher“, stimmte Reese ihm ernst zu. „Können Sie mir beschreiben, wie genau es ausgesehen hat und wo sie es gesichtet haben?“

Das konnte er und zwar in so vielen Einzelheiten, dass es nur eine erfundene Story sein konnte. Gut, vielleicht glaubte er wirklich etwas gesehen zu haben, aber der Proles wie er ihn beschrieb, gab es gar nicht. Das musste Reese doch auch merken. Trotzdem schrieb er artig jedes Wort mit. Warum tat er das?

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit steckte mein Lehrcoach seine Notizen zurück in die Manteltasche. „Ich danke Ihnen für ihre Aussage, Sie sind wirklich sehr aufmerksam. Die Gilde der Venatoren ist Ihnen für ihren Dienst an der Stadt sehr dankbar und ich möchte Sie bitten, sich bei uns zu melden, falls Ihnen noch etwas Wichtiges einfällt, oder Sie den Proles erneut sehen.“

Nach diesen Worten war dem Mann so die Brust geschwollen, dass ich schob befürchtete, er würde vor Stolz gleich patzen. „Ich erfülle nur meine Bürgerpflichten.“

„Und dafür bin ich Ihnen sehr dankbar.“ Er reichte dem Mann die Hand. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.“

„Und ich Ihnen eine erfolgreiche Jagt.“

Sie nickten sich zu, dann wandte Reese sich Richtung Straße.

Ich machte schnell, dass ich hinterher kam. Hier wollte ich nicht allein bleiben.

„Ich hab´s gewusst, Weiber machen nur Stress“, zischte er mich an, sobald wir außer Hörweite waren. „Was zum Teufel hast du gesagt, dass der mit einer Waffe auf dich losgegangen ist?“

Bitte? „Ich hab gar nichts gesagt. Ich wollte nur …“

„Gott, du bist wirklich zu gar nichts zu gebrauchen“, sagte er einfach, ohne mich ausreden zu lassen. Dabei zog er seine Zigaretten aus dem Mantel und steckte sich eine an.

Die Lippen fest aufeinander gedrückt, wich ich seinem Blick aus. Ich hatte mir meinen ersten Tag sicher auch nicht so vorgestellt. Was erwartete er eigentlich von mir?

„Fängst du jetzt etwa auch noch an zu heulen?“

Ja, das könnte ihm so passen. Armes, kleines Mädchen, kann dem Druck einfach nicht standhalten. Von wegen. „Nein. Heulen ist schließlich nur etwas für kleine Mädchen und laut dir bin ich ja ein Kerl.“ Ich machte auf dem Absatz kehrt und schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Gott, der Typ war wirklich ein Idiot. Was konnte ich denn dafür, wenn der Kerl mit der Flinte so austickte? Ich hatte doch nichts Falsches gesagt, oder? Nein, ich hatte mich genau richtig verhalten, da war ich mir sicher.

Über die Schulter hinweg, warf ich einen kurzen Blick zurück zu dem Haus. So eine Blamage würde mir kein zweites Mal passieren. Beim nächsten Mal wüsste ich genau, was zu tun war. Ich würde mich nicht noch mal von Reese retten lassen. Und ich würde auch nicht aufgeben.

Um mir selber zu beweisen, dass ich das konnte, suchte ich mir das nächste Haus aus. Jetzt wollte ich es auf der anderen Seite von Herr Miehe versuchen.

Der Garten hier war nicht so penibel gepflegt wie der erste, oder so heruntergekommen wie der letzte. Er war hübsch und erinnerte mich irgendwie an ein kleines Hexenhäuschen. Nein, ich hatte keine Ahnung, wie ich bei dem Anblick, des kleinen Hauses mit der braunen Fassade darauf kam, es war einfach so.

Ich machte noch einen letzten, tiefen Atemzug, bevor ich an die Tür trat und nach der Klingel suchte. Gab es nicht. Ich suchte noch einmal, aber hier gab es wirklich keine Klingel. O-kay, dann blieb mir wohl nichts anderes übrig, als zu klopfen und dann zu warten.

Es dauerte einen kleinen Moment, aber dann sah ich mich einer gepflegten, älteren Dame gegenüber, die mich fragend ansah. Weit und breit keine Schlösser, oder Waffen. Da das war doch schon mal sehr vielversprechend.

„Ja bitte?“

Und höflich war sie auch noch. Jackpot. „Hallo, mein Name ist Grace Shanks und ich komme von der Gilde der Venatoren. Einer ihrer Nachbarn hat bei uns eine Proles-Sichtung gemeldet. Da er aber wieder verschwunden ist, suchen mein Partner und ich die Gegend nach Spuren ab und ich wollte fragen, ob Sie etwas bemerkt haben.“ Na das klang doch mal professional. Ich war wieder in meinem Element, Baby. Yes.

Die Frau nickte verstehend und sagte dann: „Der Hund.“

„Bitte?“

„Na der Hund.“

Hund? Was für ein Hund? Hä? „Ich versteh nicht.“

Sie trat ein wenig zu mir, blickte sich nach allen Seiten um, nur um sich dann vertraulich vorzubeugen. Automatisch kam ich ihr ein wenig entgegen, da sie doch einen ganzen Kopf kleiner war als ich. „Der Hund, er hat gebellt“, flüsterte sie mir geheimnisvoll zu und schwupp, schon war sie wieder im Haus und die Tür zu. Und ich stand da wie bestellt und nicht abgeholt.

Das durfte doch einfach nicht wahr sein! Wohnten denn in dieser Gegend nur Verrückte? War das immer so? Oder wurde mir einfach nur das Glück dieser außergewöhnlichen Leute zuteil? Drei Pleiten hintereinander. Das war wirklich nicht zu fassen!

Da es nichts mehr gab, was mich noch hier hielt, verließ ich mürrisch grummelnd das Grundstück und versuchte mein Glück beim nächsten Haus. Dabei schwor ich mir, wenn hier wieder irgendwelche Verrückten wohnten, dann würde dieses Mal diejenige sein, die ihre Knarre zog.

Misstrauisch betrat ich den Garten. Auf den ersten Blick schien hier alles normal zu sein. Aber das war bei den anderen ja auch der Fall gewesen, hatte also nicht wirklich viel zu sagen. Trotzdem wagte ich mich an die Haustür und betätigte die Klingel. Dann wartete ich und konnte sehr schnell feststellen, dass hier niemand aufmachte, der einen hysterischen Schreianfall bekam, oder gleich seine Flinte zückte. Auch kryptische Worte blieben aus. Das war ja soweit schon mal ein Fortschritt. Das Problem daran war nur, hier machte überhaupt niemand auf. Wahrscheinlich befanden sich die Hausherren auf der Arbeit, wie es eben üblich war. Leider behinderte das meine Arbeit.

Kopfschüttelnd wandte ich mich um. Das war wirklich nicht mein Tag. Erst die Sache mit Reese, dann meine überaus peinliche Fehleinschätzung mit dem Virido und dann noch diese Nachbarschaft. Das war einfach nur zum …

Als ich auf der Wegplatte vor mir einen großen, rostroten Fleck bemerkte, stoppte ich. Das war Blut. Oder? Um sicher zu gehen, dass ich mich nicht täuschte, hockte ich mich hin, um mir den Fleck genauer anzusehen, strich sogar mit den Fingern darüber. Doch es gab keinen Zweifel, das hier war Blut. Und nicht gerade wenig.

Scheiße.

Wachsam erhob ich mich und ließ meinen Blick aufmerksam durch den Garten wandern. Alles schien normal, doch der rote Fleck zu meinen Füßen sprach da eine ganz andere Sprache. Etwas stimmte nicht, es war wie eine Vibration in der Luft, die ich bis in die Knochen spüren konnte. Und als ich mich daran erinnerte, dass niemand die Haustür geöffnet hatte, bekam ich ein ganz ungutes Gefühl.

Spätestens jetzt wäre es wohl das vernünftigste gewesen, Reese Bescheid zu sagen, aber in diesem Garten schien sich kein Proles zu befinden. Und wenn ich mich mit dem Fleck doch täuschte, dann dürfte ich wieder seine Herablassung spüren und das wollte ich nicht. Ich wollte beweisen, dass ich kein wertloser Ballast war, dass ich etwas taugte und er einsehen musste, dass es keine Zeitverschwendung wäre, mich als richtigen Praktikanten anzunehmen.

Einen kurzen Moment zögerte ich noch, doch dann gab ich mir einen Ruck und ging tiefer in den Garten hinein. Ich würde mich nur mal kurz umsehen und vielleicht auch einen Blick durchs Fenster ins Haus werfen. Dann hätte ich sicher mehr Erkenntnisse, die ich Reese vorlegen könnte.

„Immer wachsam, immer bereit“, murmelte ich leise vor mich hin, als ich zum Haus schlich. Dort waren die Vorhänge offen, doch ein Blick ins Innere, zeigte mir nur eine normale Küche. Auch fand ich hier kein Durchschlupf, durch das ein Proles ins Haus gelangen könnte. Das war doch schon mal gut. Irgendwie.

Ich wandte mich ab und wollte zum nächsten Fenster, als ich einen weiteren Blutfleck bemerkte. Kleiner und weniger deutlich durch das Gras, aber er war da. Und er war auch nicht der einzige. Jetzt wo ich genauer hinsah, erkannte ich, dass es sich um eine Blutspur handelte, so als hätte sich da jemand weggeschleppt und sei hin und wieder zusammengebrochen. Die Spur führte hinters Haus.

Wieder zögerte ich einen Moment und überlegte, ob ich Reese Bescheid geben sollte, doch dann folgte ich der Spur einfach, ohne einen Blick zurück zu werfen.

„Immer wachsam, immer bereit“, murmelte ich wieder in Erinnerung daran, was ich alles von Herr Keiper gelernt hatte.

Ich schlich bis zur Hausecke, holte dabei meine M19 aus dem Holster und entsicherte sie. Dann atmete ich noch einmal tief durch, um mich für das Kommende zu wappnen.

 

°°°°°

Kapitel 03

 

Als ich um die Ecke herumwirbelte, lag wieder nur der leere Garten vor mir. Kein Tier, kein Mensch und auch keine Leiche. Kein leben weit und breit. Nur ein Komposthaufen, eine alte Schubkarre, die langsam vor sich hin rostete und daneben ein leerer, schäbiger Hundezwinger.

Alles ruhig.

Heute war es nichts mehr Seltenes, dass die Leute sich draußen einen Hund im Zwinger hielten. Sie dienten als Frühwarnsystem, um die Menschen aufmerksam zu machen, wenn ein Proles bei ihnen auftauchte. Er müsste aber auch bellen, wenn sich Fremde in seinem Revier rumtrieben. Ich runzelte die Stirn. Das war schon seltsam. Hier blieb es ruhig, kein Hund der lautstark anschlug.

Der Hund, er hat gebellt. Ich hörte diese Worte so deutlich, als stände die alte Nachbarin direkt neben mir, um sie mir erneut zuzuflüstern.

Aufmerksam ließ ich meinen Blick wandern. Ein paar Vögel zwitscherten in den Bäumen, der Wind ließ die Blätter rascheln und von der Straße hörte ich das Motorengeräusch eines Wagens. Alles ganz normal, nichts Ungewöhnliches.

Die Hand mit meiner Waffe, sank langsam an meiner Seite herab, als ich mich nach der schwer erkennbaren Blutspur umsah. Sie war noch da, hier sogar etwas stärker. Und sie führte genau zu dem Hundezwinger.

Mir schwante Böses, als ich auf diese Holzbaracke namens Zwinger zuging und so war ich bereits auf das Bild gefasst, das sich mir dort bot. Allein schon die eingedrückte Zwingertür, die ein Zeugnis der Aggressionen eines Proles war, gab mir reichlich Aufschluss über das, was hier geschehen sein musste. Im inneren sah es nicht viel besser aus. Ein umgeworfener Wassernapf, haufenweise Kratzspuren, ausgerissene Fellbüschel und überall Blut. Am Boden, an der hinteren Wand und auch an der isolierten Hundehüte.

Ich bückte mich nach einem der blutverschmierten Fellbüschel. Borstig, grünlich, mit einem leichten Blaustich. Zu dunkel für einen Spuma. Das sprach für Reese' Theorie, dass wir es hier mit einem Ossa zu tun hatten. Das würde auch erklären, warum es hier keinen toten Hund gab. Ossa ließen niemals Reste übrig, auch keine Knochen. Aber eigentlich traten die Meles-Proles immer in kleinen Familienverbänden auf und Herr Miehe hatte ja gesagt, dass der Proles allein gewesen sei. Seltsam. Vielleicht ein Jungtier, dass sich erst einem anderen Rudel anschließen musste, oder ein trächtiges Weibchen, dass sich von der Gruppe abgesetzt hatte, um ihre Jungen zu gebären.

Als ich mich etwas weiter umsah, entdeckte ich eine ausgerissene Kralle, die im Holzboden steckte. Ich bückte mich danach, um sie genauer unter der Lupe anzuschauen. Sie hatte den gleichen Grünton, wie das Fell. Komisch, ich konnte mich nicht daran erinnern, dass der Ossa grüne Krallen hatte. Aber vielleicht war das ja einfach mal wieder eine neue Mutation der Art. Sowas kam leider viel zu häufig vor. Wenigstens war es keine Hohlkralle, das bedeutete, der Ossa war nicht plötzlich giftig geworden. Trotzdem sollte ich sie vorsichtshalber Reese zeigen.

Ich schob die Kralle in meine Hosentasche und erhob mich. Dabei fiel mein Blick wieder auf die Blutspur vor dem Zwinger und mir kam ein neuer Gedanke. Vielleicht hatte der Hund versucht sich mit letzter Kraft in Sicherheit zu bringen und seinen Körper mühsam durch den Garten geschleppt. Bis vorne zur Haustür. Das würde zumindest die Spur erklären.

Doch ein Proles ließ keine Beute freiwillig entkommen. Er war ihm sicher gefolgt. Und irgendwann hatte er ihn sich einfach gepackt und weggetragen. Es wunderte mich nur, dass keiner der Nachbarn darauf aufmerksam geworden war. Es musste doch ein Riesenlärm gewesen sein.

Der Hund, er hat gebellt.

Na gut, mindestens ein Nachbar hatte es mitbekommen.

Nachdenklich wandte ich mich ab und verließ den Zwinger. Es war an der Zeit Reese Bescheid zu sagen. Ich war mal gespannt, was er zu der ganzen Sache beizutragen hatte. Vielleicht hatte er ja auch schon etwas herausgefunden.

Doch ihn auswendig zu machen, erwies sich als schwerer, als man hätte glauben können. Die Straße war leer und auch bei den anderen Häusern konnte ich ihn nicht finden. Einen Moment befürchtete ich schon, dass er einfach abgehauen war, aber das wäre schon seltsam, da sein Wagen noch immer am Straßenrand parkte und den würde er sicher nicht zurücklassen.

Ich lief ein paar Schritte die Straße hinunter. Eigentlich eine sehr schöne Gegend. Gepflegt, sauber, wohlhabend. Die Blätter der Bäume am Straßenrand schillerten in den schönsten Herbstfarben und täuschten über das hinweg, was nur ein paar Türen weiter in einem Zwinger geschehen war.

Ich befahl mir, meine Gedanken wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren und ließ den Blick von Haustür zu Haustür gleiten. Irgendwo musste der Kerl ja stecken. Ich reckte den Hals, sah nach links und rechts und war schon am überlegen, ob ich einfach mal laut nach ihm rufen sollte, doch dann entdeckte ich seinen dunklen Haarschopf ein paar Gärten weiter halb versteckt hinter einer hohen Hecke.

Na endlich.

Leicht verärgert über seine Versteckspielchen, überquerte ich die Straße. Auf Autos musste ich dabei nicht achten. Diese Gegend war so ruhig, dass man nachts wahrscheinlich die Grillen husten hören konnte. Leichten Schritts sprang ich auf der anderen Seite auf den Gehweg und trat in den Garten mit den hohen Hecken.

Reese stand am Rand und unterhielt sich mit einem jungen, blonden Kerl. Wahrscheinlich der Sohn der Hausherren. Sicherlich würde mein Lehrcoach es nicht gut aufnehmen, wenn ich ihn einfach unterbrach, doch das hier war wichtiger als ein nettes Pläuschchen.

Entschlossen brachten mich meine Schritte zu ihm und obwohl er mich gesehen haben musste – ich stellte mich schließlich genau neben diesen schlaksigen Typen – ignorierte er meine Anwesenheit einfach und sprach weiter, als wäre ich aus Luft.

Würde das jetzt immer so sein? „Reese?“, fragte ich vorsichtig.

Er warf mir nur einen Blick zu, der deutlich sagte „Halt die Klappe“ und sprach weiter.

Der andere Kerl war wenigstens nicht so unhöflich. Er schenkte mir sogar einen neugierigen Blick und ein kurzes, höfliches Lächeln, doch für alles andere, schien ich einfach nicht interessant genug.

Vielleicht glaubst du ja deswegen, dass du zum Venator geeignet bist, weil du ´ne Oberweite wie ´n Kerl hast und deswegen glaubst, einer zu sein.

Ich drückte die Lippen fest aufeinander. Warum bitte musste ich jetzt daran denken? Ich hatte doch sonst keine Komplexe wegen meines Aussehens, doch seine Worte schienen sich irgendwie in mein Hirn gebrannt zu haben.

Mich im Geist selber beschimpfend, wartete ich dass die beiden Männer ihr Gespräch beendeten. Doch wenn ich geglaubt hatte, dass mein Lehrcoach mir dann seine Aufmerksamkeit schenken würde, hatte ich mich aber gewaltig geschnitten. Er schritt einfach an mir vorbei, als wäre ich nicht vorhanden.

So ein Blödmann. Also langsam wurde ich echt ärgerlich.

Ich lief eilig an seine Seite. Er musste mir einfach zuhören. „Reese, ich habe …“

„Bist du meine Mutter?“, unterbrach er mich rüde und zog kaum dass wir auf dem Gehweg standen, wieder eine Zigarette hervor.

„Was?“, fragte ich irritiert.

„Ich habe gefragt, ob du meine Mutter bist.“ Er zündete seinen Glimmstängel an, atmete einmal tief ein und blies mir den Rauch dann genauso provokant ins Gesicht, wie er es schon im Wagen getan hatte.

Naserümpfend trat ich einen Schritt von ihm weg. Was versuchte er eigentlich damit zu bezwecken? „Hör auf damit.“

Das ignorierte er und sprach einfach weiter, als hätte ich nichts gesagt. „Der einzige Mensch in meinem Leben, der mich jemals Reese genannt hat, war meine Mutter.“

Das konnte ich doch nicht riechen. Er hätte mir einfach nur sagen müssen, dass … Moment, war? Hieß das etwa ... „Oh, das tut mir leid, das wusste ich nicht.“ Aber dafür wusste ich genau, wie er sich fühlte. Diese Leere, der Schmerz. Vielleicht war da ja der Grund für seine unnahbare Art.

„Hä?“, machte er nicht sehr intelligent.

„Naja, das mit deiner Mutter“, sagte ich leise und konnte nichts gegen den mitleidigen Ausdruck in meinem Gesicht tun. Ich wusste einfach wie sich das anfühlte plötzlich dazustehen und das ganze Leben in einem Scherbenhaufen vor sich zu sehen. „Das sie tot ist“, fügte ich noch hinzu, als meine Worte in seinen Ohren wohl keinen Sinn zu ergeben schienen.

„Ich hab nicht gesagt, dass sie tot ist, auch wenn ihr Ableben mein Leben um vieles leichter machen würde.“

Diese Worte kamen so kalt aus seinem Mund, dass ich für einen Moment sprachlos war. „Wie kannst du sowas sagen?“, fragte ich ungläubig. „Sie ist deine Mutter, die Frau die dich geboren hat und du solltest sie lieben und sie respektieren und nicht so herablassend von ihr sprechen.“

Reese sah mich so finster an, als wünschte er, ich würde bei seinem Blick einfach tot umfallen. „Halt besser die Klappe, wenn du nicht weißt worum es geht.“

Oh, ich wusste sehr wohl, worum es ging. Er war ein eiskalter, dreckiger Mistkerl, der nicht wusste was er hatte. Warum durfte jemand wie er seine Mutter behalten, während meine mich so früh verlassen musste? Das war nicht nur unfair, das war echt das Letzte. Einmal mehr wurde mir aufgezeigt, dass das Schicksal ein gemeines Aas war und die Falschen für das Falsche bestrafte.

„Was wolltest du?“

„Was?“

Genervt entließ er den Rauch aus seinen Lungen. „Du hast mich eben angequatscht und wolltest mir etwas ganz Wichtiges mitteilen. So zumindest hast du ausgesehen. Jetzt musst du dich nur noch daran erinnern, was es war und es mir erzählen. Kriegst du das hin, oder musst du dafür erst ein neues Lehrfach auf der Akademie belegen?“

Gott, mit jeder weiteren Minute in der Gegenwart dieses Kerls, stieg das Gefühl der Aggression weiter in mir an. War es wirklich so schwer für ihn, einmal nicht herablassend und zynisch zu sein? „Unser Proles war auf der Jagd gewesen. Seine Hinterlassenschaften sind ziemlich blutig“, sagte ich kalt und marschierte an ihm vorbei. Jetzt würden wir den Spieß einmal umdrehen. Wenn er mehr wissen wollte, dann müsste er mir folgen. Und wenn er das nicht tat, dann würde ich … ja, das war eine ausgezeichnete Frage, über die ich mir noch nähere Gedanken machen sollte.

Zwei Schritte, weiter kam ich nicht. Dann packte er mich am Arm und hielt mich fest. „Willst du mich verarschen? Warum sagst du mir sowas nicht gleich?“

Jetzt hatte ich endlich mal die Gelegenheit für einen herablassenden Blick. „Hm, lass uns mal nachdenken. Vielleicht lag es ja daran, dass du mich erst wie Luft behandelt hast und ich dann nicht zu Wort kommen durfte.“

Darauf ging er gar nicht erst ein, wahrscheinlich weil er sich sonst seinen eigenen Fehler eingestehen müsste und das konnte Mister Perfekt natürlich nicht. „Zeig mir einfach, was du gefunden hast.“

„Ein Bitte tut nicht weh“, konnte ich mir einfach nicht verkneifen. Nicht mal sein finsterer Blick veranlasste mich dazu, meine Worte zu bereuen. Ich drehte meinen Arm einfach aus seinem Griff und übernahm die Führung. Und, oh ja, es fühlte sich fantastisch an, dass er zur Abwechslung mal auf mich angewiesen war und hinter mir herdackeln musste. Nicht, dass er es nicht auch ohne mich gefunden hätte, aber in diesem Moment konnte ich es einfach mal genießen.

Als erstes zeigte ich ihm die Blutflecke vor der Haustür und lief mit ihm dann die Spur bis zum Zwinger ab. Das Blutbad dort entlockte ihm nicht die kleinste Regung. Ungerührt und präzise untersuchte er jeden Quadratmeter. Als Venator hatte er wohl einfach schon zu viel gesehen, als dass ihn das noch berühren konnte. Mir allerdings warf er ein paar Mal abschätzende Blicke zu, so als wollte er prüfen, ob mein Magen diese Angelegenheit verkraftete.

Für mich war das kein Problem. Auch für sowas wurden wir in der Akademie geschult. Die Beluosus besaß sogar eine eigene Leichenhalle, in der wir nicht nur mit der Anatomie von Proles vertraut gemacht wurden, sondern auch mit Opfern von Proles-Attacken, um darauf vorbereitet zu sein, was uns auf der Jagd alles begegnen konnte. Nicht alle hatten diese Anblicke verkraftet. Mehr als einmal hatte jemand sein Frühstück oder wahlweise auch sein Mittagessen auf dem Fliesenboden verteilt und auch mir war die ersten Male ziemlich schlecht geworden. Aber man gewöhnte sich an alles und hätte ich es da nicht irgendwann verkraftet, wäre ich wohl heute nicht hier. Der Trick war einfach durch den Mund zu atmen, wenn es wirklich schlimm wurde.

„Ist was?“, fragte ich, als sein Blick wieder zu mir glitt.

„Du hast hier doch nichts verändert, oder?“ Nicht nur dass er seine Worte sehr anklagend klingen ließ, er ging auch gar nicht auf meine Frage ein.

„Natürlich nicht, ich bin doch kein Anfänger mehr.“

Bei seinem Schnauben hätte ich am liebsten einmal ausprobiert, wie gut mein Taser bei ihm funktionierte und ob er immer noch so einen herablassenden Blick drauf hätte, wenn er, alle Viere von sich gestreckt, auf dem Boden rumzuckte.

„Aber ich habe das hier gefunden.“ Ich zog die grüne Kralle aus meiner Hosentasche und reichte sie ihm, ohne auf seinen vorwurfsvollen Ausdruck zu achten, der mir sagte, dass ich mit dem Entfernen der Kralle sehr wohl etwas verändert hatte. Doch als er die Kralle in seinen Fingern drehte, wich der Vorwurf einem Stirnrunzeln – lange, schwielige Finger, wie mir auffiel.

„Ein Ossa hat keine grünen Krallen“, sagte ich, um von meinem seltsamen Gedanken wegzukommen. Was interessierte es mich, wie seine Finger aussahen?

„Nein, aber für einen Spuma ist sie zu lang.“

Einen Moment war ich so erstaunt darüber, dass er etwas zu mir sagte, ohne mich damit zu beleidigen, dass ich fast meinen Einsatz für eine Erwiderung verpasste. „Vielleicht eine leichte Mutation der Art?“

Er sah mich an, als fiele ihm jetzt erst ein, mit wem er sich da unterhielt. „Gibt es eigentlich einen bestimmten Grund, warum du hier drinnen stehst und Spuren verwischst, oder bist du einfach nur zu dumm um zu merken, dass du mir damit die Arbeit erschwerst?“

Na bitte, zurück zu alter Frische.

Ich trat aus dem Zwinger, weg von der Blutspur und sah ihm dabei zu, wie er die Kralle gegen eine kleine Kamera aus seiner Manteltasche austauschte. Ein Blitz, noch ein Blitz. Nur grob fotografierte er den Tatort und hielt dieses Szenario damit für die Nachwelt fest.

„Ich kann auch helfen“, bot ich an.

Er schnaubte. „Ja, ich weiß. Erst fängst du vor einem Kunden an mit mir zu diskutieren, über etwas das selbst kleine Kinder wissen, dann bringst du einen Nachbarn so sehr gegen dich auf, dass er mit einer Flinte auf dich losgehen will und ich dich vor ihm retten muss – wobei mir immer noch schleierhaft ist, wie du das geschafft hast – und dann entfernst du auch noch Beweise vom Tatort. Also ja, du hast recht, du bist echt eine große Hilfe. Was habe ich vorher nur ohne dich getan?“

Also dieser … ahrrr! „Bitte, dann eben nicht.“ Ich ließ mich an Ort und Stelle ins Gras fallen und rupfte wütend ein paar Grashalme aus. Ich kannte wirklich keinen Menschen, der so abweisend und ignorant war. Vielleicht war er als Kind ja mal auf den Kopf gefallen und nun tickte er da oben nicht mehr ganz richtig. Wie sonst sollte seine herablassende Art zu verstehen sein? Oder er war einfach nur ein Idiot, wie man sie überall finden konnte.

„Die Hausbesitzer werden begeistert sein, wenn sie wiederkommen und ihr halber Rasen auseinander gepflückt ist.“ Er ließ die Kamera wieder in seinem Mantel verschwinden und holte stattdessen sein Handy hervor.

„Ich denke dass ihnen der Rasen ziemlich egal ist, wenn sie erfahren, dass ihr Hund von einem Proles gefressen wurde. Nicht jeder Mensch ist so kalt und herzlos wie du!“

„Dieses kalt und herzlos habe ich mir schwer erarbeitet.“ Er wählte eine Nummer aus und hielt sich das Handy ans Ohr. „Und jetzt würde ich gerne in Ruhe mit der Polizei sprechen, also wäre es zur Abwechslung mal ganz nett, wenn du einfach die Klappe halten würdest.“

Das war doch … da fiel mir glatt die Kinnlade runter. Zur Abwechslung mal? Ich hatte meine Worte schon die ganze Zeit auf ein Minimum reduziert! Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich viel mehr gefragt, mich mit ihm ausgetauscht. Schließlich war ich hier um etwas zu lernen!

Grummelnd erhob ich mich auf die Beine und verließ den Garten. Ich war kurz davor auszurasten und da das unserer Beziehung sicher nicht förderlich wäre, war es an der Zeit sich ein bisschen zu beruhigen. Nur war das in seiner Gegenwart gar nicht möglich. Irgendwann würde ich heute noch explodieren.

Nein wirst du nicht. Du wirst dich zusammenreißen und das durchstehen. Sobald er gemerkt hat, dass er dich nicht loswird und du auf seine Provokationen nicht eingehst, wird er seine gehässige Art sein lassen.

Hoffentlich.

Missmutig trat ich auf den Bürgersteig und lehnte ich mich draußen an den weißen Gartenzaun. Mein Blick war auf meine Füße gerichtet, auch wenn ich sie nicht wirklich ansah. Jilin hatte mich ja gewarnt und mir gesagt, dass es mit ihm nicht ganz leicht werden würde. Ich musste nur ein wenig geduldig sein und ihm die Zeit lassen, sich an mich zu gewöhnen, alles andere würde sich dann finden. Und bis es so weit war, müsste ich mich eben einfach ein wenig zusammenreißen, egal was für Spitzen er auf mich abschoss. Das konnte ich. Ich schaffte alles was ich wollte und jetzt würde ich damit nicht aufhören, nur weil dieser Kerl scheinbar zu keinen zwischenmenschlichen Beziehungen fähig war.

Als ich Schritte hinter mir wahrnahm, sah ich auf.

Reese kam mit einer Zigarette im Mund den Weg hinunter und wie immer tat er so, als wäre ich nicht existent.

Ob er dem irgendwann mal leid sein würde? Bis es soweit war, würde ich mich auf jeden Fall nicht abhängen lassen. Daher stieß ich mich am Zaun ab und gesellte mich an seine Seite. „Und, was hat die Polizei gesagt?“

„Das übliche.“

Tolle Antwort. „Und was ist das Übliche?“

„Willst du mir jetzt mit deiner Fragerei die ganze Zeit auf den Keks gehen, oder kannst du auch mal die Klappe halten?“ Er nahm einen tiefen Zug. „Mann, bei dem Geplapper hört man ja seine eigenen Gedanken kaum noch.“

Okay, ruhig bleiben, nur nicht provozieren lassen. „Was machen wir jetzt?“

Er sah mich an, als könnte er es nicht glauben, dass ich so hartnäckig war. Er kannte mich eben noch nicht. „Ich weiß ja nicht was du machst, aber ich werde mir jetzt etwas zu essen besorgen.“

„Essen? Jetzt?“ War das sein Ernst? Mitten in der Arbeitszeit? „Aber wir sollen doch …“

„Hör zu.“ Er blieb stehen und drehte sich mir zu. „Ich hab Hunger und da ich auf leeren Magen nicht gerne hinter Proles hinterher jage, werde ich jetzt etwas dagegen tun. Du kannst gerne weiter suchen. Und wenn du dabei drauf gehst, dann bin ich dich wenigstens los.“

Es gab einen schmalen Grat zwischen gemeinen Spitzen und grausamer Abartigkeit und er hatte ihn gerade überschritten. Ich verkniff es mir, ihm das zu sagen, es wäre ihm sowieso egal. Das wäre nichts als verschwendete Liebesmüh. Daher blieb ich den restlichen Weg zum Wagen still, während er in Ruhe seine Zigarette aufqualmte und den Geländewagen per Fernbedienung öffnete.

Wieder in den verdreckten Wagen zu klettern, war nicht unbedingt angenehm, aber ich wollte auch nicht zurückgelassen werden. Wer konnte schon wissen, ob nicht wieder der Kerl mit der Flinte auftauchte?

Reese wartete nicht darauf, dass ich es bequem hatte, oder angeschnallt war, oder meine sämtlichen Gliedmaßen im Wagen hatte, sondern startete den Motor einfach, sobald er saß.

Ich drückte die Lippen fest aufeinander und verbot mir dazu einen Kommentar abzugeben – war nicht wirklich leicht. Und als er bei der Fahrt sein Handy rausholte, um in der Gilde Bescheid zu sagen, dass wir noch lebten, musste ich mir fast die Zunge abbeißen. Hätte er das nicht machen können, bevor er ins Auto gestiegen war? Eine Zigarette weniger und er hätte die Zeit dafür gehabt.

Ich drehte mich zum Fenster und betrachtete die Häuser, die an dem Wagen vorbeizogen. Wenn ich ihn nicht sah, kam ich nicht in Versuchung meinen Mund aufzumachen.

Die Fahrt dauerte nicht lange und endete zu meiner Verwunderung nicht an einem Fast-Food-Restaurant, oder einer Imbissbude, sondern an einer Billigtankstelle, die ihre besten Zeiten wohl schon ein Weilchen hinter sich hatte. Die Farbe am Schild war so abgeblättert, dass der Name nicht mal mehr im Ansatz zu lesen war. Was machte eine so schäbige Tankstelle in einer so noblen Gegend? Sachen gab es.

Kommentarlos parkte Reese den Wagen an einer Zapfsäule, stieg aus und betankte den Wagen. Okay, wenn wir Benzin brauchten, dann war es natürlich ganz logisch, an einer Tankstelle zu halten und nicht an einem Schnellimbiss. Damit war ein Rätsel gelöst und das ganz ohne dass ich meinen Meister mit einer Frage belästigen musste. Und wie ich da so in dem ganzen Dreck saß und darauf wartete, dass wir weiterfahren konnten, kam mir plötzlich eine Idee. Genaugenommen kam mir die Idee, als ich versuchte die Donutschachtel von meinem Bein wegzuschieben, weil sich die Ecke davon unangenehm in meine Wade bohrte und ich dabei aus Versehen in etwas griff, dass mal Soße von irgendetwas gewesen sein könnte – vielleicht.

„Igitt, igitt, igitt, igitt, igitt, igitt!“, fluchte ich vor mich hin und nahm ein Taschentuch aus meiner Jacke. Das war wirklich so widerlich. Fand er es denn nicht selbst eklig, in sowas rumzufahren? Da musste man doch Angst haben, dass irgendwann etwas herausgekrochen kam. Vielleicht wartete Reese aber auch einfach darauf, dass das ganze Zeug irgendwann nur so von Mikroben, Bakterien und Schimmelpilz wimmelte, dass es einfach selber davonlief. Aber ich wollte nicht darauf warten und da ich hier die nächsten Wochen vermutlich öfter sitzen müsste, sollte ich das beseitigen, bevor ich Ekelpickel bekam.

Zum Glück ragte zwischen dem ganzen Müll auch die Ecke einer alten Einkaufstüte heraus. Ich zupfte sie mit spitzen Fingern nach draußen und begann damit, den ganzen Müll hineinzuräumen. Leider war das so viel, dass es mit einer vollen Tüte nicht getan war. Seufzend stieg ich aus, entleerte den Inhalt der Tüte in den Müllcontainer an der Seite und lief wieder zurück, um die nächste Ladung zu holen. Ich hoffte nur, dass das kein Ärger mit dem Tankstellenwart geben würde, denn ich glaubte nicht, dass man hier einfach so seinen Müll entsorgen durfte.

Reese beobachtete mich dabei, sagte aber nichts. Wäre ja auch noch schöner. Ich räumte hier schließlich seinen Müll auf. Völlig entspannt betankte er seinen Wagen und verschwand dann in den Shop, um zu bezahlen.

Ich dagegen war bereits dabei die Tüte ein drittes und letztes Mal zu befüllen. Sogar die Mittelkonsole säuberte ich. Was ich da alles reinpackte, wollte ich gar nicht so genau wissen. Manches davon stank fürchterlich und ich konnte nur hoffen, dass ich mich jetzt nicht gerade mit einer unheilbaren Krankheit ansteckte, die mich langsam von innen heraus auffraß. Das würde mir meine Zukunftspläne ganz schön vermiesen. Vielleicht hatten die in dem Shop ja ein Desinfektionsmittel, in dem ich baden könnte. Okay, eins für die Hände würde mir zum Anfang ja auch schon mal reichen. Und vielleicht ein Reinigungsmittel, womit ich das Armaturenbrett abwischen konnte. Da waren auch Flecken drauf, deren Herkunft ich nur noch mit sehr viel Glück erahnen könnte.

Gerade als ich meinen Kopf hob, um die letzten Sachen wegzubringen, fiel mein Blick auf den Fahrersitz. Dort lag der Notizblock, den Reese bei dem Flintenheini benutzt hatte. Ich wusste noch genau, wie er den ganzen Unsinn aufgeschrieben hatte, den der Kerl von sich gegeben hatte. Er musste ihm beim Aussteigen aus der Tasche gefallen sein.

Ich wusste, dass ich es nicht tun sollte, es gehörte sich einfach nicht, aber meine Neugierde war einfach zu groß. Ich konnte einfach nicht glauben, dass er das alles aufgeschrieben hatte. Vielleicht hatte er die ganze Zeit einfach nur kleine, perverse Bildchen gemalt. Das würde ich ihm glatt zutrauen.

Mit einem Blick zum Shop versicherte ich mich, dass Reese noch im Laden war, dann lag der Notizblock plötzlich in meiner Hand und ich blätterte schnell bis zu den letzten beschriebenen Seiten. Was mich erwartete, waren keine Bilder von künstlerischer Ader, sondern Wörter. Er hatte tatsächlich etwas geschrieben. Sollte sich dringend die Brust rasieren, las ich. Und auch, ein Pfefferminz wäre nicht schlecht. Hat eine blühende Fantasie, sollte sich in Hollywood bewerben. Hat er überhaupt Patronen in seiner Flinte? Das ließ mich schmunzeln, aber was mich fast laut auflachen ließ, war der letzte Satz auf der Seite. Die Boxershorts gefallen mir. Dahinter hatte er sogar ein Smiley gemalt.

Na sieh mal einer an. Mister Überheblich hatte eine humorvolle Ader. Wer hätte das gedacht?

Kurz war ich versucht, auch noch seine anderen Notizen durchzugehen, aber ich hatte Angst, dass er mich vielleicht erwischte, also legte ich den kleinen Block in das Fach hinter dem Lenkrad, brachte die letzte Tüte weg und leerte sogar noch den vollen Aschenbecher. Dann trat ich in den kleinen Laden.

Reese stand an der Kasse und bezahlte bei einem sehr gelangweilten Angestellten, der sich dringend mal die Haare waschen sollte. Hoffentlich ließ er mich hier nicht einfach zurück. Der Gedanke beflügelte mich, die Regale etwas schneller abzulaufen. Putzmittel fand ich, aber leider kein Desinfektionsmittel. Deswegen entschied ich mich einfach nur für ein Päckchen Feuchttücher. Die würden es auch machen.

Als ich hinter dem Regal wieder aufblickte, war Reese schon weg, aber zum Glück stand sein Wagen noch draußen. Da es wahrscheinlich nicht allzu angebracht wäre, ihn ewig und drei Tage warten zu lassen, beeilte ich mich an der Kasse, legte sogar noch meinen Lieblingsschokoriegel für später obendrauf und war dann auch schon wieder draußen. Doch im Wagen sollte mich eine böse Überraschung erwarten.

Reese saß völlig entspannt auf seinem Platz und aß ein Fertigsandwich aus dem Kühlregal. Das dritte wie ich sehr leicht feststellen könnte, denn die Plastikverpackungen davon lagen alle bei mir im Fußraum. Und nicht nur die. Er hatte irgendwo auch noch Süßigkeitenpapier und alte Notizzettel auftreiben können, die auch noch mit reingeworfen hatte, um das Ganze zu einer bunten Mischung zu machen.

Bei dem Anblick drückte ich die Lippen fest zusammen. Es war ja nicht so, dass ich Dankbarkeit erwartet hätte, aber das grenzte doch schon an Mobbing.

„Ist was?“, fragte er äußerst herablassend.

Ich verbot es mir ihn anzuschnauzen, gab nur ein kleines „Nein“ von mir und machte mich von neuem daran den Müll aus dem Fußraum zu sammeln. Wenigstens war der nicht so eklig wie der alte. Die Feuchttücher halfen mir nicht nur meine Hände zu säubern, sondern auch das Armaturenbrett, aber als er dann ganz provokant einer weitere Plastikverpackung von seinen Sandwiches in den Fußraum warf, hätte ich ihm fast die Feuchttücher ins Gesicht geklatscht.

Ganz ruhig. Er will doch nur dass du ausflippst und alles hinschmeißt. Lass dich von ihm nicht provozieren.

Ich schloss einen Moment die Augen und atmete tief durch. Dann hob ich die Sandwichverpackung zu dem anderen Müll auf meinen Sitz und machte mich wieder daran den Aschenbecher auszuwischen.

„Hast du einen Sauberkeitsfimmel, oder sowas?“, fragte er mich und biss ein weiteres Stück von seinem Brot ab.

„Nein, ich sitze nur einfach nicht gerne im Dreck.“ Ich raffte den ganzen Müll zusammen und machte mich ein weiteres Mal auf dem Weg zu dem Container. Als ich alles in die Tonne stopfte, fiel einer der Zettel raus und als ich ihn aufhob, merkte ich, dass es das letzte Blatt aus seinem Notizblock war. Die Boxershorts gefallen mir. Er musste es zusammen mit den anderen ausgerissen haben, um etwas in den Fußraum werfen zu können. Wie kindisch war das denn bitte?

Grummelnd wollte ich den Zettel zu dem anderen Müll werfen, überlegte es mir auf halbem Wege aber anders und steckte ihn stattdessen in die Tasche meiner Jeans. Warum genau ich das tat, wusste ich nicht. Vielleicht nur, um mich daran zu erinnern, dass er auch eine andere Seite hatte. Oder auch als Andenken an meinen ersten Tag als Praktikantin.

Als ich erneut zum Wagen zurückkehrte, rechnete ich halb damit, wieder etwas im Fußraum zu finden, doch zu meinem Erstaunen war er dieses Mal leer. Da ich nicht so dumm war, wie der Idiot ständig andeutete, beließ ich diese Sache kommentarlos und stieg einfach in den Wagen, wo er sich mal wieder eine Kippe ansteckte.

„Wir sind hier auf einer Tankstelle, da ist Rauchen verboten.“

„Zum Glück habe ich jetzt dich, die solche Weisheiten mit mir teilt, sonst würde ich es im Leben wohl niemals zu etwas bringen.“ Er startete den Motor und lenkte ihn von der Tankstelle in den ruhigen Straßenverkehr.

Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es bereits kurz vor zwei war. Wo war nur die Zeit geblieben? Wir hatten fast eine halbe Stunde auf der Tankstelle verbracht.

Als Reese sich vorbeugte, um das Radio einzuschalten, wehte mir der Qualm seiner stinkenden Zigarette so sehr entgegen, dass ich davon husten musste.

„Man, wenn du das schon machen musst, kannst du dann wenigstens das Fenster öffnen, damit ich hier drinnen nicht ersticke?“

„Wenn dich etwas stört, fahre ich gerne an den Straßenrand, damit du aussteigen kannst.“ Er stelle leise einen Sender ein und wechselte dann ziemlich waghalsig die Spur. Dabei schnitt dabei sogar einen anderen Wagen, der sich mit lauten Hupen dafür bei ihm bedankte. „Ist gar kein Problem, wirklich nicht. Ein einziges Wort von dir genügt mir schon.“

Von wegen. „Viel intelligenter wäre es, wenn du das Rauchen einfach aufgibst.“

Er hob sehr spöttisch eine Augenbraue. „Warum sollte ich das tun? Nur weil es dich stört?“

„Nein, nicht weil es mich stört, sondern weil Rauchen einfach eklig ist. Es stinkt, ist ungesund und man hat einen üblen Atem. Außerdem bekommt man davon Lungenkrebs und stirbt.“

Er sah mich an, nahm einen weiteren Zug und blies ihn dann genau in meiner Richtung – mal wieder. „Ist ja herzallerliebst, dass du dir um meine Gesundheit Sorgen machst, aber das ist völlig unnötig. Falls es dir entgangen sein sollte, ich bin Venator. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich beim Angriff eines Proles krepiere, ist tausend Mal höher, als die, dass mich der Lungenkrebs irgendwann dahinraffen wird.“

„Als Venator sollte es eigentlich verboten sein zu rauchen, denn das schlägt auf die Kondition“, schoss ich mein nächstes Argument ab.

„Genauso sollte es verboten werden, dass Frauen in diesem Job erlaubt sind, doch das lässt sich leider nicht mit der gesellschaftlichen Moral vereinbaren.“

Jetzt fing das schon wieder an. Langsam glaubte ich wirklich, er hatte etwas gegen Frauen im allgemeinen. Vielleicht hatte das ja etwas mit seiner Mutter zu tun, die mochte er ja offensichtlich auch nicht. So eine Art Mutterkomplex. Oder Anti-Mutterkomplex. Gab es sowas überhaupt?

Als Reese mit etwas zu viel Gas um die Ecke bretterte, runzelte ich die Stirn. „Ich dachte wir wollten etwas essen gehen.“

Er drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus. „Ich habe doch gerade gegessen.“

Aber ich nicht, hätte ich fast gesagt, konnte es mir aber gerade noch so verkneifen. Das machte er doch mit voller Absicht. Natürlich tat er das. Und mir blieb nur der schwache Trost, dass er dieses Verhalten sicher nicht drei Monate beibehalten könnte. Das zumindest hoffte ich. Ansonsten würde ich ihn irgendwann erwürgen müssen.

Ich kniff einfach die Lippen fest zusammen, und schwieg. Würde ich etwas sagen, würde er sowieso nur wieder anbieten, mich aus dem Wagen zu werfen. Wenigstens hatte ich mir noch einen Schokoriegel gegönnt. Dann müsste der eben bis heute Abend reichen.

Verärgert zog ich ihn aus meiner Jackentasche, entfernte die Verpackung – die ich demonstrativ zurück in meine Jacke steckte – und biss in den Riegel. Mit Schokolade sah die Welt doch gleich viel besser aus.

Wir fuhren langsam in die bessere Gegend der Stadt ein, zurück in die Straße von Herr Miehe, als ich seinen Blick wieder auf mir spürte.

„Was ist eigentlich mit deinem Gesicht passiert?“, fragte er. „Hast du versucht einen Fleischwolf zu knutschen?“

Gott, war es für den Kerl wirklich so unerträglich, mich neben ihm zu wissen, dass er es nicht einfach mal gut sein lassen konnte? Ich biss ein weiteres Mal in meinen Riegel, schluckte meine aufkommende Wut mit dem Stück Schokolade runter und ignorierte ihn einfach.

„Oder bist du unter einen Rasenmäher gekommen?“, stichelte er weiter.

„Nein“, presste ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, die Augen starr aus dem Fenster gerichtet. „Das ist das Ergebnis meiner ersten Begegnung mit einem Proles. Ein Iuba. Er hat mir mit der Kralle das Gesicht aufgeschnitten.“ Ich konnte gerade noch so widerstehen, mit der Zunge nach der langen Narbe zu tasten und steckte stattdessen lieber den Rest von meinem Riegel in den Mund.

„Ja“, sagte er, „weil du ein kleines Mädchen bist und einem ausgewachsenen Proles nichts entgegenzusetzen hast. Obwohl, wenn du Glück hast, lachen sie sich bei deinem Anblick einfach tot und du musst anschließend nur noch die Kadaver aufsammeln.“

Nein, du lässt dich jetzt nicht von ihm provozieren. Als ich versuchte, das Stück Schokolade in meinen Magen zu würgen, hatte ich das Gefühl, gleich an etwas zu ersticken. Wahrscheinlich an meiner unterdrückten Wut. „Ich bin ein ernstzunehmender Gegner.“

„Ach komm schon, Shanks, du musst doch selber einsehen, dass …“

„Mein Name ist Grace“, unterbrach ich ihn. „Grace, nichts Shanks.“ Wenn er es toll fand, dass die Leute ihn mit seinem Nachnamen anquatschen, bitte, aber er brauchte nicht glauben, dass ich auf die gleiche Nummer stand.

„Ich kann dich auch Popeltruller nennen, wenn mir der Sinn danach steht“, erwiderte er und lenkte den Wagen nach rechts, zurück zu unserem Ausgangspunkt. „Aber worauf ich eigentlich hinaus wollte, du kannst die Beste in deiner Akademie sein, meinetwegen auch die Beste der ganzen Welt. Du kannst dir so viel Schulwissen aneignen, wie du willst, du wirst einem Mann in diesem Beruf immer unterlegen sein. Einfach weil du als Frau körperlich nicht dafür ausgelegt bist, dich auf die Jagd nach Monstern zu machen. Also sieh es endlich ein, du bist als Venator absolut ungeeignet.“

„Ich bin besser als alle Kerle aus meiner Klasse“, knurrte ich ihn an. Ich musste dringend aus diesem Wagen raus, sonst würde ich ihn gleich anschreien.

„Ja, vielleicht jetzt noch, wo ihr euch hauptsächlich mit dem theoretischen Teil der Proles-Jagd herumschlagen müsst. Aber was ist in drei Jahren, wenn die Jungs auf der Straße waren und die Kämpfe bestanden haben? Glaubst du wirklich, dass du dann noch mit ihnen mithalten kannst?“

„Ja, das glaube ich.“ Das glaubte ich nicht nur, dass wusste ich sogar. Ich war nicht nur gut in dem was ich tat, ich war ausgezeichnet.

Er schüttelte wie über ein trotziges kleines Kind den Kopf, als er nach einem Parkplatz Ausschau hielt. „Sei doch einfach mal ehrlich zu dir selber. Was glaubst du warum Jilin heute am Schreibtisch sitzt, oder warum Madeleine nach der Sache mit dem Krant nicht mehr auf die Straße geht, oder warum Maggy jetzt …“ Er verstummte einen Augenblick und atmete tief ein. „Sie waren auch alle sehr gut, aber irgendwann kam halt der Zeitpunkt, an dem sie einsehen mussten, dass es einfach nicht mehr geht.“ Ein paar Meter weiter entdeckte er eine Lücke, die er für sich beanspruchte. „Und irgendwann wirst du auch an diesen Punkt gelangen und da kannst du dich kopfstellen. Also tu uns beiden einen Gefallen und verzieh dich gleich, damit ich meine Arbeit in Ruhe nachgehen kann.“

„Das werde ich nicht.“ Und da konnte er sich kopfstellen.

„Ach nein?“ Er stellte den Motor ab und lehnte sich zurück, um mich mit diesen dunklen Augen direkt anzusehen. „Und da willst du mir sagen, dass du nicht dumm bist? Du willst auf einem Kurs bleiben, der keine Zukunft für dich hat?“ Er gab ein abfälliges Schnauben von sich.

„Ich kann das genauso gut, wie ihr Männer“, beharrte ich auf meiner Einstellung.

„Ja, nee, ist klar. Wir alle irren uns und du bist die Allerbeste und du wirst es uns allen schon zeigen. Gott weiß, wie viele Frauen ich habe kommen und gehen sehen, die gestorben sind, weil … ach mach doch was du willst, ist mir doch egal. Wenn du unbedingt krepieren willst, dann tu es doch. Aber tu es nicht in meiner Gegenwart, dann nämlich werde ich echt sauer.“

Das war einfach zu viel. Ich stieß die Wagentür auf und stieg eilig aus. Ich verkraftete viel und ließ mir noch mehr gefallen, aber mit diesem blöden Spruch hatte er eine Grenze überschritten. Über den Tod machte man keine blöden Sprüche, das ging einfach zu weit und wenn ich jetzt nicht auf Abstand ging, würde ich meine Fassung verlieren.

Ohne den Blick zurückzuwerfen, marschierte ich die Straße hinunter. Ich würde es ihm schon zeigen. Ich würde diesen Proles finden und wenn ich dabei drauf ging. Irgendwo hier musste er ja sein und wenn er mir nicht helfen wollte, dann würde ich es eben allein machen. Ich brauchte ihn nicht, um Venator zu werden. Dafür war ich einfach zu gut.

Es dauerte lange, bis ich mich wieder halbwegs beruhigt hatte und noch länger, bis ich wieder bereit war, mit der Suche fortzufahren. Reese tauchte nicht auf, um sich bei mir zu entschuldigen, weshalb mein Entschluss es ihm zu beweisen, sich nur noch verstärkte.

Bei dem Zwinger begann ich erneut nach neuen Anhaltspunkten zu suchen und hoffte auf etwas, dass er übersehen hatte. Systematisch suchte ich das ganze Grundstück ab. Niemand störte mich bei meiner Arbeit, oder fragte, was ich da zu suchen hatte. Egal, was die Hausbesitzer gerade trieben, es dauerte sehr lange.

Als ich nach gefühlten Stunden wirklich jeden Stein in diesem verflixten Garten untersucht hatte, musste ich mir eingestehen, dass es hier keine weiteren Spuren gab. Und auch das Reese wirklich nicht auftauchen würde, um sich bei mir zu entschuldigen. Warum wunderte mich das noch? Ganz einfach, weil ich eigentlich glaubte, dass in jedem Menschen ein guter Kern steckte, doch da hatte ich mich wohl getäuscht.

Da ich hier nicht fündig wurde, entschied ich mich zu gucken, ob ich der Blutspur folgen konnte. Zwar endete sie eigentlich vorne an der Haustür, aber irgendwo musste der Besitzer des Blutes ja geblieben sein. Dass der Proles ihn an Ort und Stelle gefressen hatte, glaubte ich nicht, dafür waren einfach zu wenige Reste da. Beziehungsweise, überhaupt keine Reste. Kein Fell, keine Knochensplitter und viel zu wenig Blut. Also folgte ich einfach der Richtung in den Nachbargarten. Leider blieb der gewünschte Erfolg hier auch aus. Zum Glück war das nicht der einzige umliegende Garten und nach einer weiteren Stunde, fand ich wirklich etwas. Drei Grundstücke weiter hing ein blutiges Haarbüschel in einem Busch, das zu dem von dem verschollenen Hund passen könnte.

Damit kam ich weiter. Okay, ich hatte den Proles damit noch lange nicht gefunden, aber es zeigte mir, dass ich mich auf der richtigen Fährte befand.

Langsam ließ ich den Blick über den doch recht unordentlichen und von Unkraut überwucherten Garten wandern. Das zweistöckige Haus hier war nicht schäbig im eigentlichen Sinne, aber es könnte dringend einen neuen Anstrich gebrauchen. Die einst blaue Farbe war zu einem schimmligen grün verblasst und das Geländer von der Veranda mit der Hollywoodschaukel könnte auch mal eine neue Holzlackierung vertragen.

Die Garageneinfahrt war leer.

Inmitten des Gartens stand eine Kinderrutsche und an einem Baum war eine Schaukel befestigt, die träge im Wind vor sich hin pendelte. Zwischen wildwuchernden Beeten, ausladenden Büschen und üppigen Rosensträuchern lag Spielzeug verteilt. Hier wohnten Kinder, kleine Kinder, wie ich damals war, als sie über uns herfielen.

Guck mal, Gracy, der lustige Hund. Ich habe ihn Plüsch genannt, weil er so plüschig aussieht.

Ich schüttelte den Kopf, brauchte jetzt klare Gedanken. Die Vergangenheit war geschehen, man konnte sie nicht mehr ändern. Was vor einem lag war die Zukunft und das, was man daraus machte. Und ich machte mich jetzt daran, systematisch die Sträucher in diesem Garten abzusuchen.

Abgestorbene Blätter, verwehte Rosenblüten, Zweige, Krabbelkäfer und sogar einen Regenwurm fand ich, aber keinen weiteren Hinweis auf den Verbleib des gesuchten Proles. Das war schon seltsam. Normalerweise konnten die Biester sich nicht so klammheimlich wieder aus dem Staub machen. Nicht ohne immer mal wieder Zeugnisse ihrer früheren Anwesenheit zurückzulassen.

Dafür fand ich aber heraus, dass die Dornen einer Rose sehr spitz sein konnten und immer in die empfindlichsten Teile des Fingers stachen. Grummelnd steckte ich den Finger in den Mund und ließ dabei wieder mal den Blick durch den Garten wandern. Genau in diesem Moment kam etwas Wind auf und ließ die Büsche aneinander rascheln. Dabei legten die Blätter etwas Kleines, Braunes auf der anderen Seite frei. Da, beim Zugang zum Garten.

Im ersten Moment glaubte ich, es sei eines der vielen Spielzeuge, die hier in dem ganzen Garten verstreut lagen, aber es hatte eine seltsame Form, auf die ich mir kein Reim machen konnte.

Wachsam erhob ich mich aus der Hocke und ging vorsichtig darauf zu. Der Wind war wieder abgeflaut und das kleine, braune Ding nicht mehr zu sehen. Da ich die Büsche auf dieser Seite noch nicht abgesucht hatte, blieb ich vorsichtig, als ich die Äste zur Seite bog. Augenblicklich übermannte mich das Mitleid.

Nein, das war kein blutrünstiger Proles, der sich sofort auf mich stürzen wollte, das hier war eines seiner Opfer. Ich hatte den Hund aus dem Zwinger gefunden. Oder besser das, was davon noch übrig war. Krallen und Zähne hatten seinen Leib fast bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Überall war Blut, Knochen stachen in unmöglichen Winkeln hervor, Organe lagen außerhalb des Körpers und der Boden war aufgewühlt und verklebt vom Blut. Nur der Kopf, der war noch völlig unversehrt. Die Augen geschlossen, konnte man glauben, er schliefe nur, wenn man nichts weiter beachtete. Und ja, das tat er ja auch. Er schlief den ewigen Schlaf und war jetzt an einem Ort, wo er von den Gesetzen der Sterblichen entbunden war. Niemals wieder würde er Schmerz, Hunger, oder auch Freude spüren. Niemals wieder seine Besitzer schwanzwedelnd begrüßen, Bällchen spielen, oder einfach nur mit Herrchen durch die Straßen spazieren. Einfache Dinge, die nur die wenigsten zu schätzen wussten.

Sein Leben hatte hier ein Ende gefunden, wie es grausamer kaum sein konnte.

„Du Armer“, sagte ich leise und hockte mich zu ihm. Wie lange er wohl gebraucht hatte, bis sein Körper ihn aus den Qualen seines Todes erlöst hatte? Ich hoffte, nicht zu lange. Wie es aussah, war der Proles ihm ziemlich schnell an die Kehle gegangen und hatte seinem Leid ein Ende bereitet. „Es tut mir so leid für dich“, flüsterte ich und ließ meine Hand dabei über das verklebte Haar seines Kopfes streichen. Er war schon kalt, also musste er schon eine Weile tot sein. Vielleicht war es schon geschehen, bevor das Biest Herrn Miehe beim Frühstück überrascht hatte. „Dafür wird er bezahlen“, versprach ich dem Hund.

Ja, ich war mir sehr wohl bewusst, dass es sich bei diesem Opfer nur um ein Tier handelte, aber das machte es nicht weniger traurig. Proles waren Wesen wider die Natur und jeder, den sie zerstörten, verdiente Ehrerbietung. Und dieses arme Geschöpf hatte meinen größten Respekt. Er hatte gekämpft und auch wenn er unterlegen war, so hatte er nicht aufgegeben.

Bis zu dem Moment, in dem es kein Zurück mehr gegeben hatte. Die Blutspur vor dem Zwinger zeigte das deutlich.

Ich biss wütend die Zähne aufeinander. Dieses Bild, es erinnerte mich zu sehr an Dinge die ich schon mit eigenen Augen hatte sehen müssen. Louis, der nicht mehr schrie und weinte, mit starrem Blick auf unserem Rasen lag, inmitten von Luftschlagen und Konfetti. Der kleine Körper voller Blut, eine klaffende Wunde im Bauch, eine weitere in der Kehle.

Dieses Bild hatte sich damals so in meinen Kopf gebrannt, dass ich heftig blinzeln musste, als ich es wieder so gestochen scharf vor meinem inneren Auge sah, als wäre es gerade erst geschehen. Er hatte es nie geschafft erwachsen zu werden, ich schon und deswegen war es jetzt auch meine Aufgabe, all die Opfer und ihre Hinterbliebenen zu rächen und niemand würde mich davon abhalten können.

Wenn Doktor Krynick nicht versucht hätte Gott zu spielen, wäre dieses Leben nicht so früh von uns gegangen – keines von ihnen. Aber so war das Leben heutzutage nun mal und uns blieb nichts anderes übrig, als gegen das Schicksal zu kämpfen. Mit allen Mitteln, die uns blieben. Das war auch der Grund, warum ich mich vorbeugte, um die Wunden genauer unter die Lupe zu nehmen. Jeder Hinweis konnte uns helfen, weitere solcher unnützen Taten zu verhindern. Und ich würde verhindern, dass dieser Proles sich noch ein weiteres Opfer suchte – das schwor ich mir.

Vorsichtig, auch wenn ich wusste, dass der Hund nichts mehr spüren konnte, untersuchte ich die Wunde am Hals, als ich plötzlich hastige Schritte hörte. Im ersten Moment schenkte ich ihnen keine Aufmerksamkeit, aber sie kamen näher. Da rannte jemand und zwar genau in meine Richtung.

Neugierig richtete ich mich hinter der Hecke auf, genau in dem Moment, als Reese mit einem Affenzahn an mir vorbeihetzte. Direkt zu seinem Wagen. Und er war verflixt schnell. Sein Mantel wehte nur so hinter ihm her.

Ich runzelte die Stirn, trat auf den Bürgerstein und fragte mich was das jetzt schon wieder zu bedeuten hatte. Leider fand ich die Antwort auf diese Frage viel zu schnell. Ich musste nur meinen Kopf ein wenig drehen und da sah ich ihn. Er sah aus wie ein riesiger grüner Wolf mit Fuchsschwanz und Leopardenflecken. Und er sprang direkt auf mich zu.

Ich reagierte instinktiv, ließ mich einfach fallen. Der Aufprall war hart, Schmerz durchzuckte meinen Rücken, aber der Proles erwischte mich nicht, flog einfach über mich rüber und kam mit kratzenden Krallen auf dem Boden auf. Doch so schnell würde er nicht aufgeben. Er hatte ein neues, leichteres Opfer gefunden und das wollte er sich jetzt schnappen.

Mir blieb kaum genug Zeit, mich zur Seite zu rollen, da sprang es schon wieder knurrend auf mich zu, verfehlte mich nur ganz knapp, doch als ich versuchte meine Waffe aus dem Holster zu ziehen, riss er mich einfach von den Beinen.

Es ging alles so schnell. Der Zusammenstoß, der Aufprall auf dem Boden und dann diese geifernde Schnauze direkt vor meinem Gesicht, die ich nur mit Mühe und Not von mir fernhalten konnte. Nur meinen antrainierten Fähigkeiten verdankte ich es, dass der Schlag auf die Schnauze saß und er den Kopf ein wenig zurückzog, aber an die Waffen in meinem Arbeitsbag kam ich trotzdem nicht.

In dem Moment spürte ich den Schmerz an meiner Hüfte, die Krallen die sich schmerzhaft in meine Haut bohrten und sie aufriss. „Ahhh!“

Dann ertönte der Schuss.

Der Proles zuckte zusammen, wandte sich halb von mir ab, um etwas anzuknurren.

Ich dachte gar nicht darüber nach, was ich tat. Plötzlich lag das gezackte Messer in meiner Hand und ich rammte es einfach in die Seite direkt in sein Herz hinein.

Er jaulte auf, sprang von mir weg, riss sich dabei das Messer selber aus dem Körper, doch die gezackte Klinge gab das Gewebe nicht freiwillig auf. Der Proles riss sich praktisch selber das Herz raus, torkelte noch einen halben Meter weg und brach dann blutend zusammen. Die Augen, in denen der aggressive Wahn dieser Geschöpfe wohnte, auf mich gerichtet, hauchte er seinen letzten Atemzug aus. In seinem Körper hatte er zwei Löcher. Ein kleines Einschussloch in der Flanke und ein großes, tödliches mitten im Herzen.

Schwer atmend lag ich da, das blutige Messer noch immer fest umklammert und brauchte erst mal einen Moment, um mir klar darüber zu werden, was hier eigentlich gerade passiert war, doch dieser Moment blieb mir verwehrt, weil ein stinkwütender Reese auf mich zu stapfte.

„Bist du eigentlich völlig bescheuert?!“, ranzte er mich an. „Wolltest du dich umbringen, oder warum springst du dem Vieh mitten in den Weg?!“

Bitte? „Ich habe es erst gesehen, als es zu spät war!“, brauste ich auf und erhob mich in eine sitzende Position. Jetzt reichte es endgültig. Ich hatte so die Schnauze voll von seinen ständigen und ungerechtfertigten Anmachen. Das hatte ich absolut nicht nötig. „Und hättest du es umgebracht, anstatt wie ein Angsthase davon zu laufen, wäre es gar nicht erst soweit gekommen! Ich dachte du seist hier der Super-Venator und kein feiges Huhn!“

„Ich bin nicht wie ein Angsthase davon gelaufen“, knurrte er mich an und steckte seine Waffe in sein Halfter. Ich erinnerte mich an den Knall. Er musste geschossen haben. „Ich bin zum Auto gelaufen, weil ich die Fangausrüstung holen wollte.“

„Wozu das denn?!“

„Vielleicht um ihn zu fangen?“, fragte er äußerst sarkastisch und hockte sich neben den Kadaver. Er drehte den Proles auf die Seite, sah sich die Messerwunde an.

Ich zog die Beine an, wollte aufstehen, aber da spürte ich den Schmerz an meiner Hüfte und konnte ein Zischen nicht unterdrücken. Sofort richteten sich Reese Augen auf mich.

„Sag mir nicht, dass du dich bei deiner Selbstmordmission auch noch verletzt hast.“

War es für den Kerl wirklich so schwer, ein wenig Mitgefühl für seine Umwelt aufzubringen? „Ist nur ein Kratzer“, sagte ich, weil ich mir die Blöße nicht geben wollte und zog meine Jacke etwas über die Wunde. So würde er das Blut nicht sehen können. Und es war ja auch wirklich nicht schlimm. Eben nur ein Kratzer, wenn auch einer, der ein wenig schmerzhafter war.

Reese kniff die Augen zusammen, als wollte er den Wahrheitsgehalt meiner Worte prüfen. „Und warum bitte hast du dich hinter der Hecke versteckt?“

Vielleicht um mir völlig sinnlose Unterstellungen zu machen. „Ich hab mich nicht versteckt, ich hab den Hund aus dem Zwinger gefunden und wollte gerade die Überreste untersuchen.“

„Wozu?“, fragte er da doch allen Ernstes.

„Ähm … vielleicht um herauszufinden, mit was für einem Proles wir es zu tun haben? So hab ich das auf der Akademie nämlich gelernt.“

Reese schnaubte sehr abfällig und wandte sich wieder dem Kadaver zu, um das gleiche zu tun, was ich mit dem Hund hatte tun wollen: ihn untersuchen. „Zu wissen, mit welchem Proles man es zu tun hat, hilft einem in den seltensten Fällen weiter es auch zu finden, einfach weil diese Biester sich nie an die Regeln halten wollen und sich ständig, entgegen ihrem normalen Verhalten, benehmen.“

Hatte er mir da gerade einen Tipp gegeben? So wie ein Lehrcoach es normalerweise tat? Sollte ich jetzt etwas erwidern, oder doch besser die Klappe halten?

Ich entschied mich dafür, das Schweigen Gold sein konnte und versuchte stattdessen wieder auf die Beine zu kommen. Die Wunde brannte, als der Jeansbund meiner Hose darüber scheuerte, aber ich verkniff es mir, ein Geräusch von mir zu geben und sobald ich stand und der Druck ein wenig nachließ, war es auch schon besser.

Das Messer wischte ich einfach im Gras ab und steckte es dann zurück in seine Hülle an meinem Arbeitsbag. Auf die Tatsache, dass es plötzlich in meiner Hand gelegen hatte, konnte ich mir immer noch keinen Reim machen. Wahrscheinlich hatte ich es ganz instinktiv gezogen.

Ich machte einen Schritt zur Seite, um mir den Proles ansehen zu können. Er hatte Ähnlichkeit mit einem Amph, war aber etwas größer. Und ein Amph war eher gescheckt und nicht gefleckt. Auch die Farbe stimmte nicht. Diese hier ging mehr ins grünliche, wogegen der Amph kobaltblau war. Doch die unverkennbare Zeichnung im Gesicht, der Stern zwischen Ohren, Augen und Schnauze, deutete auf mehr als nur die gleiche Stammgruppe hin. Vielleicht war das ja eine Mutation, eine Weiterentwicklung des Amph. Oder ich war völlig auf dem Holzweg. „Was ist das für ein Vieh? Das kenne ich gar nicht.“

„Ich auch nicht.“ Mit dem Daumen zog er die Lefze des Proles nach oben, um sich sein Gebiss anzusehen. „Was auch der Grund war, dass ich es fangen wollte. Aber dank dir, ist der Versuch ja nun gescheitert.“

Dieses kleine … ahrrr! „Hättest du dich nicht die ganze Zeit wie ein Arschloch aufgeführt, dann wäre es gar nicht erst so weit gekommen. Das hier hast du zu verantworten, also versuch gar nicht erst, die Schuld auf mich zu schieben!“

Er warf mir einen sehr abfälligen Blick zu. „Gott, du nervst, weißt du das eigentlich?“

„Dieses Kompliment kann ich nur zurückgeben.“ Ich drehte mich auf dem Absatz herum und marschierte zurück zum Wagen. Sollte er diese Sauerei doch allein beseitigen.

 

°°°

 

So ein Blödmann, was guckte er da die ganze Zeit an dem dummen Vieh herum? Es war tot und das war das einzige, was zählte. So ein Aufstand wegen eines Proles. Nur ein toter Abkömmling war ein guter Abkömmling, egal ob der Typus bekannt war, oder nicht. Einen Kadaver konnten die Fachleute der Venatoren immer noch untersuchen und dabei liefen sie wenigstens nicht Gefahr, verspeist zu werden. Tote Abkömmlinge hatten bekanntlich noch niemanden gefressen.

Zumindest bis jetzt, aber vielleicht machten sie ja heute mal eine Ausnahme. Würde dem Mistkerl nur recht geschehen.

Und mir dann auch noch vorwerfen, dass ich mich mit Absicht hatte angreifen lassen. Warum sollte ich so einen Schwachsinn tun? Ich warf, zum bestimmt hundertsten Mal in den letzten zwanzig Minuten, einen bösen Blick durch die Windschutzscheibe, aber Reese war mit der Untersuchung des Proles so beschäftigt, dass er es nicht mal wahrnahm. Vielleicht aber ignorierte er mich ja auch mit Absicht.

Blödmann.

In den letzten zwanzig Minuten hatte Reese den Proles von einer Seite auf die andere gedreht, Fotos gemacht und sich bei seiner oberflächlichen Untersuchung auch nicht davon stören lassen, dass die Hausbesitzer mit ihren drei halbwüchsigen Kindern nach Hause gekommen waren.

Das hatte ein Theater gegeben, aber zu meinem Erstaunen hatte er das ziemlich professional gelöst. Zumindest vermutete ich das, weil keiner eine Flinte geholt hatte. Schließlich hatte ich keine Fledermausohren und konnte hier im Wagen nicht hören, was sie da draußen besprachen. Aber bis auf die Tatsache, dass die Mutter der Kinder ihren Nachwuchs eilig an dem Kadaver vorbei ins Haus geschoben hatte und der Vater sich noch kurze Zeit mit meinem Lehrcoach unterhalten hatte, war nichts passiert.

Und jetzt hockte er wieder da auf dem Boden und fummelte bei dem Vieh an dem Bauch rum.

Eigentlich sollte ich da draußen sein und mir zeigen lassen, was er da tat. Ich sollte zuhören, wenn er mit den Leuten sprach und von ihm lernen. Stattdessen saß ich in seinem Wagen und musste mir alles aus der Ferne angucken. Warum nur musste ausgerechnet ich so einen Heini abbekommen? Moment, ich wusste warum, weil ich es so gewollt hatte. Die bessere Frage an dieser Stelle lautete doch, warum musste er so ein Heini sein?

Ich zog mein Shirt mit den blutigen Flecken ein wenig hoch, um das Taschentuch auszuwechseln, dass ich mir auf die Wunde drückte. Es brannte und blutete auch noch ein wenig. Ich konnte nur froh sein, dass dieser Proles von unbekanntem Typus nicht giftig zu sein schien. Wann war das letzte Mal eine so gravierende, neue Mutation gesichtet worden? Das musste Monate her sein.

Ich erinnerte mich noch genau daran. Damals war Herr Keiper mit einem Bericht der Forschungseinrichtung Historia zu uns in den Klassenraum gekommen und hatte uns per Bilder, über einen neuen Proles unterrichtet. Eine weiterentwickelte Form des Krant. Größer, aggressiver, tödlicher. Und in so vielen Punkten anders als sein Vorgänger, dass er als neue Art eingestuft wurde.

Das Ganze war damals in den USA passiert, dort wo alle Proles ursprünglich herkamen. In anderen Ländern kam so etwas eher selten vor und dass ich gleich bei meiner ersten Jagd auf so einen Proles traf, konnte kein gutes Omen sein.

Das dreckige Taschentuch ließ ich in meiner Jackentasche verschwinden. Ich würde es später in einen Mülleimer entsorgen, nicht in den Fußraum eines Autos.

Als ich den Blick dann wieder hob, parkte gerade ein weißer Lieferwagen auf Reese Höhe in zweiter Spur. Dass der Wagen hinter ihm ihn deswegen umfahren musste, störte ihn wohl nicht besonders. Ganz in Ruhe stellte der Fahrer den Motor aus, entstieg seinem Wagen und schlenderte zu Reese hinüber.

Es war der gleiche Mann, den ich schon heute Vormittag mit ihm gesehen hatte. Wie hatte Max ihn noch gleich genannt? Irgendwas mit J, aber ich wusste nicht mehr genau was. Nur an seine Umschreibung erinnerte ich mich noch: Der Kadavermann.

Grusliger Name.

Als Reese den Mann an den toten Proles heranwinkte und ihm etwas an dem Bauch des Proles zeigte, beugte ich mich ein wenig vor. Was gab es da denn die ganze Zeit, nur so interessantes zu sehen?

Ja, ich war neugierig, ich gab es ja zu. Jetzt nachdem der erste Schrecken abgeklungen war, würde ich auch gerne erfahren, was es mit dem Proles auf sich hatte, doch mein Stolz stand mir im Weg. Er konnte lange darauf warten, dass ich bei ihm ankam.

Während das Taschentuch an meiner Wunde antrocknete, konnte ich dabei zusehen, wie die beiden den Kadaver in einen Leichensack steckten und in den Wagen verfrachteten. Auch den Hund in der Hecke vergaßen sie nicht. Natürlich konnte Reese es sich nicht verkneifen, nach getaner Arbeit, wieder einmal zu seiner Zigarettenschachtel zu greifen und sich noch ein wenig mit dem Kadavermann zu unterhalten.

Mittlerweile hatten wir es schon fast fünf und die Sonne stand eindeutig in den Startlöchern zum Untergehen. Wäre ich heute in der Akademie, würde ich mich demnächst auf den Weg nach Hause begeben, aber das hier konnte wohl noch ein Weilchen dauern. Ob es heute noch ein Auftrag für uns geben würde? Ich bezweifelte es. Wir waren schon den ganzen Tag unterwegs und außerdem würde es bald dunkel werden. Keine guten Aussichten für eine Proles-Jagd.

Andererseits fragten die Biester nicht nach der Uhrzeit und fraßen wann immer ihnen der Sinn danach stand. Und in die Gilde müssten wir auch noch, um die Berichte zu schreiben. Trotzdem wäre es mir lieber, wenn wir für heute Feierabend machen könnten. So könnte ich mir ein Pflaster besorgen und mich ein paar Stunden von diesem Tyrannen erholen.

Als hätte Reese diesen Gedanken gehört, richtete sich sein Blick in diesem Moment auf mich. Er nickte zu etwas, dass der Glatzkopf sagte, verabschiedete ihn mit einem Handschlag und tauschte die Zigarette gegen sein Handy aus. Nein, das steckte er sich natürlich nicht in den Mund, er hielt es sich an Ohr, kam so auf den Geländewagen zu und lief einfach daran vorbei.

Ich drehte mich um, um zu sehen, was er nun schon wieder vorhatte. Sein Ziel war der Kofferraum, in dem er geräuschvoll herumkramte und dabei mit der Gilde telefonierte. „Ja, es ist tot, Judd wird es euch bringen. Er ist schon auf dem Weg.“ Etwas polterte. „Ich sag dann Bescheid, wenn ich was gefunden habe … verstanden. Bye.“ Er ließ das Handy wieder in der Manteltasche verschwinden, griff dann einen kleinen, grünen Beutel und kam mit ihm nach vorne zur Beifahrertür. Als er die dann auch noch aufriss und den Beutel aufs Armaturenbrett warf, verengte ich misstrauisch die Augen. Doch die böse Überraschung kam erst mit seinen nächsten Worten.

„Los, ausziehen.“

Ich sah ihn stumm an, blinzelte einmal und versuchte diesen Worten einen Sinn zu geben, denn sie konnten einfach nicht das bedeuten, was sie aussagten.

Er zog ungeduldig eine Augenbraue hoch. „Wird das heute noch was, oder muss ich nachhelfen?“

Okay, vielleicht bedeuteten die Worte doch genau das, was sie ausdrückten. „Warum bitte sollte ich mich ausziehen? Noch dazu mitten auf der Straße, während du dabei zuschaust?“ Dem ging es doch wohl zu gut.

„Weil ich mir deine Wunde ansehen muss“, antwortete er genauso spitz. „Dieser Proles war vielleicht nicht giftig gewesen, aber auch normaler Dreck ist für eine Heilung nicht förderlich und da ich das Blut auch schon aus drei Metern Entfernung gesehen habe, kannst du mir auch nicht erzählen, dass es nur ein Kratzer ist.“

„Ich habe es schon mit einem Taschentuch ausgewischt.“

Dafür bekam ich einen echt finsteren Blick.

Einfach fantastisch. Ich strich meine Jacke zur Seite und zog mein Shirt bis über den Bauchnabel. Dieses Taschentuch war nicht mehr ganz so blutig, wie die ersten drei, aber deutlich röter, als es eigentlich sein sollte.

Als Reese danach greifen wollte, zuckte ich vor seiner Hand zurück, was mir einen mörderischen Blick einbrachte. „Hör zu, ich hab genauso wenig Lust an dir herumzudoktern, wie du, aber wenn die Verletzung dich behindert, dann kann ich dich nicht mit auf die Straße nehmen. Und wie du so schön gesagt hast, eine Zeitlang sitzen wir aufeinander fest. Also lässt du mich jetzt die Wunde sehen, oder willst du die nächsten Stunden im Wagen warten, bis ich zurück bin.“

„Warten? Wo willst du denn hin?“

„Den Bau des Proles suchen.“

Ich runzelte die Stirn. „Warum?“

„Gott, kannst du nicht einfach tun was ich sage, ohne andauernd Fragen zu stellen? Der Proles war ein Weibchen, das ein sehr ausgeprägtes Gesäuge hat. Deswegen müssen wir davon ausgehen, dass es da noch irgendwo Junge gibt und uns nochmal auf die Socken machen, um das Nest zu finden. Weil, Jungtiere werden auch erwachsen und wenn sie erst mal groß sind, ist es wesentlich schwerer sie zu töten. Kapiert?“

War das sein Ernst? Am liebsten hätte ich gestöhnt. Den ganzen Tag war ich schon rumgerannt. Mir taten die Füße weh und eigentlich hätte ich nichts lieber getan, als jetzt nach Hause zu fahren und ein entspannendes Bad zu nehmen.

Reese schien meine Gedanken zu erraten. „Du musst natürlich nicht mitkommen, du kannst auch einfach nach Hause gehen. Ich sag Jilin dann Bescheid, dass du nicht für den Job taugst und wir müssen uns nie wieder sehen.“

Das könnte ihm so passen.

Ich nahm die Hände von dem Taschentuch, lehnte mich ein wenig zur Seite und sah dabei zu, wie er es vorsichtig von den tiefen Kratzern entfernte. Den bis jetzt entstanden Schorf pflückte er dabei gleich mit ab. Ich verkniff mir ein Zischen, als der leichte Schmerz über meine Haut zuckte und neues Blut austrat. Auch verkniff ich es mir, seine Hand wegzuschlagen, als er den Bund meiner Jeans etwas runterzog, um die ganze Wunde zu sehen. Nein, er tat mir nicht weh, ganz im Gegenteil, aber das war der Kerl, der in den letzten Stunden Fußabtreter mit mir gespielt hatte.

„Warum das Gesicht?“, fragte er und griff nach dem Beutel. „Bist du jetzt angeekelt, weil du dich von so einem hässlichen Kerl anfassen lassen musst?“

Bitte? Was lief denn bei dem jetzt wieder falsch? „Nein. Ich finde es nur einfach unangenehm von einem Fremden berührt zu werden, der mich nicht mal leiden kann und seit der Minute unserer Begegnung ständig auf mir rumhackt.“ Ich sah ihn herausfordernd an, doch er blickte nicht mal in meine Richtung, kramte nur ein paar Sachen aus dem Beutel heraus. Desinfektionsmittel, Jod, Salbe, Mullbinde. Das war sein Erste-Hilfe-Kasten. Oder Beutel.

Dass er schwieg, wunderte mich. Ich hatte mit einer spitzen Bemerkung gerechnet, aber da kam nichts. Gar nichts. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Vielleicht war er es ja auch einfach nur leid, dass ich seine Sprüche einfach an mir abprallen ließ.

Der Wattebausch in seiner Hand wurde mit dem Jod getränkt und dann auf meine Wunde gedrückt. Dieses Mal schaffte ich es nicht, das Zischen zu unterdrücken. Das tat saumäßig weh.

„Nun mal nicht so zimperlich“, sagte er und tupfte noch ein bisschen daran herum. „Du hattest Glück, die Krallen scheinen an deinem Hüftknochen abgerutscht zu sein. Das wird schnell heilen.“

„So schnell, dass es heute Abend schon wieder weg ist?“

Er schnaubte und griff nach der Salbe, um einen großen Klecks direkt auf die Wunde zu drücken. „Nur wenn du Superheilkräfte hast.“

„Die wären nicht schlecht“, überlegte ich laut, in den Gedanken daran, dass ich die nächsten Tage aufpassen müsste, dass Wynn die Verletzung nicht sah. Sie würde ausflippen – mal wieder. Es wäre ihr völlig egal, das die drei Striemen nicht lebensbedrohlich waren. Sie waren da und das reichte schon.

Reese legte noch ein breites Mulltuch über die Wunde, das er mit Klebestreifen fixierte und begann dann das ganze Zeug wieder einzusammeln. Dabei fiel mir auf, dass es wohl der erste normale Wortwechsel war, der heute zwischen uns stattgefunden hatte.

Es wird besser, sagte ich mir und konnte ein Lächeln nicht verbergen. Doch es fiel sofort in sich zusammen, als Reese die Reste einfach in den Fußraum warf. „Du kannst es einfach nicht lassen, oder?“

„Was denn?“

Das war nun wirklich keine Antwort wert. Ich bückte mich einfach, um den Müll wieder aufzulesen.

„Man, jetzt vergiss doch mal deinen Putzfimmel oder ich gehe ohne dich.“

Ich zögerte kurz, als er den Wagen bereits umrundete und sich schon wieder am Kofferraum zu schaffen machte. Aber die Sachen wären nachher auch noch da, dann könnte ich sie immer noch wegräumen. Es war schließlich schon mal ein Fortschritt, dass er mich mitnehmen wollte, da sollte ich ihn dann nicht auch noch unnötig warten lassen.

Ich fragte mich, was seine plötzliche Einstellung geändert hatte, als ich zu ihm zum Kofferraum ging und bekam die Antwort in Form von einem schweren Rucksack. Er brauchte einen Packesel. „Dein Ernst?“, fragte ich und wog das Ding in meinen Armen. Es war alt, verschlissen und hatte ein paar Löcher, wie von einem Proles, der mal einen Happen probieren wollte. Und es war saumäßig schwer. „Was hast du denn da alles drin?“

„Die kleine Fangausrüstung und jetzt komm.“ Er selber nahm sich noch eins der Fangnetze, verriegelte dann den Wagen und marschierte, ohne auf mich zu warten, die Straße hinunter.

Das war ja irgendwie klar gewesen. „Warum bitte muss ich die schwere Tasche tragen und du nur das leichte Netz?“, fragte ich, sobald ich neben ihm lief.

Ohne mich anzusehen, zog er eine Zigarette aus der Tasche und steckte sie sich an. Wie viele von den Dingern rauchte er eigentlich am Tag? Das musste doch saumäßig teuer sein – vom Ekelfaktor einmal ganz abgesehen.

„Hallo?“

Er warf mir nur einen Seitenblick zu. „Warst du es nicht gewesen, die mir gesagt hat, ich zitiere: Ich kann das genauso gut wie ihr Männer, Zitat Ende?“

Bei dem Zitat wurde seine Stimmer höher, so, als versuchte er mich nachzuahmen. Und nein, es klang nicht im Geringsten nach mir.

„Glaubst du wirklich, ein Mann würde sein Gepäck an einen anderen weiterreichen, nur weil er etwas Leichteres tragen will?“ Er schnaubte.

„Genau das hast du aber gerade getan“, klärte ich ihn auf.

„Nur um dir eine Lehre zu erteilen. Das tut man doch als Lehrcoach, oder?“

Nein, darauf erwiderte ich nichts. Natürlich könnte ich ihm jetzt vorhalten, dass schwere Gepäck nur bei mir abgeladen zu haben, weil er selber keine Lust hatte es zu tragen, aber das würde nur wieder zu weiteren Diskussionen führen, an deren Ende ich trotzdem noch Packesel spielen durfte. So gut hatte ich ihn heute schon kennengelernt, um das zu wissen.

„Lauf mal ein bisschen schneller, ich will heute irgendwann noch mal nach Hause. Und komm, wir müssen hier lang.“

Seufzend schulterte ich den Rucksack und folgte ihm in eine etwas schmalere Seitenstraße. Hier gab es keine Einfamilienhäuser mit gepflegten Gärten und Herbstbäumen vor der Tür, das hier waren einfache Reihenhäuser, die sich in der Dämmerung des hereinbrechenden Abends dicht an dicht drängten, und kaum Platz für die kleinen Vorgärten hatten. Es war schon fast dunkel und irgendwie missfiel es mir, bei den Lichtverhältnissen Jagd auf Proles zu machen. Es missfiel mir auch, die schwere Tasche tragen zu müssen, oder das Ekelpaket neben mir zu haben, oder auch der Pflastersteinweg. Den konnte ich nicht leiden. „Wo gehen wir eigentlich hin?“ Er wirkte sehr strebsam, alle musste er ein Ziel vor Augen haben.

„In den kleinen Hof, wo ich das Vieh gefunden habe. Er kam zwischen ein paar Kisten hervorgeschossen und wenn mich nicht alles täuscht, müsste da sein Bau gewesen sein.“

Er wusste schon wo sich der Bau befand? Das war ja … Moment. „Heißt das, der Proles hat dich von seinem Bau bis zu dem Wagen verfolgt? Du bist die ganze Strecke in diesem Tempo gelaufen?“

„Kommen eigentlich auch mal gescheite Fragen aus deinem Mund?“ Er zog ein letztes Mal an seiner Kippe und schnipste sie dann auf die Straße, wo sie glühend in den nächsten Gully rollte.

Gott war der Kerl anstrengend. Wie war es nur möglich, dass man sich in dem einen Moment halbwegs normal mit ihm unterhalten konnte und er im nächsten wieder so abfällig wurde? Das musste sein Talent sein. Oder er vergaß zwischendurch einfach, mit wem er hier sprach. Das wäre auch eine Möglichkeit.

Ich entschied mich dafür, dass es das Beste war, es einfach dabei zu belassen und lief schweigend neben ihm die gassenartige Straße runter. Da er längere Beine hatte, musste ich teilweise ganz schön kämpfen, um mit ihm mithalten zu können. Als wir dann auch noch in eine weitere Straße einbogen, taten sich mir zwei Fragen auf. Erstens, er war wirklich diesen ganzen Weg gerannt? Und zweitens und viel wichtiger, wie hatte er den Proles hier gefunden? Wir liefen schließlich schon seit bestimmt zehn Minuten und die Zeit, die ganze Gegend systematisch abzusuchen, hatte er schließlich nicht gehabt.

„Hör auf, mich die ganze Zeit so anzugucken, das nervt“, sagte er irgendwann.

„Wie guck ich dich denn an?“

„Als wäre ich ein Lexikon, das all deine Fragen beantworten könnte.“

Der Vergleich ließ mich schmunzeln, denn das war genau das, was ich mir eigentlich von ihm wünschte. Mein großer Lehrcoach, der an mich an all seinem Wissen teilhaben ließ, damit ich einmal der größte Venator der Welt werden und jedes einzelne von diesen Monstern ins Jenseits befördern konnte.

„Das solltest du lassen“, sagte er und hielt auf einen kaum erkennbaren Seitenpfad zu, der ziemlich versteckt hinter ein paar Bäumen zwischen zwei der Reihenhäuser verlief. Bei den Lichtverhältnissen – oder deren Fehlen – war er kaum zu finden.

„Was soll ich lassen?“, fragte ich verwundert, ich hatte doch gar nichts getan.

„Zu lächeln. Das sieht echt gruselig aus.“ Damit verschwand er um die Ecke auf den Pfad und ließ mich einfach auf der Straße stehen.

Das Lächeln fiel mir so schnell aus dem Gesicht, dass ich es praktisch auf dem Boden aufklatschen hörte. Da war er wieder, der Mistkerl vom Dienst. Ich wusste, dass die Narbe in meinem Gesicht nicht hübsch war und auch das sie meine Lippen manchmal seltsam verzerrte, aber das war eben einfach mies gewesen.

„Kommst du endlich“, rief er. „Hier ist es stockdunkel und ich brauche die Taschenlampe aus dem Rucksack.“

Eigentlich sollte ich ihn nach dem Ding eben einfach stehen lassen und zurück zum Wagen gehen. Sollte er doch sehen, wie er allein klarkam. Aber wenn ich mich nicht irrte, dann war das hier der Hof mit dem Bau, was so viel hieß, dass hier mehrere Proles rumlungern konnten und da wir keine Ahnung hatten, wie alt die waren, könnte es gefährlich sein.

Reese war ein unleidlicher Mistkerl, aber wenn ihm jetzt etwas passieren würde, würde mich das wahrscheinlich den Rest meines Lebens verfolgen.

„Shanks?“

„Mein Name ist Grace!“

„Ich weiß, Shanks.“

Oh, dieser kleine … „Ich hasse dich!“, rief ich ihm entgegen und trat auf den kurzen Pfad, der in einen Innenhof zwischen mehreren Häusern führte. Wiese, erdiger Boden und ein getrampelter Pfad, der zu den Mülltonnen führte. In der Mitte standen mehrere alte Kastanien, die mit ihren ausladenden Ästen schon fast die umliegenden Hauswände berührten. Um ihre Wurzeln sammelte sich das alte Laub der letzten Jahre und griff schon auf die wohl wenig benutzen Fahrradständer über.

Das alles konnte ich nur im schwachen Schein des Mondes erkennen, denn Reese hatte Recht, hier war es wirklich stockfinster. Es gab keine Laternen und die Fenster der Häuser die zur Hofseite ausgerichtet waren, gaben nicht den kleinsten Lichtstrahl von sich. Alle waren dunkel. Also die perfekten Bedingungen einer Proles-Jagd. Das wurde ja wirklich immer besser.

„Genug gestarrt?“, kam es von dem dunklen Schemen in der Mitte des begrünten Hofes. „Komm jetzt endlich her.“

Berührte diesen Mann eigentlich überhaupt irgendetwas? Konnte mir doch eigentlich egal sein. Verärgert knallte ich ihm den Rucksack vor die Brust und hoffte das es wenigstens ein bisschen weggetan hatte, aber er stellte ihn einfach zu seinen Füßen auf dem Boden ab und zog aus der Seitentaschen zwei Taschenlampen. Eine große, mit der man einem Proles im Notfall den Schädel einschlagen konnte und eine kleine, die nur noch mädchenhafter gewesen wäre, wenn sie pink statt schwarz wäre. Trotzdem nahm ich sie entgegen. Wenig Licht war immer noch besser als gar kein Licht.

Reese Strahl war der erste, der die Schwärze der Nacht zerriss. Er ließ den Kegel über den Boden wandern, über Laub, Müll, der nicht ordnungsgemäß entsorgt worden war, bis nach hinten zur Ecke, in der einige alte Holzkisten direkt an der Wand gestapelt lagen. „Du tust jetzt genau was ich sage, verstanden?“

„Keine Ahnung. In deinen Augen bin ich doch kaum intelligenter als Plankton, also sag du es mir.“

Das gab mal wieder einen bösen Blick. „Du nimmst das Netz. Wenn da was rauskommen sollte, wirfst du es darüber, klar soweit?“

„Du willst die Viecher schon wieder fangen?“

„Sie sind unbekannt und müssen deswegen nach Historia, denn, kennst du deinen Feind, kannst du ihn besiegen.“

„Hast du mir nicht vorhin noch erzählt, dass es egal ist wie viel man über ein Proles weiß, es hilft nicht wirklich bei der Jagd?“

„Nein, ich habe gesagt, dass man es dadurch nicht schneller findet, weil sie sich nie so verhalten, wie sie sollen und jetzt nimm das Netz, oder verschwinde.“

Ich nahm das Netz und schaltete nun auch meine Taschenlampe ein. Wenn da wirklich etwas rauskommen sollte, wie Reese befürchtete, dann wollte ich es wenigstens sehen können.

Er zog noch ein kleines Fläschchen aus dem Rucksack, das mich an ein Medizinfläschchen erinnerte und als er dann auf den Kistenstapel zuging, folgte ich ihm.

Unsere beiden Taschenlampen waren auf unser Ziel gerichtet und je näher wir dem Kistenstapel kamen, desto mehr erkannte ich die aufsteigende Aufregung in mir, wie ich sie immer verspürte, wenn ich mich auf einer Jagd kurz vor dem Ziel befand. Okay, bisher hatte ich nur über den Unterricht in der Akademie in extra dafür ausgewählten Gebieten Jagd auf handzahme Proles gemacht, aber das Gefühl war trotzdem das gleiche. Darüber hinaus konnte ich sogar vergessen, dass ich gerade erst leicht verletz worden war.

Reese ging wachsam vor den Kisten in die Hocke und schob sie vorsichtig zur Seite, als wolle er verhindern, dass irgendwas verschreckt wurde. Dahinter eröffnete sich uns ein Loch in dem Gemäuer. Kratzspuren an Ziegelstein und Mörtel zeigten sehr deutlich, dass dieses Loch nicht durch Alter und Zerfall entstanden war. Dass musste der Proles geschaffen haben. Ja, manche dieser Viecher hatten wirklich so harte Krallen, dass sie mit genug Zeit auch durch dickere Materialien als Holz kamen.

Der Strahl der Taschenlampe leuchtete in das Loch hinein, aber außer Finsternis war darin nichts zu erkennen. Darum leuchtete Reese auch den Bereich vor dem Loch ab. In der festen Erde waren deutlich kleine und große Abdrücke von Pfoten zu sehen.

„Bingo“, sagte Reese. „Du stellst dich jetzt da hin und hältst das Netz hoch.“

Auch wenn er mal wieder die einfachsten Höflichkeitsformen überging, folgte ich seiner Anweisung. „So?“, fragte ich, als ich mich in Position gebracht hatte.

Keine Antwort, nicht mal ein prüfender Blick. Er öffnete nur das Fläschchen in seiner Hand und kippte davon eine kleine Menge zwischen meinen Füßen und dem Netz auf den erdigen Boden.

Ich beobachtete das stirnrunzelnd, weil ich mir einfach keinen Reim darauf machen konnte. „Was machst du da? Was ist das?“

„Ein Lockmittel.“ Er schloss das Fläschchen und ließ es in seiner Manteltasche verschwinden. „Wenn die Jungen darin es riechen und sich schon allein fortbewegen können, dann …“

In dem Moment schoss etwas kleines Pelziges aus dem Loch. Ich war so überrascht, dass ich das Netz einfach fallen ließ und es dabei wohl nur durch Zufall über dem kleinen, knurrenden Wollknäul landete.

„… passiert genau das“, beendete Reese seinen Satz.

Das gab mehr als nur einen bösen Blick. „Und das hättest du mir nicht sagen können, bevor du das Zeug auf den Boden gekippt hast? Was ist das überhaupt? Das kenne ich aus der Akademie überhaupt nicht.“

„Erstens, autodidaktisches Lernen, zweitens, es nennt sich Hustensaft.“

„Hustensaft?“ Wollte er mich verarschen? „Ganz normaler …“ Ich unterbrach mich, als plötzlich zwei weitere von den Biestern aus dem Loch gekrochen kamen. Was sollte ich denn jetzt tun? Das Netz war noch von dem anderen besetzt.

Zum Glück peilte Reese ziemlich schnell, dass ich ein kleines bisschen ratlos war und riss die Ecke vom Netz in dem Moment hoch, in dem die beiden rüber rennen wollten. Es geschah so schnell, dass ich gar nicht richtig mitbekam, was da passierte. Erst als sich plötzlich drei von diesen grollenden Viechern in dem Netz tummelten, wurde mir klar, was geschehen sein musste. Reese hatte sie gefangen.

„Also an deinem Einsatz muss du echt noch einmal arbeiten“, kam es etwas spöttisch von ihm. Er leuchtete mit dem Strahl erneut in das dunkle Loch und erhob sich dann, als sich darin nichts weiter darin regte. „Pass auf das sie nicht abhauen.“ Er drehte sich herum und ließ mich einen Moment allein, um den Rucksack zu holen.

Die unbekannten Proles-Jungen knurrten und kratzen in dem Netz, versuchten zu entkommen und verhedderten sich dabei immer mehr in dem Gewirr. Es war nicht nur der Geruch von dem Hustensaft der sie wahnsinnig machte, sondern auch die Tatsache, dass sie gefangen waren.

Als Reese den Rucksack neben mir abstellte und sich dazu hockte, hatte er auf einmal dicke, braune Lederhandschuhe an. „So, dann komm mal her du kleines Monster.“ Von oben schnappte er eines der grünlichen Jungen im Genick und drückte es nach unten, um es bewegungsunfähig zu machen. Mit der anderen Hand griff er unter das Netz und packte es im Nackenfell und zog es dann raus. Dass das Beinchen dabei hängen blieb, interessierte ihn reichlich wenig.

Es knurrte, kratzte mit den Pfoten über den Boden, nur um damit dann sinnlos in der Luft rumzufuchteln. Schon bei diesen Kleinen, war der aufkommende Wahn ihrer Art in den Augen zu lesen. Vielleicht lag es aber auch an dem stechend gelben Blick. Wie auch immer, diese Augen waren einfach unheimlich.

„Fünf bis sieben Kilo würde ich sagen.“ Reese wog es in der Hand und drehte es dann halb herum. „Männlich.“

Es grollte leise aus der Kehle und versuchte nach Reese Finger zu schnappen, doch in dieser Position kam es unmöglich heran.

„Im Rucksack ist ein großer Jutesack. Gib ihn mir.“

„Das Wort Bitte kennst du wohl nicht, was?“ Ich zog den Rucksack zu mir rann und fand das Gewünschte sehr schnell.

„Nein, das existiert in meinem Wortschatz nicht.“ Er ergriff den Sack, steckte das Jungtier hinein und drückte die Öffnung hastig zusammen, bevor es wieder entkommen konnte. Mit einem „Halt mal“ streckte er es mir entgegen und da ich nicht wollte, dass der Sack sich wieder öffnete und das Vieh mir auf den Schoß krabbeln konnte, blieb mir nur die Möglichkeit, zu gehorchen.

Bei den anderen beiden Babys lief es genauso ab. Packen, untersuchen, ab in den Sack. Dann zog Reese seine Handschuhe aus und verstaute seine Sachen wieder in der Tasche.

„Das war einfach gewesen“, überlegte ich laut.

„Nicht jede Jagd endet in einem blutigen Massaker.“

Nein, nicht jede, aber doch leider viel zu viele.

In dem Moment als meine Gedanken wegen dem unbedachten Satz abzudriften drohten, nahm ich hinter Reese eine Bewegung wahr. Ich richtete den Strahl der Taschenlampe genau in dem Augenblick darauf, als es auf uns zugeschossen kam. „Pass auf!“, rief ich und machte einen Satz zurück.

Zeitgleich wirbelte Reese herum und konnte gerade noch ausweichen, bevor das kleine Vieh ihm in die Wade ging.

Ich schnappte das Netz und warf es hastig über das Biest, als es erneut auf Reese los wollte. Die Proles-Welpen im Sack knurrten und grollten. Einer quietschte, als wäre er von den anderen in ihrer Panik gebissen worden und in dem Netz, zu meinen Füßen, wand sich ein weiterer dieser grünfelligen Jungtiere.

Wir beide starrten das kleine Fellknäuel an, dann uns beide. Das hätte ins Auge gehen können. Oder wahlweise eben auch in die Wade.

Diese Babys waren bei weitem noch nicht so gefährlich, wie ihre Eltern, aber auch sie konnten kräftig zubeißen.

Als das Kleine einen kläglichen Laut von sich gab, der ein Ruf nach seiner Mutter hätte sein können, zuckte mein Mundwinkel nach oben. Warum sollte es ihm besser gehen als mir? Auge um Auge, Zahn um Zahn. „Deine Mami ist tot“, flüsterte ich in seiner Richtung. „Sie wird niemals wieder kommen.“ Oh ja, Rache konnte ein zuckersüßes Gefühl sein.

Reese hob die Augenbraue. „Ich hab dir gesagt, das ist gruselig, also lass es.“

Oh, wenn Blicke töten könnten. „Wie war das mit meinem Einsatz noch mal gewesen?“, fragte ich ihn ein wenig überheblich. „Ohne mich würde dir jetzt ein Stück aus deiner Wade fehlen.“

„Komm mal von deinem hohen Ross runter.“ Er griff nach dem vierten Jungtier unter dem Netz, verzichtete dieses Mal aber auf die Handschuhe. „Ein Erfolg macht dich noch lange nicht zum Meister. Das war einfach nur Glück.“

„Fällt es dir wirklich so schwer, einfach mal danke zu sagen?“

„Genau wie Bitte, existiert dieses Wort in meinem Wortschatz nicht. Und jetzt mach endlich den Beutel auf, ich will Schluss machen.“

Dieser Kerl war wirklich einfach nur unfassbar. Ich schüttelte den Beutel, damit die Viecher auch unten blieben und öffnete ihn nur lang genug, damit Reese das vierte Baby reinstecken konnte. „Und das waren jetzt auch wirklich alle?“

„Ich gehe davon aus.“

Ich hielt den sich windenden Beutel ein Stück von mir weg. „Bist du vorher auch.“

„Wenn dir nicht passt, was ich zu sagen habe, dann geh doch.“

„Und was neues fällt dir auch nicht ein.“

„Warum sollte ich mir etwas Neues einfallen lassen, wenn das Alte es doch genau auf den Punkt bringt?“ Er warf sich den gepackten Rucksack über die Schulter und nahm das Netz. Das hieß dann wohl, dass er mir den Transport der Babys überließ. „Und jetzt komm.“ Ohne auf mich zu warten, verschwand er auf dem kleinen Pfad zur Straße.

Zum Glück hatte er mir noch die Taschenlampe gelassen. Sie war zwar klein, hatte aber einen kräftigen Strahl.

„Wie bist du eigentlich auf Hustensaft gekommen?“, fragte ich ihn, als ich an der Straße wieder zu ihm aufschloss. „Ich meine, er ist ja nicht wirklich das Naheliegendste.“

„Zufall“, lautete seine Antwort.

Seufz. „Könntest du zur Abwechslung mal wie ein ganz normaler Mensch mit mir reden? Einfach so um den Tag ausklingen zu lassen? Stell dir einfach vor, ich wäre jemand den du magst und dann versuch es erneut mit einer Antwort.“

Reese schnaubte. „Ich habe wohl noch nie einen so penetranten Menschen wie dich kennengelernt.“

Ich schwieg, wartete.

„Meinetwegen. Es gibt da so einen Typen, der hält sich ein Proles als Haustier und …“

„Was?!“ War das sein ernst? „Aber das …“

„Willst du das nun hören, oder mir lieber erklären, dass es verboten ist. Denn ob du es nun glaubst oder nicht, ich weiß das selber.“

Mein Mund klappte zu. Natürlich wusste er das. Als Venator kannte er die Gesetze zum Verfahren mit einem Proles wahrscheinlich besser als jeder Anwalt. Trotzdem gefiel mir das nicht besonders.

„Schön.“ Reese bog in die Straße mit den Reihenhäusern ein. „Also, es gibt da diesen Typen, der sich ein Pillicula als Haustier hält. Und dem ist mal eine Flasche Hustensaft heruntergefallen. Da ist der kleine Proles völlig ausgeflippt. Ich weiß nicht was genau es ist, aber irgendwas im Hustensaft lässt die Proles völlig von Sinnen werden. Sie stürmen einfach voran. Der Nachteil dieser Methode ist aber, dass sie alle gleichzeitig ankommen. Wenn es nur ein kleiner Wurf ist wie dieser hier“, – zu Anschauungszwecken griff er nach dem Jutesack in meiner Hand und schüttelte ihn ein wenig, was heftiges Knurren nach sich zog – „hast du noch leichtes Spiel. Doch wenn es mehr sind, dann kannst du in arge Schwierigkeiten kommen. Und du solltest es niemals, oder nur im äußersten Notfall bei einem ausgewachsenen Proles benutzten. Zum Beispiel um ihn abzulenken.“

Merke, ich sollte mir dringend Hustensaft besorgen. Und einen Notizblock. Und wenn ich schon mal dabei war eine geistige Liste aufzustellen, dann sollte ich vielleicht auch noch eine Kamera hinzufüge. „Das hört sich an, als sprichst du aus Erfahrung.“

„Ich hab schon einiges erlebt“, sagte er und sah mich an. „Kann ich dich mit dem Auto unterwegs irgendwo absetzen?“

Bei dem abrupten Themenwechsel, stutzte ich einen Moment. „Jetzt?“

„Nein, nächstes Jahr.“ Er schnaubte. „Natürlich jetzt.“

Ich runzelte verwirrt die Stirn. Was sollte das denn? „Aber wir müssen doch noch mal in die Gilde, wegen den Berichten.“

Nebeneinander bogen wir auf die Straße ein, in dem der Wagen parkte. Es war immer noch sehr ruhig, aber jetzt waren viele Fenster erhellt, hinter denen sich die Schatten der Bewohner bewegten.

„Das kann ich auch allein machen“, sagte Reese. „Damit brauchst du dich heute nicht rumplagen.“

Okay, jetzt wurde ich richtig misstrauisch. Das passte so gar nicht zu dem Verhalten, dass er die ganze Zeit an den Tag gelegt hatte. Das war ja geradezu … anständig. „Warum?“

„Wie, warum?“

„Warum du das allein machen willst.“

„Einfach nur so.“ Es war wohl offensichtlich, dass ich ihm nicht glaubte, denn er fügte noch hinzu. „Ist es wirklich so undenkbar, dass ich mal nett sein möchte?“

„So wie du dich den ganzen Tag benommen hast, ja, definitiv!“

Er knurrte etwas in seinen Dreitagebart, erwiderte ansonsten aber nichts mehr und stampfte ein paar Schritte voran. Die Antwort hatte ihm wohl nicht gepasst.

Okay, das war jetzt mehr als seltsam gewesen. Es machte fast den Anschein, als wollte er mich ganz schnell loswerden. Ich stockte bei dem Gedanken. Natürlich, er wollte mich doch schon den ganzen Tag loswerden und hoffte jetzt wahrscheinlich einfach, dass, wenn ich heute nicht mehr in der Gilde auftauchte, er mich bei Jilin anschwärzen konnte und mich auf diesem Wege loswurde. Aber das konnte er ganz schnell vergessen.

Von wegen nett, das tat er nur aus Eigennutz. „Ich komme noch einmal mit zur Gilde“, sagte ich fest.

Er beachtete mich gar nicht mehr, zückte nur wieder seine Zigaretten und steckte sich eine an.

Ich machte, dass ich wieder an seine Seite kam. „Die Babys gehen jetzt nach Historia, oder?“

Knurrend blies er den Rauch aus.

Ich interpretierte das mal als ja. „Und der Kadaver der Mutter? Geht der in die Verbrennungsfabrik, oder auch nach Historia?“

„Gott, ist es für dich wirklich so schwer, einfach mal still zu sein?“

Wenn er schon so fragte. „Ja.“

Kopfschüttelnd brachte er die letzten Meter zu seinem Wagen hinter sich. Kofferraum auf und seine Arbeitsmaterialien reinschmeißen, war alles eins. Dann zerrte er einen von den zusammenklappbaren Käfigen heraus, wie sie für den Transport von Hunden gerne benutzt wurden und räumte eine kleine Fläche frei, um ihn im Kofferraum aufzubauen.

Ohne ein Wort nahm er mir dann den Sack aus der Hand und entleerte den Inhalt in die Transportbox, dass die kleinen, grünblauen Fellknäule nur so hinein purzelten.

Sie knurrten, kauerten sich in die Ecke und einer sprang sogar gegen das Gitter, aber die Tür war schon zu und verriegelt. Wenn sie nicht plötzlich Hände und annähernd menschliche Intelligenz entwickelten, würden sie da nicht allein rauskommen.

Reese warf den Sack noch neben den Käfig, knallte den Kofferraum zu und umrundete den Wagen, um sich hinters Steuer zu setzen.

Da ich nicht zurückbleiben wollte, lief ich auf der anderen Seite zum Beifahrersitz, nur um mir wieder in Erinnerung zu rufen, warum da schon wieder Müll im Fußraum lag.

Seltsam, erst jetzt merkte ich, dass die Wunde nach der Behandlung von Reese nicht mehr wehgetan hatte. Was war das nur für eine Salbe gewesen? Wahrscheinlich irgendwas Betäubendes, um den Schmerz zu unterdrücken.

„Steigst du jetzt ein, oder starrst du lieber noch ein bisschen den Müll an?“ Er zog sein Handy aus der Tasche und rammte zeitgleich den Zündschlüssel ins Schloss.

Oh Mann, ich hatte gar nicht geglaubt, dass seine Laune noch weiter sinken könnte.

Hastig kletterte ich auf den Beifahrersitz, schnallte mich an und schob den Müll mit den Füßen zu einem kleinen Haufen zusammen. Den würde ich mitnehmen, wenn ich ausstieg.

Mit dem Handy am Ohr startete er den Wagen und lenkte ihn in den abendlichen Straßenverkehr. „Hey, Taid, ich hab da vielleicht etwas für dich.“ Er warf mir einen kurzen komischen zu, der mir so gar nicht gefallen wollte. Was hatte das nun wieder zu bedeuten. „Okay, bis gleich.“

Als er auflegte, runzelte ich die Stirn. „Das ist aber nicht der Weg zur Gilde.“

„Wirklich? Zum Glück hast du mir das gesagt.“ Er blinkte und bog nach rechts ab, noch weiter weg von unserem eigentlichen Ziel.

„Wo fährst du denn hin?“

Kurz drückte er die Lippen aufeinander und antwortete dann nur mit einem schlichten „Deine Neugierde geht mir langsam echt auf den Sack“, ohne mich dabei anzugucken.

 

°°°°°

Kapitel 04

 

Unser Weg führte uns in eine ziemlich verlassene Gegend am Hafen. Alte Lagerhäuser reihten sich hier dicht an dicht und wirkten mit ihrer heruntergekommenen Fassade nicht sehr einladend. Zumindest der Teil, den ich im spärlichen Licht der wenigen Straßenlaternen erkennen konnte. Und das Lagerhaus, vor dem der Wagen dann zum Stehen kam, wirkte noch düsterer, als all die anderen zusammen.

Kahle Wände aus altem Backstein, auf denen Sprayer sich verewigt hatten. Sinnlose Schriftzüge, die vieles waren, aber sicher keine Kunst. Die Blechdecke war leicht nach oben gewölbt und große Tore unter einer Überdachung hatten früher wohl einmal die Lieferung entgegengenommen. Drumherum wuchs vereinzelt braunes Gras, das mehr tot als lebendig aussah und eine verrostete Feuerleiter führte hinauf aufs Dach. Der einzige Unterschied zu den anderen Lagerhallen hier, waren die Fenster. Sie waren alle in Ordnung. Okay, vielleicht hatte eines mal einen Sprung, oder blinde Flecken, aber den Regen würden sie wohl abhalten können – den größten Teil zumindest.

Auf dem kleinen, heruntergekommenen Parkplatz standen mehrere Autos, von denen einer eine richtige Nobelkarosse war. Schwarz, auf Hochglanz poliert und das überteuerte Preisschild klebte praktisch noch auf der Windschutzscheibe. Hatte der Besitzer keine Angst, dass seinem Schmuckstück in dieser verwahrlosten Gegend etwas passieren konnte? Der war echt mutig.

Ich ließ meinen Blick misstrauisch über die Umgebung wandern und fühlte mich dabei gar nicht wohl. Das war kein Ort, an dem ich sein wollte, nicht mal bei strahlendem Sonnenschein. Und die Dunkelheit machte es noch unheimlicher. „Was machen wir hier?“

Reese warf mir einen kurzen Blick zu. „Du wirst hier im Wagen warten, ich werde nur kurz etwas abgeben.“ Er zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und starrte dann einen Moment nachdenklich durch die Windschutzscheibe. Die ganze Fahrt über war er schon nachdenklich gewesen, abwechselnd mit gereizt „Gott, warum bist du nicht einfach nach Hause gegangen?“

„Weil ich wegen ein paar Berichten sicher nicht mein Praktikum aufs Spiel setzte.“

„Was?“ Unverständlich runzelte er die Stirn.

„Tu doch nicht so“, fuhr ich ihn an. „Wäre ich nach Hause gegangen, hättest du mich bei Jilin wegen Arbeitsverweigerung oder sowas angeschwärzt. Aber das kannst du vergessen. Ich werde mich schön an die Regeln halten.“

Ein Fluch, der allem Anschein nach ihm selber galt, verließ seinen Mund, als er aus dem Wagen stieg und die Tür ziemlich lieblos zuknallte.

Durch den Rückspiegel beobachtete ich, wie er zum Kofferraum ging und die Heckklappe öffnete. Dann kramte er dahinten wieder herum, bis er seine Lederhandschuhe fand. Ich runzelte die Stirn und fragte mich, was er da jetzt schon wieder trieb. Als er dann auch noch nach dem Jutesack griff und sich an dem Käfig zu schaffen machte, drehte ich mich auf meinem Sitz herum. „Was machst du da?“

Seine Augen zuckten kurz zu mir, bevor er sich eines der kleinen, knurrenden Fellknäule schnappte und in den Sack stopfte. „Mach einfach die Augen und Ohren zu.“ Dann war der Käfig wieder zu und anschließend die Heckklappe. Ich drehte mich auf meinem Sitz mit, um mit den Augen folgen zu können, als er zielsicher auf eine kleine Seitentür in der Lagerhalle zuhielt und nach wenigen Schritten darin verschwand.

Was hatte er den jetzt mit dem Proles vor? Was war das hier überhaupt für ein Schuppen? Ich sah mich nach einem Schild oder etwas in der Richtung um, das mir vielleicht Aufschluss darüber liefern konnte, aber da war nichts. Nur dieses alte Lagerhaus.

Was wollte Reese nur mit dem Proles darin machen?

Mach einfach die Augen und Ohren zu.

Das hörte sich ja so an, als sollte ich so tun, als hätte ich das alles hier nicht gesehen. Nervös tippte ich mir mit dem Finger aufs Knie. Sollte ich ihm folgen und nachsehen, was er hier trieb, oder war es intelligenter, einfach zu warten und ihn dann mit Fragen zu löchern? Die Gegend sah nicht sehr einladend aus und hier zu warten wäre wahrscheinlich sicherer, aber wer versprach mir denn, dass Reese meine Fragen ehrlich beantworten würde, beziehungsweise, ob er überhaupt etwas dazu sagen würde?

Ich war unentschlossen. Einerseits wollte ich unbedingt wissen, was das zu bedeuten hatte, einfach weil ich es seltsam fand und andererseits wollte ich keinen Fuß dort raus setzen. Ich überlegte hin und her, Pro und Kontra. Dabei warf ich immer mal wieder einen Blick auf die Uhr. 19:52. 19:57. 20:03. Um fünf nach acht hielt ich es nicht mehr länger aus. Davon abgesehen, dass ich glaubte dahinten im Schatten eine Gestalt rumlungern zu sehen, zerfraß meine Neugierde mich geradezu.

Ich stieß die Wagentür auf und huschte eilig über den Parkplatz zu der Seitentür der Lagerhalle rüber. Dabei behielt ich die Schatten ganz genau im Auge, aber egal wer – oder was – sich da eben noch rumgetrieben hatte, es war jetzt wohl weg. Zumindest sah ich nichts mehr Verdächtiges.

Das erste, was mir an der Tür auffiel, war das Schloss. Es machte mich nicht nur stutzig, es warf ein Haufen neuer Fragen auf, denn das hier war nicht so ein null-acht-fünfzehn-Teil, das schon total verrostet war, nein, es war ein brandneues Sicherheitsschloss, wie sie eigentlich für die Neubauten benutzt wurden. Nahezu prolessicher.

Einen Augenblick zögerte ich noch, aber dann siegte die Neugierde. Entschlossen zog ich die Tür auf und schlüpfte durch den Spalt ins Innere. Kein Quietschen, kein Knarren. Perfekt geölt. Das wurde ja immer seltsamer.

Mein Herz schlug wie wild, aber nur bis ich mich umdrehte, dann setzte es für einen Moment einfach aus. Wo bitte war ich denn hier gelandet?

Ich stand am oberen Rand einer Zuschauertribüne. Zwei Seiten der gewölbten Halle waren damit bedeckt. Die anderen beiden Seiten wurden von einer riesigen Voliere eingenommen, wie bei uns in der Arena. Moment, das war hier ganz genauso! Ich stand in einer Arena. Aber was …

Mein Mund öffnete sich einen Spalt, als ich langsam den Blick schweifen ließ. Die Tribüne bestand aus alten Metallsitzen, an denen der Schutzlack nur noch mit viel Mühe zu erkennen war. Die Voliere bestand nicht wie die in der Beluosus Akademie aus doppeltgereihten Stahlstreben, sondern aus einfachem Maschendrahtzaun. Zwischen der untersten Zuschauerreihe und dem Beginn des Käfigs war gerade mal eine Entfernung, von vielleicht zwei Metern. Kein Sicherheitsabstand.

Der Einzige Zugang zur Voliere, war eine Tür in der Wand und eine große Klappe daneben, deren Sinn sich mir im Moment nicht erschloss. Der Boden bestand aus einem einfachen Steinboden, der deutliche Flecken hatte. Dieses Rostrot, das war eindeutig Blut. Und es gab hier verdammt viele Flecken.

Das alles wurde von ein paar einzelnen Glühbirnen erhellt, die traurig herunterbaumelten. Alles sah verwahrlost und heruntergekommen aus, wie eine billige ungepflegte Kopie der Arena in der Beluosus.

Was hatte das nur zu bedeuten? Und noch viel wichtiger, was wollte Reese mit dem Proles-Baby hier? Ich konnte mir auf das alles keinen Reim machen. Wurden hier vielleicht auch Lehrlinge ausgebildet? Aber warum an so einem Ort und mit so wenig Sicherheitsvorkehrungen?

Als ich plötzlich ein Lachen hörte, zuckte ich vor Schreck heftig zusammen und sah mich hastig nach dem Ursprung um, aber da war niemand. In dieser Halle gab es nur mich und ein paar Spinnen in den Dachbalken – die auch gerne dort oben bleiben konnten. Auch von Reese konnte ich keine Spur entdecken, obwohl ich ihn hatte hier reingehen sehen.

Ich runzelte die Stirn. Hatte ich mir das vielleicht nur eingebildet? Nein, da war es schon wieder. Heiser, männlich, als wäre da etwas saukomisch. Es kam von unten. Zwischen der hinteren Tribüne und der Voliere gab es noch eine weitere Tür, die mir bisher entgangen war. Durch den offenen Spalt ergoss sich ein Streifen Licht in die Arena. Ob ich Reese da wohl finden würde? Ich zögerte wieder einen Moment, aber jetzt wollte ich es wissen. Dieser Kerl würde mir ein paar Fragen beantworten müssen, ob er nun wollte oder nicht.

Leichtfüßig sprang ich die metallene Treppe hinunter und je näher ich dabei der Voliere kam, desto mehr machte sie einen verkommen Eindruck auf mich. Was war das hier nur?

Das Lachen wiederholte sich nicht, doch je näher ich der Tür kam, desto deutlicher wurde das Stimmengemurmel auf der anderen Seite. Dahinter befanden sich mehrere Leute. Sollte ich klopfen, oder einfach reingehen?

Als dann noch ein grollendes Knurren erklang, wurde mir bewusst, dass sich dahinter nicht nur Menschen befanden. Das konnte nur ein Proles gewesen sein. Aber … was bedeutete das nun wieder? Ich riskierte einen Blick durch den kleinen Spalt und konnte nichts dagegen tun, dass mir die Kinnlade fast bis zum Boden fiel. Zwinger! Alte, zum Teil nur mit Maschendraht reparierte Zwinger. Und sie waren voll mit Proles jeglicher Gattung!

Ich merkte kaum, wie ich die Tür weiter aufdrückte und in die etwas kleinere Halle trat. Mein Blick schweifte über alles, was er erreichen konnte, nahm jede Kleinigkeit wahr. Dicht an dicht reihten sich hier die verschiedensten Zwinger in mehreren Reihen hintereinander. Wie Stallgassen, die durch einen Quergang miteinander verbunden waren. Kleinere Proles hatte man in Transportkäfige für Hunde gesteckt und einfach in den Gang gestellt. Und es stank fürchterlich nach Dreck, Fäulnis und Tier.

Die Abkömmlinge knurrten und fauchten, strichen unruhig an den Gittern ihrer Gefängnisse entlang. Ich wagte mich weiter hinein, schritt die Zwingerreihe direkt vor mir ab. In die Ecke gedrängt, lagen die Proles. Manche wirkten apathisch, andere liefen immer und immer wieder am Gitter vorbei. Einem Krant fehlte ein Vorderbein. Es musste eine alte Verletzung sein, denn sie war schon komplett verheilt. Die Felle waren stumpf, zum Teil schienen sie Räude zu haben.

Als es hinter mir schepperte, wirbelte ich herum. Nein, es war kein Mensch der vor Schreck etwas fallen gelassen hatte, es war ein Amph, der bei meinem Anblick immer wieder frontal gegen das Gitter donnerte. Menschen hatte ich seit meinem Eintritt noch nicht gesehen. Ich hörte sie irgendwo weiter hinten miteinander sprechen, aber auf mich war noch niemand aufmerksam geworden.

Das Gitter des Zwingers wackelte gefährlich in seinem Rahmen, aber zu meiner Verwunderung hielt es. Der Amph kam nicht frei, egal wie sehr er sich anstrengte. Dieser Proles war ja noch verrückter, als die Spezies eh schon war und ich wollte jetzt endlich wissen warum.

Auf dem Absatz drehte ich mich herum, wollte die Zwingergasse hinuntergehen, blieb aber abrupt stehen, als ich das Wesen in dem Käfig daneben sah.

Es sah aus wie ein Simia-Proles, Affenabkömmling, aber so eines hatte ich noch nie gesehen. Fell, das so gelb war wie seine stechenden Augen. Die Beine waren zu lang für einen Affen, aber es hatte eindeutig Hände.

Noch ein unbekannter Proles? Zwei an einem Tag? Das wurde ja immer verrückter. Natürlich, es gab immer mal wieder neue Unterarten der Stammgruppen, aber das war einfach zu viel.

Mit eiligen Schritten machte ich, dass ich weiter kam. Ich brauchte jetzt eindeutig ein paar Antworten, bevor mein Kopf vor lauter Fragen noch platzte und um die zu bekommen, brauchte ich Reese. Bis zum Ende der Gasse ging ich, folgte dann den Stimmen, doch bevor ich sie erreichte, wurde mein Augenmerk von einem anderen Proles auf sich gezogen.

Ein Iuba.

Guck mal, Gracy, der lustige Hund. Ich habe ihn Plüsch genannt, weil er so plüschig aussieht.

Doch dieses Exemplar hier sah nicht sehr plüschig aus. Der Teil der Mähne, den er noch besaß, war verfilzt und Blutverschmiert. In der Flanke hatte er eine große Fleischwunde, die schrecklich entzündet aussah. Einen Schwanz besaß dieser Abkömmling gar nicht mehr und eines der Augen war nichts weiter als eine eiternde Wunde.

Es sah aus, als wäre es von einem anderen Proles auf übelste Weise zugerichtet worden und danach hatte man es einfach zum Sterben in diesen Zwinger geworfen.

In mir reifte ein böser Verdacht heran. Ich wusste von illegalen Hundekämpfen, wo sich die Zuschauer einen Kullerkeks freuten, wenn die armen Tiere sich gegenseitig zerfleischten. War das hier vielleicht etwas Ähnliches? Nur größer und auf Proles ausgerichtet? Denn dass dieser Ort für blutige Kämpfe gedacht war, konnte keiner bestreiten. Und es würde auch den Zustand der Abkömmlinge erklären.

„Komm, Hundi, Hundi, Hundi.“

Der Iuba zog die Lefzen hoch und grollte leise aus der Brust. Es war ein erbärmlicher Anblick und auch wenn es der gleichen Unterart angehörte, die aus meinem sechsten Geburtstag ein Blutbad gemacht hatten, so war es doch nicht annähernd so beängstigend. Nicht im Geringsten.

Der Druckknopf klickte, als ich meine M19 aus ihrem Holster befreite. Ein weiterer Klick und die Waffe war entsichert. Zielsicher richtete ich den Lauf auf seinen Schädel.

Nein, es war kein Mitgefühl, ich wollte ihn nicht von seinem Leid erlösen, es war Rache, nichts als süße unverfälschte Rache. „Grüß deine Kollegen in der Hölle von mir.“

In dem Moment, in dem ich den Abzug betätigen wollte, umschlangen mich von hinten zwei starke Arme und verrissen damit die Waffe. Ich konnte mich gerade noch davon abhalten den Abzug voll durchzudrücken und einen Querschläger zu riskieren.

„Scheiße!“, fluchte ich und wand mich in den eindeutig männlichen Armen. „Was soll das? Lass mich los!“

„Ah, ah, ah. Du willst doch nicht etwas den Champion vom Boss abknallen, oder?“, flüsterte mir eine weiche Stimme ins Ohr. „Ich glaube das würde er dir ziemlich übel nehmen. Er ist da ein bisschen eigen.“

„Verdammt, nimm deine Pfoten von mir!“ Ich versuchte ihm meinen Hacken auf den Fuß zu donnern, doch er zog ihn einfach weg

„Nur wenn du mir versprichst die Waffe wegzustecken und artig zu sein.“

„Ich verspreche gar nichts!“ Ich wand mich in seinen Armen, doch er ließ einfach nicht locker. „Aber wenn du mich nicht gleich loslässt, dann werde ich dir ziemlich wehtun!“

Er lachte mir direkt ins Ohr. Ein leises, melodisches Lachen. „Ich glaub, ich weiß das zu verhindern.“ Im nächsten Moment drückte er mich nach vorne, sodass ich zwischen ihm und dem Zwinger eingeklemmt war. Hinter dem Gitter zeigte mir der Plüsch seine Zähne, aber er griff nicht an. Jede Bewegung musste ihm unglaubliche Schmerzen bereiten. Trotzdem war ich nicht gerade begeistert ihm so dicht zu sein. Besonders nicht, wenn ich praktisch bewegungsunfähig war. Meine Waffe hielt ich zwar noch in der Hand, aber in der Position nutzte sie mir nichts.

Ich versuchte mich wegzustemmen, aber er fasste einfach nach dem Gitter und drückte mich mit seinem ganzen Körper noch fester dagegen.

„Scheiße, lass mich endlich los!“

„Nur wenn du nicht mehr versuchst, das Einkommen zu dezimieren.“

Ich stelle meine Wehrversuche ein und sah über die Schulter, um ihm klar zu machen, wohin er sich scheren sollte, doch sobald ich ihn sah, blieb mir jedes Wort in der Kehle stecken. Kaum merklich weiteten sich meine Augen. Der Kerl hinter mir hatte ein makelloses Gesicht. Himmelblaue Augen und Haare die mich an einen Sandstrand erinnerten. Das meinten die Leute wohl, wenn sie von dem perfekten Mann redeten, denn das war er wirklich, einfach perfekt – zumindest was das Aussehen oberhalb der Schultern anging. Den Rest konnte ich in meiner Position schlecht sehen.

Auch er musterte mein Gesicht interessiert und blieb wie viele andere auch an der Narbe über meinen Lippen hängen.

„Ja, sie ist hässlich, ich weiß das!“, ranzte ich ihn an.

Sein Mundwinkel zog sich leicht in die Höhe. „Eigentlich habe ich ja gerade überlegt, ob ich ein Tritt in die Eier bekommen würde, wenn ich dich einfach mal küsse.“

„Was?!“ Oh weh, war dieses Kicksen eben etwas gerade von mir gekommen? Meine Wangen wurden feuerrot und ich konnte nicht einmal sagen, woran das genau lag. Weil er so dicht bei mir war? Oder vielleicht doch wegen dem, was er gesagt hatte? Vielleicht aber auch, weil ich hier stand und nichts anderes tat, als ihn mit offenem Mund anzustarren.

Hastig drehte ich das Gesicht weg. Diese Situation hatte doch wirklich etwas Surreales an sich. Das war seltsam. Noch nie in meinem Leben war ich dem anderen Geschlecht so nah und ausgeliefert gewesen. Und warum musste mir das ausgerechnet jetzt klar werden? Warum musste ich mir jetzt seiner Körperwärme so bewusst werden? Ich musste unbedingt aus dieser Konstellation raus. „Kannst du mich jetzt bitte loslassen?“

„Wirst du dann auch artig deine Waffe wegstecken und freiwillig meine Fragen beantworten?“

Gott ja, im Moment würde ich wahrscheinlich alles tun, um seinen Armen zu entkommen. „Wenn du dann endlich deine Pfoten von mir nimmst.“

„Hm“, machte er nachdenklich. „Im allgemein haben die Frauen es ganz gerne, wenn ich meine Pfoten an sie lege.“ Sein warmer Atem streifte bei diesen Worten mein Ohr, genau wie sein leises Lachen.

Ich schloss die Augen und kämpfte mit dem Drang nach hinten auszutreten. So wie er mich festhielt, würde ich mir dabei vermutlich nur selber wehtun. Wie war ich nur in diese Lage geraten? „Tja, scheinbar bin ich eine der Wenigen, die dir widerstehen können.“

„Wie schade.“ Er ließ das Gitter los und entließ mich endlich aus der Umklammerung.

Hastig wich ich von ihm und dem Zwinger zurück, nur um direkt in den Lauf einer Waffe blicken zu können.

Es klickte. Entsichert. „So und nun zu meinen Fragen. Erstens, was hast du hier zu suchen?“

Was ich hier zu suchen hatte? Oh Gott, warum war ich Reese nur gefolgt? Jetzt würde ich sterben. Dieser verrückte Schönling mit der Knarre würde mich erschießen und ich konnte nichts dagegen tun! Noch bevor ich meine Waffe auf ihn gerichtet hätte, würde wahrscheinlich ein hübsches, rotes Loch in meiner Stirn prangen.

Kopfschüttelnd wich ich vor ihm zurück, bis der Zwinger einen weiteren Rückzug unmöglich machte.

„Du willst nicht antworten? Wie wäre es dann mit einer anderen Frage.“ Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Eine ganz einfache. Wie ist dein Name?“

Gott, wie konnten so reine und unschuldige Augen nur so verschlagen gucken?

„Immer noch keine Antwort? Also eben warst du wesentlich gesprächiger gewesen.“

Eben hatte er mir ja auch noch keine Knarre vors Gesicht gehalten! Ich leckte mir nervös über die Lippen, sah mich kurz nach einem Fluchtweg um. Dabei entdeckte ich den anderen Mann mit den vielen Piercings im Gesicht, der an der Wand lehnte und mich breit angrinste. Er machte keine Anstalten mir zu helfen, beobachtete nur, was nun geschehen würde.

Mit seinem Auftauchen sank meine Fluchtmöglichkeit auf null. Einem wäre ich vielleicht noch entkommen, aber zwei? Oh Gott, wo war ich hier nur gelandet?

„Hm, wie wäre es wenn ich dich Red nenne? Das passt zu dir.“ Der Schönling wechselte die Waffe in die andere Hand und ging ein paar Schritte zur Seite, um mir jeglichen Fluchtweg abzuschneiden. Der Lauf zeigte dabei die ganze Zeit auf meine Stirn. Seinen Kollegen beachtete er genauso wenig wie ich. „Also Red, noch mal von vorne. Was machst du hier?“

„Grace“, schaffte ich es endlich über meine Lippen zu bringen. Mein Herz schlug mir dabei bis zum Hals. Wenn ich nur antwortete und ihn damit zufrieden stellte, dann würde er mich vielleicht am Leben lassen. „Mein Name ist Grace, nicht Red.“

„Grace.“ Wie einen guten Wein ließ er sich dieses Wort auf der Zunge zergehen. „Ein hübscher Name für ein hübsches Mädchen.“ Er lächelte leicht. „Also, sag mir Grace, was führt dich hier in unsere vier Wände, hm? Ist doch nicht wirklich ein Ort für ein junges Ding wie dich.“

Jung? Er konnte selber nur wenig älter als ich sein. „Ich … ich …“ Vor Nervosität wurde mein Mund ganz trocken. Was wenn ich was Falsches sagte? Daran war nur dieser Blödmann Reese schuld! Wären wir einfach in die Gilde gefahren, müsste ich hier jetzt nicht um mein Leben bangen.

„Ja?“

„Ich wollte nicht im Wagen warten“, kam es dann schlussendlich aus meinem Mund. „Reese … also der Mann mit dem ich hergekommen bin, er …“

„Reese? Du bist mit Tack hier?“ Der Schönling zog eine Augenbraue nach oben und stieß dann ein bellendes Lachen aus. „Verdammt, das hätte ich mir eigentlich auch gleich denken können!“ Er schüttelte den Kopf wie über sich selber. „Nur Tack bringt es fertig, so ein verrücktes Huhn mit hierher zu bringen.“ Er zwinkerte mir zu und ließ seine Waffe im Hosenbund verschwinden. „Ist nicht abwertend gemeint, ganz im Gegenteil.“

„Du kennst ihn?“, fragte ich misstrauisch.

„Ob ich ihn kenne? Er ist mein großer Bruder.“

Was?!

„Hat er dir etwa nicht von mir erzählt?“ Er lachte, wie über einen Witz, den ich nicht verstand. „Nein, natürlich hat er das nicht. Ich bin ihm viel zu peinlich. Unser großer, böser Jäger kann doch niemandem erzählen, dass er mit mir verwandt ist.“ Er streckte den Arm aus, als wolle er meine Schulter tätscheln, doch der Anblick der auf mich gerichteten Knarre hatte sich so in meine Netzhaut gebrannt. Ich zuckte zurück.

„Ach komm schon.“ Ohne darauf zu achten, dass es mir unangenehm war, legte er den Arm um meine Schultern und drückte mich an sich. „Das von eben wirst du mir doch wohl nicht übel nehmen, oder?“

„Ich bin auf jeden Fall nicht erfreut darüber, dass jemand eine Waffe auf mich gerichtet hat.“ Ich drückte mich von ihm weg und ging wieder ein paar Schritte auf Abstand. Dabei schweifte mein Blick zu dem anderen Mann, doch der war nicht mehr da. Die Stelle, an der er eben noch gelehnt hatte, war nun verwaist. Wo war er hin? Holte er noch mehr von diesen Verrückten? Warum nur hatte ich diesen verdammten Wagen verlassen müssen?!

„Hey, in meinem Job muss man eben ein bisschen misstrauisch sein.“ Er lächelte ein wenig schief. „Und ist ja auch nichts weiter passiert.“

Bis auf die Tatsache, dass mein Puls immer noch raste und mir das Adrenalin nur so durch die Adern jagte, nein, war wirklich nichts passiert.

„Und jetzt hab ich meine Waffe ja weggesteckt. Jetzt bist du dran.“

Ich brauchte einen Moment, um mir darüber klar zu werden, dass ich meine M19 noch immer in der Hand hielt. Sie wegzustecken, empfand ich als keine gute Idee, doch die Alternative war, zu riskieren, dass ich gleich wieder in einen Lauf sah. Deswegen sicherte ich sie wieder und verstaute sie mit leicht zitternden Fingern in ihrem Holster.

„Tack hat mir gar nicht gesagt, dass er heute in so hübscher Begleitung ist“, sagte der Kerl nachdenklich.

„Ich glaube auch nicht, dass er von mir begleitet werden wollte“, murmelte ich leise und schloss den Druckknopf.

Er lachte wieder. „Ja, das kann ich mir vorstellen. Woher kennt ihr euch? Er hat dich mit keinem Wort erwähnt.“

„Er ist mein Lehrcoach.“

Nach diesen Worten riss er seine Augen weit auf. „Du meinst, du bist von der Gilde?“

„Ähm … noch nicht ganz, aber so ungefähr.“ Ich strich mir eine Strähne aus dem Gesicht, einfach um meine nervöse Energie loszuwerden. Ich fühlte mich hier wirklich nicht sehr wohl. „Hör zu, eigentlich bin ich nur hier um Reese zu suchen. Ich hab ihn hier reingehen sehen und da wir mit seinem Wagen hier sind, komme ich ohne ihn nicht weg.“ Den jungen Proles ließ ich lieber unerwähnt. Obwohl, wenn ich mich hier so umsah, war das wahrscheinlich ganz egal.

„Verstehe“, sagte er nachdenklich und nickte mit dem Kopf die Gasse runter. „Na komm, dann helfe ich dir mal nach deinem Vermissten zu suchen.“

„Er ist nicht mein Vermisster. Ich kann ihn nicht mal leiden, aber ohne ihn sitze ich hier fest.“ Das musste ich einfach betonen.

Der kleine Bruder stieß wieder ein Lachen aus. Er schien das gerne zu machen. „Gut, dann lass uns mal gucken, wo wir unseren großen Jäger finden.“ Er ging ein paar Schritte, wartete dann aber, als er bemerkte, dass ich ihm nicht folgte. „Was ist?“

„Ähm …“ Wie sollte ich das am besten sagen?

Er zog eine Augenbraue nach oben. „Du hast doch nicht etwa Angst vor mir, oder?“

Hm, doch, das traf so ziemlich den Nagel auf den Kopf. Nachdem was ich gerade mit ihm durch hatte, war das ja wohl auch kein Wunder, doch das konnte ich ihm ja nicht einfach so sagen. Deswegen schüttelte ich den Kopf und schob noch ein „Nein“ hinterher.

„Na dann komm.“ Er lächelte mich an. „Sei unbesorgt, ich beiße schon nicht. Außer natürlich, du wünschst es.“

Ähm … ja. Darauf würde ich nichts erwidern.

Nur mit äußerstem Widerwillen, gesellte ich mich an seine Seite, hielt aber deutlichen Abstand zu ihm. Der Kerl war seltsam, irgendwie noch schlimmer als sein Bruder. Dem wollte ich sicher nicht zu nahe kommen. Also nicht noch mal.

„Ich bin übrigens Nick“, sagte er, als wir den Gang an den Zwingern vorbei gingen. „Eigentlich Niklas, aber alle nennen mich Nick.“

„Wenn ich jetzt behaupten würde, dass es mich freut dich kennenzulernen, müsste ich lügen.“

In seinen Augen funkelte der Schalk. „Du nimmst kein Blatt vor den Mund, wie?“

„Selten.“

Wir liefen an insgesamt sieben Zwingergassen vorbei, die alle zu beiden Seiten mit Proles gefüllt waren. Das mussten an die hundert, wenn nicht sogar noch mehr sein. „Was ist das hier eigentlich für ein Laden?“

Nick verzog nachdenklich den Mund. „Ich glaube, das sollte dir jemand anderes verraten.“

„Und warum nicht du?“

„Ich hab eine Verschwiegenheitsklausel unterschrieben.“

Nahm er mich jetzt auf den Arm, oder war das sein Ernst? Ich musterte ihn, aber dieses lächelnde Gesicht gab nichts preis. Ich hasste solche Menschen. Man wurde einfach nicht schlau aus ihnen.

Je weiter wir gingen, desto lauter wurden die Stimmen der anderen Männer und als wir die letzte Gasse passiert hatten, kamen wir in einen etwas anderen Bereich. Auf den ersten Blick wirkte das wie ein Aufenthaltsraum – so mehr oder weniger. Es gab ein paar Schränke und sogar eine ziemlich dreckige Küchenzeile, in der sich das schmutzige Geschirr nur so stapelte. Von der Ecke, mit dem überquellenden Mülleimer neben der Tür, wollte ich gar nicht erst anfangen.

In der Mitte gab es einen alten, wackligen Tisch, an dem fünf nicht zueinanderpassende Stühle standen. Drei davon waren mit Männern besetzt, die laut polternd und grölend ein Kartenspiel spielten. Ein Stück daneben stand eine Schubkarre mit rohem Fleisch, das nicht mehr so ganz frisch aussah. Und erst der Geruch. Ich musste stark an mich halten, um mir nicht die Nase zuzuhalten.

Die Typen an dem Tisch sahen alle ziemlich zwielichtig aus. Okay, Tattoos und Piercings machten noch lange keinen Kriminellen, aber die Ausstrahlung die sie hatten und das Gebaren, dass sie an den Tag legten, ließ mich wünschen, diesen Kerlen niemals bei Nacht in einer dunklen Gasse zu begegnen.

Und natürlich konnten wir auch nicht einfach an ihnen vorbeigehen, ohne dass sie uns bemerkten. Wäre ja auch zu einfach gewesen.

„Hey Nick“, rief der Schwarzhaarige mit dem kantigen Gesicht. Er wirkte ziemlich grobschlächtig. „Wen bringst du uns da mit?“

Bitte lass uns einfach weitergehen, bitte, bitte, bitte. Natürlich tat Nick mir diesen Gefallen nicht. Er blieb nicht nur stehen, nein, er legte mir auch noch den Arm um die Schulter, als wollte er den Kerlen beweisen, dass es das durfte. Durfte er aber nicht, deswegen schob ich seinen Arm gleich wieder runter und ging ein Stück auf Abstand.

Er grinste mich breit an. „Das hier ist meine neue Freundin Grace.“

„Ich bin nicht deine Freundin.“ Ich warf den zwielichtigen Kerlen einen kurzen Blick zu. „Ich suche nur Reese.“

„Wer ist Reese?“, fragte der Kerl, der mit dem ganzen Schmuck im Gesicht einen eigenen Metallwarenladen aufmachen konnte. Es war der gleiche, der eben noch seelenruhig beobachtet hatte, wie Nick mit einer Waffe vor meiner Nase rumgefuchtelt hatte.

„Man, sie redet von Tack“, sagte der Schwarzhaarige.

Der Dritte im Bunde, der mit der undefinierbaren Tätowierung an der Schläfe, grinste mich breit an. „Hey, Sweetheart, lass den Schönling stehen, uns komm zu mir. Ich kann dir zeigen, was ein richtiger Mann ist.“

Dem folgte ein äußerst dreckiges Lachen.

„Das bekommst du doch nicht mal bei deiner eigenen Frau hin“, konterte Nick. „Glaubst du echt, dass du es da bei so einem jungen Ding schaffst?“

„Oh, du würdest dich wundern, was ich alles schaffen kann.“

„Du meinst wohl, die würde dich schaffen“, sagte der Metallwarenladen. Die anderen lachten wieder.

Ich fühlte mich von Minute zu Minute unwohler. Okay, ich war es gewohnt mich unter hormongesteuerten Männchen zu bewegen, aber das hier war dann doch zu viel des Guten. „Können wir jetzt bitte Reese suchen?“

Nick grinste mich an, als wüsste er genau, was in meinem Kopf los war. „Mach dir nichts draus, die Jungs machen nur Spaß.“

„Ja, irgendwie scheint hier alles nur Spaß zu sein. Ein riesengroßer Witz sozusagen, dessen Pointe mir leider entgeht.“

„Hey, du nimmst mir das mit der Waffe doch nicht immer noch übel, oder? Ach komm schon, so schlimm war das doch gar nicht.“

„Reese“, erwiderte ich daraufhin nur. Meine Neugierde war verschwunden, ich wollte hier einfach nur noch schnell weg, aber dazu brauchte ich meinen Chauffeur.

Nick seufzte übertrieben gespielt. „Wenn Fräulein das wünscht, werde ich dem natürlich nachkommen. Komm, wir müssen hier entlang.“

Na endlich.

„Komm uns mal wieder besuchen, Sweetheart“, rief der Typ mit dem Tattoo mir noch hinterher, als ich hinter Nick durch die Tür in den dahinterliegenden Korridor folgte. Hier sah es nicht weniger schäbig aus als im Rest des Gebäudes, aber wenigstens stank es hier nicht ganz so furchtbar, wie in dem Aufenthaltsbereich. Dafür konnte ich aber an einigen Stellen der Wände Schimmelflecken entdecken, was das Ekelgefühl in mir nicht gerade besänftigte. Wenn das so weiterging, würde ich hier mir einem halben Dutzend Ekelpickel rausgehen. An diesem Ort waren die Spinnenweben in den Dachbalken wirklich noch das geringste Problem.

„Es ist gleich da vorn.“ Nick führte mich den schmalen Korridor bis fast zum Ende durch. Hier hinten gab es nur noch eine weitere Tür, die wohl mal ein Notausgang gewesen war. Jetzt allerdings sah sie so aus, als wäre sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt worden. Ob sie sich überhaupt noch öffnen ließ? Ich jedenfalls wollte im Notfall eines Brandes nicht auf sie angewiesen sein.

Vor einer Tür mit dem aufgemalten Schriftzug Büro, kamen wir zum Stehen.

Nicks Klopfen an der schäbigen Holz, wurde mit einem „Ja?“ zur Kenntnis genommen. Als er sie öffnete, lächelte er mich so strahlend an, dass ich davon fast geblendet wurde und ich musste mir unweigerlich die Frage stellen, ob er seine Zähne gebleicht hatte. Mal ehrlich, so weiße Zähne hatte doch wirklich niemand.

„Hey Tack, hier sucht dich jemand“, flötete er und schob mich praktisch in den Raum.

Zwei Gesichter in dem armseligen Büro wandten sich uns zu. Das eine gehörte Reese, der seine Augen erst ungläubig aufriss und sie dann zu wütenden Schlitzen verengte, bevor er eine gleichgültige Maske aufsetzte. Es machte den Anschein, als wollte er am liebsten von seinem Stuhl aufspringen, um die Tür vor meiner Nase zuzuknallen.

Der andere kam mit seinem Schnauzbart, dem reinweißen Hemd und dem verschlagenen Blick in dem markanten Gesicht, wie das Klischee eines Gangsters aus dem Fernseher rüber. Auch das falsche Lächeln passte dazu. Genau wie die Narbe über seinem Mund. Wie bei mir. Nur nicht schräg, sondern längs. Sie begann unter dem Auge und verlief bis runter zum Kinn.

Er saß auf einem knarzenden Bürostuhl, hinter einem Schreibtisch, der so protzig und plump war, dass er nur dazu gedacht sein konnte das männliche Ego ein wenig aufzupolieren. Auf dem Schrank hinter ihm stand ein kleiner Käfig, wie ich ihn für Kaninchen kannte und darin saß das kleine Fellknäuel, das wir vorhin erst eingefangen hatten. Der Jutesack lag jetzt leer auf Reese‘ Schoß.

Der Schreibtisch war nur mit wenigen Papieren bedeckt, aber das war auch nicht das wirklich Interessante. Daneben, fast am Rand, lag ein Stapel Geld. Und mit Stapel meinte ich Stapel. Mehrere Bündel zu einem kleinen Türmchen aufgehäuft. Das mussten mindestens … ich hatte keine Ahnung, wie viel Geld das war, ich wusste nur, dass ich noch nie so viel auf einmal gesehen hatte und es mir äußerst schwer fiel, nicht ständig drauf zu schielen.

Das drückende Gefühl in meinem Magen verstärkte sich. Erst die Arena, dann die Proles, dann wurde auch noch eine Waffe auf mich gerichtet und jetzt das.

Ich wollte hier weg und zwar ganz schnell.

„Hab ich dir nicht gesagt, du sollst im Wagen warten?“, fragte Reese in ziemlich gleichgültigem Ton, doch seine Augen erzählten etwas ganz anderes. Er war stinksauer darüber, mich hier zu sehen.

„Aber warum denn?“, kam es da von Mister Schnauzbart. „Etwas mehr Gesellschaft ist doch ganz nett.“ Er richtete den Blick auf Reese. „Möchtest du mir die hübsche, junge Dame nicht vorstellen?“

So wie er mich ansah, hätte er vermutlich lieber Scheiße gefressen. Trotzdem lehnte er sich entspannt auf seinem Stuhl zurück und sah zu diesem Kerl. „Taid, das ist Shanks, meine Freundin. Shanks, Taid.“

Bitte? Seine Freundin? Ich hatte mich wohl verhört. Der Kerl konnte mich nicht mal ausstehen! Ich machte den Mund auf, um das auf der Stelle richtig zu stellen, aber sein Blick warnte mich, nicht mal daran zu denken ihm zu widersprechen. Daher murmelte ich nur ein kleines „Freut mich Sie kennenzulernen“ und warf meinem Freund dann finstere Blicke zu.

„Ah, die Freude ist ganz meinerseits.“ Er neigte den Kopf zur Seite. „Ich wusste gar nicht, dass du im Moment vergeben bist.“

„Wir sind auch noch nicht so lange zusammen.“

Genaugenommen waren wir gar nicht zusammen.

„Und wie habt ihr euch kennengelernt?“, wollte er wissen. Ganz der Smalltalk-Profi. Nur irgendwie gefiel mir der lauernde Blick, den er dabei drauf hatte, nicht so besonders.

Reese zuckte nur nichtssagend mit den Schultern. „Sie arbeitet auch für die Gilde, ist seit heute sogar meine Partnerin.“

„Hm, Gilde also.“ Mister Schnauzbart richtete seinen nachdenklichen Blick auf mich. „Das wird doch keine Probleme geben, oder? Du weißt, ich mag keine Probleme.“

Reese zog eine Augenbraue nach oben. „Meinst du ich hätte sie mit hergebracht, wenn sie Probleme machen würde?“

„Auch wieder wahr.“ Dieser Taid lächelte auf eine Art, die mir gar nicht gefiel. Dann griff er nach dem Geldstapel und zählte aus dem obersten Bündel mehrere Scheine raus, die er Reese zuschob. „Hier, ich hab dir einen kleinen Bonus oben raufgelegt. Kauf deiner Freundin etwas Schönes.“

Mein Blick glitt von dem Geld zu dem Proles-Baby, das sich in die Ecke des Käfigs gekauert hatte und uns alle misstrauisch beobachtete. Oh Gott, das hier war doch nicht wirklich das, wonach es aussah, oder? Reese verkaufte Proles? Aber das war verboten!

„Klar, mach ich.“ Reese schnappte sich das Geld und ließ es flux in seinem Mantel verschwinden. Dann erhob er sich auch schon. „So, ich muss dann aber. Die Gilde wartet.“

„Und deine Freundin“, sagte Taid.

„Und meine Freundin“, wiederholte Reese, konnte den knurrenden Unterton aber nicht ganz aus seiner Stimme raushalten. Er winkte Taid noch beim Rausgehen und schob mich dann zurück in den Korridor. „Kein Wort!“, zischte er mir zu, als ich den Mund öffnen wollte.

Nick schloss die Tür zum Büro und grinste dabei so breit, als hätte er einen Clown zum Frühstück verspeist.

„Und du, wag es ja nicht zu lachen!“, fuhr er seinen kleinen Bruder an.

„Ach komm schon Tack, das kannst du mir echt nicht verübeln. Du und eine Freundin? Das ist echt der Brüller.“

„Ja, zum Einscheißen komisch“, grummele mein Lehrcoach und stampfte den Korridor entlang.

Mir brannten tausend Fragen auf der Zunge, die alle gleichzeitig ins Freie wollten, doch Reese Blick sagte mir, dass es ausnahmsweise wohl doch mal angebracht war, einfach zu schweigen.

Nick schloss zu seinem großen Bruder auf und mir blieb nichts anderes übrig, als den beiden zu folgen. Nun gut, ich hätte auch einfach hier bleiben können, doch das war eine Option, die ich wohl nur gewählt hätte, wenn mein Leben davon abhinge.

„Wenn du es aus meiner Sichtweise betrachtest“, sagte Nick, „dann ist es wirklich saukomisch.“

Oh, wenn Blicke töten könnten. „Warum hast du sie überhaupt zu Taid gebracht? Du hättest sie mit einem Arschtritt zurück in den Wagen befördern sollen und ihr keine Rundführung geben!“

„Ranz mich nicht so an.“ Nick hielt seinen Bruder am Arm fest, um ihn zum Stehen zu bringen, bevor er in den Aufenthaltsbereich treten konnte. „Scott hat sie gesehen und du weißt was er für ein Großmaul ist. Taid hätte von der Kleinen auf jeden Fall erfahren und mich dann sicher gefragt, warum ich sie nicht zu ihm gebracht habe. Glaubst du, ich riskiere meinen Arsch, nur weil du sie mit herbringen musstest?“

„Was hätte ich denn machen sollen? Sie wollte sich nicht abschütteln lassen“, verteidigte sich Reese.

„Willst du mich verarschen? Du lässt dir doch sonst von niemandem auf der Nase rumtanzen.“

„Die Kleine ist penetrant aufdringlich. Ich versuche sie schon den ganzen Tag loszuwerden, aber sie geht einfach nicht.“

„Hey, ich steh neben euch und kann jedes eurer Worte hören.“ Als die beiden sich mir zuwandten, zuckte ich mit den Schultern. „Wollt ich nur mal erwähnt haben.“

Nick lächelte, wie er es schon die ganze Zeit immer wieder tat. Es war schon fast ein Dauergrinsen. „Wir sollten uns dringend mal zu einem Kaffee treffen.“ Er streckte seine Hand nach mir aus, als wollte er meine Haarsträhne berühren, doch da schlug Reese seine Hand weg.

„Nimm deine Pfoten von ihr, sie ist noch minderjährig.“

„Wirklich?“ Nick guckte etwas zweifelnd, musterte mich von oben bis unten so intensiv, dass es schon unangenehm war. „So kommt sie aber nicht rüber.“

„Bin ich auch nicht“, fühlte ich mich verpflichten zu sagen. Soweit kam es noch. Erst schleppte er mich in diesen Schuppen, dann stellte er mich allen als seine Freundin vor und jetzt gab er mich auch noch als blutjunges Küken aus. Irgendwann reichte es ja wohl mal. Und ja, mir war sehr wohl bewusst, dass ich in dem einen oder anderen Punkt ein wenig übertrieb.

„Doch bist du“, widersprach Reese mir. „Und jetzt sei still.“ Dann wandte er sich seinem kleinen Bruder zu. „Ich muss noch mal kurz zur Gilde, danach komm ich dich abholen.“

„Klar.“ Er schlug ihm auf die Schulter, natürlich – wie sollte es auch anders sein – wieder mit dem Grinsen im Gesicht. „Lass dir Zeit, ich hab hier heute noch ein Weilchen zu tun.“

„Solange dieses unverschämt aufdringliche Huhn an meinem Hintern klebt, wird es wohl auch nicht allzu schnell gehen.“ Bevor ich gegen seine Beleidigung protestieren konnte, schob er mich an Nick vorbei in den Aufenthaltsbereich.

Die drei Männer waren verschwunden, genauso wie die Schubkarre. Aber sie waren nicht weg. Ich hörte sie irgendwo in den Zwingergassen miteinander reden und sobald wir den seitlichen Gang entlangliefen, sah ich sie auch wieder. Sie fütterten die Poles. Einer schob große Fleischbrocken durch eine Luke in den Zwinger, während die beiden anderen den einsitzenden Proles mit elektronischen Schlagstöcken auf Abstand hielten.

Nein, ich hatte kein Mitleid mit diesen Monstern. Trotzdem hätte ich gern meine Waffe gezogen und die Biester von ihrem Leben erlöst.

Wir betraten gerade die Arena, als ich erneut Antworten einfordern wollte, doch bevor auch nur ein Wort über meine Lippen kommen konnte, zischte Reese wieder: „Kein Wort!“

Ich kniff die Augen leicht zusammen. Seit wann ließ ich mir von solchen Blödmännern den Mund verbieten? „Dir ist klar, dass du mich damit nicht ewig hinhalten kannst?“

„Hab ich dir nicht gerade gesagt, dass du still sein sollst?“

„Ja, aber …“

Platsch und ich hatte seine Hand auf dem Mund. „Ruhe jetzt.“ Er sah mich sehr eindringlich an. „Das hier ist kein Ort für solche Gespräche, verstanden?“

Ich nickte und trat dann einen Schritt von ihm weg, damit seine Hand aus meinem Gesicht verschwand. Nun gut, wenn er es so wollte, dann würde ich eben warten bis wir im Auto saßen. Aber dann würde ich mir nicht mehr den Mund verbieten lassen – darauf konnte er Gift nehmen.

Reese warf mir noch einen warnenden Blick zu. Dann drehte er sich um und marschierte voran. An der großen Voliere vorbei, die Treppe der Tribüne hinauf, bis zur Tür. Dort wartete er einen Moment, bis ich ihn eingeholt hatte und schob mich dann praktisch aus dem Gebäude. Er trat hinterher und kaum dass die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, ging er auch schon auf mich los. „Verdammt, ich habe dir doch gesagt, du sollst im Auto warten!“

„Ist das das einzige, was dir dazu einfällt?“ Das war ja wohl nicht zu fassen. „Was hast du denn geglaubt, was ich mache, wenn du mit einem der Jungtiere in dem Lagerhaus verschwindest?!“

„Ich habe gehofft, dass du das tun würdest, was ich dir gesagt habe, wie es für artige, kleine Praktikanten üblich ist.“ Er schritt an mir vorbei auf seinen Geländewagen zu. „Nämlich im Auto warten.“

Na warte, Junge, so leicht würde ich mir nicht den schwarzen Peter zuschieben lassen. Ich schloss wieder zu ihm auf. „Bekomme ich jetzt eine Erklärung?“ Und die musste verdammt gut sein.

„Das hier geht dich nichts an, also halt dich da raus.“

„Das kannst du vergessen. Du sagst mir jetzt auf der Stelle, was hier los ist.“

Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, wandte er mir eine hochgezogene Augenbraue zu. „Sonst was?“

Ja, jetzt sollte ich mir ganz schnell eine gute Drohung einfallen lassen. Leider war ich in sowas noch nie besonders gut gewesen. „Sonst werde ich zu Jilin gehen und ihr hiervon erzählen. Darauf kannst du Gift nehmen.“ Seine Chefin würde sich sicher dafür interessieren, dass Reese die Proles verscheuerte wie andere Leute gebrannte CDs.

Reese zuckte die Schulter und blieb am Wagen stehen, um seine Taschen nach dem Wagenschlüssel abzusuchen. „Mach doch. Sie weiß nicht wie viele Jungtiere es waren und wenn ich behaupte, dass es nur drei waren, was denkst du wem sie eher glaubt? Ihrem Top-Venator, oder einer kleinen Praktikantin, die nach Aufmerksamkeit lechzt?“

Nach Aufmerksamkeit lechzt?! Dem ging es wohl zu gut! „Du hast illegal einen unbekannten Proles verkauft!“ Okay, Proles zu verkaufen war so oder so illegal, aber darum ging es hier ja gerade nicht.

Er sah warnend in meine Richtung. „Ich wäre dir wirklich sehr dankbar, wenn du das nicht so herumbrüllen würdest.“

Dafür bekam er einen bösen Blick. „Was? Jetzt soll ich auch noch die Klappe halten und so tun, als hätte ich davon nichts mitbekommen?“

„Das würde ich dir empfehlen.“

„Das kannst du vergessen. Ich werde dich bestimmt nicht bei deinen illegalen Machenschaften unterstützen. Jilin wird sich sicher dafür interessieren, dass du …“ Als er sich abrupt vor mich stellte, verstummte ich. In dem Moment wirkte er so bedrohlich, dass ich meine große Klappe einen Augenblick bereute.

„Nun pass mal genau auf, Shanks. Mit diesen Leuten da drin ist nicht zu spaßen, die mögen es nicht besonders, wenn man über ihre Aktivitäten aus dem Nähkästchen plaudert, also würde ich dir dringend empfehlen, die Klappe zu halten, wenn dir etwas an deinem Leben liegt.“

Ich schluckte, weigerte mich aber auch nur einen Schritt vor ihm zurückzuweichen. Er war nicht halb so furchteinflößend, wie die Leute da drin – zumindest redete ich mir das ein. „Du machst mir keine Angst.“

„Ob du es glaubst, oder nicht, ich will dir keine Angst machen, ich sage nur die Wahrheit.“ Er zog den Schlüssel aus der Manteltasche und schloss die Beifahrertür auf. „Und jetzt steig ein. Ich will endlich in die Gilde, um Feierabend zu machen.“

Ohne darauf zu warten, ob ich seinen Worten folgte, stieg er auf seiner Seite ein.

Ich blieb noch einen Moment stehen, fühlte mich nicht wohl bei den Gedanken die durch meinen Kopf rasten. Was sollte ich den jetzt tun? Sollte ich ihm glauben und die Klappe halten, oder doch zu Jilin gehen, weil das alles nur dummes Gerede war, um seine eigene Haut zu retten? Diese Leute da drinnen waren mir jedenfalls nicht ganz geheuer. Wenn ich nur daran dachte, wie Nick mit der Waffe auf mich gezielt hatte, wurde mir wieder ganz anders. Ich war noch nie mit einer Waffe bedroht worden und ich hatte seit meiner Ausbildung zum Venator wöchentlich damit zu tun.

Gott, was sollte ich nur machen?

„Shanks“, rief Reese aus dem Wagen. „Bitte steig endlich ein.“

Vielleicht war es das Zauberwort, vielleicht auch der müde Unterton, aber ich folgte seiner Bitte, kletterte auf den Beifahrersitz und schlug die Tür zu.

Reese startete mit einer Zigarette im Mund den Wagen und fuhr uns langsam aus dem Hafen heraus zurück in die Stadt. Dabei telefonierte er kurz mit der Gilde, um unseren Status durchzugeben. Ja, wir lebten noch und hatten die Jungtiere gefunden. Es waren drei Stück.

Dann war es eine ganze Weile still, bis sich in meinen Gedanken eine deutliche Frage herauskristallisierte.

„Wenn diese Leute so gefährlich sind, warum gibst du dich dann mit ihnen ab?“

Er zog ein letztes Mal an seiner Kippe, und schnipste sie dann aus dem Fenster. „In der Gilde verdient man nicht besonders viel.“

„Also geht es hier nur ums Geld“, stellte ich fest.

„Es geht immer ums Geld, Shanks.“ Er sah durch die Wundschutzscheibe hinaus in die nächtliche Dunkelheit. „Immer.“

 

°°°

 

Eines der Babys sprang knurrend gegen das Gitter, als ich die Tür zur Gilde für Reese aufhielt. Er zuckte nicht mal mit der Wimper, obwohl es seine Finger waren, die die kleinen anknabbern könnten. Ich an seiner Stelle hätte wahrscheinlich den Käfig fallen gelassen, er jedoch betrat einfach an mir vorbei das Gebäude.

„Auf meinem Schreibtisch in der Ablage sind Vordrucke für die Berichte. Füll sie aus soweit du kannst, ich unterschreibe sie dann später.“

Ich sah über den langen Tresen hinweg in den Arbeitsbereich mit den tausend Schreibtischen. Manche von ihnen waren auch um diese Zeit besetzt und Madeleine hing immer noch am Computer. „Welcher ist dein Schreibtisch?“

Dass er nicht die Augen verdrehte, lag wohl einzig daran, dass er nicht der Typ dafür war. „Ich würde es mit dem probieren, auf dem mein Namensschild steht.“ Damit verschwand er in den hinteren Bereich nach links aus meinem Sichtfeld, um die Jungtiere in den Keller zu bringen.

Eine große Hilfe war er ja nicht gerade. Wie sollte ich unter den fünftausend Schreibtischen denn bitte seinen ausmachen? „Das macht er doch nur, um mich zu ärgern“, murmelte ich angesäuert und warf den Müll aus seinem Wagen in den Mülleimer am Tresen. Jetzt war alles wieder sauber und ich hoffte, dass es das auch noch sein würde, wenn ich morgen wieder bei ihm einstieg.

Hinter ihrem Bildschirm blicke Madeleine auf. „Sein Schreibtisch ist der siebte in der Fensterreihe.“ Bei meinem dankbaren Blick grinste sie mich an und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. „Ich bin erstaunt, euch beide hier zusammen zu sehen.“

„Glaub mir, das war auch ein hartes Stück Arbeit.“

Madeleine grinste. „Das kann ich mir gut vorstellen, denn Tack kann … Moment.“ Sie tippte an ihr Headset. „Gilde der Venatoren, was kann ich für Sie tun?“ Sie lauschte einen Moment, gab mir dann ein Zeichen, dass das ein bisschen dauern könnte und begann auf ihre Tastatur einzuhämmern. „Gibt es Verletzte?“

Ich überließ sie ihrer Arbeit und machte mich auf die Suche nach Reese' Schreibtisch. Der siebte in der Fensterreihe. Das Finden gestaltete sich als sehr einfach. Nicht weil ich das Namensschild las, oder weil ich von Madeleine den Standort hatte, nein, ich musste einfach nur den unordentlichsten Tisch in dem ganzen Raum auswendig machen. Zwar waren es hier überwiegend Aktenordner, Papiere, Briefe und Bürozubehör, die den einfachen Holzschreibtisch unter sich begruben, doch auch hier fand ich Müll. Zwei benutze Tassen, die dem Kaffeerand zufolge schon sehr lange hier stehen mussten. Leere Zigarettenschachteln, Verpackungsmüll. Selbst der dafür vorgesehene Eimer war so voll, dass dort nichts mehr reinpasste.

Sollte ich das jetzt etwa auch alles sauber machen? Gott, nein, darauf hatte ich jetzt absolut keine Lust! Ich war doch nicht seine persönliche Putzfrau. Aber es störte mich, sogar gewaltig. Trotzdem ließ ich den Müll einfach liegen und machte mich daran, die Ablage nach den Vordrucken abzusuchen. Ich war einfach zu müde und der Müll wäre morgen sicherlich auch noch da. Leider.

Zu meiner Überraschung waren die Papiere in der Ablage sehr gut sortiert, sodass ich die Formulare ohne Probleme finden konnte. Zwei Handgriffe später hatte ich mir auch ein wenig Platz auf dem Schreibtisch freigeräumt und konnte mich auf den Drehstuhl setzen, bereit meine Aufgabe in Angriff zu nehmen. Doch als ich mich mit einem Kuli in der Hand vorbeugte, um die erste Zeile auszufüllen, tat sich vor mir auch schon das erste Problem auf. VR-Nummer, oder anders gesagt, die Nummer unter der der Venator beim Verband gemeldet war. Ich hatte noch keine Nummer, weil ich ja noch nicht fertig ausgebildet war und die von Reese kannte ich nicht. Okay, er hatte ja auch gesagt, ich sollte nur das ausfüllen, was ich konnte, nur leider war das nicht sehr viel, wie ich mir nach einer kurzen Übersicht eingestehen musste. Ich konnte nicht mal die Art des getöteten Proles eintragen, da es ja ein unbekannter Typus war. Nicht mal die Stammgruppe wusste ich. Sollte ich vielleicht genau das reinschreiben?

Lippenkauend starrte ich auf das Blatt und warf letztendlich den Stift auf den Schreibtisch. Gott, ich brauchte eindeutig Hilfe. Ob ich einen der anderen Venatoren fragen sollte? Ich ließ meinen Blick unauffällig durch den Raum schweifen. Aber davon abgesehen, dass mir keines der Gesichter bekannt vorkam, war es doch auch Reeses Aufgabe als Lehrcoach, mich bei solchen Problemen zu unterstützen, oder?

Apropos, wo steckte der Kerl eigentlich? So lange konnte es doch gar nicht dauern, die Jungtiere nach unten in den Keller zu bringen, wo sie verwahrt werden würden, bis sie nach Historia kamen. Wieder schweiften meine Augen in dem nun ziemlich ruhigen Raum umher. Hatte er sich etwa unbemerkt aus dem Staub gemacht und ließ mich jetzt allein auf den Berichten sitzen? So wirklich konnte ich mir das nicht vorstellen, doch zuzutrauen wäre es ihm durchaus. Schon allein aus Rache, weil ich in sein Leben getreten war.

Ich war bereits vom Stuhl aufgestanden und halb durch den Raum, bevor ich mich überhaupt richtig dazu entschlossen hatte, ihn zu suchen. Aber da ich nun eh schon auf den Beinen war, konnte ich das gleich in Angriff nehmen. Außerdem musste er mir dringend bei den Berichten helfen.

Doch bis zu dem Keller kam ich gar nicht erst. Schon als ich in den angrenzenden Korridor mit den Büros trat, hörte ich ihn laut fluchen und schimpfen. Und zwar nicht aus Richtung Treppe, sondern vom anderen Ende, aus Jilins Büro. Auch die leise gemurmelte Erwiderung von der Meistervenatorin konnte ich hören. Naja, zumindest hörte ich, dass sie etwas erwiderte.

„Ist mir scheiß egal!“, wütete Reese weiter. „Ich will keine penetrante Praktikantin!“

Die redeten da über mich!

Nach dieser Erkenntnis wäre es wohl das angebrachteste gewesen, zum Schreibtisch zurückzukehren und dort zu warten, bis die beiden ihre Unterredung zu Ende geführt hatten – besonders da mich meine Neugierde heute schon in Schwierigkeiten gebracht hatte. Und trotzdem folgte ich Jilins ruhigen Worten bis zur offenen Bürotür.

Nein, ich versteckte mich nicht, um unbemerkt zu bleiben, ich lehnte mich mit verschränkten Armen in den Türrahmen, sodass zumindest Jilin mich sehen konnte.

Reese stand mit dem Rücken zu mir. Die Arme auf den Schreibtisch gestützt, ließ er den Kopf hängen und schüttelte ihn leicht.

„… nicht mehr, Tack“, sagte sie gerade. „Es ist lange her und keinem der anderen hätte ich das durchgehen lassen. Aber jetzt ist meine Geduld mit dir am Ende. Ich habe dir die Wahl gelassen, jetzt tust du was ich sage.“ Sie ließ ihren Blick kurz zu mir huschen, gab aber ansonsten kein Zeichen meiner Anwesenheit.

Er schnaubte. „Tolle Wahl. Sie oder einen anderen Idioten.“

„Es war eine Wahl.“

Seine Schultern schienen noch ein wenig in sich zusammen zu sacken. „Warum tust du mir das an?“, fragte er leise.

„Tack“, sagte sie mitfühlend. „Ich weiß dass dir das mit Maggie …“

„Das hat nichts mit Maggie zu tun!“, fuhr er ihr über den Mund. „Shanks ist einfach …“ Er gestikulierte mit der Hand in der Luft herum, als wüsste er nicht genau, mit welchem Adjektiv er mich betiteln sollte, da er das Wort penetrant ja bereits benutzt hatte. „Heute ist ihr erster Tag und schon wurde sie verletzt!“

Maggie? Den Namen hatte ich heute doch schon mal gehört, oder?

„Künstlerpech“, erwiderte Jilin ruhig. „Sie ist die Beste der …“

„Das ist mir scheißegal! Und wenn sie die Nationalhymne furzen könnte, sie wird da draußen irgendwann drauf gehen und ich will nicht daran schuld sein!“

Jilin ließ sich von Reese auflehnender Art nicht beeindrucken. Völlig entspannt lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Dabei machte sie ein Gesicht, als müsste sie ein trotziges Kind liebevoll maßregeln. „Ich kann mich noch gut an einen jungen Unruhestifter erinnern, über den dasselbe gesagt wurde, ja über den sogar ich das gesagt habe. Nur eine hat ihn nicht gleich aufgegeben.“

„Lass Maggie aus dem Spiel.“

„Hier geht es nicht um sie, hier geht es darum, dass die ganze Gilde nach einem Tag gesagt hat, du taugst nicht zum Venator und ich überlegt habe, dich nach der Sache mit Herrn Escano noch am selben Tag rauszuschließen.“

„Ich weiß“, knurrte er unwillig. „Ich erinnere mich noch sehr gut an dieses Gespräch. Aber das ist mit Shanks nicht zu vergleichen. Sie ist nur ein kleines Mädchen.“

„Ein kleines Mädchen, das dir vermutlich den Arsch versohlen kann, wenn sie es darauf anlegt.“ Jilin richtete ihren Blick auf mich. „Nicht wahr, Grace?“

Sobald mein Name ihren Mund verlassen hatte, wirbelte Reese überrascht herum, nur um mich dann finster anzustarren. „Was willst du hier?“

Warum fragte er das so misstrauisch? Glaubte er etwa, ich sei hergekommen, um Jilin über seine außerdienstlichen Aktivitäten zu unterrichten? Natürlich, eigentlich müsste ich das machen, es wäre meine Pflicht, aber nachdem was er mir gesagt hatte … ich war mir einfach noch nicht sicher, wie ich mit dieser Information verfahren sollte. Dieser Taid hatte nicht gerade wie der nette Kerl von nebenan gewirkt und die Begegnung mit Nick steckte mir noch immer in den Knochen. Außerdem hatte ich seine Worte nicht vergessen.

Ich war unsicher, wie ich das Gesagte einordnen sollte. Vielleicht hatte er ja doch nur versucht mir Angst einzujagen, aber was wenn nicht? Wollte ich wirklich das Risiko eingehen, mich mit diesen Leuten anzulegen? Dieser Taid war mir absolut nicht geheuer.

„Hast du jetzt auch noch das Sprechen verlernt?“, fragte er herablassend, als ich nicht sofort etwas erwiderte.

Ich setzte eine besonders finstere Miene auf. „Nein, stell dir vor, habe ich nicht. Ich habe dich gesucht, weil ich Probleme mit den Berichten habe.“ Und weil ich vermutet hatte, dass er sich heimlich aus dem Staub gemacht hatte. Aber diese Kleinigkeit behielt ich doch lieber für mich.

„Ein totes Muttertier und drei Jungtiere unbekannten Typus.“

Wie er das sagte, Drei. „Stell dir vor, ich kann schon seit der ersten Klasse zählen. Ich weiß genau wie viel drei sind.“

Wenn es möglich war, schaute er nach dieser Anspielung noch finsterer und drehte sich dann zu Jilin herum. „Siehst du und damit muss ich mich schon den ganzen Tag abgeben. Dagegen war ich ja ein Chorknabe gewesen.“

„Chorknaben sind meist die schlimmsten Vertreter der männlichen Gattung.“ Jilin lehnte sich wieder nach vorne und verschränkte die Hände auf dem Schreibtisch. „Und damit ist diese Diskussion jetzt auch beendet. Tack, du hattest die Wahl, entweder ein neuer Partner, oder einen Praktikanten und da du eine Entscheidung konsequent abgelehnt hast, habe ich sie nun für dich getroffen. Es ist einfach zu gefährlich, dich allein jagen zu lassen und mit einem Praktikanten hast du jemanden, den du herumkommandieren darfst, also finde dich damit einfach ab, denn ich werde sie nicht ausschließen, nur weil in der Vergangenheit vieles nicht so gelaufen ist, wie wir es uns gewünscht hätten.“

Er drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und fixierte einen Punkt an der Wand.

„Und nun zu dir“, wandte sie sich an mich. „Stellt Tack dir noch einmal die Frage, ob du verletzt bist und du lügst ihn an, um nicht in deinem Stolz verletzt zu werden, dann war das die letzte Lüge gewesen, die du als Praktikantin ausgesprochen hast. Ich habe es dir bereits heute Morgen erklärt. Seid ihr nicht voll einsatzfähig, ist es lebensgefährlich, Proles zu jagen. Schon bei völliger Gesundheit ist es nicht ganz einfach heil von einer Jagd zurückzukehren, doch verletzt sinken deine Chancen nochmal erheblich. Haben wir uns verstanden?“

Widerwillig nickte ich und schob noch ein „Ja“ hinterher. War ja klar gewesen, dass dieser Blödmann diese Karte ausspielen musste, um mich loszuwerden.

„Gut, dann denke ich, wir haben alles besprochen. Macht die Berichte fertig und verschwindet nach Hause. Ich will das ihr morgen ausgeschlafen seid.“

„Nein“, sagte Reese. „Ich mache es allein.“

„Aber ich …“

„Gott, kapierst du es nicht?“, fuhr er mich sofort an. „Du gehst mir extrem auf den Sack und wenn ich sage, ich mach es allein, dann ist das für dich das Zeichen zu verschwinden und mich nicht weiter zu nerven!“

Ich sah hilfesuchend zu Jilin, doch die zuckte nur mir den Schultern, ganz nach dem Motto: Wenn er es schon allein machen will, was machst du dann noch hier? „Okay“, sagte ich zögernd. Es gefiel mir absolut nicht, einfach weggeschickt zu werden. Ich erledigte meine Arbeit immer gewissenhaft und ließ nie etwas liegen, bis ich fertig war. Aber wenn ich mich nun sträubte, würde das mein Verhältnis zu Reese sicher nicht verbessern. „Ich bin dann morgen um acht wieder hier.“

„Nein“, widersprach er mir sofort. „Du stehst um acht bei mir vor der Haustür, weil ich wegen dir, vor meiner Schicht, sicher nicht noch extra in die Gilde fahren werde, verstanden?“

War das sein Ernst? Ein weiterer Blick zu Jilin zeigte mir, dass sie sich bereits wieder den Papieren auf ihrem Tisch gewidmet hatte und ich das hier allein bewerkstelligen musste. „Dann musst du mir aber noch deine Adresse geben, damit ich …“

„Du tust doch immer so schlau, also finde sie allein raus.“ Damit stampfte er an mir vorbei aus dem Raum und ich konnte nichts weiter tun, als ihm hinterherzusehen.

Verärgert drückte ich die Lippen zusammen. Wie bitte sollte ich seine Adresse rausbekommen?

„Es ist nichts Persönliches“, sagte Jilin leise. „Tack kommt mit anderen Menschen einfach nicht gut klar.“

„Er ist aber nur zu mir so.“

„Und das wundert dich?“ Sie sah von ihren Papieren auf. „Er ist ein Einzelgänger und du dringst in seinen Bereich ein. Nenn es meinetwegen Revierverhalten. Zusätzlich ist er noch dagegen, dass Frauen Venator sind, einfach weil unsere Sterberate viel höher ist, als die der Männer. Wo der Mann noch mit roher Körperkraft weiter kommt, müssen wir listig sein und leider hat er lernen müssen, dass auch die besten Venatorinnen trotz aller Listen den Kampf verlieren können.“

„Maggie“, sagte ich, als mir der Name in den Sinn kam.

„Ja, Maggie.“ Sie seufzte. „Sie war seine Partnerin und ist in seinen Armen gestorben. Der Angriff eines Candir. Er gibt sich bis heute die Schuld daran, obwohl er es nicht hätte verhindern können.“

War sie wirklich nur seine Partnerin gewesen, oder vielleicht doch mehr? „Das heißt, er hat eigentlich nur Angst, dass mir etwas passiert?“

„Nein.“ Jilin griff nach ihrem Notizblock und schrieb ein paar Zeilen darauf. „Tack fürchtet sich davor zu sehen, dass dir etwas passiert und es nicht verhindern zu können. Dabei geht es weniger um dich, als mehr um die Tatsache, dass er dabei sein könnte und damit für dich verantwortlich wäre, wenn du verstehst was ich meine.“

Ja, ich verstand.

„Deswegen hat er das letzte Jahr jeden Partner, der ihm zugeteilt wurde, innerhalb des ersten Tages vergrault.“

„Darin ist er ziemlich gut.“

Jilin riss lächelnd den obersten Notizzettel ab und reichte ihn mir. „Möchtest du mich etwa bitten, dich doch jemand anderem zuzuteilen?“

„Nein.“ Ich griff den Zettel. Eine Adresse.

„Hätte mich jetzt auch gewundert.“ Sie verschränkte die Hände wieder auf dem Schreibtisch. „Dort wohnt Tack mit seinem kleinen Bruder.“

„Nick“, sagte ich völlig unbedacht.

Überrascht hob sie die Augenbraue. „Er hat dir von ihm erzählt?“

„Nein, ich habe …“ Ich stockte, als ich im Begriff war etwas auszuplaudern, das besser im Verborgenen bleiben sollte. „… ein Foto gesehen“, schloss ich hastig.

„Ein Foto?“

„Ja, ein Foto. Ich … in seinem Wagen, da lag ein Foto und ich hab ihn gefragt, wer das ist.“ Gott, ich war eine miserable Lügnerin.

Jilin sah nicht wirklich überzeugt aus, beließ es aber dabei. „Wie dem auch sei, ich hab noch einen guten Rat für dich. Tack ist nach dem Aufstehen unausstehlich, aber es gibt einen kleinen Trick mit dem du ihm den Morgen versüßen kannst.“

„Ich bin ganz Ohr.“ Alle Tipps, die zur Verbesserung unserer Beziehung beitrugen, waren bei mir gerne gesehen.

„Kaffee“, sagte sie. „Bring ihm morgen früh einen mit. Er wird wahrscheinlich nicht Danke sagen, aber er wird diese Geste zur Kenntnis nehmen.“

„Und dann wird er nicht den ganzen Tag auf mir rumhacken?“

Das ließ ihren Mundwinkel zucken. „Doch wird er, aber ohne Kaffee wird es noch schlimmer sein.“

Na das waren doch mal fantastische Aussichten.

„Und jetzt raus aus meinem Büro. Es ist spät und ich habe noch einiges zu tun.“

Das war eindeutig ein Rauswurf gewesen. „Gut, wir sehen uns dann … ähm … wir sehen uns.“

Zum Abschied hob sie nur noch halbherzig die Hand. Damit war ich wohl entlassen.

Ich verließ das Büro und steckte dabei den Zettel mit der Adresse in meine Jackentasche. Den Korridor entlang ging es zurück in den großen Arbeitsbereich, in dem ich Reese an seinem Schreibtisch entdeckte. Irgendwo, vergraben in dem Berg aus Akten, Papieren und Müll, füllte er tief über den Zettel gebeugt den Vordruck der Berichte aus.

Eigentlich würde es schon die Höflichkeit gebieten, dass ich ihm noch tschüss sagte, aber das würde er sicher nur wieder als Störung seiner Privatsphäre empfinden. Über diesen Kerl konnte ich wirklich nur noch den Kopf schütteln, dennoch behielt ich ihn beim Hinausgehen im Auge. Das Gespräch mit Jilin verweilte noch frisch in meinem Gedanken und ich kam nicht umhin mich zu fragen, was diese Maggie für ihn gewesen war. Er hatte ziemlich stark auf ihren Namen reagiert und ihr Tod musste ihn tief geprägt haben. Wie sonst war seine Abneigung gegen Frauen als Venatoren zu erklären?

Vielleicht einfach damit, dass er ein Idiot war.

Ich verabschiedete mich noch von Madeleine, die noch immer am Telefon hing – oder schon wieder – und trat raus in die klare Herbstluft der Nacht. Gott, es war wirklich spät geworden. Die Uhr auf meinem Handy zeigte mir, dass wir es bereits nach zehn hatten. Würde das jeden Tag so sein, oder war das heute eine Ausnahme? Bis auf Jilin und Madeleine schienen alle von der Frühschicht bereits Feierabend gemacht zu haben. Ja, auch meine Mitpraktikanten. Die Glücklichen.

Mit einem tiefen Seufzen machte ich mich auf zur Bushaltestelle und war glücklich, dass ich dort nur ein paar Minuten warten musste. Jetzt wo der Tag vorbei war, spürte ich die Müdigkeit in all meinen Knochen. Reese hatte schon recht, wie ich mir im Bus eingestand, draußen auf der Jagd zu sein war wirklich etwas anderes, als zu geregelten Zeiten in der Beluosus Akademie zu lernen. Und mit so einem Lehrcoach war es gleich doppelt so schwer.

Eigentlich hatte ich mir den Tag ganz anders vorgestellt und war schon ziemlich enttäuscht von dem Erlebten. Andererseits hatte ich ein paar Dinge gelernt. Nicht nur über den Blödmann, nein, auch über Hustensaft und dass das Wissen aus Büchern nicht unbedingt ausreichte, um eine Jagd erfolgreich abzuschließen.

Ich sinnierte gerade darüber, ob es morgen genauso ablaufen würde, oder vielleicht sogar noch schlimmer werden könnte, als mein Handy klingelte. Ein kurzer Blick darauf zeigte mir, dass es Eve war. Wahrscheinlich wunderte sie sich, dass sie bis jetzt noch nichts von mir gehört hatte. Ich nahm den Anruf entgegen und hielt mir das Handy ans Ohr. „Hey, Kleine.“

„Grace, oh Gott, oh Gott, oh Gott, ist alles okay bei dir?“

„Ja, klar. Tut mir leid dass ich mich bis jetzt noch nicht gemeldet habe, aber ich hab gerade erst Feierabend machen können.“ Ich lehnte meinen Kopf an die kühle Fensterscheibe und schloss einen Moment die Augen. Jetzt wo ich zur Ruhe kam, merkte ich erst, wie müde ich wirklich war.

„Du bist noch nicht zu Hause?“

„Nee. Ich sitze im Bus, noch eine Station.“ Weswegen ich jetzt nicht einschlafen sollte.

„Puh, ein Glück und ich dachte schon, ich müsste mir Sorgen um dich machen.“ Es knisterte in der Leitung. Vermutlich futterte sie mal wieder Chips, die einzige wahre Nahrung, wie sie es immer nannte.

Ich erinnerte mich noch genau an die Diskussion, die wir einmal darüber geführt hatten. Damals, als wir einen Filmeabend bei Dom gemacht hatten. Er war beleidigt gewesen, weil sie die Chips nicht hatte teilen wollen, obwohl es eigentlich seine gewesen waren.

Irgendwann verstopft dir das fettige Zeug deine Arterien und dann bekommst du überall Pickel.“

Oder du wirst fett“, fügte ich hinzu.

Wenn das passiert, dann hör ich auf das Zeug zu futtern.“ Und um das zu demonstrieren, griff sie noch mal in die Knistertüte.

Ich zog skeptisch eine Augenbraue nach oben. „Du hörst dann auf Chips zu essen?“

Quatsch, ich gebe doch meine Chips nicht auf. Ich esse dann nichts mehr von dem ganzen anderen Zeug.“

Das kaufte ich ihr glatt ab. So wie sie drauf war, brachte sie das wirklich fertig.

„Und?“, riss sie mich kauend aus meinen Gedanken. „Wie war dein erster Tag?“

Wie sollte ich das beschreiben? „Absolut nicht so, wie ich ihn mir vorgestellt habe.“ Das traf es wohl so ziemlich auf den Punkt.

„Ich weiß genau, was du meinst“, erwiderte sie und wieder knisterte die Tüte.

Das konnte ich mir nicht vorstellen.

„Als ich in die Venatorwache gekommen bin, wurde ich von so einer voll unhöflichen, uralten Schrulle in Empfang genommen. Die hat mich dann erst mal mit nach hinten genommen, wo sie mir eine Uniform verpasst haben. Du weißt schon, diese blauen Ganzkörperanzüge, die aussehen, als hätte sich ein Star Trek Anzug mit der Kleidung eines Astronauten gepaart.“

Dieser Vergleich ließ mich leise kichern, während ich meinen Arm nach dem Halteknopf ausstreckte und aufstand. Aber so ganz Unrecht hatte sie leider auch nicht. Noch ein Grund, warum ich diese Dinger nicht anziehen wollte.

„Dann hat sie mich in so einen Konferenzraum gebracht, wo die anderen schon gewartet haben und wir mussten uns vom Chef erst mal einen stundenlagen Vortrag über Regeln, Sicherheit und Respekt anhören. Ehrlich, damit ist der halbe Vormittag draufgegangen.“

Der Bus bremste langsam ab und kam mit einem leisen Quietschen am Straßenrand zum Stehen. Heute warteten keine angriffslustigen Pfützen auf mich, also konnte ich getrost aussteigen und auf die andere Straßenseite zum Haus meines Onkels eilen.

„Und ich glaube auch, dass er nur aufgehört hat zu quatschen, weil dann Mittagspause war.“

„Sicherheit ist wichtig, Eve.“ Ich sah nach links und rechts und lief dann schnell über die Straße. Sowohl im Wohnzimmer, als auch das Küche sah ich durch die Fenster Licht. Hätte mich auch gewundert, wenn mein Onkel schlafen gegangen wäre, bevor ich Zuhause war.

„Ja, aber doch nicht drei Stunden.“

Den kurzen Weg die Straße entlang fummelte ich meinen Schlüssel aus der Tasche, während am anderen Ende wieder die Tüte knisterte.

„Nach der Mittagspause wurde es dann aber endlich besser, da wurden wir dann unseren Lehrcoachs zugeteilt. Meiner heißt Benedikt. Ist ein ganz netter Kerl, so um die dreißig, würde ich sagen. Aber seinen Partner mag ich nicht. Der hält sich für sooo lustig und dabei sind seine Witze einfach nur traurig. Ich hab es kaum geschafft, einen Mundwinkel zu heben, so erbärmlich war das.“

Mit dem Handy zwischen Schulter und Kopf eingeklemmt, schloss ich die Haustür auf und war schon dabei mir die Schuhe von den Füßen zu streifen, da war sie noch gar nicht wieder richtig zugefallen.

„Und der ist sooo ein Schussel. Ich versteh gar nicht wie der seine Ausbildung geschafft hat.“

„Grace?“, hörte ich da meinen Onkel, der gleich darauf den Kopf aus dem Wohnzimmer steckte. Ich hob die Hand zum Gruß und zeigte dass ich am Telefonieren war, bevor ich meine Jacke abstreifte. Er nickte nur und verschwand wieder nebenan.

„Wird schon einen Grund haben“, erwiderte ich auf Evangelines Worte. „Schließlich nehmen die da nicht jeden Volltrottel.“

Ich trat in die Küche, die zu meiner Verwunderung trotzt heller Erleuchtung leer war und machte mich gleich über den Kühlschrank her. Man, jetzt wo ich das ganze Essen vor der Nase hatte, schob ich richtig Kohldampf.

„Also wenn ich Mace so sehe, kann ich das nicht glauben. Naja, er ist ja auch noch nicht so lange dabei, hat seinen Abschluss vor nicht mal einem Jahr gemacht.“ Wieder knisterte es und dann kaute sie mir lautstark ins Ohr. „Aber auch egal. Gegen Mittag sind wir dann endlich mal aus der Wache rausgekommen und zu unserem ersten Auftrag gefahren. Leider war das nicht so toll. Eigentlich haben wir die Stadt nur abgefahren, um die Fallen zu kontrollieren. Bei uns Frischlingen wollen sie es langsam angehen lassen – so ihre Worte.“ Sie schnaubte. „Als wenn wir noch nie einem leibhaftigen Proles gegenübergestanden hätten.“

„Frischlinge?“ Ich lachte und zog eine Schüssel aus dem Kühlschrank, in dem noch die Reste vom gestrigen Mittagessen waren. „Sei glücklich darüber. In der Gilde werden die Praktikanten Grünschnäbel genannt. Das finde ich extrem abwertend.“

„Naja, wenigstens benennen sie euch nicht nach kleinen Wildschweinen.“

Da war etwas Wahres dran. Ich schob die Glasschüssel in die Mikrowelle auf der alten Holzanrichte und stellte sie auf drei Minuten. Das musste reichen.

„Aber wo wir jetzt schon mal bei dir sind, wie war dein erster Tag? Du warst ja wirklich lange unterwegs.“

Bei der Erinnerung daran, bekam ich gleich wieder schlechte Laune. „Das wirst du mir niemals glauben.“

„Stell mich auf die Probe.“

Das konnte sie haben.

Während ich meinem Essen in der Mikrowelle beim Drehen zusah, begann ich ihr zu erzählen, wie mein Tag begonnen hatte. Das Betreten der Gilde, die Unterhaltung mit Jilin und wie wir auf unsere Lehrcoachs verteilt wurden. Schade nur, dass einer zu wenig dagewesen war.

Ich nahm mein Essen aus der Mikrowelle und setzte mich damit an den Tisch. Der Bericht ging weiter über die Waffenausgabe, Foto und wie Max mich zu Reese gefahren hatte. Aber der ersten Begegnung mit meinem Lehrcoach erzählte ich etwas genauer und sie gab an genau den richtigen Stellen die richtigen Kommentare ab, um mich über die Gemeinheiten des Lebens hinwegzutrösten.

Erst als Evangeline ein fassungsloses „Wirklich? Mager?!“ von sich gab, hielt ich einen Moment inne und kratze die Reste meines Essens in der Schüssel zusammen.

„Ja, wirklich. Und dann hat er doch tatsächlich behauptet, ich will nur Venator werden, weil ich flach wie ein Kerl bin und deswegen glaube, einer zu sein. Das war für ihn wohl die einzig logische Erklärung, warum sich ein Mädchen diesen Weg zumutet.“

Sie schnaubte. „Na da bist du aber an ein richtiges Schätzchen geraden.“

„Du hast nicht die geringste Ahnung.“ Ich steckte mir die letzten Reste in meinen Mund und schluckte sie schnell runter, um dann eilig weiterreden zu können. „Aber das Heftigste war gewesen, als er mir gesagt hat, ich soll aufhören zu lächeln, weil das gruselig aussieht. Oder dass ich krepieren soll, aber bitte nicht in seiner Gegenwart.“

Evangeline schnappte empört nach Luft. „Das hat er nicht gesagt.“

„Und wie er das gesagt hatte. Und als ich dann verletzt wurde …“

„Du wurdest verletzt?!“

Ups, hatte ich das noch gar nicht gesagt? „Ja, aber nicht schlimm, nur ein Kratzer an der Hüfte. Das war sowieso das Highlight des Tages. Der Proles den wir gejagt haben, war Typus Unbekannt. Ich tippe auf eine Mutation eines Amph.“

„Wirklich? Wow und das gleich am ersten Tag. Das ist ja der Wahnsinn!“

„Ja, aber …“ Ich stoppte mich bevor ich meinen Gedanken weiter aussprechen konnte.

„Aber was?“

Aber das war nicht der einzige Proles unbekannten Typus, das ich heute gesehen habe. Meine Gedanken kehrten in die Lagerhalle zurück. An die Arena, die Zwinger, die halb toten Abkömmlinge und die Leute da. Nick, Taid. Sollte ich Evangeline davon erzählen? Sie würde sicher den Schock ihres Lebens bekommen, wenn sie erführe, dass ich mit einer Waffe bedroht worden war.

„Grace? Bist du noch da?“

„Ja, ich …“ Nein, ich konnte es ihr nicht sagen. Wenn sie nun zu ihrem Chef ginge, oder zu Herr Keiper.

Mit diesen Leuten da drin ist nicht zu spaßen, die mögen es nicht besonders, wenn man über ihre Aktivitäten aus dem Nähkästchen plaudert, also würde ich dir dringend empfehlen, die Klappe zu halten, wenn dir etwas an deinem Leben liegt.

„Eve, hör zu, ich bin voll müde und will noch unter die Dusche, bevor ich ins Bett gehe. Bist du böse, wenn ich jetzt Schluss mache?“ So war es auf jeden Fall besser, so konnte mir nicht aus Versehen etwas rausrutschen, was nicht für ihre Ohren bestimmt war.

„Nee, kann ich voll verstehen. Aber was ist mit Dom?“

„Was soll mit Dom sein?“ Ich erhob mich von meinem Platz und stellte die benutzte Schüssel zu dem anderen dreckigen Abwasch in die Spüle. Eigentlich müsste ich das noch sauber machen, aber gerade fühlte ich mich viel zu müde dafür. Das würde bis morgen früh warten müssen.

„Hallo? Bester Freund? Er wartete darauf, dass du ihn anrufst und ihm erzählst, wie dein erster Tag gelaufen ist.“

Oh nein, da hatte sie vermutlich recht. Ich seufzte laut ins Telefon. „Ich schick ihm einfach eine Mitteilung, dass ich mich morgen bei ihm melden werde, um ihm alles zu erzählen.“

„Na, ob er sich damit zufrieden gibt?“

„Wird ihm wohl nichts anderes übrig bleiben. So, jetzt hänge ich dich habe ab. Wir hören uns morgen wieder.“

„Okay, bye und lass dich nicht zu sehr von deinem Coach ärgern.“

„Ich werde es versuchen“, murmelte ich in ihr Lachen hinein und legte dann einfach auf. Dann schrieb ich noch schnell eine Nachricht an Domenico, dass ich müde war und mich morgen bei ihm melden würde, während ich die Küche durchquerte und beim Verlassen das Licht ausschaltete. Mein nächster Halt war in meinem Zimmer, wo Wynn auf ihrem Bett rumlungerte und ihre Nase mal wieder in einem dieser fürchterlichen Teenymagazinen hatte, die einem nur sagten, dass man zu dick war und was man am besten gegen einen Pickel vor dem ersten Date tat.

Ich nahm meinen Arbeitsbag samt Ausstattung ab und schloss es in meinen Schreibtisch ein.

Wynn schenkte mir weder dabei Aufmerksamkeit, noch als ich mir frische Sachen zum Schlafen aus dem Schrank holte. Ich glaubte nicht, dass sie wegen gestern noch sauer auf mich war, nur schien die Zeitschrift wesentlich interessanter zu sein als ich. Und als sie dann auch noch einen Stift von ihrem Schreibtisch nahm, war mir auch klar, warum. Das musste wieder einer dieser bescheuerten Tests sein, wo man herausfinden konnte, welcher Modetyp man war, oder welcher Junge zu dir passt, oder auch ob man ein Dateprofi war. Als wenn so ein Test einem wirklich etwas Intelligentes erzählen konnte. Aber Wynn liebte diese Tests nun mal. Genau wie sie auch jeden Tag ihr Horoskop las und dann später immer alles so interpretierte, dass ihr Tag genau darauf passte.

Alles Humbug.

Kopfschüttelnd verließ ich das Zimmer, klaubte mir aus dem Schrank im Flur noch ein paar Handtücher und verschwand dann mit allem im Bad, um diesen anstrengenden Tag einfach mit dem Wasser im Abfluss verschwunden zu lassen. Leider war das einfacher gesagt, als getan, denn als ich begann mich da in völliger Ruhe unter dem heißen Wasserstrahl zu entspannen, kamen die Bilder des Tages ein weiteres Mal zu mir zurück. Sobald ich auch nur einen Moment die Augen schloss, sah ich wieder die Waffe von diesem Schönling vor meiner Nase und fragte mich, ob er wirklich geschossen hätte. Waren das Kriminelle, mit denen Reese und sein Bruder sich da abgaben? Aber wie konnte man nur in sowas reinrutschen? Und was machte Reese mit dem Geld aus den Verkäufen? Weder er noch sein Bruder sahen wohlhabend, oder zumindest ordentlich aus. Eher abgewrackt. Also nicht, dass sie dreckig waren oder so, einfach nur … arm.

Genau wie ich.

Seufz.

Es geht immer ums Geld, Shanks.

Wie Recht er doch damit hatte. Aber das war noch lange kein Grund sich in illegale oder gar kriminelle Bahnen zu begeben. Man musste einfach noch härter arbeiten und das würde sich dann irgendwann auszahlen. Klar, Reese hatte Recht, als Venator wurde man nicht reich, aber man konnte gut davon Leben. Bei den Staatlichen wahrscheinlich besser als bei der Gilde, einfach weil man bei den Staatlichen ein Festgehalt bekam und bei der Gilde nur nach Auftrag bezahlt wurde. Und trotzdem, das war ein Weg, den ich niemals einschlagen würde – unter keinen Umständen.

Seufzend drehte ich das Wasser ab und stieg aus der Dusche. Warum dachte ich eigentlich die ganze Zeit über diesen Trottelkopf nach? Ich sollte froh sein, ein paar Stunden Ruhe vor ihm zu haben und mir nicht pausenlos meinen Kopf über und seine Blendungen zerbrechen. Was ging es mich schließlich an? Wenn er der Meinung war, dass er sich sein Leben verbauen musste, war das sein Problem. Obwohl, nachdem was passiert war, könnte es auch zu meinem Problem werden.

Und seine blöde Ausrede erst. Seine Freundin. Ich schnaubte beim Abtrocknen und stieg dann in meine sauberen Sachen. Das war wirklich das Lächerlichste, was er heute den ganzen Tag rausgehauen hatte. Wenn ich nur daran dachte, dass er mich nicht als Mädchen ansah, nur weil ich keine Monstermöpse hatte. Bei dem Gedanken daran bekam ich gleich wieder schlechte Laune. Es konnte ja auch nicht jeder ein Supermodel sein. Und meine Figur war okay, egal was er sagte.

Trotzdem erwischte ich mich dabei, wie ich hinaus auf den Flur trat und vor dem großen Wandspiegel stehen blieb, um mich selber einer strengen Musterung zu unterziehen.

Das erste was jedem ins Auge stach, war wohl mein feuerrotes Haar, das mir offen bis auf den Rücken reichte. Davon rutschten die meisten Blicke direkt auf meinem Mund zu der hässlichen Narbe, die mich jeden Tag aufs Neue daran erinnerte, was geschehen war. Die wenigsten achteten bei diesen Merkmalen auf meine dunkelgrünen Augen. Oder das ich zwar lang gewachsen, aber schlank und flachbrüstig war.

Ich zog den Bauch ein, steckte ihn wieder raus, zog mein Shirt straff, um die Konturen meines Körpers klar erkennen zu können. Okay, er hatte schon Recht, das war nicht so viel, aber ich war auch nicht flach wie ein Brett. Ich hatte eindeutig Brüste, die sich unter dem Shirt deutlich abzeichneten. Ein gutes B-Körbchen, also genau richtig für meinen Körper.

„Zieh einen Push-up an“, riet Wynn mir im Vorbeigehen, ohne überhaupt zu wissen, worum es ging.

Genervt seufzend ließ ich mein Shirt wieder los. Warum machte ich das überhaupt? Reese hatte doch keine Ahnung, er war nichts weiter als ein großer Idiot. Ich sollte mich von seinen Worten wirklich nicht so beeindrucken lassen.

Ein Push-up, als wenn ich wegen dem sowas anziehen würde.

Lächerlich.

 

°°°°°

Kapitel 05

 

Ob es jetzt nun so normal war, dass ein Praktikant morgens zu seinem Lehrcoach nach Hause musste, um nicht im Regen stehen gelassen zu werden – wortwörtlich, da die Schleusen des Himmels sich heute dazu entschlossen hatten, die Welt zu ertränken – oder auch nicht, jetzt stand ich hier vor seiner Haustür und wartete darauf, dass er das dumme Ding endlich aufmachte, damit ich nicht hier draußen auf seiner Schwelle ertrank. Aber natürlich ließ der Herr sich damit Zeit. Er war ja schließlich auch drinnen im Trocknen, also kein Grund zur Eile.

Die Gegend in der ich mich befand, war noch heruntergekommener als der Teil der Stadt, in dem ich wohnte. Ein Mehrfamilienhaus drängte sich hier an das Nächste. Große Plattenbauten, die so eintönig waren, wie der wolkengraue Himmel. Die vielen Graffitis, die die Hauswände beschmierten, ließen darauf schließen, dass es hier Gangs gab. Und auch die Gitter und Rollläden vor den Schaufenstern der Läden auf der anderen Seite, konnten diesen Gedanken aufkommen lassen. Andererseits konnten sie aber auch einfach zur Sicherung gegen Proles gedacht sein. Das war heute nichts mehr Seltenes.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich bis auf die Knochen durchnässte und einer weiteren Partie Sturmklingeln, summte die Klingelanlage und ich konnte endlich ins Haus hinein – tropfnass und mit kaltem Kaffee in der Hand.

Ich sah an mir herunter, sah wie die Klamotten an mir klebten und verfluchte Reese zum bestimmt hundertsten Mal an diesem Morgen. Erst musste ich dreimal umsteigen, um überhaupt in diese Gegend zu kommen, dann fand ich einfach keinen Laden, in dem ich ihm seinen blöden Kaffee besorgen konnte. Als nächstes hatte ich mich mit so einer ignoranten Tussi in der kleinen Frühstücksdiele rumärgern müssen, die nicht verstand, dass die Schlange hinten endete und nicht vorne an der Kasse. Danach hatte ich bei diesem Sauwetter auch noch nach seiner Wohnung suchen dürfen und das alles, bevor ich meinen Lehrcoach heute überhaupt zu Gesicht bekommen hatte. Und als würde das alles nicht reichen, kam nun der nächste Punkt auf meiner Liste, der mich diesen Kerl verteufeln ließ.

Laut Jilins Notizzettel musste ich in die zwölfte Etage, aber ein großes Schild am Aufzug kündete davon, dass dieser zurzeit nicht in Betrieb war. Und zu allem Überfluss war das der einzige Fahrstuhl in diesem Gebäude.

Leise vor mich hinfluchend wandte ich mich der Treppe zu und nahm diese in Angriff. Bei jeder neuen Treppe, jeder einzelnen Stufe verfluchte ich diesen Kerl für seine sadistische Ader. Wenn ich es nicht besser wüsste, käme mir glatt der Verdacht, dass der Blödmann das alles geplant hatte – aber er war sicher nicht für den Regen verantwortlich.

Zwölf Etagen später, vierundzwanzig Treppenfluchten, oder auch fünfhundertzweiundfünfzig Stufen – ja, ich hatte mitgezählt – keuchte ich aus dem letzten Loch und zweifelte an meiner eigenen Kondition. Wie schaffte Reese das nur jeden Tag? Als Raucher musste er doch ein kleineres Lungenvolum als ich haben. Vielleicht kroch er die letzten Stufen ja immer auf allen Vieren Hoch und brach dann vor seiner Wohnungstür zusammen. Ich jedenfalls überlegte wirklich einen Augenblick mich erst mal hinzusetzten, doch da die Wohnungstür nur angelehnt war, beschloss ich mir einen bequemeren Platz zu suchen, auf dem ich zusammenbrechen konnte – wie ein Sofa, oder ein Stuhl.

Ich atmete noch einmal tief durch und klopfte dann.

„Komm rein“, hörte ich eine Stimme, die eindeutig nicht von Reese stammte. Von dem heiteren Klang einmal abgesehen, war sie auch nicht so rau. Dann war das wohl Nick gewesen – zumindest hoffte ich das.

Als ich in die Wohnung trat, bemerkte ich weder den Geruch nach kaltem Rauch und vollen Aschenbechern, noch dass der Flur komplett leer war, weil irgendjemand vor einer ganzen Weile versucht haben musste ihn zu renovieren – auf halben Wege hatte er aufgegeben. Ich sah nur Nick, als er mit nichts als einem Wasserglas in der Hand und ein paar Shorts auf den Hüften in den kurzen Flur geschlichen kam. Und das war ein Anblick, der um diese Zeit definitiv verboten gehörte. Das wusste sogar ich, obwohl ich trotz meiner achtzehn Jahr noch kaum Erfahrung damit hatte. Okay, was hieß hier kaum? Bis auf ein paar Freundschaften mit dem anderen Geschlecht gingen sie Richtung null. Und trotzdem fiel mir auf, wie perfekt er war – ich war unerfahren, nicht blind. Da war kein Gramm zu viel und kein Muskel zu wenig.

Ich schluckte als Nick mir mit dem Finger auf dem Mund deutete ruhig zu sein und mich hinter sich herwinkte. Dann schlich er mit seinem Wasserglas zur gegenüberliegenden Tür und öffnete sie so leise er konnte. Ein kaum hörbares Quietschen ließ sich aber nicht vermeiden. Dann war er auch schon im Raum verschwunden.

Mir schwante Böses, als ich Reese nirgendwo entdecken, oder gar hören konnte. Obwohl, er würde um diese Zeit doch sicher nicht mehr schlafen, oder? Immerhin hatte er mich zu Punkt acht Uhr hier herbestellt.

Stirnrunzelnd schloss ich die Wohnungstür. Dann schlich ich Nick in den angrenzenden Raum hinterher und kam gerade noch rechtzeitig um zu sehen, wie der kleine Bruder dem großen das eiskalte Wasser in einem Schwall auf dem Rücken goss – Reese war offensichtlich ein Bauchschläfer.

Mit einem Schrei schreckte mein Lehrcoach auf und sah sich panisch um, bis er Nick breit grinsend mit dem leeren Glas neben seinem Bett entdeckte. „Du!“

„Ja, ich.“ Er winkte und zeigte dabei seine perlweisen Zähne. „Du hast Besuch.“ Fingerzeig auf mich.

So wie Reese schaute, machte meine Anwesenheit den schlechten Morgen gleich noch beschissener. Doch ich bemerkte es kaum. Viel zu gebannt war ich von seinem freien Oberkörper. Nicht weil er so durchtrainiert war, sondern wegen der großen Narbe, die Brust, Schulter und Oberarm rechtsseitig bedeckte. Die ganze Haut dort sah aus, als sei sie wie Wachs geschmolzen und wieder fest geworden.

„Na, genug gestarrt, oder muss ich dir noch eine Zeichnung machen?“

Auf seine angriffslustige Haltung ging ich gar nicht erst ein. „Was ist mit dir passiert?“ Denn das war sicher kein Proles gewesen.

„Eine Begegnung mit einem Topf kochendheißen Wassers.“ Er stieg aus dem Bett und schüttelte sich das nasse Haar aus. „Und jetzt raus hier, ich will mich anziehen.“

Natürlich musste mein Blick bei diesen Worten auf seine Jogginghose fallen, in der er anscheinend genächtigt hatte. Konnten diese Kerle hier sich keine Hemden leisten? „Warum bist du eigentlich noch nicht längst aufgestanden?“

„Weil unser Dornröschen gerne mal eine Stunde länger schläft“, grinste Nick. „Oder zwei, oder drei.“

„Raus.“

Oh wow, das war ein richtiges Knurren gewesen. Und da ich seine Geduld und meine Nerven nicht weiter strapazieren wollte, drehte ich mich um, um den Raum zu verlassen, nur um eine ganze Drehung daraus zu machen, als mir der Kaffee in meiner Hand wieder in den Sinn kam. Der war in der Zwischenzeit zwar kalt, aber ich wollte ihn endlich loswerden. Mit einem „Hier“ drückte ich ihm den Becher in die Hand, machte noch eine halbe Drehung und verließ diesmal wirklich das Zimmer.

Nick kam leise lachend hinterher und deutete mir mit einer Kopfbewegung, ihm in den Raum gegenüber zu folgen, der sich als Küche herausstellte. Naja, zumindest nahm ich an, dass es eine Küche war, obwohl ich die so noch nie gesehen hatte – und nein, ich sprach hier nicht von dem Müll, dem dreckigen Geschirr und den herumliegenden Klamotten, obwohl das alles vorhanden war.

Links gab es eine alte Küchenzeile, komplett mit Anrichte, Spüle, Herd und Hängeschränken. Rechts stand ein Sideboard mit einem altersschwachen Kühlschrank daneben, der so viel Aufkleber drauf hatte, dass man die Tür darunter nur noch erahnen konnte. Unter dem gardinenlosen Fenster befand sich ein ziemlich großer Fernseher und die Raummitte wurde von einem durchgesessenen Dreisitzer mit zerkratzem Holztisch davor eingenommen. Hm, vielleicht war das ja das Verständnis von einer Männerküche – einer schäbigen Männerküche. Diese vergilbten Wände hatten dringend einen neuen Anstrich nötig. Und lüften sollten sie hier auch mal. Obwohl das wahrscheinlich nicht mehr reichen würde. Der Geruch von Zigaretten, kalter Asche und muffigen Klamotten hatte sich bereits in den Mörtel reingefressen.

Doch all das verblasste, sobald der Blick auf den großen Käfig hinter der Tür fiel, aus dem kleine, wahnsinnige Augen heraus starrten, als wollten sie mich hypnotisieren. Sie gehörten zu einem echsenartigen Körper. Der Kopf mit den kleinen Knopfaugen war genauso schuppig wie die Beine. Der Rest des Körpers mit länglichem Fell in beige bedeckt. Der Hals wirkte zu lang für den Körper. Obwohl es kaum größer war als eine Ratte, hatte es doch das Aussehen eines kleinen mit Fell bedeckten Drachen. Lacerta-Proles.

Es gibt da diesen Typen, der sich ein Pillicula als Haustier hält.

Dieser verlogene Hund, er ist der Kerl, mit dem verbotenen Haustier! Erst verkauft er Proles und nun auch das noch!

„Magst du einen Tee oder Saft? Kaffee dauert noch ein bisschen.“

Ich konnte Nick nur fassungslos dabei zusehen, wie er an der Kaffeemaschine rumfummelte. Ob ich etwas zu trinken haben wollte? „Ich würde viel lieber eine Erklärung dafür haben!“ Anklagend deutete ich auf den Käfig und wurde auch gleich mit einem unfreundlichen Fauchen von dem Biest darin belohnt.

„Ah, Mister Who.“ Er grinste und nahm eine kleine, durchsichtige Plastikschachtel von der Anrichte, mit der er zum Käfig trat. Bei näherer Betrachtung war der Boden der Schachtel mit Sägespänen oder etwas ähnlichem ausgelegt. Und sie bewegten sich.

„Mehlwürmer“, erklärte Nick, der meinem Blick gefolgt war. Schmunzelnd nahm er eine von diesen ekligen Maden aus der Schachtel und steckte seine Finger völlig furchtlos in den Käfig. Der Pillicula – ich weigerte mich das Vieh mit so einem albernen Namen wie Mister Who zu betiteln – kam sofort ans Gitter gestürzt. Aber zu meinem Erstaunen verbiss er sich nicht in Nicks Finger, sondern schnappte sich nur den Wurm, um dann eilig damit in sein Holzhaus zu verschwinden. „Ich habe ihn aus Taids Lagerhaus mitgenommen“, erzählte Nick stolz. „Der Kleine ist da aus jedem Käfig abgehauen und da ich schon immer ein eigenes Haustier haben wollte, hab ich ihn einfach hier untergebracht.“

Aus Taids Lagerhaus? Das Biest gehörte also gar nicht Reese. Aber auch nicht mehr Taid, sondern Nick. Leider machte diese Tatsache es nicht wirklich besser.

Grinsend schloss der kleine Bruder wieder die Schachtel. „Cool, oder?“

„Cool?!“, fragte ich fassungslos und konnte ihn nur ungläubig anstarrten. „Was bitte ist cool daran, sich einen kleinen Psychopathen als Mitbewohner zu halten, der einen jederzeit vergiften kann? Du solltest das Vieh abknallen und nicht auch noch füttern. Das ist nicht cool, das ist einfach nur dumm!“

Nicks Lächeln verblasste und gewährte mir einen kurzen Blick auf etwas, dass ich nicht genau definieren konnte. Ein Funke in seinen Augen, der ihn plötzlich ganz anders wirken ließ. Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, da Reese in dem Moment mit einem „Der Kaffee war kalt“ in die Küche geschneit kam. Seine Haare waren leicht feucht und da er nichts weiter als ein Handtuch um die Hüfte trug, ging ich davon aus, dass er gerade aus der Dusche kam.

„Ich stand ja auch ewig draußen im Regen, bevor mich jemand rein gelassen hat“, verteidigte ich mich.

Zum ersten Mal an diesem Tag nahm er mich nun wirklich wahr. Mein völlig durchnässtes Erscheinungsbild. Und meinen Vorbau, der heute Morgen eine Nummer größer geworden war. Ja, ich gab es ja zu, ich hatte mir doch einen Push-up angezogen, aber so wie er mich jetzt ansah, bereute ich es sofort. Warum nur hatte ich auf Wynn hören müssen?

Er schnaubte, als er den kalten Kaffee auf die Anrichte stellte, behielt aber jeglichen Kommentar in dieser Richtung für sich. „Nick, mach dich nützlich und hol ihr ein Handtuch. In zehn Minuten können wir los.“ Mit diesen Worten verschwand er wieder nach draußen.

Nick zögerte einen Moment, bedachte mich mit einem seltsamen Blick und folgte seinem Bruder dann seufzend. Das Lächeln war nicht wieder zurückgekehrt und ich fragte mich, ob ich mir diesen seltsamen Funken nur eingebildet hatte, oder er wirklich da gewesen war. Er war merkwürdig gewesen, irgendwie … unheimlich.

Ich schüttelte über meine eigenen Gedanken den Kopf und bemerkte gar nicht, dass mich zwei stechend gelbe Augen aus dem kleinen Holzhaus beobachteten, als ich mich auf die Couch niederließ. Dass ich dabei das Polster nass machte, war mir nun auch egal. Mit den ganzen Klamotten da drauf, würde die Feuchtigkeit wahrscheinlich nicht mal bis zum Sofa durchkommen, bevor alles wieder getrocknet war.

Da meine gelbe Regenjacke störte, öffnete ich den Reißverschluss und sah zu meinem Bedauern, dass sie die Feuchtigkeit nicht hatte abhalten können. Na super. Das wurde ja von Minute zu Minute besser.

Grummelnd lehnte ich mich zurück und tippte mit dem Finger ungeduldig auf meinem Bein. Wirklich wohl fühlte ich mich hier nicht. Nicht mit diesem kleinen Monster in der Ecke, bei dem es mich geradezu in den Fingern kribbelte, etwas dagegen zu unternehmen und seinem Leben ein schnelles Ende zu bereiten. Und wenn ich den vollen Aschenbecher auf dem Tisch sah, oder die Teller mit den Resten des Abendessens – nicht von gestern, das musste schon ein paar Tage länger her sein – dann wurde dieses Unwohlsein noch schlimmer.

Es juckte mich in den Fingern hier sauber zu machen. Okay, dann hatte ich eben einen kleinen Ordnungswahn, aber das war immer noch besser, als ich so einem Saustall zu hausen. Doch leider war das hier nicht mein Domizil. Obwohl, was hieß hier leider? Zum Glück!

Ich drehte den Kopf nach links und rechts, ließ mein Blick über die ganze Küche gleiten, nur um mich von diesem Vieh in der Ecke abzulenken. Als ich mich leicht zur Seite beugte, um die Zeitschrift auf dem Tisch genauer unter die Lupe zu nehmen, bemerkte ich, dass ich auf irgendetwas drauf saß. Äußerst widerwillig zog ich es hervor – wer wusste schon, was das war – und war mehr als überrascht, als ich meinen Bewerbungsordner in der Hand hielt. Wie kam der denn hierher? Ganz klar, Reese musste ihn mit hochgenommen haben. Jetzt stellte sich mir nur die Frage nach dem Warum. Hatte er ihn einfach aus seinem Wagen raushaben wollen? Unwahrscheinlich, wenn man bedachte, dass sein Auto für ihn nur eine bessere Müllkippe war. Hieß das, er hatte meine Bewerbungsmappe gelesen, da er mich nun doch nicht einfach so los wurde? Wollte er sich über mich informieren? Oder hatte er noch vor sie zu lesen?

In meine Überlegungen hinein erschien Nick wieder in der Küche. Das Handtuch in seiner Hand flog mir im hohen Bogen gegen die Brust, bevor es in meinen Schoß fiel.

„Es ist ziemlich unhöflich in den Sachen anderer rumzuschnüffeln“, tadelte er mich grinsend, durchquerte dabei mit wenigen Schritten den Raum und ließ sich neben mir auf die Couch plumpsen. Der muffige Geruch, der dabei in die Luft geriet, ließ mich die Nase rümpfen. Nein, er kam nicht von Nick, sondern von den Polstern unter uns.

„Ich schnüffle nicht herum.“ Ich legte den Ordner ordentlich neben den vollen Aschenbecher auf den Tisch und griff nach dem Handtuch, um wenigstens die gröbste Feuchtigkeit aus meinen Haaren zu bekommen. „Der Ordner gehört mir schließlich.“

„Echt?“ Nick hatte die Mappe so schnell vom Tisch geangelt, dass ich nur belustigt schmunzeln konnte. Neugierig lehnte er sich damit zurück und begann darin zu blättern.

„Wie war das mit: Es ist unhöflich, in fremder Leute Sachen rumzuschnüffeln?“

Das entlockte ihm wieder das Zahnpastalächeln, allerdings ohne den Blick von meinen Zeugnissen abzuwenden. „Wow, du kommst gar nicht wie ein Streber rüber“, bemerkte er anerkennend, beim Überfliegen meiner Noten und meiner Empfehlungen.

Okay, jemanden gleichzeitig zu bewundern und zu beleidigen war gar nicht so einfach und er hatte es gleich beim ersten Versuch ohne jegliche Anstrengungen geschafft. Sollte ich jetzt verärgert sein, oder mich freuen? Ich entschied mich für die dritte Möglichkeit, als er zu meinem Lebenslauf weiterblätterte und begann, mein Passbild zu studieren. „Wie komme ich denn rüber?“

Ich fasste meine Haare zu einem Zopf zusammen, um auch die Spitzen trocken zu bekommen und versuchte dann meine Jeans etwas zu entwässern – zwecklos. Mist. Musste ich den ganzen Tag jetzt wirklich in nassen Klamotten verbringen? Das konnte ja etwas werden.

Verschmitzt lächelte er mich unter langen Wimpern an und mir fiel sehr wohl auf, dass sein Blick von meinen Lippen zu meiner Brust glitt, bevor er sich wieder meinem Lebenslauf widmete. „Das, meine süße Grace, erzähle ich dir, wenn wir uns ein wenig besser kennen.“

Sein lässiger Ton ließ mich aufhorchen. Irritiert hielt ich in der Bewegung inne, und sah zu ihm rüber. Süße Grace? Und was bitte meinte er mit besser kennen?

„Aha!“, sagte er da und tippte auf meinen Lebenslauf. „Familienstand: Ledig.“

Wie er das sagte, so triumphierend. Ich konnte gar nicht anders als zu schmunzeln. „Was hast du denn geglaubt? Dass ich schon verheiratet bin?“

Ein gleichgültiges Zucken mit den Schultern. „Man kann ja nie wissen.“

Ich schnaubte. „Ich habe nicht mal einen Freund.“ Genaugenommen hatte ich noch nie einen gehabt, aber das musste ich ihm ja nicht auf die Nase binden.

Jetzt wurde sein Grinsen so richtig breit. „Danke, das war alles was ich wissen wollte.“

Verdutzt hielt ich mitten in der Bewegung an, sodass das Handtuch in der Luft hängen blieb, anstatt auf dem Tisch zu laden. Was sollte das nun wieder heißen? Gott, ich war täglich mit Kerlen zusammen. Bei dem was ich machte, war das einfach unvermeidbar und obwohl ich die männliche Spezies Mensch ziemlich gut zu kennen glaubte, verunsicherte dieser Typ mich. Das gefiel mir nicht.

„Ah, hier steht, du bist Vollwaise“, sagte er und zog mit dem Finger die Zeilen vor seine Augen nach. „Deine Eltern wurden von Proles getötet.“

Ein schmerzhafter Stich durchzuckte mein Herz. Das war kein Thema über das ich gerne sprach. „Leider ist das heutzutage ein sich oft wiederholendes Phänomen“, erwiderte ich leiser als gewollt. Seufzend legte ich das Handtuch auf den Tisch.

Nick klappte den Ordner zu und tippte sich damit nachdenklich an das Kinn. „Aber wenigstens hast du sie kennengerlernt.“

„Du deine etwa nicht?“ Ich lehnte mich zurück, behielt den Blick auf dem Handtuch.

„Nee.“ Er ließ den Ordner in seinen Schoß sinken. „Mein Vater ist abgehauen, als er bemerkt hat, dass er seine Frau ein zweites Mal geschwängert hat. Ihm war ein Balg schon zu viel und da meine Mutter sich geweigert hat abzutreiben, hat er noch am gleichen Tag seine Koffer gepackt und sich nie wieder blicken lassen.“

„Oh“, machte ich nicht sehr geistreich. „Das … ähm … tut mir leid.“

Er zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Muss es nicht. Was man nicht kennengelernt hat, vermisst man nicht.“

Das entsprach auch nicht so ganz der Wahrheit. Man konnte sich einreden, dass man es nicht vermisste, aber das hieß noch lange nicht, dass man nie merkte, dass einem etwas fehlte. „Und deine Mutter?“

„Was soll mit ihr sein?“

„Naja … keine Ahnung, aber du …“

Im Flur knallte eine Tür. „Beweg dich Shanks, wir müssen los!“, rief Reese ungeduldig und machte sich gar nicht die Mühe noch mal in die Küche zu kommen. Er lief einfach an der Küche vorbei zur Wohnungstür. Als er die dann auch noch öffnete, sprang ich hastig vom Sofa.

„Bye“, rief ich noch schnell in Nicks Richtung, dann war ich auch schon im Flur, nur um festzustellen, dass Reese es nicht mehr war. So ein Blödmann! Erst nicht aus dem Bett kommen und dann nicht auf mich warten können.

Reichlich angepiekt eilte ich ihm hinterher und vergaß dabei, fast noch die Wohnungstür zu schließen. Erst in der siebten Etage holte ich ihn dann ein.

„Ja, verstanden“, sagte er gerade in sein Handy und nahm einen langen Zug von seiner Zigarette. „Bin schon auf dem Weg.“ Er runzelte die Stirn und warf mir einen säuerlichen Blick zu – was hatte ich denn jetzt schon wieder getan? „Ja, ist sie, überpünktlich … gut, ich melde mich dann in zwei Stunden.“

Mit dem Ausatmen des nächsten Zugs, ließ er das Handy in seiner Manteltasche verschwinden, ignorierte meine Anwesenheit und trappte einfach weiter die Treppe hinab.

Sollte das jetzt wieder genauso wie gestern werden?

Bei dem Tempo, das er drauf hatte, hatte ich echt Probleme mit ihm mitzuhalten. Meine Beine waren nun mal ein wenig kürzer – nicht viel, aber ein bisschen.

„Weißt du“, sagte ich, als wir das Erdgeschoss durchschritten, „wenn du pünktlich aufgestanden wärst, müsstest du jetzt nicht so rennen.“

Das brachte mir einen mörderischen Blick von ihm ein. „Jetzt hör mir mal zu, du kleiner Klugscheißer, ich arbeite jeden Tag vierzehn bis sechzehn Stunden um diese Proles-Plage in den Griff zu bekommen. Wenn ich dann morgens einmal eine halbe Stunde länger schlafe, dann brauchst du mir nicht mit irgendwelchen Moralpredigten kommen.“ Er riss die Tür auf und trat hindurch – natürlich, ohne sie für mich offen zu halten. „Ich weiß schon was ich tue.“

Tack ist morgens unausstehlich, klangen mir Jilins Worte im Ohr. Vielleicht sollte ich mich erst mal ein wenig zurückhalten, überlegte ich, als ich auf die Straße trat und ihm folgte. Und eine Entschuldigung wäre wohl auch angebracht. „Reese, es …“

„Halt die Klappe, ich will nichts hören.“

Ich drückte die Lippen zusammen und beobachtete, wie er seinen Schlüssel aus der Tasche fischte, während er seinen Wagen am Straßenrand ansteuerte. Damit er nicht wieder in Versuchung geraten konnte, mich einfach stehen zu lassen, kletterte ich auf den Beifahrersitz, sobald das Schloss entriegelt war und nahm anerkennend wahr, dass der Fußraum leer und sauber war – ein Punkt für mich.

Reese ließ sich hinter das Steuer fallen, knallte die Tür zu und rammte den Schlüssel ins Zündschloss. Mist, ich hatte ihn wohl wirklich verärgert. Woher bitte sollte ich auch wissen, dass er Doppelschichten schob? Ich hatte schließlich keinen Ordner von ihm bekommen, in dem ich alles über ihn nachlesen konnte. Aber vielleicht sollte ich Jilin mal darum bitten, um nicht noch mal in ein Fettnäpfchen zu treten – nicht dass ich wirklich glaubte, dass sie mir einen geben würde.

Als Reese aus der Parklücke fuhr, knallte ihm fast ein blauer Audi in die Seite, weil dieser der festen Überzeugung war, es noch vorbei zu schaffen, bevor Reese draußen war. Schaffte er auch, aber nur ganz knapp, weil Reese geistesgegenwärtig auf die Bremse trat und ihm dann laut fluchend hinterher hupte.

Super, dachte ich, als er in den dichten Morgenverkehr fuhr, wenn eben noch etwas von seiner Laune zu retten gewesen war, so hatte der Idiot in dem Audi das nun vollkommen vermasselt. Das war wohl auch der Grund, warum ich nichts sagte, als er sich bei geschlossenem Fenster eine neue Zigarette ansteckte und die leere Schachtel einfach zu mir in den Fußraum warf.

Still kurbelte ich einfach das Glas auf meiner Seite runter und ignorierte Reese abfälliges Schnauben, als ich die leere Schachtel aus dem Fußraum angelte. „Wohin fahren wir eigentlich“, traute ich mich zu fragen und lehnte mich wieder zurück.

Er ließ den Rauch aus den Lungen entweichen und warf mir einen kurzen Blick zu, als fragte er sich, ob er mich einfach ignorieren, oder gleich anfahren sollte, weil ich die Unverschämtheit besessen hatte, ihn vor dem Feierabend anzusprechen. „Eine Tötung am Stadtdenkmal. Ein Proles ist in einer der installierten Fallen gelandet.“

Also nichts wirklich Gefährliches.

Die installierten Fallen waren eine Sicherheitsmaßnahme der Stadt. Davon gab es in der Zwischenzeit so viele, wie Ampeln auf den Straßen. Besonders in dicht besiedelten Gebieten und Plätzen, wo Proles sehr häufig auftauchten, waren sie an allen nur erdenklichen Stellen aufgebaut worden. Sie waren nur ein kleiner Schritt im Kampf gegen die Proles, aber auch sie hatten schon unzählige Menschenleben gerettet. Proles waren zwar intelligenter als andere Tiere, aber an den Scharfsinn der Menschen, reichten sie eben doch nicht ran.

Als Reese ein paar Querstraßen weiter in zweiter Spur mit Warnlicht anhielt, wunderte ich mich ein bisschen, weil das hier nicht das Denkmal in der Stadtmitte war, sondern eine Einkaufsstraße, die nur wenig besser aussah, als die Gegend, aus der wir gerade gekommen waren. Doch da Reese sicher wusste, was er da tat, schnallte ich mich einfach stumm ab, nur um dann von ihm angeranzt zu werden, dass ich meinen Hintern im Wagen lassen sollte, da er keine Klette brauchte, die ihm am Arsch klebte, nur weil er mal kurz in der Bank eine Überweisung tätigen müsste.

Ich drückte einfach die Lippen aufeinander und verfluchte ihn im Stillen, während er in einer Filiale seiner Bank verschwand. Das wäre echt auch netter gegangen. Woher sollte ich schließlich wissen, dass er jetzt seinen Kontostand prüfen müsste? Wir befanden uns mitten in der Arbeitszeit und sowas verschob man doch eigentlich auf den Feierabend.

Obwohl, bei seinen Arbeitszeiten blieb wohl nicht viel Freizeit übrig, in der man mal schnell zur Bank gehen konnte. Ob dieser Kerl das überhaupt kannte? Er schien wirklich vom Aufstehen bis zum Schlafengehen nichts anderes zu tun, als den Monstern hinterher zu jagen. Gut, er hatte ja gesagt, dass er das Geld brauchte, aber langsam fragte ich mich, ob da nicht vielleicht auch noch etwas anderes dahinter steckte. Ich kannte nur einen anderen Menschen, der in dieser Sache genauso verbissen war und das war ich selber.

Rache.

Rache an den Wesen die mir meine Familie genommen hatten, das war mein Antrieb. Ich würde jeden Proles in die Hölle schicken, der mir vor die Nase kam. Ging es ihm auch so? Hatte er auch jemanden verloren? Aber dann konnte ich es nicht verstehen, warum er zuließ, dass Nick sich ein Pillicula als Haustier hielt. Warum hatte Reese es dann nicht umgebracht, sobald er es gesehen hatte? Warum pflegten sie dieses Vieh auch noch? Das ergab einfach keinen Sinn.

Es ging nicht nur darum, dass sie es als Haustier hielten, es ging darum, für was es stand. Ein Monster, ein Untier, eine Kreatur wider die Natur, die kein Recht darauf hatte zu leben. Wenn Nick wirklich so unbedingt ein Haustier brauchte, dann sollte er sich ein Hamster zulegen. Da lief er wenigstens nicht Gefahr, irgendwann an einer Vergiftung zu sterben.

Seufzend schnallte ich mich wieder an und beobachtete den Eingang der Bank, bis Reese mit dem Handy am Ohr hinaustrat. Er sah ziemlich ernst aus. Okay, so sah er immer aus, aber jetzt sah er noch ernster aus.

Als er eilig ins Auto stieg und dabei sein Handy wieder in der Manteltasche verschwinden ließ, traute ich mich kaum zu fragen. „Ist etwas passiert?“

„Neuer Auftrag, einen Block weiter.“ Schlüssel ins Schloss, Gas durchtreten und durch den Verkehr rasen, war alles eins. „Aziz hat Schwierigkeiten und ich bin ihm am nächsten.“

Schwierigkeiten? „Das hört sich gar nicht gut an.“

Ich sah genau, wie ihm ein Kommentar auf den Lippen lag, aber zu meiner Verwunderung spie er ihn mir nicht entgegen, sondern schüttelte einfach nur ungläubig den Kopf, während er weiter durch den Verkehr raste. Doch es war alles so dicht, dass er nach zwei Minuten mitten auf der Straße anhielt, den Schlüssel abzog und mit einem „Zieh deine Waffe“ eilig aus dem Wagen stieg.

Hastig fummelte ich an meinem Sicherheitsgurt und trat dann zu den hupenden Autos auf die Straße. Die anderen waren über Reese Parkplatzwahl nicht sehr angetan. Ich zog meine Waffe, da war Reese auch schon am Kofferraum gewesen, um eine Flinte rauszuholen, mit der er bereits in einem Affenzahn die Straße entlang flitzte.

Mich hielt nichts mehr. So wie er rannte, mussten das mehr als Schwierigkeiten sein, die der Türke mit dem Drachentattoo auf dem Oberarm hatte.

Der Regen peitschte mir beim Rennen ins Gesicht und erschwerte meine Sicht. Empörte Passanten sprangen eilig zur Seite, als sie uns kommen sahen und auch wenn Reese einen Vorsprung hatte, ich ließ mich nicht von ihm abhängen. Vielleicht konnte ich nicht ganz mit seiner Ausdauer mithalten, aber so schnell wie er war ich allemal.

Nur etwa hundert Meter ging es die Hauptstraße entlang, dann bog Reese auch schon mit einem Affenzahn um die Häuserecke in die Nebenstraße.

Nicht mal drei Sekunden, dann war auch ich abgebogen, doch das Bild das mich erwartete, ließ mich für einen Moment erstarren. Trotz des starken Regens, sah ich das Blut, das in Strömen aus dem verrenkten Mann floss. Die aufklaffende Bauchwunde zeichnete sich glasklar vor mir ab. Genau wie der tote Spuma daneben. Sie hatten beide ihr Leben ausgehaucht.

Ein Kopfschuss wie ich erkannte, doch sie konnten noch nicht lange hier liegen. In dem kalten Regen dampften die warmen Körper geradezu. Außerdem hatte der starke Regen das Blut noch nicht fortgespült. Und wie ich diese Szene dort vor mir sah, schockte es mich mehr, als ich für möglich gehalten hatte. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht geglaubt, dass es so einen großen Unterschied machen könnte, ein gewaschenes Proles-Opfer auf einem Seziertisch zu sehen, oder hier draußen, direkt nach der Tat. Ich hatte mich getäuscht.

Guck mal, Gracy, der lustige Hund. Ich habe ihn Plüsch genannt, weil er so plüschig aussieht.

Gerade als mein Atem schneller wurde und die Vergangenheit drohte, mich zu verschlingen und an einen Ort zu reißen, den ich glaubte, bereits hinter mir gelassen zu haben, holte mich der Knall eines Schusses aus meiner Erstarrung. Ich schaffte es endlich das Gesicht zu heben, nur um vor mir auf eine leere, verregnete Straße zu blicken.

Wo war Reese?

„Verdammt!“, knurrte ich und rannte wieder los.

Ich hatte keine Ahnung, wohin mein Lehrcoach verschwunden war, aber der Knall war ganz in der Nähe erklungen und zeigte eindeutig, was dort vor sich ging. Ein Venator auf der Jagd.

Warum nur hatte dieser verdammte Kerl mir nicht gesagt, wohin wir mussten? Und noch viel wichtiger, warum zum Teufel hatte dieser Tote mich so aus der Bahn geworfen? Ich hatte in meinem Leben allein in der Akademie weit über hundert Tote gesehen. Egal wie überraschend es gekommen war, das hätte einfach nicht passieren dürfen.

Ein weiterer Schuss, der durch den Regen peitschte, veranlasste mich dazu noch etwas an Tempo zuzulegen. Zu beiden Seiten meiner Füße spritzte Wasser auf. Meine Waffe fest umklammernd, folgte ich dem Echo in die nächste Seitenstraße, um in einem kleinen, trostlosen Wendekreis zu landen, in dem Reese gerade einen Spuma erschoss, der sich in die Hüfte einer kreischenden Frau verbissen hatte.

Ein Stück weiter lag ein weiterer toter Abkömmling. Die Schnauze noch vom Blut der Frau getränkt, hatte er nun zwei zusätzliche Löcher im Körper. Eines in der Schulter und eines in der Brust.

Das Kreischen der Frau wurde zu einem Wimmern, als Reese die Flinte ein zweites Mal abfeuerte und der Spuma halb auf ihr zusammen sackte.

Sofort zog Reese das leblose Biest von ihr herunter, sagte ein paar Worte zu ihr, die der Regen einfach wegspülte, bevor sie mich erreichen konnten und erhob sich dann, als suchte er nach etwas. Als er mich entdeckte, machte er nur eine knappe Bewegung mit dem Kopf, die mir sagte, dass ich ihm folgen sollte und dann war er auch schon in einen Wirtschaftsweg verschwunden, der mir bei dem Regen bisher entgangen war.

Verdammt! Dieser … jetzt war er schon wieder verschwunden! Ich machte mich eilig daran hinter ihm her zu kommen, um nicht ein weiteres Mal abgehängt zu werden. Vorbei an der Frau, die mit zitternden Fingern ihr Handy aus der durchnässten Jackentasche zog, rannte ich den Weg entlang, immer Reese aufgeblähten Mantel vor der Nase. Deswegen lief ich auch fast in ihn hinein, als er urplötzlich stehen blieb und die Flinte hochriss.

Ein Knall, ein Jaulen und dann hastete er auch schon weiter.

„Passt auf, neben euch!“, rief da eine altbekannte Stimme. Das war Seth gewesen. Natürlich, wenn Aziz hier war, dann war auch sein Praktikant nicht weit.

Reese reagierte blitzschnell, riss das Gewehr herum und feuerte. Dann rannte er auf sein nächstes Ziel los.

Ich ließ meinen Blick einmal schnell über die Umgebung wandern, um mich zu orientieren. Eine kleine Nebenstraße mit schäbigen Reihenhäusern. Ungepflegte Straßenbepflanzung. Und dort, halb verdeckt von einem Busch guckte ein Bein heraus. Von meiner Position aus konnte ich nicht sehen, ob in dem zugehörigen Körper noch Leben steckte, doch was ich sah war ein weiterer Spuma, der mit weiten Sätzen heransprang, um sich seine Beute zu sichern.

Aber nicht mit mir.

Selbst wenn dieser Mensch dort schon tot sein sollte, würde ich es nicht zulassen dass der Körper geschändet wurde.

Meine Augen verengten sich leicht, als ich die Waffe hob und mein Ziel anvisierte. So wie ich es gelernt hatte.

Ich folgte diesem Biest mit den Augen. Das grünschwarze Fell klebte vom Regen an seinem Körper und zeigte damit die kräftigen, katzenartigen Umrisse nur zu deutlich. Eine Raubkatze, ein Monster.

Die Zeit schien sich zu verlangsamen. Der Regen wurde zu einem unbedeutenden Hintergrundgeräusch. Ich blendete Reese aus, der zu einem mir fremden Venator geeilt war, um ihn zu unterstützen, ignorierte den Mann oben an seinem Fenster, der etwas zu uns hinunter rief und beachtete auch Seth nicht, der mit langen Schritten auf mich zugerannt kam.

Meine Beute fest im Visier, wollte ich noch einen Wimpernschlag warten, damit ich ihn auf keinen Fall verfehlte. Nur noch ein kleines Stück, nur noch einen kurzen Moment.

Als mich plötzlich etwas in die Seite rammte, schnappte die Zeit zurück in ihre normale Geschwindigkeit. Ich stürzte zu Boden, genau auf meine verletzte Hüfte und schürfte mir den Handballen auf, aber meine Waffe behielt ich fest im Griff. Leider machte das den Aufprall nicht weniger hart. Oder nass. Ich war direkt in eine Pfütze gefallen. Doch es war kein Proles gewesen, der mich da attackiert hatte, sondern Seth!

Ich stieß einen derben Fluch aus, den ich von meiner kleinen Schwester kannte und starrte wütend zu ihm rauf. Seine Waffe knallte und meine Beute stürzte mit einem letzten Aufjaulen tot zu Boden. Und dann grinste dieses miese Arschloch auch noch hämisch zu mir nach unten.

„Verdammt, was …“, rief Reese in dem Moment und lenkte meine Aufmerksamkeit somit auf sich.

„Runter!“, schrie ich ihm nur noch entgegen und riss mein Waffe hoch, als der Spuma hinter ihm zum Sprung ansetzte. Ich hatte keine Ahnung, wo dieses Monster so plötzlich herkam, aber Reese reagierte augenblicklich auf meinen Ruf und ließ sich einfach auf den Boden fallen. Der Abkömmling segelte über ihn rüber.

Ich fackelte nicht lange, zielte und drückte den Abzug durch. Den Rückstoß spürte ich in dieser Position stärker als sonst, doch das schadete dem Schuss nicht. Vorbei an Seth, der den Bruchteil einer Sekunde zu langsam gewesen war, traf die Kugel den Spuma, noch bevor seine Pfoten den Boden berührten.

Er knurrte, kam ungünstig auf und knickte mit der Vorderpfote weg, bevor er stolperte, sich wieder fing und einfach weiter rannte. Direkt auf mich zu. Scheiße, ich hatte ihn nur an der Schulter getroffen.

Noch im gleichen Moment riss Reese seine Flinte hoch und schoss, doch der Proles sprang rechtzeitig zur Seite und bekam nur einen Streifschuss ab.

Ein weiterer Knall, abgeschossen von dem unbekannten Venator hinter Reese, zerriss das Prasseln des Regens. Doch auch er verfehlte die Beute, die sich plötzlich der Übermacht um sich herum klar zu werden schien und zur Flucht ansetzte.

Fluchend sprang Reese auf die Beine und machte sich an die Verfolgung. Die Flinte im Anschlag, feuerte er ein weiteres Mal, doch dieses Biest war gerissen und wich einfach zur Seite, bevor es mit Vollgas weiter rannte.

Mich hielt nichts mehr auf dem Boden. Diesen Idioten Seth ignorierend, machte ich, dass ich meinem Lehrcoach hinterher kam, bevor er wieder einfach verschwinden konnte. So schnell meine Beine mich trugen, rannte ich die Straße herunter.

Wieder schoss Reese, aber das Vieh war gerissen, oder hatte einfach nur einen mordsmäßigen Schutzengel. Jedenfalls ging der Schuss wieder daneben.

Reese fluchte unterdrückt und gab mir mit einem Handzeichen zu verstehen, dass ich dem Abkömmling weiter folgen sollte, während er nach links ausscherte und zwischen den Häusern verschwand.

Ich fragte nicht nach, sondern rannte dem Spuma einfach weiter nach. Wenn sich nur die Möglichkeit zum Schießen geben würde, würde ich sie sofort nutzen. Nur leider war es beim Rennen gar nicht so einfach zu zielen und auch wenn der Proles durch die Schusswunde in der Schulter behindert wurde, war er noch immer verdammt schnell, so dass ich nichts weiter tun konnte, als ihm hinterher zu jagen.

Nur nicht aus den Augen verlieren, befahl ich mir selber. Irgendwann würde ich die Chance bekommen, ihm das gleiche Schicksal zu teil werden zu lassen, das sein Rudel bereits ereilt hatte.

Pfützen klatschten unter meinen schnellen Schritten, während der Regen in Strömen auf mich niederprasselte und mich bis auf die Knochen durchweichte. Doch spürte ich die Kälte dieses Herbsttages kaum, dafür war mein Körper vom Adrenalin einfach zu aufgeheizt. Nur meine schnellen Schritte, der rasende Schlag meines Herzens und mein Ziel zählten in diesem Moment.

Ganz abrupt machte der Spuma einen Richtungswechsel, fletschte die Zähne und rannte nach rechts, als würde sein Wahn plötzlich auf etwas gerichtet werden, das ihn einfach rasend machte. Trotz der verletzten Schulter beschleunigte er sogar noch einmal seine Schritte und ich bekam wirklich Schwierigkeiten, ihm weiter zu folgen.

Er lief in eine Gasse und noch bevor ich abgebogen war, hörte ich den Schuss. Ein fürchterliches Jaulen und dann war da nur noch der Regen und meine trommelnden Schritte, die nach wenigen Metern langsam ausklangen.

Der Abkömmling lag mitten in der Gasse in einer Pfütze. Der Brustkorb war mit Schrot durchlöchert. Langsam färbte sich das Wasser unter ihm rot. Dieser Proles war ohne Zweifel tot.

Ein Stück weiter stand Reese, die Flinte noch im Anschlag, hatte er in seiner anderen Hand sein Handy, aus denen die Laute eines verletzten Proles drangen. Ja, ich wusste genau, wie sich das anhörte, denn auch Abkömmlinge fühlten Schmerzen, die sie zum Schreien bringen konnten.

Doch das war es nicht, was mir für einen Moment den schweren Atem stocken ließ. Es was der Anblick meines Lehrcoachs. Wie er dort im Regen stand, den Blick auf seine Beute gerichtet und den Lauf der Flinte langsam sinken ließ. Der Regen klatschte ihm auf den Kopf, durchnässte das Hemd unter dem offenen Ledermantel. Die fast schwarzen Augen, das kantige, vom Leben gezeichnete Gesicht. In diesem kurzen Moment, als er seinen Blick hob und auf mich richtete, mit der Gewissheit darin, dass er gesiegt hatte, in diesem Moment wirkte er auf mich wie ein Racheengel. Zumindest solange, bis er den Mund aufmachte.

„Was gibt es da so blöd zu glotzen?“ Grummelnd schaltete er die Laute aus seinem Handy ab und wählte eine Nummer.

Ich konnte mich nur schwer atmend mit der Hand an der Hausmauer abstützen und darauf warten, dass mein Herzschlag sich langsam beruhigte. Aber zu meiner Zufriedenheit konnte ich während Reese Telefonat feststellen, dass die Jagd auch an ihm nicht Spurlos vorbeigegangen war. Auch seine Brust hob und senkte sich schneller als normal. Klar, wir rannten hier ja auch schon seit einer Ewigkeit kreuz und quer durch die Gegend.

Leider war das Wegstecken seines Handys das Zeichen für mich, dass meine kleine Ruhepause vorbei war und wir uns wieder auf die Socken machen mussten.

Kam mir das nur so vor, oder war es plötzlich kälter? Während wir die Gasse verließen, steckte ich jedenfalls meine Waffe weg und rieb mir dann über die Ärmel, damit mir etwas wärmer wurde – brachte nur nicht viel. „Was ist mit dem Spuma? Müssen wir nicht warten, bis … äh … der Kadavermann kommt?“

Reese warf mir wieder mal diesen abschätzenden Blick zu, der mir sagte, er glaubte nicht daran, dass ich auch nur eine funktionierende Gehirnzelle besaß. „Hier sind Menschen verletzt worden. Bevor Judd, oder einer seiner Kollegen hier irgendwas wegräumen darf, muss die Polizei sich erstmal die ganze Sache ansehen.“

Ob die den Spuma in dieser Gasse finden würden? Okay, diese Frage war wirklich dumm, deswegen stellte ich sie auch nicht laut. Reese würde es der Polizei einfach sagen. Oder er würde es jemandem anderen erklären, der ihn dann der Polizei zeigte. Aber da fiel mir noch was ein. „Was ist mit der Frau? Die, die in die Schulter gebissen wurde?“

„Ich habe ihr gesagt, sie soll sich einen Krankenwagen rufen, aber Bescheid sagen, dass es ein Proles-Gefahrengebiet ist.“ Er kramte in seine Manteltasche herum, bis er eine zerknickte Zigarettenschachtel fand. Schnell eine Fluppe in den Mund, Feuerzeug ran und trotz des Regens zum Glühen bringen. Keine einfache Aufgabe. „Ich hoffe für sie, dass sie es getan hat, sonst ist sie mittlerweile verblutet.“

Ich runzelte über seinen Ton die Stirn. „Wie kannst du das so gleichgültig sagen? Das ist ein Menschenleben von dem wir hier reden.“

Er schnaubte nur und entließ den Rauch aus seinen Lungen, während wir den Weg zurückgingen, den wir gekommen waren. „Dieser Job macht dich kaputt, wenn du sowas an dich ranlässt. Er frisst dich so schon auf, aber wenn dir die Scheiße, die die Proles hinterlassen, zu sehr zu Herzen nimmst, dann macht sie dich auch noch im Kopf kaputt.“

Natürlich, das verstand ich, aber deswegen konnte ich noch lange nicht so sein wie er. Kalt, unnahbar und ein völlig überheblicher Blödmann. „Haben wir dann jetzt alle aus dem Rudel erwischt?“

„Julian geht davon aus, aber wir sollten trotzdem wachsam bleiben.“

„Wer ist Julian?“

So wie er das Gesicht verzog, war das wohl mal wieder eine Frage zu viel gewesen. „Aziz Partner und jetzt nerv mich nicht mehr.“

Ah, wahrscheinlich hatte er mit ihm eben telefoniert. Woher sonst sollte er all diese Informationen haben? „Und wir gehen jetzt zurück und warten auf die Polizei.“

„Gott, fällt es dir wirklich so schwer, einfach mal die Klappe zu halten?“

Wenn er schon so fragte. „Ja.“

Ein weiteres Mal setzte er die Zigarette an den Mund und atmete tief ein. Der Rauch kam mit seinen nächsten Worten wieder raus. „Wir warten nicht auf die Polizei, das können die anderen machen. Ich muss aber noch mal kurz zurück, um etwas klarzustellen.“

„Klarstellen?“

Er warf mir einen äußerst finsteren Blick zu, sagte aber nichts. Das war wohl das Zeichen dafür, dass die Fragestunde fürs erste beendet war. Natürlich hätte ich ihn weiter löchern können, einfach nur um ihn zu ärgern und zu zeigen, dass es mir egal war, wie er mich behandelte. Trotzdem entschied ich mich dafür, ihn erst mal in Ruhe zu lassen und legte mit ihm das letzte Stück schweigend zurück. Dabei bemerkte ich den langsam pochenden Schmerz an meiner Hüfte. Das war das erste Mal, dass die Wunde sich seit gestern bemerkbar machte und es gefiel mir gar nicht. Dummer Seth. Wenn er mich nicht weggestoßen hätte, wäre ich nicht da drauf geknallt. Ich hoffte nur, dass sie nicht wieder aufgegangen war.

Ein Stückchen weiter vorne entdeckte ich den Proles an der Hecke, der eigentlich meine Beute gewesen wäre und Seth stand breit grinsend mit Aziz daneben. Sein Partner, dieser Julian lief ein Stück entfernt auf und ab und telefonierte. Da kamen eigentlich nur zwei Möglichkeiten in Frage. Entweder hing die Gilde, oder die Polizei am anderen Ende der Leitung, da er jetzt sicher nicht bei seiner Schwiegermutter anrufen würde, um sie zu Kaffee und Kuchen am Sonntag einzuladen. Obwohl, Verrückte gab es ja überall.

Aber ich war gerade mehr auf den toten Proles konzentriert. Das war meine Beute gewesen. Hätte Seth mich nicht zur Seite gestoßen, hätte ich ihm den tödlichen Schuss verpasst. Natürlich, der Abkömmling war tot und konnte die Person hinter dem Busch nicht weiter schänden, doch hier ging es einfach ums Prinzip. Ich würde ihm doch auch nicht einfach in die Quere kommen, nur um zu beweisen wie gut ich war. Mein Selbstwertgefühl hing nicht davon ab und trotzdem war ich darüber verärgert.

Als ich ihn durch den Regen dann auch noch lachen hörte, kniff ich wütend die Lippen aufeinander. Diese Aktion würde er zurückbekommen. Und wenn es nur eine einfache Beschwerde war, die ich in der Gilde einreichte. Das würde ich nicht so einfach auf mir sitzen lassen.

Mit jedem weiteren Schritt bekam ich einen besseren Blick auf das Opfer hinter dem Busch. Ein Schuh, ein Bein und … ich wandte blitzschnell den Blick ab. Oh Gott, das war nichts außer diesem Bein. Ich hatte einen abgetrennten Körperteil beschützen wollen. Das war … ich musste schlucken und durch den Mund atmen. Wo befand sich der Rest? So genau wollte ich es gar nicht wissen. Nicht nach dem Mann mit der aufklaffenden Bauchwunde von vorhin. Für den Moment war das einfach genug. Daher konzentrierte ich mich auf die drei Leute vor uns.

Als Aziz uns kommen sah, hob er zur Begrüßung die Hand. Genau wie wir alle sah er ein wenig mitgenommen aus, was aber auch an diesem nervtötenden Regen liegen konnte.

Auch Seth drehte sich zu uns herum, grinste mich dabei blöde an, aber nur bis wir ihn erreicht hatten und Reese ihn aus dem Nichts im Nacken packte, um ihm mit dem Gesicht voran auf die nächste Motorhaube zu drücken.

Ich machte erschrocken einen Satz zurück. Was bitte sollte das denn jetzt?

„Ahhh, Scheiße! Was soll das?!“, fluchte Seth und versuchte sich von Reese eisernem Griff frei zu machen. Dafür bekam er einen Tritt in die Kniekehlen, der ihn leicht zusammensinken ließ.

„Scheiße, bist du noch ganz dicht?!“

Aziz hatte die verschränkten Arme sinken lassen und auch das Telefongespräch von Julian schien plötzlich nicht mehr so interessant zu sein.

Reese beugte sich langsam vor, um ihn noch fester auf das kalte Metall zu drücken. „Was sind wir?“, fragte er in drohendem Ton.

„Was?“ Seth versuchte den Kopf zu drehen, was ihm aber nicht gelang. „Verdammt, lass mich los, oder …“

„Ich habe dich gefragt was wir sind.“

„Bist du völlig durchgeknallt?! Du kannst doch nicht …“

Es klickte unendlich laut, als Reese seine Waffe entsicherte und sie an Seth Hinterkopf hielt.

Der Praktikant schluckte und warf einen hilfesuchenden Blick zu Aziz, doch der stand einfach nur da und verfolgte die Szene stirnrunzelnd. „Hey, wir können doch sicher darüber reden. Ich … Scheiße!“, fluchte er, als Reese den Griff in seinem Nacken verstärkte.

„Antworte!“

Er leckte sich nervös über die Lippen und überlegte fieberhaft, was Reese meinen könnte.

Ich konnte das nachvollziehen, denn ich hatte auch nicht die geringste Ahnung, worauf das hier hinauslaufen sollte. Das ergab keinen Sinn. Warum ging er auf Seth los?

„Wird es bald“, forderte Reese ungeduldig.

„Ve-venatoren?“, riet Seth einfach mal ins Blaue.

„Was ist unsere Aufgabe?“

Hm, schien wohl die richtige Antwort gewesen zu sein.

„Wir töten Proles.“

„Warum tun wir das?“

Nervös leckte Seth sich über die Lippen. „Ich … um die Menschen zu schützen.“

„Und was tun wir niemals?!“

„Ich … ich …“ Wieder glitt sein Blick auf Hilfe umher.

Irgendwie tat er mir leid. Ich glaubte zwar nicht, dass Reese ihm wirklich etwas tun würde, aber er schien das zu denken. Ich konnte mir aber auch keinen Reim darauf machen, was diese Show hier sollte.

„ANTWORTE!“, brüllte Reese ihn an. Seine Augen, von der Wut verdunkelt, wirkten wie zwei schwarze Sternensaphire.

„Ich weiß es nicht!“, schrie Seth zurück und kniff die Augen zusammen. Deswegen sah er auch nicht kommen, wie Reese ihn mit einem Ruck von der Motorhaube riss und ihn wie Dreck zu Boden in die Pfütze stieß.

Ich zuckte zusammen, als er auf den Asphalt knallte. Das hatte sicher wehgetan.

Reese baute sich über Seth auf und starrte wütend auf den Jungen hinunter. „Wir verletzten niemals den Ehrenkodex! Das war Shanks Beute gewesen. Damit, dass du sie weggestoßen hast, hast du ihr nicht nur das Kopfgeld gestohlen, sondern sie auch in Gefahr gebracht!“

Mir klappte die Kinnlade runter. Er machte das wegen mir?

„Aber ich habe …“ Als er das wütende Aufblitzen in Reese Augen sah, verstummte Seth sofort.

„Tu das nie wieder, oder wir werden mal ein Gespräch unter vier Augen führen.“ Mit diesen Worten wandte er sich Aziz zu. „Der Proles geht auf Shanks Liste.“

„Klar“, sagte Aziz etwas widerwillig und drückte missmutig die Lippen aufeinander. Das schien ihn nicht besonders zu erfreuen. Es konnte aber auch sein, dass es ihm einfach nicht gefiel, dass Reese seinen Praktikanten so grob gemaßregelt hatte. Oder das er gar nicht wusste, was geschehen war, weil er anderweitig beschäftigt gewesen war.

„Komm“, sagte Reese dann zu mir, steckte seine Waffe weg und machte sich auf den Rückweg zu seinem Wagen. Zwei Schritte waren wir gerade gekommen, als die ersten Sirenen der Polizei in der Ferne zu hören waren. Unserer Aufgabe war es die Bedrohung durch die Proles zu dezimieren, aber ihre war es sich hinterher um die Überlebenden, oder auch um die Toten zu kümmern.

Ich wandte meinen Blick von Seth ab und beeilte mich an Reese Seite zu kommen. Die Szene von dem eben geschehen stand mit immer noch vor Augen und so konnte ich nicht widerstehen zu sagen: „Das hat fast so ausgesehen, als wolltest du meine Ehre retten.“

Er schnaubte und suchte in seinem Mantel nach einer weiteren Zigarette. „Träum weiter. Hier ging es nicht um dich, sondern um sein Verhalten. Das hätte genauso gut Aziz sein können, den er in seinem falschen Ehrgeiz wegstößt. Die Scheiße hier ist so schon gefährlich genug, da brauchen wir nicht auch noch jemanden aus den eigenen Reihen, der uns in den Rücken fällt, nur weil er hier einen auf Terminator machen will.“

Das konnte ich verstehen. Meine Hüfte brannte immer noch von dem Sturz und jetzt war ich mir sicher, dass die Wunde von gestern wieder aufgegangen war. Es fühlt klebrig an und dass hatte sicher nichts mit dem Regen zu tun. „Was meintest du damit, dass dieser Proles auf meine Liste geht?“, fragte ich, anstatt ihm von meinem Handicap zu berichten. Das konnte ich immer noch machen, wenn wir wieder beim Wagen waren.

„Die Strichliste. Wir werden nach Tötungen bezahlt.“

Nach Tötungen? Ich hatte gedacht nach Aufträgen. „Du meinst, wie viele Proles wir im Monat töten?“

Er warf mir wieder diesen abfälligen Blick zu, bevor wir um die Hausecke bogen und wieder an der Hauptstraße landeten. Dabei fiel mir auf, dass er einen anderen Weg gewählt hatte und wir nicht an dem toten Mann vorbei kamen. „Langsam glaub ich, du bist wirklich dumm. Hast du dich gar nicht über die Gilde informiert?“

Natürlich hatte ich das, aber dabei war es mir weniger ums Geld, sondern eher um die Regeln, Strukturen und Abläufe gegangen. „Tun wir doch einfach mal so, als hättest du recht und ich wäre wirklich saudämlich. Und dann erklärst du mir einfach, wie das mit der Bezahlung läuft, okay?“

Er schnaubte und zündete seine Zigarette an. „Wir führen Liste auf der steht, wie viele und welche Proles man im Monat beseitigt und nach der werden wir bezahlt. Je mehr Proles du tötest, umso hör ist dein Auskommen am Monatsende.“

„Das heißt ich bekomme Geld dafür, dass ich heute ein Proles getötet habe?“ Nein, Moment, ich hatte gestern ja auch bereits eines getötet und mit dem, das Seth mir streitig gemacht hatte, wäre ich sogar schon bei drei. Das hieß, dass …

„Du bekommst keinen Cent“, unterbrach Reese meinen inneren Monolog und zog an seiner Zigarette.

„Aber du hast doch gesagt …“

„Das sie auf deine Liste kommen. Das fließt später in deine Bewertung als Venator ein, aber du bekommst kein Geld. Alles was du tötest, geht an mich.“

Ich runzelte ungläubig die Stirn. „Warum das denn bitte? Ich habe die Biester doch erlegt.“ Und das Geld konnte ich gut gebrauchen. Damit konnte ich Onkel Roderick etwas entlasten und vielleicht ein paar offene Rechnungen begleichen.

„Weil du nur eine kleine Praktikantin bist.“ Er stieß den Rauch aus den Lungen und warf mir einen äußerst abfälligen Blick zu. „Damit du lernen kannst, muss ich dir zum Teil meine Beute überlassen und du brauchst ja nicht glauben, dass du dafür auch noch entlohnt wirst. Das ist mein Geld.“

Okay, das konnte ich verstehen, auch wenn es mir nicht wirklich passte. Ich würde mir an seiner Stelle auch nicht mein Geld streitig machen lassen. Trotzdem kam ich nicht umhin die nächste Frage zu stellen. „Ist das eine neue Regel, die du gerade für mich aufgestellt hast, oder wird das allgemein so gehandhabt?“

„Allgemein“, sagte er kurz angebunden und hielt auf der Hauptstraße nach seinem Wagen Ausschau. Es konnte nicht mehr weit bis dahin sein.

Trotzdem, mit meiner Liste würde er damit garantiert besser wegkommen, als ohne Praktikantin. Früher oder später würde ich eines töten, dass ihm durch die Lappen gegangen wäre – mehr als nur eines – und er würde dann den Lohn dafür einstreichen.

Wie gestern bei Taid. Da hatte er auch einen kleinen Bonus bekommen, damit mein Freund mir etwas Schönes kaufen konnte. Der Kerl bekam durch mich eindeutig mehr Geld.

Da kam mir ein Gedanke. Für einen Moment zögerte ich. Wahrscheinlich würde er mich wieder böse angucken, oder mir irgendeinen blöden Kommentar an den Kopf knallen, aber ich fand es wichtig darüber zu sprechen. Vielleicht würde ich ihn ja dann irgendwann besser verstehen. „Warum bringst du dann Proles zu Taid?“

Er verzog verwirrt die Lippen. „Was meinst du?“

Kein blöder Kommentar? Wunder geschahen halt doch immer wieder. „Naja, du sagtest, jeder Proles den du erlegst, bringt dir Geld von der Gilde. Da hast du sogar noch den Zusatz, dass du sie tot abgeben kannst, also nicht Gefahr läufst, beim Transport gefressen zu werden. Trotzdem hast du Taid gestern ein Proles gebracht und so vertraut wie ihr miteinander wart, war das sicher nicht der erste.“

„Hab ich dir nicht gesagt, du sollt das vergessen?“, fragte er unwirsch und zog ein letztes Mal an seiner Zigarette, bevor er sie in den Rinnstein schnipste. Vorne kam sein Wagen in Sicht. Zwar gab es dort ein paar verärgerte Autofahrer, die ihm umfahren mussten, aber ansonsten schien sich niemand daran zu schaffen gemacht zu haben – keine Politesse weit und breit.

Ich wartete einfach, während wir noch ein paar Schritte liefen und konnte mir ein Lächeln gerade noch so verkneifen, als er genervt seufzte.

„Bei Taid bekomme ich das Drei- bis Vierfache des Geldes.“

Also ging es wieder nur ums Geld. Warum wunderte mich das eigentlich noch? Wahrscheinlich weil er wie ein armer Schlucker rüberkam. In meine, ich war heute in seiner Wohnung gewesen und weder er noch Nick schienen trotz der zwielichtigen Geschäfte besonders gut betucht zu sein. Auch in der Wohnung hatte ich nichts Wertvolles entdecken können. Alles schien dort alt und abgeranzt. Aus zweiter Hand eben. Nicht das mich das stören würde, es wunderte mich eben einfach nur. Vielleicht hatte ja einer von ihnen ein Drogenproblem, oder war spielsüchtig.

„Jetzt guck mich nicht so an“, schnauzte Reese mich an und trat auf die Straße.

Ich folgte ihm. „Wie guck ich dich denn an?“

„So als bräuchte ich ein Gewissen und du fühlst dich zu diesem Posten berufen.“ Beim Umrunden seines Wagens, entriegelte er die Türen mit der Fernbedienung.

Ich schnaubte und schlüpfte schnell auf meinen Sitz. Dabei konnte ich ein Zischen nicht unterdrücken. Die feuchte Jeans schabte über die Wunde. Das tat weh.

Natürlich musste Reese das mitbekommen, als er sich hinter das Lenkrad fallen ließ. „Was ist jetzt schon wieder?“, fragte er, als er den Motor anließ und sich wieder in den Straßenverkehr einordnete.

Seufz. „Ich glaub die Wunde ist wieder aufgegangen. Als Seth mich weggestoßen hat.“

„Fantastisch“, stöhnte er genervt, als hätte ich das mit voller Absicht getan, nur um ihn zu ärgern.

Blödmann. „Es geht schon. Ist nicht so schlimm wie gestern.“

Er ignorierte mich und fuhr den Wagen auf den nächsten Parkplatz, den er finden konnte. Dann stieg er trotz des immer noch prasselnden Regens aus, holte wieder einen kleinen Beutel aus dem Kofferraum und postierte sich in meiner Tür.

Er brauchte gar nichts sagen, wusste ich doch bereits was jetzt kommen würde und egal wie unangenehm es mir war, entweder ich ließ die Hosen runter – also im übertragenden Sinne – oder ich konnte den Rest des Tages im Wagen verbringen und eine Abmahnung riskieren.

Ergeben strich ich meine Jacke weg und lehnte mich ein wenig zur Seite, damit er mein Shirt ein wenig hochschieben konnte.

Ich zuckte zusammen, als er meine Haut berührte. Nicht weil es so unangenehm war, oder ich irgendwelche komischen Gefühle bekam, nein, seine Hände waren einfach eiskalt. „Gott, du könntest glatt als Kühlschrank durchgehen.“

„Es tut mir leid, dass ich für das kleine Prinzesschen nicht angenehm temperiert bin, aber besser kalte Hände, als eine lebensbedrohliche Entzündung.“

„Wer von uns ist hier jetzt der Klugscheißer, hä?“

Er antwortete nicht, aber ich konnte ganz genau sehen, wie sein Mundwinkel kurz nach oben zuckte, bevor er sich wieder zusammenreißen konnte. Hätte er eben etwa fast gelächelt? Es machte ganz den Anschein.

Während der Regen weiter auf ihn niederprasselte, zog Reese den Bund meine Hose etwas runter, um die Wunde komplett inspizieren zu können. Leider musste er dazu das breite Pflaster entfernen – und das machte er einfach ohne Vorwarnung mit Hauruckmethode. Aus einem Reflex heraus, hätte ich ihm am liebsten eine geknallt, aber ich beließ es bei einem Zischen und einen bösen Blick. Blödmann.

Sofort quoll ihm Blut entgegen, aber es sah wirklich schon besser aus als gestern.

„Versuch das nächste Mal auf die andere Hüfte zu fallen“, sagte er, als er etwas Mull aus seinem Beutel kramte und damit begann das Blut wegzuwischen. „Ich hab keine Lust ständig bei dir Arzt zu spielen.“

Als wenn ich das mit Absicht getan hätte. „Ich werde mir Mühe geben.“

Er kramte die Salbe von gestern heraus, um die drei Kratzer großzügig damit einzureiben. „Am besten du fällst gar nicht mehr hin, oder verletzt dich anderweitig.“

So ein … ich wollte gerade zu einer passenden Erwiderung ansetzten, als sein Handy klingelte.

Er unterbrach seine Arbeit nur kurz, um sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr zu klemmen, dann spürte ich seine Finger schon wieder an meiner Haut, wie sie vorsichtig die Salbe verstrichen.

„Ja?“, brummte er in den Hörer.

Jetzt wo er nicht mehr mit mir redete, fühlte ich mich ganz komisch dabei von ihm verarztet zu werden. Es war nicht mehr so unangenehm wie gestern noch. Es war … okay. Vielleicht einfach, weil er nicht so unausstehlich sein konnte, wenn er mit jemand anderem sprach – zumindest nicht zu mir.

Wieder fiel mir auf, wie lang seine Finger doch eigentlich waren. Künstlerhände, würde Onkel Roderick sie trotz der vielen Schwielen nennen. Hände die sich nun von mir lösten, um in dem Beutel nach neuem Mull zu suchen, den er mir mit Klebestreifen an meiner Haut fixierte.

Bildete ich es mir nur ein, oder verweilten seine Finger länger an meiner Hüfte, als nötig gewesen wäre?

Reese' „Verstanden. Schick mir die Daten aufs Handy“ riss mich aus meinen Überlegungen raus. Eilig ließ er das Handy in dem regennassen Mantel verschwinden und machte sich daran, das überflüssige Verbandszeug wieder in den Beutel zu verstauen.

„Was ist los?“, wollte ich wissen.

„Neuer Auftrag. Mehrere Proles machen die Innenstadt unsicher.“

Das verscheuchte diese sinnlosen Gedanken schneller aus meinem Kopf, als alles andere es gekonnt hätte.

 

°°°

 

Der Tag hatte sich bereits der Nacht gebeugt, als Reese den Wagen vor dem alten Lagerhaus am Hafen ausrollen ließ.

„Glaub ja nicht, dass ich wieder hier draußen warte und Däumchen drehe. Ich komme mit rein.“ Immerhin wusste ich jetzt sowieso was hier vor sich ging und auch wenn mir dieser Ort nicht behagte, so wollte ich in der Dunkelheit noch weniger allein hier draußen warten. Ja, ich kämpfte gegen Proles, doch dieser Ort war mir einfach unheimlich.

Reese grummelte nur etwas Unverständliches, als er den Schlüssel abzog und dann aus dem Wagen stieg.

Ich interpretierte das einfach mal als Zustimmung und tat es ihm nach. Gleichzeitig fragte ich mich, warum ich schon wieder hier gelandet war. Die Jagd in der Innenstadt hatte sich bis weit in den Nachmittag hingezogen und nach einem späten Mittagessen an einer Dönerbude hatten wir in dem gleichen Bezirk noch stundenlang die installierten Käfige abgefahren, die zu einem Großteil leider leer gewesen waren. Trotzdem hatten wir dem Kadavermann und seinen Kollegen reichlich Arbeit machen können.

Da anschließend keine dringenden Aufträge mehr reingekommen waren, hatte Reese gegen sieben entschieden, dass es an der Zeit war in die Gilde zu fahren, um die Berichte zu schreiben. Wir waren keine zwei Minuten unterwegs gewesen, als sein Handy schon wieder geklingelt hatte. Was genau da gesprochen wurde, hatte ich nicht rausbekommen, nur dass es Nick gewesen war und Reese sofort zum Lagerhaus musste. Und da ich nicht allein bei der Gilde auflaufen konnte, ohne in Erklärungsnot über Reese' Verbleib zu geraten, schlüpfte ich nun, nach einem gemurmelten „Danke“, durch die mir aufgehaltene Tür in die heruntergekommene Kopie der Beluosus Akademie.

Dieses Mal war die Halle widererwarten nicht leer. Unten am Maschendrahtzaun hatten sich mehrere Männer versammelt und beobachteten zwei Proles, die sich in der Voliere gegenseitig in Stücke rissen.

Bei den Geräuschen, dem Geruch nach Blut und der Kälte in der Halle, die nichts mit der Raumtemperatur zu tun hatte, musste ich schlucken. Ja, Proles hatten den Tod verdient, doch es war auch dabei nicht nötig eine solche Show abzuziehen.

„Wenn du kotzen musst, dann geh raus“, brummte Reese mir zu, steckte die Hände in die Manteltasche und nahm die Treppe hinunter in Angriff.

Ich kniff die Augen leicht zusammen. Bis auf die Tatsache das mir heute nicht so gravierende Fehler wie an meinem ersten Tag unterlaufen waren, hatte sich kaum etwas zu gestern geändert. Er nutzte immer noch jede Möglichkeit, mir eine reinzuwürgen, weil ich es gewagt hatte zur Arbeit zu kommen und die Tatsache, dass ich alle meine Aufgaben heute fehlerfrei absorbiert hatte, schien ihn dabei noch mehr verärgert zu haben.

Trotzdem hatte ich mir heute mehr als einmal anhören dürfen, dass ich dumm war und als Frau nichts bei den Venatoren zu suchen hatte.

Blödmann.

Ich folgte ihm etwas langsamer und nahm dabei die Männer in Augenschein. Es war ein gutes Dutzend, von denen ich nur drei kannte. Zum einen dieser Kerl mit den ganzen Piercings im Gesicht. Nick hatte ihn Scott genannt, wenn ich mich recht erinnerte. Dann Taid, der sich mit einem falschen Lächeln auf den Lippen mit einem ziemlich bulligen Kerl unterhielt. Und natürlich noch Nick. Irgendwann im Laufe des Tages musste er seine Klamotten gefunden haben.

Am Fuß der Treppe wartete Reese ungeduldig auf mich, doch bevor ich fragen konnte, was ich jetzt schon wieder getan hatte, um einen solchen Blick zu verdienen, zog er mich die letzten zwei Stufen hinunter und legte mir den Arm um die Schultern.

„Was zum …“

„Kein Wort“, zischte er mir zu und verstärkte seinen Griff, als ich ihn abschütteln wollte. „Das hast du dir selber eingebrockt.“

Mein Blick verfinsterte sich, als mir wieder in den Sinn kam, dass wir ja glückliches Pärchen spielen mussten. „Du hättest ja nicht sagen müssen, dass ich deine Freundin bin“, flüsterte ich zurück, ließ mich von ihm aber widerstandslos zu der Gruppe der Männer führen. Und wenn ich ganz ehrlich zu mir selber war, dann war es gar nicht sooo unangenehm, wie ich es mir vorgestellt hatte – nicht dass ich es mir vorgestellt hätte.

„Und was hätte ich dann sagen sollen? Dass du mein penetrante Praktikantin bist und deine neugierige Nase überall hineinstecken musst?“

„Ich bin weder penetrant, noch stecke ich meine Nase überall hinein“, grummelte ich und ließ mich einen Moment von den Proles ablenken. Der eine war der gelbe, unbekannte Simia-Proles, den ich gestern bereits im Zwinger gesehen hatte. Doch obwohl es mir immer noch unverständlich war, wie ich zwei unbekannten Abkömmlingen an einem Tag begegnen konnte, galt meine Aufmerksamkeit dem anderen Proles, einem sehr ramponierten Majes. Es versuchte den unbekannten Proles mit den Krallen zu erwischen, um ihn zu vergiften, doch erreichte er damit nur, in die Reichweite des anderen zu kommen, der ihn wie eine Stoffpuppe schnappte, um den filigranen Körper quer durch die Voliere zu schmeißen. Ein Scheppern am Maschendrahtzaun, ein Aufjaulen, Knurren.

Das ansehnliche Gebiss gebleckt stürzte der Simia-Proles in völliger Raserei hinter dem Majes her, um sich erneut auf ihn zu stürzen. Doch er versuchte ihn nicht zu beißen, oder ihm weitere Wunden zu den bereits zahlreichen hinzuzufügen, packte ihn nur und warf ihn mit einem Schrei erneut von sich.

Der Majes jaulte, als er ungünstig auf den Betonboden knallte und sich dabei das Bein verdrehte. Trotzdem arbeitete er sich wieder hoch, bereit erneut auf den Gegner loszugehen.

Er war zu langsam.

Wieder stürzte sich dieser mutierte Affe auf seine unterlegene Beute.

Ich spannte mich kaum merklich an, als ich einen weiteren Blick auf dieses außergewöhnliche Gebiss bekam. Was da aus seinem Maul ragte, waren schon keine Fänge mehr, sondern fast Säbelzähne. Und dann auch noch die Fratze dazu. Da war nichts von dieser natürlichen, ja fast mystischen Schönheit, die jedem Proles gegeben war. Dies war mir ein nicht nur völlig unbekannter Proles, dazu war es auch noch das hässlichste, das ich jemals zu Gesicht bekommen hatte.

Die kleine Gruppe der Zuschauer waren so konzentriert auf das Spektakel vor ihnen, dass sie gar nicht bemerkten, wie wir hinter ihnen zum Stehen kamen. Ich bezweifelte sogar, dass sie unser Betreten der Halle wahrgenommen hatten, was ich unter diesen Umständen ziemlich leichtsinnig fand.

In meinen Augen war dieser Zustand des Unbemerkt-Bleibens völlig in Ordnung.

„Taid?“

In Reese' Augen offensichtlich nicht.

Als Taid sich zu uns umwandte, ein arrogantes Lächeln auf den Lippen, schoss mir der Gedanke einer Schlange durch den Kopf. Mit der Narbe, dem Seidenhemd, der schwarzen Lederhose und dem akribisch gestutzten Schnauzer hatte er so gar nichts mit dem Kriechtier gemeinsam. Trotzdem wurde ich den Gedanken, eine miese Schlange vor mir zu haben, nicht mehr los.

„Tack“, strahlte er so freudig, dass es nur gespielt sein konnte. „Und deine bessere Hälfte hast du auch wieder mitgebracht.“

Als er mir seine Hand entgegen hielt, griff ich automatisch zu um sie zu schütteln, doch leider war das gar nicht sein Vorhaben gewesen. Alle meine Muskeln spannten sich an, als er sie zu seinem Mund führte und einen Kuss darauf hauchte.

„Ich freue mich dich wieder zu sehen, Shanks.“

Ein hoffentlich höfliches Lächeln war alles was ich zustande brachte. Zu sehr musste ich mich darauf konzentrieren, meinen Arm nicht zurückzureißen, um seiner verschwitzen Hand zu entkommen. Trotzdem konnte ich es mir nicht verkneifen, meine Hand unauffällig an meiner Jeans abzuwischen, sobald er mich wieder freigegeben hatte.

Den mahnenden Blick von Reese erwiderte ich trotzig. Okay, ich spielte seine kleine Scharade mit, aber deswegen musste ich mich noch lange nicht von seinem Chef vollsabbern lassen. Wenn er das so toll fand, dann sollte er sich selber für einen Handkuss bereitstellen.

Zum Glück brüllte in diesem Moment der Simia-Proles wieder auf und lenkte Taid von unserem Blickwechsel ab.

Dafür wurden wir von Nick entdeckt, der mit einem „Hey!“ und einem Strahlemannlächeln zu uns kam. Und dann, als hätte er jedes Recht dazu, platzierte er einen Kuss auf meiner Wange.

Um ihm auszuweichen, drückte ich mich automatisch näher an Reese, was es nicht wirklich besser machte.

„Du hast ein Problem, mein Freund“, sagte Taid.

Bevor ich mich dem zuwandte, wischte ich mir demonstrativ die Wange ab, was Nick breit lächeln ließ.

„Das Jungtier, das du mir gestern verkauft hast, ist tot.“

Was? Ich sah von Taid zu Reese, der die Lippen grimmig aufeinander gedrückt hatte. Dabei schien er gar nicht zu bemerken, wie sich sein Griff an meiner Schulter kaum spürbar verstärkte.

„Wie?“, fragte er schlicht.

„Tja, das ist eine ausgezeichnete Frage.“ Taid zog aus seiner Hosentasche ein Zippo, das er auf und zu klappen ließ. Auf und zu. Und auf und zu. Dabei hatte er den Blick darauf gesenkt, als müsste er die Antwort dieser Frage gründlich durchdenken. „Es hat eine Art Anfall bekomme. Spasmen. Lag in seinem Käfig und zuckte dort wie verrückt herum. Naja, zumindest bis es sich dann gar nicht mehr bewegte. Jetzt ist es nur noch Futter für die anderen Proles.“

Das gefiel Reese nicht, ganz und gar nicht. Gestern noch war das Jungtier topfit gewesen. Dass es jetzt tot war, ergab keinen Sinn. Trotzdem blieb er still.

„Ich hab eine Menge Geld für dieses Baby bezahlt“, sprach Taid weiter und richtete seinen Blick von dem Zippo nun auf Reese.

Auf und zu. Und auf und zu.

„Aber jetzt habe ich kein Proles mehr.“

„Das Geld ist weg“, sagte Reese widerwillig.

Weg?! Ich konnte es mir gerade noch verkneifen das laut zu rufen. Taid hatte ihm gestern über dreihundert Kröten in die Hand gedrückt. Das war noch keine vierundzwanzig Stunden her. Was hatte er nur mit dem ganzen Geld gemacht?

„Darum geht es mir gar nicht. Ich weiß wie sehr ihr dieses Geld braucht. Und ich will es auch nicht zurückfordern, schließlich bin ich ja kein Unmensch.“ Das Lächeln das er aufsetzte, ließ seine Worte wie ein Hohn klingen. „Aber nun hast du Schulden bei mir und diesen Zustand sollten wir schnellstmöglich ändern, meinst du nicht auch?“

„Falls du es auf ein weiteres Jungtier abgesehen hast“, sagte Reese, „da komme ich nicht mehr ran. Die sind bereits auf dem Weg nach Historia.“

„Ich habe keinerlei Interesse an einem weiteren Jungtier.“

„Was dann? Soll ich dir ein anderen Proles besorgen?“

Dieses verschlagene Aufleuchten in Taids Augen wollte mir so gar nicht gefallen. „Ich denke es gibt da eine Möglichkeit wie du deine Schulden bei mir loswirst. Genaugenommen würde ich sogar noch einen großzügigen Bonus oben drauf legen, wenn du dich meiner Bitte annimmst.“

„Was soll ich tun?“, fragte Reese ohne das kleinste Zögern in der Stimme.

Ich konnte nicht recht glauben was ich da hörte. Davon abgesehen dass diese ganze Sache sowieso völlig grotesk war, warum wollte Taid jetzt, dass Reese für diesen Tod gerade stand? Und warum zum Teufel ließ Reese sich so bereitwillig darauf ein? Mit dem Verkauf war ihm doch die Verantwortung entzogen worden.

Taids Lächeln strahlte geradezu vor Triumph. „Ich schlage dir einen Deal vor. Aber hier ist nicht der richte Ort das zu besprechen.“ Er sah zu den anderen Männern, die immer noch dabei zusahen, wie der Simia-Proles den Majes wie eine gliederlose Puppe durch die Gegend warf. „Lass uns in mein Büro gehen, dort können wir die Einzelheiten klären. Unter vier Augen“, fügte er noch mit einem Blick auf mich hinzu.

Reese drückte einen Moment die Lippen aufeinander und wandte sich dann mir zu. „Du bleibst bei Nick.“ Er beugte sich nach vorne und einen Moment hatte ich wirklich den irrsinnigen Gedanken, dass er mich küssen wollte, um der ganzen Scharade gerecht zu werden. Und so wie er sich dabei drehte, musste es für die anderen wirklich so aussehen, doch er beugte sich einfach nur weiter vor, bis sein warmer Atem mein Ohr streifte. „Behalte deine neugierige Nase bei dir“, zischte er mir leise zu, „sonst versohle ich dir deinen mageren Arsch.“

Ich schnappte nach Luft und wollte ihm etwas Passendes an den Kopf knallen – vorzugsweise etwas sehr schweres wie einen Amboss – doch sein warnender Blick ließ mich alle meine Worte wieder runterschlucken.

„Pass auf sie auf, Nick. Und halt dich zurück.“ Den letzten Teil sagte er mir einem seltsamen Unterton, den ich nicht zuordnen konnte.

„Können wir dann?“, fragte Taid mit spöttisch erhobener Augenbraue.

Nicks Mundwinkel kletterte eine Etage hör, als die beiden Männer uns den Rücken kehrten. „Lass dir nicht zu viel Zeit, sonst komm ich noch auf die Idee die Praktikantin zu vernaschen.“ Er grinste mich an. „Was für ein Klischee.“

Ja, was für ein Klischee. Witz komm raus, wo versteckst du dich?

„Lass deine Tentakeln von ihr“, knurrte Reese laut genug, dass es Nick einen Lacher entlockte. Dann verschwand er hinter Taid in die Zwingerhalle. Dabei bemerkte ich zum ersten Mal die braunhaarige Frau mit dem Klemmbrett. Sie stand so tief in den Schatten, dass sie meiner Aufmerksamkeit bisher völlig entgangen war.

Verwirrt runzelte ich die Stirn. Das lag nicht daran, wie sie die kämpfenden Proles beobachtete und sich alle fünf Sekunden eine Notiz auf ihrem Klemmbrett machte. Auch nicht an ihrem Alter, das so um die fünfzig sein musste. Oder an ihrer hageren Gestalt mit dem strengen Dutt auf dem Kopf. Nein, es lag allein an ihrer Aufmachung.

Sie trug so einen Operationsanzug in Minze. Der Mundschutz baumelte um ihren Hals und die Schutzbrille hatte sie sich auf den Kopf geschoben. Sie wirkte wie eine OP-Schwester, oder eine Forschungsassistentin.

„Was macht das Minzmenschchen da?“

„Das was?“

„Das Minzmenschchen.“ Ich zeigte zur OP-Forschungsassistentenschwester. „Die Frau dort.“

Nickt folgte mit den Augen meinem ausgestrecktem Finger. „Ach du meinst Sandra.“

Ich wartete.

„Na was wird sie da schon machen? Ihre Arbeit.“

Tolle Antwort. Darauf wäre ich vielleicht auch noch allein gekommen. „Und worin besteht ihre Arbeit?“ Ich konnte mir nämlich nicht vorstellen, dass ein Minzmenschchen an so einem Ort viel zu tun haben könnte. Außer natürlich sie musste die verletzten Proles hinterher wieder zusammen flicken, aber so wie die Viecher in ihren Zwingern vor sich hinvegetierten, bezweifelte ich, dass dies Teil ihrer Jobbeschreibung war.

Nick beugte sich so weit vor, dass ich seinen Atem in meinem Gesicht spürte und sich unsere Nasenspitzen beinahe berührten. Diese Geste hatte, trotz seines Lächelns, etwas Beunruhigendes, doch ich weigerte mich, auch nur einen Schritt zurück zu treten. „Hat Tack dir nicht gesagt, dass Neugierde hier keine empfehlenswerte Eigenschaft ist?“

Ich hielt seinem Blick stand, diese unglaublich schönen Augen. Warum nur musste er mir so nahe sein? Das behinderte mich beim Denken und dann erst dieser einnehmende Geruch. Irgendwie … was hatte er eben gefragt?

Konzentrier dich!

Ach ja, Neugierde und so. „Etwas in der Richtung hat er erwähnt.“

„Dann solltest du dir das zu Herzen nehmen, süße Grace.“

Süße Grace? Als er dann auch noch seine Hand ausstreckte, um … keine Ahnung was er damit vorhatte. Ich bekam es auch nicht mehr mit, da ich so tat, als würde das Aufbrüllen des Simia-Proles meine Aufmerksamkeit erregen und mich deswegen hastig wegdrehte.

Seine Hand ging ins Leere, doch ich hatte den starken Verdacht, dass er zumindest erahnte, warum ich mich so benahm – wenigstens einer von uns beiden. Allerdings blieb die Frage, warum Nick sich so benahm, wie er sich eben benahm, auf halbem Wege in meinen Gehirnwindungen stecken.

Proles waren grausame Monster, die ohne Rücksicht auf Verluste ihren Instinkten folgten, doch was sich hier vor meinen Augen abspielte, war schlimmer als alles, was mir in den letzten Jahren begegnet war.

Der Majes war mittlerweile definitiv tot. Das was der Simia-Proles da mit ihm tat, konnte er einfach nicht überlebt haben. Mit verrenkten Gliedmaßen badete der Majes in seinem eigenen Blut. Das einst graublau melierte Fell war rot und verklebt – zumindest die Stellen die noch vorhanden waren. Denn der Simia-Proles hatte es nicht nur zum Teil gehäutet, sondern auch ausgeweidet.

Die offenen Rippen ragten gebrochen aus dem Brustkorb. Die Gedärme quollen aus dem Leib. Zumindest die, die noch mit dem Körper verbunden waren. Den Rest hatte der Simia-Proles in wilder Raserei durch die Voliere geschmissen. Und jetzt war er dabei dem Majes das Bein vom Körper zu reißen, um es dann mit beachtlichem Schwung in den Maschendrahtzaun zu werfen. Der affenartige Schrei erfüllte dabei die Halle.

Ich zuckte zusammen. Hier ging es nicht um Beute oder Revierverhalten, es wirkte fast, als würde der Simia-Proles spielen. Ein sehr blutiges Spiel, aber nichts desto weniger schien er Spaß an der Sache zu haben.

Von dem Geruch und den Geräuschen war ich so angeekelt, dass ich mich nur abwenden konnte. Was hatte Taid da nur für ein Vieh aufgegabelt? Es verhielt sich ja noch verrückter, als es für einen Proles normal war.

„Hey Süße, wenn du kotzen musst, geh vor die Tür.“

Ich warf diesem Scott einen finsteren Blick zu, der ihn nur breit grinsen ließ. „Wenn ich das Bedürfnis verspüre zu kotzen, werde ich dich einfach nicht mehr ansehen“, konterte ich und wischte ihm damit das blöde Grinsen aus dem Gesicht.

„Vorsicht“, warnte Nick mich leise und berührte mich am Arm. „Die Jungs zu provozieren ist keine gute Idee.“

„Dann soll er mich mit seinen dummen Sprüchen in Ruhe lassen.“ Ich trat ein Schritt von Nick weg, um seiner Berührung zu entgegen, aber das Kribbeln an dieser Stelle verschwand nicht so einfach. Was war das nur? Um mich abzulenken, schaute ich in Richtung Tür. „Wie lange dauert das denn noch?“

„Keine Ahnung.“ Auch er folgte meinem Blick. „Eigentlich kommt Taid immer ziemlich schnell zum Punkt.“

Ja, nur konnte ich mir in diesem Fall nicht vorstellen, dass da allzu viel Gutes bei rauskam. „Was will er von Reese?“

Wieder ein gleichgültiges Schulterzucken. „Hat er mir nicht gesagt.“

Als es hinter mir schepperte und der Simia-Proles im wilden Wahn aufschrie, verbot ich mir, mich umzudrehen, auch wenn all meine antrainierten Instinkte das Gegenteil von mir verlangten. Ein wilden Proles im Rücken zu haben, der völlig entzückt von dem Blutbad war, das er veranstaltet hatte, war kein empfehlenswerter Zustand.

Ich widerstand der Versuchung, mir mit der Zunge über die Narbe meiner Lippe zu fahren und sah zu Nick auf. Wie waren er und Reese nur in diesen Sumpf geraten? Die beiden schienen mir nicht … böse. Vielleicht ein wenig verkorkst, aber nicht böse.

Ich verzog innerlich das Gesicht. Als wenn man die Welt in Gut und Böse einteilen konnte. Manchmal waren es die Umstände, die einen dazu zwangen sich in Situationen zu begeben, die man unter anderen Bedingungen niemals betreten hätte. Andererseits, was wusste ich schon von Reese und Nick? Dass sie Brüder waren und auf ihre jeweils eigene Art ein wenig verschroben.

Nick neigte den Kopf leicht zur Seite. „Warum guckst du mich so an?“

„Wie guck ich dich denn an?“ Noch während er den Mund öffnete, schüttelte ich schon den Kopf. „Egal.“ Mein Blick glitt wieder zur Tür, doch die wollte sich noch immer noch öffnen. Da konnte ich noch so sehr Zauberformeln vor mich hinmurmeln, sie blieb verschlossen und Reese weiterhin in den Eingeweiden der Fabrik verschollen.

Eine erneute Berührung am Arm holte meine Aufmerksamkeit wieder zu Nick zurück. Ich sah auf seine Finger, die langsam über meine Haut strichen, sah hinauf in dieses viel zu schöne Gesicht mit den strahlend weißen Beißerchen und runzelte die Stirn, bevor ich einen entschlossenen Schritt zurück machte. Nicht dass es unangenehm gewesen wäre, es war nur … seltsam. Bisher hatte sich sowas kein Kerl bei mir getraut.

So wie Nick lächelte, schien er zu wissen, was in meinem Kopf vor sich ging. Wenigstens zum Teil. „Und, hast du heute Abend schon etwas vor?“

Ich blinzelte, versuchte den Sinn hinter diesen Worten zu verstehen, doch irgendwie entging er mir. „Bitte?“

Das leise Lachen, das er von sich gab, konnte man nur mit herb und männlich umschreiben.

Meine Stirn legte sich in Falten. Machte er sich etwa über mich lustig?

„Ich wollte wissen …“

„Moment“, unterbrach ich ihn, als mein Handy in meiner Jackentasche auf sich aufmerksam machte. Ein kurzer Check des Displays sagte mir, dass Evangeline mich sprechen wollte. Ich sah kurz zu dem Simia-Proles, der immer noch verräterisch laute Geräusche von sich gab und drückte ihren Anruf dann weg. Ich wollte gar nicht wissen, was ihr bei der Geräuschkulisse durch den Kopf gehen würde. Nein, Evangeline sollte davon nichts mitbekommen. Das war besser.

„Wer war das?“, fragte Nick mit unverhüllter Neugierde.

„Meine beste Freundin, Eve.“ Ich tippte mir mit dem Handy gegen das Kinn, sah zu der Voliere und dann zu den Tribünen, da klingelte das Handy schon wieder. Mit einem „Ich bin mal kurz draußen“ ließ ich Nick stehen und verließ das alte Lagerhaus. Nicks seltsamen Blick bemerkte ich dabei gar nicht.

Kaum war die Tür hinter mir ins Schloss gefallen, klingelte mein Handy bereits das dritte Mal. Ich zog meine Jacke fester um mich und blieb vor dem kleinen Dachvorsprung. Der Regen hatte etwas nachgelassen, aber noch immer nicht aufgehört und meinen halbtrockenen Zustand wollte ich gerne beibehalten.

Anruf annehmen, Handy ans Ohr halten. „Hi Eve.“

„Oh Gott, Grace, Grace, Grace! Du wirst niemals erraten was mir heute passiert ist!“

Ich lehnte mich an die kalte Steinfassade. „Deine Chips sind zur Neige gegangen und im Supermarkt waren sie ausverkauft?“

„Was? Nein! Ich habe heute eine Nest Minors ausgeräuchert!“

Ich verzog das Gesicht. Diese kleinen Viecher hasste ich. Zwar waren diese kleinen rattenartigen Abkömmlinge die verhältnismäßig ungefährlichsten Proles die es gab, aber wenn man sie in ganzen Nestern antraf, konnte man ganz schön in Bedrängnis kommen.

„Wir haben den Auftrag bekommen ein Minornest am Flughafen zu beseitigen und ich durfte einen richtigen Flammenwerfer benutzen!“

„Und? Ist deine hässliche Uniform dabei wenigstens in Flammen aufgegangen?“

Sie lachte mir ins Ohr, so herzlich, dass ich plötzlich das Bedürfnis verspürte, ihr alles zu erzählen. Zwischen uns hatte es nie Geheimnisse gegeben. Sie, Domenico und ich, wir erzählten uns einfach alles und jetzt etwas vor ihr verbergen zu müssen … es fühlte sich einfach falsch an, auch wenn ich wusste, dass es so das Beste war.

„Nein, das nicht“, lächelte sie noch immer und ich konnte mir geradezu vorstellen, wie sie auf dem Rücken auf ihrem Bett lag, mit dem Handy am Ohr die Decke anstarrte und dabei mit dem übergeschlagenen Bein wippte. „Aber Mace der Trottel hat ein paar Gepäckstücke der Passagiere in Asche verwandelt. Man, das hat ein Mordstheater gegeben.“

Das konnte ich mir vorstellen. Flammenwerfer waren sauschwer, aber sie wurden bei der Jagd nach Minors bevorzugt, da die kleinen Biester sonst kaum zu erwischen waren. Aber man musste mit den Dinger echt aufpassen, wohin man zielte. „Wer ist Mace?“

„Wer Mace ist? Hörst du mir eigentlich nie zu, wenn ich dir etwas erzähle?“ Sie stöhnte genervt und wartete gar nicht erst auf eine Antwort von mir. „Mace ist der Partner von Benedikt und Benedikt ist mein Lehrcoach.“

„Ach ja. Hab ich vergessen.“

Es raschelte, als wenn sie sich auf den Bauch drehen würde. „Das hab ich gemerkt. Aber weißt du was das wirklich süße bei der ganzen Sache war?“

„Er hat auch noch einen niedlichen Teddybären zu Kohle verarbeitet?“

Wieder ein Lachen. „Nein. Das Süße dabei war, dass er die Koffer nur wegen mir verbrannt hat.“

„Wollte er dich mit einem Freudenfeuer beeindrucken, oder was?“ Als mir ein Tropfen eiskaltes Regenwasser in den Nacken tropfte, zuckte ich zusammen und rutschte ein Stück zur Seite.

„Nein. Da sind plötzlich ein Dutzend Minors aus diesen komischen Gepäckrollbändern gekrochen, oder wie die Dinger auch heißen und da ich gerade noch dabei war, ein paar andere von diesen Viechern zu grillen, hab ich die nicht bemerkt. Da ist er für mich in die Bresche gesprungen.“

„Und hat nebenbei noch den halben Flughafen abgefackelt.“

„Quatsch.“ Das Lächeln in ihrer Stimme war unüberhörbar. „Es waren wirklich nur ein paar Koffer. Und er hat es getan, damit mein Arsch in einem Stück bleibt.“

Langsam schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. „Das hört sich ja fast so an, als würdest du diesen Trottel jetzt doch mögen.“

„Vielleicht.“ Wieder ein Rascheln. Sie musste wirklich in ihrem Bett liegen. „Er ist eigentlich ganz nett, auch wenn seine Witze immer noch nicht lustig sind.“ Ein tiefes Seufzen drang durch den Hörer. „Ach Grace, was soll …“

Den Rest ihrer Worte bekam ich nicht mehr mit, da in dem Moment neben mir die Tür aufschlug.

Reese stampfte an mir vorbei, versuchte sich dabei eine Zigarette anzuzünden und bemerkte scheinbar gar nicht, dass ich hier stand. Oder er ignorierte mich mal wieder mit Absicht. Er wirkte nicht verärgert, nein, das war weit mehr. Was auch immer er da mit Taid besprochen hatte, es war nichts Gutes gewesen.

Die Tür ging ein weiteres Mal auf, dieses Mal mit weniger Schwung und Nick erschien vor dem Lagerhaus. „Man Tack, jetzt warte doch mal.“ Er eilte seinem Bruder in Regen hinterher. Direkt aufs Auto zu.

Die würden mich doch hier nicht einfach zurück lassen, oder? „Du, Eve, ich muss Schluss machen“, unterbrach ich sie. Im Moment konnte ich mich sowieso nicht auf ihre Erzählungen konzentrieren und da die beiden Männer gerade die Türen zum Wagen aufrissen und sich dran machten einzusteigen, hatte ich jetzt auch wirklich anderes im Kopf. „Wir telefonieren später“, fügte ich noch hinzu und legte dann einfach auf. Dabei hatten meine Beine sich schon in Bewegung gesetzt und trugen mich eilig zum Wagen.

Gerade als Reese den Wagen startete, riss ich die Beifahrertür auf und sah in zwei überraschte Gesichter. War das zu fassen? Die Blödmänner hatten mich wirklich vergessen! „Schön dass ihr nicht nur an euch denkt!“

Mit der Zigarette im Mund grummelte Reese etwas vor sich hin und drehte den Schlüssel im Zündschloss.

„Ja, sorry, war gerade ein wenig hektisch“, grinste Nick.

Reese schnaubte. „Steigst du jetzt ein, oder brauchst du eine Extraeinladung?!“, blaffte er mich dann an.

Gott, was war dem denn für eine Laus über die Leber gelaufen? „Und wo soll ich bitte einsteigen?“ Denn hier kam schon das nächste Problem. Der Wagen hatte nur zwei Sitze und die waren besetzt.

Nick spreizte grinsend seine Beine, sodass dazwischen ein Teil des Sitzes sichtbar wurde. „Mach es dir bequem.“

„Ich soll mich zwischen deine Beine setzten?!“

Er zuckte nur mit den Schultern. „Du kannst es dir auch auf meinem Schoß bequem machen, wenn dir das lieber ist.“

Ich sollte … ging es dem Kerl zu gut?! Ich würde mich doch nicht einfach auf seinen Schoß setzten!

„Entweder du steigst jetzt ein, oder ich lasse dich hier“, knurrte Reese und schnippte die Asche ungeduldig in den Aschenbescher. Nur leider ging dabei die Hälfte daneben.

„Keine Sorge, ich werde auch ganz artig sein“, versprach Nick.

Scheiße.

Leise vor mich hin fluchend kletterte ich etwas umständlich zwischen Nicks Beinen auf den Sitz. Das war immer noch besser, als allein in dieser Gegend zurückbleiben zu müssen. Außerdem konnte ich ja vorne an die Kante rutschen und müsste ihn so auch gar nicht zu nahe kommen. Theoretisch zumindest. In der Praxis funktionierte das natürlich nicht. Der Fußraum war dafür einfach zu klein und als Nick dann auch noch den Sicherheitsgurt um uns beide schloss, zog er mich dabei ganz automatisch an seine Brust.

„Entspann dich“, lächelte er dabei und lehnte sich zurück. Sein Atem kitzelte mich im Nacken, aber wie versprochen legte er seine Hände artig auf seinen Beinen ab.

Reese wartete nur noch darauf, dass ich die Beifahrertür zuzog, dann raste er auch schon los. Und mit Rasen meinte ich rasen. Von der Beschleunigung wurde ich regelrecht gegen Nick gedrückt und da half es auch nicht, dass ich mich am Armaturenbrett festkrallte.

„Geht das vielleicht auch ein wenig langsamer?“

Zur Antwort drückte er das Gaspedal gleich noch ein wenig mehr durch.

„Ach komm schon, Tack“, sagte Nick da. „Du schaffst das schon.“

„Wie zum Teufel soll ich das bitte schaffen?!“, blaffte er seinen Bruder an und sog wie ein Geisteskranker an seiner Zigarette. „Ist ja nicht so, dass … scheiße! Ich weiß gar nicht wo ich da anfangen soll. Wie stellt er sich das vor? Ich kann doch nicht …“ Er schlug aufs Lenkrad und starrte hinaus in die Nacht. Dabei schien er die Straße nicht wirklich zu sehen, was mir bei der Geschwindigkeit schon ein wenig Sorge bereitete.

Er ist nervös, wurde mir klar. Er war nicht sauer, er war nervös, ja fast schon verzweifelt. Wegen dem Gespräch mit seinem illegalen Arbeitgeber? „Was hat Taid denn von dir gewollt?“, traute ich mich zu fragen und bekam dafür gleich wieder einen von diesen Exklusivblicken von Reese.

„Hab ich dir nicht schon mal gesagt, dass du dich um deine eigene Scheiße kümmern sollst?!“, schnauzte er mich an.

„Hey, Tack, komm mal wieder runter. Grace kann nichts dafür. Und für dich ist das doch ein Klacks.“

Er drückte die Lippen zu einem festen Strich zusammen. „Sie soll sich einfach da raus halten!“

Nick drückte kurz mein Bein, was mich wohl beruhigen sollte, nur leider erreichte er damit das genaue Gegenteil. Mein Herz schlug dabei ein wenig schneller und es kribbelte an dieser Stelle. Irgendwie fand ich es ja lieb von ihm, dass er mir helfen wollte, nur wurde mir seine Nähe dadurch noch bewusster.

Er versuchte nach wie vor Abstand zu wahren, sofern das auf diesem beengten Platz möglich war. Seine Hände lagen gesittet auf seinen Oberschenkeln – kräftige Oberschenkel, wie mir auffallen musste.

Gestern, als er mich in der Zwingerhalle erwischt hatte, war er mir viel näher gewesen, doch jetzt, hier in diesem Wagen, wo ich jeden seiner Atemzüge in meinem Nacken spüren konnte, hatte seine Nähe etwas viel … naja, intimeres war wohl das falsche Wort, doch es ging schon in diese Richtung. Ich spürte wie sein Herz gleichmäßig in meinem Rücken klopfte, konnte seine Wärme fühlen, die sanften Bewegungen seines Brustkorbs.

Das alles lenkte mich in der Stille des Wagens so sehr ab, dass ich erst nach einer halben Stunde bemerkte, dass dies nicht der Weg in die Gilde war. „Wo fahren wir hin?“

„Nach Hause.“

Nach Hause? Nach Hause?! Er meinte doch wohl nicht den Ort, an dem ich ihm heute Morgen aus dem Bett geholt hatte, oder?

Als wir an dem kleinen Coffeeshop vorbei fuhren, in dem ich ihm heute Morgen seinen Kaffee geholt hatte, wurde mir klar, dass genau das sein Ziel war. „Aber was ist mit der Gilde? Wir müssen doch die Berichte …“

„Nerv mich nicht!“, ranzte er mich an und angelte in seinem Mantel nach den Zigaretten.

Das konnte er vergessen. „Die Berichte müssen täglich eingereicht werden. Die Statuten besagen …“

„Shanks“, knurrte er leise und fixierte mich mit einem so intensiven Blick, dass ich unwillkürlich schlucken musste und fast nach Nicks Hand gegriffen hätte, nur um mich irgendwo festhalten zu können. „Ob du es glaubst oder nicht, mir sind die Statuten durchaus bekannt und falls es deine kleine sonnenbeschienene Welt retten sollte, ich habe ein paar Vordrucke zu Hause, die ich dort ausfüllen werde, also nerv mich jetzt nicht mehr, sonst war es das letzte Mal, dass du in meinem Wagen mitgefahren bist!“

Nach dieser kleinen Rede starrte er wieder düster durch die Windschutzscheibe.

„Darf ich dich nerven?“, fragte Nick da ganz dreist.

In dem Moment hätte es mich nicht gewundert, wenn Reese seinen Kopf ein paar Mal gegen das Lenkrad geknallt hätte. Doch er beließ es einfach dabei weiter finster vor sich hinzustarren und sich eine Fluppe zu genehmigen.

Ich seufzte geschlagen. Von der Gilde aus kam ich prima nach Hause, aber von hier aus würde ich wieder tausend Mal umsteigen müssen und wahrscheinlich erst um Mitternacht in den heimatlichen vier Wänden sein. Vorausgesetzt, es fuhren noch alle Busse.

„Was ist?“, fragte Nick und tippte mit dem Finger gegen meine Hand, die ich in meinem Schoß mit der anderen verflochten hatte. „Du scheinst ein wenig angespannt.“

Reese lenkte den Wagen an der Kreuzung nach links, hinein in seine Straße. Bei Nacht wirkte sie gleich noch verkommener und ich konnte mir geradezu vorstellen, wie sich hier in jedem Hauseingang und jeder Gasse zwielichtige Gestalten herumtrieben.

„Ich habe nur gerade überlegt, wie ich um diese Zeit am besten nach Hause komme.“ Und zwar ohne den suspekten Individuen zu begegnen, die sich gerade schon in meinen Gedanken rumgedrückt hatten.

„Wenn du willst kann ich dich fahren“, bot Nick an und brachte mich damit dazu ihn über die Schulter hinweg in sein lächelndes Gesicht zu sehen.

„Das ist mein Wagen“, grummelte Reese und hielt nach einer Parklücke Ausschau – es sah schlecht aus.

„Ach komm schon, Tack.“ Nick tat etwas, das mich an einen Dackelblick erinnerte. „Du lässt mich doch sonst auch damit fahren.“

Was Reese daraufhin grummelte, verstand ich beim besten Willen nicht, doch Nickt schien darin eine Zustimmung zu finden und wandte sich mir wieder zu. „Also, was ist nun? Soll ich dich fahren?“

Einen Moment war ich versucht abzulehnen, weil ich eigentlich nicht wollte, dass Kriminelle wussten wo ich mit meiner Familie lebte. Andererseits hatte er heute Morgen meinen Lebenslauf gelesen und da stand meine Adresse drauf. Und die Aussicht darauf, in dieser Gegend um diese Uhrzeit allein durch die Straßen zu wandern, war auch nicht sehr verlockend. „Du würdest mich wirklich nach Hause bringen?“

„Nur unter einer Bedingung.“

War ja eigentlich klar gewesen, dass bei so einem Kerl ein Haken an der Sache dran sein musste. „Und welche?“, fragte ich misstrauisch.

„Niklas“, mahnte Reese mit einem eigenartigen Unterton in der Stimme. Er hatte endlich eine Parklücke ausmachen können und lenkte den Wagen nun rückwärts darin ein.

Nick ignorierte seinen Bruder. „Du gehst mit mir noch auf einen Absacker zu Murphy's. Dann fahr ich dich nach Hause.“

Bevor ich fragen konnte wer oder was Murphy war, kam von Reese ein klares: „Nein!“

Ich plusterte die Backen auf. „Was hast du da bitte mitzureden?“ Soweit kam es noch, dass ich ihn entscheiden ließ, was ich in meiner Freizeit trieb.

Er stellte den Motor aus, zog den Schlüssel ab und funkelte mich dann an. „Du gehst nicht mit Nick. Du bewegst deinen Hintern nach Hause und wenn ich ihn selber da hinfahren muss!“

Aber hallo, was schob er den plötzlich für einen Film? „Wie bitte kommst du darauf, dass ich mir von dir irgendetwas sagen lassen würde? Ich entscheide was ich mit meiner freien Zeit anfange, nicht du!“

Reese beugte sich mir entgegen, was etwas sehr Bedrohliches hatte, doch ich weigerte mich auch nur einen Zentimeter zurück zu weichen. „Ich kenne Mädchen wie dich nur zu gut. In deinen Augen ist Nick das Schärfste was der Welt passieren konnte und dass er jetzt mit dir weggehen will, ist wahrscheinlich der Höhepunkt deines armseligen Lebens. Nur leider ist Nick kein Kerl für rosarote Mädchenträume und ich habe keine Lust mir hinterher dein Geflenne reinzuziehen, weil mein ach so böser Bruder deine Traumblase hat platzen lassen.“

Ob ihm eigentlich klar war, dass Nick jedes seiner Worte hören konnte? Doch so wie der grinste, schien ihn die Meinung seines Bruders nicht zu interessieren.

„Weißt du was, Reese?“ Seinen Namen betonte ich besonders deutlich, da ich wusste wie sehr er das verabscheute. „Eigentlich hatte ich gar keine Lust heute noch wegzugehen. Aber allein um dir zu zeigen, dass du mir gar nichts zu sagen hast werde ich es tun.“ Ich rutschte herum, bis ich den Gurt öffnen konnte, ignorierte dabei sowohl den finsteren Blick von Reese, als auch das leise Lachen von Nick und stieß dann die Tür auf. „Komm Nick, lass uns zu Murphy's gehen.“ Und schon war ich aus dem Wagen raus.

„Danke, Mann.“ Nick klopfte seinem Bruder auf die Schulter. „Ohne dich hätte ich sie vermutlich nicht so schnell überzeugen können.“

Reese knurrte einmal mehr etwas Unverständliches und stieg dann aus, nur um mich über das Wagendach weiter anblaffen zu können. „Shanks! Steig sofort wieder in den verdammten Wagen, damit ich deinen verdammten Hintern in dein verdammtes Zuhause schaffen kann!“

Verwundert runzelte ich die Stirn. Er würde mich wirklich nach Hause fahren, nur damit ich den Abend nicht mit seinem Bruder verbrachte? Das war … bizarr. „Nenn mir nur einen vernünftigen Grund, warum ich das tun sollte.“

„Ja, Tack.“ Auch Nick schwang sich aus dem Wagen und sah seinem Bruder über das Dach entgegen. „Warum darf Grace nicht mit mir spielen gehen?“

Wäre die ganze Situation nicht so absurd, hätte mir der kleine Witz wohl ein Schmunzeln entlockt. Doch so beobachtete ich meine Lehrcoach still und bemerkte seinen Blickwechsel zwischen mir und Nick, nur um dann die Lippen zu einem festen Strich zusammen zu drücken.

„Niklas“, sagte er dann in einem Ton, den ich nicht zuordnen konnte. Irgendwie weich, gleichzeitig aber auch mahnend.

„Alles im grünen Bereich“, sagte Nick nur.

„Ich kann nicht mit, ich hab … zu tun.“

„Kein Problem.“

Reese rieb sich geschlagen über das Gesicht. „Kriegst du das auch wirklich allein hin?“

„Ja.“

„Okay.“ Er ließ die Hand sinken. „Wenn etwas ist, ruf mich an. Sofort. Und keinen Alkohol.“

„Ich bin doch nicht bescheuert.“

„Ich meine es Ernst, Nick. Reiß dich zusammen.“

Nick seufzte genervt und streckte den Arm über das Autodach. „Schlüssel?“

Mein ach so großer Lehrmeister sah nicht glücklich aus, reichte seinem kleinen Bruder dennoch den Autoschlüssel übers Dach. „Du weißt was Norbert gesagt hat?“

„Ja, stell dir vor, ich weiß es.“ Er ließ den Schlüssel in seiner Jackentasche verschwinden. „Er hat es nämlich zufällig zu mir gesagt.“

Daraufhin bekam er nur einen bösen Blick, der ihn grinsen ließ.

Ich dagegen sah nur verwirrt zwischen den beiden hin und her. Langsam glaubte ich, dass es um weit mehr ging, als nur darum, dass Nick mit mir weggehen wollte. Doch ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Wer war Norbert und was hatte er zu Nick gesagt?

„Bis nachher dann“, rief Nick und riss mich aus meinen Überlegungen, indem er seinen Arm um meine Schultern legte und mich nachdrücklich vorwärts schob. „Schnell weg, bevor er es sich noch einmal anders überlegt“, raunte er mir zu.

Als wir die Straße runter gingen, brannte sich Reese' Blick geradezu in meinen Rücken.

„Hast du Hunger?“, riss meine abendliche Begleitung mich aus meinen Gedanken. „Ich kenne hier in der Nähe einen netten Laden. Da gibt es den besten Burger der ganzen Stadt. Wenn du den nicht probiert hast, dann hast du etwas verpasst.“

„Du meinst Murphy's?“

„Nee.“ Grinsend dirigierte Nick mich an einem kleinen verrammelten Friseursalon vorbei in die kleine Seitenstraße daneben. Hochhäuser ragten zu beiden Seiten auf und auf der Straße lag so viel Unrat, dass es schon als eigene Mülldeponie durchgehen konnte. „Bei Murphy's kann man nichts essen. Aber ich hab Hunger, deswegen gehen wir zu American Style.“

„Aber du hast doch zu Reese gesagt, dass wir zu Murphy's gehen.“ Erst jetzt wurde mir bewusst, dass er immer noch den Arm um mich gelegt hatte. Und es war … okay.

„Das hab ich nur gesagt, damit Tack keinen Aufstand macht.“ Er grinste mich schelmisch an. „Er muss ja nicht immer alles wissen.“

Auch wieder wahr. Und da mein Magen sich mittlerweile auch schon über zu wenig Füllmaterial beschwerte, würde ich sicher nichts dagegen einwenden. Aber eine andere Frage hätte ich an dieser Stelle. „Warum wollte Reese nicht, dass ich mit dir weggehe?“

Das Lächeln in seinem Gesicht verrutschte ein wenig. „Er hat gerne alles unter Kontrolle“, sagte er und verriet mit damit im Grunde gar nichts. „Aber jetzt lass uns nicht mehr von dem alten Griesgram sprechen. Mich interessiert viel mehr was du so den ganzen Tag treibst. Hast du schon eine eigene Wohnung? Ich meine, bei deinen Eltern kannst du ja nicht mehr leben, die sind ja schließlich tot.“

Das sagte er so beiläufig, als wäre es nur eine völlig unbedeutende Nebensächlichkeit, wie zum Beispiel die Tatsache, dass es in der Zwischenzeit nur noch leicht nieselte. In dem Moment musste ich mir sagen, dass er es sicher nicht so gemeint hatte, schließlich wusste er nicht was es bedeutete seine Eltern an die Monster zu verlieren. „Nein“, sagte ich daher etwas zu leise. „Ich wohne mit meiner Schwester bei meinem Onkel.“

Er horchte auf. „Du hast eine Schwester? Ist die genauso hübsch?“

Mir gelang es nur mein Erröten zu verbergen, indem ich meine Haare vors Gesicht fallen ließ und mich in der Straße umsah, als würde ich mich für die Umgebung interessieren. Hübsch. Er hatte mich Hübsch genannt. Ich wurde in meinem Leben schon mit vielen Dingen betitelt, auch von Kerlen, aber noch nie hatte mich jemand hübsch genannt. Das zu hören war … nett. „Wynn ist die Hübsche von uns beiden.“ Ich sah ihn kurz an, nur um gleich wieder wegzusehen.

„Das kann ich mir nicht vorstellen.“

Oh ja, das ging runter wie Öl. „Das würdest du nicht sagen, wenn du sie kennen würdest.“ Und so kam es, dass wir uns den ganzen Weg zum Schnellrestaurant über Wynn unterhielten. Darüber wie sie aussah, was sie den ganzen Tag so trieb und warum sie immer das Weite suchte, wenn Onkel Roderick seinen Werkzeugkasten hervorholte. Meinen Onkel fand er noch interessanter und über die Pleiten, Pech und Pannen die er verursachte, konnten wir beide herzlich lachen. Erst als wir vor einem Schnellimbiss im amerikanischen Look standen und unsere Mägen im Einklang lautstark grummelten, verhallte unser Lachen. Aber das Lächeln blieb auf meinen Lippen, als er mir die Tür aufhielt und mich in den Laden geleitete.

Doch so eintönig und unauffällig, wie der Laden von außen wirkte, so sehr wurde man im inneren von den Farben erschlagen. Sitznischen, Rundtische mit Stühlen, die Theke mit den Barhockern, überall erblickte ich die Farben der amerikanischen Flagge. Alle Wände waren mit Bildern von amerikanischen Großstäten zugepflastert. An der Wand hing ein Schild, das uns in leuchtender Schrift „Dinner“ mitteilte und das Thema der Freiheitstatue war in diesem Laden eindeutig zu oft aufgegriffen worden. Football, Flaggen. Sogar ein Bild übers Rodeoreiten entdeckte ich.

Viel los war hier allerdings nicht. Außer uns gab es nur noch zwei andere Kunden, von denen der eine die ziemlich gelangweilte Bedienung vollquatschte.

„Ich weiß“, raunte Nick mir zu und kam mir dabei ziemlich nahe. „Ein wenig kitschig, aber das Essen ist der Hammer.“

Ich sah ihn über die Schulter hinweg an. Bildete ich mir das ein, oder rückte er mir schon die ganze Zeit mit Vorsatz so dicht auf die Pelle? Wahrscheinlich war das nur ein Wunschtraum meinerseits. Nick war nun mal ein echter Hingucker und welches weibliche Wesen würde sich von der Aufmerksamkeit seinerseits nicht geschmeichelt fühlen? Besonders wenn man immer dieses Kribbeln bekam, sobald man von ihm berührt wurde. „Es ist etwas grell“, stimmte ich ihm zu.

Er lächelte und schob mich nach vorne zum Tresen, von wo aus wir die Speisekarte über der Essensausgabe studieren konnten.

„Was willst du haben?“

Ja, das war eine sehr gute Frage. Das Angebot auf den Bildern sah ziemlich lecker aus, aber alles irgendwie so gleich. „Ähm … keine Ahnung. Such du was aus.“

Das Grinsen das er daraufhin bekam, ließ mich meine eigenen Worte Augenblicklich bereuen.

„Hey, Debby!“, rief er quer über die Theke und bekam damit die Aufmerksamkeit der schlanken Bedingung mit dem Megavorbau.

Bei Nicks Anblick bekam die Kellnerin ein so freudiges Strahlen im Gesicht, dass sie der Sonne glatt Konkurrenz machte. Mit ihrer kurzen Uniform und der Kaugummiblase passte sie einfach perfekt in diesen ganzen Amilook. „Nick!“, rief sie begeistert, ließ ihren leicht empörten Kunden einfach stehen und kam auf ihren endlos langen Beinen zu uns gestelzt. „Hey, du hast dich ja schon ewig nicht mehr blicken lassen!“ Sie beugte sich über den Tresen, um Nick einen Kuss auf die Wange zu geben. Dabei wurde ihr Prachtstück von Vorbau leicht zusammen gedrückt und gab diesem dadurch noch mehr Geltung, als er durch das Kostüm sowieso schon hatte.

„Mensch, wo hast du dich nur die ganze Zeit rumgetrieben“, flötete sie weiter. „Und wo hast du meinen Hasen gelassen?“ Sie ließ ihren Blick über Nick gleiten, als würde ihr Hase gleich hinter ihm hervorspringen, streifte mich nur desinteressiert und blickte dann wieder erwartungsvoll zu meiner Begleitung.

„Tack schmollt. Daher bin ich lieber mit meiner süßen Grace hergekommen.“ Er legte mir seinen Arm wieder um die Schultern, damit auch kein Zweifel daran aufkommen konnte, von wem er sprach.

Moment, süße Grace? Aber noch viel wichtiger: Reese war ihr Hase?! Oh ja, nicht loszuprusten war wirklich schwer. Wenn ich an Reese dachte, kam mir ein griesgrämiger Grizzlybär in den Sinn, den man gerade aus seinem Winterschlaf geweckt hatte und kein kleines Hoppelhäschen, das bei der Aussicht auf eine Karotte freudig mit der Nase wackelte.

„Ah … ja“, machte diese Debby und musterte mich sehr ausgiebig. Dass sie dabei immer wieder an meiner Narbe hängen blieb, machte sie mir nicht wirklich sympathischer.

„Gibt es einen Grund, warum du mir die ganze Zeit auf die Lippen starrst?“

Ihr Blick huschte zu meinen Augen.

„Vielleicht will sie ja eine Runde mit dir rumknutschen“, überlegte Nick laut.

Debbys Wangen färbten sich leicht rosa. „Ganz sicher nicht“, schnaubte sie und wandte sich der Kaffeemaschine zu.

„Aber ich würde gerne eine Runde mit dir rumknutschen“, raunte Nick mir zu. Dann lehnte er sich völlig entspannt mit den Unterarmen auf den Tresen, um unsere Bestellung aufzugeben.

Ich hörte seine Worte kaum. Vielleicht hatte ich noch nicht viel mit Kerlen zu schaffen gehabt, jedenfalls nicht so, aber das war doch eindeutig eine Anmache gewesen. Oder? Vielleicht war das ja auch einfach nur seine Art und ich bildete mir das nur ein.

Mist, warum war Evangeline nicht hier? Die könnte mich über das Mysterium Männer sicher aufklären. Meinetwegen auch Domenico. Er war ja schließlich ein Kerl, also müsste er sich da auskennen. Ob es wohl auffallen würde, wenn ich ihm unauffällig eine Nachricht schicken würde?

Ich schielte kurz zu Nick und zog dann entschlossen mein Handy aus der Tasche. Mit fliegenden Fingern tippte ich ihm eine Nachricht.

 

!!! SOS !!! Woran erkenne ich, dass ein Kerl mit mir flirtet? !!! SOS!!!

 

Gerade als ich auf Senden drückte, drehte Nick sich lächelnd zu mir um. „Was machst du?“

Neugierig war er ja schon. „Ich schreibe meinem Onkel eine Nachricht, damit er sich keine Sorgen macht, weil ich noch nicht zu Hause bin.“ Das stimmte zwar nicht, aber ich konnte ihm ja schlecht sagen, dass ich mir den Rat von einem Kerl holte, um ihn besser einschätzen zu können. Und wo ich schon mal dabei war, schickte ich wirklich eine Nachricht an meinen Onkel. Nicht dass er noch auf die Idee kam die Polizei zu alarmieren, weil ich mich in der Gegend rumtrieb.

„Komm“, sagte Nick da und führte uns in die Sitznische ganz hinten in der Ecke. „Debby bringt uns gleich die Getränke.“

Die Plastikbänke und auch der Tisch sahen sauber aus. Ich zog meine Jacke aus und rutschte auf der Bank bis ans Fenster durch. Nick nahm mir gegenüber Platz und lächelte wieder mit diesen Strahlemann-Zähnen.

„Du scheinst sie gut zu kennen“, sagte ich nur um irgendetwas von mir zu geben, denn plötzlich war ich irgendwie nervös. Wie lange würde Domenico brauchen um mir zu antworten?

Nick zuckte nur mit den Schultern. „Reese und ich waren hier mal essen und da ist ein Beccus in die Küche eingedrungen. Das war ein Riesengeschrei kann ich dir sagen.“

Das konnte ich mir vorstellen. Ein Beccus war zwar nicht besonders groß, eher wie eine sehr große Hauskatze, aber der Schnabel war nicht nur verdammt spitz, sondern auch sehr kräftig. Ein Knochen der dazwischen geriet, war noch in der gleichen Sekunde durch. Und die scharfen Krallen hatten bereits so manche Haut wie dünnes Papier durchschnitten. „Und da seid ihr beide heldenhaft aufgesprungen und habt die arme Jungfrau aus ihrer Not gerettet“, riet ich einfach mal. Klang für mich logisch.

Nick lachte leise. „Nicht so ganz. Reese ist aufgestanden und hat dem Biest eine Kugel in den Kopf gejagt, als es sich gerade auf Debby gestürzt hat.“

„Und deswegen ist er jetzt nicht nur ihr Held, sondern auch ihr Hase.“ Bei dem Spitznamen verzog ich innerlich wieder das Gesicht. Hase. Wirklich, nein, das passte überhaupt nicht.

Nicks Mundwinkel kletterten eine Etage höher. „Nenn ihn bloß nicht so. Er bekommt immer die Krise, wenn sie ihn so anspricht und das findet sie dann voll niedlich.“

Hm, die Frau lebte wohl gerne gefährlich.

Das Objekt unseres Gesprächs kam herbeigestelzt und stellte zwei Getränke vor uns ab. Nick bekam eine Cola und ich etwas das wie ein giftgrüner Cocktail aussah. „Essen kommt auch gleich“, flötete sie und stelzte schon wieder davon.

Misstrauisch begutachtete ich mein Getränk. Irgendwie erinnerte mich das Grün an Götterspeise, nur dass man die hier durch einen Strohhalm ziehen musste. Fehlte eigentlich nur noch das Schirmchen. „Was ist das?“

„Probier es doch einfach“, erwiderte er lächelnd.

„Auf deine Verantwortung.“ Ich senkte die Lippen an den Strohhalm und sog einmal kräftig. In meinem Mund breitete sich ein herber und doch süßlicher Geschmack mit einem Hauch von Minze aus, der den Alkohol darin nur zum Teil überdeckte. Es schmecke … interessant. Nicht schlecht, nicht gut, einfach nur interessant.

„Und?“, fragte Nick, kaum dass ich den Strohhalm aus meinem Mund entlassen hatte.

Doch dazu, ihm meine Meinung zu verkünden, kam ich nicht mehr, weil in dem Moment mein Handy klingelte. Ein Blick aufs Display verriet mir, dass es Domenico war. Och nö. Er sollte mir doch schreiben und mich nicht anrufen. Mit einem „Moment“ in Nicks Richtung, hielt ich mir das Handy ans Ohr. „Hey Dom, was gibt es?“

„Was es gibt? Erst meldest du dich nicht bei mir, weil du zu müde bist und jetzt fragst du mich, woran du erkennst, dass ein Kerl mit dir flirtet? Was für ein Kerl?“

„Ähm …“ Der Drang, kurz zu Nick zu gucken, war ziemlich groß, doch ich schaffte es, diesem zu widerstehen. „Einen Bekannten.“

„Ein Bekannter? Einen den ich kenne?“

„Nein.“

Er schwieg kurz. „Du scheinst gerade ziemlich kurz angebunden zu sein.“

„Ja.“

„Liegt das zufällig daran, dass besagter Bekannter gerade bei dir ist.“

„So könnte man es sehen.“

„Das heißt, du kannst gerade nicht offen sprechen?“

Ich hörte das Lächeln geradezu in seiner Stimme. „Das ist nicht lustig.“

„Doch, ist es.“

„Ich hätte Eve fragen sollen und nicht dich“, grummelte ich und spielte mit dem Strohhalm in meinem zähflüssigen Getränk herum.

Nick nahm einen Schluck aus seinem Glas und beobachtete mich dabei so intensiv, als versuchte er herauszufinden, was am anderen Ende besprochen wurde.

„Weil Eve ja auch so viel mehr Ahnung von Kerlen hat.“

„Sie hätte mich jedenfalls nicht aufgezogen.“

Er seufzte. „Ach Grace. Meine kleine, naive, unschuldige Grace. Ich denke, du bist alt genug es zu bemerken, wenn ein Kerl mit dir flirtet.“

Na toll. „Du bist echt keine große Hilfe.“

„Ich möchte bloß nicht die Spannung verderben. Du wirst es schon merken, wenn er etwas mehr von dir will.“

„Du weißt schon, dass ich dich gerade liebe?“, fragte ich äußerst sarkastisch und bemerkte aus dem Augenwinkeln, wie Nick stirnrunzelnd das Glas zurück auf den Tisch stellte.

„Ich hab dich auch lieb. Und jetzt werde ich dich nicht weiter stören, und ich wünsche dir viel Spaß mit deinem Bekannten und dem Rätsel, ob er mit dir flirtet. Bis Freitag.“ Und schon hatte er aufgelegt.

Ich starrte noch einen Moment grimmig auf das Handy und fragte mich, warum ich nicht Evangeline um Rat gebeten hatte. Das wäre sicher ergiebiger gewesen.

„Wer war das?“

Ich steckte das Handy zurück in meine Jackentasche und bemerkte dabei, wie schon heute Morgen, wieder diesen seltsamen Glanz in Nicks Augen. Oder bildete ich mir das ein? „Dom.“

Nick lehnte sich zurück und strich mit dem Finger über das Kondenswasser an seinem Glas. „Ich dachte du hast keinen Freund.“ Bei den Worten lächelte er leicht, doch sein Ton klang irgendwie vorwurfsvoll, als glaubte er, dass ich ihn belogen hätte.

„Ich habe ja auch keinen Freund, das hab ich dir heute Morgen schon gesagt.“ Ich hatte in meinem Leben ja noch nicht einmal einen Kerl geküsst. Das Wort Spätzünder bekam bei mir eine völlig neue Bedeutung, aber ich hatte mich eben einfach nie genug für das andere Geschlecht interessiert, um so weit zu kommen.

„Ich weiß“, lenkte er ein und betrachtete mich dabei sehr intensiv. „Aber irgendwie kann ich mir das bei dir gar nicht vorstellen.“

Wie sollte ich das denn jetzt verstehen? Irgendwie war es mir unangenehm, mit ihm darüber zu reden. Ich kannte ihn ja kaum, und er schien in diesen Dingern auch viel mehr Erfahrung zu haben. Was er wohl denken würde, wenn er die Wahrheit wüsste? Eigentlich wollte ich das gar nicht so genau wissen. „Könnten wir bitte das Thema wechseln?“

„Warum?“ Er beugte sich wieder leicht vor und musterte mich, bis das richtige Lächeln auf seine Lippen zurückkehrte. „Das ist dir doch nicht etwa peinlich, oder?“

Doch. „Nein, ich habe nur einfach keine Lust, mit dir dieses Thema zu diskutieren.“

Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Verstehe, du willst dass ich den Anfang mache.“

„Nein, so habe ich das eigentlich nicht gemeint. Ich …“

„Nein, nein, ist schon okay.“ Er leerte den Rest seines Glases in einem Zug und stützte sich dann mit den Unterarmen auf dem Tisch ab. „Mal sehen.“ Sein Blick richtete sich gedankenverloren auf die Vergangenheit. „Als ich vierzehn war, habe ich das erste Mal ein Mädchen geküsst und mit sechzehn hatte ich dann das erste Mal richtigen Sex.“

Richtiger Sex? Gab es denn auch falschen? Diese Frage würde ich sicher nicht laut stellen.

„War natürlich nicht das gleiche Mädchen gewesen. Hm, was noch.“ Nachdenklich verzog er die Lippen. „Meine erste Beziehung hatte ich ein halbes Jahr später, hat aber nur drei Wochen gehalten und meine längste Beziehung hielt etwas länger als ein Jahr. Seitdem bin ich vogelfrei. So und nun bist du daran.“

Ich? Unbehaglich verschränkte ich die Arme vor der Brust und wich seinem Blick aus. „Bei mir gibt es nicht zu erzählen.“

„Ach komm schon, Grace, ich war auch offen zu dir. Da kannst du …“ Seine Augen wurden groß, als er wohl die Wahrheit hinter meinen Worten erkannte. „Heißt das, du bist noch Jungfrau?“

Wie er das aussprach, als wäre es etwas Verwerfliches. „Na und? Kann ja nicht jeder den lieben langen Tag durch die Gegend vögeln.“

Darauf ging er gar nicht ein, sondern musterte mich sehr intensiv von oben bis unten. „Aber du hast doch sicher schon mit einem Kerl rumgeknutscht.“ Als ich daraufhin nur schweigend den Tisch anstarrte, bekam er richtig große Augen. „Im Ernst, du hast noch nie einen Typen geküsst? Du bist also wirklich noch eine richtige Jungfrau?“

Verdammt, das hier mit ihm zu diskutieren, wo uns jeder hören konnte, war mir wirklich unangenehm. Nein, Moment, es war mir sowieso unangenehm mit einem praktisch Fremden darüber zu sprechen.

„Grace?“

„Ja verdammt! Ich hab noch nie mit einem Kerl rumgemacht, zufrieden?“

So wie er die Stirn runzelte vermutlich nicht. „Warum?“, wollte er wissen. „Willst du dich für deine Hochzeitsnacht aufheben? Ich meine, Verrückte gibt es ja überall.“

„Verdammt, kannst du das Thema nicht einfach fallen lassen?“

„Nein, jetzt bin ich neugierig.“ Er beugte sich noch ein wenig vor. „Also, was sind deine Gründe, denn sorry wenn ich das so sage, aber das ist ganz schön anormal.“

Ich warf einen hilfesuchenden Blick durch den Laden, aber da war niemand, der mich aus dieser Situation retten konnte. Oder von dem ich gerettet werden wollte. Warum nur hatte ich so dickköpfig sein müssen? Wäre ich doch nur mit Reese nach Hause gefahren.

„Ach komm schon Grace, ich bin wirklich nur neugierig“, bettelte Nick mit einem Hundeblick, der irgendwie niedlich aussah. „Hey, ich hab eine Idee.“ Er beugte sich noch weiter vor und hing damit halb über den Tisch. „Wenn du mir antwortest, dann darfst du mir auch eine Frage stellen, auf die ich antworten muss. Egal was für eine Frage.“

Bei diesen Worten horchte ich auf. Das wäre die Gelegenheit endlich etwas Licht ins Dunkel zu bringen. Aber würde er sich auch daran halten? Langsam hob ich den Blick und sah ihm fest in die Augen. „Wirklich jede Frage? Egal um was es geht?“

„Klar.“ Er lehnte sich auf dem Sitz zurück. „Ich stehe zu meinem Wort. Also, was ist?“

Okay, diese Gelegenheit sollte ich mir wohl nicht entgehen lassen. „Nein, es hat nichts damit zu tun, dass ich mich für irgendwas oder irgendjemand aufsparen möchte, es ist einfach nur nie dazu gekommen, weil ich früher ein psychisches Wrack war und danach zu beschäftigt mit Lernen und meiner Ausbildung. Es gab einfach nie jemanden, für den ich mich genug interessiert hatte, um mit ihm rumzuknutschen, oder sogar zu schlafen.“

Er wartete in der Hoffnung, dass da noch etwas käme, doch als ich schwieg, verzog er enttäuscht den Mund. „Das ist alles? Du hattest einfach nur kein Interesse und nicht genug Zeit?“

Ich hob eine Augenbraue. „Na was hast du den jetzt erwartet?“

Er seufzte unzufrieden auf. „Das ist ja langweilig.“

„Egal, Deal ist Deal und jetzt schuldest du mir auch eine Antwort.“

Das ließ ihn schmunzeln. „Klar, schieß los.“

„Okay.“ Ich lehnte mich mit den Unterarmen auf den Tisch, wie er es zuvor gemacht hatte. „Wie seid ihr an diesen Taid geraten? Also ich meine, wie …“

„Wie wir in die ganze Sache mit reingerutscht sind, uns jetzt mit den bösen Jungs abgeben und uns von einem Kriminellen bezahlen lassen, der illegale Proles-Kämpfe ausrichtet?“ Er schmunzelte.

Ich nickte, da es das so ziemlich auf den Punkt brachte.

„Dir ist klar, dass du mich das auch einfach so hättest fragen können?“

Gut zu wissen, doch leider war es dafür jetzt ein wenig zu spät. „Das war keine Antwort.“

„Nein, war es nicht.“ Lächelnd zog er seinen Finger durch das Kondenswasser von seinem Glas, das sich auf dem Tisch gesammelt hatte. „Manche Menschen müssen kämpfen um zu überleben, das sind halt die Wege des Schicksals.“

Wege des Schicksals? Ganz schön philosophisch.

Er sah zu mir auf. „Eigentlich fing das Ganze mit einem Mädchen an.“

„Mit einem Mädchen?“

„Klar, die großen Dinge beginnen doch immer mit einem Mädchen.“ Er grinste mich verspielt an. „Damals ging ich noch zur Schule, zehnte Klasse und da war dieser absolut rattenscharfe Feger.“

Ich verdrehte die Augen. Na das fing ja gut an.

„Praktisch die ganze Schule war hinter ihr her und ich auch, aber sie war nicht leicht zu beeindrucken und ging nicht mit jedem aus. Sie wollte, dass man ihr bewies, dass man es Wert war, ihre kostbare Zeit zu bekommen.“

Ich zog eine Augenbraue hoch. Was war das denn für eine gewesen? „Und du hast es ihr bewiesen?“

„Oh ja.“ Er lachte. „Und wie ich es ihr bewiesen habe. Ich habe mich ins Sekretariat geschlichen, die Tür von innen verrammelt und …“ Nick unterbrach sich, als Debby mit unseren Tellern angestöckelt kam.

„Hier, bitte, zwei Mal der XXL-Burger Surprise. Lasst es euch schmecken.“ Und schon war sie wieder weg.

Ich starte auf meinen Teller. Wie bitte sollte ich dass alles essen? Es sah wirklich fantastisch aus, aber der Burger war riesig und dazu gab es auch noch einen Berg von Pommes, der sich neben einer sehr kleinen Salatbeilage türmte. „Und das soll ich alles essen?“

Nick grinste mich breit an und ließ eine Fritte in seinem Mund verschwinden.

Bei dem verlockenden Duft der mir in die Nase stieg, grummelte mein Magen vernehmlich. Okay, dann mal ran an den Speck. Ich musste den Burger mit beiden Händen packen, damit er mir nicht auseinander fiel und schon beim ersten Bissen wusste ich ganz genau, warum Nick solche Lobreden auf ihn geschwungen hatte. Die Soße, die war echt der Hammer. Sowas hatte ich noch nie gegessen. Aber Gott, gäbe es die Möglichkeit, hätte ich vermutlich darin gebadet.

„Schmeckt es?“

Ich nickte begeistert, schluckte das Stück in meinem Mund herunter und leckte mir über die Lippen. „Du hast nicht zu viel versprochen. Aber jetzt erzähl weiter.“ Ich wollte schließlich noch immer wissen, wie er und Reese in dieses Sumpf geraten konnten.

„Ah, ja, meine Geschichte. Wo war ich stehen geblieben?“ Eine weitere Fritte fand ihren ewigen Frieden zwischen Nicks Kauleiste.

„Du hast dich ins Sekretariat eingeschlossen.“ Ich biss erneut in meinem Burger.

„Genau, Sekretariat. Also, sie wollte einen Beweis und den sollte sie auch bekommen. Ich hab mich da also eingeschlossen, bin dann zur Sprechanlage und habe dann mitten in der dritten Stunde der ganzen Schule verkündet, dass sie das Schärfste sei, was dieser Welt jemals passiert sei und dass sie sich mit mir am Samstag treffen soll, wenn sie das genauso sieht.“

Ich ließ meinen Burger sinken. „Das hast du nicht gemacht.“

„Doch.“ Grinsend schob er sich zwei weitere Fritten in den Mund. „Das gab zwar mordsmäßigen Ärger und einen zehnseitigen Aufsatz, aber sie hat sich am Samstag mit mir getroffen.“

Da konnte ich nur noch den Kopf schütteln. „Du bist verrückt.“

Seine Augen funkelten im Schein der Lampe seltsam. „Manchmal“, sagte er leise.

Das verstand ich nicht, aber da ich mich gerade für etwas anderes interessierte, fragte ich nicht weiter nach. „Und was hat das jetzt mit Taid zu tun?“

„Naja, Michelle ist die Nichte von Taid. Und bei einem unserer Treffen habe ich ihr erzählt, dass ich dringend einen Job suche. Da hat sie mir von ihrem Onkel erzählt. Alles nur oberflächlich und ziemlich geheimnisvoll. Ich war wahnsinnig neugierig auf diesen Job.“ Er griff nach seinem Burger und biss ein großes Stück heraus.

„Und als du gesehen hast, womit du es zu tun bekommst, hast du nichts Besseres zu tun gehabt, als frisch fröhlich mitzumachen?“

Er lachte über meine Worte. „Nein, ganz so ist es nicht gelaufen. Aber ich brauchte das Geld und Taid bezahlt ziemlich gut. Da sieht man schon mal über manche Kleinigkeiten hinweg.“

Ich schnaubte. „Du meinst wie die Tatsache, dass es illegal ist.“

„Genau“, erwiderte er ohne Reue oder schlechtes Gewissen.

„Und wie ist Reese dann in die Sache reingerutscht?“

„Naja, ich hab Taid gegenüber mal erwähnt, dass Reese der wohl beste Venator der Stadt ist und dass er sich keine Sorgen machen soll, weil er dicht halten wird. Und als Reese mich einmal abgeholt hat, hatte er ein Proles hinten bei sich im Wagen. Lebend.“

Natürlich.

„Taid hat das mitbekommen und hat Reese das Vieh abgekauft. Er bezahlt gut. Und so kam es eben, das Reese immer mal wieder Proles an Taid verkauft. Da bekommt er ja auch immer wesentlich mehr Geld als bei der Gilde.“

Eigentlich ging es mich ja nichts an, aber eine Frage brannte mir noch unter den Nägeln. „Wofür braucht ihr so viel Geld? Ich meine – ist jetzt nicht böse gemeint – aber ihr beide sehr nicht aus als würdet ihr viel verdienen. Auch eure Wohnung nicht. Und ihr wirkt auf mich auch nicht drogensüchtig, dass so einen Verschleiß rechtfertigen würde. Also stellt sich mir natürlich die Frage, was macht ihr damit?“

Nick starte auf seinen Burger, der auf halbem Wege zu seinem Mund in der Luft hängen geblieben war. Seine Augen waren trüb, als würde er geistig in der Vergangenheit stecken.

„Nick?“, fragte ich vorsichtig. Hätte ich besser nicht gefragt? „Tut mir leid, ich wollte nicht …“

„Wie gut bist du mit diesem Dom befreundet?“

Der plötzliche Themenwechsel riss mich für einen Moment aus der Bahn. „Was?“

„Der Typ mit dem du vorhin telefoniert hast.“ Er legte seinen Burger zurück auf den Teller. „Du hast gesagt, du liebst ihn.“

„Ich hab gesagt …“ Und dann brach ich in schallendes Gelächter aus. „Oh Gott, mach doch sowas nicht.“ Ich rieb mir übertrieben die Lachtränen aus den Augen. „Dom ist seit Jahren mein bester Freund. Sowas sagen wir uns ständig. Das darfst du nicht für bare Münze nehmen.“

„Er steht also nicht auf dich?“

Nicht gleich wieder loszuprusten, war echt schwer. „Gott nein, Domenico hat eine Freundin, die er anbetet. Da ist für mich kein Platz.“ Immer noch kichernd griff ich nach meinem Glas und trank ein Schluck. Sofort wurde es in meinem Magen warm. Ich trank nicht oft Alkohol und wenn doch mal, dann merkte ich es immer sehr schnell.

„Also nur ein Freund.“

„Ja, nur ein Freund.“

Nick schob sein Teller zur Seite und reichte mir die Hand über den Tisch. „Gib mir dein Handy.“

Ich runzelte die Stirn. „Ich soll dir mein Handy geben?“

„Ja, ich will dir meine Nummer geben. Dann kannst du mich anrufen.“

Ach so. Und ich hatte mich schon gewundert, was er jetzt mit meinem Handy wollte. Ich zog es aus meiner Jackentasche und legte es in seine offene Hand. Dann konnte ich beobachten, wie er mit flinken Fingern seine Nummer eintippte und es mir dann zurückgab.

„Ich werde deinen Anruf erwarten.“

Das Bild von einem Nick, der neben seinem Telefon lauerte, schoss mir durch den Kopf und brachte mich gleich wieder zum Kichern. Und irgendwie war damit der Knoten zwischen uns geplatzt. Ich lachte an diesem Abend noch so viel, dass ich am nächsten Tag davon sicher Muskelkater hätte, aber das war mir egal. Es machte einfach Spaß mit Nick zu quatschen und nebenbei einen Mammutteller zu leeren. Ich bestellte mir sogar noch ein weiteres von diesen giftgrünen Getränken, auch wenn mein Geldbeutel heftig dagegen protestierte. Das war wohl auch ein Grund dafür, dass ich irgendwann nicht mehr aus dem Lachen rauskam.

Es war schon weit nach Mitternacht, als Debby uns praktisch auf die Straße setzte, weil sie den Laden schließen wollte. Das ließ mich gleich noch mal lachen und so hing ich an Nicks Arm, als wir zum Wagen schlenderten.

Keine Ahnung woran das lag, ob nun an dem Alkohol, oder an Nicks Gegenwart, ich fühlte mich so wohl wie schon lange nicht mehr. Es machte einfach Spaß mit ihm durch die Straßen zu laufen und auf der Fahrt im Wagen so laut Musik zu hören, dass wir uns gegenseitig anschreien mussten, um uns zu unterhalten. Und als wir den Wagen an einer Ampel zum Wackeln brachten, weil wir in unseren Sitzen völlig abgedreht tanzten, verkündete ich, dass wir das noch mal machen müssten.

Erst als wir in meine Straße einbogen und die Müdigkeit sich bei mir langsam bemerkbar machte, wurde ich ein wenig ruhiger. Und als Nick dann bei mir vor der Haustür parkte und die Musik abschaltete, war der Kokon der Stille um uns herum fast unheimlich.

„Tja, dann danke für den netten Abend und das nach Hause bringen“, lächelte ich ihn an und spielte mit meinen Fingern an dem Strohhalm aus dem Laden herum, den ich aus was-weiß-ich für Gründen mitgenommen hatte. „War echt lustig mit dir.“

Er lachte leise. „Ich nehme das mal als Kompliment.“

„So war es auch gemeint“, grinste ich und sah kurz zum Haus. Die Fenster waren dunkel. Das hieß dann wohl, dass Onkel Roderick sich bereits hingelegt hatte. „Tja, ich werde dann mal reingehen.“ Meine Finger tasteten nach dem Sicherheitsgurt und lösten ihn.

„Grace?“

Als ich aufblickte, war sein Gesicht plötzlich direkt vor meinem. Wann hatte er sich denn soweit vorgebeugt?

„Du bist echt klasse, weißt du das?“

„Ähm … danke?“ Ich lehnte mich ein Stück zurück, um wieder einen angemessenen Abstand zwischen uns zu bringen. Das war nach meinem Geschmack gerade ein wenig zu nahe. Besonders da ich mir in meinem Zustand selber nicht traute.

Das entlockte ihm ein leises Lachen. „Hast du Angst?“

„Wovor sollte ich den Angst habe?“

„Davor.“ Im nächsten Moment zog er mich im Nacken zu sich, um das kurze Stück das uns noch trennte zu schließen. Und er küsste mich. Ohne Erlaubnis und ohne dass ich mich wehren konnte. Nein, ich konnte mich wehren und schlug ihm deswegen auch kräftig gegen die Brust, doch das entlockte ihm nur ein leises Lachen. „Komm schon Grace“, wisperte er, strich mit seinen Lippen flügelzart über meine und entlockte mir damit eine Gänsehaut. „Lass mich dir einen Kuss stehlen.“

Er gab mir gar nicht erst die Gelegenheit für Widerworte, da verschloss sein Mund schon wieder den meinen und löste irgendwo tief in mir drin ein Gefühl aus, das mich dazu verlocken wollte ihm zu folgen, seine Bewegungen zu begleiten, um dieses Gefühl zu vertiefen. Sein Geruch war wirklich umwerfend. Hatte ich schon jemals einen Kerl getroffen, der so gut roch? Ich konnte mich nicht daran erinnern. Vielleicht lag das aber auch nur an meinem benebelten Hirn, das nicht so ganz erfassen konnte, was ich da trieb.

Nur zögernd folgte ich seinem Beispiel, ahmte die Bewegungen nach und konnte es kaum glauben. Das war mein erster Kuss. Dieser umwerfende Typ, der mich schon den ganzen Abend zum Lachen gebracht hatte, verführte mich zu meinem allerersten Kuss.

Ich ließ mich in das Gefühl hineinfallen, kam ihm sogar noch entgegen. Mein ganzer Körper kribbelte und diese Empfindung zog von den Haarwurzeln bis in den kleinen Zeh. So etwas hatte ich noch nie gespürt und in diesem Moment wollte ich mehr davon. Das war einfach nur der Wahnsinn.

Etwas ungestüm drängten meine Lippen gegen die von Nick und entlockten ihm damit einen wohligen Seufzer. Doch das reichte mir nicht. Ich wollte ihn auch berühren und wagte es daher meine Hand auf seine Brust zu legen. Sein Herz schlug schnell und wäre die Mittelkonsole nicht im Weg gewesen, wäre er vermutlich zu mir auf den Sitz gerutscht. Ich jedenfalls verspürte dieses Bedürfnis und konnte es daher kaum glauben, als er sich schwer atmend vor mir löste, nur um meinen Blick mit seinem gefangen zu nehmen.

„Das wollte ich schon gestern machen“, flüsterte er, als wolle er diesen Moment nicht durch laute Stimmen stören.

Der gestrige Moment in der Zwingerhalle kam mir in den Sinn, wie er mich mit dem ganzen Körper gegen das Gitter gedrückt hatte. „Ich erinnere mich“, erwiderte ich genauso leise.

Nick beugte sich wieder ein Stück vor, um meine Lippen mit seinen zu streifen. „Gute Nacht, Grace.“ Sein Daumen wanderte über meine Wange. Dann setzte er sich zurück in seinen Sitz.

Ich lächelte etwas unsicher, unwissend was das jetzt alles zu bedeuten hatte. „Ähm … ja. Nacht.“

Ähm … ja, Nacht? Noch blöder ging es doch wohl nicht. Am liebsten hätte ich meinen Kopf gegen die Tür geknallt, entschied mich dann aber einfach dafür, sie zu öffnen und auszusteigen, nur um dann etwas unschlüssig vor der Tür zu stehen.

„Holst du mich morgen wieder ab?“, fragte Nick da, als spürte er mein leichtes Unbehagen.

„Wenn Reese da mitspielt.“

„Dann bis morgen.“ Sein Ton war so weich, dass ich davon wieder eine Gänsehaut bekam.

„Bis morgen“, hauchte ich leise und schlug die Wagentür zu.

Auf dem Weg zur Haustür schwebte ich beinahe und konnte es mir nicht verkneifen, alle zwei Meter über die Schulter zu lächeln. Erst als ich meinen Schlüssel aus der Tasche zog und Nick wegfuhr, stellte ich mir die Frage was zum Teufel da gerade passiert war.

Nick war unbestreitbar ein toller Kerl. Sowohl vom Aussehen, als auch vom Charakter. Okay, ich kannte ihn noch nicht wirklich gut, aber er war witzig und brachte mich zum Lachen. Außerdem ließ er sich nicht von Reese beeindrucken, aber im Grunde war er doch noch ein völlig Fremder für mich. Was sollte ich nur davon halten?

Als ich den Schlüssel ins Schloss stecke, sinnierte ich darüber, ob ich mich vielleicht in ihn verliebt hatte. Kam sowas mit einem einfachen Kuss? Warum hatte ich ihn überhaupt geküsst? Okay, es hatte sich wahnsinnig toll angefühlt, aber das hatte ich im Vorfeld ja nicht gewusst.

Machte ein Kuss aus uns jetzt ein Paar? Ich meine, er war schon toll, aber ich hatte ihn gestern – oder wenn man nach der Uhrzeit ging, vorgestern – zum ersten Mal in meinem Leben gesehen. Ging das mit der Liebe so schnell? Gott, dass ich so wenig Erfahrung hatte, nervte im Moment ehrlich.

Als ich seufzend die Haustür aufdrückte, entschloss ich mich dazu alles einfach auf mich zukommen zu lassen. Die Zeit würde meine Fragen sicher beantworten.

 

°°°°°

Kapitel 06

 

„Hier.“

„Uff!“

Reese donnerte mir den zusammengeklappten Käfig mit so viel Schwung gegen die Brust, dass ich nach hinten stolperte. Aber natürlich interessierte ihn das nicht. Schon war er dabei einen zweiten Käfig vom Anhänger zu ziehen.

„Geht das vielleicht auch ein wenig freundlicher?“ Ich ließ den Käfig zu Boden gleiten, um ihn am Griff nehmen zu können, da bekam ich den nächsten fast ins Gesicht geknallt. „Reese!“ Na sag mal, bei dem hakt es wohl.

„Wir sind hier nicht in Pussyland, also hör auf zu meckern und mach deine Arbeit.“ Er drückte mir den zweiten Käfig so gegen die Brust, dass er mir fast runter fiel. Dann zog er sich selber zwei vom Hänger und marschierte zurück in den Park.

Ich folgte ihm mit etwas Abstand und fragte mich, womit ich das schon wieder verdient hatte. Das ging bereits den ganzen Tag so. War seine Laune im Normalfall schon schlecht, so hatte sie heute einen absoluten Tiefpunkt erreicht. Und das, obwohl ich ihm heute wieder seinen blöden Kaffee gebracht hatte – dieses Mal sogar warm.

Aber das war egal. Er schien es sich heute zur Aufgabe gemacht zu haben, mich seine miese Stimmung mit jedem Atemzug spüren zu lassen. Das hatte bereits heute Morgen angefangen.

Ich war zwanzig Minuten zu früh bei ihm aufgetaucht. Nicht weil ich solche Sehnsucht nach meinem Lehrcoach hatte, sondern weil ich gehofft hatte Nick vorher noch anzutreffen, um mir über ein paar Dinge klar zu werden. Die ganze Nacht hatte ich wach gelegen, mich von einer Seite auf die andere gewälzt und die Wände angestarrt. Dieser Kuss ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Auch jetzt spürte ich wieder dieses Kribbeln, wenn ich nur daran dachte.

Doch leider war aus dem morgendlichen Wiedersehen mit Nick nichts geworden. Und das war allein Reese' Verdienst. Ich war noch nicht mal ganz an der Haustür gewesen, da trat er bereits mit finsterem Blick auf die Straße – zwanzig vor acht, viel früher als gestern. Es hatte nur einen kurzen Blick in meine Richtung gegeben, dann hatte er sich einfach abgewandt und war mit weiten Schritten zu seinem Wagen marschiert. Das bedeutete, wäre ich wegen Nick nicht früher gekommen, hätte ich meine Mitfahrgelegenheit verpasst.

Doch damit war es noch nicht genug gewesen. Wäre ich ihm in diesem Moment nicht geistesgegenwärtig hinterher gelaufen, hätte ich nur noch dabei zusehen können, wie er mit quietschenden Reifen davon fuhr. Nur weil dieser Blödmann mich gesehen hatte, hieß das nämlich noch lange nicht, dass er auch auf mich warten würde. Ich hatte es gerade noch so geschafft zu ihm in den Wagen zu springen und da erwartete mich schon die nächste Überraschung – nein, der Fußraum war sauber, dafür sorgte ich schließlich. Ich hatte ihm seinen Kaffee gereicht und was machte der Blödmann damit? Er ließ das Fenster herunter, warf ihn auf die Straße und zündete sich dann in aller Ruhe eine Zigarette an, bevor er genauso ruhig ausparkte.

Das war der Moment gewesen, in dem ich mir geschworen hatte, dass das der letzte Kaffee gewesen, der er in seinem ganzen Leben von mir bekommen hatte. Dieser undankbare … grrr! Sollte er in Zukunft doch selber sehen, woher er seinen Kaffee bekam. Diese Quelle war versiegt.

Doch leider war das Drama damit noch nicht beendet.

Reese war ja noch nie eine Ausgeburt an Höflichkeiten gewesen, aber die Sachen die er mir auf dem Weg in die Gilde um die Ohren gehauen hatte, lagen bereit jenseits von jeder Gemeinheit. Nur unfreundliche Sachen in Bezug auf meinen Charakter, mein Aussehen und mein Geschlecht. Und als wir dann in der Gilde gewesen waren um die Berichte abzugeben, wurde es auch nicht besser. Selbst Jilin und den anderen Venatoren war sein Verhalten aufgefallen. Und Devin war sogar zu mir gekommen, um zu fragen, was los sei.

Ja, was war los gewesen? Ich wusste es ganz genau. Reese war einfach nur angepisst, weil ich gegen seinen Willen mit Nick weggegangen war und das ließ er mich nun mehr als deutlich spüren. Doch das behielt ich für mich, weil es einfach niemanden etwas anging.

Erst bei der kurzen Besprechung mit den anderen Venatoren, nachdem Jilin ihn gefragt hatte, ob er einen Einlauf benötigte, um wieder runter zu kommen, war er ruhiger geworden. Genaugenommen hatte er seitdem kaum ein Wort mit mir gewechselt und sauerte still vor sich hin. Er sagte kein Wort, als Madeleine ihm den Auftrag für den Park überreichte und hielt auch die Klappe, als er mit mir zusammen die mobilen Fallen in der Garage auf den Hänger geladen hatte, um ihn dann an seinen Wagen zu koppeln. Er hatte mir auch nicht gesagt, was wir für einen Auftrag bekommen hatten. Dass wusste ich nur, weil ich den Zettel von der Mittelkonsole gemopst hatte, um mich selber zu informieren.

Gestern Abend wurde in diesem Park ein kleines Rudel von Orxyen gesichtet, doch als die Venatoren dort eintrafen, waren weder die Proles selber, noch Spuren von ihnen zu finden gewesen. Zu diesem Zeitpunkt war man noch davon ausgegangen, dass sie den Park einfach nur durchquert hatten, um woanders Unruhe zu stiften. Das war leider eine Fehleinschätzung gewesen, wie eine Spaziergängerin in den frühen Morgenstunden feststellte, als sie dabei zusehen musste, wie sich das Rudel auf ihren Hund stürzte, um ihn anschließend zu verspeisen.

Sie hatte sich in Sicherheit bringen können, doch leider waren die Oryxe bereits wieder verschwunden, bevor die von ihr alarmierten Venatoren eintreffen konnten. Unser Auftrag war es nun, das Gebiet zu sichern und dafür zu sorgen, dass kein Zivilist sich in der nächsten Zeit in den Park wagte, bis man das Proles-Problem dort behoben hatte.

Deswegen hatten Reese und ich die letzten zwei Stunden damit zugebracht, jeden Zentimeter des Geländes zu durchkämmen, aber auch wir hatten nicht eine Spur von ihnen finden können. Nichts. Es war, als wären diese Viecher nie hier gewesen, dabei musste es in dem matschigen Boden eigentlich haufenweise Hinweise auf sie geben. Zumindest Abdrücke ihrer Hufe. Aber da war einfach nichts. Die Bäume mit Gefahrenhinweisen zu versehen und Fallen aufstellen, war nun das einzige, was uns jetzt noch übrig blieb. Wenn das Oryxrudel einmal hier gefressen hatte, dann war stark davon auszugehen, dass sie wiederkommen würden und dieses Mal würden wir auf sie vorbereitet sein.

Aber im Moment blieb mir nichts anders übrig, als Reese in dem herbstfarbenen Park auf dem Kiesweg hinterher zu trotten und dabei aufzupassen, dass mir die Käfige und die Fleischköder nicht in den Matsch fielen. „Soll ich die Fallen zum Nordzugang bringen? Da haben wir noch keine aufgestellt.“

Er ignorierte mich.

„Reese?“

Stumm verließ er den Kiesweg, um quer über die Wiese auf die Sträucher am Rand zuzugehen.

„Könntest du wenigstens nicken, oder den Kopf schütteln?“

Zwei Schritte noch, dann stellte er seine Käfige ab und machte sich ruhig daran, den einen aufzuklappen.

„Oder mich beschimpfen, damit ich weiß, dass du nicht plötzlich taub geworden bist?“

Zink, zink. Die eine Seite rastete ein. Zink, zink. Die andere auch.

Während ich dabei zusah, wie er die Falle aufbaute und dann zwischen das Gestrüpp schob, bekam ich zusehends schlechte Laune. Verdammt, das war ja noch schlimmer, als mit ihm zu streiten, oder die ganze Zeit beleidigt zu werden. Am liebsten hätte ich ihm einen der Käfige auf den Kopf gehauen, nur um zu sehen, nur um zu sehen, ob er noch irgendwelche Geräusche von sich geben konnte. „Findest du es nicht albern so ein Theater abzuziehen, nur weil ich mit deinem Bruder unterwegs war?“

Mit stoischer Ruhe brachte er den Köder im Käfig an und hakte den Mechanismus ein. Fehlte eigentlich nur noch der Proles.

„Oder bist du sauer, weil wir dich nicht mitgenommen haben?“

Er schnaubte abfällig, richtete sich auf und tastete in seinem Mantel nach seinen Zigaretten.

„Verdammt Reese! Du willst mich am liebsten verjagen und gleichzeitig willst du aber über meine Freizeit bestimmen? Ist bei dir da oben irgendwas kaputt?“

Sein Feuerzeug klickte. Dann drehte er sich zu mir herum und visierte mich aus seinen schwarzen Augen mit einem Blick, der mich schlucken ließ.

Ein ganz seltsames Gefühl keimte in mir auf, eines, das ich nicht identifizieren konnte und mich frösteln und kribbeln ließ.

Reese sog an seiner Zigarette, ohne mich aus den Augen zu lassen, ließ dann den Arm sinken und stieß den Rauch dann wieder aus. „Weißt du warum wir das hier machen?“ Er breitete die Arme in einer Geste aus, die den ganzen Park mit einschloss. „Weißt du warum ich hier stehe und Fallen aufstelle, anstatt da hinzugehen, wo ich wirklich gebraucht werde?“

Ich drückte die Lippen zusammen und funkelte ihn an. Ich konnte mir schon denken, was nun kommen würde. „Nur weil ich eine Praktikantin bin, muss ich nicht mit Samthandschuhen angefasst werden. Die letzten beiden Tage war ich auch mit dir auf der Straße und habe Proles gejagt. Du kannst mich nicht für diese Kinderaufgabe verantwortlich machen. Wir sind einfach hier, weil es getan werden muss.“

Die Glut seiner Zigarette leuchtete auf, als er einen weiteren Zug nahm, den er dann genauso ruhig wieder aus seiner Lunge entließ. „Nur um das einmal klar zu stellen, es interessiert mich nicht die Bohne, was du in deiner Freizeit machst. Und wenn du der Meinung bist, splitternackt vor dem Reichstag Salsa zu tanzen, ist mir das völlig schnuppe. Doch sollten sich diese Freizeitaktivitäten auf deine Arbeitszeit auswirken, habe ich nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht darauf zu achten und etwas dagegen zu unternehmen.“

„Was?“ Was sollte denn der Schwachsinn jetzt?

„Gut, dann reden wir doch einmal Klartext.“ Er beuge sich mir so weit entgegen, dass ich den Zigarettenrauch in seinem Atem riechen konnte. Und das Seltsame dabei? Es störte mich nicht einmal. Entweder hatte ich mich in den letzten Tagen an den Geruch gewöhnt, oder es lag einzig an Reese. Diesen Gedanken schob ich ganz schnell von mir, der war einfach nur lächerlich.

„Du bist gestern mit Nick saufen gegangen“, fuhr er fort. „Da Nick erst gegen drei am Morgen zuhause war, hattest du ungefähr fünf Stunden, um wieder auszunüchtern. Aber der Körper braucht fast einen Tag, um den Alkohol restlos abzubauen. Und jetzt versuch nicht, es zu bestreiten, Nick hat mir erzählt, dass du nach zwei Gläsern so dicht warst, dass du mit ihm praktisch wie eine Dreijährige durch die Straßen gehüpft bist. Alkohol ist für einen Venator tabu. Es hemmt die Reaktionsgeschwindigkeit und lässt ihn Situationen falsch einschätzen.“ Er kam noch ein wenig näher. „Wenn du also noch mal der Meinung sein solltest, dich volllaufen lassen zu müssen, dann tu es, wenn du am nächsten Tag weit weg von mir bist. Wegen dir laufe ich jetzt nämlich hier rum und stelle Fallen auf, anstatt Proles zu jagen und dafür das Kopfgeld zu bekommen!“

Die letzten Worte spuckte er mir praktisch ins Gesicht. Dann schnappte er sich seinen Käfig und stampfte an mir vorbei. „Und jetzt beweg deinen Arsch endlich zum Nordzugang und stell da die Fallen auf!“, blaffte er mich noch an, bevor er hinter den Bäumen verschwand.

Und ich konnte nur dastehen, in der Erkenntnis, dass er Recht hatte. Auch wenn er sich wahrscheinlich nur so aufgeregt hatte, weil ihm Geld flöten ging, Wahrheit war Wahrheit. Okay, er hatte maßlos übertrieben, aber ich hatte in dem Wissen, heute wieder auf die Straßen zu müssen, das giftgrüne Zeug geleert. Nicht mal vor mir selber konnte ich mit der Ausrede aufwarten, dass Nick mir ja das Zeug vor die Nase gestellt hatte. Es war meine Entscheidung gewesen es zu trinken. Und nicht nur das, ich hatte mir auch noch ein zweites besorgt.

„Dieses Anschiss hab ich mehr als verdient“, murmelte ich vor mich hin, griff meine Fallen fester und machte mich auf dem Weg zum Nordzugang. Ich würde es nicht noch weiter vermasseln. Und ab jetzt würde es auch keinen Alkohol mehr geben, das schwor ich mir. So sehr wollte ich von Reese kein zweites Mal in Verlegenheit gebracht werden.

Ich konnte Nick nicht einmal böse sein, weil er es seinem Bruder gesagt hatte. Nur hoffentlich hatte Reese Jilin gegenüber nichts erwähnt. Wie würde das rüberkommen? Der beste Lehrling der Beluosus Akademie, der sogar ein Empfehlungsschreiben in der Tasche hatte, konnte nicht richtig mitarbeiten, weil er dem Alkohol zugesprochen hatte. Oh nein, bitte, das wollte ich nun wirklich nicht.

Entschlossen schüttelte ich diesen Gedanken ab, um mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren, denn ich hatte mittlerweile den Nordzugang erreicht und hielt nun zwischen den dicken Kastanien und den durchwachsenen Sträuchern Ausschau nach einem geeigneten Platz für meine Fallen. Dabei fiel mein Blick auf einen der Gefahrenhinweise, die ich mit Reese im und um den gesamten Park angebracht hatte. Es waren nichts weiter als orangefarbene Zettel, mit dem Zeichen der Gilde darauf. Ein gelbes Auge, dessen Pupille den Schatten einer Zielscheibe barg. Obendrüber prangte groß und fett „Achtung“, während darunter in der der gleichen Schrift „Proles-Gefahrengebiet“ vermerkt war.

Allein die Farbe dieses Zettels war den Leuten eine Warnung. Schon von klein auf wurde uns beigebracht einen großen Bogen um Gebiete zu machen, die mit diesen Warnhinweisen versehen waren. Und dieser Park war nun von innen und außen mit diesen Zetteln tapeziert. Hier würde sich in der nächsten Zeit keiner hertrauen. Selbst wenn sie wieder weg waren würde es wahrscheinlich Tage und Wochen dauern, bis die erste menschliche Seele an diesen Ort zurückkehrte.

Die Menschen fürchteten die Monster dieser Welt und sie setzten alles daran ihnen so fern wie möglich zu bleiben.

Konzentriert baute ich die erste Falle zwischen den Sträuchern am Fuß einer Kastanie auf und wollte sie gerade mit einem Köder versehen, als ich es hörte.

„Shanks!“

Bei Reese‘ Ruf erschrak ich so sehr, dass ich mit dem Schädel gegen den Käfig knallte, da mein Kopf gerade drinnen steckte. Ich konnte nicht sagen was lauter war, das Scheppern, oder mein anschießender Fluch. Das hatte wirklich saumäßig wehgetan. „Ich bin hier!“, rief ich und rieb mir über die schmerzende Stelle. Das würde ein schönes Hörnchen geben.

„Beweg deinen Hintern zum Wagen, wir haben einen neuen Auftrag!“ Zwar sah ich ihn zwischen den ganzen Bäumen nicht, aber seine Stimme drang klar und deutlich zu mir rüber. „Und zwar sofort!“

Postwendend sprang ich auf die Beine, zögerte dann aber. Ich hatte die Fallen noch nicht fertig. Aber wenn ich mich nicht sputete, würde Reese garantiert ohne mich verschwinden. Verdammt, dass dieser Blödmann es einem aber auch immer so schwer machen musste.

Eilig präparierte ich wenigstens noch die erste Falle, schob die zweite dann einfach zusammengeklappt daneben und machte mich dann schnellen Schritts auf dem Weg durch den Park. Doch meinen Lehrcoach traf ich erst vor dem Wagen draußen am vielbefahrenen Straßenrand, wo er gerade den Anhänger abkoppelte.

Ich schwang mich auf den Beifahrersitz und schob mit dem Fuß die Mülltüte zur Seite – die hatte ich heute mitgebracht, um dem Dreck im Fußraum zu entgehen – während ich mich bereits angurtete.

Reese schwang sich nur einen Moment später auf den Fahrersitz. Ein Glimmstängel zwischen den Lippen, rammte er den Zündschlüssel ins Schloss und raste mitten in den Vormittagsverkehr.

„Was ist passiert?“

Er blies den Rauch aus. „Ein Proles ist in eine Schule eingedrungen.“

Bei diesen Worten wurde ich ganz blass.

Guck mal, Gracy, der lustige Hund. Ich habe ihn Plüsch genannt, weil er so plüschig aussieht.

Kleine Kinder.

Der Beginn eines Massakers, das mehr als nur ein Leben zerstörte.

Oh Gott.

 

°°°

 

Meine Schuhe machten auf dem alten Linoleum quietschende Geräusche, die weder von Reese noch von dem Hausmeister beachtet wurden.

„Eine Schülerin hat ihn auf den Mädchentoiletten entdeckt und ist schreiend weggelaufen. Das habe ich mitbekommen und ihn hier reingelockt“, erklärte der Hausmeister mit dem schütteren Haar des Gymnasiums und zeigte auf eine unscheinbare Tür mit der Aufschrift Heizungskeller. „Auf die Schnelle ist mir nichts anderes eingefallen und so fand ich es am Sichersten. Danach habe ich der Direktorin Bescheid gegeben.“

„Es sind also keine Schüler mehr hier?“, versicherte sich Reese vorsichtshalber noch einmal.

„Nee, die wurden alle gleich nach Hause geschickt, noch bevor wir uns bei der Gilde gemeldet haben.“

„Und es wurden keine weiteren Proles gesichtet?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, nur dieser eine hier.“

Was aber noch lange nicht hieß, dass da keine anderen waren. „Wissen sie um was für einen Proles es sich handelt?“, wollte ich wissen und ignorierte Reese scharfen Blick, der mich dazu aufforderte, einmal in meinem Leben doch bitte die Klappe zu halten.

„Wie genau es heißt, kann ich ihnen nicht sagen, weil ich einfach schlecht daran bin mir Namen zu merken, aber er war einer von diesen großen, blauschwarzen Füchsen, die auch oft in den Nachrichten zu sehen sind. Sie wissen schon, die mit der sternförmigen Zeichnung auf dem Kopf.“

„Sie reden von einem Amph“, schlussfolgerte Reese.

Er nickte. „Genau, die meine ich.“

Ein Amph also. Die waren niemals allein unterwegs. Den Blick den ich mit Reese tauschte, sagte mir deutlich, dass er das gleiche dachte. Sollte dieser Amph sich nicht verlaufen haben, so würden wir auf dem Schulgelände sicher noch andere finden.

„Wie haben sie ihn da hinein bekommen?“ Ich ignorierte Reese Blick, der mir sagte, dass das doch jetzt völlig irrelevant war, denn mich interessierte es nun einmal.

„Naja.“ Der Hausmeister leckte sich über die Lippen, sah kurz verunsichert zur Tür. „Ich … also, dieser Amph hat mich verfolgt und da habe ich die offene Tür bemerkt. Ich bin einfach rein und hab mich dahinter versteckt – also um die Ecke. Da kam er auch schon hinterher gestürzt. Er hatte so viel Schwung, dass er weggerutscht und die Treppe runtergestürzt ist. Da bin ich schnell wieder raus und habe die Tür von außen verschlossen.“

Mann, da hatte er aber mehr Glück als Verstand gehabt. Nicht viele Leute die von Proles verfolgt wurden, kamen mit dem Leben davon, ohne auch nur einen Kratzer abzubekommen.

„Gut, das war es dann erst mal“, ließ Reese verlauten. „Ich möchte dass sie das Gebäude verlassen. Wir werden uns dann bei ihnen melden, sobald wir den Abkömmling beseitigt haben.“

Ich horchte auf. Wir? Meinte er damit Wir im Sinne von er und ich, oder Wir im Sinne von er und die Gilde?

Der Hausmeister nickte eifrig. „Natürlich. Ich möchte diesem Monster kein zweites Mal gegenüber stehen. Hier.“ Er zog einen Schlüsselbund aus dem blauen Overall und reichte ihn mit einem großen Schlüssel voran an Reese. „Damit bekommen sie den Heizungskeller auf.“ Er warf der Tür einen nervösen Blick zu. „Es ist die ganze Zeit so ruhig darin. Warum? Ich meine … müsste es nicht irgendwie … ich weiß nicht, ausflippen oder so? Theater machen, um rauszukommen?“

„Es wartet darauf, dass die Tür geöffnet wird“, sagte Reese schlicht und hatte damit vollkommen Recht. Warum wild herumturnen und Energie verschwenden? Proles galten nicht umsonst nach den Menschen als die intelligentesten Wesen, die diesen Planeten bevölkerten.

Diese Aussage ließ den Hausmeister ein wenig blass um die Nase werden, was mich zu der Frage verleitete, wie er es geschafft hatte den Amph im Keller einzusperren. Mutig genug einem Proles entgegen zu treten, schien er auf dem ersten Blick jedenfalls nicht. Auch nicht auf den zweiten. Aber vielleicht hatte der Gedanke die Kinder in den Klassenräumen zu retten ja ungeahnte Fähigkeiten in ihm zum Vorschein gebracht.

„Ich …“ Er strich sich nervös über das schüttere Haar. „Ich glaube ich gehe dann jetzt besser. Also …ähm … ja.“ Eilig wandte er sich ab und hetzte dann den langen Korridor hinunter.

Ich sah ihm hinterher, als seine Schritte langsam mit der Entfernung verhallten. „Er wirkt ziemlich nervös“, merkte ich an.

Reese reagierte nur mit einem genervten Schulterzucken, das alles und auch nichts bedeuten konnte und drückte mir dann den Schlüssel in die Hand. „Du schließt auf und gehst mir dann aus dem Weg.“

„Du meinst, sowas wie zugucken und lernen?“

Es war nur ein winziges Zucken seiner Augenbraue, doch ich sah genau wie sie sich genervt Richtung Himmel bewegte. „Wenn du das glauben möchtest, bitte. Und jetzt setzt dich endlich in Bewegung.

Gott, wenn man ihn so reden hörte, käme man glatt auf den Gedanken, der Weltuntergang würde beginnen, sobald er auch nur ein nettes Wort über seine Lippen ließ.

Kopfschüttelnd ging ich zur Tür. Ich sollte mir wirklich nicht so viele Gedanken über diesen Kerl machen. Davon bekam ich nur Kopfschmerzen und davon hatte ich bereits genug, seit ich mit der Birne gegen den Käfig gedonnert war.

Mit einem Blick über die Schulter versicherte ich mich davon, dass Reese bereit war. Er stand mit dem Rücken an der gegenüberliegenden Wand, dieses Mal eine normale Waffe in der Hand und gab mir mit einer ungeduldigen Geste zu verstehen, endlich in die Gänge zu kommen. Seine andere Hand steckte in der Manteltasche.

„Okay, dann mal los“, murmelte ich leise vor mich hin und steckte den Schüssel ins Schloss. Das Bund klimperte, als in ihn drehte.

Klick.

Mit einem schnellen Schritt zur Seite, raus aus der Schusslinie, riss ich die Tür auf.

Nichts geschah.

Ich wartete, aber da sprang kein Proles heraus, der sich auf uns stürzen wollte.

Der leere Rahmen war wie ein dunkler Schlund in eine andere Dimension. Nicht mal ein Lüftchen wagte es sich in diesen Sekunden zu bewegen. Heizungskeller waren mit schon immer suspekt vorgekommen und dass dort unten ein Monster lauerte, machte es in diesem Moment nicht besser.

Ich sah zu Reese, der wachsam, aber entspannt in die Dunkelheit spähte. Plötzlich ertönten aus seiner Manteltasche die gleichen Laute, mit denen er auch schon den Spuma zum Sensenmann gelockt hatte.

Dann ging alles ganz schnell.

Ein Kratzen auf der Treppe, etwas Großes, Blaues kam in den Korridor gestürzt, direkt auf Reese zu. Das aufkommende Knurren wurde von einem Knall unterbrochen. Es jaulte nicht, oder gab sonst ein Geräusch von sich, als es zu Boden stürzte und direkt bis vor Reese Füße rutschte. Es war einfach tot. So plötzlich wie es aufgetaucht war, so plötzlich hatte sein Leben auch ein Ende gefunden.

Still lag es da. Ein kobaltblauer Fuchs mit den Ausmaßen einer Dogge. Das Unterfell war schwarz, genau wie die Beine und der Bauch. Aber das wohl Auffälligste am Amph war die weiße Sternzeichnung auf seiner Stirn, die ihm etwas Mystisches verlieh.

„Das war ja einfach“, kam es mir über die Lippen.

In dem Moment zuckte der Proles.

Unsere Waffen sprangen beinahe von selbst in unsere Hände und richteten angespannt den Lauf auf das Monster, doch jetzt lag es wieder ruhig da.

„Wahrscheinlich die letzten Zuckungen“, überlegte ich laut.

Reese gab etwas von sich, dass eine Zustimmung sein konnte, oder auch nicht und wollte seine Waffe gerade wegstecken, als ein schmerzverzerrter Schrei durch die leeren Korridore hallte.

Eine Sekunde, mehr brauchten wir beide nicht um zu reagieren, dann stürmten wir den qualvollen Lauten entgegen. Die Zwischentür wurde von Reese so kräftig aufgestoßen, dass durch den Knall gegen die Wand ein langer Sprung im Glas entstand.

Das Schreien wurde zu einem Gurgeln, begleitet vom Geräusch reißenden Fleisches und knurrenden Lauten, die heutzutage wohl jedem Menschen ein Begriff waren.

Direkt hinter Reese schoss ich um die nächste Ecke und erblickte drei Amphe die sich um eine zusammengekrümmte Gestalt in einem blauen Overall drängten.

Noch während ich meine Waffe hochriss, feuerte Reese bereits seinen ersten Schuss ab. Der Amph, der an dem Bein des Opfers zerrte, sackte einfach in sich zusammen – sauberer Kopfschuss.

Der Amph, dessen Nase tief in der offenen Bauchdecke des Opfers steckte, hob den Kopf und bleckte mit blutverschmierter Schnauze die Zähne, während der Dritte mit einer Art Heulen auf uns zustürzte.

Zwei weitere Schüsse halten kurz nacheinander durch den Korridor. Ich hatte auf dem beim Opfer geschossen, doch die Befriedigung, als er aufjaulte und in sich zusammen sackte, die blieb aus.

Der andre stürzte mit einem lauten Aufschrei auf den rissigen Linoleumboden.

Ich kümmerte mich nicht darum, rannte einfach los, in der Hoffnung das Opfer noch retten zu können.

„Shanks, nein!“

Den Luftzug am Bein spürte ich nicht, nur der Gedanke helfen zu müssen, trieb mich an. Als ich mich neben dem Opfer eilig auf die Knie warf, durchzuckte Schmerz meinen Körper. Ich ignorierte ihn, ließ meine Waffe einfach fallen und griff nach dem Arm des Mannes. Der Hausmeister, das war der Hausmeister. Der Mann, der durch seinen Einsatz alle Schüler dieser Schule gerettet hatte.

Ein Knall, ein Jaulen, ein dumpfer Aufprall.

Scheiße, da war so viel Blut! Hastig streifte ich meine Jacke ab und drückte sie auf die tiefe Bauchwunde, versuchte gleichzeitig den Puls an seinem Handgelenk zu ertasten und nicht auf die klaffende Fleischwunde in seinem Gesicht zu achten.

„Verdammt, Shanks, willst du dich umbringen?!“

Fahrig fuhr meine Hand an seine Halsschlagader und … da war er. Ganz schwach, aber ich spürte das Pochen an meinen Fingern. „Er lebt“, hauchte ich. „Reese, schnell, ruf einen Krankenwagen, er lebt noch!“

„Fuck. Leg seinen Kopf in den Nacken, damit er besser atmen kann.“ Schon war das Handy an seinem Ohr. „Und lass die Hand auf der Wunde, sonst … ja, Venator Tack hier, Proles-Gefahrengebiet Stufe Rot, wir haben hier ein Opfer“, sprach Reese in sein Handy. „Offene Bauchwunde. Den Grad der Verletzung …“

Ich blendete ihn aus, während er weitere Daten und die Adresse durchgab, konzentrierte mich ganz auf den Hausmeister und auf das schwache Pochen unter meinen Fingern. Dieser Mann war ein Held, er hatte die Kinder dieser Schule gerettet. Er durfte so nicht sterben. Niemand durfte das. Nicht so und nicht wenn ich dabei war.

Ich bekam gar nicht mit, wie Reese an meine Seite gestürzt kam, das Handy zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt, um erste Hilfemaßnahmen zu ergreifen. Die Zeit schien sich wie ein zäher Kaugummi zu dehnen und uns gleichzeitig durch die Hand zu rinnen. Es hatte keine Bedeutung, solange ich das zarte Pochen an meinen Finger spüren konnte.

Poch, poch, poch.

Nicht sterben, flehte ich. Er durfte nicht sterben. Bitte.

Poch, poch, poch.

Da waren Schritte, Rufe, jemand schob mich zur Seite, nahm meinen Platz ein. Sanitäter. Ärzte. Sie würden ihm helfen. Sie mussten ihm helfen.

Reese kam zu mir, zog mich grob auf die Beine, um mich dann nicht sehr sanft ein paar Meter wegzuschieben. Er sagte etwas zu mir, doch ich hörte ihn gar nicht. Es war nichts weiter als ein fernes Geräusch. Ich hörte nur das Blut, das in meinen Ohren rauschte. Mein Blick war einzig auf den Hausmeister fixiert, der vor nicht allzu langer Zeit noch so lebendig gewesen war. Würde er überleben? Er durfte nicht sterben.

„Shanks!“ Reese stieß mich wütend mit dem Rücken gegen die Wand. „Verdammt, hörst du mir jetzt zu?!“

Von seiner Stimme aufgeschreckt, sah ich hinauf in sein Gesicht. Um seinen Mund lag ein verbissener Zug und seine Augen funkelten zornig.

„Ich habe dir schon einmal gesagt, wenn du dich umbringen willst, dann tu das gefälligst nicht in meiner Gegenwart!“

Ich runzelte die Stirn, verstand nicht was er von mir wollte.

„Verdammt, einfach so loszurennen, ohne die Situation zu sichern!“, wütete er weiter. „Wie dumm bist du eigentlich?! Dieses Vieh hätte dich um ein Haar erwischt! Wenn du schon …“

„Was?“ Erwischt? Was meine er damit? Welches Vieh?

Reese verstummte und musterte mich sehr eindringlich. Dabei legte er seine Stirn leicht in Falten. „Sag mir jetzt nicht, dass du den Amph nicht einmal bemerkt hast.“

Amph? Was für ein Amph? Ich musste diese Frage nicht laut stellen, er erriet auch so, was in meinem Kopf vor sich ging.

„Das darf doch nicht wahr sein“, knurrte er du schlug die Hand neben meinem Kopf an die Wand.

Das Geräusch ließ mich zusammen zucken, doch viel bedrohlicher fand ich die Wut in seinen Augen, die ich mehr als deutlich wahr nahm, weil er plötzlich so dicht war, dass nur noch einen Hauch unsere Nasenspitzen voneinander trennte. Wieder roch ich seinen Atem, diesen rauchigen Duft.

„Der zweite Amph auf den ich geschossen habe war nicht tot. Und als du an ihm vorbeigerannt bist, hätte er dich fast erwischt!“

Mein Blick huschte zu der wunderschönen Bestie, die am weitesten von dem Hausmeister und den Sanitätern entfernt lag.

„Verlierst du noch einmal so den Kopf, dann wird nicht einmal mehr Jilin mich dazu zwingen können, dich weiter mit mir rumzuschleppen. Ich habe dir schon einmal gesagt, lass sowas nicht an dich heran, sonst bist du es nämlich die nächste Mal, die dort liegen wird.“ Er zeigte sehr nachdrücklich auf den Hausmeister. „Und jetzt geh dir das Blut abwaschen, ich rede draußen mit der Polizei.“ Er stieß sich von der Wand ab und wirbelte mit wehendem Mantel herum. Dabei fischte er in seiner Tasche mal wieder nach seinen Zigaretten.

An der Wand gelehnt blieb ich zurück, den Blick starr auf den Hausmeister gerichtet.

In den letzten Jahren hatte ich viele Opfer von Proles-Angriffen gesehen. Tote im Fernsehen, Tote in der Akademie und Tote auf der Jagd, doch es war das erste Mal seit meinem Geburtstag, dass ich jemanden beim Sterben zusehen musste.

Guck mal, Gracy, der lustige Hund. Ich habe ihn Plüsch genannt, weil er so plüschig aussieht.

Das hätte auch ich gewesen sein können. Das hätte jeder gewesen sein können, den ich kannte. Wynn, Onkel Roderick, Evangeline, Domenico. Reese.

Die Galle in meiner Kehle ließ sich auch durch angestrengtes Schlucken nicht zurückdrängen. Als mein Magen sich krampfhaft zusammenzog, schaffte ich es gerade noch mich zur Seite zu beugen. Dann erbrach ich mein Frühstück auf den Schulkorridor.

Das war mir schon seit Jahren nicht mehr passiert. Ich hatte nicht geglaubt, dass ein solcher Anblick noch eine solche Reaktion bei mir hervorlocken konnte. Und trotzdem konnte ich nichts dagegen tun. Würgend und hustend stützte ich mich mit einer Hand an der Wand ab, bis mein Magen einfach nichts mehr hergeben wollte, sich dennoch immer wieder schmerzhaft zusammenkrampfte.

„Brauchen Sie Hilfe?“

Ich schaffte es nicht den Kopf zu heben, konnte mir aber denken, dass es einer der Sanitäter war. Reese würde niemals in einem solch sanften Ton mit mir reden. Davon abgesehen, das seine Stimme viel kratziger und nicht so weich war.

„Venatorin, brauchen Sie …“

„Nein“, krächzte ich und wischte mir mit der freien Hand über den Mund. Dabei bemerkte ich, dass sie voller Blut waren. Das Blut des Hausmeisters. Wieder zog sich mein Magen zusammen, aber da war nichts mehr was ich auswürgen konnte. „Nein“, wiederholte ich ein wenig fester und stieß mich schweratmend mit zitternden Händen von der Wand ab. Meine Schritte waren taumelnd, aber ich wies die helfende Hand ab. Ich brauchte keine Hilfe, ich brauchte ein Waschbecken, denn helfen konnte mir, seit meinem sechsten Geburtstag, niemand mehr.

 

°°°

 

Das Knistern von Papiertüten und Verpackungsmaterial drang an meine Ohren. Klacken von Tabletts, Schlürfen durch Strohhalme, lautes Lachen, murmelndes Stimmengewirr, das wie ein Rauschen im Hintergrund lag. Nichts davon nahm ich wirklich wahr. Nur den Geruch von Frittiertem, der wie eine zweite Haut auf jeder Fläche des Schnellrestaurants klebte und meinen Magen erneut zum Rebellieren brachte.

Ich weigerte mich, den Blick von dem Tisch zu heben und an dem Leben um mich herum teilzunehmen, solange meine Gedanken noch vom Hausmeister bevölkert waren.

Er war gestorben. Noch während ich in der kleinen Schultoilette gestanden hatte, bemüht sein Blut von meinen Händen zu bekommen und das Brennen in meiner Kehle zu ignorieren, hatte er seinen letzten Atemzug gemacht.

Mit den Fingern zeichnete ich eine Kerbe im Tisch nach. Ein kleiner Einschnitt, der das Gesamtbild beeinträchtigte. Genauso ging es mir im Moment auch. Ich hatte geglaubt, endlich mit der Vergangenheit fertig zu sein, es hinter mir gelassen zu haben, doch diese Minuten in der Schule hatten meinen sechsten Geburtstag so lebendig zurück an die Oberfläche gezerrt, dass die Schreie von damals wieder in meinen Ohren hallten.

Seit meinem Geburtstag war es das erste Mal gewesen, dass ich einem Menschen hatte beim Sterben zusehen müssen und das hatte irgendwas in meinem Inneren aufgebrochen. Die Geister waren zurück, suchten mich wieder heim.

Ich sah meine Mutter mit schreckensweiten Augen im Türrahmen stehen, sah wie sie noch versuchte die Tür zuzuschlagen, als der Plüsch sie auch schon niederrang. Ihr Schrei gellte in meinen Ohren.

Mein Vater. Er hatte sein Leben gelassen um ein Kind zu retten, hatte sich selbstlos geopfert und selbst im Moment seines Todes noch an Wynn und mich gedacht.

Als ein Tablett vor mir auf den Tisch krachte, zuckte ich zusammen und versank gleichzeitig tiefer in der Jacke von Reese. Er hatte sie mir gegeben, weil meine von der Polizei beschlagnahmt worden war. Mit dem ganzen Blut daran, hätte ich sie sowieso nicht wiederhaben wollen.

Reese ließ sich mir gegenüber auf die Bank fallen und schob mir einen verpackten Burger vor die Nase. „Hier, iss den.“

Ich starte dieses im Brot versteckte, vor Fett triefende Stück Fleisch an. Allein das Einwickelpapier zeigte mir schon, was mich im Inneren erwarten würde. Wie sollte ich das essen, ohne anschließend auf den Tisch zu reihern? Allein von dem Geruch zog mein Magen sich bereits wieder schmerzhaft zusammen.

Mit einem „Ich hab keinen Hunger“ legte ich ihm den Burger zurück auf sein Tablett und richtete meinen Blick durch das Fenster hinaus auf die Straße. Dort wo das Leben ungerührt weiterlief, die Menschen einfach ihrem Alltag nachgingen, egal was ihnen dabei widerfuhr. Weiter machen. Immer weiter, ohne Pause, ohne zurückzusehen.

Sicher hatten auch viele von ihnen Menschen an die Proles verloren und doch blieben sie nicht stehen. Wie schafften sie das nur? Wie konnten sie jeden Morgen aufstehen und einfach so weitermachen, als wäre nichts geschehen?

„Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, dass du zusehen musstest, wie jemand stirbt“, sagte Reese und übertönte trotz des leisen, ja fast sanften Tons das Rauschen des Stimmengewirrs in dem Restaurant. „Nicht wenn du diesen Kurs weiter beibehältst.“

Ich schloss die Augen, um die Welt dort draußen für einen Moment auszusperren.

„Es sei denn, dieses Erlebnis hat dich endlich zur Vernunft gebracht, dann kannst du dem in Zukunft vielleicht entgehen.“

„Ich kann nicht aufhören.“ Ich schlug die Augen auf, sah ihn an, sah in dieses pockennarbige, von der Zeit gezeichnete Gesicht. Die fast schwarzen Augen waren eindringlich auf mich gerichtet, als versuchte er eine Ebene von mir zu erreichen, die meine Vernunft in Gang setzte. „Selbst wenn ich wollte, dürfte ich nicht aufhören.“ Ich hatte eine Pflicht, ich musste das machen. Das war ich meinen Eltern schuldig. Ich war es Melli schuldig und Moritz und Chiara und Louis. Und vor allen Dingen war ich es mir selber schuldig, denn nur so würde ich den Alptraum meiner Vergangenheit vielleicht irgendwann vergessen können. Nicht aufgeben, kämpfen. Immer weiter.

Reese seufzte, strich sich beim Zurücklehnen durch sein dunkelbraunes Haar, weswegen es zu allen Seiten ab stand. „Der Job frisst einen auf“, sagte er. „Wenn du nicht rechtzeitig die Bremse ziehst, wird er dich kaputt machen. Mein Gott, sieh dich doch an, wie kannst du da sagen, du musst weitermachen?“

„Warum tust du es?“, fragte ich, anstatt ihm eine Antwort zu geben. „Was hat dich dazu gebracht Venator zu werden und jeden Tag raus auf die Straße zu gehen, um die Monster zu töten? Wie kannst du immer weiter machen, obwohl du schon viel mehr als ich gesehen haben musst?“

Er schüttelte den Kopf und beugte sich wieder nach vorne. „Das geht dich nichts an und jetzt isst du den.“ Er legte mir den Burger wieder vor die Nase.

Ich schüttelte den Kopf. „Ich will nicht und du kannst mich nicht dazu zwingen.“ Als ich ihn wieder wegschieben wollte, grapschte er blitzschnell über den Tisch und hielt mein Handgelenk fest.

„Und ob ich dich dazu zwingen kann. Schon vergessen? Solange wir bei der Arbeit sind hast du alles zu tun was ich dir sage, ohne Wenn und Aber und ohne meine Anweisungen in Frage zu stellen. Und da ich keine Lust hab, dass du mir heute noch irgendwann umkippst, wirst du den jetzt essen, ansonsten werde ich dich nämlich hier sitzen lassen und allein weiter machen. Nicht, dass das ein Problem für mich wäre.“

Über den Tisch hinweg funkelte er mich herausfordernd an. Und auch wenn ich das genauso gut konnte, zog ich äußerst widerwillig meine Hand unter seiner weg, den Burger fest im Griff. Wenn ich nicht tat was er wollte, würde er einfach ohne mich verschwinden. Das war so sicher, wie das Amen in der Kirche.

„Warum nicht gleich so?“, brummte Reese und machte sich nun auch über den ersten seiner Burger her. Das Papier knisterte, als wir sie schweigend auspackten, doch als ich das triefende Fleisch sah, brachte ich es einfach nicht über mich, das meinem Magen anzutun. Kurzentschlossen entfernte ich es von meinem Burger und klappte die beiden Brothälften wieder zusammen. Das wurde reichen, um meinen Magen zu beruhigen.

Reese schnaubte über diese Aktion, schwieg aber dazu und führte seinen Burger zum Mund. Doch er kam nicht mehr dazu hineinzubeißen, denn in dem Moment begann sein Handy zu klingeln. Seufzend ließ er seinen Burger zurück aufs Tablett sinken, zog das mobile Telefon aus seiner Manteltasche und runzelte bei einem Blick darauf die Stirn.

Ich puhlte eine kleine Ecke aus meinem Burgerbrötchen und steckte sie mehr mir als widerwillig in den Mund. Schmeckte wie Pappe. Obwohl, nein, Pappe hatte wenigstens noch Geschmack. Das hier schmeckte nach gar nichts.

„Tack“, bellte er ins Handy, lauschte den Worten schweigend und schloss dann resigniert die Augen. „Ja, okay, ich komme sofort.“ Beim Aufstehen steckte er sein Handy zurück in die Tasche. Das Essen blieb vergessen zurück auf dem Tisch liegen, als er mit ziemlich eiligen Schritten aus dem Laden stürmte.

Ich war schon aus der Sitznische gerutscht, als er auf halbem Wege zur Tür war, doch ich holte ihn erst ein, als er bereits sein Auto aufsperrte. Dabei ließ er sich auch noch fast die Tür von einem anderen Wagen wegfahren, der mir lautem Hupen darauf aufmerksam machte, dass Reese ein Idiot war.

Stirnrunzelnd ließ ich auf den Beifahrersitz fallen. Was hatte er denn nur? So verbissen war er sonst nie, wenn wir einen neuen Auftrag bekamen. „Wo geht es hin?“, fragte ich, während er den Wagen startete.

„Das geht dich nichts an!“, schnauze er in einem so gereizten Tonfall, dass ich beim Anschnallen verwirrt inne hielt. Was war denn jetzt los?

Ich studierte sein Gesicht, die verhärteten Züge um seinen Mund, den etwas stumpfen Glanz seiner Augen, die stur durch die Windschutzscheibe blickten, als er sich in den Verkehr einordnete. Er wirkte verkrampft und hatte seine Hände so fest an das Lenkrad geklammert, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn es unter dem Griff einfach gebrochen wäre.

Aber das wirklich seltsamste war, dass er nicht nach seinen Zigaretten angelte. Nicht jetzt und auch nicht während dem Rest der zwanzigminütigen Fahrt. Er schien irgendwie gar nicht wirklich anwesend zu sein, als tobte in seinem Inneren ein Kampf, den er mit sich ausfochten musste und dabei alles und jeden um sich herum vergaß. So hatte ich ihn noch nie gesehen, so … dünnhäutig.

Egal wer ihn da angerufen hatte, es bedeutete nichts Gutes.

Die Fahrt verlief schweigend und zwischendurch fragte ich mich schon, ob der Anruf von Taid oder Nick gekommen war und wir wieder in die Lagerhalle mussten, doch er fuhr den Wagen in einen ganz anderen Teil der Stadt, einem richtig noblen, in dem nicht nur die Gärten und Häuser, sondern auch die Straßen wie geleckt aussahen. Es machte fast den Eindruck, als würden sich die vielen herbstfarbenen Bäume am Straßenrand nicht wagen auch nur ein Blatt zu verlieren, um das Gesamtbild nicht zu zerstören.

Die kleinen, sauberen Einfamilienhäuser wichen langsam großen Anwesen, die durch hohe Betonmauern von der Außenwelt abgeschnitten waren. Große, eiserne Tore ließen immer mal wieder einen Blick auf die weitläufigen Gelände dahinter zu. Gepflegte Rasen, gestutzte Büsche und ordentlich angelegte Beete, die von sauberen Wegen getrennt waren. Durch Efeu und Bäume verloren die gefängnisartigen Mauern ein wenig von ihrer Eintönigkeit, gaben ihnen etwas Beschauliches.

Mehrere solcher Grundstücke flogen an meinem Fenster vorbei, bevor Reese den Wagen vor einem unscheinbaren Anwesen parkte, das sich äußerlich nicht von den anderen unterschied.

Hinter der hohen Mauer ragten hohe Kastanien und Trauerweiden auf. Dahinter war ein sehr großes Gebäude zu erahnen, das gleichzeitig alt und modern wirkte. Die Fassade bestand aus grauem Putz. Die Fenster waren sauber in Reih und Glied angeordnet und gaben dem ganzen etwas Steriles. Alles wirkte hier akkurat, völlig unpersönlich. Und … waren das etwa Gitter vor den Fenstern?

Neben dem großen Eisentor lag ein kleines Pförtnerhäuschen mit Milchglasscheiben, als wollte man verhindern, dass jemand von außerhalb etwas von den Vorgängen dahinter mitbekam. „Was machen wir hier?“

Reese zog den Zündschlüssel ab und lehnte sich einen Moment mit geschlossenen Augen in seinen Sitz zurück, als müsste er sich für das Kommende sammeln. „Du bleibst im Wagen“, sagte er, ohne auf meine Frage einzugehen. „Das kann ein wenig dauern, aber wenn ich wiederkomme, will ich dich genau hier wieder vorfinden.“ Er richtete seinen Blick auf mich. Seine Augen wirkten so dunkel wie die Schatten der Nacht und er wirkte auf eine Art ernst, die ich noch nie an ihm gesehen hatte. „Keine Alleingänge, kein Rumschnüffeln. Behalte deine neugierige Nase einmal in deinem Leben bei dir und tu genau das was ich sage, verstanden?“

Meine Lippen teilten sich leicht und am liebsten hätte ich eine Erklärung gefordert, doch der ernste Ton in seiner Stimme bracht mich dazu einfach nur „okay“ zu sagen.

„Okay“, wiederholte Reese leise, trommelte mit dem Daumen leicht auf das Lenkrad, nur um dann noch mal „okay“ zu sagen. Dann schien er innerlich Kraft zu schöpfen, öffnete die Tür und stieg ohne weitere Erklärung einfach aus.

Ich beobachtete, wie er mit weiten Schritten an dem schmucklosem Eisentor vorbei ging, zum Pförtnerhäuschen. Er klingelte, wechselte ein paar Worte mit jemandem hinter der Michglasscheibe und dann verschwand er durch eine Seitentür auf das Gelände und aus meinem Blickfeld.

Was zurück blieb, was das leise Zwitschern der Vögel in den Bäumen über mir und die Fragen in meinem Kopf. Reese hatte verbissen und resigniert gewirkt. Egal was das für ein Ort war, er kam nicht gerne her. Und doch musste etwas darin sein, was ihn in sein Innerstes trieb.

Ich sah zum Pförtnerhäuschen, suchte die Mauer und das Tor nach einem Schild ab, das mir Aufschluss darüber geben konnte, wo wir uns befanden, doch scheinbar wollte man die Außenwelt nicht am Inneren teilhaben lassen. Und auch wenn ich nur zu gerne gewusst hätte, warum wir hier waren – und ich nur hätte aussteigen müssen, um bei der Person hinter der Michglasscheibe ein paar Informationen einholen zu können – blieb ich wo ich war.

Das hatte nicht nur was mit dem Versprechen an Reese zu tun, meinen Hintern da zu lassen, wo er sich befand, sondern auch damit, dass ich im Moment einfach nicht die Kraft aufbringen konnte, meiner Neugierde zu folgen.

Sich über Reese' Probleme den Kopf zu zerbrechen tat gut, so konnte ich meine eigenen in den Hintergrund schieben, aber deswegen verschwanden sie leider nicht. Der Anblick des Hausmeisters spukte immer noch in meinem Kopf herum und auch wenn ich im Moment nicht mehr das Bedürfnis auf Rückwärtsessen verspürte, ließen mich die Geschehnisse der letzten Stunden und Tage nicht los.

Hier allein im Wagen, hatte ich das erste Mal wirklich Zeit über all das nachzudenken. Angefangen bei dem Tag an dem ich mein Praktikum begonnen hatte. War das wirklich erst drei Tage her? So viel wie passiert war, kam es mir wie mehrere Wochen vor. Erst Reese, der mich absolut nicht dabei haben wollte, dann der unbekannte Proles mit seinen Jungtieren, aber am entscheidendsten war wohl der Besuch in dem alten Lagerhaus, in dem ich von Dingen erfahren hatte, die lieber im Verborgenen geblieben wären.

Monster gab es nicht nur in der Form der Proles. Menschen wie Taid verabscheute ich. Natürlich, mit ehrlicher Arbeit hatte man es heutzutage meist schwerer. Es gab nur wenig Menschen, denen die Lorbeeren ihrer Arbeit einfach so ohne viel Anstrengung in den Schoß fielen, aber das war noch lange kein Grund sich auf illegale und so widerwärtige Dinge einzulassen wie er.

Wie konnte er nur mit diesen Monstern, die ich am meisten auf der ganzen Welt hasste, die so viel Unheil über die Menschheit brachten, auch noch Geld verdienen?

Ich seufzte und blickte aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen.

Und dann war da noch Nick.

Unsere erste Begegnung stand mir noch immer lebhaft vor Augen. Wie er mich gegen den Zwinger gedrückt hatte und ich anschließend in den Lauf seiner Waffe sehen musste. Doch es verblasste leicht, wenn ich an den gestrigen Abend zurück dachte.

Dieser Kuss.

Noch immer verspürte ich ein leichtes Kribbeln in meinem Bauch. Doch das allein war es nicht. Ich konnte mit ihm Lachen, mich mit ihm unterhalten. Auf eine schräge Art war er sehr charmant und das faszinierte mich an ihm noch mehr als sein Aussehen.

Ich hatte noch immer keine Ahnung, was das zwischen ihm und mir gewesen war. Vielleicht einfach Neugierde, vielleicht fand Nick es aber auch einfach interessant sich einer kompletten Jungfrau zu widmen, denn er hatte schon recht, normal war das heutzutage wirklich nicht mehr. Ganz im Gegenteil. Wegen der hohen Sterberate durch Proles-Angriffe, gründeten die Leute heutzutage viel früher Familien. Ja der Staat bezahlte sie geradezu dafür, dass sie Kinder in die Welt setzten. Es war nichts Seltenes mehr, mit achtzehn bereits verheiratet zu sein und kurz darauf ein Kind im Kinderwagen durch die Gegend zu chauffieren.

Seit dem ersten Auftauchen der Proles, war die Geburtenrate der Menschen um gut ein Drittel zurückgegangen, in Süd- und Nordamerika sogar fast um die Hälfte geschrumpft. Und von den Kindern die geboren wurden, schafften es auch nicht alle, das Erwachsenenstadium zu erreichen. Und wenn es keine Erwachsenen gab, gab es auch dementsprechend wenige Kinder. Außerdem gab es heutzutage auch genauso viele Leute die sich dafür entschieden kein Nachwuchs in die Welt zu setzen, einfach weil es zu gefährlich war – und da konnte der Staat ihnen noch so viel Geld anbieten.

Früher hatten die Leute sich wegen der Überbevölkerung beschwert, heute wirkten sogar volle Einkaufsstraßen leer. Die Welt war wieder groß geworden. Aber das hatte die Menschheit einen hohen Preis gekostet.

Der sicherste Kontinent war wohl Australien. Natürlich waren die Proles auch schon bis dahin vorgedrungen, doch aufgrund seiner Abgeschnittenheit durch den Pazifik, hatten sie es etwas schwer dorthin zu kommen. Die Natur bot den Menschen dort einen natürlichen Schutz vor den Monstern.

Dieses Glück war uns hier in Europa nicht gegeben. Viele noch bewohnte Häuser waren heutzutage Bunker und um den Nachwuchs bis ins Erwachsenenalter zu bringen, werden sie mit vergitterten Bussen in Kindergärten und Hochsicherheitsschulen gefahren. Viele öffentliche Gebäude waren in der heutigen Zeit stärker gesichert als Gefängnisse. Doch auch das konnte die Proles nicht immer aufhalten. Der heutige Tag war dafür ein gutes Beispiel.

Wieder drifteten meine Gedanken zurück zum Hausmeister.

Nach meinem überaus gelungenen Abgang, hatte Reese sich um alles andere gekümmert. Um die Entsorgung der Proles, die Polizei, die Sanitäter, die Gilde. Ich wusste nicht mal, ob der Hausmeister Familie hatte. Frau und Kinder. Wen ließ er zurück? Wer würde um ihn trauern?

Gedankenverloren glitt mein Blick wieder auf das Anwesen, auf das Reese verschwunden war. Auch hier sah ich überall die Sicherheitsmaßnahmen, die gegen die Existenz der Proles errichtet worden waren. Ja, die Welt war heute ein einziges großes Gefängnis, in dem man versuchte sich einzuschließen. Und jene die sich trotzdem wagten zu leben, liefen Gefahr früh zu sterben.

Aber manchmal zahlte dieses Risiko sich auch aus.

Wieder kam mir Nick und der Kuss in den Sinn und mir wurde ganz warm bei dem Gedanken daran. Hätte ich mich irgendwo eingeschlossen, wäre ich ihm nie begegnet.

Ganz anders war da Wynn. Sie ging so gut wie nie nach draußen auf die Straße. Morgens stieg sie in den Bus zur Schule, der sie auch am Nachmittag wieder nach Hause brachte, wo sie sich dann für den Rest des Tages versteckte. In der Schule war sie sehr beliebt, was wohl auch der Grund war, warum ihre Freunde immer mal wieder bei uns rumhingen.

Doch wenn ich ehrlich war, dann störte mich das nicht mal. So wusste ich das sie in Sicherheit war – immer vorausgesetzt, Onkel Roderick kam nicht wieder mal auf die Idee, sein Werkzeug zur Hand zu nehmen. Trotzdem ging ihr Leben im Grunde an ihr vorbei. Sie war jetzt sechzehn. Langsam musste sie sich Gedanken über ihre Zukunft machen, doch wenn man sie darauf ansprach, dann schloss sie sich nur wieder in ihr Zimmer ein und stellte die Musik so laut, dass sie nichts und niemanden hören musste.

Manchmal wenn sie das tat, bekam ich Angst um sie. Was solle nur aus ihr werden? Früher oder später würde sie ein Teil der Gesellschaft werden müssen. Doch sie bekam ja schon Panik, wenn ich sie nur mit zum Einkaufen nehmen wollte. Alles was sie brauchte, ließ sie sich von Onkel Roderick oder mir mitbringen. Oder sie bestellte es im Internet.

Leider war dieser Zustand weit vertreten. Es gab viele Menschen wie Wynn, die Ähnliches, oder Schlimmeres erlebt hatten und sich von allem abschotteten.

Ich konnte mich noch gut an die Zeit erinnern, als sie klein war und Onkel Roderick uns zum Therapeuten gebracht hatte. Er hatte sie immer in den Wagen tragen müssen, da sie sich schreiend und weinend gewehrt hatte auch nur einen Fuß vor das Haus zu setzen. Ihre vor Angst geweiteten Augen hatten immer panisch um sich geblickt, während sie sich an Onkel Roderick festgekrallt hatte.

Ich war da ganz anders gewesen. Apathisch, teilnahmslos, wortkarg. Ich hatte alles getan, was er mir gesagt hatte und ansonsten nur stumpf vor mich hingestarrt. Zumindest bis ich ins Bett gegangen war. Ich konnte heute gar nicht mehr zählen, wie oft mich der Alptraum meines sechsen Geburtstags heimgesucht hatte und ich nachts schreiend aufgewacht war. Onkel Roderick hatte wirklich viel mit uns durchmachen müssen. Und auch wenn er mit seinen eigenen Geistern zu kämpfen hatte, aufgeben war für ihn nie ein Thema gewesen. Wynn und ich verdankten ihm so viel. Er hatte immer versucht uns das zu geben, was wir brauchten und dabei immer zurückgesteckt.

Manchmal fragte ich mich, ob seine schusselige Ader mit den Geschehnissen von damals zu tun hatten. Ich konnte mich nicht entsinnen, dass er schon vor meinem Geburtstag so vergesslich und tollpatschig gewesen war. Aber damals war ich nur ein kleines Kind gewesen, also konnte ich mir da nicht sicher sein. Nur eines wusste ich, der Tod seines Bruders hatte ihn verändert und das lag nicht nur daran, dass er mich und Wynn bei sich aufgenommen hatte.

Meine Gedanken schweiften immer weiter in die Vergangenheit, während die Zeit tröpfelnd an mir vorbei strich. Durch die letzten Tage, zu meiner Zeit an der Akademie. Meine Entscheidung ein Jäger zu werden, die Monate und Jahre davor, in denen ich nur als Schatten vor mich hinvegetiert war.

Ich erinnerte mich noch gut an Wynns ersten Schultag. Vor Angst das Haus zu verlassen, hatte sie sich in einer Kiste im Keller versteckt. Es hatte Stunden gedauert, sie zu finden und so hatte sie ihre eigene Einschulung verpasst.

Aber noch viel schlimmer war mein erster Schultag gewesen. Durch das was damals passiert war, hielten die Ärzte es für besser, mich erst mit sieben einzuschulen. Wynn hatte die ganze Nacht geweint, weil ich am nächsten Tag das Haus verlassen musste. Sie hatte geschrien, als ich meine Schultüte bekommen hatte, das Geschirr vom Frühstückstisch geschmissen, als sie meinen Schulranzen zum ersten Mal sah und versucht mit ihrer kleinen, hageren Gestalt die Tür zu versperren, als ich mich an Onkel Rodericks Hand auf dem Weg zu meiner Einschulung machen wollte. Sie war nicht mitgekommen. Wynn war nie irgendwo hin mitgekommen. Auch nicht zu meinem ersten Tag in die Beluosus Akademie. Ganz im Gegenteil. Sie hat mich für meine Existenz verflucht, die Zimmertür zugeknallt und die Musik hochgedreht.

Ich seufzte. Morgen müsste ich wieder in die Akademie. Ob es jetzt anders sein wird, nachdem ich mit einem Venator unterwegs gewesen war? Es war ja nur ein Tag. Samstag musste ich wieder mit Reese auf die Straße. Montags und freitags Akademie. Sonntags hatte ich Pause und die restlichen Tage der Woche würde ich auf den Straßen nach Monstern jagen. Aber nur noch solange bis ich meinen Abschluss in der Tasche hatte. Danach würde es anders werden.

Ich war so vertieft in meine Gedanken, dass ich Reese' Rückkehr erst bemerkte, als die Tür aufgerissen wurde und er sich mit dem Handy am Ohr neben mir auf den Fahrersitz fallen ließ.

„… sicher nicht anrufen, wenn ich könnte!“

Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass er weit über eine Stunde in dem Gebäude geblieben war. Mit brannten Fragen auf den Lippen, doch der Ausdruck in seinem Gesicht und die Tatsache dass er telefonierte, verhinderten, dass ich auch nur eine davon aussprach.

„Nick, geht einfach hin und … ja verdammt, das weiß ich selber, aber es geht nicht anders, also tu einmal in deinem Leben etwas Nützliches!“ Er rammte den Zündschlüssel ins Schloss und ließ den Motor an. „Ist mir egal. Sie tickt völlig aus, deswegen bewegst du deinen Arsch jetzt zu Celina.“ Unwirsch legte er auf, tauschte das Handy gegen eine Zigarette aus und fuhr mit etwas zu viel Gas an. Sein Daumen tippte dabei nervös auf dem Lenkrad herum und mehr als einmal huschte sein Blick zu mir.

Er wirkte so unruhig, so gehetzt, dass ich mich einfach tiefer in seine Jacke kuschelte und still aus dem Fenster sah. Da er wieder eine Zigarette zwischen den Fingern hielt, schien alles wieder normal zu sein und so kräftig wie er das Gas durchtrat, hatten wir wohl einen neuen Auftrag. Doch so wie er guckte, wie er sich verhielt, hielt ich meine Fragen nach dem Wohin zurück. Es stimmte schon, manchmal war Schweigen Gold und nach der kleinen, gedanklichen Reise in meine Vergangenheit, hatte ich im Moment auch kein großes Bedürfnis nach einem Gespräch.

Reese blies den Rauch aus seinen Backen, stellte das Radio an, nur um es gleich wieder auszustellen und warf mir wieder diesen merkwürdigen Blicke zu. Er schnitt absichtlich einen anderen Wagen, zeigte der Frau hinter dem Steuer den Stinkefinger, als sie es mit einem lauten Hupkonzert kommentierte, nur um wieder an seiner Zigarette zu ziehen.

„Warum fragst du nicht?“, knurrte er an einer roten Kreuzung und schnipste die Zigarette aus dem offenen Fenster.

Verwundert wandte ich mich ihm zu. Ich sollte ihn fragen?

„Frag endlich!“, befahl er mir. Aber nicht nach dem Motto, spuck's schon aus, dann haben wir es endlich hinter uns, sondern viel mehr, gib mir ein wenig Normalität. Er schien wieder nervös. Hatte das etwas mit diesem Anwesen zu tun, in das er verschwunden war? Befürchtete er, dass ich wusste, was dahinter steckte? Aber warum sollte ihn das nervös machen? Das ergab doch keinen Sinn. Sollte ich ihn jetzt danach fragen?

„Was soll ich dich denn fragen?“

Er schnaubte und fuhr wieder an, sobald die Ampel auf Grün stand. „Wohin es geht, natürlich.“

Natürlich, denn über dieses Anwesen würde er sicher nicht mit mir sprechen. So wie er sich verhielt, ging mich das seiner Meinung nach nichts an. Hieß das, dass es wieder sowas wie mit Taid war? Hatte er noch mehr gesetzwidrige Sachen zu laufen?

„Na los, jetzt mach schon!“

Okay, das war seltsam. „Wohin fahren wir?“

Er antwortete nicht, lenkte den Wagen nur auf die andere Spur, aber ich glaubte, sowas wie Erleichterung in seinen Augen zu erkennen.

Das war doch jetzt wohl ein Scherz. Erst knurrte er mich an, weil ich mal still war und jetzt wo ich fragte, ignorierte er mich einfach. Was lief bei dem nur falsch? „Hallo, könntest du mir mal bitte antworten? Oder ist das hier nur eine neue Möglichkeit mich aus der Gilde zu ekeln? Denn wenn das der Fall ist, muss ich dir sagen, dass du ganz schön nachlässt.“

Er schnaubte, angelte in seinem Mantel nach einer neuen Zigarette. „Wir müssen sofort zum Park. So ein paar kleine Idioten waren der Überzeugung, dass die Gefahrenhinweise nur schlechte Dekoration sind und sind in den Park marschiert. Zwei von denen haben die Proles sich bereits geholt, aber der dritte ist noch irgendwo da drin. Er hat übers Handy Hilfe gerufen, kommt da aber nicht allein weg. Das Problem dabei ist, dass er wohl der Sohn irgendeines hohen Tieres im Stadtrats ist und der will nun Köpfe rollen sehen.“

Ach. Du. Scheiße.

 

°°°

 

Der Anblick der sich mir bot, als wir zum zweiten Mal an diesem Tag an den Straßenrand vor dem Park fuhren, kannte ich so nur aus den Nachrichten. Polizei, Krankenwagen, Feuerwehr, Lokalnachrichten. Das volle Programm. Dazwischen immer wieder vereinzelt Venatoren, sowohl aus der Gilde, als auch von der staatlichen Einrichtung. An ihrer Ausrüstung waren sie sehr leicht auseinander zu halten.

Reese parkte etwas abseits quer auf der Straße neben dem Wagen eines anderen Venators aus der Gilde. Alles war dicht, hier kam in der nächsten Zeit niemand mehr durch und das lag nicht nur an dem Absperrband, das den Park und seine Umgebung großflächig absperrte. „Ich will, dass du genau das tust was ich sage, damit wir nicht nochmal so ein Reinfall wie bei deinem ersten Einsatz erleben.“ Reese zog den Schlüssel ab und stieß die Tür auf. Ja, seine Laune war in den letzten Minuten wieder zu alter Frische herangereift. „Du kannst natürlich auch im Wagen bleiben.“

Das könnte ihm so passen. „Dir ist klar, dass ich hier bin um etwas zu lernen und nicht um die Polster in dem Wagen zu wärmen?“ Auch ich verließ den Wagen und schlug gerade meine Tür zu, als Max hinter dem Ü-Wagen des Nachrichtensenders auftauchte. Mit ernstem Gesicht hielt er direkt auf uns zu, grüßte mich nur kurz mit einem Nicken, bevor er sich direkt an Reese wandte. „Nimm es mir nicht übel, aber ich muss dich das fragen. Hast du die Gefahrenhinweise aufgehängt?“

Diese einfache Frage reichte bereits aus, um Reese' ohnehin schlechte Laune, noch tiefer rauschen zu lassen. „Was soll der Scheiß? Natürlich hab ich das.“

Max kniff sich in die Nasenwurzel. „Sie sind weg“, sagte er. „Wir waren noch nicht im Park, aber draußen haben wir keinen einzigen entdecken können. Stadtrat Thompson ist völlig außer sich und will dich dafür zur Verantwortung ziehen. Es erweckt den Anschein, als hättest du das Gebiet nicht richtig gesichert.“

„Was?“ Ich ging um den Wagen herum. „Das kann er nicht machen. Ich kann bezeugen das Reese die Zettel aufgehängt hat. Wir beide haben das. Ich war schließlich dabei.“

Max bedachte mich mit einem ruhigen Blick. „Auf jeden Fall sind sie nicht mehr da und jetzt mischen auch noch die Staatlichen mit.“

„Wer?“, fragte Reese meiner Ansicht nach etwas zu ruhig.

„Goldberg.“

Reese knurrte ein unaussprechliches Wort, machte auf dem Absatz kehrt und lief mitten ins Chaos hinein. „Wenn dieser Lackaffe glaubt, dass er …“

„Stadtrat Thompson hat ihn persönlich damit beauftragt“, unterbrach Max ihn.

Ich lief den beiden eilig hinterher. Vorbei an Fahrzeugen der Venatoren, mobilen Nachrichtenstationen, Vans, Kleinwagen, Polizei und Krankenwagen. Auf den Dächern der staatlichen Wagen blinkten Sirenen und weiter hinten entdeckte ich einen Kleinbus, aus dem aufgebrachte Stimmen tönten. Überall liefen hektisch Leute umher und an einem offenen Krankenwagen konnte ich eine ältere Frau ausmachen, die in eine Decke eingehüllt von einem Sanitäter versorgt wurde. Ihr Gesicht war aschfahl und von Sorgenfalten geprägt und sie hatte eindeutig geweint.

Vor ihr lief ein Mann im feinen Zwirn aufgebracht auf und ab. Ich kannte ihn aus den Nachrichten. Das war Stadtrat Thompson und wenn ich mich nicht täuschte, war die Gestalt in der Decke mit dem halben Nervenzusammenbruch seine Frau. Es war ihr Sohn, der dort verletzt im Park lag und hoffentlich noch lebte.

„Es ist mir egal, wer ihn beauftragt hat, das hier ist mein Fall und ich werde ihm mir sicher nicht von so einem Speichellecker wie Goldberg wegnehmen lassen.“ Fahrig tastete Reese nach den Zigaretten in seiner Manteltasche, ließ sie aber stecken. „Vor allen nicht von Goldberg.“

„Ich habe dich nur vorwarnen wollen“, erklärte Max und führte uns um zwei Fahrzeuge herum, auf einen Wagen zu, dessen silberne Motorhaube offensichtlich für die Einsatzplanung genutzt wurde. Eine große Gruppe von Venatoren hatte sich darum versammelt und besprach die Lage anhand einer auseinandergefalteten Karte.

„Tack? Reese Tack?“

Bei dem Ruf der Frauenstimme drehten wir drei uns gleichzeitig um und entdeckten eine blonde Barbie in einem teuren Kostüm, die mit ihrem Mikrofon in der Hand versuchte, an den Polizisten vorbei zu kommen. Das Absperrband schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen.

Ich kannte diese Frau. Sie war diese Sensationsreporterin Kanya Witmer aus den Nachrichten, die immer dort auftauchte, wo die Kacke richtig am Dampfen war. Dass sie jetzt hier war, war absolut kein gutes Zeichen.

„Herr Tack, würden Sie mir eine kurze Stellungnahme geben?“ Sie beugte sich an dem Polizisten vorbei und winkte dabei die Kamera näher. „Sie sind der Auftragnehmer für diesen Einsatz und haben die Geschehnisse zu verantworten. Zwei junge Menschen sind tot, ein anderer wird vermisst und das alles nur, weil Sie ihrer Arbeit nicht korrekt nachgekommen sind. Wie …“

„Macht es Sie an, sich am Unglück anderer zu weiden?“, fauchte ich diesen Blutegel von Reporterin an. Was sie da sagte – und vor allen Dingen – wie sie das sagte, ließ mich rot sehen. Diese unterschwelligen Vorwürfe. „Dieser Mann ist jeden Tag auf der Straße, um erbärmlichen Individuen wie Ihnen den Arsch zu retten! Und Sie haben nichts Besseres zu tun, als ihn … hmhana …“ Mein gerade erst aufkommender Redefluss wurde unterbrochen, als Reese mir einfach die Hand auf den Mund klatschte und mich wegzog. Ich wehrte mich gegen ihn, schimpfte unter seiner Hand weiter, beleidigte sie mit meinem ganzen Arsenal. Ich wusste, dass es nichts bringen würde, aber in diesem Moment war ich so wütend, dass ich gar nicht anders konnte.

Was bildetet diese Frau sich ein, wer sie war? Wie kam sie dazu, meinen Lehrcoach mit Vorwürfen zu bombardieren, die beim kleinsten Windhauch in sich zusammenbrechen würden? Und dann wollte sie das auch noch der ganzen Welt über die Nachrichten zeigen.

„Verdammt, Shanks! Hörst du jetzt endlich mit dem Scheiß auf?!“, knurrte Reese und zog mich hinter einen weißen Van.

Die Venatorengruppe konnte ich von hier aus noch sehen, die missratene Reporterin nicht. „Warum bitte soll ich aufhören?!“, fauchte ich und ordnet ungeduldig meine verrutschte Kleidung – okay, es war weniger ein Ordnen, als eher ein Zerren. Meine Augen funkelten vor Wut. „Ich habe nur die Wahrheit gesagt und …“

„Und ihr damit wahrscheinlich eine neue Schlagzeile geliefert!“, zischte er zurück.

Max kam grinsend zu uns geschlendert, hielt es aber für gescheiter zu schweigen.

„Was heißt hier Schlagzeile? Diese Frau wollte Lügen über dich verbreiten!“ Störte ihn das denn gar nicht?

„Das ist ihr Job und mich hat sie sowieso schon auf dem Kicker, weil ich mich immer geweigert habe, mit ihr zu reden. Deswegen ist es auch nicht sehr hilfreich, dass ausgerechnet das Nachwuchstalent, das ich unter meine Fittiche genommen habe, sich wie ein wildgewordener Krant auf sie stürzt, nur weil sie sich auf den Schlips getreten fühlt!“

Ja klar, als wenn die Tussi das als Aufhänger für die nächste Titelstory nehmen würde. Ich sah die Schlagzeile schon direkt vor mir: Wildgewordene Praktikantin verspeist Reporterbarbie zum Frühstück.

„Also halt dich in zurück, sonst schließe ich dich in Zukunft im Wagen ein!“

Okay, das reichte jetzt. „Ich bin kein Hund, den du …“

„Grace!“

Der Ruf meines Namens flog über den ganzen Platz und ich erkannte die Stimme auch ohne den Rammbock mit zwei Armen, der sich wie eine Schlingpflanze an mich klammerte.

„Grace, Grace, Grace!“

„Eve, meine Ohren.“ Ich schob sie ein Stück vor mir und erblickte sie dann zum ersten Mal in ihrer Venatoruniform. Die blaue Kluft bildete wie ein Neoprenanzug eine zweite Haut um ihren Körper. Feste Lederstiefel, die ihr bis zur Wade reichten. Ein Waffengürtel um die Hüfte, in der eine M19 steckte und eine Messerscheide am Oberschenkel, in der eine verdammt lange Klinge steckte. Zusätzlich hatte sie die Uniformjacke angezogen und wirkte damit fast wie ein blaues Star-Track-Männchen.

„Wir haben die Verbindung zu dem Jungen verloren. Thompson ist völlig außer sich und das alles nur, weil irgendein Idiot seine Arbeit nicht richtig gemacht hat!“, berichtete sie mir aufgebracht.

Ich glaubte, das war das erste Mal, dass Reese und ich nicht nur den gleichen finsteren Gesichtsausdruck trugen, sondern auch genau das gleiche dachten.

„Reese, darf ich dir vorstellen, das ist meine beste Freundin Evangeline mit der manchmal etwas zu großen Klappe. Eve, das ist mein Lehrcoach Reese Tack, der Idiot, der sich nicht erklären kann, wo die von ihm aufgehängten Gefahrenhinweise abgeblieben sind.“

Evangelines aufgeregtes Leuchten verblasste etwas und wurde durch ein peinlich berührtes Lächeln ersetzt. „Ähm … ja, nett Sie kennen zu lernen. Sie können mich ruhig Eve nennen, das tun alle.“

Reese starrte die ihm hingehaltene Hand an, starrte Evangeline an, drehte sich weg und schritt resolut auf die Jägergruppe zu. „Goldberg!“

„Warum hast du mich nicht aufgehalten, bevor ich deinen Lehrcoach als Idioten bezeichnet habe?“, zischte Evangeline leise und zog mich hinter Max und Reese auf die anderen Venatoren zu.

„Wie hätte ich wissen sollen, was du sagen würdest? Ich kann schließlich keine Gedanken lesen“, flüsterte ich zurück.

„Goldberg!“, donnerte Reese erneut, da sich beim ersten Mal offensichtlich niemand angesprochen fühlte.

Nun hob ein sehr dünner Mann mit dunkeln Locken den Blick von der Karte und blickte wie die anderen Venatoren zu meinem Lehrcoach. „Ach nee, sieh mal einer an, wen haben wir denn da? Unseren Superstar. Hätte ja nicht geglaubt, dass du dich traust hier aufzutauchen, nachdem was du angerichtet hast. Dieses Mal wird auch deine tolle Jilin dich nicht aus der Scheiße reißen können.“

Auf diesen Spott ging Reese gar nicht erst ein. Er kam so dicht vor dem anderen Kerl zum Stehen, dass der den Kopf in den Nacken legen musste, um nicht seine Brust anzustarren. „Nur damit wir uns verstehen: Das hier ist mein Auftrag, mir obliegt die Leitung, also braucht so ein kleiner Speichellecker wie du gar nicht erst glauben, sich einmischen zu können, nur weil er in die richtigen Ärsche gekrochen ist.“

Jeden andern hätte seine bedrohliche Haltung eingeschüchtert, doch dieser Goldberg zuckte nicht mal mit der Wimper. Naja, seinen Venatorstand hatte er sicher nicht im Lotto gewonnen, also musste auch eine unscheinbare Person wie er einiges auf dem Kasten haben. „Sieh es ein, Tack, du hast es vermasselt und Thompson will nun mich.“

Reese' Augenbraue wölbte sich nach oben. „Versuchst du gerade mich herauszufordern? Hat dir die gebrochene Nase beim letzten Mal nicht gereicht?“

Oh je, da lag Testosteron pur in der Luft.

„Hey Jungs“, mischte Max sich ein und schob sich vorsorglich zwischen die beiden. „Wir sollten unsere Kraft lieber in die Jagd investieren, meint ihr nicht auch?“

So wie die beiden sich praktisch mit Blicken erdolchten, war die Antwort hier wohl ein eindeutiges Nein.

Ich wandte mich von dem Platzhirschgehabe ab und trat zwischen die anderen Venatoren, um einen Blick auf die Karte zu bekommen. Ein Grundriss vom Park, aber … meine Stirn zog sich zusammen. Wo hatten sie die denn her? Das war kein aktuelles Satellitenbild, sondern ein alter Grundriss von 1952, nachdem man die alte Kiesgrube zugeschüttet hatte und das Gelände als Park für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Doch da die ganze Anlage vor ein paar Jahren saniert worden war und es seitdem zusätzlich noch eine Motorikanlage darin gab, stimmte selbst der grobe Umriss kaum noch mit der heutigen Beschaffenheit überein. Das hieß, würden wir diesen Plan benutzen, würden wir uns auf knapp 79.000 m2 in einem Proles-Gefahrengebiet der Stufe Rot praktisch blind bewegen müssen.

Zu zwei Seiten wurde der Park von zwei Hauptstraßen eingerahmt und die anderen beiden gingen in ruhige Wohngebiete über. Nur war auf diesem Plan noch der nordwestliche Ausgang angezeigt, den es heute gar nicht mehr gab. Und auch die Bepflanzung hatte sich geändert. Bis auf das Zentrum, das aus einer großflächigen Grünfläche gebildet wurde, war das restliche Gelände ein einziger Wald. Auch der an die Grünfläche angrenzende Spielplatz, wurde hier nicht aufgezeigt. Ich wusste das alles so genau, weil ich mir auf diesem Gelände heute bereits einen Wolf gelaufen hatte.

So konnten wir doch unmöglich arbeiten. Auch nicht mit den Markierungen, die bereits auf der Karte aufgezeichnet wurden. Da mich im Moment eh keiner beachtete, weil alle mit dem verbalen Hahnenkampf beschäftigt waren, griff ich kurzentschlossen über den Plan nach dem schwarzen Edding und begann die bereits aufgedruckten Wege durch schwarze Linien zu vervollständigen.

Evangeline beugte sich halb über meine Schulter. „Was machst du da?“

„Ich korrigiere die Fehler.“ Ich tauschte den schwarzen gegen einen grünen Edding aus, um die Stellen zu markieren, an denen Reese und ich die Fallen aufgestellt hatten. Dann nahm ich den roten Edding zur Hand, um den Ort zu markieren, an dem heute Morgen die Frau mit dem Hund angegriffen wurde.

Die Stimmen im Hintergrund wurden lauter und doch waren nun einige der Venatoren auf mich aufmerksam geworden und verfolgen meine Aufzeichnungen.

Mit einer rotgestrichelten Linie zeigte ich die Stelle auf, an der das Proles-Rudel gestern gesichtet worden war.

„Was ist das?“, fragte ein ziemlich junger Venator. Genaugenommen sah er so jugendhaft aus, dass ich ihn für einen Schüler gehalten hätte, wenn er nicht bereits das Emblem der staatlichen Venatoren am Revers befestigt hätte. Braune Haare, braune Augen, braune Haut und eine extrem schlaksige Figur. Er wirkte wie eine graue Maus, aber in seinen Augen lag das Feuer, das uns alle antrieb. Und die Machete auf seinem Rücken war auch nicht von schlechten Eltern.

„Na das sieht man doch, Mace“, sprang Evangeline für mich in die Bresche. „Das sind Wege.“

Aha, das war also dieser Mace, der versucht hatte den Flughafen abzufackeln. Hm, er sah nicht unbedingt so aus, als könnte er das Gewicht eines Flammenwerfers auf den mageren Schultern tragen, ohne darunter zusammen zu brechen. „Nein“, widersprach ich Eve. „Das sind Trampelpfade, die die Besucher gemacht haben, die Hauptwege sind alle eingezeichnet und der hier“, – ich griff mir erneut den schwarzen Edding – „den gibt es gar nicht mehr.“ Damit machte ich über den westlichen Weg ein dickes Kreuz.

Die anderen Venatoren beugten sich nun auf über den Plan. Keiner beachtete noch die Streithähne.

„Jetzt muss ich nur noch genau wissen, wo …“

„Was machst du da?!“, fauchte da dieser Goldberg. Er ließ Reese einfach stehen, drängte sich zwischen die anderen und riss mir die Karte unter der Nase weg. Seine Augen flogen über das Papier, ein Runzeln legte sich auf seine Stirn und er wirkte nicht sehr glücklich. „Verdammt, du hast mein ganzen Markungen übermalt.“

„Sie waren falsch“, erwiderte ich schlicht.

Das brachte mir einen so richtig mörderischen Blick ein. „Wie kommst du darauf dass die falsch sind? Wer bist du überhaupt?“ Sein Blick glitt mustern über mich. „Ich habe dich noch nie gesehen.“

„Ich bin Grace Shanks und habe vor ein paar Tagen mein Praktikum bei der Gilde begonnen.“

Seine Augenbraue ging nach oben. „Und da nimmst du dir die Freiheit heraus, meine Arbeit zu kritisieren? Du weißt doch noch nicht einmal …“

„Hören Sie zu. Ich will Sie nicht schlecht machen, aber ich habe vorhin mehrere Stunden mit Reese in diesem Park verbracht um die Gefahrenhinweise aufzuhängen und die Fallen aufzustellen, daher habe ich Ihnen gegenüber wohl den kleinen Vorteil, dass ich dieses Terrain kenne. Und während Sie und Reese damit beschäftigt waren das Revier abzustecken, ist mir eben aufgefallen, dass Sie anstatt ein aktuelles Satellitenbild zu benutzen, nur diesen veralteten Grundriss haben, der nun mal voller Fehler ist. Und da wir hier sind um den Sohn von Stadtrat Thomson zu retten, solange er noch lebt, wäre es vielleicht hilfreich mit den Schwanzvergleichen aufzuhören und endlich loszulegen.“

„Da hat sie ausnahmsweise einmal recht“, stimmte Reese mir zu, nahm Goldberg im Vorbeigehen den Plan ab und legte ihn wieder auf die Motorhaube.

Ich blinzelte und war kurz davor, mir mit dem Finger im Ohr zu bohren, weil ich einfach nicht glauben konnte, was ich da gehört hatte. Es hatte doch wirklich so geklungen, als hätte Reese gerade mit mir übereingestimmt. Mit mir! Ohne ein sarkastisches Wort, ohne eine Beleidigung, einfach nur eine Zustimmung.

Es wird besser, überlegte ich. Naja, wenn man vom Rest des Tages einmal absah.

Reese' Blick überflog den Plan. „Ich gehe davon aus, dass das Oryxrudel dieses Gebiet als Jagdrevier nutzt. Wir konnten keine Hinweise auf Schlafstädten oder andere Dinge finden, die einen längeren Aufenthalt …“

„Ich habe hier die Leitung!“, fauchte Goldberg dazwischen. „Ich …“

„Jetzt lass es endlich gut sein“, kam es von einem bulligen Venator mit Glatze in Uniform der Staatlichen. „Wir haben es alle verstanden, aber der Auftrag gehört nun einmal Tack.“

„Benedikt hat recht“, stimmte dieser Mace zu. „Tack hat …“

„Tack hat es versaut!“, unterbrach Goldberg. „Er hat die Gefahrenhinweise nicht angebracht!“

„Natürlich hat er das“, widersprach ich sofort.

Er fasste mich sofort ins Auge. „Bist du sein persönlicher Groupie, oder warum glaubst du ihn bei so offensichtlichen Versäumnissen schützen zu müssen?“

Ich schnaubte. „Ich kann ihn nicht mal besonders leiden, aber er ist mein Lehrcoach und daher muss ich ein Weilchen mit ihm klar kommen. Das würde mich aber nicht daran hindern ihm seine Fehler vorzuhalten. Doch ich war dabei, als er die Gefahrenhinweise angebracht hat, deswegen …“

„Können wir dieses Kaffeekränzchen jetzt mal beenden?“, knurrte Reese ungeduldig. „Wenn du ein Problem hast, Goldberg, dann reich beim Verband eine Beschwerde gegen mich ein. Und du redest schon wieder zu viel, also halt endlich die Klappe, sonst sperre ich dich doch in den Wagen.“

Oh ja, in dem Moment juckte es mich geradezu ihm den Stinkefinger zu zeigen. Trotzdem beließ ich es bei einem bösen Blick.

„Das wird noch Folgen haben!“, wütete Goldberg, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand zwischen den Wagen.

Reese kümmerte sich nicht weiter darum, tippte mit dem Finger nur auf die Karte. „Hier wurde heute Morgen die Spaziergängerin angegriffen, hier wurde das Rudel gestern gesichtet, weswegen sich bereits ein Team auf dem Gebiet umgesehen hat, aber genauso wenig wie ich eine Spur finden konnte. Deswegen gehe ich davon aus, dass sie diesen Park nur zur Jagd nutzen. Im Umkreis gibt es noch weitere Grünanlagen, alle nur einen Katzensprung voneinander entfernt. Das Akazienwäldchen, Fennpfuhl, die Hufeisensiedlung, Krugphul, an den auch noch eine Kleingärtnersiedlung anschließt. Diese ganzen Grünanlagen liegen so dicht beieinander, dass es nicht auszuschließen ist, dort das Rudel vorzufinden, doch ich hatte bisher nicht die Zeit sie abzusuchen, da ich zu einem Auftrag in eine Schule gerufen wurde.“

Einiges Zischen ging durch die Runde. Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser. Große Ansammlungen von schwachen Menschen, das weckte bei jedem Venator den Beschützerinstinkt.

Mir dagegen wurde wieder schlecht, wenn ich an den Hausmeister dachte.

„Was Shanks hier eingezeichnet hat sind Trampelpfade und Ergänzungen der Wege. Die Terrasse hier oben ist nur über diese Treppe zu erreichen und hier ist das Gelände abschüssig. Im Winter wird es von Kindern gerne zum Rodeln genutzt. Das hier ist ein Spielplatz und hier drüben wurde vor ein paar Jahren ein sogenannter Motorikpark errichtet. Klettergerüste und so ein Zeug. Max, wie ist die genaue Lage?“ Reese wandte ihm seinen Blick zu.

„Bastian, der Sohn von Stadtrat Thompson hat uns vor ungefähr einer Stunde informiert, dass er mit zwei Freunden in den Park gegangen ist, weil sie komische Geräusche gehört haben. Es war wohl ein junges Oryx, dass in eine der Fallen gegangen ist, ungefähr hier.“ Er zeigte auf ein Gebiet, in dem zwei Fallen eingezeichnet waren. „Als sie gesehen haben, was da drin sitzt, wollten sie wohl wieder abhauen, doch da tauchte das restliche Rudel auf. Zwei von ihren wurden wohl noch an Ort und Stelle getötet. Bastian hat es geschafft sich in einen Baum zu retten, aber er ist wohl auch verletzt und verliert viel Blut. Er hat sich seit zwanzig Minuten nicht mehr gemeldet.“

Reese presste die Lippen aufeinander. „Oryx schützen ihre Jungen. Wissen wir mit wie vielen Proles wir es zu tun haben?“

„Mindestens acht“, kam es von Mace. „Mit dem Jungtier neun, aber der junge war so panisch, dass es auch nur fünf, oder fünfzehn sein können.“

„Das hatte ich befürchtet.“ Reese rieb sich einmal über die Augen. „Okay. Das Rudel wird nicht verschwinden, solange das Jungtier in der Falle festgehalten wird. Daher schlage ich vor, dass wir in Zweier- bis Vierergruppen hineingehen werden, um ihn zu finden. Jeweils ein Team an einem der Zugänge. Wir werden auch die Trampelpfade benutzen und uns dann von außen nach innen vorarbeiten. Wenn wir Glück haben, schaffen wir es so das Rudel in die Enge treiben und sie alle exekutieren, ohne das uns eines entwischt. Im Vordergrund wird allerdings die Bergung des Jungen stehen. Wolle, schnapp dir Goldberg und nimm den Pfad hier hinten. Ben, du gehst mit Mace hier rein und Ruben und Jarek, ihr werdet von hier kommen.“

Wow, kannte Reese diese ganzen Leute wirklich bei ihren Namen? Selbst die von den staatlichen Venatoren? Ich würde es nicht zugeben, aber davon abgesehen, dass ich ihm das nicht zugetraut hätte, war ich beeindruckt.

Reese teilte auch noch die restlichen Venatoren auf, wies ihnen ihren Startpunkt zu. „Ich werde mit Shanks von hier kommen.“ Er zeichnete die Linie mit dem Finger nach. „Ich gebe euch zehn Minuten, dann gehen wir alle gleichzeitig rein. Gebt Acht, dass ihr euch nicht gegenseitig erschießt. Und jetzt los.“

Bewegung kam in die Gruppe. Evangeline drückte mich noch einmal kurz, bevor sie hinter Benedikt und Mace zu dem ihr zugewiesenen Zugang verschwand. Ich musste mich beeilen hinter Reese herzukommen, denn der war schon nach seinem letzten Wort halb verschwunden.

Zwischen den Wagen, Polizisten und Sanitätern bahnten wir uns unseren Weg. Vorbei an dem U-Bahnhof und dem Übertragungswagen dieser Kanya Witmer, die wieder nach meinem Coach rief.

Reese hatte uns den südwestlichen Zugang zugeteilt. Er lag am äußersten Zipfel des Parks. Und obwohl wir eigentlich noch zwei Minuten hätten warten müssen, marschierte er direkt hinein.

Es war eine kaum bemerkbare Veränderung, die er mit dem Betreten des Kiesweges durchmachte. Für den ungeschulten Blick behielt Reese seine entspannte Haltung weiter bei. Nur ein Kenner bemerkte wie er die Schultern leicht anspannte und seine wachen Augen noch aufmerksamer wurden, als er seine Waffe unter dem Mantel hervorzog.

Von der Straße drangen auch weiterhin die Geräusche der Menschen und Autos, ein stetes Rauschen wie bei einem Gebirgsbach, der träge vor sich hinplätscherte, doch die Bäume um uns herum dämpften diesen Geräuschpegel und mit jedem Schritt den wir tiefer vordrangen, wurde er leiser, bis selbst das quirlige Pfeifen eines Vogels über uns lauter war.

Auch ich ließ meine Waffe in die Hand gleiten. Meine Konzentration richtete sich auf die Umgebung. Das Geäst raschelte leise im Wind, der Vogel wollte einfach nicht verstummen und dort hinten kletterte ein Eichhörnchen in den Baum. Auf halbem Wege stoppte es, beobachtete uns einen Augenblick, um dann doch wieder aus unserem Sichtfeld zu verschwinden.

Es war ruhig, friedlich. Nichts deutete auf eine Gefahr hin. Die Natur schien hier im Einklang mit sich selber und zeigte nicht, dass sich unsagbare Eindringlinge in seinem Innersten verbargen.

Nach ungefähr vierzig Metern kamen wir an eine Weggabelung. Der Weg geradeaus führte einmal um den Park herum, doch da von dort ein anderes Team kommen würde, schlugen wir den Weg nach rechts ein, der uns nach weiten zwanzig Metern zu der Terrasse führte. Reese bog darauf ein, die Waffe fest im Griff.

Hier hatten wir im Unterholz der Bäume mehrere Fallen aufgestellt, doch nach einer ersten oberflächlichen Sondierung, schien auch hier alles ruhig. Ich gab Reese das Zeichen mir Rückendeckung zu geben, schlich mich dann langsam an die Fallen heran, um sie zu kontrollieren. Doch die Köder waren unberührt und es gab auch keine Spuren in der aufgeweichten Erde, die darauf hindeuteten, dass sich das Rudel hier aufgehalten hatte.

Das war wieder ein Zeichen der Intelligenz der Proles. Sie lernten. Wenn einer aus dem Rudel jemals in eine Falle geraten war, machte das restliche Rudel in Zukunft einen weiten Bogen um Konstrukte die ähnlich aussahen – selbst wenn die mit Lebendködern ausgestattet waren. Dieses Wissen gaben sie auch an ihre Jungen weiter, weswegen die Fallen immer wieder neu konstruiert werden mussten.

Gerade als ich mich aus der Hocke erhob, hörte ich das Knacken. Mein Herzschlag beschleunigte sich augenblicklich. Ich wirbelte herum, hörte wie Reese seine Waffe entsicherte, sah die Bewegung vor mir und konnte mich gerade noch daran hindern, den Abzug durchzudrücken. Das war kein Proles, der im Gebüsch auf mich lauerte, sondern Goldberg, der mich wütend anfunkelte, weil ich eine Waffe auf ihn gerichtet hatte. Er hatte eine Schneise durchs Unterholz schlagen wollen. Das war bei so vielen Venatoren am gleichen Ort ein gefährliches Unterfangen.

Wir waren darauf trainiert auch kleinste Geräusche wahrzunehmen und sofort darauf zu reagierten. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ein Venator auf einen anderen schoss, weil er im Jagdfieber nicht richtig aufpasste. Ein Glück für Goldberg, dass ich so ein schnelles Auge hatte.

Ich ließ die Waffe sinken und kam auf leisen Sohlen aus dem Gebüsch heraus. Es gab doch nichts Besseres als einen richtigen Schrecken, um den Puls auf Touren zu bringen und wach zu werden. „Keine Spuren“, sagte ich zu Reese.

Er hatte den Blick noch immer wachsam auf das Unterholz gerichtet, als erwartete er von Goldberg eine unsagbare Tat, starrte zwischen das Geäst und wandte den Blick erst ab, als leises Rascheln davon kündete, dass Goldberg einen anderen Weg einschlug. Dann lief er wortlos den Weg zurück, den wir gekommen waren, um den Außenpfad und das Gehölz drum herum abzusuchen.

Ich war gerade dabei eine weitere Falle zu kontrollieren, ließ den Blick dabei durch das Geäst über mir gleiten, auf der Suche nach dem Sohn von Stadtrat Thompson, als der Knall durch den Park halte. Ein zweiter folgte kaum eine Sekunde später. Das war wie ein Weckruf, der Reese und mich sofort vorwärts trieb.

Wir rannten den Kiesweg entlang, ohne sonderlich drauf zu achten, wie viel Lärm wir dabei machten. Das war das einzig Positive an der Proles-Jagd. Die Abkömmlinge ließen sich von lauten Geräuschen nicht abschrecken, oder gar vertreiben. Ganz im Gegenteil, es lockte sie sogar an. Darum ließ ich meinen Blick beim Hinabrennen des Pfades auch nach allen Seiten wandern, denn Proles waren Meister darin, plötzlich hervorzuspringen, um sich ihre Beute zu sichern.

Wir kamen zu der Gabelung, die zum Rodelberg führte, rannten nach links zum Abhang, als ich etwas Violettes im Unterholz aufblitzen sah. „Rechts!“, rief ich, da war Reese bereits herumgewirbelt.

Der Knall hallte in meinen Ohren nach, genau wie das dumpfe Geräusch, dass der Oryx machte, als er auf den Boden aufschlug. Reese hatte ihn in den Hals getroffen und doch stand dieses Vieh wieder auf und rannte mit donnernden Hufen weiter auf meinen Lehrcoach zu.

Dieser zögerte nicht einen Augenblick, zog den Abzug erneut durch und dieses Mal traf er genau zwischen die Augen. Das überlebte nicht mal der widerstandsfähigste Abkömmling.

Der Oryx knallte erneut auf den Boden, überschlug sich einmal und blieb dann regungslos liegen. So sah es nicht wirklich furchterregend aus. Kaum größer als ein Hund hob die violette Gestalt sich von dem grauen Kies ab. Es war ein eher kleines Exemplar, von höchstens dreißig Kilo. Hufe und Halskrangen waren mit langem Fell behangen, das sich etwas dunkler vom Rest des seidigen, kurzen Fells abhob. Es war schmal, vom Körperbau ähnlich einer Ziege und die langen, dünnen Beine gaben diesem Wesen etwas Elegantes. Der kleine Ziegenbart wehte leicht im kühlen Wind, doch das wohl auffälligste an einem Oryx waren die V-förmigen Hörner, die sich spiralig gewunden nach oben drehten.

Ich wollte mich gerade ein wenig entspannen, als ich das verräterische Rascheln hinter mir hörte. Nur den Bruchteil einer Sekunde später war ich bereits herumgewirbelt und hatte den Abzug durchgedrückt. Die violette Gestalt sackte in sich zusammen, bevor sie aus dem Gebüsch herausspringen konnte. Aber da ich nichts dem Zufall überlassen wollte, nährte ich mich dem scheinbar toten Körper vorsichtig und jagte ihm sicherheitshalber noch eine Kugel in den Kopf.

Reese bedachte mich mit einem Kopfschütteln und wandte sich dann wieder der Rodelbahn zu.

Vor uns erstreckte sich die riesige, zentrale Grünfläche. Ruhig und leer lag sie vor uns. Am anderen Ende auf dem angrenzenden Spielplatz wippte eine Schaukel leise im Wind. Die Blätter des Geästs über uns raschelten leise und das Gras wiegte sich in einer Böe. Kein Venator weit und breit. Kein Proles.

„Wohin?“

Reese ließ seinen Blick über die freie Fläche wandern. Er wirkte leicht angespannt, unruhig, so als erwartete er, dass jeden Moment etwas geschah. „Lass uns das Gehölz rechts absuchen. Aber pass auf wohin du mit deiner Waffe zielst. Wenn es nicht gerade Goldberg ist, wird es ziemlichen Ärger geben, solltest du einen von uns erschießen.“

Hatte er etwa gerade einen Witz gerissen? Ich beobachtete wie er schweigend an mir vorbei lief. Heute war Reese wirklich seltsam. Den ganzen Vormittag hatte er mich bei sich jeder bietenden Gelegenheit fertig gemacht, doch nach der Sache mit dem Hausmeister war er dann fast nett zu mir gewesen. Und nachdem wir bei diesem seltsamen Anwesen gehalten hatten, wirkte er nur noch verkniffen.

Langsam machte er auf mich den Eindruck, als litte er unter starken Gefühlsschwankungen. Vielleicht wurde es ihm aber auch langsam einfach zu anstrengend immer eklig zu mir zu sein, jetzt wo er merkte, dass er mich nicht so schnell wieder loswurde.

Ich machte einen Schritt, um Reese zu folgen, als ich es hörte. Augenblicklich verharrte ich still und sperrte die Ohren auf. Hatte ich mich geirrt, oder war da ein Wimmern gewesen? Ich lauschte, ließ den Blick aufmerksam über die Bäume gleiten und versuchte dabei alle anderen Geräusche auszublenden. Und da war es wieder. Ganz leise, aber deutlich. Ein Wimmern, geplagt von Schmerzen. „Reese, hörst du das auch?“

 

°°°°°

Kapitel 07

 

Auf halbem Wege zu den Bäumen blieb Reese stehen und neigte den Kopf zur Seite. Er lauschte konzentriert, runzelte die Stirn. „Ich höre nichts.“

„Doch, da ist … komm her.“ Ich winkte ihn zu mir, lief dem Wimmern noch ein paar Schritte entgegen.

Reese folgte mir kommentarlos. Die Ohren gespitzt, achtete er dabei auf jedes noch so kleine Geräusch.

Wir liefen am oberen Rand der Rodelbahn entlang, kamen dem Wäldchen auf der anderen Seite dabei immer näher. Erst als wir schon halb drinnen standen, schien Reese es auch endlich wahrzunehmen. „Das hast du gehört?“ Er blickte sich um, zurück zu dem Platz, an dem wir vorher gestanden hatten. Er war fast zwanzig Meter entfernt.

„Ich hatte schon immer ziemlich gute Ohren.“

Er betrachtete mich mit einem undefinierbaren Blick, bevor er weiter in das kleine Wäldchen hinein ging, immer dem leisen Wimmern hinterher.

Ich folgte ihm, sah mich in den Kronen der Bäume um. Max hatte gesagt, dass Bastian sich in einen Baum retten konnte, also ging ich davon aus, dass er noch immer darin hockte. Oryx konnten nicht klettern. Sie konnten unglaublich hoch springen, doch durch ihre Hufe waren sie an den Boden gefesselt. Daher wäre ein Baum der sicherste Ort.

Nach ein paar Metern blieb Reese stehen. Er ging in die Hocke, strich ein paar Blätter am Boden zur Seite. Ein tiefer Hufabdruck. Daneben war das Laub mir rostroten Tropfen gesprenkelt.

„Blut.“

Es gab keinen blöden Kommentar über die Offensichtlichkeit meiner Feststellung. Er erhob sich einfach wieder und folgte der Spur zwischen den dicken Stämmen hindurch.

Ich behielt währenddessen die Umgebung im Auge.

Das Wimmern wurde lauter. Ein abgehackter Laut, Röcheln, Husten. Ein schweres Seufzen.

„Bastian?“, rief Reese.

Ein unartikulierter Laut kam weiter vorne aus einer großen Eiche. Das unverständliche Wimmern wurde zu einem Weinen der Erleichterung.

Mein Blick schweifte durch die Kronen. Dann entdeckte ich ihn. „Da“, sagte ich und zeigte nach oben, wo ein Junge von vielleicht zwölf Jahren blutend in dem Geäst hing. Seine Augen waren verquollen und aus dem Arm den der gegen die Brust drückte, schaute der Knochen heraus. Das Gesicht zerschrammt, die Kleidung blutig und zerrissen, die Knie und Hände aufgeschürft, saß er mit angezogenen Beinen in einer Astgabel und ließ die vor Angst geweiteten Augen immer wieder durch das Unterholz gleiten.

Reese überbrückte das letzte Stück, musterte die Beschaffenheit des Baumes und sah dann zu Bastian nach oben. „Kannst du hinunterklettern?“

Der Junge schüttelte so panisch den Kopf, dass ich einen Moment befürchtete, er würde durch den Schwung einfach abstürzen.

„Du musst aber herunterkommen“, sagte Reese ruhig. „Wir wollen dich hier rausbringen.“

Wieder schüttelte er den Kopf. Er klammerte sich mit der freien Hand so stark an einen Ast, dass die Knöchel schon weiß hervortraten.

„Du brauchst keine Angst haben.“ Reese' Worte waren sanft, beruhigend, einen Ton, den er mir gegenüber noch nie angeschlagen hatte. „Im Park sind mehr als ein Dutzend Venatoren. Dir kann nichts mehr passieren. Du …“

„Pass auf!“, schrie ich.

Der Oryx kam direkt aus dem Gebüsch neben Reese, sprang ihn von der Seite an und riss ihn mit sich zu Boden. Reese gab einen lauten Fluch von sich, warf den Oryx von sich. Dabei verbiss das Vieh sich in seinen Ärmel und franste den Saum aus.

Ich hob meine Waffe, sprintete zur Seite, als er eilig wieder auf die Beine kam. Der Oryx – ein verdammt großes Exemplar – ging erneut zum Angriff über, doch Reese jagte ihm nicht wie sonst eine Kugel in den Kopf, sondern sprang eilig zur Seite, hinter den Baum, in dem Bastian saß. Dabei fummelte er an seinem Gürtel herum.

Verdammt, warum schoss er denn nicht?

Bastian schrie hoch oben in panischer Angst, doch darum konnte sich im Augenblick keiner von uns beiden kümmern.

Ich sprintete hinter Reese her, sah wie er ein Jagdmesser rauszerrte. Scheiße, er hatte bei seinem Sturz doch nicht wohl seine Waffe verloren, oder?! Verdammt! Und ich konnte nicht abdrücken, weil da überall Bäume in meiner Schussbahn standen. Würde ich einen Querschläger riskieren, könnte ich Reese treffen.

Das nächste sah ich wie in Zeitlupe. Reese stolperte aus dem Wäldchen hinaus auf die Wiese, wirbelte herum, das Messer fest im Griff. Der Proles direkt vor ihm. Knurrend stieß es sich vom Boden ab, erwischte Reese frontal und begrub ihn unter sich. Es ging so schnell, dass er keine Zeit mehr hatte zu reagieren und ächzend auf den Boden knallte.

Der Proles machte dabei einen halben Überschlag, erwischte Reese mit den Hufen am Kinn. Ich hörte seinen Schrei, sah wie er sich auf die Seite drehte, als der Oryx sich erneut auf ihn stürzte.

Reese rollte sich herum, holte mit der Messerhand aus und …

Das Knurren hinter mir ließ mich herumwirbeln. Drei Oryxe und sie hielten genau auf uns zu. Und sie waren schnell. Doch ich würde schneller sein.

Bei ihrem Anblick schien sich die Zeit zu verlangsamen. Zäh wie Gummi spannte sie sich um mich herum. In Zeitlupe konnte ich beobachten, wie ich den Arm hob. Zwei Hände, sicherer Stand.

Du Muskeln unter den Fellen bewegten sich, als sie mit weiten Sprüngen auf uns zuhielten. Wahnsinnige Augen, das stechende Gelb, gebleckte Zähne. Die Hufe donnerten über die Wiese, rissen Grasbüscheln und Erde aus.

Einatmen.

Zielen.

Ausatmen.

Schießen.

Der Knall ließ die Zeit wie ein Gummiband zurückschnellen.

Der vorderste Proles wurde durch die Wucht des Treffers zur Seite geschleudert, brachte damit seinen Gefährten zum Stolpern, konnte ihn aber in seinem Lauf nicht aufhalten.

Ich zögerte nicht, schwang dir Waffe herum und feuerte bereits auf den Zweiten, bevor der erste auf den Boden aufschlug.

Dann knallte der dritte Schuss. Der letzte Oryx schlug unter einem Blöken mit der Schnauze voran auf den Boden und pflügte mit der Nase durch das Gras. Doch das war nicht mein Verdienst, nicht ich hatte geschossen, sondern Evangeline, die mit Mace im Schlapptau über die Wiese auf mich zugerast kam.

Hinter mir hörte ich Reese keuchen.

Ich wirbelte wieder herum.

Der Oryx hatte sich in sein Shirt verbissen, zerrte aus Leibeskräften daran und versuchte gleichzeitig an seine Kehle zu gelangen. Das Jagdmesser lag außerhalb seiner Reichweite im Gras und blitzte höhnisch in einem einzelnen Sonnenstrahl.

Reese versuchte den Oryx von sich zu stoßen, grub seine Fersen auf der Suche nach Halt in den weichen Boden und versuchte das Vieh gleichzeitig von seiner Kehle fernzuhalten. Dabei bewegten die beiden sich so viel, dass ich kein freies Schussfeld bekam. Ich konnte nicht abdrücken, ohne Gefahr zu laufen, meinen Lehrcoach abzuknallen.

„Scheiße!“, keuchte ich und zog hektisch mein Messer aus der Halterung, als der Oryx versuchte seine spitzen Zähne in Reese Fleisch zu versenken.

Hinter mir hörte ich Evangeline etwas rufen. Ich wirbelte wieder herum, sah gerade noch wie eines der angeschossenen Oryx auf mich zu stolperte und versuchte nach meinem Bein zu schnappen. Dahinten kamen noch zwei von diesen Kreaturen, doch ich hatte keine Zeit mich mit ihnen zu befassen.

Ein Sprung zur Seite brachte mich aus der Reichweite der Zähne. Gleichzeitig riss ich mein Messer herum und schlitze dem Oryx das halbe Gesicht auf.

Es schrie auf vor Schmerz. Ich hatte sein Auge erwischt, aber das war noch lange kein Grund für ihn aufzugeben, oder sogar das Weite zu suchen. Halb blind griff es wieder an.

Ich drehte mich herum, riss dabei meine Waffe hoch und schoss.

Die Kugel bohrte sich in die Flanke des Biestes. Es jaulte, stürzte und versuchte weiter auf mich zuzukriechen. Verdammt, dieses Vieh war aber echt hartnäckig. Ein weiteres Mal zielte ich, drückte den Abzug durch. Der Rückstoß fuhr mir in den Arm, die Kugel in den Kopf des Monsters.

Er ruckte zurück und sackte dann einfach schlaff zu Boden.

Evangeline schoss in der Zeit auf den anderen Proles, der mit großen Sprüngen in unsere Richtung kam, doch was mich wirklich entsetze war Mace. Die Machete in der Hand, wartete er, bis der größere der Oryxe nur noch einen halben Meter von ihm entfernt war. Den Blick entschlossen holte er mit dem Arm aus und schlug dem Proles mitten im Lauf einfach den Kopf ab. Dann stolperte er über den toten Körper, überschlug sich einmal und knallte auf den Rücken.

Scheiße!

„Mace!“, schrie Evangeline.

„Nichts passiert“, rief er und wedelte mit der Hand in der Luft herum. Der Hand, in der er die Machete hielt, mit der er sich bei seinem Manöver fast selber aufgespießt hätte. Warum gab man so einem Tollpatsch so seine gefährliche Waffe in die Hand? Das war lebensgefährlich!

Ein erstickter Schrei hinter mir erinnerte mich daran, dass wir hier noch nicht fertig waren.

Reese hatte seinen Arm schützend über seine Kehle gepackt. Ich sah das Blut, sah wie der Oryx sich darin verbissen hatte und absolut nicht loslassen wollte.

Die Bilder mit dem Hausmeister kamen mir wieder in den Sinn. Sein verkrümmter Körper, die drei Amphs, die sich um ihre Beute stritten und die Zähne in das Fleisch hauten.

Es war zu riskant zu schießen, sie bewegten sich zu viel, ich würde sicher Reese treffen, aber ich konnte nicht verhindern, dass meine Hand sich hob und mein Finger sich um den Abzug krümmte.

Der Schuss knallte über das Gelände, der Wind fegte über die Bäume und irgendwo weiter hinten im Park waren die Rufe von anderen Venatoren zu hören.

Ich hielt die Luft an, als die Kugel hinten in den Kopf des Oryx eindrang und vorne aus der Stirn wieder rauspreschte. Blut spritzte, ein Jaulen hallte durch den ganzen Park und dann bracht das Vieh tot über Reese zusammen.

Er schob es hastig von sich, robbte im Sitzen ein Stück von ihm weg und starte es dann mit offenem Mund an. Sein Brustkorb hob und senkte sich unter hastigen Atemzügen. Das Hemd war zerrissen, Kratzer und Blessuren zeigten sich auf jedem Flecken freier Haut. Und dann schweifte sein Blick zu mir.

Einen Moment sah er mich starr an. Er sah einfach nur in den Lauf meiner immer noch erhobenen Waffe. Dann sprang er wie von der Tarantel gestochen auf die Beine und fuhr auf der Suche nach Verletzungen hektisch über seinen eigenen Körper. Aber da war nichts. Gar nichts – jedenfalls nichts Ernstes. „Ich lebe“, kam es etwas verwundert über seine Lippen. Dann lachte er bellend auf. „Ha, ich lebe!“

Ich ließ meine Waffe an meine Seite sinken, war plötzlich fasziniert von dem Anblick den er bot. Es war wie gestern in dieser Gasse, doch dieses Mal war es nicht die düstere Aura, die ihn wie einen Racheengel umgeben hatte. Es war das Leuchten in seinen Augen, das Lächeln auf seinen Lippen, die Freude die ihm aus jeder Pore zu kriechen schien. Ich hatte Reese noch nie lächeln gesehen, oder gar lachen gehört, aber jetzt gerade grinste er mich so breit an, dass ich zum ersten Mal eine gewisse Ähnlichkeit zu Nick feststellen konnte und das ließ meinen Herzschlag schneller schlagen.

Es war wirklich kaum zu glauben, Reese lächelte mich an.

Zumindest bis zu dem Moment, als ihm wohl aufging, was er da gerade tat. Dann fiel es einfach in sich zusammen und dieser undurchdringliche Blick war zurück. Er stand einfach nur da, fuhr sich mit der Hand in einer peinlich berührten Geste durch die Haare und murmelte: „Guter Schuss“, bevor er sich nach seinem Messer umsah und es vom Boden aufklaubte.

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glatt behaupten, das war seine Art Danke zu sagen. Mein Grinsen konnte ich einfach nicht verstecken. Zum Glück drehte er mir gerade den Rücken zu, sonst hätte er es sehen können und das hätte ihm ganz sicher nicht gefallen.

Im anderen Teil des Parks wurden zwei Schüsse abgegeben. Dann noch einer.

„Da hinten ist die Hölle los“, berichtete Mace. Er kroch ein wenig ungeschickt am Boden herum, bevor er es auf die Beine schaffte, wischte die Machete an seiner Hose ab und ließ sie wieder in die Scheide auf seinem Rücken verschwinden. „Aber wir müssten das Rudel so gut wie eliminiert haben. Ben hat uns nur hergeschickt, weil hier ein Haufen Schüsse gefallen sind.“

Reese nickte, marschierte dann aber ohne ein Wort zurück in das kleine Wäldchen, wo Bastian noch immer wimmernd im Baum hing.

Ich gab den beiden anderen das Zeichen ihm zu folgen und hängte mich dann selber an seine Fersen.

„Du musst runter kommen“, hörte ich Reese sanft erklären.

Bastian saß noch immer im Baum, nur war die Farbe seiner Haut mittlerweile von Kalkweiß zu einem ungesunden grau geworden. Wenn wir ihn da nicht bald runter bekamen, dann würde er einfach von allein runterkippen.

„Lass mich mal“, sagte Evangeline und drängte sich an Reese vorbei. Sie steckte die Waffe in ihr Holster und winkte Mace zu sich. „Hilf mir mal, ich brauche eine Räuberleiter.“

Mace wollte dem so schnell nachkommen, dass er über seine eigenen Füße stolperte und sich fast der Länge nach hinlegte. Er schaffte es gerade noch so, sich an einem Baumstamm abzufangen. „Nichts passiert“, grinste er und tat dann so, als wäre nichts geschehen.

Das konnte sich ja nun wirklich keiner ansehen. Ich wandte mich vorsichtshalber ab und behielt die Umgebung im Auge. Wir konnten schließlich noch nicht sicher sein, dass wir alle erwischt hatten und der Knall, der kaum eine Minute später durch den Park hallte, sprach mehr als nur für sich.

Reese zog sein Handy raus, als Evangeline sicher oben angekommen war und mit leiser Stimme auf den Jungen einredete. Er tippte eine Nummer über Kurzwahl, beobachtet meine beste Freundin und hielt sich dabei das Handy ans Ohr. „Wir haben den Jungen gefunden, er lebt, ist aber schwer verletzt. Ich brauche sofort ein Team von Sanitätern am südwestlichen Zugang, wir kommen gleich raus.“

Mein Blick fiel auf etwas Glänzendes zwischen dem abgestorbenen Laub und ein paar brüchigen Ästen. Ich wusste schon was es war, bevor ich es in die Hand nahm. Reese' Waffe. Es war wirklich kaum zu glauben, Reese hatte beide Waffen verloren und das nur, weil da ein paar Äste im Weg gelegen hatten. Es war halt wirklich so wie er sagte: Man konnte noch so gut sein, das war noch lange keine Versicherung dafür, dass man den nächsten Tag noch erleben würde.

Als Reese das Handy wieder wegsteckte, reichte ich sie ihm wortlos und sah dabei zu, wie Eve mit Mace' Unterstützung dabei half, Bastian vom Baum zu bekommen. Der Junge weinte. Dicke Tränen rollten über seine Wangen und als er mit dem offenen Bruch gegen den Baum kam, entfuhr ihm sogar ein Schrei. Ich konnte es ihm nachfühlen, er musste schlimme Schmerzen haben.

Aber kaum dass er auf dem Boden war, ging alles ganz schnell. Reese hob ihn auf seine Arme und trug ihn mit eiligen Schritten aus dem Wäldchen hinaus auf den Kiesweg.

Evangeline ließ sich aus dem Baum fallen und gab meinem Lehrcoach dann mit mir und Mace zusammen Deckung.

So huschten wir durch die Grünanlage, beachteten die Schüsse im Hintergrund nicht weiter. Jetzt zählte nur noch den Jungen sicher und vor allen Dingen schnell hier rauszubringen. So eilten wir von dem einen Chaos in das nächste.

Draußen wartete schon eine Transportliege mit einem Dutzend Sanitätern. Seine Mutter kam herbeigelaufen und hätte sich wohl am liebsten schluchzend auf ihn gestürzt.

Reese legte den Jungen auf die Liege und trat dann eilig zurück, um den Sanis das Feld zu überlassen. Hier hörte seine Aufgabe auf, mehr konnte er nicht tun.

„Sie!“, donnerte uns in dem Moment eine Stimme entgegen.

Ein Mann in seinem feinen Zwirn kam auf uns zu. Sein Gesicht war vor Wut verzerrt und ganz rot angelaufen. Stadtrat Thompson.

„Dafür werden Sie bezahlen!“, schrie er Reese entgegen. „Ich werde dafür sorgen, dass Sie in diesem Staat nie wieder …“

„Er hat ihrem Sohn gerade das Leben gerettet!“, fauchte ich ihn an.

„Er trägt daran doch die Schuld! Er hat keine Gefahrenhinweise angebracht!“

„Er hat sie angebracht, ich habe es mit eigenen Augen gesehen! Deswegen sollten Sie ihm dankbar sein und nicht … las mich los!“, fuhr ich Reese an, der mich am Arm einfach wegzog. „Was soll das? Warum wehrst du dich nicht, wenn er mit falschen Anschuldigungen um sich wirft?!“

„Weil es keinen Zweck hat. Sein Sohn ist schwer verletzt und er braucht im Moment jemanden, dem er die Schuld daran geben kann. Da bin ich eben der Naheliegende.“

„Aber das ist falsch!“

„Das interessiert ihn nicht.“ Reese warf über die Schulter einen Blick zurück zu Bastian und seiner Familie. Stadtrat Thompson sah fast verzweifelt aus, als er uns hinterher sah, wagte es aber nicht die Seite seines Sohnes zu verlassen.

Reese manövrierte mich hinter einen Polizeivan, bevor er mich losließ und in seinem Mantel nach den Zigaretten angelte.

Ich verstand ihn einfach nicht. Störte es ihn denn gar nicht, wenn die Leute so schlecht von ihm dachten? Erst diese Reporterin und jetzt auch noch der Stadtrat. „Was ist los mit dir? Du lässt dir doch sonst nichts gefallen.“

„Ich führe einfach keine aussichtslosen Kämpfe.“ Er zündete sich seine Zigarette an und nahm einen ersten Zug, als hinge sein Leben davon ab. „Der Mann ist in seiner Wut gefangen. Im Moment kann man nicht mit ihm reden.“ Ein weiterer tiefer Zug. „Wenigstens haben wir seinen Sohn retten können.“

Nur hieß Rettung in diesem Fall leider noch lange nicht, dass er wieder geheilt werden konnte. Selbst wenn die äußeren Wunden verblasst waren, würden die inneren noch lange Bestand haben – das wusste ich aus eigener Erfahrung. „Ich versteh dich einfach nicht“, sagte ich und wandte mich von ihm ab. Ich brauchte ein paar Minuten Abstand, um wieder runter zu kommen.

Der ganze Tag war schon so gelaufen, heute schien einfach nichts klappen zu wollen. Und im Moment spürte ich eine solche Wut, dass ich gar nicht wusste wohin damit. Ich wusste nicht mal woher sie kam, nur dass sie da war und es nicht ratsam wäre, im Augenblick in Reese' Nähe zu bleiben. Vermutlich sollten mir in der nächsten halben Stunde alle fern bleiben.

Aussichtslose Kämpfe. Pah. Ich drückte die Lippen zusammen, während ich mich zwischen den Autos auf die andere Straßenseite durchschlängelte. Wenn er keine aussichtslosen Kämpfe führen wollte, was machte er dann hier? Die Jagd nach Proles war wohl der aussichtsloseste Kampf, den es jemals geben würde. Natürlich, wir konnten die Plage eindämmen, versuchen sie in Schach zu halten, doch ich bezweifelte, dass die Menschheit sie jemals besiegen konnte.

Der Job frisst einen auf. Wenn du nicht rechtzeitig die Bremse ziehst, wird er dich kaputt machen.

Zu spät. Ich war bereits kaputt, zerbrochen an dem Tag, an dem ich zusehen musste, wie meine Eltern von diesen Monstern getötet wurden.

Guck mal, Gracy, der lustige Hund. Ich habe ihn Plüsch genannt, weil er so plüschig aussieht.

Seufzend steuerte ich die Haltestelle des Busses an, ließ ich mich auf den Gittersitz des Wartehäuschens sinken und strich mir die Haare hinter die Ohren. Warum nur konnten diese Bilder nicht endlich verschwinden? Warum nur spukten sie ausgerechnet heute ständig in meinem Kopf umher? Ich hatte zusehen müssen, wie ein Mann starb. Na und? Sowas passierte täglich. Andere nahm es doch auch nicht so mit. Warum also mich?

Denk nicht mehr daran.

Ich zwang meinen Blick auf die Einsatzkräfte vor dem Park. Seit unserer Ankunft waren noch ein paar Wagen dazu gekommen. Alle Fahrspuren auf beiden Seiten waren komplett gesperrt. Die Bewohner würden sich bedanken. Ja, es war traurig, aber so dachten die Menschen nun einmal.

Die Zeit tröpfelte dahin, als ich die Sanitäter beobachtete, die Bastian in einen der Krankenwagen schoben. Auch seine Eltern verschwanden darin, bevor sie mit Blaulicht und Sirene die Straße hinab bretterten. Wenigstens war das Krankenhaus nicht weit entfernt.

Nach und nach kamen auch die Venatoren aus dem Park. Zwei von ihnen stützen einen dritten Mann, der stark aus einer Wunde am Bein blutete. Ich kannte ihn nicht, konnte anhand der Uniform aber feststellen, dass er zu den Staatlichen gehörte. Auch er verschwand in einem der Krankenwagen und wurde dann mit Blaulicht weggefahren.

Die Reporter drängten sich an dem Absperrband wie Piranhas um eine Kuh, die ins Wasser gefallen war. Sie bombardierten die Venatoren mit Fragen, doch niemand wollte ihnen Auskunft geben. Deswegen sah einer es wohl für nötig, unter dem Absperrband hindurchzuschlüpfen, um Max hinterherzulaufen.

Meine Aufmerksamkeit wurde von mehreren Vans angezogen, die sich am Rande des provisorischen Parkplatzes einordneten. Männer und Frauen in weißen Anzügen stiegen aus. Einer von ihnen war Judd, der Kadavermann. Das hieß dann wohl, dass es Zeit für die Aufräumarbeiten war.

Hinter einem der Ü-Wagen des Nachrichtensenders trat Reese hervor und hielt genau auf ihn zu.

„Faszinierend, oder?“

Ich drehte den Kopf zur Seite. Da stand Kanya Witmer und verfolgte mit ihrem gierigen Blick das Geschehen.

„Dieser Einklang. Es ist wie in einem Armeisennest. Alles wirkt durcheinander, doch jeder weiß was er zu tun hat.“ Sie richtete ihren Blick auf mich. „Ganz genau wie in einem Oryxrudel.“

Ich kniff die Augen zusammen und richtete den Blick zurück auf Reese. Er unterhielt sich mit Judd, während die anderen Kadaverleute damit begannen, ihre Ausrüstung aus den Vans zu räumen.

Kanya Witmer schlenderte näher und ließ sich neben mir nieder. „Du bist die Praktikantin die ihm unterstellt ist.“

Ich ließ mir meine Überraschung nicht anmerken, aber woher wusste sie das? Okay, sie war Reporterin und Informationsbeschaffung war ihr Job, aber so schnell?

„Möchtest du mir ein wenig über ihn erzählen?“ Sie wartete einen Moment, lauerte auf meine Antwort. „Ich könnte dich ins Fernsehen bringen.“

Dafür bekam sie immerhin ein Schnauben. Als wenn ich mich mit so etwas Albernem locken ließe.

Als Reese mit Judd und ein paar anderen aus dem Team aus meinem Sichtfeld verschwand, konzentrierte ich mich wieder auf Max. In der Zwischenzeit waren zwei Polizisten hinzugekommen, die den aufdringlichen Journalisten zurück hinter das Absperrband eskortierten. Das hinderte die Frau aber noch lange nicht daran, weitere Fragen in Richtung des Venators zu werfen.

„Willst du denn nichts ins Fernsehen? Du müsstest mir nur ein paar Fragen beantworten.“

„Kein Kommentar.“

Ein weiterer Polizist lief mit eiligen Schritten zwischen dem Gewühl entlang. In seinen Händen trug er einen Packen orangener Zettel.

Ich runzelte die Stirn. Waren das nicht Gefahrenhinweise?

„Okay.“ Sie drehte sich mir zu. „Dann sprechen wir doch mal von Frau zu Frau. Wenn du mir hilfst …“

„Ich wüsste nicht, dass ich Ihnen die Erlaubnis erteilt hätte mich zu duzen. Ich bin volljährig und daher steht es mir vom Gesetz her zu, mit dem gebührenden Respekt behandelt zu werden. Daran sollten Sie denken, wenn Sie mich noch einmal ansprechen, da ich es sonst als Beleidigung auffassen werde und bei der Polizei Anzeige gegen die berühmte Kanya Witmer erstatte. Das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe. Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich habe zu tun.“ Diese aufdringliche Reporterin bekam gar nicht mehr die Gelegenheit darauf zu reagierten. Ich erhob mich einfach und marschierte quer über die Straße zu Max und dem Polizisten, der ihm gerade die orangenen Zettel zeigte. Natürlich spürte ich ihren Blick im Nacken, aber diese Frau interessierte mich gerade nicht genug, um darauf zu reagieren. Meine Aufmerksamkeit lag allein auf Max, der sich die Zettel mir gerunzelter Stirn ansah.

Sobald ich neben ihm stand fragte ich: „Was ist los?“

„Ich glaube, ich habe gerade herausgefunden, was mit den verschwundenen Gefahrenhinweisen passiert ist.“ Er hielt sie mir unter die Nase. „Die hat der Wachtmeister unten im U-Bahnhof in einem Mülleimer gefunden.“

„Was?“ Ich schaute mir die Zettel an. Einige waren zerknickt und mit irgendwas beschmiert, aber sie alle zeigten deutliche Gebrauchsspuren. Flecken von moosiger Rinde, die belegten, dass sie mit Bäumen in Kontakt gekommen waren. Und sie waren alle oben eingerissen, genau an der Stelle, wo wir sie mit Reißzwecken befestigt hatten. „Aber warum sollte die jemand entfernen?“ Davon abgesehen, dass es bei Strafe verboten war. Nur Beauftragte der Venatoren durften sie abnehmen.

„Ja, das ist die Frage.“ Max zog nachdenklich die Stirn in Falten.

„Das sind nicht alle“, sagte der Polizist. Er wirkte ziemlich jung und aufgeregt, weil er diesen Fund gemacht hatte. „Der Mülleimer ist voll damit.“

Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Und sie durften diese Zettel einfach daraus entfernen? Ohne Spurensicherung?“

Der Polizist öffnete den Mund und schloss ihn gleich wieder. Da war wohl jemand in seiner Euphorie zu voreilig gewesen. „Ich werde mal kurz mit meinem Vorgesetzten sprechen. Wenn ich um die Beweise bitten dürfte.“

Max händigte sie ihm anstandslos auf und sah schmunzelnd dabei zu, wie der Mann sich eilig umwandte und zu einem der Polizeiautos verschwand. „Jetzt hast du ihm seinen Tag vermiest.“

Ich ignorierte den Spruch. „Wie kommen die Gefahrenhinweise in den Mülleimer?“

„Jemand hat sie abgenommen und hineingeworfen.“

„Ja, das ist mir bewusst, aber was ich damit meine, warum sollte sich jemand die Mühe machen wirklich jeden Zettel abzunehmen? Reese und ich müssen an die Hundert aufgehängt haben.“ Der ganze Park war damit zugekleistert gewesen, aber selbst in der Grünanlage hatte ich keine mehr gesehen.

Max presste die Lippen kurz aufeinander. „Es muss jemand sein, der ein persönliches Interesse daran hat, oder jemand, der nicht möchte dass den Proles etwas passiert und sie in ihrem Lebensraum eingeschränkt werden.“

Aber das … „Redest du von Live for Animals?“

„Wer sonst sollte auf so eine Idee kommen und damit Menschenleben riskieren?“, stellte er die Gegenfrage.

Da war was dran. Ich traute diesen Fanatikern glatt zu, so etwas zu bringen, um ihren selbsternannten Schützlingen das Leben so leicht wie möglich zu machen. „Diese verdammten Idioten. Wegen ihnen sind heute zwei Kinder gestorben und ein drittes wurde schwer verletzt!“

„Ich weiß.“ Max seufzte. „Ich muss kurz mit Reese reden, er sollte das wissen.“

„Ja, schon klar.“

Er klopfte mir auf die Schulter. „Halt die Ohren steif.“

Die Lippen fest aufeinander gedrückt, starrte ich ihm hinterher. War es wirklich möglich, dass diese Naturliebhaber unsere Arbeit sabotiert hatten? Es wäre jedenfalls nicht das erste Mal. Und es war auch nicht das erste Mal, dass deswegen Menschen hatten sterben müssen. Und jetzt herauszufinden, wer genau es zu verschulden hatte, war wohl das schwerste an dieser Sache. Die Organisation schützte ihre Anhänger, notfalls auch mit falschen Alibis. Das war schon mehr als nur ein paar Mal geschehen. Unter dem Strich hieß das, es waren zwei Kinder gestorben, ein drittes wurde schwer verletzt und es würde niemand dafür bestraft werden.

Dieser Gedanke machte mich wütend. Diese Machtlosigkeit machte mich wütend. Und diese Reporterin, die mich noch immer beobachtete, machte mich auch wütend. Was glaubte sie denn bitte, was ich ihr über Reese erzählen würde? Dass er illegale Proles-Kämpfe unterstützte und mit der Beschaffung von Nachschub Geld verdiente?

„Grace!“, schallte Evangelines Stimme quer über die Straße. Sie stand mit Mace bei einem Wagen der Staatlichen und winkte mich zu sich rüber.

Ich warf der dreisten Reporterin noch einen letzten, abwertenden Blick zu und gesellte mich dann zu meiner besten Freundin. „Was gibt es?“

„Nichts, du sahst nur irgendwie so verloren aus.“

„Ich habe nur nachgedacht.“

Sie nickte verstehend. „Ja, das war ganz schön heftig gewesen. Und es ist noch nicht mal sicher, dass der Junge überleben wird.“

„Er hatte nur einen gebrochenen Arm, Eve“, belehrte ich sie. „Die seelischen Schäden sind viel schlimmer.“ Denn die waren es, die ewig bleiben würden.

Keiner widersprach mir.

Die Hektik, die noch bei unserer Ankunft geherrscht hatte, legte sich langsam. Noch immer herrschte geschäftiges Treiben, doch die Atmosphäre hatte sich etwas entspannt und mit jeder Minute, die verstrich, wurde es ruhiger.

Die Venatoren waren die ersten, die den Ort des Geschehens verließen. Die Sanitäter folgten ihnen. Auch Evangeline verabschiedete sich von mir mit den Worten, dass wir uns morgen in der Akademie sehen würden. Ich musste noch bleiben. Da Reese der Leiter dieses Auftrags war, verschwanden wir als einer der Letzten. Doch damit war unser Tag noch nicht beendet. Wir mussten noch Mal in die Gilde. Es war egal dass wir erschöpft waren, die Berichte mussten geschrieben und abgegeben werden.

So fand ich mich Stunden später bei Jilin im Büro wieder, wo Reese ihr die ausgefüllten Formulare auf den Tisch legte. „Und bevor du es von jemand anderem hörst, Goldberg wird vermutlich beim Verband eine Beschwerde gegen mich einreichen.“ Er schob ihr die Berichte über den Schreibtisch. „Und gegen Shanks vielleicht auch.“

„Bitte?!“ Meine Empörung triefte geradezu aus diesem einen Wort. „Was hab ich den getan? Du hast mit ihm doch dieses Platzhirschgehabe abgezogen.“

Völlig entspannt ließ Reese sich auf der Schreibtischkante nieder und hielt einen Finger hoch. „Erstens hast du nicht nur seine Arbeit kritisiert, sondern auch noch verbessert.“ Ein zweiter Finger folgte. „In dem Versuch mich zu verteidigen – was übrigens völlig unnötig war – hast du ihn vor versammelter Mannschaft in seine Schranken gewiesen.“ Zu den beiden Fingern gesellte sich ein dritter. „Und zum Schluss hast du ihm auch noch eine Knarre vors Gesicht gehalten.“

„Er hat sich an mich angeschlichen! Ich dachte er wäre ein Proles! Das kann er mir doch nicht vorwerfen!“ Ich drehte mich zu Jilin herum. „Ich habe die Waffe sofort sinken lassen, nachdem ich bemerkt habe, dass er es ist.“ Okay, ich hab zwei drei Sekunden dafür gebraucht, aber er war doch selber schuld gewesen. Was musste er mich auch so erschrecken?

Jilin winkte nur ab. Sie nahm dabei nicht mal den Blick von ihren Papieren. „Ich werde mich darum kümmern. Aber geht ihm trotzdem soweit es möglich ist aus dem Weg.“

Das war alles was sie dazu zu sagen hatte? Verdammt! Eine Beschwerde beim Verband gegen mich würde in meiner abschließenden Beurteilung sicher nicht gut aussehen. „Kann man da nicht etwas gegen tun? Ich meine das kann er doch nicht einfach machen. Ich habe nichts Falsches getan!“

Seufzend hob Jilin ihren Blick. „Goldberg ist ein Unruhestifter, der sich für etwas Besseres hält, weil er aus der Oberschicht stammt. Für ihn ist die Proles-Jagd nur ein Zeitvertreib mit dem er sich seinen Kick verschafft. Trotzdem muss ich leider zugeben, dass er in dem was er tut gut ist und auch wenn er einen schlechten Charakter hat, würde ich ihn jederzeit in der Gilde willkommen heißen.“

„Was?“ So ein Ekelpaket?

„Pass auf.“ Jilin verschränkte die Hände auf dem Tisch. „Das einzige was bei uns zählt ist Können, alles andere ist egal, solange man sich an die Regeln hält. Und was seine Beschwerde angeht, solltest du dir darüber nicht den Kopf zerbrechen. Goldberg ist im Verband bekannt wie ein bunter Hund. Er hat beinahe gegen jeden, dem er einmal begegnet ist, Beschwerde eingereicht. Zu oft. Seinen Worten wird kaum noch Beachtung geschenkt.“

„Bist du sicher?“ Ich wollte nicht, dass meine reine Weste einen Fleck bekam, bevor ich überhaupt den Status eines Venators erreicht hatte.

„Mehr als nur sicher. Aber jetzt zu etwas anderem. Da du schon mal hier bist, kann ich es dir auch gleich geben.“ Sie zog eine Schreibtischschublade auf und überreichte mir daraus ein Plastikkärtchen mit meinem Bild darauf. „Das ist dein Gildenausweiß. Er ist für die Zeit deines Praktikums gültig. Danach musst du ihn mir zurückgeben. Dein vorläufiger Ausweis ist damit abgelaufen. Du kannst ihn dir einrahmen und an die Wand hängen, oder ihn in den Müll schmeißen. Das ist ganz dir überlassen.“

Ich hörte sie kaum. Bedächtig strichen meine Finger über das Plastik. Mein Ausweis. Damit war ich auf meinem Weg einen Schritt weiter gekommen. Okay, vielleicht war es albern, sich über eine einfache Karte zu freuen, aber ich bekam das Lächeln nicht aus dem Gesicht. Und das lag einzig an der Bedeutung. Mein Ziel rückte damit in greifbare Nähe.

„So und nun seht zu, dass ihr zu Suzanne kommt. Danach will ich euch hier heute nicht mehr sehen. Es war ein anstrengender Tag.“

„Suzanne?“, fragte ich, während Reese das Gesicht verzog.

„Muss das wirklich sein?“

„Wirf ein Blick auf deine blutigen Klamotten, dann kannst du dir die Frage sicher selber beantworten“, erwiderte Jilin schlicht.

„Das ist aber nicht alles mein Blut“, hielt Reese dagegen und wirkte dabei etwas trotzig.

„Aber es ist auch nicht nur Proles-Blut.“ Ohne uns weiter zu beachten, zog Jilin sich wieder ihre Papiere heran. „Und jetzt raus hier. Ich muss eine Beschwerde gegen Goldberg wegen seiner Beschwerde gegen euch schreiben.“

Ging das denn?

Reese schnaubte nur und verließ dann das Büro.

Da wir entlassen waren, beeilte ich mich an seine Seite zu kommen. „Wer ist Suzanne?“

„Das wirst du gleich merken.“

Für einen Moment kam ich aus dem Tritt. Nicht wegen dem was er gesagt hatte, sondern weil er geantwortet hatte. Kein blöder Kommentar, kein höhnischer Blick und auch kein stoisches Ignorieren. Ich war sprachlos. Er hatte es ganz normal gesagt, so wie er auch mit allen anderen sprach. Wenn ich so darüber nachdachte, war er schon seit dem Einsatz im Park fast … nett. Auch auf der Fahrt hierher und während wir die Berichte geschrieben hatten, hatte er sich mir gegenüber fast wie ein sozialer Mensch benommen.

Daran könnte ich mich gewöhnen, überlegte ich, als ich an seiner Seite den Korridor hinunter ging.

Aziz kam uns mit einem breiten Lächeln entgegen, hob die Hand zur Begrüßung eilte aber wortlos an uns vorbei in Jilins Büro.

Reese schüttelte nur den Kopf und wandte sich dann der Tür mit der Aufschrift Erste Hilfe zu. Ohne zu klopfen trat er in den Raum zu der Krankenschwester. Ich hatte sie schon ein paar Mal gesehen, aber noch nie mit ihr gesprochen. Mit der betuchten Figur, dem lockeren, grauen Dutt und dem netten Lächeln erweckte sie den Anschein die Sonne im Herzen zu tragen.

„Tack“, sagte sie und verzog missbilligend den Mund. „Was hast du jetzt schon wieder angestellt?“ Sie hatte eine sehr sanfte Stimme.

Neugierig trat ich hinter ihm in den Raum. Es war ein typisches Behandlungszimmer. An der Seite stand eine einfache Liege unter der halb versteckt ein Rollhocker stand. Unter dem Fenster war ein Schreibtisch aufgestellt worden, auf dem ein hübsches Blumenarrangement ein wenig Farbe in das triste Weiß brachte. In die hintere Ecke geschoben befand sich ein großes Gerät, das ich nicht zu benennen wusste und der Rest des Raumes war mit etwas veralteten Ober- und Unterschränken ausgestattet.

Über der Liege hing ein Poster von der Anatomie des Menschen und links und rechts neben dem Fenster wurde die Wand von zwei abstrakten Kunstwerken dekoriert.

„Ein Oryx hat mich auf die Hörner genommen und ist ein paar Mal über mich rüber marschiert“, erwiderte Tack schlicht, als sei nichts weiter dabei.

Sie schnalzte mit der Zunge. „Dann zieh mal deinen Mantel aus. Und du komm rein und mach die Tür zu.“

Die letzten Worte waren an mich gerichtet. Ich folgte ihnen, während Reese sich aus seinem Mantel pellte und ihn achtlos auf die Liege schmiss. Darunter traten ein zerfetztes, blutiges Shirt und ein Schulterhalfter, das sich eng um seine Brust wand, zutage.

Suzanne kramte inzwischen im Schrank neben der Liege.

„Guck dir vorher bitte erst mal Grace Hüfte an“, sagte Reese und setzte sich halb auf die Kante der Liege.

Mitten in der Bewegung hielt Suzanne inne und drehte sich zu mir um. „Du auch?“ Und wieder dieses missbilligende Schnalzen. „Manchmal seid ihr schlimmer als Kleinkinder, die noch nicht mal geradeaus laufen können.“ Wieder begann sie in dem Schrank zu kramen.

Ich warf Reese einen bösen Blick zu, den er gleichgültig erwiderte. Die Wunde war drei Tage alt. Mir jetzt noch die Krankenschwester auf den Hals zu hetzten, war wirklich fies.

„Hm, ist ja seltsam“, murmelte Suzanne. „Ich dachte ich hätte noch welche. Nun gut.“ Sie schob die Schublade mit der Hüfte zu und drehte sich zu mir herum. „Warum hast du deine Hose noch an?“

„Ähm …“ Ich warf einen schnellen Blick zu Reese. Ich sollte vor ihm die Hosen runter lassen? So richtig?

„Tack, sieh dir die Bilder an der Wand an und du zieh deine Hose aus.“ Sie eilte zu einem anderen Schrank und machte dort eine Spritze fertig, mit der sie zu mir kam. Aus der Schublade neben mir nahm sie noch ein antiseptisches Spray und ein paar Wattebäuche.

Als sie dann resolut nach meinem Arm griff und die Beuge reinigte, beäugte ich die Spritze misstrauisch. Ich hatte keine Angst davor, nur deswegen musste ich es noch lange nicht mögen, wenn jemand meinen Körper mit Nadeln durchlöchern wollte.

„Was ist das?“

„Tetanusimpfung.“ Sie wischte die gelbliche Flüssigkeit weg und griff nach der Spritze.

„Das brauch ich nicht. Ich wurde … au!“

Die Spritze drang einfach durch meine Haut. Sie drückte den Kolben hinunter und erklärte mir ruhig: „Ich entscheide was du brauchst.“ Sie zog die Spritze heraus und drückte mir einen Tupfer in die Hand. „Drück das drauf und dann runter mit der Hose.“

Reese schaute ich noch einen Moment an, richtete seinen Blick dann aber zum Fenster. Dennoch zögerte ich, während ich dabei zusah, wie Suzanne die Spritze und die Tupfer in einen Behälter für Gefahrengut steckte.

Das ist doch albern, schalt ich mich selber. Davon abgesehen, dass Reese die Wand bestaunte, hatte er die Verletzung sowieso schon gesehen. Und ich musste die Hose ja auch nicht ganz runter lassen. Seufzend legte ich den Tupfer zur Seite, knöpfte meine Jeans auf und zog mir die eine Seite unter die Hüfte. Den Arbeitsbag schob ich einfach auf meine andere Hüfte, wo er nicht stören würde.

„Und die Jacke?“, wollte Suzanne wissen. „Los, zieh sie aus, sonst hängt sie mir im Weg.“

Mir blieb auch gar nichts erspart. Ich ließ die Jacke über die Schultern einfach neben mich auf den Boden gleiten und lehnte mich dann gegen die Anrichte, als Suzanne auch schon damit begann, die Wunde in Augenschein zu nehmen. Der Schorf hatte sich an manchen Stellen bereits gelöst und frische, rosa Haut zurück gelassen.

„Womit hast du es behandelt?“

„Mit der Salbe von Reese. Er hat sie mir zwei Mal draufgeschmiert.“

Sie nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet. „Gut, dann belassen wir es dabei. Du kannst deine Hose wieder hochziehen, aber wenn es aufgehen oder es sich entzünden sollte, kommst du sofort zu mir.“ Das war eindeutig ein Befehl gewesen.

So langsam wurde mir klar, dass Suzanne in diesem Raum sowas wie ein Drill Instructor war. Hier war ihr Wort Gesetz und wer widersprach, bekam eine Spritze. Tja, bei so vielen starken und dickköpfigen Kerlen, musste man sich als Frau eben durchzusetzen wissen. „In Ordnung.“ Ich zog die Hose zu und war heil froh, als der Knopf durch das Loch war.

„Und du zieh endlich dein Hemd aus“, fuhr sie an Reese gewandt fort.

Artig und ohne auch nur ein Widerwort zu geben, erhob er sich von der Liege. Den Waffenhalfter bekam er noch runter, doch das Hemd machte ihm einige Probleme. Er schien den linken Arm nicht richtig heben zu können. Kurzentschlossen griff Suzanne zu einer Schere und schnitt es ihm einfach vom Körper. „Setzen“, befahl sie und wieder gehorchte Reese ohne aufzumucken.

Ich war wirklich erstaunt, als er sich einfach auf die Kante des Bettes nieder ließ und geduldig wartete, während sie wieder in den Schränken kramte. Dann eilte sie mit einem Tablett voller Döschen und Tuben, Tupfern und Spray zu ihm zurück und begann systematisch seine Wunden zu inspizieren.

Die Stelle am Kinn, wo ihn der Huf getroffen hatte, würde am nächsten Tag wohl in allen Farben des Regenbogens schillern. An der Kehle und dem Schlüsselbein hatte er oberflächliche Kratzer und der linke Unterarm war von dem Kiefer des Proles gequetscht worden, aber offensichtlich hatten die Zähne nicht durch das dicke Leder des Mantels dringen können, was schon seltsam war. Und auf dem Rücken hatte er mehrere Blessuren von den Hufen, die morgen dem Bluterguss am Kinn in nichts nachstehen würden.

Das alles erklärte Suzanne meinem Lehrcoach, tupfte dabei mal hier, wischte dort ein wenig und richtete sich anschließend mit einem strengen Blick vor ihm auf – nicht mal die in die Hüften gestemmten Arme fehlten. „Du hast wirklich Glück gehabt, es ist nichts Lebensbedrohliches. Alles nur oberflächliche Wunden, aber morgen wirst du wahrscheinlich jeden Knochen in deinem Leib spüren.“

„Wäre nicht das erste Mal“, gab er ungerührt von sich.

Wieder schnalzte Suzanne missbilligend mit der Zunge. „Du bist wirklich ein ungezogener Junge, Tack. Manchmal glaube ich du machst das nur, um mich zu ärgern.“

„Na ich kann doch nicht zulassen, dass es dir bei uns langweilig wird.“

Hatte er gerade einen Witz gerissen? Aber es war nicht herablassend herübergekommen. So dreist diese Worte auch geklungen haben mochten, sie waren voller Zuneigung gewesen. Reese mochte diese Frau, er hatte sie gerne.

Suzanne schüttelte nur den Kopf und griff nach einem Salbentiegel. „Hier, streich dir das aufs Kinn und auf den Arm und … am besten reibst du damit alles ein. Beim Rücken kannst du dir von Grace helfen lassen. Ich muss kurz in den Keller.“

Sie wusste meinen Namen? Nun gut, so überraschend war das eigentlich auch nicht. Die Anzahl der Frauen in der Gilde konnte man an einer Hand abzählen und unter den Praktikanten war ich die einzige.

„Und mach es gründlich“, ordnete sie noch an, dann schritt sie geschäftig aus dem Raum, ließ dabei aber die Tür einen Spalt offen.

Telefonklingeln und leise Gespräche drangen zu uns herein, als Reese den Deckel vom Tiegel schraubte und damit vorsichtig seinen Unterarm einrieb. Jemand lief draußen vorbei und irgendwo lachte jemand bellend auf.

„Sie ist … nett“, fühlte ich mich gezwungen zu sagen.

Reese Mundwinkel zuckte. „Suzanne ist eine Furie die dir die Ohren langzieht, wenn du nicht tust, was sie sagt. Und sie ist die Einzige, bei der nicht mal Aziz Widerworte gibt.“ Er tauchte den Finger erneut in den Tiegel, schien aber Probleme zu haben die richtigen Stellen an seiner Kehle zu finden. Er schmierte das Zeug überall hin, nur nicht da wo es gebraucht wurde.

Das konnte sie ja keiner mit ansehen. „Lass mich das machen, sonst ist die Salbe leer und du hast sie überall, nur nicht da wo sie hingehört.“ Ich durchquerte den kleinen Raum und war fast erstaunt, dass er mir den Tiegel einfach so überließ. Er neigte sogar den Kopf zur Seite, damit ich besser an die verletzten Stellen heran kam.

Langsam wurde mir sein Verhalten unheimlich. „Du hast wirklich Glück gehabt.“ Vorsichtig, um ihm nicht weh zu tun, strich ich ein wenig der Salbe über den langen Kratzer direkt über seiner Halsschlagader. Heute hatte er mehr als nur Glück gehabt.

„Mein einziges Glück war, dass du so gut gezielt hast.“

Oh weh. Ich sollte ihm wohl besser nicht sagen, dass ich einfach abgedrückt hatte, ohne wirklich zu wissen, was ich da tat. „Vielleicht“, sagte ich deswegen nur und rieb sein Schlüsselbein ein. Dabei kam ich auf die großflächige Brandnarbe. Die Haut dort fühlte sich zu glatt an, wie Wachs, irgendwie unecht. „Tut das weh?“, konnte ich mir nicht verkneifen zu fragen.

„Nein.“

Irgendwie war es komisch, ihm so nahe zu sein und die Stille, die sich zwischen uns ausbreitete, machte es auch nicht gerade angenehmer. Aber es wollte mir einfach nichts Gescheites einfallen, was ich sagen konnte und seinen warmen Atem auf meinem Arm zu spüren, half nicht gerade beim Denken.

„Danke“, sagte er dann ganz plötzlich ohne mich dabei anzusehen.

Für einen Moment verharrten meine Finger auf seinem Schlüsselbein, bevor ich bewusst gleichgültig wieder in den Salbentiegel griff. „Kein Problem.“ Ich wusste genau, dass er damit nicht das Eincremen meinte und das bescherte mir ein warmes Gefühl. Er hatte meine Arbeit, meine Fähigkeiten anerkannt, wenn auch nur für einen Moment. Es war ein Schritt nach vorne. „Dreh dich um“, wies ich ihn an und fuhr mit der Behandlung auf seinem Rücken fort.

Außerdem hatte er mir ja auch bereits geholfen. Mehrmals sogar. Erst bei dem unbekannten Proles, dann mit Seth, auch wenn es da eher Eigennutz gewesen war und heute mit dem Amph. Hatte ich ihm eigentlich einmal dafür gedankt?

Bevor ich näher darüber nachdenken konnte, kam Suzanne zurück in das Behandlungszimmer. „So“, sagte sie und legte neben Reese ein sauberes Shirt auf die Liege. „Das müsste dir passen. Dein Altes werde ich entsorgen.“

„In Ordnung.“

Suzanne umrundete ihren Patienten und beobachtete sehr kritisch meine Arbeit. Dann nickte sie zufrieden. „Solltest du jemals genug von der Jagd haben, kannst du bei mir beginnen.“

Das entlockte mir ein Lächeln. „Ich werde es mir merken.“

„Pah“, machte sie und öffnete eine Schublade an ihrem Schreibtisch. „Du bist doch wie all die anderen Kinder hier. Was anderes als die Jagd wird dich nie interessieren, auch wenn es gesünder für die wäre.“

Mit einem letzten Wisch verstrich ich die restliche Creme und verschloss den Tiegel dann wieder.

„Hier.“ Suzanne erschien mit zwei Lutschern vor uns. „Nehmt die und dann raus hier, damit ich hier wieder für Ordnung sorgen kann.“

War das ihr Ernst? Wir bekamen jeder einen Lolli? Langsam glaubte ich, sie hielt uns wirklich für Kinder.

Reese zog sich kommentarlos das Shirt und Waffenhalfter samt Inhalt über und griff dann nach den Lutschern. „Lass dich von den Jungs nicht ärgern.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Wange, schnappte sich seinen Mantel und verschwand dann ohne auf mich zu warten aus dem Raum.

„Ähm … ja, Tschüss.“ Schnell schnappte ich mir meine Jacke vom Boden und lief ihm dann hinterher. Ich rechnete schon damit, dass er einfach verschwinden würde. Umso überraschter war ich, als ich im Korridor fast in ihn reinlief, weil er auf mich wartete.

Er ließ seine Augenbraue nach oben wandern. „Hast du es etwas eilig?“

„Äh … ja, ich meine, nein, ich meine …“ Ich klappte meinen Mund zu. Was ich eigentlich meinte war, dass ich unbedingt noch mit zu Nick wollte.

„Komm.“ Reese wandte sich ab und streifte dabei seinen Mantel über. „Ich bring dich nach Hause.“

Das könnte ihm so passen. „Nicht nötig.“

„Du willst mit den Öffentlichen nach Hause fahren?“

„Nein.“ Auch ich zog meine Jacke über, als wie in das Arbeitsareal der Gilde traten. „Ich komme mit, wenn du Nick abholst.“

Er schnaubte. „Vergiss es. Ich nehme dich da ganz sicher nicht noch einmal mit hin.“

„Von mir aus warte ich auch draußen, ich will nur mit Nick sprechen.“ Ich winkte Devin zu, der etwas gelangweilt hinten an Sheas Schreibtisch lehnte und mit gerunzelter Stirn ein Plakat an der Wand betrachtete.

„Du kommst nicht mit“, beschloss Reese und alle gute Laune war verflogen.

„Ich muss mit Nick sprechen.“

„Du musst dich von Nick fernhalten.“

Wir passierten den Tresen, wo Madeleine eifrig in die Tasten haute. Wie immer, sah sie auch heute wieder perfekt aus.

„Das geht dich ja wohl nichts an.“

Reese wirbelte im Vorraum zu mir herum und versperrte mir so den Weg. „Jetzt pass mal auf. Ich habe dir bereits gestern erklärt, dass Nick nichts für dich ist, also wirst du dich in Zukunft von ihm fernhalten.“

Aber sicher doch. „Entweder du nimmst mich mit, oder ich fahre zu deiner Wohnung um dort auf ihn zu warten. Und dann werde ich auch nicht mehr so schnell verschwinden.“

„Das wirst du nicht tun.“

Ich hob nur eine Augenbraue. Und ob ich das tun würde. Er hatte bereits heute Morgen dafür gesorgt, dass ich nicht hatte mit Nick sprechen können. Wenn er sich jetzt weigerte mich mitzunehmen, dann würde ich eben andere Wege finden müssen.

Als er den störrischen Ausdruck in meinem Gesicht sah, griff Reese knurrend in seinen Mantel nach den Zigaretten. Damit war der kurze Waffenstillstand zwischen uns wohl wieder vorbei.

 

°°°

 

Die Tür zur Zwingerhalle knallte mir beinahe ins Gesicht. „Vielen Dank auch“, murmelte ich verärgert und stieß sie selber noch einmal auf. Okay, Reese war sauer auf mich, aber das war noch lange kein Grund mir die Nase zu brechen, indem er mir die Tür ins Gesicht knallte.

Da ich es gewagt hatte, ihm die Pistole auf die Brust zu setzen, behandelte er mich wieder genauso abweisend wie heute Morgen – vielleicht sogar noch schlimmer.

Ich meine, wo lag eigentlich sein Problem? Ich wollte doch nur mit Nick sprechen. Hatte er etwa Angst, ich würde ihm seinen Bruder streitig machen? Eigentlich schätzte ich Reese nicht so unsicher ein. Vielleicht lag es aber auch einfach nur daran, dass er ein Blödmann war, oder wie Nick gestern gesagt hatte, dass er gerne über alles die Kontrolle behielt.

Kaum dass ich die Zwingerhalle betreten hatte, drang das Grunzen und Knurren an meine Ohren. Doch viel überwältigender war dieser Geruch. Genau wie bei meinem letzten Besuch, stank es hier fürchterlich nach Dreck, Fäulnis und Tier. Ließen die Fenster sich nicht öffnen? Am liebsten hätte ich mir die Nase zugehalten.

Grummelnd lief ich hinter Reese her. Seine schlechte Laune musste abfärben, aber wie bitte sollte man bei dieser Gewittermiene auch in gute Stimmung geraten? Das war einfach ein hoffnungsloses Unterfangen.

Wir warfen in jede Zwingergasse einen Blick, bis wir Nick entdeckten, der gerade mit einem Schlauch die Zwinger ausspülte. Dass er dabei den einsitzenden Ossa bis auf die Haut durchweichte, schien keine Absicht zu sein, ihn aber auch nicht weiter zu interessieren. Hauptsache der Unrat wurde rausgespült und verschwand mit dem Wasser im Gully.

Genauso schien es auch Scott zu halten, der ein Stück weiter die Zwinger ausspritzte.

„Nick“, rief Reese.

Der Saubermann sah auf und grinste. „Da seid ihr ja endlich.“ Er drehte den Schlauch ab und ließ ihn achtlos zu Boden fallen. Dabei ließ er uns nicht aus den Augen. Naja, mich ließ er nicht aus den Augen, für seinen Bruder hatte er nur einen kurzen Blick übrig.

Plötzlich war ich ziemlich unsicher und leichte nervöse Erwartung machte sich in mir breit. Wir hatten uns zwar einmal geküsst, aber das hatte ja nicht wirklich etwas zu bedeuten, oder? Die Bilder von gestern schossen mir durch den Kopf und noch bevor er vor mir stand und seine Hand an meine Wange legte, spürte ich dort bereits das Kribbeln.

„Hey“, lächelte ich etwas unsicher und konnte spüren, wie ich unter seiner Berührung leicht rot wurde. Meine Hände öffneten und schlossen sich ein paar Mal, als wollten sie zupacken, wagten es sich aber nicht.

Nicks Mundwinkel zuckte belustigt. „Also ein wenig mehr hatte ich mir ja schon erhofft.“

Mehr? „Ähm … hey Nick.“

Jetzt machte er sich ganz offen über mich lustig und zeigte einmal mehr diese perfekten Zähne. „Ich glaube ich zeigte dir mal, was ich mir vorgestellt habe.“

Bevor ich verstand lagen seine Lippen schon auf meinen und sofort war wieder dieses Kribbeln da, das durch meinen Körper rauschte und meinen Herzschlag nicht nur auf doppelte Geschwindigkeit beschleunigte, sondern auch noch Endorphine in jede Zelle meines Körpers pumpte.

Als er mich dann im Nacken an sich zog, wagte ich es sogar dem Sehnen meiner Hände nachzugeben und sie an seine Brust zu legen

„Das ist doch wohl nicht euer Ernst“, knurrte Reese neben uns.

Erschrocken wollte ich mich von Nick zurückziehen, doch er ließ es gerade einmal zu, dass ich meinen Kopf drehte. Mist. Meinen Lehrcoach hatte ich gerade völlig vergessen. Vielleicht hatte ich seine Anwesenheit auch einfach verdrängt, doch so wie er uns ansah, hätte ich das wohl besser nicht tun sollen. Er schien wirklich wütend.

„Seid ihr beide von allen guten Geistern verlassen?“

„Entspann dich.“ Nick gab mein Gesicht frei, nur um dann nach meiner Hand zu greifen. „Wir sind artig gewesen.“

Reese ignorierte seinen Bruder und fixierte mich. „Das ist also der Grund, warum du ihn unbedingt sehen wolltest.“

„Ich wüsste nicht was dich das angeht.“ Genau, Angriff war die beste Verteidigung.

„Ich glaub das einfach nicht. Ihr könnt doch nicht …“

„Was ist denn mit euch los?“ Scott musterte unsere Konstellation. Reese verärgertes Mienenspiel, meine Hand in der von Nick.

In dem Moment fiel mir ein, dass ich ja offiziell Reese' Freundin war. Zumindest vor diesen Leuten hier. Meine Hand zuckte, als wollte sie sich aus dem Griff befreien, aber Nick hielt mich nur noch fester.

Reese drehte sich auf dem Absatz herum und verließ stampfend die Zwingerhalle. Ich zuckte richtig zusammen, als ich die Tür knallen hörte.

Scott schüttelte den Kopf. „Also ihr hättet euch wirklich einen besseren Ort aussuchen können um ihm das klar zu machen.“

„Kümmere dich um deinen eigenen Kram“, sagte Nick schlicht und zog mich dann mit einem „Komm“ an Scott vorbei. Dabei entging das abwertendes Gemurmel über lockere Mädchen des Metallwarenladens nicht.

Nick zog mich aus der Zwingerhalle und ließ meine Hand auch nicht los, als wir die Treppe in der Arena empor stiegen. Leider fühlte es sich nicht so toll an, wie ich mir das wünschte. Nicht, dass ich seine schwielige Hand als unangenehm empfand. Ganz im Gegenteil. Diese Berührung war mehr als nur erwünscht. Doch da war dieser Blick von Scott gewesen. Ich konnte mir nur zu gut vorstellen, was er über mich dachte.

Schlampe.

Erst hatte ich etwas mit dem großen Bruder und nun knutschte ich mit dem kleinen herum. Warum nur hatte Reese auch behaupten müssen, ich sei seine Freundin? Hätte er mich nicht einfach als entfernte Bekannte vorstellen können? Oder als das Mädchen, dass er eben erst auf der Straße getroffen hatte?

Ein leichter Druck auf die Hand, machte mich auf meinen Begleiter aufmerksam.

„Du kommst sicher noch mit, oder?“

„Wohin?“

Nick zog mich die letzten Stufen hinauf. „Na essen. Ich bin am Verhungern. Die Küche hier ist nämlich echt mies.“

Ob sie mies war wusste ich nicht, aber in dieser Küche würde ich auch nichts essen. Ich bezweifelte sogar, dass man dort etwas fand, dass noch essbar war. Eher war zu befürchten, dass die Reste so überzogen mit Schimmel und Bakterien waren, dass sie bald von allein weglaufen würden. „American Style?“, fragte ich misstrauisch. Von diesen grünen Getränken sollte ich mich möglichst weit entfernt halten.

Leise lachend dirigierte er mich zur Tür. „Nein, eigentlich hatte ich von irgendeinem Imbiss gesprochen, den wir unterwegs finden.“

Er wollte mit mir essen gehen. Noch mal. Und dann dieser Kuss eben. Das war ein tolles Gefühl, aber es gab da immer noch etwas, worüber ich mit ihm sprechen musste. Ich stoppte ihn an der Tür, denn das war kein Gespräch, das ich vor Reese führen wollte. „Nick, was ist das zwischen uns eigentlich? Ich meine …“ Ich verstummte. Wie kindisch würde es sich anhören, wenn ich ihn jetzt fragte, ob wir ein Pärchen waren? Fehlte nur noch das ich ihm heimlich Briefchen zusteckte.

Etwas gleichgültig zuckte Nick mit den Schultern und legte die freie Hand an die Tür. „Keine Ahnung. Lass es uns herausfinden.“

Das war nicht wirklich das, was ich hatte hören wollen. „Nick.“ Ich hielt ihn fest, als er rausgehen wollte. „Ich … ich brauche etwas auf das ich mich einstellen kann.“

„Du willst meine Freundin sein.“

„Nein … ja. Ach ich weiß auch nicht.“ Seufz. „Was ich meine … ich …“ Frustriert strich ich mir durch die Haare. Was wollte ich eigentlich? Wäre wahrscheinlich ganz gut zu wissen, bevor man ein solches Gespräch begann. „Es ist einfach … ich brauche Ordnung, verstehst du? So blind ins Blaue zu rennen ist nichts für mich.“ Es verunsicherte mich und das war ein Gefühl das ich verabscheute.

Nick ließ die Tür seufzend zurück ins Schloss fallen. „Okay. Ich mag dich, Grace, aber ob das für mehr reicht?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Lass uns doch einfach ein bisschen Spaß haben und gucken was daraus wird.“ Er setzte einen Blick auf, den ich von kleinen Hunden mit großen Augen kannte. Doch irgendwie war das nicht so süß, wie es hätte sein sollen.

„Spaß?“ Ich konnte mir gut vorstellen, was er unter diesem Wort verstand, nur glaubte ich nicht, dass das für mich das Richtige wäre.

„Klar, irgendwo muss es ja anfangen.“

Ich zögerte. Ob das wirklich etwas für mich war? Ich meine, er schien wirklich nett zu sein und wenn er mich küsste, dann war das ein unglaubliches Gefühl. Selbst jetzt einfach hier mit ihm zu stehen und seine Hand zu halten ließ mich ausblenden, an welchem Ort wir uns befanden. Aber Spaß? Ich konnte nicht glauben, dass Nick sich auf Dauer mit Händchenhalten und Küssen zufriedengeben würde.

„Riskiere doch mal was.“ Er zog mich an seine Brust und hielt mich an der Taille fest. Dabei streifte sein Daumen die nackte Haut über meinem Hosenbund und wieder kroch das Kribbeln berauschend durch jede Zelle. „Renn mit mir ins Blaue, Grace. Mal sehen was wir dort so finden.“

Das klang schon verlockend. Einfach mal loslassen und ins Unbekannte eintauchen. Konnte ich das? Ich biss mir auf die Lippe, sah hoch in dieses hübsche Gesicht. „Okay“, sagte ich etwas unsicher und hoffte, dass ich es nicht bereuen würde.

Das entlockte ihm ein so unwiderstehliches Lächeln, dass ich es einfach scheu erwidern musste. Er presste meinen Körper noch fester gegen seinen und küsste mich auf eine Art, dass mir Hören und Sehen verging.

 

°°°

 

„… ich dachte schon mein letztes Stündchen hätte geschlagen, aber Aziz hat das Vieh dann einfach erschossen.“

Herr Keiper schüttelte bei dem Bericht von Seth ungläubig den Kopf. Er wirkte richtig gequält, als könnte er nicht glauben, dass das einer seiner Lehrlinge war.

Ich beachtete es nicht weiter. Verärgert starrte ich auf den Zeitungsartikel vor mir auf dem Tisch, den Evangeline mir vor die Nase gehalten hatte, kaum dass ich in der Klasse stand. Proles-Wahn beim Menschen, lautete die dicke Überschrift, die allein schon eine halbe Seite einnahm. Es war nicht zu glauben. Mit diesen drei Worten wurde nicht nur auf den Artikel aufmerksam gemacht, ich konnte mir auch sehr gut vorstellen, dass er den einen oder anderen Menschen in Panik versetzte.

Aber wirklich sauer machte mich der Untertitel. Weiter absinkendes Niveau bei der Venatorengilde. Weiter? Was bitte hieß hier weiter? Wenn es hier ein absinkendes Niveau gab, dann waren das die Artikel dieser Tageszeitung.

„Hör auf, mit den Zähnen zu knirschen.“ Evangeline saß auf dem Platz neben mir. Sie hatte ihren Kopf auf den Tisch gelegt und tat so als würden sie die Ausführungen von Seth interessieren. Ihre Arme baumelten dabei links und rechts an ihr herab und berührten fast den Boden. „Davon verschwindet der Artikel auch nicht, du machst dir damit nur dein Gebiss kaputt.“

„Sie hätte diesen Artikel gar nicht schreiben dürfen. Sie verdreht die ganzen Tatsachen und legt sie so aus wie es ihr in den Kram passt!“ Und dass sie dabei trotzdem nicht log, machte es gleich noch viel schlimmer.

„Sie ist Reporterin, sie verdient damit ihre Brötchen.“

„Aber deswegen muss sie noch lange nicht …“

„Grace! Eve!“, reif Herr Keiper quer durch den Raum. „Wenn ihr euch schon nicht am Gespräch beteiligt, dann seid wenigstens ruhig und hört zu!“

„´tschuldigung“, murmelten wir beide gleichzeitig.

Ich zog die Zeitung etwas zu mir ran und lass erneut die Zeilen, die mir bereits den ganzen Morgen verdorben hatten.

 

Proles-Wahn beim Menschen

 

Weiter absinkendes Niveau bei der Venatorengilde

 

Von Ivone Folks

 

Berlin. Eine tief verwurzelte Vergangenheit, die das Leben unzähliger in Gefahr bringen kann. Ein Einsatz am gestrigen Tag zeigte auf, was im Verborgenen bleiben sollte.

 

Das Unglück ereignete sich in der Grünanlage, die unter dem Namen Blaschkopark bekannt ist. Angelockt von seltsamen Geräuschen betraten Janek P., Robert B. und Bastian T. am frühen Nachmittag die von der Gilde nicht ausreichend gekennzeichnete Parkanlage, die bereits seit dem Vortag als Jagdgebiet eines Rudels Oryxe bekannt war. Es folgte, was folgen musste. Janek P. und Robert B. starben bereits vor dem Eintreffen der Einsatzkräfte. Bastian T., der zwölfjährige Sohn eines Stadtrats konnte schwerverletzt geborgen werden. Noch zu dieser Stunde bangt er im Klinikum Weißensee um sein Leben.

Der Leiter dieses Auftrags, Reese Tack, ein einschlägig bekannter Venator der Gilde, der schon in der Vergangenheit für seine Versäumnisse berühmt war, weist alle Schuld von sich und war zu keiner Zeit zu einer Stellungnahme bereit.

Tack war noch nie sehr einsichtig gewesen“, erklärter Fabian Goldberg, ein Venator der Stadt. „Das begann schon mit seinem ersten Auftrag als Praktikant, als er sich und Anton E., – den Kunden – durch seine ungestüme Art in Lebensgefahr gebracht hat. Das ist nun sechs Jahre her und seitdem hat er sich kein bisschen geändert.“

Vor kurzem wurde dem eigensinnigen Venator Reese Tack die Verantwortung für ein zukünftiges Mitglied der Venatoren übergeben. Grace Shanks, Lehrling der Stufe 2 an der Beluosus Akademie Berlin, die sich mit strebsamer Arbeit, herausragenden Leistungen und Empfehlungsschreiben unter seine Fittiche begeben hat, scheint nicht nur das Handwerk des Venators von ihrem Lehrcoach zu erlernen. Die sonst eher unauffällige Frau, weist seit neuestem eine sehr aggressive Seite auf, mit der sie auch vor Respektspersonen nicht Halt macht. Nachdem sie die berühmte Reporterin Kanya Witmer öffentlich angegriffen und bedroht hat, richtete sie während der Suche nach Bastian T. eine Waffe auf den Venator Fabian Goldberg.

Recherchen aus ihrer Vergangenheit haben ergeben …

 

„Hey!“, protestierte ich, als mir die Zeitung unter der Nase weggezogen wurde, verkniff mir dann aber jedes weitere Wort, als ich bemerkte, dass Herr Keiper vor meinem Tisch stand.

Er warf nur einen kurzen Blick auf den Artikel, der sogar mit einem kleinen Bild von mir versehen war und nahm die Zeitung dann mit nach vorne an sein Pult. Sehr auffällig ließ er sie neben seinen Unterlagen auf die Platte fallen und lehnte sich dann mit verschränkten Armen an die Kante. „Wie ihr wahrscheinlich bereits mitbekommen habt, hat einer unter uns es diese Woche sowohl in die Zeitung, als auch in die Nachrichten geschafft.“

Ja, das war noch so etwas. Ich hatte es nicht mitbekommen, da ich gestern noch mit Nick und Reese bei einem Imbiss essen war und Zuhause dann gleich ins Bett gefallen war, aber offensichtlich hatte ich es dank Kanya Witmer trotz allem ins Fernsehen geschafft. Der Moment als ich sie beschimpft und von Reese weggezogen worden war, lief in den Abendnachrichten über tausende von Bildschirmen des Landes. Und weil es so schön war, heute Morgen gleich noch einmal – zumindest hatten Bay und Pia das behauptet.

Damit, dass ich die Reporterin hatte abblitzen lassen, hatte sie mir zu einer eher zweifelhaften Berühmtheit verholfen, die ich nicht hatte haben wollen. Das Reese dabei mit seinen Befürchtungen Recht behalten hatte, störte mich an der ganzen Angelegenheit wohl am meisten.

Herr Keiper, der von meinen Gedanken nichts mitbekam, ließ derweil seinen Blick über seine Schäfchen wandern. „In ersten Moment mag es sich in euren Ohren vielleicht cool anhören, wenn tausende von Leuten euren Namen kennen, aber glaubt mir wenn ich euch sage, dass daran nichts Tolles ist. In eurem Job als Venator arbeitet ihr oft in der Öffentlichkeit und wenn der Mopp euch erst einmal auf dem Kicker hat, hängt euch dieser Ruf, wenn ihr Pech habt, ein Leben lang nach. Deswegen gebe ich euch den Rat euch von den Medien so gut es geht fernzuhalten.“

„Auch wenn wir wegen guter Leistungen ins Fernsehen kommen?“, fragte Seth.

Pia in der Reihe vor ihm schnaubte. „Dann ist es für dich ausgeschlossen. So wie du …“

„Ruhe“, ordnete Herr Keiper an und alles verstummte wieder. „Mein Rat lautet, haltet euch von den Medien fern, egal in welchem Zusammenhang. Es macht euch das Leben leichter. So und nun werden wir uns mit dem eigentlichen Unterrichtsthema beschäftigen.“ Er stieß sich vom Schreibtisch ab und stellte sich an die Tafel. „Theoretische Zusammenhänge der Proles-Jagd.“

Ein mehrstimmiges Stöhnen ertönte im Raum, aber keiner protestierte. Damit hatte uns der Akademiealltag wieder. Heute stand die nähere Betrachtung der Dorcas auf dem Studienplan. Ein Dama-Proles, Abkömmlinge der Rehe. Dazu mussten wir in der zweiten Stunde sogar runter in das Leichenschauhaus in die Sezierabteilung, wo wir uns mit der Anatomie eines Dorcas vertraut machen konnten. Im Grunde war diese Gattung nichts anderes als blauschwarze Rehe mit einem langen Schwanz. Okay, kein normales Reh hatte einen Haarkamm auf dem Rücken, der sich in der Brunft verfärbte, oder ein giftiges Geweih, aber in Form und Größe stimmten sie mit normalen Rehen überein.

Nach der Mittagspause scheuchte Herr Keiper die ganze Gruppe runter in den Waffensaal, damit wir unser Können mal wieder an den Schießständen auf die Probe stellen konnten. Das Seth dabei unentwegt damit angab, wie viele Proles er in den drei Tagen erlegt hatte und unter welchen Bedingungen, ging wohl nicht nur mir auf den Wecker. Über den Vorfall mit Reese schwieg er sich allerdings aus. Zu erzählen sich fast vor Angst in die Hose gemacht zu haben, würde wohl seinem Image schaden. Und ich hatte kein Interesse daran, ihn bloßzustellen. Sollte er doch machen was er wollte. Dank dieser Kanya Witmer hatte ich genug eigene Probleme am Hals.

Ob Reese den Artikel wohl gelesen hatte? Ich konnte mir sein Gesicht dabei nur zu gut vorstellen. Und Jilin. Ihr war das sicher nicht entgangen. Ich hoffte nur, dass es deswegen keine Probleme gab. Erst die Beschwerde beim Verband und jetzt auch noch das. Wer hätte gedacht, dass es so kompliziert werden könnte, sein Praktikum zu durchlaufen?

„Grace!“, donnerte Herr Keiper da durch die Halle. „Zieh deinen Kopf aus den Wolken und konzentriere dich aufs Schießen! Die Wand braucht keine Löcher!“

Das Lachen drei Plätze weiter, ließ mich verärgert die Stirn runzeln. Seth sollte bloß aufpassen.

Ich nahm wieder einen sicheren Stand ein, verdrängte alle Gedanken aus meinem Kopf und konzentrierte mich darauf endlich die goldene Mitte zu treffen. Immer und immer wieder. Solange bis Herr Keiper uns in die Sporthalle schickte, wo er uns nicht nur von links nach rechts und von oben nach unten jagte. Und wer in seinen Augen noch schnell genug war, der durfte noch mal von vorne beginnen – genau wie alle anderen.

Als ich mich dann gegen halb drei neben Evangeline in der Mensa wiederfand, tat mein Schienbein weh. Ich hatte im Parcours etwas zu hastig die Wand erklimmen wollen und war oben auf die Kante geknallt. Es tat immer noch weh und würde wahrscheinlich einen heftigen Bluterguss geben. Na wenigstens war meine Hüfte verschont geblieben.

„Also ich finde es ist gut geworden.“ Evangeline neigte den Kopf zur Seite, um das Foto auf ihrem Gildenausweis aus einer anderen Perspektive betrachten zu können. „Da kommt meine Schokoladenseite richtig gut zur Geltung.“

„Zeig mal.“ Domenico griff über den Tisch nach dem Ausweis und musterte das Bild mit einem kritischen Blick. „Ja, wäre ganz nett, wenn dir da nicht das Haar aus der Nase gucken würde.“

„Was?!“ Erschrocken riss sie ihm den Ausweis wieder aus der Hand, um ihr Bild erneut zu kontrollieren. „Da ist doch gar kein Haar!“

„Doch, da.“ Er beugte sich über den Tisch. „Siehst du, genau da.“

Ich nahm ein Stück von meinem Schnitzel in den Mund und starrte dabei mein Handy an.

Ich werde deinen Anruf erwarten.

Sollte ich wirklich? Immerhin waren wir jetzt sowas wie ein … hm, ich wusste immer noch nicht so genau was wir waren, aber der Abend gestern hatte Spaß gemacht. Und wären da nicht die ganze Zeit Reese' böse Blicke gewesen, hätte ich vielleicht sogar ein bisschen länger Nicks Gesellschaft genießen können.

„Das ist kein Haar, das ist ein Schatten“, echauffierte Evangeline sich und ließ den Ausweis in ihrer Tasche verschwinden. „Du bist doch nur neidisch.“

Mit einer hochgezogenen Augenbraue zog Domenico sein Tablett näher an sich ran. „Worauf sollte ich bitte neidisch sein?“

„Darauf das ich hübscher bin als du.“

Leise lachend häufte er sich ein Stück von seinem Auflauf auf die Gabel und ließ ihn in seinem Mund verschwinden.

Die Diskussion der beiden, half mir bei meinem kleinen Problem leider nicht weiter. Andererseits, warum sollte es eigentlich ein Problem sein? Ich würde ihm einfach eine Nachricht schicken. Dann konnte er selber entscheiden, ob er darauf reagieren wollte. Hey, schrieb ich, musste gerade an dich denken. Nach kurzer Überlegung fügte ich noch Stör ich? hinzu. Dann schob ich das Handy zur Seite. Jetzt hieß es warten.

Während Evangeline und Domenico sich weiter über das Haar – oder dessen nicht Vorhandensein – stritten, ließ ich meinen Blick durch den kleinen Saal gleiten. Klappern von Besteck, lachen und laute Gespräche begleiteten in vertrauter Atmosphäre diese Pause. Es war alles wie immer und trotzdem fühlte ich mich ein wenig anders. Ob es den anderen Praktikanten auch so ging?

„Grace, zeig mir mal deinen Ausweis“, forderte Evangeline mich auf.

„Ich hab ihn nicht bei.“

„Nicht bei?“ Sie wirkte beinahe schockiert. „Aber den musst du doch immer bei dir tragen!“

„Er liegt zuhause in meinem Schreibtisch.“ Sicher verwahrt.

Ihr Kopfschütteln bemerkte ich nur noch am Rande, da mein Handy eine neue Mitteilung ankündigte. Ich konnte nichts gegen die freudige Erwartung tun, die sich in mir breit machte, als ich die Gabel auf meinen Teller legte und neugierig meine Nachricht las.

Du musstest erst jetzt an mich denken? Oh, ich weiß nicht ob ich das verkrafte.

Das ließ das Lächeln auf meinen Lippen erblühen, das ich bereits gestern den ganzen Abend getragen hatte. Du kommst sicher darüber hinweg, schrieb ich zurück und bekam dafür ein trauriges Smiley von ihm. Ja, Nick war wirklich süß. Nicht traurig sein. Was machst du gerade?

„Bei diesem Lächeln würde ich nur zu gerne wissen, mit wem du dich da gerade unterhältst“, sagte Domenico lauernd über den Tisch.

Ertappt legte ich das Handy hin und widmete mich wieder meinem Mittagessen.

„Möchtest du es uns nicht sagen?“

Wenn ich an die Nachricht dachte, die ich ihm geschrieben hatte, dann lieber nicht. „Ihr kennt ihn sowieso nicht.“

„Ah“, machte Domenico. „Ihn.“ Er nicht verstehend. „Dann ist es wohl dein SOS-Bekannter. Und, hast du nun herausbekommen ob er mit dir flirtet?“

Das Handy piepte wieder. Meine Finger zuckten, aber ich zwang mich erst in Ruhe mein Besteck abzulegen, bevor ich danach griff. „Ja, habe ich.“

Die Nachricht von Nick war kurz und echt süß. Ich denke an dich.

„Kann mich mal bitte jemand aufklären?“ Evangeline sah von einem zum anderen. „Was ist ein SOS-Bekannter und warum schreibst du mit ihm, wo doch deine beiden besten Freunde mit dir an einem Tisch sitzen und es im Augenblick nichts Interessanteres für dich geben sollte.“

„Unsere Grace hat mir vorgestern eine Nachricht geschrieben, in der sie wissen wollte, woran sie erkennt, wann ein Kerl mit ihr flirtet.“

„Verräter“, murrte ich und schaute auf mein Handy, weil es erneut piepte.

Mir ist kalt.

Evangeline verlangte lautstark, dass Domenico ihr die Nachricht von mir zeigte und zu meinem Bedauern tat er das wirklich.

Ich versuchte die beiden zu ignorieren und antwortete Nick. Und was soll ich da machen?

Du könntest kuscheln kommen. Dann wäre mir nicht mehr so kalt.

Ich biss mir lächelnd auf die Lippen. Klingt verlockend, aber leider sitze ich bis sechs in der Akademie fest.

Evangeline überflog mit fliegenden Augen die Nachricht auf Domenicos Handy und sah mich dann völlig beleidigt an. „Du lernst einen Typen kennen und wendest dich an ihn?“ Mit dem Handy deutete sie auf unseren Freund.

Domenico riss es ihr aus der Hand und widmete sich dann wieder seinem Auflauf.

„Da er ein Kerl ist, dachte ich, er würde mir eher eine Antwort geben konnte.“

„So, dachtet du.“

„Ja, dachte ich. Aber leider hat sich das als Irrtum herausgestellt.“ Ich ignorierte sein Lachen.

„Und?“, wollte er wissen. „Hat er nun mit dir geflirtet?“

„Ja.“ Mein Handy piepste erneut. Dann sehen wir uns heute wohl nicht mehr.

Wahrscheinlich nicht. Wenn ich hier Feierabend hätte, würde er in der Lagerhalle sein und wenn ich danach dann noch zu ihm fahren würde, wäre ich wieder nicht vor Mitternacht im Bett. Gerade als ich ihm eine Antwort tippen wollte, riss Evangeline mir das Handy aus der Hand.

„Hey!“, protestierte ich.

„Das bekommst du erst wieder, wenn du mir ein paar Fragen beantwortest. Erstens, wie heißt er? Zweitens, wo hast du ihn kennengelernt? Und drittens, was genau läuft da zwischen euch?“

„Wird das hier jetzt ein Verhör?“

„Ja.“ Klar und ohne Ausflüchte.

Ich holte mir mein Handy zurück und schrieb ihm schnell, dass ich mich später noch mal bei ihm melden würde, weil meine beste Freundin mich gerade über ihn aushorchte. „Er heißt Nick und …“ Einen Moment zögerte ich. Ich war wirklich versucht ihr genau zu berichten wo und wie ich Nick kennengelernt hatte, aber Reese' warnende Worte spukten immer noch in meinem Kopf herum.

„Und was?“, drängte Evangeline.

Ich sah sie an, sah dieses vertraute Gesicht, diese leuchtenden Augen. Was wenn ich sie wirklich in Gefahr brachte, indem ich ihr alles erzählte? Natürlich konnte es immer noch sein, dass Reese das nur gesagt hatte, damit ich die Klappe hielt, aber was wenn dem nicht so war? Wollte ich dieses Risiko wirklich eingehen?

„Grace? Nun komm schon, erzähl endlich und spann uns nicht auf die Folter.“

Nein, entschied ich. Ich konnte es ihnen nicht sagen. Vielleicht später Mal, wenn ich mit Sicherheit sagen konnte, dass ihnen kein Unheil drohte. Doch im Augenblick war es besser zu schweigen. „Er heißt Nick“, wiederholte ich und ließ mein Handy in der Hosentasche verschwinden. „Und er ist der kleine Bruder von Reese.“

„Von deinem Lehrcoach?“

Ich nickte. „Ja. Ich hab ihn kennengelernt, als ich mich bei Reese zum Dienst meldete.“

Evangeline beugte sich mir entgegen. „Erzähl mir alles haarklein und untersteh dich, irgendwelche Einzelheiten auszulassen.“

„Sie will bloß den schmutzigen Teil wissen“, fügte Domenico hinzu und ließ ein weiteres Stück seines Auflaufs in seinem Mund verschwinden.

„Naja, ich hab bei ihm geklingelt und dann stand da Nick, in nichts als einer Boxershorts und einem Glas Wasser.“ Diese Lüge schmeckte schal und ich hatte ein schlechtes Gewissen dabei. Trotzdem blieb ich nur beim sicheren Teil der Wahrheit. Ich sparte es mir auch ihnen zu erzählen, wo genau er arbeitete und berichtete ihnen nur von den Treffen ausführlich. Und natürlich von dem Kuss.

Evangeline kreischte mir vor Freude ins Ohr und Domenico aß nur kopfschüttelnd seinen Auflauf.

Kurz darauf beendete das Schrillen der Pausenglocke nicht nur unser Gespräch, sondern auch das Mittagessen. Sehnsüchtig betrachtete ich mein Schnitzel, das ich nur zur Hälfte geschafft hatte, räumte das Tablett dann seufzend weg und machte mich mit den beiden zusammen auf dem Weg nach unten in die Arena.

Heute musste unter anderem meine beste Freundin in die Voliere. Ich würde noch bis zum nächsten Mal verschont bleiben.

Domenico sah den Kämpfen noch ein Weilchen zu, bevor er nach hinten zu seinen Kuscheltieren verschwand. Doch mich ließen die Gedanken an Nick, Reese und die Fabrikhalle nicht mehr los. Ich war mir immer noch nicht sicher, ob schweigen hier die beste Lösung war.

Mein Kopf war mit dieser Frage immer noch beschäftigt, als ich am Nachmittag mit zu Evangeline ging, wo wir bei einer Tüte Chips haarklein ihre Woche bei den Staatlichen durchkauten. Für kurze Zeit konnte ich die Brüder und das Lagerhaus vergessen. Naja, zumindest bis sie wieder damit begann mich über Nick und unsere Aktivitäten auszufragen. Doch als sie dann ein Kondom aus ihrer Nachtischschublade kramte und es mir hinwarf, war es für mich höchste Zeit nach Hause zu gehen – ohne Kondom.

Den Abend verbrachte ich in meinem Zimmer über meinen Büchern und der neuen Fachzeitschrift, die Historia jeden Monat rausbrachte. Doch kaum dass ich zum Schlafen unter meine Decke kroch, waren die Gedanken wieder bei Nick und seinem Bruder. Das änderte sich auch nicht, als ich am nächsten Morgen verschlafen in der Küche über meinem Müsli saß, während Onkel Roderick mal wieder das Toast im Toaster zu Kohle verarbeitete.

„Du strahlst heute so“, bemerkte er. Dafür entging ihm aber wie immer der verbrannte Geruch, der durch die Küche schwebte.

Seufzend ließ ich mein Müsli stehen, schob meinen Onkel von der Anrichte weg und entsorgte das Brot alias Grillkohle in den Mülleimer. „Ich habe einfach gut geschlafen.“

„Ja“, stimmte Wynn mit zu und setzte sich mit ihrem Jogurt grinsend an den Tisch. Sie trug als einzige in diesem Raum noch ihre Schlafsachen – so wie jeden Morgen. „Sie hat geschlafen und geträumt. Und zwar von einem gewissen Reese.“

Mist, hatte ich im Schlaf schon wieder gesprochen? Manchmal war es wirklich eine Plage, sich mit der kleinen Schwester das Zimmer teilen zu müssen. „Du meinst wohl Nick.“ Ich steckte zwei neue Toast in das kleine Maschinchen und blieb daneben stehen, damit sie nicht wieder schwarz wurden.

„Wäa is Nick?“, nuschelte sie um den Löffel in ihrem Mund herum. Dann bekam sie plötzlich große Augen und entließ den Löffel langsam aus ihrem Mund. „Hast du etwa was mit zwei Kerlen gleichzeitig zu laufen?“

„Was!?“ Onkel Roderick wirbelte so schnell zu mir herum, dass die Hälfte seines Kaffees aus seiner Tasse schwappte und auf den Boden klatschte. „Verdammt!“ Etwas hilflos griff er nach dem Geschirrhandtuch und versuchte, die Spritzer auf seiner Uniform wegzuwischen. Funktionierte nicht.

„Pack es zu der Wäsche“, wies ich ihn an und griff nach dem Lappen um die Schweinerei auf dem Boden zu beseitigen. „Ich mach dir die Flecken raus.“

„Also?“, lauerte Wynn. „Was ist nun? Zwei Kerle gleichzeitig?“ Sie ließ ihre Augenbrauen auf und ab hüpfen.

„Gott, manchmal bist du noch so ein Kind.“ Ich kniete mich auf den Boden und wischte über das alte, brüchige Linoleum. „Und wenn du es unbedingt wissen willst, nein. Reese ist mein Lehrcoach und ich habe euch bereits von ihm erzählt.“

„Stimmt“, fiel Onkel Roderick in dem Moment ein. „Dann ist es in Ordnung.“ Er runzelte die Stirn. „Denke ich.“

„Du träumst von deinem Lehrcoach?“ Grinsend stellte Wynn ihren Becher auf den Tisch. „Der Kerl muss ja echt der Hammer sein.“

Eine Erwiderung blieb ich ihr schuldig, denn genau in dem Moment bemerkte ich den verbrannten Geruch aus dem Toaster. Nicht schon wieder. Leider war so ein Morgen im Hause Shanks alltäglich und er wurde auch nicht besser, als ich mich auf dem Weg zu Reese machte. Obwohl ich, genau wie am Donnerstag, zwanzig Minuten zu früh dran war, begrüßte er mich an seinem Wagen mit einem Ausdruck der vermuten ließ, ich hätte ihn drei Stunden im Regen stehen gelassen. Und damit begann ein Tag, an deren Ende ich ihm am liebsten den Hals umgedreht hätte. Natürlich waren ihm der Zeitungsartikel und auch die Nachrichten über mich nicht entgangen, was zur Folge hatte, dass ich von ihm eine Gardinenpredigt bekam, die gar kein Ende nehmen wollte. Aber im Grunde sagte er nur, dass er mich übers Knie legen würde, sollte ich mich noch einmal mit Kanya Witmer anlegen.

Weiter ging es mit dem Fußraum, den er innerhalb eines Tages wieder in eine Müllkippe verwandelt hatte, sodass ich ihn erst mal sauber machen musste, bevor ich einsteigen konnte – wie nur hatte er das bewerkstelligt?

Von der Dankbarkeit, dass ich ihm den Hals gerettet hatte war nichts mehr übrig. Schon als ich ihn mitten auf der Straße anwies sofort anzuhalten, weil dort mitten auf dem Gehweg ein Krant entlang spazierte, als suchte er das nächste Büffet, schnauzte er mich an, dass er nicht blind sei.

Und das war erst der Auftakt für diesen Tag. Hatte ich geglaubt, dass er bereits vorgestern schlechte Laune gehabt hatte, weil er wegen mir Laufarbeit erledigen musste, so war das gar nichts im Vergleich zu heute. Egal was ich tat, nie war es ihm recht. In seinen Augen schaffte ich es nicht mal, einen Fuß manierlich vor den anderen zu setzten und als ich am Abend einfach zu ihm in den Wagen stieg, anstatt von der Gilde aus nach Hause zu fahren, war seine Laune nicht nur im Keller, sondern irgendwo unten in der Hölle.

„Raus“, knurrte er mich an.

„Dieses Spielchen hatten wir schon einmal und da hast du auch verloren“, erinnerte ich ihn. In der Zwischenzeit war es mir egal, ob ich ihn sauer machte. Ich war auch sauer und das sollte er ruhig spüren.

Reese kniff die Augen zusammen startete dann aber zu meiner Verwunderung den Wagen und fuhr schweigend los. Doch schon nach der Hälfte der Strecke bemerkte ich, dass wir uns nicht auf dem Weg zum Lagerhaus befanden, sondern er mich geradewegs nach Hause fuhr.

„Du tust jetzt nicht wirklich das was ich denke, oder?“

„Ich fahre mit dir jedenfalls nicht zu Nick.“

Das war doch einfach nicht zu glauben. „Was soll das? Was geht dich das eigentlich an?“

„Ich habe es dir schon einmal erklärt. Nick ist niemand für …“

„Meinst du nicht dass ich das weiß?“ Ich drehte mich auf meinem Sitz halb zu ihm herum. „Denkst du wirklich ich bin so dumm zu glauben, dass er sich auf den ersten Blick in mich verliebt hat und wir nun glücklich bis ans Ende unserer Tage miteinander in Harmonie verbringen werden?“

Reese warf mir einen kurzen Blick zu und angelte dann nach seinen Zigaretten. Der Bluterguss an seinem Kinn schillerte dabei in allen Farben. Suzanne hatte nicht übertrieben. „Nick ist ein Frauenheld. Die Weiber laufen ihm Scharenweise hinterher. Das war schon immer so gewesen.“

Hörte ich da etwa eine Spur Verbitterung aus seiner Stimme?

Er schob sich einen Stängel zwischen die Lippen und zündete diesen an. Dann schaltete er den Wagen einen Gang runter um an der Kreuzung nach rechts abzubiegen.

„Ich weiß zwar nicht was dich das angeht, aber ich habe mit Nick bereits darüber gesprochen. Wir sind kein Paar, wir wollen uns einfach nur besser kennen lernen. Und mal sehen, vielleicht werden wir ja sowas wie Freunde.“ Oder ein bisschen mehr.

Reese schnaubte und stieß den Rauch aus seinem Mund. „Nick hat keine weiblichen Freunde. Was glaubst du wohl woran das liegt?“

„Vielleicht bin ich ja die erste, bei der es anders ist.“

Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Gott Shanks, wie dumm bist du eigentlich? Nick spielt mit den Frauen. Wenn ihm eine zu langweilig wird, geht er zur nächsten über. Genau das wird er mit dir auch tun und ich habe keinen Bock darauf, mir anschließend deine Trauermiene reinzuziehen.“

Wie war es nur möglich, dass diese beiden Männer Brüder waren? Sie waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht. „Das kannst du nicht wissen. Ja, vielleicht hast du Recht und er hat schon nächste Woche genug von mir, aber vielleicht irrst du dich auch. Aber es ist auch egal, weil es dich einfach nichts angeht. Und ich werde auch nicht aus diesem Wagen steigen, bevor wir nicht an der Lagerhalle sind, da kannst du dich auf den Kopf stellen.“

Reese drückte die Lippen zu einem festen Strich zusammen. Der störrische Ausdruck in meinem Gesicht gefiel ihm so gar nicht. Tja, ich hatte diese Woche wohl doch etwas von meinem Coach gelernt.

„Es wird heute extrem spät werden“, versuchte er mich ein letztes Mal loszuwerden.

Ich zuckte nur mit den Schultern. „Morgen ist Sonntag und ich habe noch nichts vor.“

Fluchend wendete er den Wagen und fuhr dann endlich Richtung Lagerhaus. Allerdings ignorierte er meine Anwesenheit den Rest der Fahrt. Ich nutzte die Stille um meinem Onkel zu schreiben, dass ich noch mit Freunden unterwegs war und nicht wusste wann ich nach Hause kommen würde. Da er nicht antwortete, ging ich davon aus, dass er mal wieder in seinem Sessel eingeschlafen war. Dann würde er die Nachricht eben später lesen. Dabei bemerkte ich, dass ich eine Nachricht von Nick auf meinem Handy.

Ich hoffe wir sehen uns heute. Nick.

Nichts kann mich davon abhalten, schrieb ich ihm zurück. Nicht mal dein griesgrämiger Bruder.

Immer noch lächelnd ließ ich das Handy wieder in meiner Tasche verschwinden und richtete meinen Blick aus dem Fenster. Die aufkommende Nacht zog still an uns vorbei. Ich freute mich wirklich darauf Nick wieder zu sehen und stieg daher am Lagerhaus schon aus dem Wagen, bevor Reese den Motor abgestellt hatte. Unser letztes Treffen war ein wenig kühl gewesen, einfach weil Reese uns ständig mit bösen Blicken bedacht hatte. Nachdem wir aus dem Lagerhaus raus waren, hatte es auch nur noch einen Kuss gegeben. Ich hatte mich nicht wohl dabei gefühlt, dass Reese uns dabei beobachtete. Aber heute würde ich mir mein Privatleben nicht vermiesen lassen.

Ohne auf Reese zu warten trat ich zu der alten Lagerhalle und wunderte mich einen Moment über die vielen Autos hier draußen. Doch da ich einfach nur Nick sehen wollte, machte ich mir keine Gedanken über deren Bedeutung. Hätte ich es mal getan, dann wäre ich vielleicht auf den Schrei vorbereitet gewesen, der mir entgegenschallte, als ich die Tür aufriss.

 

°°°°°

Kapitel 08

 

Dieser Laut, der meine Ohren quälte, war nicht das Brüllen eines gefährlichen Tieres, nein es war der Jubel hunderter Menschen, die sich vor Freude fast ins Höschen machten, als sie dabei zusahen, wie die Proles in der Voliere sich gegenseitig zerfleischten.

Die Lagerhalle war voll. Jeder Platz war besetzt und die Leute, die keinen Sitz mehr bekommen hatten, drängten sich um die Voliere. Sie schrien und jubelten vor Freude, als eines der Proles vor Schmerzen brüllte. Es war das unbekannte Simia-Proles, das mit drei Ossas in den Käfig gesperrt worden war. Die riesigen, marderartigen Proles griffen von allen Seiten an, zerrten an dem Affenabkömmling, bissen, rissen bis es vor Schmerz schrie und die menschliche Meute sich in ihrer Euphorie noch dichter um die Voliere drängte. Sie hämmerten mit flachen Händen gegen den Maschendrahtzaun, jubelten und feuerten ihren Favoriten an.

Das gelbe Fell des Simia-Proles war von den Angriffen schon ganz rot. Es hatte seine Augen weit aufgerissen und zeigte den Ossas die beachtlichen Zähne, doch die maderartigen ließen von ihrem Opfer nicht ab. Immer wieder schlugen sie zu und versuchten, ihre Beute in Stücke zu zerreißen.

Ich stand immer noch am oberen Rand und war mir nicht ganz sicher, was ich von diesem Schauspiel halten sollte. Nicht dass ich mich daran störte, wie die Monster sich gegenseitig zerfetzten, ich verstand nur einfach nicht, wie man sich dafür begeistern konnte. Würde man hier anstehen, um die Viecher zu erschießen, würde ich mich vielleicht noch zu ihnen gesellen, aber für das hier hatte ich absolut kein Verständnis. Es entzog sich einfach meines Begreifens, was Menschen dazu bewegten, hierher zu kommen.

Eine Berührung am Arm ließ mich aufblicken. Reese stand neben mir und beobachtete den Monsterkampf mit versteinerter Miene. Ja, vielleicht verdiente er mit den Verkäufen an Taid Geld, aber er hatte deswegen noch lange keine Freude an diesem unmenschlichen Szenario.

„Komm“, sagte er und war über die Begeisterung und die Rufe der Menschen kaum zu verstehen. Es war so laut in der Halle, dass ich nicht verstand, warum ich es nicht schon draußen gehört hatte. Bisher war es mir nicht so vorgekommen, als wenn die Wände schallisoliert wären, doch welche Erklärung sollte es sonst geben?

Am Arm dirigierte Reese mich am oberen Rand der Zuschauertribünen entlang bis zu einer alten Metalltreppe an der Wand. Sie wirkte nicht wirklich vertrauenserweckend und knarzte bei jedem unserer Schritte besorgniserregend, hielt jedoch. Von der Menge unentdeckt, drängten wir uns nach unten an den Fuß der Treppe, wo wir uns auf die unterste Stufe setzten.

Von hier aus konnte ich den Kampf nicht mehr verfolgen, aber die Schreie und das Brüllen der Proles schien umso lauter zu sein. Sie übertönten sogar die Begeisterungsrufe der Menge. Trotzdem musste ich mich einen Moment fragen, wer hier eigentlich blutrünstiger war, die Proles oder die Menschen. Natürlich, die Proles waren Monster, aber sie folgten ihren Instinkten. Welche Entschuldigung hatten die Menschen, hier zu sein?

Kopfschüttelnd stütze ich meine Arme auf die Knie und bemerkte den Kratzer auf meinem Handrücken. Den hatte ich mir heute zugezogen, als wir den Candir gejagt hatten. Canis-Proles, oder auch Hundeabkömmling, der eine Mischung aus Golden Retriever und Eisbär zu sein schien. Als ich den riesigen Pranken ausweichen wollte, war ich mit der Hand gegen Fahrradständer geknallt. Es hatte ziemlich wehgetan, war aber immer noch besser gewesen, als mich von diesem schneeweißen Vieh erwischen zu lassen. Besonders da sein Gefährte gleich dahinter gelauert hatte.

Ich wusste ja, dass die Arbeit des Venators gefährlich war, aber würde ich wirklich bei jeder Jagd verletzt werden? Selbst wenn es nur solche kleinen Kratzer waren?

Seufzend ließ ich meinen Blick über die Menschen gleiten. Sie sahen alle so normal aus. Die meisten trugen einfache Freizeitkleidung, ein paar waren sogar im Anzug oder im Abendkleid da. Würde ich diesen Leuten auf der Straße begegnen, hätte ich wahrscheinlich nicht mal einen zweiten Blick für sie übrig. Sie wirkten alle so … durchschnittlich, normal, nichts Außergewöhnliches. Umso unverständlicher war es für mich, dass sie sich von solch einem Gemetzel anlocken ließen.

Als ein neuerlicher Schrei aus der Voliere zu hören war, brüllte die Menge begeistert auf. Immer mehr Menschen drängten sich nach vorne und ich konnte nur ungläubig den Kopf schütteln. Verstanden sie den gar nicht in welche Gefahr sie sich brachten? Nicht nur das die Proles auf die Idee kommen könnten die Leute am Gitter zu attackieren, dieses Drahtgeflecht war auch nicht wirklich sicher. Wenn ein Proles es wirklich darauf anlegte, würde er ohne Probleme hindurch kommen und dann würden die Menschen sicher nicht mehr vor Freude schreien. Sie würden panisch umherlaufen und sich auf der Flucht vor dem Monster gegenseitig über den Haufen rennen. Doch im Moment ergaben sie sich alle der zweifelhaften Sicherheit des Zauns zwischen ihnen und den Kreaturen dahinter.

Neben mir zog Reese eine Zigarette aus seinem Mantel. Das Feuerzeug klickte und er nahm einen tiefen Zug. Dann rollte er die Stängel nachdenklich zwischen den Fingern. Er schenkte weder dem Kampf noch der Menge Aufmerksamkeit, starrte stumpf auf dem Boden und hing seinen eigenen Gedanken nach.

War mit ihm alles okay? Er wirkte nicht gerade glücklich, aber auch nicht unglücklich. Er wirkte so wie immer, einfach Reese. Ich musste über meine eigenen Gedanken den Kopf schütteln. Das ergab absolut keinen Sinn, auch wenn es genauso war.

Wieder ließ ich meinen Blick über die Leute schweifen, hoffte darauf, endlich Nick zu finden, doch hier war ein so großes Gedränge, dass ich ihn wohl nicht mal ausfindig gemacht hätte, wenn ich fünf Meter hoch wäre. Dafür fiel mein Blick aber auf etwas anderes, oder besser gesagt, auf jemand anderes. Da war wieder dieses Minzmännchen mit dem Klemmbrett. Aber nein, das war nicht diese … hm … jetzt hatte ich doch glatt den Namen vergessen. Dieses Minzmännchen hier war auf jeden Fall ein Mann. Und, genau wie die Frau vor zwei Tagen, beobachtete er den Kampf der Proles und machte eifrig Notizen. Dabei ließ er sich von dem Gegröle und dem Gedränge der Leute weder stören noch ablenken.

Wie viele von diesen Leuten gab es hier eigentlich? Und noch wichtiger, was taten sie hier? Es sah fast so aus als würden sie die unbekannten Proles studieren, so wie es seit fast zwei Jahrzehnten in Historia geschah. Doch wozu? Zögernd wandte ich mich Reese zu. Nick hatte mir auf meine Fragen keine Antwort gegeben und es war sehr unwahrscheinlich, dass Reese es anders handhaben würde, doch einen Versuch war es wert, oder?

Gerade, als er die Zigarette ein weiteres Mal an den Mund hielt, tippte ich ihm gegen den Arm.

Reese ließ die Zigarette wieder sinken und beugte sich zu mir vor, damit er mich verstehen konnte.

Der Geruch von Rauch schlug mir entgegen, aber ich empfand es nicht mehr so unangenehm wie bei unserem ersten Zusammentreffen. Dieser Geruch, er gehörte einfach zu ihm. „Was macht der Mann da?“ Ich zeigte auf das Minzmännchen, das mit einer steilen Falte zwischen den Augen konzentriert dem Kampf beobachte.

Reese folgte meinem Blick und drückte dann seine Lippen fest aufeinander.

„Reese?“

„Ich hab dir schon einmal gesagt, dass du dich da raushalten sollt. Es geht dich nichts an und je weniger du weißt, umso besser für dich.“

Jetzt war ich es die die Lippen zu einem festen Strich verschloss. Eigentlich hätte mir diese Antwort klar sein müssen, trotzdem war ich enttäuscht. „Ist ja nicht so, dass ich schon Bescheid wüsste“, murrte ich.

„Du weißt gar nichts.“ Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und warf sie dann achtlos auf den Boden. „Überhaupt nichts“, fügte er noch so leise hinzu, dass ich es über dem Lärm der Menge fast nicht verstanden hätte.

Ich runzelte die Stirn. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Natürlich hätte ich ihn das gerne gefragt, aber ich wusste dass er mir sowieso nicht antworten würde. Und wenn doch, dann wäre es sicher nichts Schmeichelhaftes.

Plötzlich legten sich von hinten zwei Hände auf meine Augen und noch bevor ich das verspielte „Wer bin ich“ hören konnte, war ich schon herumgewirbelt.

Zwei Stufen höher hockte Nick und grinste mich breit an. „Überrascht?“

Erschrocken traf es wohl besser. Mein Herz war vor Schreck so hoch gehüpft, dass es mir nun in der Kehle steckte und mich am Sprechen hinderte. Deswegen lächelte ich einfach nur schüchtern. Warum fühlte ich mich durch sein Auftauchen eigentlich gleich wieder so nervös? Verdammte Hormone!

Nick zwinkerte mir zu, wandte sich dann aber an seinen Bruder. „Taid will mit dir sprechen. Er wird langsam ungeduldig.“

Ohne ein Wort oder eine Reaktion von sich zu geben, stand Reese auf und verschwand in der Menge. Doch ich hatte noch einen Blick auf sein Gesicht erhaschen können, auf den besorgten Zug in seinem Mund.

Vielleicht hatte er ja Recht und ich wusste wirklich überhaupt nichts, aber wenn er nicht mit mir sprach, konnte ich ihm auch nicht helfen. Innerlich schnaubte ich über meine eigenen Gedanken. Als wenn Reese sich von mir helfen lassen würde – ausgerechnet von mir. In seinen Augen war ich nur ein dummes Mädchen.

„Hey.“ Nick rutschte die Treppe herunter und setzte sich auf den freigewordenen Platz neben mir. „Guck nicht so böse.“

Es gab ein unglaublich lautes Scheppern am Zaun. Ein paar Menschen schreckten zurück, aber der Rest jubelte in haltloser Begeisterung laut auf.

Ich versuchte Reese und meine Umgebung auszublenden und mich nur auf den attraktiven Kerl vor mir zu konzentrieren. Auf sein Lächeln, das vergnügte Funkeln in seinen Augen und an die Nachricht, die er mir aufs Handy geschickt hatte. Er hatte mich sehen wollen und nun war er hier.

Zögernd griff ich nach seiner Hand. Das war noch neu für mich, ungewohnt, aber es fühlte sich gut an.

Nick lachte leise. „Also an der Begrüßung müssen wir wirklich noch arbeiten.“ Mit einem Ruck zog er mich zu sich ran, sodass ich gegen ihn fiel und mich hastig mir der Hand auf seiner Brust abstützte. Sofort stieg mir sein Geruch in die Nase, eine Mischung aus Aftershave und seinem Eigengeruch nach Mann. Nicht mal der Gestank von den Proles, die in seiner Kleidung hing konnte das verdecken.

Selbstsicher legte er seine freie Hand an seine Wange und im nächsten Moment konnte ich seine Lippen spüren. Ein leichter Kuss auf das Ende meiner Narbe. Kaum eine Berührung, die er mein Gesicht entlang strich, bis er meinen Mund fand und ihn vorsichtig in Beschlag nahm.

Die Halle und die brüllenden Menschen um uns herum rückten einen Moment in weite Entfernung. Wieder wurde ich von diesem Gefühl gepackt, von diesem aufregenden Kribbeln, das jede Zelle meines Körpers zu durchdringen schien und mir einen angenehmen Schauder über den Rücken jagte.

Nick zog mich näher an sich, hielt mich fest, intensivierte den Kuss, die Berührungen, die eine bis vor kurzem unbekannte Hitze in mir aufsteigen ließen.

Ich rückte näher, bis sich unsere Beine berührten, ließ meine Hand zögernd über seinen Unterarm wandern, über die feinen Härchen. An meiner Hüfte setzte ein starkes Kribbeln ein, das mir bis in die Knochen vibrierte. Ich drängte näher gegen Nick, biss ihm leicht in die Unterlippe und war über mein eigenes Tun erstaunt. Doch dieser Kuss, die Bewegungen seiner Lippen, das Spiel mit der Zunge, das alles lockte mich, die Gefühle noch intensiver zu spüren.

Nick ließ seine Hand von meinem Nacken zu meinem Kinn gleiten, umfasste es und hielt mich fest, damit ich seinem Kuss nicht entkommen konnte.

Noch immer spürte ich diese Vibration bis in die Knochen. Nur ganz leicht, aber sie war da. Sie war …

Schlagartig hörte sie auf, nur um einen Moment später von neuem zu beginnen. Oh Mist. Ruckartig löste ich mich von Nick und griff in meine Jackentasche. Das war kein Vibrieren ausgelöst durch Nicks Nähe, das war mein Handy!

Die Geräusche um mich herum kehrten augenblicklich zurück.

„Was ist?“ Nicks Augen waren ein wenig glasig, aber es missfiel ihm deutlich, dass ich unseren Kuss einfach unterbrochen hatte.

„Mein Handy.“ Fahrig zog ich es aus der Tasche und hielt es mir ans Ohr, ohne einmal auf das Display zu sehen. Mein Blick war gefangen, denn Nick ließ mich nicht los. „Ja?“

„Grace?“

„Eve?“

„Verdammt, wo bist du denn? Was ist das für ein Lärm bei dir? Ich verstehe dich kaum.“

„Ich bin …“ Verdammt! „Ich bin in der Innenstadt.“ Mist, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht, aber jetzt einfach rausgehen ging nicht. Sie hatte den Lärm schon gehört und würde sich wundern, wenn die Geräuschkulisse plötzlich verschwand.

„Innenstad? Was ist denn da los? Das hört sich an als seist du auf einem Konzert.“

Konzert? Warum war mir das nicht eingefallen. Dumm, Grace, wirklich dumm. Am besten ging ich einfach nicht weiter darauf ein. „Was gibt es denn?“

Nicks Daumen strich über meine Wange. Den Blick hatte er immer noch nicht von mir genommen. Umso erstaunter war ich, als er plötzlich die Augen schloss und mir einen Kuss auf den Mundwinkel hauchte, dann einen auf meinen Wangenknochen, auf mein Augenlid. Oh Gott, was machte der Kerl da nur? Und warum in Dreiteufelsnamen musste Evangeline immer anrufen, wenn ich mich in Taids Lagerhaus aufhielt?

„Wir haben ein Problem“, verkündete sie mir.

„Problem?“

Nicks Lippen wanderten zu meiner Schläfe, an meinem Gesicht hinunter zu meinem Ohr. Als er dann auch noch leicht hinein biss und damit einen prickelnden Schauer durch meinen Körper jagte, zuckte ich kaum merklich zusammen.

„Dom ist wieder Single.“

„Was?“ Einen Moment flatterten meine Augen.

„Seine Freundin hat ihn beschissen. Er hat sie mit einem anderen in flagranti erwischt.“

„Was?!“ Das ließ mich schneller als alles andere wieder zur Besinnung kommen. „Sie hat … das ist nicht dein Ernst.“

„Leider doch.“

Ich wollte mich ein Stück von Nick zurückziehen, um mich besser auf Evangeline konzentrieren zu können, doch er hielt mich nur umso fester. Meine Stirn runzelte sich. Was sollte das den werden?

„Er kam heute früher von seiner Schicht in der Akademie und wollte sie überraschen“, erklärte sie halb knurrend. „Tja, die Überraschung ist ihm echt gelungen.“

Das konnte ich mir vorstellen. „Nick, hör mal kurz auf.“ Ich zog seine Finger sehr nachdrücklich von meinem Gesicht und wandte mich dann von ihm ab, doch meine Hand ließ er nicht los. „Und wie geht es Dom?“

„Na du kennst ihn doch. Er tut so als wäre es keine große Sache. Ich habe es auch nur durch Zufall rausbekommen.“

„Wie das?“

„Ich hab mit ihm telefoniert und er hat sich so komisch angehört. Da habe ich so lange nachgebohrt, bis er mit der Sprache rausgerückt ist.“

Ja, darin war sie eine Meisterin. Seufzend rieb ich mir übers Gesicht. „Und was machen wir jetzt?“

„Er will seine Ruhe haben, meinte dass nachher noch ein paar Kumpels vorbei schauen, aber ich weiß genau dass das nicht stimmt und er sich in seiner Wohnung vergraben wird.“

„Vielleicht sollten wir hinfahren.“ Gedanklich konstruierte ich bereits einen Plan, wie ich von hier am schnellsten zu ihm kommen konnte. Mist, das würde mindestens eine Stunde dauern. Wenn ich Glück hatte. „Wir könnten …“

„Er hat sehr deutlich gemacht, dass er uns heute nicht sehen will.“ Sie seufzte. „Ich glaube das Beste ist, wir lassen ihn erst mal in Ruhe.“

„Das finde ich nicht. Dom sollte jetzt nicht allein sein. Du kennst ihn doch.“

„Ich habe auch nicht gesagt, dass wir ihn allein lassen. Nur heute Abend, damit er erst mal wieder klar kommt. Morgen sieht es allerdings schon wieder ganz anders aus.“

Oh je. Was hatte sie jetzt schon wieder ausgeheckt? „Was hast du vor?“

„Da wir seine besten Freundinnen sind, ist es unsere Pflicht ihm beizustehen. Wir werden morgen mit Chips und Filmen bei ihm auftauchen, uns dabei die Kante geben und dieses kleine Flittchen von Ex zum Teufel wünschen.“

„Und du bist sicher, dass er uns nicht einfach vor der Tür stehen lässt?“

„Natürlich wird er uns stehen lassen, aber ich habe ja noch den Ersatzschlüssel von seiner Wohnung.“ Das Grinsen in ihrer Stimme war absolut nicht zu überhören. „Es bleibt ihm also gar keine andere Wahl als unsere Anwesenheit zu akzeptieren.“

Na das klang doch mal nah einem Plan. „Okay, dann lass uns morgen Nachmittag hinfahren. Ich werde dann auch noch mal bei ihm anrufen.“

„Tu das, aber sag nicht, dass du es von mir weißt.“

„Von wem soll ich es denn sonst wissen, von seiner Ex?“

Sie schwieg kurz. „Ich hasse es wenn du Recht hast.“

„Na zum Glück kommt das nicht allzu häufig vor.“

Aus der Voliere gab es einen unmenschlichen Schrei. Die Menge brüllte auf.

„Was war das?“

„Äh … was?“ Scheiße. „Du, ich muss jetzt auflegen. Wir sehen uns morgen.“ Ohne ihr die Gelegenheit für eine Erwiderung zu geben, beendete ich einfach das Gespräch. Mist, Mist, Mist, Mist! Das war alles riesengroßer Mist! Nicht nur die Sache mit Domenico. Ich sollte mir abgewöhnen ans Handy zu gehen, wenn ich mich hier befand. Jetzt blieb mir nur noch die Hoffnung, dass die Sache mit dieser Schnalle Evangeline so sehr ablenkte, das sie nicht weiter auf dieses Telefonat eingehen würde. Aber falls sie es doch tat, würde ich mir eine verdammt gute Ausrede einfallen lassen müssen. Doch jetzt hatte ich erst mal dringend etwas zu erledigen und zwar außerhalb dieser vier Wände.

„Bin gleich wieder da.“ Während ich mich erhob, wollte ich mich von Nicks Griff frei machen, doch er hielt mich nur umso fester. „Nick, bitte, ich muss nur mal kurz telefonieren, dann …“

Er fasste mein Handgelenk noch fester, fast schmerzhaft fest. „Mit diesem Dom?“

Warum fragte er das so seltsam? „Ja, seine Freundin … sie haben Schluss gemacht und ich muss wissen ob es ihm gut geht.“

Nick kniff die Augen zusammen und ein kalter Glanz trat darin auf. „Liebst du ihn doch?“

„Was?“ Warum fragte er solche dummen Sachen? „Ich habe dir doch schon gesagt, dass er mein bester Freund ist.“

„Nur ein Freund.“

Er war doch nicht etwa unsicher, oder? Das konnte ich jetzt gerade gar nicht gebrauchen. „Nick“, sagte ich und ließ mich wieder neben ihm auf die Stufe sinken. „Seine Freundin hat ihn betrogen und er hat sie dabei erwischt. Ich will nur wissen ob es ihm gut geht, aber hier drinnen kann ich nicht telefonieren.“ Ich legte meine Hand mit dem Handy auf seine und spürte erleichtert, wie sich sein Griff lockerte. „Du kannst auch gerne mit rauskommen, wenn du magst.“

Etwas Sanftes legte sich auf Nicks Züge. „Ich will nur nicht dass meine Freundin auf die Idee kommt mich zu betrügen.“

„Deine Freundin?“ Hatte er das wirklich gerade gesagt? Meinte er damit wirklich das, was mir bei diesen Worten durch den Kopf schoss?

Erstaunt hob er eine Augenbraue. „Natürlich. Was hast du den geglaubt?“

„Das wir …“

Der Rest meiner Worte ging in den plötzlich lauten Jubelschreien unter. Da musste etwas in der Voliere passiert sein, denn die Menge spielte plötzlich noch verrückter als vorher und dann verkündete Taids Stimme durch die Mikrophone an den Wänden, wo die Wetterlöse ausgegeben wurden, dass der nächste Kampf in Kürze beginnen würde.

Zeitgleich tauchte Reese bei uns auf, gab seinem Bruder mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass sie hier verschwinden konnten und stampfte dann an ihm vorbei die Treppe hinauf.

Er sah wütend aus. Der verkniffene Zug um seinen Mund durchbrach die sonst so gleichgültige und genervte Maske, die er immer allen zeigte.

Was war nur geschehen?

 

°°°

 

„Lass dich davon nicht runterziehen, okay? Sie hat dich nicht verdient.“

„Grace“, seufzte Domenico durchs Handy. „Wir oft noch, es ist alles in Ordnung. Wirklich.“

Ich glaubte ihm nicht und das wusste er auch. Trotzdem beließ ich es erst einmal dabei. Ich verstand ihn ja auch. Ich an seiner Stelle würde auch nicht ständig darüber reden wollen. Besonders nicht wenn alles noch so frisch war. „In Ordnung. Aber wenn was sein sollte, du kannst mich anrufen, okay?“

„Ich weiß. Aber jetzt habe ich wirklich nicht den Nerv darüber zu sprechen. Ich will nur noch ins Bett. Ich melde mich bei dir.“

„Ich verlasse mich drauf.“

„Nacht Grace.“

„Nacht.“ Ich beendete den Anruf und ließ das Handy in meinen Schoß sinken.

Nicks Hände strichen über meine Beine, bevor er mich von hinten umschlang. Er hatte das Kinn auf meine Schulter gelehnt und die ganze Zeit dem Telefonat gelauscht. Eigentlich störte es mich ein bisschen, aber ich sagte nichts dazu.

Wir saßen in Reese' Wagen und waren auf dem Weg zu der Heimstädte der Brüder. Draußen war es schon lange dunkel. Wir hatten viel mehr Zeit bei Taid verbracht, als es mir bewusst gewesen war und so krochen die Zeiger der Uhr langsam auf drei Uhr morgens zu.

Ich saß wieder zwischen Nicks Beinen auf dem Beifahrersitz. Mit dem Rücken lehnte ich an ihm und konnte mich in dieser Umarmung sogar ein wenig entspannen. Eigentlich hatte Reese mich ja nach Hause fahren wollen, aber Nick hatte darauf bestanden, dass ich noch mitkam. Ich war nicht wirklich gefragt worden, doch im Augenblick störte es mich auch nicht wirklich.

Freundin.

So hatte Nick mich bezeichnet. Ich war seine Freundin. Es war ein alberner kleiner Gedanke, aber ich konnte nicht verhindern, dass sich dabei ein Lächeln auf meine Lippen stahl. Trotzdem verstand ich es nicht so ganz. Noch vor zwei Tagen hatte er gesagt, dass wir einfach mal sehen würden was käme und nun saß ich hier und konnte mich seine Freundin nennen.

Nicks Freundin.

„Wie nahe stehen du und dieser Dom euch?“, fragte Nick plötzlich.

Verwundert drehte ich ihm das Gesicht zu, als von Reese auch schon ein mahnendes „Niklas“ kam.

Der kleine Bruder drückte die Lippen fest aufeinander und vergrub dann das Gesicht an meinem Nacken. „Schon gut.“

Stirnrunzelnd betrachtete ich Reese, der gerade seinen Zigarettenstummel aus dem offenen Fenster schnipste.

Seit wir die Lagerhalle verlassen hatten, zündete er sich eine Zigarette nach der anderen an. In der Zwischenzeit war der Rauchgeruch im Wagen mehr als nur unangenehm. Aber ihn zu fragen, was los sei, würde sowieso nichts bringen. Er würde mir nur wieder mitteilen, dass ich mich um meinen eigenen Kram kümmern sollte.

Doch wenn ich es vielleicht anders anginge, ihn nicht direkt fragte, vielleicht würde ihm dann etwas rausrutschen. Es musste nur etwas mit Taid zu tun haben. Vielleicht konnte ich das Gespräch dann lenken. Ein Versuch war es allemal wert und ein passendes Thema hatte ich auch schon parat. „Sag mal, dieser unbekannte Simia-Proles, wo kommt der eigentlich her? Ich habe noch nie etwas Ähnliches gesehen.“

„Bin ich Taids Mami, dass ich alles über ihn weiß?“ Reese stoppte den Wagen an einer roten Ampel und starrte missmutig durchs Fenster.

„Das war keine Antwort gewesen.“

„Du wirst auch keine Antwort bekommen!“, fauchte er mich an. „Ich habe dir schon mehr als einmal gesagt, dass dich das alles nichts angeht, also hör gefälligst auf deine neugierige Nase in Dinge zu stecken, von denen du sowieso keine Ahnung hast!“

Ich drückte die Lippen zusammen. Das war ja noch schlechter gelaufen, als in meiner Vorstellung. War wohl nichts mit Gespräch lenken. Viel mehr glaubte ich, dass ein weiteres Wort in diese Richtung meinen sofortigen Rausschmiss aus dem Wagen bedeutete. Nun gut, wenn er mir nichts sagen wollte, dann würde ich es eben alleine rausbekommen. Wenn ich das nächste Mal im Lagerhaus war, würde ich die Zwinger und seine Bewohner etwas genauer unter die Lupe nehmen. Natürlich, unbekannte Proles gab es immer mal wieder, aber zwei an einem Ort in so kurzer Zeit, das war nicht normal. Besonders nicht, wenn eines von beiden absolut keine Ähnlichkeit zu einer bereits bestehenden Rasse aufwies. Weder Größe, Form noch Farbe.

Aber ich würde es schon rausbekommen.

Schweigen war das einzige was uns den Rest der Fahrt begleitete. Selbst Nick blieb still, als wir vor dem heruntergekommenen Haus aus dem Wagen stiegen und die verwahrloste Behausung betraten. Ab da konnte es aber auch daran liegen, dass wir all unseren Sauerstoff dazu brauchten um in die zwölfte Etage zu kommen. Mir jedenfalls ging es so.

Es waren nicht nur die vielen Stufen, es war auch die Müdigkeit die sich in der Ruhe des Wagens in meine Knochen geschlichen hatte. Als wir durch die Wohnungstür traten, konnte ich ein herzhaftes Gähnen nicht unterdrücken.

„Gib mir deine Jacke“, forderte Nick mich auf. „Und die Schuhe kannst du auch hier stehen lassen.“

Reese Schloss die Wohnungstür und verschwand dann grummelnd in der Küche. Meine Anwesenheit gefiel ihm absolut nicht. Wahrscheinlich glaubte er, dass sie ihn in seiner Privatsphäre stören würde, oder er weiteren unliebsamen Fragen ausgesetzt wäre. Auf den Gedanken, dass ich wirklich nur wegen Nick hier war, kam er nicht. Als wenn ich irgendein Interesse daran hätte ihn mehr als nötig um mich zu haben. Ich konnte ja nun mal nichts dafür, dass er mit Nick verwandt war.

Kopfschüttelnd streifte ich meine Jacke ab und reichte sie Nick, doch er ließ sie einfach achtlos zu den anderen Jacken an der Wand auf den Boden fallen. O-kay. „Kann ich meine Waffen irgendwo bei euch einschließen?“, fragte ich, als ich mein Schuhe abstreifte. Denn ich hatte keine Lust sie die ganze Zeit mit mir rumzutragen.

„Leg sie einfach in die Küche.“

Zweifelnd sah ich ihn an. War das sein Ernst?

„Guck nicht so.“ Er beugte sich ein wenig vor und strich mir mit dem Daumen über die Wange. „Hier ist niemand außer uns und wir haben unsere eigenen Waffen.“

Dass er das noch so betonte war irgendwie … irreal. Natürlich, Reese hatte seine Waffen durch die Gilde, aber Nick besaß sie, weil er ein Krimineller war.

Bei diesem Gedanken musste ich schlucken. Mein Freund war ein Krimineller.

„Na komm schon.“ Er nahm mich bei der Hand und zog mich in die Küche, wo Reese versuchte, die Anrichte ein Stück freizuräumen, um sich ein Brot zu schmieren.

„Leg sie einfach auf den Tisch.“ Nick gesellte sich zu seinem Bruder und klaute ihm das Brot vom Teller. Dieser sah ihn nur genervt von der Seite an und griff sich eine neue Scheibe aus der Tüte, während sein kleiner Bruder sich zu mir umwandte. „Willst du auch was?“

Ich schüttelte den Kopf und suchte auf dem überladenen Tisch nach einem Platz um meine Waffe und mein Arbeitsbag sicher abzulegen. Dabei konnte ich innerlich nur wieder die Hände über dem Kopf zusammen schlagen. Wie konnte man nur freiwillig in so einem Saustall hausen?

Mir blieb nichts anderes übrig, als es Reese nachzumachen und eine Ecke freizuräumen um meine Sachen dort abzulegen. Dabei kontrollierte ich drei Mal, dass meine M19 auch wirklich gesichert war. Zuhause schloss ich sie immer in meinem Schreibtisch ein, sie hier so offen rumliegen zu lassen, passte mir gar nicht.

„Hey, die klaut dir schon keiner.“ Kauend zog Nick seine Waffe aus seinem Hosenbund und legte sie zu meiner auf den Tisch. Dann ließ er sich grinsend auf das zerschlissene Sofa fallen.

„Ich finde es trotzdem seltsam, sie einfach so rumliegen zu lassen.“ Ich ließ mich neben ihm auf die Couch sinken. Sofort griff er nach meiner Hand und drückte sie leicht.

„Du hättest ja auch einfach nach Hause fahren können“, kam es von der Anrichte. Reese befüllte sich ein Glas mit Wasser und leerte es anschließend in einem Zug. „Dann hättest du dieses Problem jetzt nicht.“

„Aber wie soll ich nur so netter Gesellschaft fern bleiben?“, fragte ich ihn sarkastisch.

Sein Schnauben war der einzige Kommentar den ich dazu bekam. „Ich hau mich aufs Ohr.“ Reese stellte sein Glas in die bereits volle Spüle und schnappte sich sein Brot vom Teller. Dabei blieb sein Blick auf mir hängen. „Es wäre nett, wenn du nicht all zu spät nach Hause gehst.“

Was sollte der Spruch denn jetzt? „Hast du schon mal auf die Uhr geguckt?“ Wir hatten es bereits weit nach drei am Morgen, also von Spät konnte hier nun wirklich nicht mehr die Rede sein.

„Seid einfach leise. Wenn ich von der zufallenden Wohnungstür geweckt werde, dann bekomme ich richtig schlechte Laune.“

Ich zog die Augenbraue hoch. „Das lässt sich noch steigern?“ Ich wusste, dass es nicht schlau war den Tiger mit einem Stock zu piken, aber sein Verhalten ärgerte mich langsam. Nicht nur, dass er mich schon den ganzen Tag anblaffte, jetzt tat er auch noch so, als würde ich mich wie ein Elefant im Porzellanladen bewegen.

„Seid einfach leise“, knurrte er und verließ dann die Küche.

Ich sah ihm stirnrunzelnd hinterher. „Was war das denn gerade gewesen?“

„Schneewittchen“, lächelte Nick.

„Was?“ Ich wandte mich ihm zu und bemerkte fast im gleichen Augenblick, dass ich zum ersten Mal ganz allein mit ihm war. Sonst war Reese immer dabei gewesen, oder wir hatten uns in der Öffentlichkeit gesehen. Oder eben beides. Aber jetzt und hier waren wir zum ersten Mal wirklich ganz allein.

„Damit meinte ich nur, dass Reese ein Murmeltier ist. Wenn er schläft, schläft er wie ein Stein und wenn man ihn weckt, wird er zum Berserker.“ Sein Daumen zog träge Kreise auf meinem Handrücken.

„Aber Schneewittchen wurde doch vergiftet.“ Okay, das war wohl das Dümmste, was jemals aus meinem Mund gekommen war, aber plötzlich schlug die Nervosität in mir Wellen. Ich biss mir auf die Lippe und sah hinüber zu Mr. Who, der ausgestreckt auf seinem Häuschen lag und vor sich hin döste.

Nick folgte meinem Blick. „Kaum zu glauben, dass sie so friedlich ein können, hm?“

„Selbst Monster müssen einmal schlafen.“ Ich wandte mich ihm wieder zu. „Aber deswegen sind sie noch lange nicht harmlos.“

„Und doch hat selbst die verwerflichste Kreatur irgendwo etwas Gutes in sich.“

Sprachen wir gerade immer noch von Mr. Who?

„Komm“, sagte er und zog mich mit sich auf die Beine. „Ich möchte dir etwas zeigen.“

„Was denn?“

„Das wirst du gleich sehen.“ Er grinste mich spitzbübisch an und zog mich in den kahlen Flur. An der geschlossenen Tür von Reese und dem Bad vorbei führte er mich zum hinteren Zimmer. Er zwinkerte mir zu, öffnete die Tür und schob mich in den Raum.

Dieses Zimmer war … pures Chaos. Es gab kein Bett, nur eine große Matratze auf dem Boden und ein offenes Regal, aus dem alle Besitztümer dieses Hauses hervorzuquellen schienen. Die Kleidung war einfach zu unordentlichen Haufen im Regal und an der Wand gestapelt. Der ganze Boden war mit Zeitschriften überseht und die Poster bedeckten jeden Fleck der Wand. Sogar an der Decke hafteten sie. In der Ecke stand ein Computer neben einer Musikanlage auf dem Boden. Rundherum waren so viele Kabel, CDs und DVDs, dass es wie eine Ansammlung von Computerschrott rüber kam, obwohl nichts davon wirklich alt oder kaputt zu sein schien. Der Mülleimer in der Ecke quoll bereits über und neben seinem Schlafplatz stand ein benutzter Teller.

Bunt, chaotisch, unordentlich. Das waren die Worte die mir zu diesem Raum einfielen. Doch der wirkliche Augenfang war das Keyboard an der Wand. Ein riesiges Teil, auf einem Ständer, das so viele Knöpfe hatte, dass man vermutlich mehr als ein Jahr bräuchte, um alle Funktionen zu beherrschen. Es gab sogar ein kleines Display über den Tasten.

„Das ist mein ganzer Stolz“, erklärte Nick und strich liebevoll über das silberne Gehäuse. „Ein Yamaha PSR 8000.“

„Und du kannst darauf spielen?“

Er lächelte mich an. „Natürlich. Möchtest du etwas hören?“

„Gerne.“

Nach einem kurzen Kuss ließ er meine Hand los. „Dann such die einen Platz und genieße die Show.“ Er stellte sich vor das Gerät und schaltete es ein, während ich mit der Frage beschäftigt war, wo ich mich hinsetzten sollte. Es gab keine Stühle, also blieb eigentlich nur das Bett, außer ich wollte mich zwischen das Gerümpel auf den Boden setzen.

Zwischen zerknitterten Decken und Kissen ließ ich mich auf die weiche Matratze sinken. Das Bett war zwar nicht gemacht, aber im Gegensatz zum Rest des Zimmers gab es hier kein Gerümpel. Im Schneidersitz beobachtete ich, wie Nick ein paar Knöpfe drückte und mich dann anlächelte.

„Bereit?“

„Bereit wenn du es bist“, lächelte ich.

„Okay.“ Er wandte sich wieder zu dem Instrument, drückte einen Knopf und dann spielte das Gerät von ganz allein einen schnellen Beat im dreiviertel Tackt. Nicks Fuß tippte dabei immer wieder auf den Boden. Er wartete einen Moment, drückte die erste Taste und …

Etwas flog nebenan gegen die Zimmerwand. Was folgte konnte ich nicht verstehen, aber es war eindeutig die Stimme von Reese.

„Ich glaube dein Bruder fühlt sich von uns belästigt.“

Nick seufzte, beendete aber den Beat. „Wenn ich spielen will, fühlt er sich immer belästigt.“ Er verzog einen Moment die Lippen, als überlegte er ob er Reese einfach ignorieren sollte, stellte das Keyboard dann aber ganz aus. „Dann muss ich dir das eben ein anderes Mal zeigen.“

Ich zuckte mit den Schultern. „Ist doch okay, bin ja beistimmt nicht das letzte Mal hier.“

„Das will ich doch hoffen.“ Lächelnd drehte er sich herum, grinste mich dann breit an und warf sich urplötzlich mit einem Schrei neben mich in das Bett.

Im ersten Moment war ich so erschrocken, dass ich vor ihm zurück zuckte, aber da griff er schon nach mir und riss mich an der Taille zurück, bis ich mit dem Rücken halb auf ihm lag. „Nick!“, mokierte ich mich, doch er lachte nur leise in mein Ohr und drückte mich fester an sich. Und dann spürte ich seine Lippen auf meinem Nacken. Es war nur ein Hauch, kaum eine Berührung, doch das Kribbeln fuhr sofort in meinen Körper.

Überrascht wandte ich ihm mein Gesicht zu.

Grinsend strich er mit seiner Nase über meiner. „Guck nicht so entsetzt.“

Hastig senkte ich den Blick und biss mir auf die Lippe.

„Hey.“ Er ließ mich los und stützte sich auf die Seite, sodass ich halb unter ihm lag. „Hast du etwa Angst?“

Hatte er mir die gleiche Frage nicht schon einmal gestellt? Direkt bevor er mich das erste Mal geküsst hatte? Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich wollte sagen, dass es doch albern wäre Angst zu haben, dass es dafür doch gar keinen Grund gab, doch seine blauen Augen, die mich so intensiv musterten, ließen es einfach nicht zu, dass auch nur ein Wort über meine Lippen kam. Und wieder wurde mir klar, wie allein wir hier doch waren. Nur er und ich. In seinem Bett. War ich eigentlich noch ganz bei Trost?

„Du bist nervös.“

Meine Lippen teilten sich leicht, nur um dann ganz schnell wieder zuzuklappen. Seine Nähe war mir im Moment viel zu bewusst. Und wieder einmal traf mich die Frage, ob ich mich in ihn verliebt hatte. Fühlte sich das so an?

Evangeline war einmal verliebt gewesen. Sie hatte mir gesagt es wäre wie ein riesiges Feuerwerk, doch das hier fühlte sich nur nach einer kleinen Wunderkerze an. „Ähm …“, machte ich, da er offenbar auf etwas zu warten schien, ich aber keine Ahnung hatte, was das sein könnte.

Er lächelte mich an, zeigte dabei einen Hauch seiner strahlenden Zähne. „Immer wenn du nervös wirst, dann wirst du so still.“

Eine Hand legte sich an meine Wange. Der Daumen strich über mein Kinn, zog dann die Linie meiner Unterlippe nach und wieder spürte ich bei dieser Berührung die Wunderkerze aufglühen.

„Du brauchst nicht nervös sein“, flüsterte er. Sein Gesicht schwebte nur ein Hauch über meinem, während seine Finger immer noch an meinem Gesicht lagen. Nur langsam wanderte seine Hand in meinen Nacken und hielt mich fest, als wollte er verhindern, dass ich einfach entschwand. „Okay?“

Fragte er mich jetzt, ob es in Ordnung war nicht nervös zu sein, oder wollte er damit die Einwilligung zu etwas anderem haben?

Vielleicht war das der Moment, in dem ich wirklich einfach mal etwas riskieren sollte. Was konnte schließlich groß passieren? Und es fühlte sich so gut an ihn so nahe bei mir zu haben. „Okay“, sagte ich daher etwas zögernd.

Lächelnd strich Nick mit den Lippen über meine Narbe, küsste sie leicht und ließ die Wunderkerze damit hell aufleuchten. „Okay“, hauchte er und legte seine Stirn an meine.

Ich fühlte seinen Atem im Gesicht, spürte seinen Blick eher als dass ich ihn sah, so nahe war er. Und es war … angenehm. Seine Finger die vorsichtig durch das Haar in meinem Nacken strichen, sein Körper der sich leicht gegen mich presste. Er lag neben mir und doch hatte ich das Gefühl er würde mich gefangen halten. Ich schluckte bei diesem Gedanken. Er hielt mich wirklich fest, aber es war nicht unangenehm.

„Kennst du Danger-stop?“

Danger-stop? Ich runzelte die Stirn. Was sollte das sein? Und warum fragte er mich das ausgerechnet jetzt? „Ist das ein Computerspiel?“

Er lachte leise, schloss dabei die Augen und ließ seine Hand von meinem Nacken über meinen Hals wandern. Erst am Schlüsselbein stoppte er. „Es ist eine Art Spiel, aber mit Computern hat das nichts zu tun.“ Langsam strichen die Finger wieder hinauf. „Es bedeutet nichts anderes als das du Stopp sagst, wenn ich etwas tue, was du nicht willst.“ Seine Augen öffneten sich wieder und der Blick war so eindringlich, dass er mir richtig unter die Haut ging. „Verstanden?“

Und ob ich das verstanden hatte. Deutlicher ging es ja kaum, doch konnte ich das wirklich tun? Andererseits, was sollte mich davon abhalten? Ich war alt genug, um mit diesen Dingen anzufangen. Bei diesen Gedanken beschleunigte sich mein Herzschlag.

Renn mit mir ins Blaue, Grace. Mal sehen was wir dort so finden.

Warum nicht? Was sollte schon passieren? Wenn er zu weit ging, konnte ich immer noch aussteigen. Okay, genauso würde ich es machen, aber da ich offenbar das Sprechen verlernt hatte, nickte ich nur. Eine kaum wahrnehmbare Bewegung, doch Nick registrierte sie.

Lächelnd beugte er sich über mich. Der Griff in meinem Nacken wurde fester, als seine Lippen auf meine trafen und mich fast schüchtern liebkosten. Es war nicht ganz so berauschend wie beim ersten Mal, doch das Kribbeln war wieder da und lockte mich, ihm zu folgen. Es war … angenehm.

Langsam glitt seine Hand aus meinem Nacken, strich über meinen Hals weiter zu meiner Schulter, den Arm hinunter bis sie auf meinem Handrücken zum Liegen kam.

Meine Finger zuckten, als wollten sie eigenständig nach ihm greifen, aber mein Kopf war viel zu beschäftigt um dem nachzukommen. Alles, was meine Gedanken erfüllte, war Nick. Sein Geruch, sein Geschmack, seine Liebkosungen, die mir einen Schauer nach dem anderen über den Rücken jagten. Seine Nähe, dieses Gefühl, das war alles so neu, so aufregend. Allein von dem leichten Streicheln seiner Finger, schlug mein Puls schneller. Warum nur hatte ich so etwas vorher noch nie ausprobiert? Warum so lange warten? Es war einfach unglaublich!

Nicks Lippen wurden drängender. Seine Zunge schlüpfte in meinen Mund und spielte mit meiner. Er nahm meine Hand und legte sie sich in den Nacken. Dann rollte er sich halb auf mich. Doch als er dann ein Bein zwischen meine schob und mit seinem Schenkel gegen meine Mitte drückte, ruckte ich erschrocken vor ihm zurück und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Nicht weil es unangenehm war – ganz im Gegenteil, ich hatte dabei ein angenehmes Ziehen im Unterleib gespürt – ich war einfach nur so überrascht.

Nick verringerte den Druck sofort, forschte in meinen Augen nach dem Grund für den abrupten Rückzug.

„Zu schnell?“ Sein Daumen strich liebkosend über meiner Wange.

Unter dem fragenden Blick biss ich mir auf die Unterlippe. Nein, es war nicht zu schnell, es war nur … ungewohnt. Ich hatte das Gefühl, dass mein Körper nur noch aus Hormonen bestand, die da drin eine Riesenparty schmissen. Und als er mit seinem Bein eben das da getan hatte, da konnte ich einen Moment dieses Feuerwerk spüren, von dem Evangeline mir erzählt hatte – nur ein kleines, aber es war da gewesen.

Als ich still blieb, wanderte Nicks Daumen von meiner Wange bis zu meiner Unterlippe, zog die hässliche Narbe nach, als hätte er nie etwas Vollkommeneres gesehen.

Ich schluckte, nahm allen meinen Mut zusammen und schüttelte den Kopf leicht. „Nein“, flüsterte ich. „Das war … okay.“

Nicks Blick war unergründlich. Eindringlich ruhte er auf mir, während seine Finger weiter mein Gesicht liebkosten und dann langsam über meinen Hals zu meinem Schlüsselbein strichen. Genau in diesem Moment drückte er seine Schenkel wieder gegen meine Mitte und ich konnte gar nicht verhindern, dass sich meine Augen flatternd schlossen. Meine Hand krallte sich in seinen Nacken. Ich spürte das weiche Haar unter meinen Fingern und konnte nicht widerstehen, vorsichtig hindurch zu streichen.

„Sag einfach stopp“, flüsterte er und strich mit seinen Lippen über meine, bis sich das Kribbeln über meinen ganzen Körper ausbreitete. Er liebkoste meinen Mundwinkel, fuhr mit den Lippen zu meiner Kinnlinie, strich mit ihnen über meinen Hals.

Ich merkte kaum wie fest ich ihn hielt, doch war mir sehr bewusst, wie ich meine freie Hand hob und zögernd über den Stoff seines Shirts strich, das sich über seinem Rücken spannte. Nur vorsichtig, weil ich nicht genau wusste, was ich machen sollte.

Nick ließ mich einfach gewähren, küsste meine Halsbeuge, biss dort leicht in die Haut.

Ein angenehmes Ziehen quälte sich durch meinen Körper bis in den Unterleib und als Nick sein Bein fester gegen mich drückte, schnappte ich überrascht nach Luft.

„Schhh“, machte er leise und legte seine Lippen wieder auf meine.

Ich schlang meine Arme fester um ihn und wagte es mich sogar seinen Rücken hinunter zu streichen und das kleine Stückchen nackter Haut über dem Hosenbund zu berühren. Dabei kam ich mir so linkisch vor, dass mir die Hitze in die Wangen schoss. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Nick seine Hand tiefer gleiten ließ. Wie zufällig streifte er meine Brust, was meinen ganzen Körper prickeln ließ. Über meinem Brustkorb zu meinem Bauch, wo er die Hand unter mein Shirt gleiten ließ, um wieder nach oben zu streichen. Dabei blieb sein Mund unentwegt in Bewegung, spielte mit mir, ließ mich alles noch intensiver fühlen. Und auch meine Hand wurde forscher. Wenn er meine Haut berührte, durfte ich das sicher auch.

Ich schob sie vorsichtig über die straffe Haut, strich dabei sein Shirt hoch.

Plötzlich unterbrach er den Kuss. Hastig richtete er den Oberkörper auf, zog sich sein Shirt über den Kopf und warf es einfach achtlos zur Seite. Dabei glänzen seine Augen leicht verklärt. Dann war er wieder über mir. Und hatte ich vorher schon geglaubt, der Kuss wäre drängend gewesen, so war ich nicht auf seine stürmische Art gefasst gewesen, der ich jetzt begegnete. Seine Berührungen waren nun intensiver, nachdrücklicher und in mir stieg eine nie gekannte Hitze auf. Es war ein Trieb der mich dazu brachte, ihm entgegen zu kommen. Sein Atem wurde schneller und ich konnte seine Erregung deutlich spüren. Er nahm meinen Mund nicht nur gefangen, er eroberte ihn und als würde ihm das nicht mehr reichen, fuhr er mit gespreizten Fingern meine Arme hinunter, über meine empfindlichen Seiten.

Ich erschauerte unter ihm, strich mit beiden Händen über seinen Rücken, um sie dann in seinen Haaren in seinem Nacken zu vergraben. War es normal, dass Männer so weiches Haar hatten?

Ich wusste nicht genau wie es geschah, aber auf einmal legte ich ganz von selbst ein Bein um ihn, drückte ihn gegen mich. Seinem Mund entkam ein leises Stöhnen.

Seine Hände fassten nach dem Saum meines Shirts, schoben es hoch, immer höher.

Einen Moment war ich versucht „Stopp!“ zu rufen, doch ihn Haut an Haut zu spüren war ein so fantastisches Gefühl, dass ich ihn einfach gewähren ließ.

Er unterbrach unseren Kuss, rutschte ein Stück herunter um meinen Bauch mit seinen Lippen zu liebkosen. Dabei schob er mein Shirt immer höher.

Ich bekam eine Gänsehaut. Mein Atem ging viel zu schnell und mein Herz schlug mir bis zum Hals, als er mich kurzerhand hochzog, um mir das Shirt über den Kopf zu streifen. Ich bekam gar nicht die Zeit, verlegen zu werden. Noch nie hatte ein Mann mich nur in BH gesehen. Aber es war egal, als seine Lippen wieder die Haut an meinem Hals liebkosten.

Ich, halb sitzend, er über mir kniend, bekam ich kaum Luft. Die Hitze in mir stieg weiter an. Ich schloss die Augen, während ich mich an seine Schultern krallte und schnappte nach Luft, als er nun zielsicher über meine Brust strich.

Er senkte den Kopf, hauchte Küsse auf mein Dekolleté, sog die Haut in den Mund. Seine Hand strich über den BH, strich über meine Brust, versuchte den Stoff beiseite zu schieben, nur um ganz abrupt still zu verharren. Sein Atem ging nicht weniger heftig als meiner. Ich konnte ihn heiß auf meiner Haut spüren, nur verstand ich nicht, warum er plötzlich aufhörte.

„Shit“, flüsterte er und ließ seine Hand von meiner Brust gleiten.

Shit? Hatte ich etwas falsch gemacht? Verunsichert ließ ich seine Schultern los, doch sobald ich den Hautkontakt zu ihm verlor, griff er nach meinen Händen und hielt sie einfach nur fest. Dabei atmete er tief durch, als müsste er sich beruhigen.

Also langsam irritierte mich sein Verhalten. „Was ist denn los?“, fragte ich vorsichtig.

Er gab einen gequälten Laut von sich, der sich halb wie ein Lachen anhörte. „Keine Kondome.“

Keine … „Oh.“

„Ja, oh.“ Er löste sich halb von mir, sah mich mit diesem verschleierten Blick an. „Und ich gehe nicht davon aus, dass du die Pille nimmst, oder?“

Sehr langsam schüttelte ich den Kopf. Wozu auch? Bisher hatte dazu keine Notwendigkeit bestanden.

„Das habe ich mir gedacht.“ Seufzend legte er eine Hand an meine Wange, hauchte mir einen Kuss auf die Lippen. Natürlich bemerkte er meinen verunsicherten Blick. „Wenn ich gewusst hätte …“ Er ließ den Satz unbeendet in der Luft hängen, als sei ihm gerade ein Gedanke gekommen. „Reese hat sicher Kondome.“ Nachdenklich zog er die Augenbrauen zusammen. „Aber wenn ich den jetzt wecke, bringt er mich garantiert um.“

Ich sagte es nicht, doch insgeheim war ich sehr froh darüber. Jetzt mit Nick zu schlafen, das wäre … das konnte ich einfach nicht. Nicht dass er nicht lieb und toll war, aber trotz der ganzen Gefühle die er in mir auslöste, fühlte es sich nicht richtig an diesen Schritt jetzt zu wagen. Trotzdem kam ich nicht umhin mich zu fragen, ob ich wirklich mit ihm geschlafen hätte, wenn die Verhütung uns nicht dazwischen gefunkt hätte. Ehrlich gesagt hatte ich selber keinen Augenblick daran gedacht. Was war nur los mit mir? Ich war doch sonst nicht so verantwortungslos. Schaffte dieser Kerl es wirklich, mir so sehr den Kopf zu verdrehen, oder lag es einfach nur daran, dass alles so neu und aufregend war?

„Hey“, sagte Nick sanft, den Ausdruck in meinem Gesicht falsch interpretierend. „Aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben. Okay?“

Zögernd nickte ich. „Okay.“

Seufzend schloss er die Augen. „Okay“, flüsterte er ein weiteres Mal, als müsste er sich meine Erwiderung selber bestätigen und ließ sein Gesicht an meine Schulter sinken, um einen leichten Kuss draufzuhauchen. Seine Hände hielten meine noch immer gefangen. Es erweckte den Anschein, als müsste er mich festhalten, damit ich nicht einfach verschwinden konnte.

Auch wenn andere Stellen meines Körpers immer noch nach Aufmerksamkeit lechzen, normalisierte sich mein Herzschlag langsam. Ich war versucht, meine Hand aus seinem Griff zu befreien, wollte ihm über die Schulter streichen, doch er hielt mich noch fester. Das fand ich merkwürdig, aber ich sagte nichts dagegen. Einfach nur hier mit ihm zu sitzen und ein paar Minuten nichts anderes zu tun als seine Wärme zu spüren war völlig okay. „Und was machen wir jetzt?“

Ich hörte sein leises Lachen kaum, dafür spürte ich es an meiner Haut.

„Mach einen Vorschlag.“

„Bedenkt man die Uhrzeit, sollte ich vielleicht nach Hause fahren.“

„Nein!“

Bei dem entschieden harschen Tonfall wölbte sich meine Augenbraue leicht nach oben.

Nick löste sich von mir und nahm mein Gesicht zwischen die Hände. „Du fährst um die Zeit nicht mehr nach Hause. Du schläfst hier. Bei mir.“

Klang das nur in meinen Ohren wie ein Befehl, oder war es wirklich einer? Ich musterte sein Gesicht, den seltsamen Blick, bei dem sich mir die Nackenhärchen aufstellten. Irgendwas stimmte an diesem Blick nicht, irgendwas riet mir vorsichtig zu sein, aber ich verstand nicht was und vor allen Dingen nicht warum.

„Hier.“ Nick rutschte von mir runter und schlug die Decke zur Seite. „Du kannst hier schlafen, bei mir.“

Ich biss mir auf die Lippen. Er hatte schon Recht, es war wirklich verdammt spät und ich war nicht gerade versessen darauf jetzt noch nach Hause zu fahren. Wahrscheinlich würde ich im Bus einfach einschlafen und dann dort die Nacht verbringen, aber ich kannte Nick doch noch gar nicht so lange. In den zwei Jahren die ich Domenico kannte, hatte ich noch nicht mal bei ihm geschlafen und ihn zählte ich zu meinen besten Freunden. „Ich habe aber gar keine Schlafsachen hier“, versuchte ich ihn und mich ein letztes Mal davon zu überzeugen, dass es doch das Beste wäre, wenn ich einfach nach Hause fuhr.

„Kein Problem.“ Nick erhob sich und trat vor sein Regal, aus dem er ein großes Shirt rauszog. Dass er dabei den ganzen Stapel auf den Boden schmiss, schien er nicht einmal zu bemerken. Er kniete sich einfach wieder zu mir auf das Bett und zog mir das Shirt über den Kopf. „Darin kannst du schlafen.“

Okay, jetzt weiter nach Ausreden zu suchen wäre einfach nur lächerlich. Er hatte mich schließlich nicht gebeten bei ihm einzuziehen, oder ihn zu heiraten. Ich sollte einfach nur die Nacht – oder das was von ihr noch übrig war – bei ihm verbringen. „Ich hoffe du schnarchst nicht.“

Er grinste schief und plötzlich war er wieder der Nick den ich kennengelernt hatte. „Das hoffe ich auch.“

Schmunzelnd stand ich auf und entledigte mich meiner Socken und meiner Hose. Nick behielt mich dabei ganz genau im Auge. Das Shirt reichte mir gerade mal bis zu den Oberschenkeln, aber für eine Nacht würde es schon gehen. Doch dann zögerte ich wieder einen Moment, bevor ich zurück zu ihm ins Bett stieg. Es wäre das erste Mal, dass ich bei einem Kerl übernachtete. Ein weiteres, das erste Mal mit Nick. Der erste Kuss, die erste Berührung, das erste Sehnen. Und fast hätte ich auch das erste Mal mit ihm verbracht.

Nick bemerkte mein Zögern. „Komm her.“ Er hielt mir auffordernd die Hand hin und zog mich zu sich ran, hauchte mir dann einen Kuss auf die Lippen, bevor er mich zudeckte. Das war … seltsam. „Bin gleich wieder da“, flüsterte er noch immer grinsend.

Als er sich erhob, schwankte die Matratze unter ihm. Zwei Meter durch das Zimmer, ein kurzer Blick in meiner Richtung, dann schlüpfte er durch die Tür nach draußen und ließ mich allein in seinem Bett liegen.

Zeit einmal tief durchzuatmen und die letzten Minuten Revue passieren zu lassen. Ich hatte mit Nick rumgeknutscht. Und zwar nicht nur so ein bisschen. Bei dem Gedanken stahl sich ein Lächeln auf meine Lippen. Ich hatte mit ihm rumgeknutscht und jetzt lag ich in seinem Bett, um bei ihm zu schlafen. Dabei verspürte ich so eine kindische Freude, dass ich fast über mich selber die Augen verdreht hätte. Ich konnte mich gerade noch daran hindern, wie ein kleines Schulmädchen albern loszukichern. Aber es war einfach so unglaublich.

Heimlich vor mich hinlächelnd rollte ich mich auf die Seite und vergrub das Gesicht in Nicks Kissen. Es roch nach ihm. Ich bekam glatt das Gefühl mich mit ihm eingewickelt zu haben. Nun wurde aus dem dümmlichen Lächeln doch ein leises Kichern.

„Was ist so lustig?“

Ertappt fuhr ich hoch. Nick lehnte grinsend am Türrahmen und sah zu, wie ich langsam die Farbe einer Tomate annahm. Sein Leib wurde nur noch von ein paar Boxers geziert. Schluck.

„Ähm …“, machte ich nicht sehr geistesgegenwärtig und strich mir verlegen das wirre Haar aus dem Gesicht. War ja irgendwie klar gewesen, dass er ausgerechnet in dem Moment auftauchen musste, als ich gerade mit seinem Kissen kuschelte. „Ich musste gerade nur an etwas Witziges denken.“

Leise lachend trat Nick ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Er schaltete das Licht aus und dann hörte ich, wie er sich durchs Zimmer bewegte. Dass er dabei nicht über allen möglichen Krempel stolperte um sich dann das Genick zu brechen, grenzte wohl schon an ein Wunder, doch er kam unbeschadet bei der Matratze an.

Das Bettzeug raschelte. Ich spürte wie er die Decke anhob und zu mir unter die Decke robbte. Plötzlich war ich wieder nervös und konnte nicht verhindern, dass sich meine Zähne erneut in meine Unterlippe gruben.

Natürlich bekam er davon nichts mit, machte es sich neben mir nur bequem und zog mich dann in seine Arme, bis mein Gesicht an seiner Brust lag und mir wieder sein Geruch in die Nase stieg. Ich spürte wie er tief Luft holte und mit dem Ausatmen sich die Ruhe der Nacht über uns legte. Und auch wenn ich die Augen schloss, schlafen konnte ich noch lange nicht. Dafür war seine Gegenwart einfach viel zu präsent.

 

°°°

 

Ein Kuss in den Nacken, zog mich langsam aus der Welt der Träume in die Realität. „Hm, daran könnte ich mich gewöhnen“, murmelte ich noch ganz schlaftrunken.

Nick lachte leiser hinter mir und zog mich fester in seine Arme. „Das kannst du jeden Morgen haben.“

Das würde mir gefallen. Lächelnd drehte ich mich zu ihm herum. Seine Augen waren noch schläfrig und hingen auf Halbmast und seine Haare standen verführerisch nach allen Seiten ab. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, hob die Hand und wollte ihm hindurchfahren, doch bevor ich ihn berühren konnte, schoss seine Hand blitzschnell zu und hielt mich fest.

Mein Lächeln verrutschte ein wenig. Deutlicher hätte er es mir nicht sagen können, dass ich ihn nicht anfassen sollte. „Ich … tut mir leid, ich wollte nicht …“ Ich drückte die Lippen fest aufeinander und wich seinem Blick aus. Gestern durfte ich das doch auch, warum heute nicht mehr?

Nick zog meine Hand zu seinem Mund und hauchte einen Kuss auf die Knöchel. „Was tut dir leid?“

„Dass ich … ich dachte nur … ich …“

„Grace“, unterbrach er mein Gestotter. Er ließ mich los und beugte sich über mich. Dabei glitt die Decke bis zu seiner Hüfte hinunter und gab den Blick auf seine prächtige Brust frei. „Alles ist gut. Ich mag es nur nicht, wenn man meinen Kopf berührt.“

„Aber gestern habe ich doch auch … also, als wir …“ Ich spürte wie die Hitze in meine Wangen kroch. „Ich meine …“

Nick beendete mein Stammeln mit einem Kuss. Kurz aber intensiv spürte ich seine Lippen, bevor er seine Stirn an meine lehnte. „Du hast mich im Nacken berührt, nicht am Kopf.“

Ja, aber ich war ihm doch auch durch die Haare gefahren. Aber vielleicht mochte er es ja auch einfach nur nicht oben am Kopf berührt zu werden. „Okay, aber …“ Ich biss mir auf die Unterlippe. Nein, das konnte ich ihn nun wirklich nicht fragen.

„Aber was?“

„Ist schon gut.“

Nick legte sich wieder zurück, zog mich dabei aber mit, bis ich ihm gegenüber lag und er mein Gesicht sehen konnte. Fasziniert zog er die Konturen nach. Kinn, Mund, Narbe, Wangenknochen. „Sag es mir Grace, ich will es wissen. Aber was?“

„Naja, ich … du … also wenn es da noch andere Stellen gibt, also, ich meine, ist das nur dein Kopf, oder … naja, wenn ich dich anfasse …“ Gott, meine Wangen waren so heiß, dass ich sicher mit einer Tomate konkurrieren könnte und als Nick dann auch noch leise lachte, befand sich wohl mein ganzes Blut in meinem Kopf.

„Der Kopf ist tabu, aber ansonsten kannst du mich überall anfassen.“ Er nahm meine Hand und legte sie sich an die stopplige Wange, die sich rau und weich zugleich unter meinen Fingern anfühlte. „Hier“, sagte er leise, legte meine Hand dann an seine Brust, genau über sein schlagendes Herz. Es pochte gleichmäßig, ruhig. Es war ein schönes Gefühl. „Hier“, sagte er wieder und führte meine Hand tiefer über seinen Körper, bis zu seinem Bauchnabel, an dem ein dunkler Flaum ansetzte, der in seinen Shorts verschwand. „Auch hier. Und wenn du möchtest …“

Ich riss meine Hand weg, bevor er sie noch tiefer schieben konnte. „Okay, ich glaub ich hab verstanden.“ In der Zwischenzeit war ich mir sicher einen Tomatenkopf zu haben. „Überall, nur nicht am Kopf.“

Wieder lachte er leise. „Ja, überall und ganz ohne Hemmungen.“

Wie er das sagte und wie er mich dabei ansah, das war … das war … „Ich muss aufs Klo!“, verkündete ich und sprang praktisch aus dem Bett. Natürlich hörte ich Nicks Lachen, als ich aus seinem Zimmer floh, aber das war … oh Gott! Ich meine, okay, wir hatten gestern miteinander rumgeknutscht, aber irgendwie war es doch etwas ganz anderes in Bereiche vorzudringen, von denen ich bisher nur im Biologieunterricht in der Schule gehört hatte.

Okay, ich war achtzehn, aber vollkommen unerfahren und dann einfach so ins kalte Wasser gestoßen zu werden, ging dann doch ein wenig zu schnell. Deswegen war die Flucht ins Bad erst mal das Beste, was ich tun konnte. Und da die Natur nach dem Aufstehen sowieso nach ihrem Recht verlangte, konnte ich das Praktische gleich mit dem Nützlichen verbinden, bis die Farbe meiner Wangen sich wieder normalisiert hatte. Das kühle Wasser am Waschbecken trug dazu auch seinen Teil bei. Trotzdem erwischte ich mich beim Blick in dem Spiegel wieder beim Lächeln.

Wie er mich geweckt hatte, das war einfach … naja, süß klang irgendwie kitschig, aber genau das war es gewesen. Nick war süß, selbst mit diesem komischen Kopftick und wenn ich endlich aufhören könnte in seiner Gegenwart so nervös zu sein, könnte ich es vielleicht sogar genießen.

Mit nun endlich wieder normaler Gesichtsfarbe, verließ ich das kleine Bad, das im Gegensatz zum Rest der Wohnung recht sauber wirkte. Nicht ordentlich, aber wenigstens sauber. Vor Nicks Zimmertür befahl ich mir noch einmal tief durchzuatmen. Cool bleiben war alles, dann konnte auch nichts schief gehen. Entschlossen öffnete ich dir Tür, nur um Nick splitterfasernackt mitten im Zimmer hocken zu sehen. Scheinbar war er gerade dabei sich umzuziehen.

Ich gab ein sehr mädchenhaftes Quietschen von mir und schlug die Tür hastig wieder zu. Oh Gott, das hatte er doch sicher mit Absicht getan. Das war einfach … oh Gott! Ich schlug die Hände vors Gesicht und fragte mich, warum es mir eigentlich so peinlich war, schließlich war ja nicht ich es gewesen die dort nackt stand. „Mist, Mist, Mist, Mist.“ Okay, er hatte schon eine sehr hübsche Kehrseite, aber sie so unvorbereitet vorgesetzt zu bekommen, das …

Die Tür ging wieder auf. „Grace?“

Ertappt ließ ich die Hände fallen. Ich hatte zwar nichts getan, aber hier so vor seiner Tür zu stehen … ich fühlte mich eben ertappt. Und auch wie meine Wangen wieder heiß wurden. „Tut mir leid, ich wusste nicht …“

„Hey, ist doch nicht schlimm. Das hättest du früher oder später doch sowieso gesehen, oder?“

Oh nein, bitte, bitte, bitte, nein. „Ich geh in die Küche.“ Auf dem Absatz machte ich kehrt und ergriff dann zum zweiten Mal an diesem Tag die Flucht. Gott, warum musste mir das nur passieren? Das war sooo peinlich.

In der Küche steuerte ich sofort das Waschbecken an und schüttete mir das Wasser direkt aus dem Hahn in den Mund. Es brachte nicht wirklich etwas, aber so war ich wenigstens einen Augenblick beschäftigt. Seufzend stützte ich mich an der Anrichte ab und ließ den Kopf hängen. Dabei fragte ich mich, warum ich eigentlich so einen Aufstand machte. Es war doch nur ein nackter Kerl. Jeder Kerl war irgendwann mal nackt.

Das hättest du früher oder später doch sowieso gesehen.

Zu schnell, viel zu schnell. „Stopp“, flüsterte ich, obwohl es albern war. Das Problem war wohl einfach, dass Nick die Erfahrung hatte die mir fehlte und sich gar nicht bewusst war, dass ich das so nicht konnte. Schon als er meine Hand immer tiefer geführt hatte …

„Das darf doch wohl nicht wahr sein“, donnerte es da fassungslos hinter mir.

Ich wirbelte herum.

Reese stand in nichts als einer Jogginghose im Türrahmen und starrte meine Erscheinung entgeistert an. Ich, in nichts als Unterwäsche und einem Shirt von Nick das mir gerade Mal bis auf die Oberschenkel reichte. Und meine Haare sahen vom Schlaf wohl noch genauso zerwühlt aus wie seine.

Sein Mund wurde zu einem wütenden Strich. „Sag mir nicht, dass du die Nacht hier verbracht hast.“

„Ich wüsste nicht was dich das angeht.“ So war es ja auch. Ich verstand sowieso nicht, warum er ständig versuchte, sich einzumischen.

Er musterte mich erneut. Seine Augen flogen über jeden Zentimeter meines Körpers, bis sie dann an meinem Gesicht hängen blieben. „Wo ist Nick?“

„Er zieht sich gerade an.“

„Das ist doch … bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen?!“, brüllte er mich plötzlich an. „Das hier ist doch kein Puff! Ich habe dir gesagt, dass du dich von ihm fernhalten sollst! Hätte ich gewusst dass du so ein billiges Flittchen bist …“

„Pass auf was du sagst“, knurrte ich dazwischen.

„Warum sollte ich? Nur kleine Schlampen lassen sich schon nach so kurzer Zeit durchvögeln! Pack deine Sachen und verschwinde hier! Du wirst nie wieder einen Fuß in diese Wohnung setzen, hast du verstanden?!“

„Ich bin keine Schlampe“, sagte ich mit festem Blick auf ihn. Ich wollte es nicht zugeben, aber dass er sowas von mir dachte verletzte mich.

„Ach nein?“ Er kam durch die Küche marschiert und baute sich drohend vor mir auf. „Wie würdest du es dann nennen? Du kennst Nick seit nicht mal einer Woche und schon landest du in seinem Bett! Wenn das nicht die Bedeutung einer herumhurenden Schlampe ist, dann sag mir doch mal, wie ich dich sonst nennen soll.“

„Ich bin dir keinerlei Rechenschaft schuldig.“

Reese verengte seine Augen zu Schlitze. „Halt dich einfach von Nick fern.“

Das gab es doch einfach nicht. „Warum? Glaubst du ich verderbe deinen ach so kostbaren Bruder? Meinst du ich habe einen schlechten Einfluss auf ihn? Dann fass dir mal an die eigene Nase, Mister-ich-verkaufe-Proles! Und wage es nicht noch mal, mich als Schlampe oder ähnliches zu bezeichnen!“

„Verschwinde einfach und lass dich hier nicht mehr blicken!“

„Was ist eigentlich dein Problem?!“

„Was mein Problem ist?! Du bist mein verfluchtes Problem! Seit dem du aufgetaucht bist geht alles schief!“

„Aber das ist doch nicht meine Schuld! Das hast du dir alles selber zuzuschreiben! Du bist doch der Blödmann der sich auf verbotene Dinge einlässt und …“

„HAU ENDLICH AB!“, brüllte er schwer atmend.

Unter der Wucht seiner Worte zuckte ich zusammen, doch ich kam nicht weg. Er versperrte mir den Weg und hinter mir war die Anrichte.

Seine Augen funkelten vor Wut und ich konnte gegen den plötzlich aufkommenden Kloß in meinem Hals nichts tun.

„Und wag es nicht noch einmal, hier aufzutauchen.“

Aus dem Flur näherten sich Schritte und gleich darauf erschien Nick in der Küche. „Was ist denn mit euch los?“

„Gar nichts“, sagte Reese, doch sein bohrender Blick war weiter auf mich gerichtet. „Grace möchte jetzt nach Hause gehen.“

„Ja, weil Huren in diesem Haushalt nicht erwünscht sind!“, gab ich bissig zurück und drängte mich an Reese vorbei. Ich wich auch Nick aus, rannte einfach in sein Zimmer, um mich in Rekordgeschwindigkeit anzuziehen. Ich hatte es nicht verdient, so beleidigt zu werden, denn ich hatte nichts Falsches getan. Nick wollte dass ich hier schlafe, er hatte mir praktisch verboten nach Hause zu fahren.

Ich verstand es einfach nicht, ich verstand ihn nicht. Und das schlimmste war, dass seine Worte mich wirklich verletzten.

Flittchen.

Schlampe.

Der Kloß in meinem Hals wurde immer größer. Was hatte ich denn bitte getan? Ich mochte seinen Bruder, daran war doch nichts Schlimmes.

Gerade als ich wieder aus dem Zimmer wollte, um meine Sachen aus der Küche zu holen, stand Nick plötzlich vor mir.

„Hey, wo willst du denn so plötzlich hin?“

„Nach Hause.“ Ich wollte mich an ihm vorbei drängen, wollte einfach nur weg, aber Nick hielt mich am Arm fest.

„Nein, du bleibst hier. Ich dachte wir machen uns einen schönen Tag.“

„Tja, das sieht dein Bruder offensichtlich anders.“ Ich riss mich von ihm los und hasste mich dafür, dass meine Augen plötzlich brannten. Aber ich würde nicht heulen, diese Befriedigung würde ich Reese nicht gönnen.

Nick folgte mir dicht auf. „Grace, bleib hier.“

Es war keine Bitte, es war ein Befehl, doch ich beachtete ihn gar nicht, schnallte mir unter Reese wütendem Blick nur meine Arbeitsutensilien um und verschwand dann gleich wieder im Flur. Ich verstand einfach nicht was hier gerade passiert war. Warum machte es Reese nur so furchtbar wütend, dass ich Zeit mit seinem Bruder verbrachte?

Ich stieß meine Füße in meine Schuhe und klaubte gleichzeitig meine Jacke vom Boden auf.

„Grace, verdammt, jetzt warte doch mal“, forderte Nick mich auf.

„Tut mir leid, aber ich muss …“ Gerade als ich nach der Türklinke griff, packte er mich am Arm und riss mich zurück. Und das nicht gerade sanft. „Au! Scheiße. Nick, du tust mir weh!“

„Niklas!“, donnerte da Reese Stimme durch den kurzen Korridor.

Sofort war die Hand von meinem Arm verschwunden und ich konnte meinen Arm zurückziehen. Das hatte wirklich wehgetan. Etwas überfordert rieb ich über die schmerzende Stelle.

Nick hatte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst und wich meinem Blick aus. Seine Hände waren an den Seiten zu Fäusten geballt, als wollte er sich daran hindern, ein weiteres Mal zuzugreifen.

Reese jedoch hatte seinen Blick ungewandt auf mich gerichtet und dieser Blick war es, der mich letztendlich aus der Wohnung vertrieb. So unendlich viel Wut.

Ich rannte einfach die Treppe hinunter, hinaus auf die Straße. Ohne wirklich wahrzunehmen, lief ich umher, fuhr mit Bus und Bahn und die ganze Zeit schwirrte diese eine Frage in meinem Kopf. Warum?

Warum war Reese so ausgetickt? Warum hatte er mich so beschimpft? Warum war es so schlimm, dass ich Zeit mit seinem Bruder verbrachte, dass ich ihn mochte? Und warum tat es weh, von ihm beschimpft zu werden? Es war ja nicht so, dass er bisher sonderlich nett zu mir gewesen wäre, aber dieses Mal war es anders gewesen. Dieses Mal hatte er mich mit seinen Worten wirklich angegriffen und mir Dinge unterstellt, die nicht mal im Entferntesten an die Wahrheit heran reichten.

Flittchen.

Schlampe.

Hure.

Ich kniff die Lippen zusammen und starrte durchs Fenster aus dem Bus. Der Himmel war zugezogen und für einen Herbsttag war es draußen verdammt kalt. Die Leute hatten ihre dicken Sachen aus den Schränken rausgekramt, liefen dick vermummt herum, um sich zu wärmen. Doch in mir herrschte eine Kälte, die sich auch mit der dicksten Winterkleidung nicht bekämpfen ließ.

Ich war nicht schuld an seinen Schwierigkeiten. Ich wusste nicht einmal was das für Schwierigkeiten waren, also warum machte er mich dafür verantwortlich? Und spätestens übermorgen musste ich ihm wieder gegenüber treten. Wie sollte ich das machen? Wie konnte ich, nachdem was er mir vorgeworfen hatte, noch seine Praktikantin sein?

Natürlich, er war auch weiterhin der beste Venator in der Gilde und ich wollte dass er mich ausbildete, aber vielleicht war es doch an der Zeit zu Jilin zu gehen. Andere Venatoren waren vielleicht nicht so gut in dem was sie taten, nicht so gut wie Reese, aber wenigstens würde ich von ihnen mit Respekt behandelt werden.

Langsam hielt der Bus an einer Haltestelle. Nur noch ein paar Stationen, dann wäre ich zu Hause. Ich musste mich zusammenreißen. Onkel Roderick war vielleicht immer ein bisschen zerstreut, aber wenn es um uns Mädchen ging, hatte er einen sechsten Sinn und ich wollte ihm kein Kopfzerbrechen bereiten. Er musste nicht wissen, was vorgefallen war. Es würde ihn nur aufregen.

Seufzend schaute ich auf die Anzeige der Stationen. Zwei Frauen stiegen ein und suchten sich schnatternd direkt vor mir Plätze. Ich versuchte mich auf ihre Worte zu konzentrieren, nahm alles was mich ein wenig ablenken konnte. Sie redeten über einen Film, der gerade erst im Kino angelaufen war. Wann war ich eigentlich das letzte Mal im Kino gewesen? Während ich versuchte diese Frage im Geiste zu klären, begann mein Handy zu klingeln.

Der Bus fuhr wieder an und tuckerte durch den Vormittagsverkehr.

Ich kramte nach meinem Telefon, doch beim Blick auf das Display zögerte ich. Es war Nick. Sofort begann die Stelle an meinem linken Oberarm wieder zu pochen. Das hatte wirklich wehgetan. In seinem Versuch mich aufzuhalten, hatte er wahrscheinlich fester zugedrückt, als es ihm bewusst gewesen war. Für einen kurzen Moment war ich versucht ihn wegzudrücken und den Anruf zu ignorieren, doch das wäre albern. Er hatte mir sicher nicht mit Absicht wehgetan und konnte schließlich nichts dafür, dass sein Bruder ein Blödmann ohne Manieren und Anstand war.

Ich nahm den Anruf entgegen und hielt mir das Handy ans Ohr. „Hey.“

„Grace, es …“ Er schwieg einen Moment und atmete dann tief durch. „Alles in Ordnung zwischen uns? Ich meine, weil du so schnell weg bist und …“ Wieder eine kurze Pause. „Alles okay?“

Bei seiner Stimme pochte mein Arm wieder, aber ich ignorierte es. „Alles okay“, beruhigte ich ihn.

Er atmete erleichtert aus, als hätte er das Schlimmste befürchtet und das war … süß. Es zauberte mir trotz allem sogar ein kleines Lächeln auf die Lippen.

„Das ist … weißt du, das mit Reese, er ist einfach … er hat mit meiner letzten Freundin eine Menge durch und will sich das kein zweites Mal antun.“

Ich richtete meinen Blick wieder aus dem Fenster. Vielleicht erklärte das einiges, aber es war keine Entschuldigung. Egal was er mit Nicks letzter Freundin durch hatte, es rechtfertigte nichts, von dem was er mir vorgeworfen hatte. „Er hatte nicht das Recht, diese Sachen zu mir zu sagen.“

„Ich weiß, aber …“ Er seufzte. „Ich weiß das.“

Nun war es an mir tief Luft zu holen. „Ich weiß nicht mal mehr, ob ich mein Praktikum bei ihm weiter machen werde.“

In der Leitung blieb es still. Ziemlich lange sogar.

„Nick?“

„Heißt das du lässt dich von ihm vergraulen? Ist das deine Art mir zu sagen, dass wir uns nicht mehr sehen?“

„Nein.“

Der Bus hielt an der nächsten Haltestelle und spuckte dort drei Leute aus, die ihre Kragen gegen den starken Wind aufrichteten.

„Das hat nichts mit dir und mir zu tun, es heißt einfach nur, dass ich ihn im Moment nicht sehen will“, erklärte ich ihm.

„Okay, aber ich darf dich sehen?“

Ich runzelte die Stirn. Warum stellte er so seltsame Fragen und versicherte sich bei allem drei Mal ob ich es wirklich ernst meinte? Nick war mir bisher nicht unsicher vorgekommen. „Natürlich. Nur werde ich nicht mehr zu euch kommen. Das musst du verstehen.“

Er lachte abgehackt. „Ja, das versteh ich. Okay. Und wann sehen wir uns dann?“

Von dieser Frage ein wenig überrumpelt, musste ich einen Moment nachdenken. „Morgen nach der Akademie habe ich ein wenig Zeit.“

„Warum nicht heute? Ich will dich sehen, Grace.“

„Ähm …“ Als der Bus sich wieder in Bewegung setzte, glitt mein Blick erneut zur Anzeige. „Du weißt doch, dass ich heute mit Eve zu Dom will.“

„Dom.“ Er sagte das, als sei es eine ansteckende Krankheit. „Du ziehst ihn mir also vor?“

„Nein, aber er hat gerade eine böse Trennung hinter sich und er ist mein Freund. Er braucht ein wenig Ablenkung.“

„Ich bin dein Freund, Grace.“

Warum sagte er das in so einem seltsamen Ton? War er wirklich eifersüchtig? Dazu bestand doch gar kein Grund. „Er braucht mich, Nick.“

Daraufhin wurde es in der Leitung wieder still, so lange, dass ich mir schon Sorgen machte, er hätte einfach aufgelegt.

„Nick?“

„Hm.“

Meine Zähne gruben sich in meine Unterlippe. Ich wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen, aber ich konnte Domenico auch nicht einfach links liegen lassen. Eigentlich resultierte daraus nur eine logische Lösung. „Möchtest du vielleicht mitkommen?“ Vielleicht war das wirklich ein guter Einfall. So würde ich Nick nicht vor den Kopf stoßen und wir könnten Domenico von seinen Gedanken ablenken.

„Ja, möchte ich.“

„Okay, dann … dann sehen wir uns bei Domenico. In Ordnung?“

„Ich brauche die Adresse.“

Warum klang er dabei nur so komisch? „Ich schicke sie dir nachher, wenn ich weiß wann wir hingehen, in Ordnung?“

Er atmete tief durch. „Okay, dann sehen wir uns heute Abend.“

„Ich freue mich“, sagte ich leise.

Das entlockte ihm ein heiseres Lachen. „Und mich erst. Bis nachher, Grace.“

„Bis nachher.“

Langsam ließ ich mein Handy sinken und kam nicht umhin mich zu fragen, was das gerade gewesen war. Nick war – um es mal vorsichtig auszudrücken – seltsam gewesen.

Den Rest des Weges war genau das Thema meiner Gedanken. Erst als ich zu Hause ankam und die Haustür hinter mir ins Schloss fallen ließ, wurde ich in Form von Onkel Roderick abgelenkt. Er kam schon aus dem Wohnzimmer geschossen, als ich noch nicht mal die Jacke ausgezogen hatte. „Grace, da bist du ja.“

„Ja, ich …“

„Wo warst du heute Nacht?“, fragte er ganz direkt. Er sah ein wenig zerrupft aus, als hätte er nach dem Aufstehen vergessen sich die Haare zu kämmen. Und auch sein Hemd war falsch geknöpft. Dabei ließ er seinen Blick hektisch über mich wandern, als müsste er sich versichern, dass ich noch in einem Stück war. Hatte er meine Nachricht nicht gelesen?

„Ich habe bei meinem Kollegen übernachtet“, sagte ich ganz nüchtern und ließ die Jacke von meinen Schultern gleiten.

„In seinem Bett?“

Ich sah ihn beinahe entsetzt an. „Nein, natürlich nicht.“ Wie konnte Onkel Roderick sowas nur fragen? Als wenn ich mich zu Reese ins Bett legen würde. Noch dazu nachdem was er mir heute vorgeworfen hatte. „Er hat noch ein Bett“, erklärte ich ruhig, ließ aber unerwähnt, dass es Nick gehörte und er auch darin geschlafen hatte.

„In Ordnung.“ Mein Onkel runzelte die Stirn. „Glaube ich.“

Seufzend hängte ich meine Jacke in die Garderobe. „Onkel Rod, ich bin volljährig. Wenn ich die ganze Nacht wegbleiben möchte, darf ich das.“

„Ja, natürlich.“ Das Stirnrunzeln wurde tiefer. „Das vergesse ich immer wieder.“

Das und alles andere auch.

 

°°°

 

Der Schlüssel klickte leise im Schloss.

Evangeline hielt sich den Finger vor den Mund, um mir stumm zu vermitteln, dass ich still sein sollte. Dann stieß sie die Tür zu Domenicos Wohnung in der Altstadt auf und verkündete lauthals: „Bin da-a, wer no-hoch?!“

Mir blieb nichts anderes übrig als über sie den Kopf zu schütteln und ihr in die Wohnung zu folgen.

„Dom?“, rief sie ein weiteres Mal, weil sie wohl befürchtete er hätte sie beim ersten Mal nicht gehört – als wenn das bei der Lautstärke möglich gewesen wäre. Ich vermutete, dass er sich gerade überlegte, womit er diesen Überfall verdient hatte.

Bewaffnet mit der Fressalientüte haperte Evangeline nicht lange und begab sich in die Tiefen der Wohnung auf die Suche nach unserem Freund. Okay, lange würde diese Suche nicht dauern können, da Domenico in einer Einzimmerwohnung lebte.

Ich zog mir in dem kurzen, hellen Flur erst mal in Ruhe Schuhe und Jacke aus, bevor ich ihr in den einzigen Raum der Wohnung folgte. Er war nicht groß, die Hälfte wurde schon von seiner ausklappbaren Couch eingenommen, aber die großen Fenster ließen das Zwielicht der Dämmerung herein und betonten die helle und freundliche Einrichtung.

„Jetzt machen wir uns einen schönen Abend“, hörte ich meine beste Freundin sagen.

Domenico saß in einer alten Jogginghose und in einem verwaschenen Shirt auf der ausgeklappten Couch und beobachtete Evangeline dabei, wie sie das ganze Essen aus der Tüte auf dem alten Holztisch verteilte. Die Decken und Kissen der Nacht lagen noch um ihn herum und ich musste mich fragen, ob wir ihn gerade aus dem Bett geholt haben.

„Hey.“ Ich legte meinen Beutel mit den DVDs zum Essen auf den Tisch und ließ mich neben Domenico auf die Couch fallen. Er hatte dunkle Ringe unter den Augen und schien heute noch nicht einmal den Weg unter die Dusche gefunden zu haben. Nicht dass er stank oder unangenehm roch, nur seine Haare waren so wild und zerzaust, dass sie ihm wortwörtlich zu allen Seiten abstanden. Auch trug er keine Socken. „Hast du die Wohnung heute überhaupt einmal verlassen?“

Er seufzte gequält. „Ich hab euch doch gesagt, dass es mir gut geht und ihr nicht herkommen sollt.“

„Ja, das sieht man sofort“, kam es ziemlich sarkastisch von Evangeline. „Du siehst aus wie das blühende Leben.“ Damit verschwand sie aus dem Raum, um sich nun auch Schuhe und Jacke zu entledigen.

Dass wir begannen, uns hier häuslich nieder zu lassen, schien Domenico sein letztes bisschen Kraft zu kosten. Er ließ sich einfach rückwärts fallen, bis er der Länge nach auf dem Sofa lag. Dabei sah er so geknickt aus, dass ich gar nicht anders konnte als nach seiner Hand zu greifen.

„Wie geht es dir wirklich? Und jetzt komm nicht wieder mit irgendwelchen dummen Ausreden. Ich sehe doch dass dir die Sache viel zu nahe geht.“

Er drehte mir das Gesicht zu und musterte mich. Wahrscheinlich wunderte er sich, wie ich mich angezogen hatte. Eine offene Bluse mit langen Ärmeln, um den Bluterguss an meinem Arm zu verdecken, den ich von Nicks Griff hatte und einen Rock. Ich trug sonst niemals Röcke, aber … naja, ich hatte mich schick machen wollen. Und nein, das hatte absolut nichts damit zu tun, dass Nick noch vorbei kommen wollte. Natürlich nicht. Ich wollte einfach nur für mich selber schick sein.

„Es wird schon wieder“, murmelte er und drückte meine Hand leicht. „Macht euch nicht zu viele Sorgen.“

„Wir machen uns gar keine Sorgen“, verkündete Evangeline viel zu gut gelaunt und trat zurück ins Zimmer. „Wir wollen einfach nur mal wieder einen netten Abend mit dir verbringen.“ Sie schnappte sich den Beutel mit den Filmen vom Tisch und marschierte damit zur Fernsehanlage. „Was wollt ihr sehen? Aktion, Horror, oder eine schöne Komödie?“

Domenico seufzte geschlagen. Ihm wurde wohl langsam klar, dass er uns so schnell nicht mehr loswurde. „Mir egal, sucht ihr was aus.“

„Okay, dann nehmen wir die Komödie. Den Horrorstreifen heben wir uns für später auf. Dann hat Grace wenigstens einen Grund, sich in die Arme ihres Liebsten zu flüchten, ohne dass es allzu sehr auffällt.“

Dafür bekam sie einen bösen Blick. „Er ist nicht mein Liebster.“

„Ach, dann knutschst du neuerdings also einfach nur so irgendwelche Kerle ab?“, fragte sie scheinheilig.

Domenicos Blick wanderte zu mir und meinen geröteten Wangen. „Habe ich etwas nicht mitbekommen?“

„Nein, ich …“

„Grace hat einen Freund“, verkündete Evangeline, ohne mich weiter zu beachten. Sie schob die DVD in den Player und ließ sich dann mit der Fernbedienung neben Domenico auf die Couch plumpsen. „Und er wird auch noch zu uns stoßen, damit wir ihn kennenlernen können.“

Wieder wanderten Domenicos Augen zu mir. „Der SOS-Flirt?“

Gott, diese Kurzmitteilung würde mir jetzt wohl den Rest meines Lebens nachhängen. „Nenn ihn nicht so.“

Evangeline griff lachend nach der Chipstüte und klickte sich mampfend durch das Menü.

Domenico hatte seine Aufmerksamkeit nicht von mir genommen. „Ist es was Ernstes?“

Ich zuckte mir den Schultern. „Keine Ahnung. Ich mag ihn einfach.“

Evangeline grinste mich an. „So rot wie deine Wangen sind, ist das mehr als nur einfach.“

Dafür bekam sie ein Kissen an den Kopf geworfen, dass sie nur lachend abwehrte. „Ist doch nicht schlimm. Das erste Mal verliebt sein … hach, da werden Erinnerungen wach.“

„Das hört sich an, als seist du uralt und müsstest in der Vergangenheit schwelgen, weil deine blühende Jugend bereits vorbei ist.“

Domenico lächelte ziemlich gezwungen und zum ersten Mal fragte ich mich, ob es wirklich eine so gute Idee war Nick einzuladen, wo er doch noch mit dem frischen Schmerz seiner Trennung zu kämpfen hatte. Jetzt ein Pärchen neben sich zu haben, war sicher nichts, was zu einer Besserung seinerseits verhalf.

„Soll ich ihm absagen?“, fragte ich ganz direkt. Natürlich wäre Nick dann sauer, aber Domenico brauchte mich im Moment eben mehr als er. „Nick“, fügte ich auf seinen unverständlichen Blick hinzu.

Mein bester Freund schüttelte nur den Kopf. „Nein, ist schon okay. Außerdem muss ich doch herausfinden, was dieser Kerl an sich hat, dass er dich beeindrucken konnte.“

Er hatte mich mit einer Waffe bedroht, aber das behielt ich wohl besser für mich und lächelte lieber nichtssagend.

„Ja und er hat sie sogar dazu bekommen einen Rock anzuziehen. Hast du Grace jemals in einem Rock gesehen?“

„Nein. Selbst kurze Hosen sind ihr ja normalerweise ein Graus.“

„Ha, wie witzig ihr doch seid.“

Sie grinsten mich beide an.

„So, aber nun seid ruhig.“ Evangeline startete den Film und kuschelte sich an Domenicos Brust.

Ich rückte bis nach hinten an die Lehne, behielt seine Hand aber in meiner.

Der Titelsong spielte ein und zeigte eine junge tollpatschige Frau, die bei dem Versuch aus dem Bett zu steigen erst mal auf der Nase landete. Bei der morgendlichen Dusche schaffte sie es dann auch noch, den Hahn abzubrechen und verursachte damit eine halbe Überschwemmung und beim Frühstück kleckerte sie mit der Marmelade auf ihr weißes, neues Kostüm, dass sie sich extra für ihr Vorstellungsgespräch besorgt hatte.

Leider war das für sie nur der Auftakt zu einem Tag voller Missgeschicke und Pannen. Der Film nahm seinen Lauf. Evangeline futterte eine Chipstüte allein leer, teilte die zweite aber ohne zu murren mit Domenico. Daran sah man, wie besorgt sie um ihn war. Normalerweise würde sie ihre Chips mit Händen und Füßen verteidigen.

Draußen wich die Dämmerung des Abends langsam der Dunkelheit der aufkommenden Nacht und bei der Hälfte des Films wunderte ich mich langsam wo Nick blieb. So wie er sich am Telefon benommen hatte, hätte es mich nicht gewundert, wenn er bereits vor mir hier gewesen wäre, aber nun war er bereits über eine Stunde zu spät.

Vielleicht hatte ihn ja etwas aufgehalten. Doch als er am Ende des Films immer noch nicht aufgetaucht war, oder sich wenigstens gemeldet hatte, begann ich mir leichte Sorgen zu machen. Während Evangeline den nächsten Film einlegte und nebenbei Domenico mit ihren albernen Grimassen zum Lachen brachte, schickte ich ihm eine Nachricht auf sein Handy, die jedoch unbeantwortet blieb.

Langsam bekam ich ein ungutes Gefühl, aber auch der gefühlte tausendste Blick auf das Handy, brachte mir keine Neuigkeiten.

„Ruf ihn doch einfach an“, schlug Domenico vor, dem das nicht entgangen war.

Es war mittlerweile weit nach zehn und mein Blick klebte öfters auf meinem Handy, als auf dem Fernseher. Wenn ich ehrlich war, hatte ich von der Handlung überhaupt nichts mitbekommen.

Evangelines Blick wanderte von der Mattscheibe zu mir.

„Nein. Ich will ihn nicht stören und wahrscheinlich taucht er eh gleich auf. Da sollte ich nicht …“

„Ruf an, Grace“, forderte Domenico mich auf. Er griff über Evangeline nach der Fernbedienung und stoppte den Film. „Du kannst dich doch sowieso nicht konzentrieren, ehe du nicht weißt was los ist.“

Ich biss mir auf die Unterlippe, spürte die Vertiefung der Narbe. Er hatte ja Recht, aber ich fürchtete mich vor dem Anruf. Was, wenn er mich vergessen hatte, oder Reese ihn soweit bearbeitet hatte, dass er nun die Meinung seines Bruders vertrat und mich nicht mehr sehen wollte. Zuzutrauen wäre es meinem Lehrcoach.

„Domenico hat Recht. Ruf an“, stimmte Evangeline meinem besten Freund zu. Sie überlegte kurz. „Oder ich rufe ihn an.“

Meine Augen verengten sich leicht. „Dazu müsstest du erst mal an mein Handy kommen.“

„Kein Problem. Dom setzt sich einfach auf dich rauf und dann kann ich ganz in Ruhe mit ihm telefonieren.“ Sie wackelte mit den Augenbrauen. „Und wer weiß was ich ihn dann alles fragen werde.“

Bevor Evangeline ihre Drohung wahr machen konnte, griff ich doch lieber selber das Handy. Wenn Nick mich nicht mehr sehen wollte, würde ich das sowieso irgendwann erfahren.

Es klingelte eindeutig zu lange in der Leitung. Sieben Mal, acht Mal. Ignorierte er meinen Anruf? Hatte er es sich wirklich anders überlegt. Die Blicke meiner Freunde wurden nach jeder Sekunde unangenehmer. Was sollte ich denn machen, wenn Nick mich wirklich abgeschossen hatte?

In dem Moment klickte es in der Leitung. „Ich habe dir gesagt, du sollst dich von ihm fernhalten! Das beinhaltet auch ihn nicht anzurufen!“, donnerte es mir durch die Leitung entgegen.

Einen Moment war ich etwas überrumpelt, Reese in der Leitung zu haben. Im zweiten Moment fragte ich mich, woher er wusste dass ich es war, schließlich hatte ich noch gar nichts gesagt. Aber wahrscheinlich hatte er meinen Namen auf dem Display gelesen. Und im dritten Moment wurde ich sauer. „Gib mir Nick“, sagte ich gefährlich ruhig.

Er schnaubte. „Träum weiter.“

„Verdammt Reese, was mischst du dich da eigentlich immer ein? Das geht dich nichts an und jetzt gib mir endlich Nick!“

„Geht nicht.“

„Geht nicht? Du meinst wohl du willst nicht! Glaubst du wirklich, dass du mich auf diese Art von ihm fernhalten kannst? Dein Bruder will mich sehen und er ist sicher nicht erfreut zu erfahren, dass du einfach an sein Handy rangehst!“

„Ich habe gesagt es geht nicht und das habe ich damit auch gemeint.“

Etwas in seinem Ton ließ mich aufhorchen. Mein Griff um das Handy wurde kaum merklich fester und in mir machte sich eine ungute Ahnung breit. „Warum geht es nicht?“

Reese atmete tief durch, als müsste er sich auf seine nächsten Worte vorbereiten. „Nick liegt im Krankenhaus.“

 

°°°°°

Kapitel 09

 

Diese Worte schlugen ein wie eine Bombe. Im ersten Moment war ich unfähig auch nur ein Ton von mir zu geben. Nick lag im Krankenhaus? Oh Gott, aber … nein, nein, nein, das durfte nicht sein! „Was ist passiert? Geht es ihm gut? Ist er verletzt?“

Von meinem Ton alarmiert richtete Domenico sich auf und auch das ewige Lächeln aus Evangelines Gesicht verschwand hinter einem besorgten Ausdruck.

„Es geht ihm gut“, erwiderte Reese ruhig. „Er ist nur etwas angefressen, weil das Vieh ihn komplett überrascht hat.“

„Das Vieh? Welches Vieh? Ein Proles?“ Oh Gott, da musste etwas im Lagerhaus passiert sein. „Ist er … was ist passiert?“

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“

Oh Bitte, nicht jetzt, nicht bei so einem ersten Thema, das konnte er mir nicht antun! „Verdammt Reese, jetzt hör auf mit dem Scheiß und sag mir was mit Nick ist!“ Die Panik war deutlich aus meiner Stimme rauszuhören. Ja, sie grenzte schon beinahe an Hysterie. Aber verdammt noch mal, hier ging es schließlich auch um meinen Freund! Und selbst wenn er es nicht wäre, es ging um Nick, um Reese' kleinen Bruder, den jungen Mann, der mir meinen ersten Kuss geraubt hatte. Ich hatte schon meine Eltern durch die Proles verloren, ich wollte nicht noch jemandem Lebewohl sagen müssen. „Bitte“, flehte ich schon beinahe, als es in der Leitung still blieb.

Evangeline rutschte über die Couch zu mir rüber und griff meine Hand. Ich merkte es kaum, lauschte nur auf den leisen Atem am anderen Ende des Handys.

„Reese, bitte, sag es mir endlich. Was ist mit Nick?“

Er seufzte. „Ich wüsste zwar nicht was es dich angeht, aber er wurde von einem Arbor angegriffen.“

„Was?!“ Oh Gott seine Augen, seine …

„Er wollte noch irgendwo hin und auf dem Weg zum Wagen kam das Vieh aus einem Gully geschossen.“ Seine Stimme klang müde. „Er hat es erschossen, aber vorher hat das Biest es noch geschafft, ihm den Arm aufzureißen.“

Ich schlug die Hand vor den Mund. „Oh mein Gott.“

„Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd. Er ist im Krankenhaus und …“

„Krankenhaus!“ Ich sprang auf die Beine und rannte in den Flur. „Sag mir in welchem, ich komme hin und dann …“

„Vergiss es.“

Er wollte jetzt doch wohl nicht wirklich anfangen, mit mir zu diskutieren. „Hör mir zu, Reese. Ob es dir nun passt oder nicht, Nick ist mein Freund und du sagt mir jetzt auf der Stelle wo genau er liegt!“ Wütend stieß ich meine Füße in die Schuhe und griff nach meiner Jacke.

„Sonst was?“, höhnte er.

„Nichts sonst. Sag es mir jetzt einfach!“

Domenico und Evangeline waren mir in den Flur gefolgt und beobachteten mich ganz genau.

„Ich werde dir gar nichts sagen Shanks. Ich …“

„Du wirst es mir auf der Stelle sagen!“, schrie ich in den Hörer.

„Nein, werde ich nicht. Ich hab dir heute Morgen bereits erklärt, dass du dich von Nick fernhalten sollst und das gilt auch jetzt noch. Du wirst ihm nicht zu nahe kommen. Nick hat mich, er brauch keine Krankenschwester und wenn du deine Libido nicht im Griff hast, dann such dir einen anderen Kerl, aber lass deine Finger von meinem kleinen Bruder.“

Ich drückte die Lippen fest aufeinander und konnte nicht fassen dass er das nun tat. „Warum machst du das?“, fragte ich leise. „Warum mischst du dich da ein?“

„Weil es so das Beste ist“, sagte er ruhig und legte einfach auf.

Langsam ließ ich das Handy von meinem Ohr sinken, starrte einfach nur ins Leere. Die Jacke hing mir halb über die Schulter. Weil es das Beste ist? Woher zum Teufel wollte Reese das wissen und was sollte es eigentlich bedeuten?

„Grace?“ Evangeline legte mir vorsichtig eine Hand auf den Arm. „Was ist los?“

Ich zuckte nichtssagend mit den Schultern und konnte nur verhindern dass meine Lippen zitterten, weil ich sie so fest zusammen drückte.

Auch Domenico trat zu mir. Er nahm mir Jacke und Handy ab, als glaubte er, ich würde sonst unter dem Gewicht zusammenbrechen. Ich wollte gar nicht so genau wissen, was für einen Eindruck ich in diesem Moment auf die beiden machte. „Sag uns was passiert ist.“

Es war wohl die Sorge in seinem Blick, die mich dazu brachte die Lippen zu teilen. „Nick wurde von einem Arbor angegriffen und ist nun im Krankenhaus.“ Meine Stimme klang so gleichgültig und gefühlskalt, dass ich mich darin selber kaum wiedererkannte. „Und Reese will mir nicht sagen wo er liegt. Ich weiß nur, dass der Arbor ihm den Arm zerfetzt hat.“

„Verdammte Scheiße“, fluchte Evangeline.

Domenico beachtete sie nicht. „Wir können in den Krankenhäusern anrufen und so rausbekommen wo er liegt.“

„Und dann?“, fragte ich und sah fast flehend zu ihm auf. „Wozu soll ich das machen? Reese wird mich nicht zu ihm lassen. Er will nicht, dass ich seinem kleinen Bruder noch einmal zu nahe komme.“ Ich drückte die Lippen fest aufeinander. Plötzlich brannten meine Augen, aber auch jetzt würde ich nicht heulen. Es war unnütz und würde mich nicht weiterbringen. Außerdem hatte ich für meinen Lebtag bereits genug Tränen vergossen.

Evangeline schnaubte. „Ist doch egal was der Kerl sagt, es geht hier immerhin um deinen Freund. Also los, ab ans Telefon.“ Sie wartete gar nicht erst auf meine Zustimmung, sondern verschwand sofort wieder im Wohnzimmer, wo ich sie nur einen Augenblick später in den Schränken herumkramen hörte.

„Eve hat recht“, stimmte Domenico ihr zu. Er nahm meine Hand und zog mich hinter sich ins Wohnzimmer. Dort wurde ich auf der Couch platziert und konnte zusehen wie Evangeline das Telefonbuch aus dem Schrank holte und sich dann bewaffnet mit Domenicos Telefon neben mir auf der Couch breit machte.

Ich saß einfach nur da und sah zu wie sie ein Krankenhaus nach dem anderen anriefen, während mir der völlig irrationale Gedanke durch den Kopf schoss, dass ich den Fernsehabend ruiniert hatte. Nur wegen mir saßen wir jetzt hier, anstatt uns um Domenico zu kümmern, wegen mir und Reese, der aus mir unerfindlichen Gründen versuchte, mich von seinem kleinen Bruder fern zu halten.

Warum nur? Diese Frage kreiste immer wieder durch meine Gedanken, aber egal wie oft ich sie hin und her wälzte, ich kam einfach zu keiner Antwort. Es war nicht logisch, da es absolut keinen Grund für dieses Verhalten gab. Ich hatte nichts getan, was Reese dazu bringen könne so zu handeln, oder? Mir fiel auf jeden Fall nichts ein. Aber vielleicht lag das Problem ja auch gar nicht bei mir. Vielleicht war es wirklich so, dass Reese seinen kleinen Bruder nicht teilen wollte. Vielleicht war er eifersüchtig und hatte Angst, dass ich ihm Nick wegnehmen würde.

Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen, dafür war Reese einfach zu selbstsicher.

„Wirklich?“ rief Evangeline in dem Moment aus. „Niklas Tack?“ Sie winkte aufgeregt zum Zeichen dass sie ihn endlich gefunden hatte und lauschte weiter ihrem Gesprächspartner. „Ja genau, er wurde wegen eines Proles-Angriffs zu ihnen gebracht, eine Armverletzung wenn ich richtig informiert bin und … ist das ihr Ernst?“ Sie lauschte angestrengt, doch aus ihrem Gesichtsausdruck war nichts zu lesen. Das machte mich nervös. Was war ihr Ernst? Ging es Nick gut? Dumme Frage eigentlich. Er wurde von einem Proles angegriffen, wie konnte es ihm da gut gehen?

Unruhig rutschte ich auf der Couch hin und her, ließ meine Freundin keinen Moment aus den Augen, um auch keine Facette zu verpassen.

„Ja, natürlich. Danke, aber ich würde gerne wissen, wie schwer er verletzt ist. Ich habe nur kurz mit seinem Bruder telefonieren können und dann war sein Akku leer und auf Nicks Handy geht keiner ran, deswegen …“ Sie lauschte einen Moment. „Evangeline Rouge, ich bin seine Verlobte.“

Bei diesen Worten verschluckte ich mich fast an meiner Spucke. Wie sie das sagte, so völlig unbeeindruckt von Gott und der Welt. Wüsste ich es nicht besser, hätte ich es ihr glatt abgenommen.

„Ja, in Ordnung. Ich verstehe, aber … nein, ich bin auf einer Geschäftsreise, das ist ja das Problem und …“ Als sie scheinbar erneut unterbrochen wurde, verdrehte sie genervt die Augen und trommelte ungeduldig mit dem Finger auf die aufgeschlagene Seite des Telefonbuches. „Okay, ja, in Ordnung … ja, natürlich verstehe ich das, trotzdem Danke. Auf Wiederhören.“ Sie beendete das Telefonat und atmete einmal tief durch. „Also ich hätte nicht gedacht, dass außer mir noch jemand im Stande ist so viel Unsinn zu reden.“

Wen interessierte das denn jetzt? „Eve!“

Mein Ruf reichte aus um sie zum eigentlichen Thema zurückzubringen. „Also, Nick war bei ihnen, aber er ist in der Zwischenzeit wieder entlassen worden. Da ich nicht nachweisen konnte dass ich wirklich seine Verlobte bin, konnte die Schwester mir keine genaue Auskunft geben. Aber ich weiß zumindest so viel, dass die Verletzung nicht lebensgefährlich ist. Im Großen und Ganzen war er wohl einfach nur sauer, dass ihm das passiert ist.“

„Es geht ihm also gut?“ Wo war meine kräftige Stimme hin?

Evangeline nickte. „Ja, er hat Schmerzmittel und auch Beruhigungsmittel bekommen. Reese hat ihn dann wohl nach Hause gefahren.“

„Beruhigungsmittel?“ Ich runzelte die Stirn. „Warum hat man ihm Beruhigungsmittel gegeben?“ Nick war doch niemand, der wegen so etwas kurz vor dem Kollaps stand. Oder? Nein, ganz sicher nicht. Dass man ihm Beruhigungsmittel verabreicht hatte, passte so gar nicht ins Bild.

Sie zuckte nur mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich kann nur wiedergeben, was ich gehört habe.“

„Am besten du rufst ihn einfach selber an“, überlegte Domenico und reichte mir mein Handy.

Ich brauchte einen Moment um mir klar darüber zu werden, warum er es hatte, aber dann fiel mir wieder ein, dass er es mir im Flur abgenommen hatte. „Ja, das ist wohl das Beste“, erwiderte ich schlicht und war sofort dabei durch die Telefoneinträge zu scrollen. Wenn Nick wieder draußen war, würde er selber ans Telefon gehen und konnte mir sagen was genau vorgefallen war. Doch sobald das Handy sich ins Netz eingewählt hatte, wurde ich auf die Mailbox weitergeleitet. Ich versuchte es zwei weitere Male, obwohl ich wusste dass es aussichtslos war und pfefferte das Handy dann wütend auf die Couch. „Ausgeschaltet“, sagte ich schlicht und versuchte das Positive an der Sache zu sehen. Nick war aus dem Krankenhaus raus und … naja, er war aus dem Krankenhaus raus. Punkt. Mehr Positives konnte ich an der Sache einfach nicht finden.

Domenico legte mir die Hand auf die Schulter und drückte sie leicht. „Mach dir keine Sorgen, es ist sicher alles in Ordnung.“

Nein, das war es nicht. Nick war von einem Proles angegriffen worden, weil er zu mir wollte. Wegen mir hatte er das Haus verlassen, wegen mir hatte sich der Arbor auf ihn stürzen können, wegen mir war er verletzt worden. Vielleicht hatte Reese ja Recht und es war wirklich besser, sich von ihm fernzuhalten.

Ich presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und versuchte, das tonnenschwere Gewicht in meinem Magen zu ignorieren. Dass der Arbor genau in diesem Moment auftauchte, war nicht meine Schuld. Niemand konnte etwas dafür. Genauso wie bei meinem sechsten Geburtstag. Solche Dinge geschahen einfach und man konnte niemand dafür verantwortlich machen.

Guck mal, Gracy, der lustige Hund. Ich habe ihn Plüsch genannt, weil er so plüschig aussieht.

Nein, niemand.

Den plötzlichen Groll hinunterschluckend, ergriff ich mein Handy und erhob ich mich von der Couch. „Tut mir leid den Abend zu sprengen, aber ich glaube ich gehe lieber nach Hause.“

„Bist du sicher?“, fragte Domenico. Die Sorge stand in seinem Gesicht.

Ich schaffte es, mir ein halbes Lächeln abzuringen. Gestern noch war er von seiner Freundin hintergangen worden, im Moment hatte er also genug mit sich selber zu tun und trotzdem zerbrach er sich nun über mich den Kopf. „Ja, ich bin mir sicher. Tut mir leid.“

„Dafür brauchst du dich doch nicht entschuldigen“, sagte Evangeline sofort. „Melde dich aber, wenn du uns brauchst, oder etwas Neues weißt.“

„Mache ich.“ Wenigstens das konnte ich versprechen.

 

°°°

 

„Geh an dein blödes Handy, oder ich schmeiße es aus dem Fenster!“

„Hm?“, machte ich und öffnete verschlafen die Augen.

„Dein Handy!“, rief Wynn von ihrer Seite des Zimmers zu mir herüber.

Erst da bemerkte ich das Bimmeln von meinem Schreibtisch. Und nein, es war nicht mein Wecker, der sollte erst in zehn Minuten klingeln.

Schlaftrunken griff ich nach dem kleinen Störenfried und hielt es mir ans Ohr, ohne auf das Display zu achten. „Hm?“, machte ich ins Handy und rieb mir gleichzeitig müde über das Gesicht. Dabei raschelte meine Decke.

„Hab ich dich geweckt?“

Nick! Sofort saß ich aufrecht im Bett, „Geht es dir gut? Ich meine, Reese hat gesagt du …“

„Ganz ruhig, Cherry, mit mir ist alles okay.“

„Cherry?“ Verwechselte er mich jetzt? Hatte er doch was am Kopf abbekommen?

Nick lachte leise. „Natürlich. Cherry, Kirsche. Sie sind so rot wie deine Haare und genauso süß wie du.“

Mein Mund öffnete sich ein Stück, doch es wollte kein Wort rauskommen. Sollte das sowas wie eine Verarschung sein? Aber warum sollte er das tun?

„Bist du noch da?“

„Ähm … ja, bin ich.“ Ich strich mir verschlafen das Haar aus dem Gesicht. „Ich …“

Aus Wynns Bett kam ein genervtes Stöhnen. „Kannst du nicht rausgehen wenn du um diese Zeit telefonieren musst? Ich will noch schlafen!“

Am liebsten hätte ich die Augen verdreht. Auf mich nahm sie auch nie Rücksicht, aber da ich sowieso gleich aufstehen musste, konnte ich meinen Wecker ebenso gut gleich ausstellen und den Tag ein wenig früher beginnen.

„Grace?“

„Ja, Moment.“ Ich stieg aus dem Bett und schlich aus dem Zimmer hinüber in die Küche. Erst als ich die Tür zugemacht hatte, wagte ich es wieder zu sprechen. Onkel Roderick hatte Ohren wie ein Luchs und ich wollte ihn noch nicht aus dem Bett scheuchen.

Tief durchatmend setzte ich mich an den Tisch. „Ich habe versucht dich anzurufen“, sagte ich leise. Es war befreiend seine Stimme zu hören und das Gewicht in meinem Magen schmolz ein wenig dahin. Wenn es ihm gut genug ging, um zu telefonieren, konnte ich aufatmen. Erst jetzt bemerkte ich, wie sehr mir die Ungewissheit zugesetzt hatte und wieder spürte ich das Brennen in den Augen. Hatte ich mich wirklich in ihn verliebt? „Gestern, nachdem du aus dem Krankenhaus raus warst“, fügte ich noch hinzu.

„Ich weiß, hab es gerade gesehen, aber mein Handy war aus, obwohl der Akku voll war.“

Ich drückte die Lippen aufeinander, verkniff es mir aber zu sagen, dass Reese es wahrscheinlich ausgeschaltet hatte, nachdem er mir gesagt hatte, wohin ich mich scheren sollte. „Was ist passiert?“

„Naja.“ Ich hörte Decken rascheln und musste mich unweigerlich fragen, ob er auch noch im Bett lag. „Ich wollte gerade in den Wagen steigen, als ein Arbor aus einem offenen Gully schoss. Das musst du dir mal vorstellen. Die Viecher leben normalerweise in Bäumen, was also hatte der in einem Gully zu suchen?“

„Ich weiß nicht.“ Proles taten oft Dinge, die völlig unverständlich waren. „Aber das ist auch egal. Wie geht es dir?“

„Soweit ganz gut. Mein Arm ist nur ein wenig angegriffen.“ Es raschelte wieder. „Ich hab ihn hochgerissen, als er sich auf meine Augen stürzen wollte. Hat geblutet wie Sau, aber es ist nichts Wichtiges verletzt worden. In ein paar Wochen ist alles wieder verheilt. Ich spüre es im Moment nicht einmal.“ Er lachte leise. „Diese Schmerzmittel sind wirklich der Hammer.“

„Es tut mir leid“, flüsterte ich.

„Was tut dir leid?“

„Naja, dass du angegriffen wurdest. Wäre ich nicht gewesen, wärst du zu Hause geblieben und dann hätte der Arbor dich nicht angreifen können.“ Ich schluckte hart. „Das tut mir leid.“

„Mir nicht.“

Ich blieb stumm.

„Cherry, es war ja wohl meine eigene Entscheidung, mich mit dir zu treffen und sowas passiert überall, da kannst du gar nichts machen.“

Das war mir schon klar und trotzdem wäre er ohne mich nicht dort gewesen.

„Niemand kann so etwas verhindern.“

Doch, die Venatoren und genau aus diesem Grund wollte ich einer von ihnen werden. Ich musste die, die mir wichtig waren, vor den Monstern der Welt beschützen. „Ich wünschte, du wärst jetzt hier.“

„Warum? Würdest du mich dann gesund pflegen?“ Das Lächeln klang in seiner Stimme mit. „Vielleicht sogar eine süße Schwesterntracht für mich anziehen?“

Allein bei dem Gedanken daran stieg mir mal wieder die Röte in die Wangen. „Nein, ich will einfach nur sicher gehen, dass es dir wirklich gut geht.“

„Mach dir nicht zu viele Gedanken, mit mir ist wirklich alles in Ordnung. Aber leider werden wir uns in den nächsten Tagen nicht sehen können.“

„Reese“, grummelte ich. Sollte dieser Kerl doch zur Hölle fahren.

„Ja, Reese.“ Er seufzte. „Seit gestern benimmt er sich noch arschiger als sonst und ich glaube es wäre nicht gut, wenn du hier einfach auftauchst. Und da mir der Arzt die nächsten Tage Bettruhe verpasst hat und mein Pitbull mich wohl notfalls ans Bett binden wird, sollte ich mich von hier entfernen, bleibe ich wohl auch besser wo ich bin.“

Natürlich, war ja klar.

„Allerdings …“, begann er, verstummte dann aber wieder.

Ich horchte auf. „Allerdings?“

„Naja.“ In seiner Stimme schwang dieses Lächeln mit, das immer von verbotenen Dingen erzählte. „Reese verschwindet in einer Stunde zur Arbeit und dann bin ich ganz alleine.“

„Ja, aber ich muss doch zur Akademie und bis ich da wieder weg bin ist Reese bestimmt wieder zu Hause.“

„Ich weiß“, kam es äußerst lässig zurück.

Ich runzelte die Stirn. Wenn er das wusste, warum …

Mir fiel vor Schreck beinahe das Handy aus der Hand, als ich die Bedeutung hinter seinen Worten verstand. „Du meinst ich soll die Akademie schwänzen und zu dir kommen?“

„Es würde mich freuen.“ Als ich nichts sagte, weil allein die Idee völlig absurd war, lachte er leise. „Grace, du bist die Beste in deinem Jahrgang, da kannst du ruhig auch mal blau machen.“

 

°°°

 

Die Tür war nur angelehnt. Ich fühlte mich immer noch nicht wohl dabei, hier zu sein. Zwar freute ich mich und konnte mir so selber versichern, dass es Nick gut ging, aber ich fehlte unentschuldigt in der Akademie und das bereitete mir massives Magengrummeln. Ich hatte noch nie geschwänzt. Noch NIE!

Tief durchatmend trat ich in die Wohnung und schloss die Tür leise hinter mir. Sofort hatte ich wieder den Geruch nach kaltem Rauch und Essensresten in der Nase. Lüfteten diese Kerle eigentlich nie? „Nick?“

„In der Küche!“, rief er zurück.

Ich entledigte mich meiner Schuhe und der Jacke und schlug dann den inzwischen so vertrauten Weg ein – obwohl man ja nicht wirklich von vertraut sprechen konnte, immerhin war ich erst zwei Mal hier gewesen. Und einmal hatte mich Reese davongejagt. Was er wohl sagen würde, wenn er mich hier nun erwischen würde? Was interessierte es mich eigentlich? Es ging ihn absolut nichts an! Das musste ich mir nur immer wieder sagen, vielleicht würde es mir dann wirklich irgendwann egal sein, was er denkt. Ich verstand nicht mal, warum es mir nicht egal war. Warum interessierte es mich eigentlich, was Reese davon hielt? Und warum zum Teufel stellte ich mir schon wieder diese Frage?

Über mich selbst den Kopf schüttelnd trat ich in die unordentliche Küche und musste mir ein Naserümpfen verkneifen. Also wirklich, diese beiden Männer waren mehr als nur unordentlich. Ich würde es niemals laut sagen, aber sie waren Schweine. Schon allein dieser Fleck auf der Anrichte … allein bei seinem Anblick stellten sich mir die Härchen auf den Armen auf. Ich wollte gar nicht so genau wissen, was das mal gewesen war und wandte schnell den Blick ab, um davon keine Pickel zu bekommen.

Nick stand vor dem Käfig von Mr. Who und fütterte ihn wieder mit diesen ekligen Mehlwürmern. Wie schon beim letzten Mal gab er sie ihm einfach mit den Fingern durchs Gitter. Er trug nicht mal Handschuhe. Hatte er denn nichts dazu gelernt? Mein Gott, er war gerade erst wegen eines Proles-Angriffs im Krankenhaus gewesen, aber es schien ihn kein bisschen zu interessieren.

„Hey“, lächelte er. In seinen blauen Augen saß der Schalk. Er sah eigentlich aus wie immer, bis auf den dicken weißen Verband um seinen linken Unterarm. „Da bist du ja.“

„Warum machst du das?“, fragte ich, anstatt seine Begrüßung zu erwidern.

„Was?“ Er nahm einen weiteren Mehlwurm aus der Schachtel auf der Kommode und hielt ihn durch das Gitter. Mr. Who kam angerannt und pflückte ihn so schnell aus seiner Hand, dass ich einen Moment Angst um seine Finger bekam und verschwand damit in die Ecke seines Käfigs, wo er ihn laut schmatzend kaute.

„Na das da.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und musste mich wirklich zusammen reißen, um mir meinen Ekel nicht anmerken zu lassen. Ein schmatzender Proles … abartig. „Hat es dir nicht gereicht von einem Arbor den Arm aufgerissen zu bekommen? Musst du jetzt auch noch deine Finger riskieren?“ Okay, vielleicht war das nicht unbedingt das, was man unter Krankenbesuch verstand, aber dass er da so unbeteiligt stand, als wäre nichts passiert, machte mich einfach sauer.

Nick warf mir einen kurzen Blick zu und legte dann die Hand flach an das Gitter. „Du magst Mr. Who nicht.“

„Ich mag Proles im Allgemeinen nicht und ich mag es auch nicht, dass du so nah an dieses Ding rangehst.“

Mit seltsamem Blick beobachtete Nick die kleine Echse, die konzentriert ihren Mehlwurm verschlang und Nick dann mit ihren gelben Augen fixierte. „Andere Mädchen fanden es immer toll ihn zu sehen. Sicher hinter Gittern. Sie konnten ihn sich genau anschauen, ohne Angst haben zu müssen, dass er ihnen etwas tut. Sie waren fasziniert davon.“

„Menschen sind auch von Feuer fasziniert“, entgegnete ich schlich. „Zumindest solange bis sie daran verbrennen.“

Seine Finger schlossen sich um das Gitter. Mr. Who registrierte diese Bewegung und fixierte Nick. Wenn er nicht gleich einen neuen Mehlwurm bekam, würde er sich eben einen anderen Nachtisch besorgen.

„Nick, nimm bitte deine Hände da weg.“ Als er nicht reagierte, ließ ich die Arme sinken und machte einen Schritt auf ihn zu. Leider wusste ich nicht so recht was ich tun oder sagen sollte. Ich überlegt sogar kurz, Nick einfach da wegzureißen. „Bitte Nick.“ Ich wollte nicht, dass ihm noch etwas zustieß.

„Reese hat diesen Käfig für mich gebaut“, sagte er leise. Seine Hand löste die Verkrampfung am das Gitter und strich zur Tür. „Er hat ein Schloss eingebaut, siehst du? Nur er kann den Käfig öffnen. Mir gibt er den Schlüssel nicht. Er trägt ihn immer bei sich.“

Verwirrung zeigte sich in meinem Gesicht. Warum erzählte er mir das?

„Norbert hat Reese damals gesagt, dass ich mir ein Haustier zulegen soll. Es könnte mir helfen im Gleichgewicht zu bleiben, gibt mir das Gefühl von Verantwortung, aber den Schlüssel habe ich nie bekommen.“ Er lächelte mich etwas schief an. Seine Augen wirkten leicht glasig, sein Blick irgendwie entrückt. Stand er noch unter dem Einfluss der Medikamente?

„Nick, bitte komm da weg. Du gehörst ins Bett.“

„Er hat mir nie den Schlüssel gegeben. Ich konnte Mr. Who immer nur füttern.“ Seine Hand fiel vom Käfig ab. Etwas Trauriges lag in seinem Blick, als er sich abwandte und durch den Raum zur Küchenzeile ging. „Ich hab ihn jetzt seit einem Jahr“, erzählte er mir, während er eine Schublade herauszog und darin herumkramte. „Am Anfang hat er ein paar Mal versucht, mich zu beißen. Reese hat immer darauf bestanden, dass ich Handschuhe anziehe, wenn ich an den Käfig gehe, aber Mr. Who mag keine Handschuhe. Er hat immer versucht sie anzugreifen.“ Er zog eine lange Fleischgabel heraus. Die beiden langen Zinken glänzten matt im einfallenden Sonnenlicht. „Deswegen habe ich die Handschuhe irgendwann nicht mehr angezogen. Mr. Who mag die Handschuhe nicht.“ Mit einem Knall schob er die Schublade wieder zu.

Ich zuckte bei dem Geräusch innerlich zusammen und machte einen vorsichtigen Schritt zur Seite, als Nick wieder an mir vorbei zum Käfig lief. Was er da erzählte, sein Verhalten, ja sogar seine Bewegungen, sie waren merkwürdig und ich musste gestehen, dass ich mich im Augenblick nicht sehr wohl fühlte. Deswegen ließ ich ihn auch nicht aus den Augen, als er sich wieder vor den Käfig stellte und zwei Mehlwürmer auf die Gabel aufspießte – einen auf jede Zinke. Sein verletzter Arm zitterte bei der Anstrengung, aber er ließ in seinem Tun nicht nach.

„Mr. Who mag keine Handschuhe.“ Er schob die Fleischgabel mit den Würmern durch das Gitter.

Sofort schoss Mr. Who nach vorne und fraß den ersten Wurm direkt von der Gabel. Seine Krallen kratzten dabei über den Blechboden.

Nicks nächste Worte waren nur noch ein Flüstern. „Und du magst Mr. Who nicht.“ Etwas Entschlossenes trat in sein Gesicht und gerade als Mr. Who sich dem zweiten Wurm zuwandte, stieß Nick die lange Fleischgabel mit einem Ruck nach vorne und pinnte damit gegen das kleine Holzhäuschen.

Der kleine Proles gab einen unmenschlichen Schrei von sich, als die Zinken in seinen Körper drangen. Eine direkt in die Schnauze, eine in den Hals. Es war nur ein kurzes Geräusch, dann zuckte der Körper noch ein paar Mal und hing dann leblos an der Gabel.

Nicks Hände zitterten kaum merklich, als er sein Werk betrachtete, aber sein Blick verriet nicht, was in ihm vorging. Rot lief das Blut über den weißen Pelz. Der kleine Mehlwurm hing ihm noch halb aus der Schnauze und wand sich in seinem Todeskampf um den Zinken.

Völlig ungläubig stand ich da. Mein Herz schlug mir bis zur Kehle und ich konnte einfach nicht glauben, was hier gerade passiert war. Nicht das ich Mitleid mit dem Proles hatte, nein, es war dieser Ausdruck in Nicks Augen der mich frösteln ließ. Es war nicht das erste mal, dass ich ihn bei ihm sah, doch nie war er so deutlich gewesen. Und wie fasziniert er nun das Blut anstarrte.

Mein Mund öffnete sich einen Spalt, aber außer heißer Luft kam nichts heraus.

„Hoffentlich weiß Reese noch wo der Schlüssel ist.“ Nick runzelte die Stirn. Noch immer umklammerte seine Hand die Gabel. „Sonst muss ich den Käfig auch wegschmeißen.“

Er schien in diesem Moment gar nicht mit mir zu reden, sondern seine Gedanken einfach nur laut auszusprechen.

„Nick?“, fragte ich vorsichtig. Als er immer noch nicht reagierte, kratzte ich all meinen Mut zusammen und trat zu ihm. Das ungute Gefühl schob ich einfach zur Seite. Trotzdem schlug mein Puls deutlich schneller, als ich ihm die Hand auf den Arm legte. „Nick?“

Sein Blick schien sich ein wenig zu klären. Er wandte sich mir zu und trug dabei wieder dieses strahlende Lächeln auf den Lippen, das die weißen Zähne in ihrer ganzen Pracht präsentierte. „Mr. Who mag keine Handschuhe, also mache ich die Handschuhe weg. Du magst Mr. Who nicht, also mache ich Mr. Who weg. Okay?“

Was sollte ich dazu sagen? Das war … es wollte einfach nicht in meinen Kopf, was hier gerade geschehen war.

„Okay?“, fragte er ein weiteres Mal, als ich ihn einfach nur stumm ansah. Es lag beinahe etwas Flehendes in seinen Worten.

„Ja, okay. Es ist okay“, beeilte ich mich zu sagen, weil er das offensichtlich erwartete. Aber er sah so verloren aus. Wie er da stand, mit dem dicken Verband und der Gabel in der Hand. In diesem Augenblick kam er mir vor wie ein Kind. Ein kleines, verwirrtes Kind, das gar nicht genau zu wissen schien, was er dort tat. Nur zögernd wagte ich es meine Hand auf seine Wange zu legen. „Es ist okay, Nick“, wiederholte ich leise.

Tief durchatmend schloss er die Augen. Im nächsten Moment ließ er die Gabel einfach los und schlang seine Arme um mich. Sein Gesicht vergrub er in meiner Halsbeuge.

Die Gabel verkantete sich halb zwischen den Gitterstäben und ließ Mr. Who weiterhin aufgespießt hängen. Es war ein makaberer Anblick, der sich mir in all seinen grausamen Details in meine Seele brannte. Dabei war es mir eigentlich egal, dass dieser Proles tot war. Es war Nicks Verhalten, das mir Sorge bereitete. Klar, diese Welt war völlig kaputt und die Menschen hatten schon immer seltsame Dinge getan, aber das hier gerade … ich wusste einfach nicht, wie ich es einordnen sollte.

„Danke dass du gekommen bist“, sagte Nick leise.

„Hab ich doch versprochen.“ Ich löste mich von ihm, strich mit der Hand über seine stoppelige Wange. Der blonde Bartschatten war kaum zu sehen, aber dafür traten die dunkeln Augenringe sehr deutlich zutage. Und auch die blässliche Hautfarbe. Es ging ihm nicht gut, aber ich konnte nicht sagen, ob es daran lag, dass er gerade sein Haustier erstochen hatte, weil ich es nicht mochte, oder an der Verletzung und den Medikamenten. Aber eines wusste ich sehr genau. „Du gehörst ins Bett.“

„Ich hab schon den ganzen Morgen im Bett gelegen.“ Auch seine Hand legte sich an meine Wange, die Hand, mit der er eben so eiskalt zugestochen hatte.

Ich musste mich stark zusammen reißen, um nicht davor zurück zu schrecken. „Und das auch mit gutem Grund. Komm, wir packen dich wieder unter die Decke.“

Er kaute kurz auf seinen Lippen herum, suchte in meinen Augen auf eine Antwort, dessen Frage ich nicht kannte. „Bleibst du bei mir?“

Das war wohl das erste, richtige Lächeln, das er heute von mir bekam. „Natürlich. Deswegen bin ich doch hier, oder? Ich leg mich zu dir.“

„Okay.“

Da er sich nicht vom Fleck bewegte, nahm ich seine Hand und führte ihn durch die Wohnung in sein Zimmer. Wenn es überhaupt möglich war, sah es noch wüster aus, als beim letzten Mal. Es war schwer, aber ich versuchte, es nicht zu beachten, als ich Nick ins Bett steckte und mich dann neben ihn auf die Matratze setzte. Sofort kam er näher gekrochen, bettete seinen Kopf in meinem Schoß und umschlang mich mit seinen Armen an der Taille.

Ich strich ihm sanft über den Rücken, bekam die Gedanken aber nicht von dem los, was eben geschehen war. Es wollte mir nicht in den Kopf. Ich konnte eine solche Reaktion einfach nicht nachvollziehen.

Du magst Mr. Who nicht, also mache ich Mr. Who weg.

Er hatte ihn wegen mir umgebracht und das obwohl … ja, genau das war es, was mich an der ganzen Sache störte. Nick hatte Mr. Who getötet und das obwohl ihm dieses kleine Monster scheinbar wichtig war. Ich mochte es nicht, also musste es sterben. Eiskalt. Er hatte es für mich getan. Damit ich mich wohlfühlte? Damit ich keinen Grund hatte, ihn von mir zu stoßen? Ich wusste es nicht. Es war einfach verwirrend.

„Bekomme ich ein neues Haustier?“, fragte er leise in die Stille hinein.

Ein neuer Proles? „Was für ein Haustier?“

„Ich weiß nicht.“ Er kuschelte sich etwas enger an mich und schloss die Augen. „Was magst du denn für Tiere?“

„Katzen.“

„Katzen“, wiederholte Nick schläfrig. „Bekomme ich eine Katze?“

„Ich … ähm …“ Was sollte ich denn darauf antworten? Ich hatte keine Ahnung. „Ich glaube, das solltest du mit Reese klären.“ Das war nur logisch. Die beiden wohnten hier schließlich zusammen, also mussten sie es auch wissen.

„Okay“, sagte er sehr leise. „Ich rede mit Reese und dann kaufen wir uns eine Katze.“

Wir? Meinte er damit wir im Sinne von er und ich, oder wir im Sinne von er und Reese?

Zu einer Antwort kam es nicht mehr, denn seine Atemzüge wurden tief und gleichmäßig. Sein Körper entspannte sich und ich wusste, dass er eingeschlafen war. Der Angriff des Arbor und die ganzen Medikamente mussten ihm mehr zusetzten, als es den Anschein hatte.

Ich blieb bei ihm sitzen und strich unablässig über seinen Rücken.

 

°°°

 

Schwer atmend schloss ich die Wohnungstür hinter mir und lehnte mich erst mal an die Flurwand. Gott sei Dank, das war die letzte gewesen. Wenn ich diese zwölf Etagen noch einmal hätte beweltigen müssen, wären mir vermutlich meine Beine einfach abgefallen. Ich war jetzt so oft hoch und runter gelaufen, um die ganzen Mülltüten zu entsorgen, dass ich es gar nicht mehr zählen konnte. Obwohl, eigentlich wusste ich die Zahl ganz genau. Dreizehn. Dreizehn Mal runter und dann wieder dreizehn Mal hoch. Dafür war die Wohnung nun aber frei von jeglichem Müll. Und das stundenlange Lüften, schien auch endlich etwas zu bringen. Natürlich lag der Geruch von Zigaretten, Asche und kaltem Rauch noch immer in der Luft, und auch die Essensdüfte aus unzähligen Jahren ließen sich nicht so einfach vertreiben, aber es war längst nicht mehr so schlimm, wie noch heute Morgen. Und wenn ich zwischen den wenigen Reinigungsmitteln einen Raumerfrischer gefunden hätte, würde ich wahrscheinlich nicht mal mehr das riechen. Wenigstens hatten die Brüder einen Allzweckreiniger und Scheuermilch unter der Spüle gehabt.

Tief durchatmend stieß ich mich von der Wand ab und marschierte zurück in die Küche. Ich war noch nicht fertig. Der Abwasch wartete noch und der Boden müsste auch noch gewischt werden. Der einzige Raum der meiner Putzwut entkommen war, war Reese' Zimmer und auch nur, weil er mich vermutlich vierteilen würde und mich dann anschließend zusammen mit Mr. Whos Überresten entsorgen würde, sollte ich auch nur einen Fuß dort hinein setzten. Selbst Nicks Zimmer hatte ich oberflächlich gereinigt. Ganz leise, um ihn nicht zu wecken. Er schien den Schlaf zu brauchen.

Die Küche sah nun endlich wohnlich aus. Ich hatte sogar die Polster der Couch mit dem gereinigt, was mir zur Verfügung stand. Das allein hatte mich eine Stunde gekostet.

Seufzend stellte ich mich an das Waschbecken und begann damit das eingeweichte Geschirr zu bearbeiten. Das war gar nicht so einfach, denn obwohl ich es bereits vor fast zwei Stunden ins Wasser gelegt hatte, um die eingetrockneten Essensreste wegzubekommen, gab es einige hartnäckige Flecken, die sich standhaft wehrten und so stand ich noch eine ganze Weile am Waschbecken, bevor auch der letzte Teller die weiße Fahne hisste und wieder sauber war.

Ich hatte noch eine ganze Weile bei Nick im Bett gesessen und auf seinen ruhigen Atem gelauscht, doch dabei hatte ich ständig zu dem dreckigen Teller gucken müssen, der kaum einen Meter neben mir auf dem Boden gestanden hatte. Irgendwann hatte ich den Anblick nicht mehr ertragen können, war von der Matratze geklettert und wollte ihn eigentlich nur in die Küche bringen, doch als mir das Chaos dort wieder bewusst wurde, hatte ich es einfach nicht dabei belassen können und war in einen Putzwahn verfallen, von dem nicht einmal die Fenster verschont geblieben waren.

Damit ich dabei nicht die ganze Zeit zu dem toten Mr. Who blicken musste, hatte ich eine Decke über den Käfig gehängt. Trotzdem erwischte ich mich mehr als einmal dabei, wie mein Blick in die Ecke glitt. Auch jetzt wieder, als ich mit dem einzigen, sauberen Handtuch das ich finden konnte, das Besteck abtrocknete und in die Schublade einsortierte.

Okay, ich rede mit Reese und dann kaufen wir uns eine Katze.

Vielleicht würde eine Katze den beiden Männern ja etwas Sauberkeit beibringen. Andererseits, was wenn dem armen Tier irgendwann das gleiche widerfuhr wie Mr. Who? Darüber wollte ich eigentlich gar nicht so genau nachdenken.

Ich räumte das restliche Geschirr weg und machte mir einen Wischeimer fertig. In Nicks Zimmer würde ich damit erst gehen, wenn er wieder wach war, daher arbeitete ich erst mal in den anderen Räumen. Küche, Flur und gerade als ich bewaffnet mit meinem Eimer ins Badezimmer trat, verkündete mir die Waschmaschine, dass eine weitere Ladung fertig war. Die dritte um genau zu sein. Und auch die letzte für heute. Nicht dass es keine dreckige Wäsche mehr gab, aber der Wäscheständer war voll. So würden die beiden Männer die letzte Ladung wohl alleine machen müssen.

Das kleine Bad war schnell gewischt und das dreckige Wasser entsorgt. Während ich die letzte Wäscheladung für heute in den Wäschekorb schmiss und die Maschine ein weiteres Mal vollmachte, beschloss ich bei meinem nächsten Besuch einen Kalkreiniger zu besorgen. Zusätzlich zu dem Raumspray, dem Polsterreiniger, dem Fettlöser und den anderen fünf Reinigungsmitteln, die mittlerweile auf meiner geistigen Liste standen.

Okay, dann hatte ich eben einen Putzfimmel, aber das war immer noch besser als in so einem verdreckten Saustall zu leben.

Tief luftholend richtete ich mich mit dem Wäschekorb auf und wurde dafür mit Rückenschmerzen belohnt. Oh ja, das stundenlange Putzen machte sich wirklich langsam bemerkbar und das würde ich morgen sicher mit Muskelkater zollen dürfen.

Beladen wie ein Packesel ging ich zurück in die Küche und machte mich daran, die letzten Freiräume auf dem Wäscheständer mit den nassen Klamotten aus der Maschine zu füllen.

Ich war gerade dabei ein T-Shirt auszuschütteln, von dem ich nicht sagen konnte, von welchem der Brüder es war, als ich den Schlüssel an der Wohnungstür hörte. Sofort wirbelte ich zu der alten Wanduhr über der Anrichte herum. Kurz nach fünf. Soweit ich wusste gab es außer Nick nur noch einen anderen, der freien Zugang zu dieser Wohnung hatte, aber der arbeitete eigentlich immer bis spät in den Abend. Gab es vielleicht noch jemanden von dem ich nichts wusste? Zum Beispiel dieser Norbert, dessen Name nun schon ein paar Mal gefallen war? Ich glaubte nicht daran. Außerdem musste Reese heute ja auch nicht in die Lagerhalle um seinen kleinen Bruder abzuholen. Mist, warum hatte ich nicht früher daran gedacht?

Angespannt stand ich in der Küche und lauschte auf die Geräusche der schließenden Tür.

„Nick?“

Verdammt, das war wirklich Reese. Sofort schoss mir unser letztes Aufeinandertreffen durch den Kopf.

Flittchen.

Schlampe.

Hure.

Ich kniff die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen und wandte mich wieder der Wäsche zu. Ich würde mich kein weiteres Mal von ihm vertreiben lassen. Nick war mein Freund und damit hatte ich jedes Recht hier zu sein.

Aufmerksam lauschte ich auf seine Schritte. Ich konnte genau den Zeitpunkt bestimmen, als Reese in die Küche trat und mich am Wäscheständer erblickte. Es war nicht nur das Verklingen der Geräusche, es war fast wie eine düstere Aura, die mit ihm zusammen in den Raum eindrang und versuchte, mich gegen die nächste Wand zu drängen. Wut. Ich konnte sie praktisch fühlen.

Aber er sagte nichts, blieb nur stumm in meinem Rücken stehen und das machte mich nervöser, als wenn er mich sofort angeschrien hätte. Warum sagte er denn nichts? Ich versuchte mir meine Nervosität nicht anmerken zu lassen und zog einfach das nächste Wäschestück aus dem Korb. „Die restliche Dreckwäsche hab ich bereits in die Maschine getan. Ihr müsst sie morgen nur noch einschalten.“ Ich schüttelte die Jeans aus und hing sie neben das Shirt. Dabei wagte ich es nicht ihn anzusehen. „In deinem Zimmer bin ich nicht gewesen, ich weiß also nicht, was du da noch an Müll und Dreck hast. Aber Küche, Flur und Bad sind sauber. Nicks Zimmer muss ich noch durchwischen. Später, wenn er aufgewacht ist.“

Ich konnte praktisch spüren, wie Reese' Wut wuchs.

„Was hast du hier zu suchen“, fragte er mit gefährlich beherrschter Stimme.

„Nick hat mich angerufen und gebeten zu kommen.“

„Ich habe dir gesagt …“

„Hast du noch den Schlüssel für den Käfig?“, unterbrach ich ihn und schnappte mir ein halbes Dutzend Socken aus dem Korb um sie mit nervösen Fingern glatt zu ziehen und auf den Ständer zu hängen.

Als es hinter mir ruhig blieb – zu ruhig – wagte ich es doch einen Blick über die Schulter zu werfen. Da stand er in seinem langen Ledermantel unter dem der Gurt für seine Waffe hervorschaute. Die Hände zu Fäusten geballt, fixierte er mich mit einem wütenden Blick.

„Nick hat Mr. Who mit einer Fleischgabel erstochen“, erklärte ich ohne lange Vorreden. Würde sowieso nichts bringen – nicht bei Reese. „Die Gabel habe ich bereits in den Müll entsorgt, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass einer von euch sie noch mal für Essen benutzen will, aber ohne Schlüssel komme ich nicht an den Kadaver heran.“

Reese wirkte, als bemühte er sich nicht sofort an die Decke zu gehen und mir den Hals umzudrehen. „Was ist hier passiert?“

„Hab ich doch gerade gesagt.“ Ich wich seinem drohenden Blick aus und zog ein Handtuch aus der Wäsche.

„Erzähl mir keinen Scheiß!“, fuhr er mich an und trat wütend an den Käfig. Mit einem Ruck hatte er die Decke weggerissen und starrte nun auf die kleine, blutverschmierte Gestalt, die nun für niemanden mehr eine Gefahr war. „Nick hat dieses blöde Vieh geliebt, er hätte es nie ohne Grund aufgespießt!“

Bei dem indirekten Vorwurf zuckte ich innerlich zusammen. „Nick möchte eine Katze haben. Er will mit dir darüber sprechen und …“ Ich verstummte sofort, als er wütend zu mir herum fuhr.

„Hör auf mir irgendeinen Schwachsinn zu erzählen und sag mir was hier los war!“

„Warum sollte ich?“, entgegnete ich angriffslustig, nicht bereit auch nur einen Schritt zurückzuweichen. „Gestern habe ich dich praktisch angefleht mir zu sagen was mit Nick ist und du hast einfach aufgelegt.“ Ich hängte das Handtuch über eine Stange.

„Das war etwas ganz anderes.“

„Für dich vielleicht, aber nicht für mich. Wenn du wissen willst was passiert ist, dann frag Nick.“ Im nächsten Moment bereute ich diese Worte fast.

Reese kam durch die Küche geschossen, packte mein Handgelenk und riss mich zu sich herum. „Jetzt pass mal ganz genau auf, Shanks, wenn du etwas tust, was Nick schadet, wirst du dir wünschen mir niemals begegnet zu sein.“

Mein Herz schaltete in Turbobetrieb als die Furcht bei mir zuschlug. Ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen, ruhig zu bleiben, doch es war gar nicht so einfach, seine Wut zu ignorieren. „Drohst du mir etwa?“

„Ich habe dir gesagt, dass du dich hier nicht mehr blicken lassen sollst!“, fuhr er mich an ohne auf meine Frage einzugehen. „Ich habe dir gesagt, dass du dich von ihm fernhalten sollst und jetzt stehst du schon wieder in unserer Küche! Bist du wirklich so dumm, oder verstehst du einfach nicht, dass du hier nichts zu suchen hast!?“

„Ich bin nicht dumm.“

„Du tust aber alles um mir das glaubhaft zu machen! Verdammt, warum kannst du nicht hören wenn ich dir etwas sage?! Du hast hier nichts zu suchen! Nick ist kein guter Kerl! Nicht gut für dich und auch nicht gut für andere Frauen. Er ist …“

„Das hast du mir bereits alles gesagt und es interessiert mich nicht.“ Ich verengte die Augen und weigerte mich, genauer auf seine Worte einzugehen. Er würde sowieso nicht antworten, wenn ich ihn nach der Bedeutung fragen würde. „Immer erzählst du den gleichen Mist, aber bisher hast du mir keinen guten Grund geliefert, der dein Verhalten rechtfertigt!“ Ich riss mich aus seinem Arm los. „Und bis es soweit ist, werde ich mich nicht von ihm fern halten. Und du hast kein Recht, dich da einzumischen.“

„Ich habe alles Recht der Welt!“, schrie er mich an.

Ich ignorierte ihn und griff wieder in den Korb, doch bevor ich die Wäsche auch nur berühren konnte, hatte er mich schon grob am Arm gepackt und mich Richtung Küchentür gestoßen. Ich strauchelte und fiel nur nicht, weil ich mich am Sofa abfangen konnte. Dabei stieß ich mir das Bein, aber viel schlimmer war der Schmerz in meinem Arm. Reese hatte genau die gleiche Stelle erwischt, an der Nick mich gestern Morgen gepackt hatte. Meine Haut wurde dort von einem Bluterguss geziert und es tat verdammt noch einmal weh, wenn er dort drückte.

„Und jetzt verschwinde endlich und lass dich hier nicht mehr blicken!“

Ich glaubte nicht, dass ich in meinem Leben schon einmal so wütend auf einen anderen Menschen war, wie in diesem Augenblick. Egal was er für Probleme hatte, es gab ihm nicht das Recht so mit mir umzuspringen und genau deswegen gab es nur eine Sache die ich erwidern konnte. „Nein.“

Reese blinzelte einmal, als könnte er nicht glauben, was ich da gerade von mir gegeben hatte. „Was hast du gesagt?“

„Ich habe nein gesagt. Nick will, dass ich hier bin und ich werde nicht gehen, ehe er das nicht verlangt.“ Ich richtete mich auf und funkelte ihn wütend an. Das konnte ich nämlich genauso gut wie er. „Ich weiß wirklich nicht, was dein Problem ist und mittlerweile ist mir das auch völlig egal. Weißt du, anfangs hatte ich noch gehofft, dass wir irgendwann doch normal miteinander umgehen können. Ich habe mich bemüht, es dir recht zu machen und versucht weniger penetrant zu sein.“ Das Wort schmeckte bitter auf meiner Zunge. „Aber weißt du was? Jetzt ist es mir egal. Du kannst mich nicht leiden? Dein Problem. Du willst dass ich verschwinde? Auch dein Problem. Ich lasse mich nicht herumschubsen, weder von dir noch von jemand anderem. Wenn du mit deinem Leben nicht klar kommst, bin ich nicht dafür verantwortlich. Ich werde mich jetzt nicht mehr bemühen, dir irgendwas recht zu machen. Nicht, bevor du dich bei mir entschuldigt hast.“

Er schnaubte. „Warum sollte ich mich bei dir entschuldigen?“

Ich drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Eigentlich hätte mir klar sein müssen, dass er so reagierte und trotzdem hatte ich insgeheim die Hoffnung gehabt, dass er wenigstens versuchen würde, die Wogen zwischen uns zu glätten. Immerhin würden wir noch eine ganze Weile miteinander auskommen müssen. Aber ich konnte ihn auch nicht dazu zwingen.

„Wie du willst“, sagte ich irgendwann, als die Stille zwischen uns drückend wurde. Ich drehte ihm den Rücken zu und verließ die Küche. Wenn er es unbedingt so haben wollte, konnte ich nichts dagegen tun und ich würde mich damit nicht fertig machen. Das konnte er vergessen.

„Wo willst du hin?!“

„Weg von dir.“

Natürlich kam er mir nach. „Die Wohnungstür liegt in die andere Richtung!“

„Ich habe nicht vor zu verschwinden, nur weil du dich von meiner Anwesenheit, aus was weiß ich für Gründen, bedroht fühlst.“ Ich marschierte zu Nicks Zimmer und riss die Tür in dem Moment auf, als er wieder nach meinem Arm griff, doch dieses Mal schlug ich seine Hand weg. „Fass mich nie wieder an!“, fauchte ich. „Dazu hast du kein Recht!“

„Und du hast kein Recht hier zu sein, also verschwinde endlich!“

„Nicht bevor du mir einen vernünftigen Grund lieferst!“

Er drückte die Zähne so fest aufeinander, dass es beinahe wie ein Zähnefletschen wirkte. Seine Augen waren nur noch Schlitze, durch die er mich wütend anfunkelte. „Meine Gründe gehen dich nichts an.“

„Dann werde ich auch nicht gehen“, erwiderte ich fest.

„Warum verdammt?“ Er wirkte als wolle er sich die Haare ausreißen und wütend mit dem Fuß auf dem Boden aufstampfen. „Du kennst ihn doch erst ein paar Tage! Du kannst mir nicht erzählen, dass du bereits unsterblich in ihn verliebt bist! Es gibt für dich keinen Grund hier zu sein!“

Ich warf einen Blick zu Nick, der noch immer tief zu schlafen schien. Die Medikamente mussten ihm wirklich schwer zu schaffen machen. „Ich weiß nicht, ob ich in ihn verliebt bin“, sagte ich ganz ehrlich. „Aber ich weiß genau, dass ich ihn sehr gerne habe.“ Ich wandte mich wieder zu Reese herum. „Und genau aus diesem Grund werde ich nicht einfach verschwinden. Wenn dich irgendetwas stört, kannst du ja verschwinden.“

„Ich wohne hier, verdammt noch mal!“

„Na und? Sonst bist du doch auch nicht vor Mitternacht zu Hause!“, fauchte ich zurück.

„Sonst liegt Nick ja auch nicht verletzt im Bett!“

Als wir das Rascheln der Decke hörten, drehten wir unsere Köpfe synchron zu Nick herum.

Er blinzelte uns verschlafen an. „Warum streitet ihr euch schon wieder“, nuschelte er und wirkte dabei, als würde er noch immer vor sich hin träumen.

„Ich hab die Wohnungstür offen gelassen, als ich den Müll rausgebracht habe.“ Ich blitzte Reese an. „Und er war einfach nur besorgt, dass jemand in die Wohnung gegangen sein könnte.“

Ob Nick mir das glaubte wusste ich nicht, aber ich würde ihm nicht die Wahrheit sagen und damit vielleicht einen Keil zwischen die Brüder treiben.

Du magst Mr. Who nicht, also mache ich Mr. Who weg.

Okay, dieser Gedanke ging nun doch etwas zu weit. Reese war kein Proles, der in der Küche in einem gesicherten Käfig saß, er war Nicks großer Bruder. Doch das, was ich vorhin miterlebt hatte, war nun mal in mein Gedächtnis gebrannt und würde sich daraus auch nicht mehr so schnell vertreiben lassen.

„Ist doch nicht so schlimm“, nuschelte Nick und drehte sich gähnend auf den Rücken.

Ich beachtete Reese nicht weiter, als Nick die Hand nach mir ausstreckte. Mit dem Lächeln im Gesicht schien er wieder ganz der Alte zu sein – nichts erinnerte an Mr. Who und die Fleischgabel. Lächelnd lief ich durch das Zimmer und setzte mich zu ihm auf die Matratze. „Wie geht es dir?“

„Jetzt wo du neben mir sitzt, besser.“

Das war wirklich süß. „Und dein Arm?“

„Ich hole ihm seine Schmerzmittel“, verkündete Reese und verschwand dann mit einem letzten, feindlichen Blick auf mich aus dem Türrahmen.

Nick sah ihm nachdenklich hinterher. „Er ist sauer.“

„Kannst du es ihm verübeln? Er hatte ja recht, ich hätte die Tür nicht einfach offen lassen sollen.“

Er drehte seinen Kopf so, dass er mir ins Gesicht sehen konnte. „Hab ich das richtig verstanden? Du hast den Müll rausgebracht?“

„Ich habe aufgeräumt.“

„Wo? Hier?“

„Naja, die Wohnung.“ Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Hab nur ein wenig sauber gemacht.“

„Warum?“

Hm, eine ehrliche Antwort wäre wohl nicht die beste Reaktion auf diese Frage. Ich konnte ja wohl schlecht sagen, dass es hier nicht nur schlimmer wie in einem Schweinestall ausgesehen hatte, sondern mindestens genauso gemuffelt hatte. „Du hast geschlafen und ich wollte mich irgendwie beschäftigen, ohne dich zu stören.“

„Mach das nicht.“

„Was?“

„Mir meinen Dreck hinterher räumen.“ Er richtete sich auf und legte die Hand an meine Wange. Dabei richtete er seinen intensiven Blick so eindringlich auf mich, dass ich ganz kribbelig wurde. „Ich kann das alleine.“

Hm, wenn ich daran dachte, wie es noch heute Morgen hier ausgesehen hatte, konnte ich das nicht wirklich glauben. Aber da ich keine Diskussion vom Zaun brechen wollte, behielt ich auch das lieber für mich. „In Ordnung.“ Ich hob feierlich die Hand. „Hiermit schwöre ich, dass ich nie wieder auch nur einen Finger in diesen Vier Wänden krumm machen werde. Ähm … naja, zumindest nachdem ich dein Zimmer einmal gründlich durchgewischt habe.“

Das ließ ihn leise lachen. „Du bist wirklich einmalig, Cherry.“ Er ließ seine Hand in meinen Nacken wandern und zog mich an sich heran. Sein warmer Atem …

„Störe ich?“

Bei Reese Stimme riss ich mich praktisch von Nick los und konnte auch nichts dagegen tun, dass ich mal wieder die Farbe einer reifen Tomate annahm.

„Wenn du so fragst, ja“, antwortete Nick schlicht. Er wollte wieder nach mir greifen, aber ich rutschte vorsichtshalber ein wenig von ihm weg. Hier vor Reese mit ihm rumzuknutschen fand ich peinlich. Ich wollte nicht, dass er mich dabei sah.

„Ich würde ja jetzt sagen, es tut mir leid, aber das wäre eine Lüge.“ Reese trat ins Zimmer und reichte Nick zwei Tabletten und ein Glas Wasser. Seinen Mantel und auch seine Schuhe hat er in der Zwischenzeit abgelegt. Und jetzt achtete er ganz genau darauf, dass Nick seine Medikamente schluckte. „Was ist mit Mr. Who passiert?“

Während Nick trank, zuckte er nur mit den Schultern. Dabei tropfte ihm ein Rinnsal Wasser über das Kinn auf sein Shirt. War es normal, dass ich bei diesem Anblick den Wunsch verspürte, mit meinen Fingern dem Weg zu folgen?

Um nicht auf komische Ideen zu kommen, verschränkte ich die Hände im Schoß und wandte den Blick ab.

„Shanks sagt du hast ihn mit einer Fleischgabel aufgespießt.“

Nick ließ das Glas sinken und grinste auf eine ziemlich furchterregende Art. „Ich wollte ihn nicht mehr, ich will jetzt eine Katze.“

Reese Augenbraue wanderte eine Etage hör. „Eine Katze.“

„Ja, klein, flauschig und verschmust.“ Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Eine weiße Katze.“

„Weiß, natürlich.“ Reese seufzte und strich sich übers braune Haar. „Ich werde mit Norbert darüber sprechen und dann sehen wir weiter.“

„Ruf ihn gleich an“, forderte Nick und stellte das Wasserglas achtlos neben seine Matratze.

„Ich werde als erstes Mr. Who entsorgen. Wir wollen ja nicht das unsere schöne, saubere Küche mit Blut befleckt ist.“

Sollte das ein Seitenhieb sein? „Gute Idee“, stimmte ich ihm einfach zu und lächelte ziemlich unecht.

Reese sah mich nur böse an und verließ dann ein zweites Mal wortlos das Zimmer.

Kaum, dass der große Bruder verschwunden war, sprang Nick aus seinem Bett, knallte seine Tür zu und hüpfte praktisch wieder zu mir zurück. Dabei hatte er einen so raubtierhaften Blick in den Augen, dass ich schon wieder ganz kribbelig wurde. „So, wo waren wir stehen geblieben, bevor wir so rüde unterbrochen wurden?“

„Dass ich dein Zimmer noch wischen wollte.“

Nick lachte leise, zog mich dann ohne viel Federlesen an sich heran und küsste mich, dass mir wortwörtlich Hören und Sehen verging.

Wir verbrachten den ganzen Nachmittag zusammen in seinem Bett. Geredet wurde nicht viel, aber das war egal, weil in dieser zweisamen Zeit nicht Worte sondern Taten zählten. Ich hätte mir nie erträumen lassen, dass es so schön sein konnte, jemanden so nahe an sich heran zu lassen. Jemanden der nicht nur äußerst vorsichtig vorging und auf alle meine Reaktionen achtete, sondern dabei auch noch so einfühlsam war. Es war wie ein schwelendes Feuer, das er langsam anfachte, damit sich niemand daran verbrennen konnte.

Es war wirklich angenehm. Ich vergaß sogar völlig, auf die Uhr zu achten und so war ich mehr als überrascht, wie dunkel es mit der Zeit im Zimmer wurde. „Wie spät haben wir es?“, fragte ich zwischen zwei Küssen und unterdrückte ein Seufzen. Nicks Hände waren wirklich geschickt. Bei jeder Berührung standen meine Nervenzellen sofort stramm, um auch nichts davon zu verpassen.

„Ist doch egal.“ Er lag halb auf mir, seine Beine mit meinen verknotet und hielt mich mit einer Hand im Nacken fest.

Ich kicherte. „Nick, ich muss spätestens um sieben zu Hause sein, damit mein Onkel sich keine Sorgen macht.“

„Ruf ihn einfach an und sag ihm, dass du heute hier bleibst.“ Er küsste mich auf die Wange, strich mit der Nase meine Kinnlinie nach.

„Ich kann nicht ständig hier bleiben.“ Sanft strichen meine Hände über seinen nackten Rücken, folgen den Muskeln und dem Rückgrat. „Sonst fängt er irgendwann noch an, Fragen zu stellen.“

Nick lachte leise, „Das hört sich ja fast so an, als sei ich dein kleines, dreckiges Geheimnis.“

„So würde ich das nun auch nicht ausdrücken.“ Meine Augen schlossen sich flatternd, als er kleine Küsse auf meine Halsbeuge hauchte. Ich hatte sehr schnell festgestellt, dass ich das unglaublich gerne hatte.

„Wie denn dann? Oder hast du ihm noch nichts von mir erzählt?“

Meine Hände verharrten mitten in der Bewegung. Ich hatte mir darüber vorher nie Gedanken gemacht, aber jetzt musste ich mir eingestehen, dass ich das wirklich noch nicht hatte. Okay, bei dem einen Frühstück hatte ich seinen Namen nebenbei erwähnt, das war aber auch schon alles gewesen.

Natürlich bemerkte Nick, dass ich ihm nicht antwortete. Er unterbrach seine Küsse und musterte mich sehr genau. „Du hast nichts von mir erzählt?“

„Ähm … nein. Nicht so richtig jedenfalls.“

„Warum?“ Er runzelte die Stirn. „Bin ich dir peinlich?“

„Was? Nein! Wie kommst du auf so einen Blödsinn?“

Plötzlich schlug die ganze Stimmung um. Nick richtete sich so plötzlich auf, dass sein Wärmeentzug schon einem körperlichen Schmerz glich. Er rollte aus dem Bett, stand auf und starrte mich verletzt an.

„Ich bin nicht blöd!“

Was? Wie kam er denn jetzt darauf? „Das habe ich doch auch gar nicht behauptet.“

„Doch, hast du. Eben. Du hast gesagt ich bin blöd und das bin ich nicht, verstanden?!“

Ich schluckte. Was war denn jetzt passiert? „Nein, das hab ich nicht gesagt, ich …“ Ich richtete mich ein wenig auf, da er mir plötzlich sehr bedrohlich erschien, wie er da über mir aufragte. „Ich bin bisher einfach nicht dazu gekommen, von dir zu erzählen. In der letzten Zeit ist so viel zu tun, dass ich einfach nicht daran gedacht habe.“

Er schnaubte verächtlich und begann im Raum auf und ab zu laufen. „Nee ist klar. Ist ja auch sehr schwer mal zu erwähnen, dass es mich gibt.“

„Das ist unfair. Ich mache doch kein Geheimnis aus dir. Meine Freunde wissen, dass es dich gibt.“

Er blieb stehen und richtete seinen Blick auf mich. „Dieser Dom? Der weiß, dass ich dein Freund bin?“

„Ja, Dom und Eve. Du hättest sie ja auch gestern kennen gelernt.“

„Aber dein Onkel und deine Schwester wissen nichts von mir.“

„Ihnen werde ich es auch noch sagen.“

„Wann?“

Was sollte das? Warum wurde er so aggressiv? Es war ja nicht so, dass ich ihn verheimlicht hatte. Bisher war ich einfach nicht dazu gekommen, meiner Familie von ihm zu berichten. „Wenn es dir so viel bedeutet, werde ich es ihnen noch heute sagen.“

Seine Stirn runzelte sich leicht, als befürchtete er an der Sache einen Haken. „Heute?“

„Ja, gleich wenn ich nach Hause komme, okay?“ Ich erhob mich vom Bett und trat zu ihm, tastete zögernd nach seiner Hand und war froh, dass er sie mir nicht wieder entzog. „Es war wirklich nicht meine Absicht, dich zu verheimlichen. In der letzten Zeit hatte ich einfach so viel zu tun und wenn ich frei hatte, war ich meistens mit dir zusammen.“

„Okay. Dann geh nach Hause und sag es ihnen.“

So schnell? „Wie spät ist es denn nun?“

„Kurz nach acht.“

„Nach acht? Sch… ich meine, Mist!“ Wie konnte es schon so spät sein? Und warum hatte sich niemand bei mir gemeldet? Onkel Roderick würde ja am liebsten schon die Nationalgarde alarmieren, wenn ich nur fünf Minuten zu spät nach Hause kam, aber zwei Stunden? Oh Gott, hoffentlich war mit ihm alles in Ordnung. Eilig drückte ich ihm einen Kuss auf die Wange und wollte dann aus dem Zimmer stürmen, doch er zog mich noch einmal zurück um daraus einen richtigen Kuss zu machen, der mich innerlich erbeben ließ. „Ruf an wenn du zu Hause bist, damit ich weiß, dass du sicher angekommen bist.“

Das klang nicht nur wie ein Befehl, das war auch einer. Ich sah es in seinem Blick. „Aber nur wenn du dich sofort zurück ins Bett legst. Du musst dich noch ausruhen.“

„In Ordnung.“

Natürlich gab es noch einen weiteren Kuss, bevor ich aus dem Zimmer kam und mir im Flur fluchend meine Schuhe anzog. Es war nach Acht. Ich war den ganzen Tag bei Nick gewesen. Der Gedanke war schön, wurde aber davon verdrängt, dass ich deswegen die Akademie geschwänzt hatte und mein Onkel sich vor Sorge vermutlich gerade die Haare ausriss.

„Was ist passiert?“

Von Reese' Stimme überrascht wirbelte ich herum. In Jogginghose und T-Shirt stand er im Türrahmen zu seinem Zimmer und musterte mich seltsam intensiv. Es schien als suchte er etwas an mir. Sein Blick wirkte … besorgt? Konnte das sein? Aber warum? „Passiert?“

„Du rennst hier wie ein aufgescheuchtes Hühnchen durch die Gegend, als seist du auf der Flucht, obwohl du dich die ganze Zeit so dagegen gesträubt hast zu gehen.“

Ach so, das meinte er. „Ich muss nach Hause. Ich hab nicht auf die Zeit geachtet.“

Er runzelte die Stirn, suchte nach der Lüge in meinen Worten.

„Hör auf mich so anzusehen.“ Ich zog meinen zweiten Schuh über und griff nach meiner Jacke.

„Pass auf dich auf, Shanks.“

„Was?“

„Du sollst auf dich aufpassen.“

Ich runzelte die Stirn. Was sollte der kryptische Blödsinn. Meinte er das allgemein, oder wollte er damit auf etwas bestimmtes hinaus? „Ich soll auf mich aufpassen? Du meinst auf dem Weg nach Hause?“

„Verschwinde jetzt.“ Er drehte sich herum und verschwand wieder in seinem Zimmer. Die Tür schloss sich hinter ihm genauso leise, wie sie sich geöffnet hatte und ich bleib allein zurück. Was bitte hatte das jetzt wieder zu bedeuten? Erst schnauzt er mich an, kaum dass er mich sieht, wird sogar handgreiflich um mich aus der Wohnung zu befördern und jetzt spricht er auch noch in Rätseln. Über diesen Kerl konnte man sich wirklich nur noch wundern.

Kopfschüttelnd zog ich meine Jacke über und kramte beim Verlassen der Wohnung mein Handy aus der Tasche. Ich musste Onkel Roderick anrufen, bevor er auf die Idee kam, die Polizei nach mir auf die Straße zu schicken und erst da fiel mir wieder ein, dass ich mein Handy heute Morgen ausgeschaltet hatte, damit keiner fragen konnte wo ich war. Mist, das erklärte natürlich auch, warum sich den ganzen Tag niemand bei mir gemeldet hatte.

Mir schwante böses, als ich auf dem Weg nach unten mein Handy einschaltete und ich wurde auch nicht enttäuscht. Siebenundfünfzig Anrufe in Abwesenheit. Von Evangeline, Domenico, Onkel Roderick und sogar von Wynn. Na super. Das würde sicher ein lustiger Abend werden. Seufzend wählte ich die erste Nummer.

 

°°°

 

Angewidert wischte ich mir das Blut des Krant mit einem feuchten Tuch von den Fingern. Meine Klamotten dagegen müssten bis zur nächsten Begegnung mit der Waschmaschine warten.

„Du hast echt saumäßige Arbeit abgeliefert“, knurrte Reese mich an und versuchte seinerseits das Blut mit einem feuchten Tuch aus seinem Gesicht zu bekommen.

Bitte was? „Was heißt hier saumäßige Arbeit? Ich habe mich genau an den Plan gehalten. Deinen Plan!“ Was konnte ich denn dafür, wenn es nicht so lief, wie er es sich vorgestellt hatte? Ich hatte dem Krant schließlich nicht gesagt, renn in die Innenstadt um zwischen den Leuten eine Panik auszulösen, damit sie unseren Weg blockieren konnten.

„Hättest du richtig gezielt, wäre er gar nicht erst aus dem Parkhaus rausgekommen.“

Na jetzt reichte es aber langsam. „Er ist hinter eine Betonsäule gerannt! Hätte ich dadurch schießen sollen, oder was?“

„Du hättest vorher abdrücken sollen!“

„Und was ist mit dir? Du hast dich heute auch nicht gerade als strahlender Held erwiesen!“ Ich riss ein weiteres Feuchttuch aus der Verpackung und schmiss das Päckchen dann auf den Beifahrersitz. Dabei beachtete ich die tuschelnden Menschen gar nicht, die sich um den Kadaver unserer Beute versammelt hatten. „Erst rennst du diesen Mann über den Haufen und dann lässt du dich auch noch fast von einem Wagen überfahren.“ Vorsichtig tupfte ich die Schnittwunde in meiner linken Innenhand ab. Das brannte saumäßig und würde sicher eine Narbe geben.

„Gott, ich wünschte du wärst überfahren worden, dann müsste ich mich nicht länger mir dir abmühen.“

Okay, jetzt langte es aber langsam. Wütend knüllte ich das Feuchttuch zusammen und warf es ihm ins Gesicht.

Er stutzte, blinzelte und funkelte mich dann an. „Was soll der Scheiß?!“

„Das würde ich auch mal gerne wissen. Seit heute Morgen ranzt du mich unentwegt an und das völlig grundlos!“

„Grundlos!“, höhnte er. „Das ist nicht grundlos. Du bist schon den ganzen Tag unkonzentriert und machst einen Fehler nach dem anderen. Und als dein Lehrcoach ist es meine Pflicht, dich darauf hinzuweisen!“

„Ja, genau, wenn ich Fehler mache sollst du mich korrigieren, aber du machst mich ja sogar an, wenn ich nur in deine Richtung atme. Kannst du Privatleben und Arbeit nicht trennen? Hier geht es nämlich nicht um Nick!“

„Nein, hier geht es um dich und deinen Mangel an Intelligenz! Hättest du nicht in den Tag geträumt, hätten wir das Vieh schon im Parkhaus gehabt!“

„Wie oft eigentlich noch? Da war ein Betonpfeiler!“

„Ja, such nur weiter nach Ausreden. Nur leider ändert das nichts an deiner Unfähigkeit. Gott, eigentlich ist schon allein die Luft die du atmest zu schade für dich. Am besten wäre es, du würdest uns den Gefallen tun und dahin verschwinden woher du gekommen bist.“

Ich wollte ihn schlagen. In diesem Moment hatte ich das Bedürfnis meine Hand zu heben und ihm eine Backpfeife zu verpassen. Seine Laune war nicht nur auf dem Tiefpunkt angekommen, er ließ es mich auch mit jedem Atemzug spüren. „Entschuldige, dass ich geboren wurde und mit meiner Anwesenheit deine reine Gegenwart verseuche.“ Ich gab ihm gar nicht mehr die Gelegenheit für eine Erwiderung, so schnell war ich in den Wagen gestiegen und hatte die Tür hinter mir zugeknallt. Dieser Kerl war … ahhh! Am liebsten würde ich laut schreien, um meinem Frust ein wenig Luft zu machen.

Den ganzen Tag schon piesackte er mich, wo er nur konnte und langsam befürchtete ich, dass dieser Dienstag niemals zu Ende gehen würde. Wenn ich mich wenigstens für ein paar Minuten absetzen könnte, aber Mittag hatten wir schon vor einer Stunde gemacht – getrennt voneinander – und nun mussten wir auf Judd warten. Und bis zum Feierabend – dem frühsten Zeitpunkt Reese' Gesellschaft zu entkommen – waren es auch noch ein paar Stunden. Gott, wie sollte ich das nur überleben, ohne ihm heute noch etwas Hartes an den Kopf zu werfen? Obwohl, vielleicht würde ihn das endlich zur Vernunft bringen.

Seufzend lehnte ich mich in die Polster zurück und entschied, dass das auch keine dauerhafte Lösung war. Es gab ja auch noch zwei weitere Optionen. Zum einen blieb mir noch die Möglichkeit mit Jilin zu sprechen und sie bitten, mal ein paar ernste Worte mit Reese zu wechseln, die ihn hoffentlich wieder zur Vernunft brachten. Oder ich ließ mich wirklich einem anderen Lehrcoach zuteilen. Aber damit würde ich mir eine Niederlage eingestehen müssen und das wollte ich auf keinen Fall. Nein, ich würde das selber hinbekommen. Irgendwann musste er ja mal damit aufhören.

Irgendwann.

Gedankenverloren betrachtete ich die Schnittwunde in meiner Hand und sah dann hinaus zu dem toten Proles. Ich hatte ihn erlegt. Nachdem wir ihm über eine Stunde erst durchs Parkhaus des Hotels, dann durch das Hotel selber und anschließend über die umliegenden Straßen hinterhergerannt waren, hatte es mir gereicht und ich hatte mich ihm als Lockvogel präsentiert. Das war gar nicht schwer gewesen. Ein Schnitt in der Hand, ein bisschen mit dem Blut durch die Luft wedeln und ihm dann das Messer in den Kopf rammen, sobald es sich auf mich gestürzt hatte. Leider war ich dabei auf meine Hüfte gefallen. Die Wunde war nicht wieder aufgegangen, aber es tat trotzdem saumäßig weh. Doch bevor ich Reese nach der Salbe fragen würde, würden Schweine fliegen lernen.

Missmutig spähte ich durch die Windschutzscheibe zu meinem rauchenden Lehrcoach und zerbrach mir wieder einmal den Kopf darüber, wie man die Beziehung zwischen uns verbessern konnte. Von meinem guten Vorsatz von gestern, ihn in Zukunft einfach zu ignorieren und nichts auf ihn und seine Worte zu geben, war nichts mehr übrig geblieben. Wie denn auch? Drei Monate waren eine lange Zeit und wir hatten gerade mal eine Woche hinter uns gebracht. Nein, so konnte es wirklich nicht weitergehen, doch ich hatte auch keine Ahnung, wie ich das kitten sollte. Außerdem hatte ich auch ich im Moment, wo er sich wie der größte Arsch der Welt aufführte auch gar keine Ambitionen dazu, irgendwas dafür zu tun. Warum auch immer ich? Er konnte doch schließlich auch mal etwas machen.

Ich schnaubte. Als wenn das jemals passieren würde. Reese Tack sollte einen Fehler zugeben? Vorher würde die Welt untergehen.

Aus einer kleinen Nebenstraße bog der weiße Lieferwagen von Judd auf das Hotelgelände ein, wo auch Reese bei unserer Ankunft seinen Wagen geparkt hatte. Eigentlich war es schon ein ziemlich großer Zufall gewesen, dass der Krant bei seiner Fluch durch die ganze Gegend zum Schluss genau zu unserem Wagen gerannt war. Es hatte für uns zwar keine Vorteile gebracht, aber so musste ich nun wenigstens nicht blöd in der Gegend rumstehen und konnte auch den Schaulustigen entkommen.

Manchmal waren Menschen wirklich faszinierend. In dem einen Moment rannten sie schreiend vor den Monstern davon und im nächsten wähnten sie sich in der falschen Sicherheit und beglotzten es von allen Seiten. Keiner von ihnen schien sich klar darüber zu sein, dass der Blutgeruch des toten Proles noch andere Abkömmlinge anlocken konnte und sie mit ihrer Anwesenheit praktisch ein Büffet für sie angerichtet hatten. Manchmal konnten Menschen wirklich dumm sein. Besonders diese Frau dort vorne mit dem kleinen Jungen an der Hand. Sah sie die Gefahr wirklich nicht? Oder verschloss sie sich einfach vor der Wahrheit, um in diesen schweren Zeiten wenigstens ein bisschen Frieden zu bekommen? Auch das zollte nicht unbedingt von Intelligenz.

Als Judd seinen Wagen unweit von dem Krant parkte und damit die Schaulustigen ein wenig auseinander trieb, war es für mich an der Zeit, den Schutz des Wagens zu verlassen und mich ein weiteres Mal meinem ungenießbaren Lehrcoach zu stellen. Innerlich seufzend öffnete ich die Wagentür und trat gleichzeitig mit unserem Kadavermann ins Freie, unter die dunklen Wolken, die heute noch einen heftigen Regenschauer versprachen. Ich hoffte nur, dass ich bis dahin zu Hause war.

Die Leute wichen etwas zur Seite als Judd uns zunickte und dann um seinen Wagen herum ging, um seine Sachen aus dem Laderaum zu nehmen, ließen ihn dabei aber nicht aus den Augen. Was sie sich wohl erhofften zu sehen? Manchmal verstand ich die Menschen wirklich nicht.

Da Reese bereits auf dem Weg zu Judd war, bewegte ich mich zum Krant. Besser ich ging ihm weitestgehend aus dem Weg.

Die Augen des toten Proles waren weit aufgerissen, die kurze Schnauze leicht geöffnet und er war ziemlich dick, irgendwie … kugelrund. Ich neigte den Kopf leicht zur Seite, hockte mich zu dem Leichnam und strich durch das weiche Fell am Bauch. Die Zitzen standen hervor und als ich leicht darauf drückte, trat milchig durchscheinende Flüssigkeit heraus.

Nein, dieser Krant war nicht dick, er – oder besser gesagt sie – war trächtig. Das würde auch erklären, warum wir keinen weiteren Abkömmlinge aus dem Rudel gefunden hatten. Gott sei Dank hatten wir es erwischt, bevor es seine Brut in die Welt setzten konnte.

„Entschuldigung?“

Ich blickte auf zu einem schmalen Kerl mit einem perfekten Scheitel auf dem Kopf. Da wagte es sich kein Haar auch nur ein Stück aus der Reihe zu tanzen. Das war der Hotelmanager in seinem schwarzen Anzug, der genauso perfekt und ordentlich saß, wie der geübte Gesichtsausdruck. Er war es auch gewesen, der die Gilde alarmiert hatte, nachdem der Proles durch eine Überwachungskamera im Parkhaus entdeckt wurde.

„Ja?“, fragte ich so freundlich wie ich konnte. Er war schließlich nicht daran schuld, dass ich mich mit einem unausstehlichen Lehrcoach rumschlagen musste.

„Ich … ähm … das Hotel … also …“ Er atmete einmal tief durch, blickte kurz auf den toten Proles und straffte dann die Schultern. „Durch ihre Jagd entstand am Hotel Schäden. Eine sehr teure Vase in der Lobby ist dabei zu Bruch gegangen und ein Hauptverteiler muss wahrscheinlich komplett ersetzt werden. Das Hotel ist durch die Jagd ohne Strom und die Gäste drohen bereits abzureisen. Und nun wollte ich wissen an wenn genau ich mich wenden muss, um den entstanden Schaden ersetzt zu bekommen.“

Das wollte er von mir wissen? Hatte er seine Hausaufgaben nie gemacht? „An ihre Versicherung würde ich sagen. Die kommen für solche Schäden auf.“

„Nein, tut sie eben nicht“, widersprach er sofort. „Wir haben nur eine eingeschränkte Versicherung, die bei Proles-Schäden nicht greift, sollten diese sachlicher Natur sein.“

„Na dann wird das Hotel wohl allein dafür aufkommen müssen.“

Der Hotelmanager bekam einen kämpferischen Zug. „Das sehe ich nicht so. Die Schäden wurden durch Sie und ihren Partner verursacht …“

Genaugenommen von Reese, denn er hatte den Hauptverteiler getroffen.

„… also muss die Gilde auch dafür gerade stehen.“

Oh, bitte nein. Womit hatte ich das nun schon wieder verdient? Seufzend richtete ich mich auf und musste feststellen, dass ich den Mann um ein paar Zentimeter überragte. „Herr Harper …“

„Halpern. Mein Name ist Halpern.“

Weil das ja jetzt auch so wichtig war. „Herr Halpern.“ Ich betonte es sehr deutlich. „Sie haben uns gerufen, damit wir den Krant beseitigen und genau das haben wir getan. Die Bestimmungen der Gilde sind allgemein bekannt und so müssten Sie wissen, dass wir nicht für Schäden aufkommen, solange sie von uns nicht mutwillig ausgeführt wurden. Wenn Sie das nicht akzeptieren können, steht es Ihnen frei, sich mit der Meistervenatorin der Berliner Gilde oder direkt mit dem Verband in Verbindung zu setzten, aber ich kann Ihnen jetzt schon versprechen, dass Sie dort genau das gleiche zu hören bekommen, wie gerade von mir.“ Ich öffnete machtlos die Hände. „Es tut mir leid dass Ihnen das passiert ist, aber als Geschäftsmann müssten Sie eigentlich auch wissen, dass es äußerst unklug ist sich nicht gegen die ganze Brandbreite von Proles-Schäden abzusichern. Deswegen empfehle ich Ihnen …“

„Das können Sie nicht machen!“, fuhr er mir einfach über den Mund und erweckte damit nicht nur die Aufmerksamkeit der Schaulustigen, sondern auch die von Reese und Judd. „Sie sind dafür verantwortlich und deswegen müssen Sie auch dafür gerade stehen! Sollten Sie das nicht tun, werde ich damit zur Polizei gehen und Sie anzeigen!“

Das hatte mir jetzt noch gefehlt. Ich musste mich wirklich zusammen reißen, um nicht laut zu seufzen. „Herr Harper …“

„Halpern!“

Geduld, ganz ruhig. „Herr Halpern, ich …“

„Kann man dich eigentlich keine zwei Minuten aus den Augen lassen, ohne dass du für Unheil sorgst?!“, mischte sich nun auch noch Reese mit ein und kam wie ein Güterzug mit weit ausholenden Schritten auf mich zu. „Was hast du jetzt wieder getan?!“

Wütend funkelte ich ihm entgegen. „Das einzige Unheil hier bist ja wohl du!“

Darauf ging er gar nicht ein. „Was hast du getan?!“

„Genaugenommen habe ich gar nichts getan, sondern du!“

„Ich?!“ Er schien fassungslos, dass ich mich erdreistete, ihn zu bezichtigten. „Und was soll ich bitte getan haben?“ Direkt vor mir kam er zum Stehen, aber ich ließ mich von seiner Größe nicht einschüchtern. Nicht mal die dunkeln, fast schwarzen Augen konnten mich heute in meine Schranken weisen, dafür war ich einfach zu sauer.

„Du hast den Krant in die Lobby gejagt, weswegen eine teure Vase zu Bruch gegangen ist! Und du warst es auch, der geschossen hat und dabei den Hauptverteiler getroffen hat!“

„Mir blieb ja wohl auch nichts anderes übrig, weil du einfach unfähig bist!“

„Ach, jetzt bin ich schuld, dass du neuerdings eine Brille benötigst?“

„Wenigstens benötige ich keinen Verstand!“

„Ach, jetzt willst du damit wieder anfangen? Wie wäre es, wenn ich dir die Arbeit abnehme? Frauen sind als Venator nicht geeignet. Sie sind schwach und dumm und am besten in der heimatlichen Küche aufgehoben, wo sie den Haushalt übernehmen und ihren Männern am Abend die Füße massieren!“

„Das habe ich niemals gesagt“, knurrte er mich an.

„Vielleicht nicht mit diesen Worten, aber genauso bringst du es immer rüber!“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. „Du kannst einfach nicht einsehen, dass ich genauso gut werden könnte wie du. Sogar besser! Wahrscheinlich kannst du einfach nicht die Konkurrenz ertragen!“

„Konkurrenz?“ Er lachte höhnisch auf. „Du bist keine Konkurrenz. Du bist nichts als ein kleines, penetrantes Mädchen, das nichts bei den Jägern verloren hat. Schau dich doch nur mal an!“

„Ach, jetzt läuft es wieder darauf hinaus? Weil ich zu kleine Titten habe, oder zu dünne Ärmchen? Was geht dich mein Aussehen an? Vielleicht bin ich nicht so ein Oberproll wie du, aber ich hab mich auch schon behauptet, also hör auf, so von oben herab auf mich zu sprechen!“

„Du hast dich behauptet?“ Er lachte.

Er lachte mich tatsächlich aus! Dieser kleine, schmierige Blödmann!

„Jetzt will ich dir mal etwas sagen Shanks, einem gezähmten Proles in einer Voliere gegenüber zu stehen, ist keine Herausforderung. Das kann jeder Dreijährige. Du wurdest schon bei deiner ersten echten Jagd verletzt. Du bist völlig zusammengebrochen, als wir in der Schule waren und heute warst du nicht einmal fähig, richtig zu zielen, obwohl du freies Schussfeld hattest.“

„Aber es hat immerhin gereicht, dir deinen beschissenen Arsch zu retten, als der Oryx dich überrannt hat!“

„Glückstreffer.“ Er beugte sich mir leicht entgegen. „Sieh es ein Shanks, du hast in der Gilde nichts zu suchen. Früher oder später wird dich eines dieser Monster erwischen!“

„Ich bin nicht Maggie!“, spie ich ihm entgegen und bemerkte einen Augenblick zu spät, was da über meine Lippen gekommen war. Ich sah es in seinen Augen, sah es in dem verzerrten Zug um seinen Mund und fürchtete einen Moment, dass er mir dafür einfach eine reinhauen würde. Diese vier Worte hatten wirklich getroffen. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen wich er einen Schritt vor mir zurück und funkelte mich wütend an.

„Du hast Recht, du bist nicht Maggie. Sie war das, was du nie sein wirst, eine verdammt gute Venatorin, aber das hat ihr auch nicht geholfen. Im Gegensatz zu dir besaß sie Verstand und trotzdem wurde sie getötet. Du bist nur ein kleines, schwaches Mädchen mit einer hässlichen Narbe im Gesicht, die sie immer an ihre Unfähigkeit erinnern wird.“ Er schüttelte den Kopf, als sei es ihm bereits zuwider mich nur anzusehen. „Und ich weiß auch, dass es deine Schuld ist, dass Nick verletzt wurde.“

Jedes seiner Worte war wie ein Messerstich, die sich tief in meinen Leib bohrten und die Schmerzen der Vergangenheit mit Gewalt an die Oberfläche zerrten.

„Du bist der widerlichste Mensch auf diesem ganzen Planeten!“, fauchte ich ihn an. „Ich bin nicht unfähig, dir kann es nur einfach nicht recht machen!“

Er schnaubte nur. „Ja, such für deine Unfähigkeit nur Entschuldigungen, verleugne die Wahrheit, aber es wird dir nicht helfen!“

„Wenigstens bin ich nicht so ein gefühlskaltes Arschloch wie du!“ Ich machte auf dem Absatz kehrt, stieß den Hotelmanager aus dem Weg und verschwand einfach von diesem Ort, ohne genau zu wissen, wohin ich eigentlich ging. Es war mir auch egal. Wie konnte dieser Mistkerl sich nur erlauben, das gegen mich zu verwenden? Was hatte er schon für eine Ahnung? Er wusste nicht wie das war, als kleines Kind machtlos daneben zu stehen und zuzusehen, wie die eigene Familie von diesen Monstern abgeschlachtet wurde. Er hatte keine Ahnung wie man sich fühlte, wenn einem die Bilder von damals noch heute in den Träumen heimsuchte.

Wie es war, seine Schwester anzusehen und in jedem ihrer Züge die Mutter zu erkennen. Er war nur ein Psycho, der sich gefühlskalt an illegalen Machenschaften beteiligte. Was hatte er eigentlich für ein Recht mir Vorwürfe zu machen? Was glaubte er eigentlich wer er war, dass er sich besser hinstellen konnte?

Gut, keiner von uns beiden trug noch die Unschuld mit sich herum, aber seine Weste war bei Weitem befleckter als meine, also wie konnte er es wagen, sich solche Freiheiten herauszunehmen? Nur ein Wort von mir und es wäre aus mit ihm. Mit dem was ich wusste, konnte ich nicht nur dafür Sorgen dass er bei der Gilde rausflog, ich konnte ihn vermutlich auch ins Gefängnis bringen. Also warum tat ich es nicht einfach? Warum ging ich nicht zu Jilin und erzählte ihr alles was ich wusste?

Ganz einfach, weil ich es nicht konnte. Reese konnte ein noch so großer Blödmann sein, ich konnte ihm einfach nicht schaden, weil ich damit auch Nick schaden würde und der liebte seinen großen Bruder mit all seinen Ecken und Kanten.

„Scheiße!“

Eine ältere Dame mit einer riesigen Handtasche schaute bei meinem Ausruf empört auf. „Ich darf doch wohl bitten.“

Nein, durfte sie nicht. Im Moment durfte das niemand. Ich ignorierte sie einfach lief weiter durch die Straßen, an Häusern, Menschen und Geschäften vorbei, ohne wirklich zu merken wo ich war, oder wohin meinen Beine mich trugen.

Du bist nur ein kleines, schwaches Mädchen mit einer hässlichen Narbe im Gesicht, die sie immer an ihre Unfähigkeit erinnern wird.

Ich war nicht unfähig. Es war nicht meine Schuld dass diese Jagd so ausgeartet war und ich konnte auch nichts dafür, dass der Hotelmanager sich so aufgeregt hatte. Oder? Plötzlich waren da Zweifel. Hatte Reese in manchen Punkten vielleicht recht und ich machte mir die ganze Zeit nur etwas vor? War ich wirklich so ungeeignet für diesen Job?

Schnaubend hob ich den Blick in den Himmel. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Wolken ihre Schleusen öffneten und versuchten das Elend aus dieser Welt zu waschen. „Zwecklos“, flüsterte ich und sah im gleichen Moment eine kleine Bewegung aus dem Augenwinkel. Da, zwischen den Mülltonnen bei dem kleinen Lebensmittelgeschäft.

Ich blieb stehen und kniff die Augen leicht zusammen. Nur wenig Licht drang in die Schatten der schmalen Gasse und auf den ersten Blick war kaum etwas zu erkennen. Eine alte, zerschlissene Couch, Zeitungsstapel, aufgerissene Mülltüten und dazwischen jede Menge Unrat. Die kleine Gasse war so zugemüllt, das ein Durchkommen bis ans andere Ende unmöglich war. Nur vorne hatte man einen kleinen Pfad gelassen um an die zerbeulten Müllcontainer zu kommen, die in einer Schrottpresse besser aufgehoben wären als hier draußen auf der Straße.

In dem spärlichen Licht war nur wenig zu erkennen und im ersten Moment glaubte ich, dass die Bewegung vielleicht von einer Ratte oder einer streunenden Katze gekommen war, da wollte mich schon wieder abwenden, aber dann hörte ich das Zirpen – so deutlich, als hätte es mir jemand mit einem Megafon ins Ohr gebrüllt. So ein Geräusch würde keine Katze von sich geben.

Ich blendete meine Umgebung aus. Den Lebensmittelladen mit dem verrosteten Fahrradständer. Die knochigen Bäume, die schon seit langer Zeit nur noch vertrocknetes Holz waren und den am Straßenrand aufgestapelten Hausrat. Meine Konzentration lag allein auf der schattenhaften Bewegung. Ich achtete auch nicht auf die Frau mit dem kleinen Jungen an der Hand, die aus dem Laden kam, als ich meine Waffe zog und sie vorsorglich entsicherte.

Auf der anderen Straßenseite wurde getuschelt. Ich spürte die neugierigen Blicke der Menschen, die jeder meiner Bewegungen folgten, hatte aber kein Auge dafür übrig.

Erneut tönte das leise Zirpen aus der Gasse.

Vorsichtig bewegte ich mich auf die schattenhaften Bewegungen zu. Ich konnte nicht genau erkennen was sich hinter dem Müllcontainer verbarg, aber ich hatte lange genug mit Proles gearbeitet um zu wissen, wann ich einen vor mir hatte.

Das Zirpen wurde zu einem zweistimmigen Knurren. Ein Fauchen, dann sprang etwas mit einem Satz auf die Tonne und ich konnte erkennen, womit ich es da zu tun hatte. Ein schlanker Katzenkörper mit unglaublich langen Beinen, die mich immer an eine Giraffe denken ließen. Das Fell war so schwarz wie die Nacht. Nur nicht am Hals. Dort war es weiß und selbst für einen Proles extrem lang. Vom Kopf zog sich das weiße Fell über den ganzen Nacken weiter über den Hals und erweckte damit den Eindruck eines sehr alten Mannes mit langem Bart. Opi. So hatte Evangeline sie einmal genannt und ich konnte ihr damals nur zustimmen. Ein kleiner, giftiger Opi.

Vor mir auf der Mülltonne stand ein Cascus. Und wie es schien war er nicht alleine, denn neben der Mülltonne wurde noch immer geknurrt.

Aber wie es schien hatten sie mich noch nicht bemerkt und bevor es dazu kommen konnte, riss ich meine Waffe hoch, zielte und drückte den Abzug durch. Es geschah so schnell, dass der Cascus gar keine Zeit hatte zu reagieren. Dem Knall folgte nur ein hohes Quietschen. Dann fiel der Proles einfach von der Tonne herunter und landete mit einem Klirren mitten im Müllberg zwischen alten Essensresten, Verpackungsmüll, knisterndem Zeitungspapier und dreckigen Windeln. Doch es bewegte sich noch, fauchte und knurrte und wand sich in dem Müll hin und her. Ich hatte es nicht richtig getroffen, aber ich konnte mich nicht darum kümmern, denn das zweite Cascus war von dem Knall aufgescheucht worden und rannte fauchend auf mich zu. Und diese Viecher waren verdammt schnell. Zwischen mir und der Tonne waren nur wenige Meter, die das kleine Biest innerhalb von Sekunden überwand. Es bewegte sich dabei so schnell, dass ich es nicht ins Visier nehmen konnte. Ich konnte nur noch zur Seite auswichen, um nicht frontal von seinem Sprung erwischt zu werden.

Fauchend kam es einen Meter von mir entfernt auf dem Boden auf. Seine Krallen kratzten über die Gehwegplatten. Es wirbelte wieder herum, stürzte sich erneut auf mich, nur um mich ein weiteres Mal ganz knapp zu verfehlen.

Die Frau mit dem kleinen Jungen rannte schnell wieder in den Laden zurück und ein junges Mädchen, das mit ihrem Fahrrad auf mich zusauste, bremste so abrupt ab, dass es sich fast überschlug.

Auf der anderen Straßenseite wurden Rufe laut, die ich nicht beachtete. Nur nicht ablenken lassen.

Ich wirbelte herum, als es erneut versuchte mich anzuspringen, um mich mit seinen giftigen Krallen zu erwischen und verlor es dabei aus den Augen. Diese kleinen Monster waren so schnell, dass es schwer war mit ihnen mitzuhalten.

Auf der Suche nach meinem Gegner wirbelte ich um die eigene Achse, sah es nicht. Mein Puls schnellte in die Höhe, meine Sinne schärften sich und dann spürte ich es, wie es mir in den Rücken sprang. Instinktiv griff ich einfach hinter mir, bekam das weiche Fell zu fassen, die muskulöse Haut darunter und packte es so fest, dass es bösartig fauchte. Ohne lange nachzudenken riss ich es von meinem Rücken und schleuderte es von mir fort – weg, einfach nur weg, bevor seine giftigen Krallen durch meine Kleidung dringen konnten. Dass es dabei genau gegen das Schaufenster des kleinen Lebensmittelgeschäfts flog, war sowohl Glück als auch Pech. Ich hörte den dumpfen Aufprall. Die Scheibe splitterte und fiel in einem lauten Klirren in sich zusammen. Das Cascus jaulte auf und aus dem Inneren des Ladens hörte ich den erschrockenen Schrei der Mutter.

Ich ließ mich davon nicht ablenken, setzte hinterher, noch bevor das ganze Glas zu Boden gefallen war, um meine Chance zu nutzen und fand den kleinen Proles zwischen den Scherben in den Auslagen. Es bewegte sich nicht mehr. Die scharfe Kante einer Scherbe hatte sich genau in seinen Hals gebohrt und ließ es wie ein Schwein auf der Schlachtbank bluten. Das war so unglaublich, dass ich es im ersten Moment gar nicht realisierte und darauf wartete, dass es wieder aufstand und mich angriff, aber es blieb einfach liegen. Es war tot. So unglaublich es sich auch anhörte, dass kleine Mistvieh war tot.

Hinter dem Regal tauchte der kleine Junge auf und sah mit großen Augen zu mir auf, bevor seine Mutter ihn eilig zurück in ihren Schutz zog.

In dem Moment kam ein kleiner, korpulenter Mann aus dem Laden gerannt. Der Uniform nach musste es ein Angestellter des Ladens sein. Fassungslos sah er erst mich an und dann den toten Proles in seinem zerbrochenen Schaufenster. „Heilige Mutter Maria.“

Ich kümmerte mich nicht weiter darum, ließ einfach meine Waffe fallen, riss mir nur die Jacke von den Schultern und überprüfte das Rückenteil nach Rissen. Da war kein Schmerz gewesen, aber ich hatte im Moment auch so viel Adrenalin im Blut, dass ich einen kleinen Kratzer vermutlich gar nicht bemerken würde. Doch die Jacke schien in Ordnung. Aber wenn auch nur die Spitze einer Kralle auf meine Haut gelangt war, musste ich sofort ins Krankenhaus. Das Gift von einem Cascus wirkte langsam und schleichend und wenn es erst mal in den Körper eingedrungen war, musste man sofort Gegenmaßnahmen ergreifen, wenn man überleben wollte.

Schnell und viel zu ruhig für diese Situation riss ich auch noch Pulli und Shirt über meinen Kopf. Von der kalten Luft bekam ich sofort Gänsehaut, aber das war im Moment völlig egal. „Bin ich verletzt?“

Der Angestellte des Ladens guckte wie ein Frosch, der einen Alien vor der Nase hatte. War für ihn wohl auch nicht alltäglich, dass sich eine jung Frau mitten auf der Straße bis auf den BH auszog und das noch dazu bei diesem Wetter.

„Hey! Der Proles ist giftig und er hat mich angesprungen. Habe ich Blut am Rücken?!“

Er blinzelte, blinzelte ein weiteres Mal und dann schienen die Worte endlich in sein Hirn zu dringen. Er leckte sich einmal über die Lippen und richtete dann den Blick auf meinen Rücken. „Ich … ich sehe nichts.“

„Sind Sie sicher?“

So wie er aussah war die Antwort hier wohl nein. Er trat näher an mich heran, ließ den Blick genauer über meinen Rücken wandern, wagte es aber nicht mich dabei zu berühren.

In der Zwischenzeit traten auch die Leute von der anderen Straßenseite näher und schauten teils interessiert, teils ängstlich was hier los war. Ein älterer Mann halft dem jungen Mädchen mit dem Fahrrad auf die Beine, ließ die schmale Gasse aber keinen Moment aus den Augen.

„Ich sehe keine Verletzungen und auch kein Blut.“ Er leckte sich erneut über die Lippen. „Es sieht alles in Ordnung aus.“

„Okay, danke.“

„Da ist noch eines!“ rief ein Junge, der nicht älter als zehn sein konnte und nährte sich vorsichtig dem angeschossenen Cascus neben der Mülltonne.

„Bleib da weg!“, befahl ich ihm im harschen Ton und zog mein Shirt wieder über.

Der Junge machte sofort einen Satz rückwärts und sah mit großen Augen zu mir auf. Seine Augen waren Tellerrund, als ich meine Waffe vom Boden klaubte und mich damit vorsichtig dem kleinen Fellknäul nährte. Es fauchte mich an, wand sich in seinem eigenen Blut und in diesem Moment wurde mir eines sehr deutlich klar. Reese hatte Unrecht, ich war nicht unfähig. Diese Jagd hatte es mir bewiesen und ich hatte keinen Grund, an meinen eigenen Fähigkeiten zu zweifeln.

Ohne einen Moment länger zu zögern, visierte ich das kleine Monster mit der Waffe und schoss. Der Knall hallte so laut in meinen Ohren nach, als wäre es ein Zeichen des Schicksals. Das hier war mein Weg, es war mir bestimmt ihm zu folgen und niemand würde mich davon abbringen können.

Niemand.

„Ist es tot?“ Der Zehnjährige war wieder einen Schritt näher gekommen.

„Ja, ist es.“ Nun würde es niemanden mehr gefährlich werden können. Aber damit war das Problem leider noch nicht beseitigt. Ein Cascus kam niemals alleine. Sie waren immer in kleinen Rudeln unterwegs, die manchmal bis zu zwanzig Abkömmlingen umfassten.

„Geh nicht näher ran“, befahl ich dem kleinen Jungen, der noch ein Stück näher gekommen war. Hatte er kein Zuhause? Das hier war wirklich kein Ort für ein Kind.

Ohne ihn aus den Augen zu lassen, ging ich zurück zu meiner Jacke und zog das Handy aus der Tasche. Ich wusste genau was ich nun tun musste, denn ich war nicht unfähig und auch nicht dumm und ich würde mir das nie wieder von irgendjemand einreden lassen. Nicht von Reese, nicht von Wynn und auch von niemand anderem.

Das schwor ich mir.

Reese' Nummer war schnell gefunden und nur einen Moment später hatte er abgenommen. „Komm her und bring Judd mit“, sagte ich ohne ihn auch nur zu Wort kommen zu lassen. „Ich habe gerade zwei Cascus' erlegt.“

Und das war dann die Aufgabe, die uns den Rest des Tages beschäftigte. Die Arbeit am Hotel war bei meinem Anruf bereits so gut wie abgeschlossen gewesen. Es dauerte keine zehn Minuten, bis Reese in seinem Wagen bei dem kleinen Lebensmittelladen auftauchte. Auf dem Weg zu mir hatte er bereits die Formalitäten mit Jilin am Telefon abgeklärt und so kämmten wir die nächsten Stunden das Gebiet rund um den Laden ab, um das Nest der kleinen Biester ausfindig zu machen. Dabei beschränkten sowohl er als auch ich uns nur auf die nötigsten Wortwechsel. Ansonsten herrschte eine eisige Stille zwischen uns, die ich sowohl als angenehm, als auch als störend empfand. Aber es war immer noch besser, als sich die ganze Zeit zu streiten und anzuschreien.

Etwas später kamen auch noch Aziz und Seth dazu, um uns bei der Suche zu unterstützen. Mit ihrer Hilfe fanden wir das Nest auf einer Baustelle für einen neuen Gebäudekomplex. In weniger als einem Jahr sollten hier exklusive Büros hochgestochener Anwälte unterkommen, doch im Moment dienten sie den Cascus' als Zuhause. Doch lange schienen sie noch nicht hier zu sein, dafür gab es zu wenig Anhaltspunkte.

Wir entschlossen uns dafür, ihren Aufenthalt so kurz wie möglich zu gestalten und benutzen etwas, das normalerweise für Minors eingesetzt wurde. RBL. Diese kleinen Teile waren zu vergleichen mit Handgranaten oder Rauchbomben. Das Gas das ihnen entströmte lähmte die Proles für kurze Zeit, wirkte aber nur bei kleinen Abkömmlingen.

Es war nicht wirklich schwer. Werfen, warten, los. Der Dunst hatte sich kaum verzogen, als wir schon den Rohbau stürmten und am Ende siebzehn dieser kleinen Monster erlegt hatten. Elf davon gingen allein auf die Kappe von Reese und mir.

Der Rest war nur noch Formsache und so befanden wir uns um kurz nach acht endlich auf dem Weg in die Gilde, doch die Anspannung des Tages knisterte immer noch zwischen uns und machte es unmöglich in den Wohlfühlmodus zu schalten und sich auf den bevorstehenden Feierabend zu freuen. Die Stille zwischen uns war so drückend, dass ich selbst das Geräusch des Motors als störend empfand. Aber ich sagte nicht. Keine zehn Pferde konnten mich dazu bringen, das eiserne Schweigen zu brechen und so blieb mir gar nichts anderes übrig als schweigend aus dem Fenster zu starren und darauf zu hoffen, dass diese Fahrt bald vorbei sein würde.

Der Abendverkehr war fließend und so bogen wir schon bald in die Straße zur Gilde ein. Reese lenkte den Wagen in die Tiefgarage auf seinen angestammten Parkplatz und schaltete gerade den Motor ab, als sein Handy losbimmelte.

Oh nein, bitte nicht, nicht noch einen Auftrag. Seufzend sah ich dabei zu, wie er das kleine Gerät aus der Tasche fischte und es sich ans Ohr hielt.

„Ja?“ Mit der freien Hand angelte er nach seiner Zigarettenschachtel, hielt dann jedoch mitten in der Bewegung inne. „Nein, noch nicht. Bisher …“ Er kniff die Lippen zusammen, als er unterbrochen wurde und vergaß dabei sogar seine Kippen.

Ich verstand nicht was da gesagt wurde, doch das war weder Jilins noch Madelines Stimme. Er redete da mit einem Mann und diesen schmierigen Ton hatte ich bereits mehr als einmal gehört.

Taid.

„So einfach ist das nicht, dass … nein, Taid, ich … verdammt, ich versuche es doch schon, aber …“ Er verstummte wieder und ich war nicht sehr glücklich darüber recht gehabt zu haben, dieser schmierige Mistkerl. Was wollte er jetzt schon wieder? Ein neuer Proles? Langsam bekam ich echt das Gefühl, dass Reese für ihn mehr tat, als nur hin und wieder ein Abkömmling an ihn zu verkaufen. Allein schon die ständigen Gespräche unter vier Augen. Oder hatte das immer noch etwas mit seiner Schuld wegen dem toten Proles-Welpen zu tun?

„Ja, natürlich verstehe ich das aber … ja … ja, ich habe es verstanden.“ Er kniff die Lippen zu einem grimmigen Strich zusammen. „Du bist der Erste, der es erfährt.“ Ohne Worte des Abschiedes ließ er das Handy sinken. Für einen Moment schloss er die Augen und schlug dann wütend auf das Lenkrad. „Verdammt!“

Mir juckte es in den Fingern, ihn zu fragen was passiert war, aber ich verkniff es mir. Würde sowieso nichts bringen.

„Hör auf, mich schon wieder so anzusehen!“, fauchte er mich dann auf einmal an.

Auch jetzt sagte ich nichts dazu, hielt seinem wütenden Blick nur einen Moment stand und löste dann ohne ein Wort meinen Sicherheitsgurt. Schweigen war in der Tat manchmal Gold.

„Was wird das?“

Aussteigen? Ich verkniff mir die sarkastische Frage, ignorierte seinen bohrenden Blick und machte einfach, dass ich aus dem Wagen kam. Sobald ich in der Gilde war konnte ich ihm endlich aus dem Weg gehen, denn ganz ehrlich, für einen Tag hatte ich mehr als genug von ihm.

Auch er stieg aus. „Shanks!“

Als ich nicht reagierte, umrundete er mit eiligen Schritten den Wagen und fing mich am Kofferraum ab, nur um mich in der Sekunde drauf grob am Arm zu packen und gegen die Heckscheibe des Wagens zu drücken.

„Au, verdammt, spinnst du?!“ Ich versuchte ihn wegzustoßen, doch das war als würde man versuchen einen Berg zu bewegen.

Seine Augen waren zu wütenden Schlitzen zusammengekniffen. „Was hast du vor?“

Was ich vorhatte? War das nicht offensichtlich? „Ich gehe in die Gilde um die Berichte zu schreiben. Wahrscheinlich werde ich auch noch mit ein paar der Leute reden und das Klo aufsuchen.“ Vorausgesetzt er ging mir aus dem Weg.

„Verarsch mich nicht!“ Er brachte sein Gesicht ganz nahe vor meines und drang damit provozierend in meinen persönlichen Bereich ein. „Seit Stunden ziehst du nun schon diese Nummer ab und ich weiß genau, dass du irgendetwas vorhast!“

Was war denn jetzt los? „Was sollte ich denn bitte vorhaben?“

Sein Blick flitzte über mein Gesicht, suchte etwas, doch ich konnte nicht sagen ob er es fand, denn die angespannte Haltung behielt er bei. „Es sah aus als würdest du etwas tun wollen, was du später vielleicht bereut hättest“, sagte er schlicht.

Er meinte doch nicht etwa … „Redest du von Taid?“ Ich konnte nur fassungslos den Kopf schütteln. Deswegen veranstaltete er hier dieses Theater? „Verdammt, Reese! Hast du echt so die Hosen voll, oder wirst du langsam paranoid? Wenn ich jemanden davon hätte erzählen wollen, hätte ich das schon längst getan!“

„Ich bin nicht paranoid“, knurrte er mich an. „Ich will dich nur vor einem Fehler bewahren, den du später vielleicht bereuen würdest.“

Oh, dieser Mistkerl. „Ach, also ziehst du die ganze Scheiße ab, um mich zu beschützen?“ Ich lachte höhnisch auf. „Nur zur Information, wenn du nicht gewesen wärst, gäbe es nichts vor dem du mich beschützen müsstest! Das ist alles deine Schuld! Du hast dich da mit reinziehen lassen, nur um etwas Geld in die Taschen zu bekommen, aber das ist eigentlich völlig egal, weil das wirkliche Problem gar nicht Taid ist sondern das hier!“ Ich gestikulierte von ihm zu mir. „Du und ich. Egal was ich tue oder sage, es ist immer falsch! Ich weiß wirklich nicht mehr was ich noch tun soll. Seit einer Woche habe ich das Gefühl mit einer Stange Dynamit rumzulaufen, die jeden Moment hochgehen kann. Ich bilanziere auf einem Drahtseil, drehe mich auf der Stelle und kann mittlerweile nicht mehr in deine Richtung gucken, ohne dass du mir damit böse Absichten unterstellst. Wahrscheinlich wäre es das Beste, wenn ich mich einfach in Luft auflösen würde, aber das kann ich leider nicht. Ich weiß langsam wirklich nicht mehr weiter, also wenn du einen Tipp für mich hast, um diese ganze Sache endlich auf ein normales Level zu bringen, dann spuck ihn aus!“, spie ich ihm entgegen. Ich war so wütend auf ihn. Ich wusste einfach nicht mehr was ich machen sollte. Diese ganze Situation war so vertrackt, dass ich langsam aber sicher für jeden Ausweg dankbar wäre. Es musste doch eine Lösung geben, damit das endlich aufhörte. „Sag es mir, was soll ich machen?“ Ja, es war beinahe ein Flehen, aber ich wusste wirklich nicht mehr weiter.

Einen kurzen Moment schwieg er, lockerte dabei aber endlich den Griff an meinem Arm. „Du hättest von Anfang an auf mich hören sollen. Hättest du nicht darauf bestanden meine Praktikantin zu werden, könntest du dein Praktikum problemlos ausführen.“

„Ja, aber jetzt ist es zu spät. Ich bin deine Praktikantin, ich bin mit dir seit einer Woche auf der Straße und wenn wir uns nicht langsam etwas einfallen lassen, dann werden wir uns demnächst gegenseitig die Augen auskratzen. Ich stand heute so kurz davor dir ein paar zu scheuern.“ Ich hielt Zeigefinger und Daumen einen Spalt breit auseinander, um ihm das zu verdeutlichen. „Ich hab mich wirklich am Riemen reißen müssen, um es nicht zu tun. Und als ich endlich einen Weg finde, den Tag mit dir zu überstehen, kommt du mit irgendwelchen haltlosen Anschuldigungen, für die ich dir am liebsten wieder ein paar klatschen würde. Das muss aufhören, verstehst du? Das muss …“

Und da geschah es. Reese Hände lagen plötzlich an meinen Wangen und im nächsten Moment spürte ich seine Lippen auf meinen.

 

°°°°°

Kapitel 10

 

Oh Gott, er küsste mich. Reese küsste mich! Seine Lippen lagen warm und einladend auf meinen, doch ich war viel zu geschockt um darauf reagieren zu können. Und dann bewegte er sie auch noch! Ich war so überrascht, dass ich gar nicht imstande war etwas anderes zu tun als dazustehen und ihn mit großen Augen anzustarren. Zumindest für die ersten fünf Sekunden. Dann spürte ich ihn wirklich, spürte seine Lippen, seinen Körper der gegen mich drängte und auch seine Hände, die mich festhielten. Es löste ein so tiefes Gefühl in mir aus, dass ich den Kuss einfach erwiderte.

Es war einfach so … es stimmte alles. Das Gefühl, seine Nähe und diese Lippen. Oh Gott, diese Lippen waren der Wahnsinn! Mein Denken schaltete sich einfach aus und für einen kurzen Moment spürte ich dieses Feuerwerk, von dem mir Evangeline erzählt hatte. Es brannte heiß in mir, zog sich in jede Zelle meines Körpers und ließ mich nach mehr verlangen. Mehr, mehr, immer mehr.

Ich wagte es sogar meine Hände an seine Brust zu legen, krallte mich geradezu in sein Hemd, nur damit er nicht einfach verschwinden konnte. Das Gefühl war so unglaublich. Hitze stieg in mir auf und ich gab ein Geräusch von mir, bei dem ich nicht geglaubt hätte, zu so etwas fähig zu sein.

Reese hielt mich einfach fest, liebkoste meine Lippen mit seinen, strich mir über den Mundwinkel und spielte mit der Zunge an der empfindlichen Haut. Er …

Ein Krachen in der Tiefgarage ließ uns beide auseinander fahren. Erschrocken sah ich mich um, nur um festzustellen, dass das Geräusch von der altersschwachen Lüftungsanlage gekommen war, die sich beim Starten immer wie ein Kanonenschuss anhörte. Und dann wurde mir plötzlich wirklich bewusst, was hier gerade passiert war. Reese hatte mich geküsst. Und anstatt ihn von mir zu stoßen hatte ich ihn erwidert. Scheiße!

Sehr langsam richtete ich meinen Blick wieder auf ihn.

Seine Augen waren im matten Schein der Lampen noch dunkler als sonst und darin lauerte ein Raubtier, das auf meine nächste Bewegung sofort reagieren würde. Doch ich war gar nicht fähig, mich zu bewegen. Ich konnte nichts anderes tun, als ihn mit offenem Mund fassungslos anzustarren. Warum hatte er das gemacht? Was hatte er sich dabei gedacht? Und zum Teufel noch mal, warum hatte ich diesen unglaublichen Kuss erwidert? All das hätte ich ihn am liebsten gefragt, doch ich war einfach nicht dazu imstande, auch nur einen Satz zu formulieren. Mein Hirn war wie leergefegt. Da gab es keine Worte mehr, nur noch den Nachhall von dem, was ich gerade gespürt hatte.

Dieser Kuss.

Oh Gott.

Ich stand einfach nur da und starrte in seine Augen, starrte in diese bodenlosen Tiefen, die nie etwas von sich preisgaben. Was sollte ich denn jetzt machen? Ihn anschreien? Ihn wieder an mich ziehen? Ihn dahin treten wo es besonders weh tat? Verdammt noch mal, ich war mit seinem Bruder zusammen! Und dieser Gedanke war der Dolch in meinem Herzen, der mich zurück in die Realität beförderte. Die Züge in meinem Gesicht wurden hart und der Blick so scharf, dass ich damit Haare spalten konnte.

Reese schien die Veränderung sofort wahrzunehmen. Das Raubtier verschwand aus seinem Blick. Er wich einen Schritt zurück, fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und atmete dabei tief durch. Er ließ nicht erkennen, was in seinem Kopf vor sich ging, drehte sich mit einem letzten Blick auf mich einfach um und marschierte mir weit ausholenden Schritten auf die Tür zum Treppenhaus zu. So schnell wie er lief ließ er mich fast glauben, dass er vor mir floh, ja er rannte fast und ich war zu nichts anderem fähig, als ihm nachzusehen wie er die seitliche Feuerschutztür aufriss und dahinter verschwand.

Zu dem Geräusch der gebrechlichen Lüftungsanlage gesellte sich der Knall der Tür. Dann war ich allein. Ich schlang die Arme um mich und fühlte mich plötzlich so allein wie noch nie in meinem Leben. Es schien fast, als hätte er einen Teil von mir mitgenommen, aber ich verstand nicht wie das sein konnte.

Verdammt, warum nur hatte er mich geküsst? Wir hatten uns doch nur gestritten, so wie immer. Es ergab einfach keinen Sinn. Was hatte das zu bedeuten? Hatte das überhaupt etwas zu bedeuten, oder war das einfach nur mal wieder einer seiner Launen gewesen? Vielleicht wollte er ja auch einfach nur mal herausfinden was sein Bruder an mir fand. Das wäre wirklich … abartig, aber was sollte er sonst für Gründe haben?

„Scheiße!“ Wütend über ihn und mein eigenes Verhalten presste ich die Lippen fest aufeinander. Hätte er mich nicht einfach schlagen können? Das hätte mir sicher nicht solches Kopfzerbrechen bereitet – höchstens Kopfschmerzen. Aber jetzt war es nun mal passiert und ich konnte absolut gar nichts dagegen unternehmen. Und das war um es mal klar auszudrücken einfach nur Scheiße!

Was sollte ich denn jetzt machen?

Unsicher sah ich zur Tür hinüber. Dabei gruben sich meine Zähne in meine Unterlippe, die Lippe, die er gerade noch geküsst hatte. „Mist, verfluchter!“ Für diesen Gedanken hätte ich mir am liebsten selber in den Hintern getreten. Warum nur hatte dieser Kerl mich in diese Situation bringen müssen? Hätte er nicht über diese Debby aus dem American Style herfallen können? Sie wäre davon sicher nicht in so ein Gefühlschaos gestoßen worden. Nein, Moment, Auszeit. Was dachte ich denn da? Das war doch gar kein Gefühlschaos, was da in mir rumorte, denn dazu müsste ich ihn wenigstens mögen und so war das ja gar nicht. Ich war nur ein wenig verwirrt und das stand mir nach diesen Erlebnissen ja wohl auch zu. Nur ein klein wenig neben der Spur.

Leider half mir diese Erkenntnis bei meinem akuten Problem nicht weiter. Wieder schielte ich zur Tür hinüber. Ich konnte ja nicht ewig hier unten in der Garage bleiben, aber jetzt einfach da hoch gehen kam mir auch nicht richtig vor.

Natürlich konnte ich auch einfach nach Hause gehen, aber spätestens morgen müsste ich ihm dann wieder gegenüber treten und ich glaubte nicht, dass sich dieses Problem bis dahin einfach in Luft aufgelöst hatte – leider.

Verdammt, verdammt, verdammt! Was hatte dieser Kerl sich nur dabei gedacht?!

Okay, tief durchatmen. Ich würde ihn einfach ignorieren, so wie ich es schon den ganzen Nachmittag getan hatte. Ich würde nichts sagen und nichts tun. Dieser Kuss war nie geschehen, das war alles nur in meiner Einbildung passiert.

Klar, und wenn ich mir das nur lange genug einredete, würde ich es vielleicht irgendwann auch selber glauben.

Okay, Schluss jetzt mit zögern. Ich würde es einfach so nehmen wie es kam. Sich vorher den Kopf darüber zu zerbrechen, brachte sowieso nichts.

Entschlossen, mich davon nicht weiter aus der Bahn werfen zu lassen, nahm ich die Tür in Angriff. Dabei versuchte ich nicht daran zu denken, dass Reese auch gerade durch sie verschwunden war. Gleich nachdem er mich …

Schluss jetzt!

Leise fluchend verließ ich die Tiefgarage über den Kellerzugang der Gilde. Hier unten, hinter einer gesicherten Tür befand sich die kleine Forschungsstation, in der wir auch Proles unterbrachten, sollte das aus irgendeinem Grund nötig sein – auch unsere Welpen waren darin aufbewahrt worden, bevor Jilin sie nach Historia geschickt hatte.

Gleich gegenüber lag die Waffenkammer mit der Schieß- und Trainingshalle und am Ende des langen Korridors versteckte sich halb unter der Treppe der kleine Lagerraum, aus dem ich es ordentlich rumoren hörte, als ich ins Erdgeschoss hinauf stieg. Also entweder suchte da jemand etwas, oder wir hatten einen Waschbären im Haus.

Ich beachtete es nicht weiter. Meine Konzentration war ganz auf die Geräusche vor mir gerichtet. Auf das leise Gespräch, das aus Jilins Büro am Ende des langen Flurs drang, auf den lauten Fluch aus dem Krankenzimmer, der darauf hindeutete, dass Suzanne einen der Männer nicht besonders sanft behandelte und auf das alltägliche Stimmengewirr von den Schreibtischen im Hauptraum.

Alles war wie immer, niemand achtete genauer auf mich, als ich mir zwischen den vielen Schreibtischen einen Weg zu Reese bahnte. Auch er nicht. Ich hatte ihn natürlich sofort nach dem Betreten des Raumes entdeckt. Tief gebeugt saß er über seinem inzwischen sauberen Schreibtisch – den er auch mir zu verdanken hatte – und füllte die Vordrucke der Berichte Zeile um Zeile, ohne etwas um sich herum wahrzunehmen – also so wie immer. Naja, zumindest bis zu dem Moment, als ich im Vorbeigehen einen schiefen Stapel Akten von Sheas Schreibtisch fegte und sie sich mit einem lauten Poltern auf dem Boden verteilten.

Ich hatte mich so sehr darauf konzentriert, völlig normal zu wirken, dass ich auf gar nichts anderes geachtet hatte. Doch leider klappte nie etwas so, wie man sich das vorstellte. Jetzt war nämlich so ziemlich jeder Blick im Raum auf mich und die verstreuten Papiere gerichtet. Das hatte mir jetzt wirklich noch gefehlt.

Auch Reese hob sein Gesicht von den Formularen, nur um sich ihnen nach einem kurzen Blick in meine Richtung wieder zuzuwenden.

Ich versuchte nicht näher über eine Bedeutung dessen nachzudenken und hockte mich seufzend zu dem Malheur, denn diese Bescherung würde sich leider nicht von selbst beseitigen – schade eigentlich. Wenigstens war ich nicht interessant genug, um die ganze Zeit angegafft zu werden. Ich hatte kaum nach dem ersten Ordner gegriffen, da waren alle schon wieder mit ihren eigenen Dingen beschäftigt. Das nutzte ich, um einen verstohlenen Blick auf Reese zu werfen.

Er war voll und ganz auf seine Arbeit konzentriert. Meine Anwesenheit schien er in der Zwischenzeit schon wieder vergessen zu haben, oder – was wahrscheinlicher war – er ignorierte mich wie immer. Aber was hatte ich denn auch erwartet? Ich wusste ja noch nicht einmal, was er sich dabei gedacht hatte. Oder was ich dabei gedacht hatte. Naja, im Grunde hatte ich gar nichts gedacht und das war eigentlich noch viel schlimmer. Ich war mit Nick zusammen und hätte ihn sofort wegstoßen müssen, aber stattdessen hatte ich den Kuss nicht nur erwidert, sondern ihn auch noch genossen. Ich hatte …

„Brauchst du Hilfe?“

Ertappt blickte ich auf, direkt in Devins Grinsen. Hatte er etwa bemerkt, wie mein Blick auf Reese klebte? Ahnte er was passiert war? Welche Richtung meine Gedanken einschlugen? Ich drückte die Lippen aufeinander. Warum sollte er sonst so grinsen? Okay, das war eine dumme Frage. Das war Devin und der grinste den lieben langen Tag.

Gott, jetzt war ich wirklich schon so weit fliegende Schweine zu sehen und hinter jeder Geste eine Verschwörung zu vermuten. Dieser Kerl machte mich wirklich noch paranoid.

„Grace?“

„Nein … ich meine ja, ich …“ Seufz. „Tut mir leid, es war ein anstrengender Tag.“ Und wie es aussah, würde er auch noch ein Weilchen andauern.

„Ja, hab schon gehört, dass er nicht ganz einfach sein soll.“ Sein Blick glitt zu Reese, der stirnrunzelnd mit einem Stift auf seine Papiere klopfte.

Ich schnaubte. „Nicht ganz einfach ist gut.“ Eine geschüttelte Flasche Cola zu öffnen ohne sich dabei zu bekleckern war nicht ganz einfach. Das Geheimnis Reese und seine Launen konnte nicht mal Einstein lösen.

Devin hockte sich zu mir und griff nach den Ordnern, rausgefallenen Papieren und Fotos, die noch immer wie Schnee um mich herum verteilt lagen. „Ich hab gehört, dass er auf Seth losgegangen ist. Mit einer Waffe.“ Er klappte einen Ordner auf, um die Papiere wieder hinein zu sortieren.

„Er hätte nicht geschossen“, murmelte ich und begann nun auch endlich damit, das Desaster zu bereinigen. Zumindest war ich mir ziemlich sicher, dass er das nicht getan hätte.

Devin hielt in der Bewegung inne. „Es stimmt also wirklich?“

Ich zuckte nur nichtssagend mit den Schultern und griff nach zwei Mappen, um sie auf eine dritte zu stapeln.

Papier knisterte, als er leise lachend den Ordner zuklappte. „Da wäre ich zu gerne dabei gewesen.“

„Warum? Wolltest du mal sehen, wie er sich vor Angst beinahe in die Hosen macht?“ Ich griff nach einem Foto, auf dem ein völlig zerfleischter Ossa abgebildet war und studierte die Nummer auf der Rückseite, um es in die richtige Mappe zu legen.

„Es hatte sicher einen gewissen Unterhaltungswert.“ Mit ausgestrecktem Arm angelte er nach ein paar Papieren unter dem Schreibtisch und zog sie hervor. Gleich oben auf lag ein weiteres Foto. Ich konnte nicht genau erkennen was darauf abgebildet war, nur das viele Blut war deutlich.

„Es war eigentlich nur erbärmlich und völlig überzogen. Beide haben sich unmöglich verhalten.“ Drei weitere Ordner landeten auf meinem Stapel.

„Ich wäre trotzdem gerne dabei gewesen.“ Er grinste mich an. „Seth, der in seine Schranken gewiesen wird. Der Anblick muss einfach nur geil gewesen sein.“

Ein kleines Zucken des Mundwinkels konnte ich nicht unterdrücken. „Es war auf jeden Fall …“ Ich stutze, als ich einen Ordner aufschlug, um einen drei Tage alten Bericht hinein zu legen. Da war ein weiteres Foto eines zerfleischten Proles. Große Stücke waren aus dem Kadaver rausgerissen worden und das Innerste nach außen gekehrt. Es war geradezu ausgeweidet worden. Dieser Proles war so extrem zerrissen worden, dass nicht einmal mehr die Reste des blutverschmierten Fells genaueren Aufschluss über die Gattung geben konnte.

„Es war was?“, wollte Devin wissen.

Ich schlug eine weitere Mappe auf und fand noch mehr von diesen Bildern. Immer andere Proles, immer andere Orte und doch immer dasselbe Bild.

„Grace?“

„Was sind das hier für Bilder?“ Ich wusste ja dass die Abkömmlinge sich nicht gerade selten ins Gehege kamen. Besonders Revier und Beutestreitigkeiten arteten nicht selten in aggressiven Streitereien aus, in denen sich die Rudel gegenseitig niedermetzelten, aber das hier war etwas anderes. Immer nur ein toter Proles. Zerfleischt, ausgeweidet. Das waren keine Streitigkeiten gewesen. Diese Proles waren Beute gewesen.

„Das ist der Fall an dem Shea und ich gerade arbeiten.“

„Du?“

„Ja ich.“ In seine Augen saß der Schalk. „Falls du es vergessen haben solltest, ich bin sein Praktikant.“

Ach ja, stimmte ja. „Nein, hab ich nicht vergessen“, schummelte ich ein wenig. Ich erhob mich mit den Ordnern auf die Beine und breitete sie auf Sheas Schreibtisch aus. „Und ihr räumt neuerdings Proles-Müll auf?“

Devin schnaubte. „Wohl kaum.“ Er legte seinen Mappenstapel auf den Schreibtisch und suchte das Chaos mit den Augen ab. Gezielt griff er nach einem dicken Ordner und platzierte ihn vor sich. Ein paar Handgriffe später hatte er ihn aufgeschlagen und eine doppelseitige Karte aufgeklappt. Ein Schwarzweißausdruck der Stadt, in dem die Spree blau markiert worden war. Südlich vom Fluss, beginnend im Bezirk Spandau, waren viele rote Punkte eingezeichnet, alle versehen mit einem Datum der letzten Tage und der Nummer des dazugehörigen Berichts.

„Seit letztem Donnerstag bekommen die Gilde und auch die Staatlichen ständig Meldungen von völlig zerrissenen Proles. Jeder Punkt bedeutet einen Fundort.“ Mit dem Finger zog er eine Linie an der Spree entlang, und verband die einzelnen Punkte miteinander.

Ich zog die Augenbrauen zusammen. „Seit Donnerstag? Aber das sind … wie viele sind das?“

„Siebenunddreißig.“

Die Überraschung stand mir wohl ins Gesicht geschrieben. Siebenunddreißig zerfleischte Proles in nur fünf Tagen? Das war unglaublich – und zwar nicht auf die gute Art. „Und es ist sicher, dass es sich immer um ein und denselben Proles handelt, der dafür verantwortlich ist?“

„Eines, oder ein ganzes Rudel.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wir wissen es nicht. Es gibt kaum Spuren. Kein Fell, keine Krallen oder Exkremente. Das einzige was wir haben ist ein halber Pfotenabdruck. Hier.“ Er zog ein DIN A4 Foto aus dem Ordner und schob es mit zu. „Dann haben wir noch ein paar Bissspuren an den Knochen der Kadaver gefunden, die auf ein verdammt großes Gebiss mit ziemlich scharfen Zähnen hindeuten, aber das ist dann auch schon alles.“

„Wurden sie gefressen, oder nur getötet?“ Mit den Augen maß ich die Größe des Pfotenabdrucks im Schlamm. Er war nicht tief, was bei dem weichen Untergrund eher auf ein leichten Proles schließen ließ, aber er war so groß, dass der Abkömmling mindestens die Größe eines Spumas haben musste – wenn nicht sogar die eines Candirs. Das war so widersprüchlich, dass es absolut keinen Sinn ergab. Außer er hatte sich nicht richtig auf diese Pfote gestützt. War es verletzt? Humpelte es? Schwer zu sagen, wenn man nicht mal den Hauch einer Ahnung hatte, in welche Richtung man seine Gedanken wenden sollte.

„Die meisten von ihnen werden einfach nur getötet“, erklärte Devin mir. „Nur sechs von ihnen wurden an- und teilweise auch aufgefressen. Bei einem haben wir nur doch den Kopf und ein Stück des Rückgrats gefunden. Hier, hier, die beiden, der und auch der.“

Ich verfolgte seinen Finger, der jeden Punkt einzeln aufzeigte. „Wo wurde der erste Fund gemacht?“

„Hier“, er deutete auf den Punkt, wo die Spree in die Havel mündete. „Und hier der letzte. Das war vor gut zwei Stunden.“

„Es bewegt sich auf die Innenstadt zu.“

„Und zwar mit kontinuierlichem Ehrgeiz und einer besorgniserregenden Geschwindigkeit. Wenn es weiter so zielstrebig ist, dann ist es spätestens morgen in der City.“ Für einen Moment schwieg Devin nachdenklich. „Bisher wurden noch keine Menschen verletzt, aber wir rechnen jeden Tag damit.“

Bei so vielen Menschen in der City, würde es ein Massaker geben. „Es muss aufgehalten werden.“

„Wir sind für alle Vorschläge offen“, sagte er leicht scherzhaft, aber der Ernst klang deutlich aus seiner Stimme hervor. „Aber selbst Jilin ist ratlos.“

Meine Augen glitten über jeden Punkt, erfassten den Pfad und die Umgebung. „Hat denn niemand etwas gesehen oder gehört? Manche von den Fundstellen liegen ja mitten in Wohngebieten.“

„Leider nicht.“ Er seufzte. „Shea und ich haben uns bereits die Füße wundgelaufen und so viele Türklinken geputzt, dass meine Hand schon ganz abgenutzt ist, aber das einzige was wir herausgefunden haben ist, dass manche Leute sehr ungehalten reagieren, wenn sie unangekündigten Besuch bekommen.“

Oh ja, da konnte ich ihm nur zustimmen. Ich musste nur an den Flintenmann denken, der einen Schirmständer mit einem Waffenschrank verwechselte. „Das ist ziemlich seltsam“, murmelte ich.

Er schnaubte. „Nicht seltsamer als die Tatsache, dass die Kadaver alles trächtige Weibchen waren.“

Ich schaute auf. Das war wirklich seltsam, aber es erklärte wenigstens, warum immer nur einzelne Abkömmlinge gerissen worden waren. Die Weibchen trennten sich von der Gruppe, kurz bevor sie ihre Jungen gebaren. „Von sowas habe ich noch nie gehört.“

„Ich auch nicht.“ Seufzend rieb er sich über die Augen. „Es gibt keinerlei Aufzeichnungen über eine ähnliche Situation und je länger diese Jagd dauert, desto wahrscheinlicher wird es, dass das nächste Opfer ein Mensch sein wird.“

Das war nicht nur wahrscheinlicher, es war eine unausweichliche Tatsache. Und so wie die zurückgelassenen Proles aussahen, wären Verletzte das kleinere Übel. „Aber es gibt da noch etwas, das wir wissen.“

„Und das wäre?“

„Wohin es sich bewegt.“ Ich zog die Markierungen auf der Karte nach. „Es bewegt sich immer direkt an der Spree entlang. Das heißt, in diesem Bereich müsste es als nächstes auftauchen. Man könnte Fallen aufstellen.“

„Das haben wir bereits vor Tagen versucht. Es hat sich an den Fallen vorbei bewegt. Hier.“ Er zeigte auf einen roten Punkt, der mit dem Datum von vor drei Tagen versehen war. „Zwanzig Meter weiter stand eine unserer Fallen. Es war als würde uns dieses Vieh verhöhnen. Und hier hat es sich sogar ein trächtiges Weibchen aus der Falle geholt, das statt seiner reingelaufen war.“

Das war wirklich mal der Hammer. Da wusste selbst ich nicht mehr, was ich dazu sagen sollte.

„Wir haben sogar Lebendköder benutzt, weil wir uns damit die größeren Chancen errechnet haben. Leider vergeblich.“

Das war wirklich ein Hohn. „Also fassen wir zusammen: Da läuft ein ziemlich aggressiver Proles die Spree entlang, der zu intelligent ist, um in Fallen zu gehen, ja, sie sogar als sein Kühlschrank ansieht und auf seinem Weg eine blutige Spur von trächtigen Abkömmlingen hinterlässt. Und da niemand etwas gesehen oder gehört hat und er auch keine Spuren zurück lässt, außer eben den Kadavern, hat niemand auch nur die geringste Ahnung, womit wir es zu tun haben.“

Devin nickte. „Du hast es erfasst.“

„Das ist scheiße, um es mal deutlich …“

„Shanks!“

Reese' Ruf nach mir war wie ein kräftiger Stoß zurück in die Realität. Für die wenigen Minuten mit Devin hatte ich den Vorfall in der Tiefgarage wirklich vergessen können, doch als ich mich nun zu ihm umdrehte, war alles wieder da – auch das Gefühl seiner Lippen auf meinen.

Reese saß noch immer an seinem Schreibtisch. Seinen Blick konnte ich nicht deuten. So dunkel, so tief und geheimnisvoll, irgendwie wunderschön.

Verdammt, was dachte ich denn da? Diese dunkeln Seen waren nicht wunderschön. Ich badete viel lieber in den blauen Ozeanen von Nick. Nichts anderes interessierte mich. Nichts anderes hatte mich zu interessieren. Nur …

„Glotzt du noch lange blöd aus der Wäsche, oder bewegt du deinen Arsch endlich her?!“

Ohhh, dieser … dieser … Blödmann!

„Da hat aber jemand gute Laune“, murmelte Devin sarkastisch.

„Das ist bei ihm so ziemlich sein Normalzustand.“ Seufzend strich ich mir eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich geh nur kurz gucken was er will, dann mach ich hier wieder Ordnung.“

„Lass mal, ich mach das schon.“

„Okay, danke. Ich …“

„Shanks!“

Blödmann.

Ohne ein weiteres Wort marschierte ich zwischen den Schreibtischen zu Reese und versuchte dabei so gleichgültig wie möglich zu wirken. Er sollte ja nicht glauben, dass mich das, was am Wagen passiert war, beschäftigte oder gar berührte. Es war mir völlig egal. Er war mir völlig egal, aber als ich am Schreibtisch ankam, schaute er nicht mal zu mir auf um zu sehen, wie egal mir das alles war. Frechheit. „Weißt du, manchmal kann ein Bitte echte Wunder bewirken. Dann bräuchtest du auch nicht so herumschreien und die anderen bei der Arbeit stören.“

„Wenn du deiner Arbeit nachkommen würdest, anstatt mit deinem kleinen Freund zu flirten, dann müsste ich nicht so rumschreien.“

Oh, dafür bekam er einen besonders bösen Blick.

„Unterschreib die“, wies er mich an und schob mir über den Schreibtisch ein halbes Dutzend Berichte zu. Dabei sah er mich aber immer noch nicht an.

War das Absicht? Wich er mir bewusst aus, oder war er meiner Anwesenheit einfach nur mal wieder leid? „Und wieder hast du das Bitte vergessen.“ Ich ließ mich auf meinen Stuhl ihm gegenüber nieder, schnappte mir einen Stift und machte mich daran, auf jeden Bericht meine Unterschrift zu setzten. Dabei konnte ich es mir aber nicht verkneifen, ihm den einen oder anderen Blick zuzuwerfen. Er gab sich ganz normal, so als wäre nichts passiert, keine große Sache, alles beim Alten. Einen Moment überlegte ich wirklich, ob ich mir das alles nur eingebildet hatte.

„Könntest du mal damit aufhören, mich ständig anzustarren, als hättest du eine außergewöhnliche Kuriosität vor dir?“ Er zog mir die unterschriebenen Berichte unter der Nase weg und klatschte mir stattdessen ein Post-it vor die Nase auf die Tischplatte. „Du kommst morgen direkt in die Gilde. Wir treffen uns dann hier.“ Ohne das weiter zu erklären stand er auf und verschwand mit den Berichten nach hinten in den Korridor zu Jilins Büro.

O-kay. Das war seltsam. Ich löste den kleinen, gelben Zettel vom Schreibtisch und sah mich der schweren Aufgabe gegenüber, das Gekritzel darauf zu entziffern. Zum Glück hatte ich, dank Evangeline, etwas Übung darin und so erfuhr ich nach langem Rätselraten und dem ausprobieren logischer Grammatik, dass morgen Früh ein kurz angesetztes Meeting mit Jilin und der Frühschicht anstand. Um was es dabei gehen würde, stand dort aber nicht. Vielleicht wusste Reese ja etwas.

Ich warf einen Blick nach drüben zum Korridor, aber er schien noch in Jilins Büro zu sein. Nun gut, dann würde ich eben mein Berichtsheft füllen bis er wiederkam. Das war eine tägliche Arbeit, die mich den Tag noch einmal in allen Einzelheiten Revue passieren ließ. Ich machte es gerne, weil ich so selber überprüfen konnte, wo meine Fehler gelegen hatten und was ich beim nächsten Mal anders machen könnte. Und auch einfach nur um zu sehen, was ich den Tag über erreicht hatte. Doch als ich eine halbe Stunde später wieder aufschaute, war Reese noch immer nicht zurück. Was trieb er denn so lange?

In den nächsten Minuten flog mein Blick ein paar Mal zum Korridor und als ich Aziz mit einem breiten Grinsen herauskommen sah, wusste ich, dass er wieder bei Jilin gewesen war. Das war meine Chance. „Hey, Aziz!“, rief ich über das Klingeln eines Telefons und der Stimme von Madeline am Empfang und winkte ihn zu mir ran.

Neugierig kam er zu mir und lehnte sich mit dem Hintern an den Schreibtisch. „Womit kann ich behilflich sein?“

„Ist Reese noch bei Jilin?“

„Reese?“

„Na du weißt schon. Groß, dunkel, immer schlecht gelaunt.“

Er grinste frech. „Gute Zusammenfassung.“

„Und?“, drängte ich. Ich hatte schließlich keine Lust die Nacht hier zu verbringen und beim Warten Wurzeln zu schlagen.

„Nee, der ist schon vor zwanzig Minuten abgehauen. Hat er dir denn nichts gesagt?“

Er war weg? Einfach so? Und ohne mich zu fragen, ob ich noch mit zu Nick möchte? Oh, dieser egoistische Esel! „Das muss er wohl vergessen haben“, knurrte ich grimmig vor mich hin.

 

°°°

 

Nachdenklich legte ich mein Handy zurück auf den Frühstückstisch und starrte wieder in mein aufgeweichtes Müsli. Bisher hatte ich eigentlich noch nicht wirklich etwas davon gegessen, sondern nur lustlos darin herumgestochert. Wie sollte ich denn auch etwas essen, wenn ich von Nick ständig Nachrichten geschickt bekam und so tun müsste, als wäre alles völlig in Ordnung. Okay, im Grunde war es das ja auch, aber der Kuss mit Reese ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Und das lag nicht daran, dass er so gut war – denn das war er gar nicht, wirklich – sondern daran, dass ich immer noch nicht wusste, warum er das getan hatte. Es beschäftigte mich eben.

Und ich wusste auch nicht, ob ich es Nick erzählen sollte, oder es besser war es zu verschweigen und die ganze Situation einfach zu vergessen. Bisher hatte ich einem Telefonat mit ihm aus dem Weg gehen können, aber früher oder später würde es wieder dazu kommen. Und wenn ich ihn dann das nächste Mal sah, was sollte ich dann sagen?

„Hast du keinen Hunger?“

Ich sah zu meinem Onkel rüber, der es nach dem Aufstehen zwar geschafft hatte sich seine Uniform für die Arbeit anzuziehen, die Haarbürste aber wahrscheinlich wieder nicht gefunden hatte. Seine Haare standen so schlimm ab, dass es fast den Anschein erweckte, er hätte in eine Steckdose gefasst. Leider konnte ich mir das bei ihm nur zu gut vorstellen.

„Nicht wirklich“, murmelte ich und lehnte mich auf meinem Stuhl zurück. Appetitlich sah das Müsli nun wirklich nicht mehr aus.

Er legte sein Brot zurück auf den Teller. „Hat das was mit deinem neuen Freund zu tun? Ich mein, es soll ja normal sein, dass bei frisch verliebten der Appetit etwas zurückgeht.“

Es war so niedlich, wie er meinem Blick bei diesen Worten auswich. Scheinbar hatte er es noch nicht verkraftet, dass ich nun auch mein Interesse am anderen Geschlecht gefunden hatte. Aber ich konnte ihn ehrlich mit einem „Nein“ beruhigen. „Das ist es nicht.“

„Was ist denn dann los?“

Ich zuckte nur mit den Schultern, da ich nicht glaubte er sei für ein solches Gespräch der passende Gesprächspartner.

„Möchtest du es mir nicht sagen?“

„Das ist es nicht. Es ist nur …“ Ich verstummte und sah in diese vertrauten Augen, die mich seit meinem sechsten Lebensjahr täglich begleitet hatten. Er hatte mir schon früher helfen können. Er war immer da gewesen. Und er war auch ein Mann und wer könnte mir meine Frage besser beantworten, als jemand wie er? Er war schließlich auch ein Kerl, also müsste er doch wenigstens im Ansatz wissen, wie andere Kerle dachten. Oder?

„Ja?“, fragte er, als ich nicht weiter sprach.

Ein Versuch war es wenigstens wert. „Warum würde ein Mann ein Frau küssen?“

Es war deutlich, dass er mit so einer Frage nicht gerechnet hatte. „Ähm … wie bitte?“

Der Ausdruck in seinem Gesicht war einfach nur zum Schmunzeln. „Ein Mann. Was bewegt ihn dazu eine Frau zu küssen? Also einfach so aus heiterem Himmel. Was sind seine Gründe?“

„Das ist … das ist eine seltsame Frage.“

Nicht seltsamer als die Situation in der ich mich befand.

An der Küchentür hörte man schlürfende Geräusche und einen Moment später schleppte Wynn sich noch völlig verschlafen zu uns in die Küche. Sie hatte es noch nicht mal geschafft, ihre Schlafsachen gegen Normale Klamotten auszutauschen. Mit einem genuschelten „Morgen“ und einem kieferknackenden Gähnen steuerte sie direkt den Kühlschrank an, um sich ihren morgendlichen Jogurt rauszusuchen. Was es wohl heute sein würde? Erdbeere oder Himbeere? Vielleicht nahm sie zur Abwechslung ja auch mal Pfirsich.

Onkel Roderick seufzte. „Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten.“

„Ich weiß.“

Nachdenklich verschränkte er die Hände auf dem Tisch.

Wynn kramte sich noch einen Löffel aus der Schublade und ließ sich dann neben mir auf den leeren Stuhl fallen. „Klopapier ist alle. Und wir brauchen auch neues Duschgel.“

Dann geh in den Laden und besorg welches, hätte ich am Liebsten gesagt, beließ es aber bei einem einfachen Blick, da sie das Haus sowieso niemals freiwillig verlassen würde.

„Von was für einem Kuss sprechen wir eigentlich genau?“, wollte Onkel Roderick wissen. „Einem Freundschaftskuss auf die Wange, oder …“ Er ließ den Satz offen und sah mich einfach nur fragend an.

„Nein, kein Freundschaftskuss. Einen Richtigen. Auf die Lippen.“ Mit Zunge und sehr viel Gefühl. So viel Gefühl, dass man die Welt um sich herum für einen kurzen Moment vergessen konnte.

„Hm“, machte er da nur.

Interessiert sah Wynn von einem zum anderen, während der erste Löffel ihres mageren Frühstücks in ihrem Mund verschwand. Ihre Augen wirkten nun schon wacher. Tja, das war eben ein Thema bei dem sie immer spitze Ohren bekam.

„Es kann dafür viele Grunde geben, aber der ausschlaggebende ist immer Zuneigung, oder zumindest eine gewisse Anziehungskraft. Kein Mann würde eine Frau küssen, wenn er sie nicht wenigstens ein bisschen Interesse an ihr hätte und sie ihm gefallen würde.“

Das konnte ich mir nun wirklich nicht vorstellen. „Und wenn er es macht, obwohl er sie nicht mag? Was bewegt ihn dazu?“

„Du kannst einem alten Mann wirklich schwierige Fragen stellen. Aber wenn ich ehrlich bin, kann ich dir darauf keine Antwort geben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es einen Mann gibt, der eine Frau küsst, ohne sie zu mögen. Und nein, ich spreche hier nicht von Liebe, ich meine nur mögen. Er muss sie zumindest sympathisch finden, auf irgendeine Art attraktiv. Anziehend wenn du so willst.“

Ich musste ein abfälliges Schnauben unterdrücken. Sympathisch? Attraktiv? Anziehend? Nichts davon traf auf Reese zu. In seinen Augen war ich nur ein penetrantes, kleines Mädchen mit einer hässlichen Narbe im Gesicht, das ganz schnell ganz viel Entfernung zwischen ihn und mich bringen sollte.

„Warum fragst du das eigentlich?“

Oh je. „Ach nur so“, murmelte ich schnell und stand hastig mit meiner Müslischale auf. Das würde ich heute sowieso nicht essen, also konnte ich es auch gleich in den Müll entsorgen.

Wynn lachte leise. „Vielleicht will sie ja einen Kerl, der sie nicht leiden kann, dazu bekommen sie zu küssen.“

Jetzt schnaubte ich doch. „Ganz sicher nicht.“

„Dann ist es schon passiert und du fragst dich nun warum.“

Dazu sagte ich einfach mal gar nichts. Manchmal war es wirklich unheimlich, wie aufgeweckt und aufmerksam Wynn sein konnte, wo sie ihr Hirn doch nur mit diesem Zeug aus Teenyzeitschriften füllte.

„Keine Widerworte?“, grinste sie lauernd.

„Es geht dich einfach nichts an.“ Ich stellte die geleerte Müslischale in den Abwasch und drehte den Heißwasserhahn auf. Wenn ich ihn nicht jeden Morgen beseitigte, würde er ins Unermessliche wachsen.

„Das war dann wohl ein Treffer ins Schwarze gewesen“, lächelte sie in ihren Becher.

„Wirklich?“ Mein Onkel sah nicht besonders erfreut aus. „Wurdest du …“

„Ist nicht so wichtig“, unterbrach ich ihn und warf Wynn einen bösen Blick zu. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“

„Bist du sicher?“

„Na klar“, half Wynn mir. „Sie hat schließlich eine Knarre und wenn ihr irgendein Typ zu nahe auf die Pelle rückt, dann Peng und es ist aus mit ihm.“

„Oh, ja, natürlich. Daran habe ich gar nicht gedacht.“ Er griff nach seinem vergessenen Brot, hielt damit dann aber in der Luft noch einmal inne. „Aber dass solltest du wirklich nur als aller letzten Ausweg nutzen“, mahnte er mich.

Na super. „Ich werde auf keinen Menschen schießen. Und du hör auf, so einen Blödsinn von dir zu geben.“

„Also ich würde es so machen“, sinnierte sie.

Mit einem genervten Geräusch griff ich nach dem Spülmittel und drückte ein paar Tropfen ins Becken. „Du würdest niemals in so eine Situation kommen, weil du ja sowieso nie das Haus verlässt.“

Das ließ ihre gute Stimmung schneller verpuffen, als eine Nadel ein Luftballon platzen ließ. „Natürlich verlasse ich auch das Haus.“

„Na dann kannst du ja auch nachher losgehen und selber Klopapier und Duschgel besorgen. Der Laden ist gleich an der Ecke. Und wenn du schon mal unterwegs bist, kannst du dir auch gleich neue Schuhe holen. Deine alten fallen ja schon beinahe auseinander.“ Ja, vielleicht war das ein wenig gemein, aber es war immer noch besser, als weiter auf diesem Kussthema herumzureiten.

„Ich brauche nicht losgehen und mir Schuhe holen, ich habe schon welche übers Internet bestellt. Sie müssten in den nächsten Tagen geliefert werden.“

Natürlich, das Internet. Eine Teufelserfindung, die Wynn auch noch dazu verhalf ihr Einsiedlerleben zu vertiefen. „Soll das immer so weitergehen?“, fragte ich ganz direkt und drehte mich zu ihr um. „Die Schule ist fast beendet. Nun noch dieses Schuljahr, dann musst du dir einen Job suchen. Was glaubst du wie viele Leute dich anstellen werden, wenn du nicht mal fähig bist das Haus zu verlassen?“

„Ich bin fähig das Haus zu verlassen.“

„Ja, aber nur um in den Schulbus zu steigen.“

„Und? Mehr brauch ich doch nicht. Und hör endlich auf dir meinen Kopf zu zerbrechen. Ich weiß schon was ich tue.“

„Ach ja?“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann klär mich mal auf. Bei unserem letzten Gespräch wusstest du das nämlich noch nicht.“

Onkel Roderick sah wie bei einem Ping-Pong-Spiel zwischen uns hin und her. War wohl besser als Morgenfernsehen.

„Ganz einfach. Ich werde noch mein Abitur machen und dann per Fernstudium ins Lehrwesen einsteigen. Danach nehme ich einen Job als Grundschullehrerin in einer Schule an.“

„Um dich weiterhin in der falschen Sicherheit eines Busses und den Mauern einer Schule zu wiegen.“

„Das ist keine falsche Sicherheit!“

„Es ist aber auch kein Leben sich die ganze Zeit zu verstecken aus Angst sich einen Fingernagel abzubrechen. Mein Gott Wynn, willst du denn niemals etwas erleben?“

„Nicht jeder ist so dumm wie du!“, spie sie mir entgegen.

„Wynn!“, mahnte Onkel Roderick fast schon fassungslos.

„Was denn? Ist doch wahr! Sie sucht die Gefahr und wird darin umkommen und nun will sie mich noch dazu bekommen. Aber ich mach das nicht. Im Gegensatz zu Grace werde ich lange leben!“ Sie knallte ihren Jogurtbecher auf den Tisch, stürmte aus der Küche und im nächsten Moment schallte laute Musik durch die Wohnung. Das hieß dann wohl, sie hatte sich wieder in unser Zimmer eingeschlossen.

„Mist“, fluchte ich. Da waren noch meine Waffen drin. In zwanzig Minuten müsste ich los und da brauchte ich die. Warum nur mussten Gespräche mit Wynn immer so ausarten?

 

°°°

 

„… am westlichen Stadtrand sind zurückgegangen. Dafür konnten wir aber eine ansteigende Rate im Zentrum vermerken. Fast dreißig Prozent mehr als im letzten Monat. Und sie gehen noch aggressiver vor, als es normalerweise der Fall ist.“

„Paarungszeit“, warf Shea von der Seite ein und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „In ein, zwei Monaten, wenn die ganzen süßen Kuschelmonster aus den Nestern gekrochen kommen, wird es noch schlimmer werden.“

„Dann sollten wir vorsorgen und verstärkt Fallen aufstellen“, überlegte Max laut. „Die Jungen sind noch unerfahren, sie gehen eher rein als die Erwachsenen.“

Aziz machte eine wage Bewegung mit der Hand. „Zumindest bis sie mitbekommen was Fallen bedeuten.“

„Dann benutzt doch einfach überall Lebendköder.“ Seth sah zu Jilin. „Auf die springen sie eher an.“

Reese schnaubte verächtlich. „Und was passiert mit Lebendködern die nicht gefüttert werden? Sie verhungern und sind dann genauso viel wert wie normale Fleischbrocken.“

„Man kann sie ja füttern“, hielt Seth sehr schwach dagegen.

„Ach, und wer soll das tun? Du?“

Seth hielt Reese' herausfordernden Blick stand, schwieg aber. Das war so wahrscheinlich auch besser. Ich glaubte nicht, dass er sich auf einen weiteren Schlagabtausch mit Reese einlassen wollte, nicht solange mein Lehrcoach seine Waffe bei sich trug. Die war ihm sicher in guter Erinnerung geblieben.

„Okay.“ Jilin lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. „Aziz, dein Team verstärkt die Fallen im Norden. Greg, du übernimmst den westlichen Stadtteil. Maik, du nimmst den Süden und Elias, du gehst in den Osten. Und nehmt Max mit, damit der mal hier raus kommt. Verständigt euch mit den Staatlichen, damit ihr euch nicht gegenseitig auf die Füße tretet.“

„Und du, begleitest du mich?“, fragte Aziz mit einem eindeutigen Grinsen. „Ich würde mich wohl sicherer fühlen, wenn ich da nicht so ganz allein auf die Straßen müsste.“

Jilins Augenbraue zuckte. „Dir ist klar, dass ich in jedem Moment meines Lebens bewaffnet bin? Auch jetzt?“

Das ließ Aziz' Grinsten noch breiter werden. „Ich mag es, wenn du mir drohst.“

Wie er das sagte, dass sorgte für mehr als einen Lacher. Auch ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Nur Jilin schien das nicht so komisch zu finden, wie alle anderen im Konferenzraum.

Das Meeting im hellen Sitzungszimmer lief in der Zwischenzeit schon über eine Stunde und jeder, den die Frühschicht entbehren konnte, hatte sich um den, großen, kreisrunden Tisch versammelt. Bisher hatten wir nur allgemeine Themen abgehandelt, Monatsberichte und Änderungen, die für die Venatoren wichtig waren. Obwohl, gleich zu Beginn hatte Aziz mal wieder eine Einladung zum Essen ausgesprochen. Natürlich hatte er wie immer dabei rumgeblödet, aber ich hatte den Eindruck, dass er diese Angebote ernst meinte und auf diese Art versuchte, Jilin dazu zu bekommen darauf einzugehen. Wie sie die Sache sah, konnte ich leider nicht einschätzen. Sie wirkte eigentlich nur genervt davon, aber das musste ja nichts heißen.

Jilin trommelte ungeduldig mit den Fingern auf der Tischplatte herum. „Könnten die Herren sich dann jetzt bitte wieder beruhigen und auf das eigentliche Thema zurückkommen?“

Konnten sie. Zwar immer noch mit einem breiten Grinsen im Gesicht, aber wenigstens das Lachen hörte auf.

„Sehr schön. Dann weiter im Text. Shea, gibt es neue Erkenntnisse?“

Jegliche Belustigung verschwand aus seinem Gesicht. „Nein. Kristin von der Nachtschicht wurden bereits zwei neue Fälle gemeldet und Madeline hat mir beim Reinkommen auch noch einen gemeldet. Unser Unbekannter war die Nacht wieder fleißig gewesen.“

Jilin rieb sich müde über die Stirn. „Wenn wir da nicht bald ein paar Ergebnisse bekommen, könnte das zu einem Problem werden. Die Staatlichen wollen sich auch einmischen.“

Shea zuckte mit den Schultern. „Von mir aus können sie den Fall haben. Wenn sie glauben sie haben mehr Erfolg, bitte, an mir soll es nicht liegen.“

„Aber du kennst dich da besser aus.“ Nachdenklich tippte ihr Finger auf dem Tisch herum. Sie schien es nicht einmal wirklich zu merken. „Nein, du bleibst erst mal dran. Wenn ihr Hilfe braucht, sag Bescheid, dann stell ich euch noch jemanden zur Seite. Es soll nicht heißen, dass die Gilde schwierige Fälle abgibt, weil sie damit nicht klarkommt. Die Staatlichen können das auch nicht besser als wir.“ Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. „So, was gibt es sonst noch?“

„Wir haben endlich die Bewilligung der Sirenen bekommen“, sagte Max.

Sirenen? „Was für Sirenen?“

Jilin richtete ihren Blick auf mich. „Wir haben Sirenen für die Fahrzeuge beantragt, damit wir in Zukunft schneller durch die Stadt kommen und uns im Notfall nicht an die Verkehrsordnung halten müssen. Die Zeit die wir dabei sparen kann Leben retten.“

Da konnte ich ihr nur zustimmen.

Max stützte sich auf die Unterarme. „Das heißt, wir müssen die Fahrzeuge jetzt nach und nach nachrüsten.“

„Ich werde mit unserer Werkstatt sprechen und mich um die Lizenzen kümmern.“ Wieder tippte sie mit dem Finger auf die Tischplatte. „So, zum Abschluss noch, Historia sich bei mir gemeldet. Die drei unbekannten Proles-Welpen sind gesund und munter bei ihnen angekommen und erfreuen sich größter Beliebtheit.“

Shea lachte leise. „Ja, weil es einfach niedlich ist, wenn sie versuchen einen mir ihren kleinen Zähnchen das Fleisch von den Fingern zu nagen.“

Dafür bekam er einige Schmunzler. Aber nicht von mir, denn ich fand es nicht witzig. Nicht nur, dass wir mit ihrem Auftauchen einen weiteren Feind auf unserer Liste hatten, es erinnerte mich nur leider zu genau daran, was danach alles passiert war. Das tote Muttertier, der Welpe den Reese zu Taid gebracht hatte, das Lagerhaus in dem ein weiterer unbekannter Proles saß. Ja, mit diesen Welpen hatte alles angefangen.

Während Jilin weiter über die Welpen und die Untersuchungen in der Forschungseinrichtung Historia sprach, warf ich Reese quer über den Tisch einen unauffälligen Blick zu. Die Worte von Onkel Roderick wollten mir einfach nicht aus dem Kopf gehen.

Sympathisch.

Attraktiv.

Anziehend.

Ich konnte es mir immer noch nicht vorstellen. Heute hatte er noch kein einziges Wort mit mir gewechselt, geschweige denn mich überhaupt beachtet. Es saß sogar so weit weg von mir, als befürchtete er, sich sonst mit irgendetwas Ekligem anzustecken. Es hatte den Anschein, als wäre alles wie immer, doch heute fühlte es sich anders an. Lag das an dem Kuss, oder daran, dass er mich wirklich wie Luft behandelte? Nicht dass es vorher anders gewesen wäre, aber es war immer etwas Herablassendes von ihm in meine Richtung gekommen. Heute schien es, als interessierte ihn meine Existenz gar nicht. Ich war da und es war ihm egal. Und das gefiel mir überhaupt nicht.

„Grace? Bist du anwesend?“

Ruckartig riss ich meinen Blick von Reese los, nur um festzustellen, dass ich von allen Beobachtet wurde. „Was?“

„Ich habe gefragt, ob du anwesend bist.“ Jilin lehnte sich schmunzelnd auf ihrem Stuhl zurück. „Aber scheinbar träumst du heute vor dich hin.“

Devin grinste breit. „Ach ja? Von wem träumst du denn?“

„Reese“, flutschte es mir über die Lippen. Dann spürte ich wie die Hitze in meinen Wangen aufstieg. Verdammt, was sagte ich denn da? „Ich meine, ich träume nicht.“

So dreckig wie die Jungs im Raum lachten, glaubten sie mir das absolut nicht. Nur Reese lachte nicht. Gelangweilt saß er auf seinem Stuhl und starrte aus dem großen Seitenfenster. Seine Mine war völlig gleichgültig, doch ich konnte schwören, dass er die Lippen leicht zusammengekniffen hatte. Na was glaubte er denn, was passierte wenn er mich küsste? Natürlich beschäftigte mich das.

Jilin klopfte lautstark auf den Tisch. „So Jungs, kriegt euch wieder ein.“ Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf mich. „Eigentlich hatte ich gesagt, dass Historia um einen neuen Bericht der Jagd bittet, einen genaueren, in dem jede Einzelheit detailliert aufgeführt ist. Ich brauche ihn Ende der Woche.“

Ich nickte und ging gleichzeitig im Kopf meinen Plan der Woche durch. Viel Zeit blieb dafür nicht. Nicht wenn ich hin und wieder Nick sehen wollte. Außer vielleicht am Freitag nach der Akademie, aber da wollte sie ihn sicher bereits haben. Mir würde wohl gar nichts anders übrig bleiben, als ihn in den Mittagspausen zu schreiben.

„Gut, dann seht alle zu, dass ihr hier rauskommt und die Stadt ein wenig sicherer macht. Hopp hopp.“

Sofort kam Bewegung in die Leute. Stimmengemurmel ertönte, während Stühle verrückt wurden.

Ich sah gerade rüber zu Reese, als dieser auch schon aus dem Raum verschwand. Blödmann. Er hätte ja wenigstens auf mich warten können. Es half ja alles nichts und so schnell würde er ja auch nicht verschwinden – hoffte ich zumindest.

Mit den Gedanken noch halb beim Meeting verließ ich hinter Max den an Jilins Büro angrenzenden Konferenzraum. Dabei konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen, als ich sah wie Aziz aufstand und lässig um den Tisch herum zu Jilin schlenderte. Ich verstand nicht mehr was er sagte, aber Jilins Erwiderung konnte ich mir nur zu gut vorstellen: Eine Mischung aus Waffen, schießen und Schmerzen. „Armer Aziz.“

„Ach, so arm ist der gar nicht.“ Shea grinste mich breit an, machte eine elegante Bewegung mit der Hand und ließ mich als erste in den Bürobereich treten.

„Oh, wie charmant. Mercy.“

Er grinste mich mit einem Lächeln an, das sicher schon mehr als ein Frauenherz erobert hatte. „Zwischen acht und neun bin ich immer charmant.“

Vor mir gab Max ein glucksendes Geräusch von sich.

„Ich will ja nichts sagen“, warf Devin von der Seite ein, „aber wir haben es schon kurz nach halb zehn.“

Shea schielte zu seinem Grünschnabel. „Ich weiß wer heute die Ausrüstung ganz alleine tragen darf.“

„Was?!“ Devin schaute so empört drein, dass die Männer alle lauthals loslachten.

Tja, das war halt der Nachteil daran, ein Praktikant zu sein. Man bekam oftmals die Aufgaben, die kein anderer machen wollte. Aber da hatte jeder Venator einmal durchgemusst. Ja, es gehörte praktisch zur Ausbildung dazu.

Während Devin sich noch lautstark über die Ungerechtigkeiten des Lebens beklagte, sah ich mich lächelnd nach Reese um. Er war so schnell aus dem Konferenzraum verschwunden, dass ich schon hätte rennen müssen um ihm hinterher zu kommen. Nach kurzer Suche entdeckte ich ihn vorne bei Madeline am Tresen. Es sah aus, als gäbe sie ihm Instruktionen für einen neuen Auftrag.

„Ich muss dann mal.“ Mit erhobener Hand verabschiedete ich mich von den Jungs und beeilte mich zu meinem Lehrcoach zu kommen, bevor der noch auf die Idee kam, mich einfach hier zu lassen. So wie er heute drauf war, traute ich ihm das noch mehr als sonst zu. Dabei war er gestern doch über mich hergefallen und dann einfach ohne ein Wort verschwunden. Nicht umgekehrt. Er hatte gar keinen Grund, sich so ignorant zu benehmen.

Auch jetzt als ich mich zu ihm stellte, tat er wieder so, als wäre ich nichts weiter als Luft. Madeline hatte wenigstens ein kurzes Lächeln für mich übrig, als sie Reese den Auftrag reichte.

„Falls es doch mehr sind, dann gib mir Bescheid und ich schicke euch Verstärkung.“

Reese warf nur einen kurzen Blick auf den Zettel und ließ ihn dann in seiner Manteltasche verschwinden. „Keine Sorge, ich bekomme das schon hin.“

Ich? War ich schon wieder nicht existent?

Madeline hob zum Abschied die Hand. „Waidmannsheil. Und denk dran, dich danach mit der Polizei zu verständigen.“

Zur Antwort winkte er nur ab und eilte dann auch schon durch die Gilde nach unten in die Tiefgarage – so wie er rannte, musste da wirklich irgendwo Not am Mann sein.

Ich hängte mich einfach an seine Fersen, verkniff es mir aber irgendwelche Fragen zu stellen. Ich wollte einfach nicht wieder merken müssen, wie er mich ignorierte. Außerdem verliefen meine Gedanken beim Einsteigen in den Wagen schon wieder in eine völlig verkehrte Richtung. Ich versuchte krampfhaft nicht daran zu denken, was wir hier gestern getan hatten, doch das Bild, wie er mich gegen den Wagen drückte, wie er mich küsste und wie ich ihn zurück küsste … es drängte plötzlich so klar aus meiner Erinnerung hoch, dass ich es wieder leibhaftig vor meinen Augen hatte.

Deswegen hielt ich den Blick auch verbissen auf das Seitenfenster gerichtet, als wir aus der Tiefgarage fuhren und Reese sich mit viel zu hoher Geschwindigkeit in den fließenden Vormittagsverkehr einfädelte. Wenn ich ihn ansah, hatte ich das Gefühl, das Erlebte würde noch lebendiger werden.

„Willst du denn gar nicht wissen wo es hingeht?“

Verwundert warf ich ihm aus dem Augenwinkel einen kurzen Blick zu. „Ich hab nicht damit gerechnet, dass du den Wunsch hast, dich mit mir zu unterhalten.“

Er schnaubte nur und fuhr eiskalt über eine rote Ampel. So stark wie er dabei das Gaspedal durchdrückte, hatten wir es wohl wirklich eilig. Als er dann auch noch bei einem überstürzten Spurwechsel einen Kombi schnitt, klammerte ich mich mit den Händen in den Sitz fest. Das war echt knapp gewesen.

„Okay, sag es mir. Wohin geht es.“ Und bitte bring uns lebend dort hin.

„Autobahn. Kurz hinter der Auffahrt Alboinstraße ist ein Rudel Lyvaras auf die Fahrbahn gelaufen. Mehrere Wagen sind ineinander gekracht. Die Polizei kann nicht sagen, ob und wie viele Verletzte es gibt, weil die Abkömmlinge, die bei dem Crash nicht draufgegangen sind, noch auf der Fahrbahn rumlungern und versuchen die Insassen der Wagen zu fressen. Schießen geht auch nicht, weil sie die Leute treffen könnten.“

Da gab es eigentlich nur noch eines zu sagen: „Scheiße.“

„Du nimmst mir die Worte aus dem Mund.“

„Wie viele Wagen sind es?“

„Keinen Schimmer.“

„Wie gehen wir vor?“

„Pfeile. Oder Messer. Schießen tun wir nur, wenn es nicht anders geht. Ich will nicht, dass Zivilisten von herumfliegenden Kugeln getroffen werden.“ Er griff in seine Manteltasche und zog eine einzelne Zigarette heraus, die er sich zwischen die Lippen klemmte. Die gleichen Lippen, mit denen er mich gestern geküsst hatte und die sich so weich und doch drängend angefühlt hatten. „Warum hast du das getan?“, platzte es einfach so aus mir raus. Ich wusste in dem Moment nicht was in mich gefahren war und war selber erschrocken darüber, aber nun stand die Frage im Raum.

„Warum habe ich was getan?“ Ohne mich eines Blickes zu würdigen, zündete er sich seine Zigarette an.

Kurz war ich versucht, das Thema schnell wieder unter den Teppich fallen zu lassen, aber ich wollte es wissen – unbedingt – und wo ich nun bereits angefangen hatte, konnte ich auch gleich weiter machen. „Du hast mich geküsst. Warum hast du das gemacht?“

Nun sah er mich doch an. Zum allerersten Mal seit gestern und nur ganz kurz, aber er sah mich an, um dann hastig an seiner Zigarette zu ziehen. „Warum ich das getan habe?“ Er schnaubte. „Was willst du denn jetzt von mir hören?“

„Die Wahrheit.“

Kein Wort kam aus seinem Mund. Seine Lippen pressten sich nur zu einem dünnen Strich zusammen.

„Du hättest das nicht tun dürfen.“ Die Worte kamen viel leiser raus, als ich es eigentlich vorgehabt hatte. „Ich bin mit Nick zusammen, darum hättest du das nicht tun dürfen.“

Es war schon erstaunlich, wie herablassend ein Kopfschütteln von ihm sein konnte. „Besonders gewehrt hast du dich aber auch nicht. Ganz im Gegenteil, du schienst davon sogar mehr als nur angetan gewesen zu sein.“

„Das steht hier nicht zur Debatte.“

„Nein, natürlich nicht.“

„Verdammt, Reese, du hättest es nicht tun dürfen!“

Langsam entließ er den Rauch aus seinen Lungen. „Du brauchst keine Angst haben, dass ich es Nick erzähle. Also keine Sorge, deine kleine heile Welt bleib bestehen und ihr beide könnt glücklich in den Sonnenuntergang reiten.“

„Kannst du mal mit deiner herablassenden Art aufhören? Ich will einfach nur wissen warum du das getan hast!“

„Ist doch egal.“ Wieder zog er an seiner Zigarette.

Bildete ich mir das nur ein, oder machte ihn dieses Gespräch leicht nervös? „Ich finde nicht, dass es egal ist. In dem einen Moment schreist du mich an und machst mir sonst was für Vorwürfe und dann küsst du mich einfach. Dafür muss es doch einen Grund geben.“

Vor uns auf der Straße tauchte eine Straßensperre auf, die sofort für uns geöffnet wurde, als die Polizei sah, dass wir von der Gilde waren. Wir konnten ohne Anhalten durchfahren.

„Es gab keinen besonderen Grund. Mir war einfach danach, okay?“

„Nein, es ist nicht okay. Und ich glaube dir nicht. Wenn es keinen Grund gegeben hatte, würdest du dich nicht die ganze Zeit so seltsam verhalten, also sag mir die Wahrheit. Zumindest die habe ich verdient.“

Die Straße war gesäumt mit Krankenwagen, Feuerwehr und einem riesigen Polizeiaufgebot, das sich bis zur Autobahnauffahrt hinzog. Das hier war ein Großeinsatz wie letzte Woche im Park mit Stadtrat Thompson.

„Es gab keinen bestimmten Grund“, sagte er und zog noch einmal hastig an seiner Zigarette, bevor er sie fahrig im Aschenbescher ausdrückte.

„Doch, den gab es und ich will ihn verdammt noch mal wissen, also spuck es endlich aus!“

„Gott, bist du nervig, aber wenn du es unbedingt wissen willst, ich hab es getan, damit du endlich die Klappe hältst. Und es hat ja auch funktioniert.“ Er legte seine Hand zurück an das Lenkrad. „Also beschwere dich nicht.“

Mein Mund klappte auf, aber kein Ton kam heraus. Das sollte der Grund gewesen sein? Deswegen hatte er mich so intensiv geküsst, dass ich für einen Moment sogar vergessen hatte einen Freund zu haben? „Das glaub ich dir nicht.“

„Tu es oder lass es, es ist die Wahrheit.“ Er lenkte den Wagen die leere Auffahrt herauf. Kein Wagen kam uns in die Quere, aber ein paar hundert Meter weiter sah man es verdächtig qualmen.

„Du lügst“, warf ich ihm vor, weil ich einfach nicht glauben konnte, dass das der Grund war. Andererseits war das hier Reese und dem war eigentlich alles zuzutrauen.

„Glaub was du glauben willst, mir egal.“

Schon von weiten sah man die Karambolage. Ungefähr zwei Dutzend Autos waren ineinander gekracht. Quer über die Gegenfahrbahn lag sogar ein umgekippter LKW, der seine Ladung über die ganze Fahrbahn ausgebreitet hatte.

„Scheiße, warum kannst du nicht einmal ehrlich sein und manierlich auf eine Frage antworten? So schwer ist das doch gar nicht.“

Unser Ziel kam schnell näher und nun sah ich auch die Gestalten zwischen den ganzen Wagen herumliefen. Sie versuchten in die Autos zu kommen. Einen entdeckte ich sogar auf einen Wagendach, wie er wütend an dem Blech herum kratzte um hinein zu kommen.

Die Autos waren voll mit Menschen und die Lyvaras wollten sie zum Essen einladen.

„Können wir das Thema vertagen, wir haben jetzt ein bisschen was anderes zu tun.“ Seine Stimme klang angespannt.

„Von mir aus, aber damit das klar ist, es ist noch nicht vom Tisch. Du kannst mich nicht einfach küssen, nur weil dir nicht gefällt was ich zu sagen habe.“

Er schnaubte. „Keine Sorge, so mies wie der Kuss war, komme ich sicher kein zweites Mal auf diese Idee.“

Das brachte das Fass doch echt zum Überlaufen. Und hätte er nicht in diesem Moment das Gaspedal voll durchgedrückt um gleich darauf mit quietschenden Reifen anzuhalten, hätte ich ihm wohl eine Szene gemacht, die er so schnell nicht vergessen hätte. Aber nun sahen wir uns einem wichtigeren Problem gegenüber.

Lyvara.

Auf den ersten Blick konnte ich sechs von ihnen ausmachen – zumindest sechs die noch lebten. Drei weitere entdeckte ich eingeklemmt zwischen den Wagen und ein toter lag mitten auf der Straße. Weiter hinten war ein Audi in die Planke reingefahren. Der Fahrer schien nicht angeschnallt gewesen zu sein. Er war durch die Windschutzscheibe geknallt und lag nun mit gebrochenen Gliedern auf der Gegenfahrbahn. Ich bezweifelte, dass er noch lebte, wagte es aber auch nicht, allzu genau dort hinzustarren. Jedenfalls hoffte ich für ihn, dass er bereits tot war, so wie die beiden Lyvara an ihm herumzerrten.

Weitere Menschen sah ich auf den ersten Blick nicht, aber das musste nichts heißen.

Reese sah sich die Szenerie einen Moment mit verbissener Miene an. In seinen Augen loderte eine Wut, die tödlich für seine Beute sein würde. „Wenn wir da jetzt rausgehen, achte auf jede Bewegung. Das Terrain ist so uneinsichtig, dass sich die Biester überall verstecken könnten. Ich will nicht …“

In dem Moment sprang ein riesiges Exemplar eines Lyvara auf unsere Motorhaube und zeigte uns ein paar lange, sehr spitze Zähne. Das Blech knarrte bedrohlich unter seinem Gewicht.

„Scheint nicht so, als würden sie sich verstecken.“

Eine riesige Pranke krachte gegen die Windschutzscheibe und ließ das Glas vibrieren.

„Hey, mein Wagen!“

Reese' Protest schien den Lyvara nicht weiter zu interessieren. Er zeigte uns nur die weißen Zähne, die einen enormen Kontrast zu seiner Fellfarbe bildete. Rotes Fell mit schwarzen Streifen wie bei einem Zebra, die den ganzen luchsartigen Körper überzogen. Die Form seines Körpers und die Pinsel an seinen Ohren waren aber auch die einzige Ähnlichkeit, die er mit einem Luchs hatte. Ein ausgewachsener Lyvara war schwerer als ein Tiger und manchmal sogar ein kleines Stück größer.

Und sie waren viel gefährlicher.

Ein weiterer Hieb erschütterte die Scheibe erneut.

„Jetzt reicht es aber!“ Reese verrenkte sich fast bei dem Versuch sich auf dem Sitz herumzudrehen, um an die kleine Reisetasche im Kofferraum zu kommen.

Ich hatte es da einfacher. Ein Griff zu meinem Arbeitsbag und ich hatte Pfeile und Blasrohr in der Hand.

„Lass die stecken“, wies er mich an. Im nächsten Moment landete die dreckige Reisetasche zwischen uns beiden auf der Mittelkonsole. „Die Haut von den Viechern ist zu dick, deine Pfeile werden sie nicht mal jucken.“ Mit einem Ritsch riss er den Reißverschluss auf. In der gleichen Sekunde knallte die Pranke des Lyvara erneut gegen die Scheibe. Die Krallen kratzten gänsehautbringend über das Glas, aber es brach nicht. Das Biest brüllte frustriert auf und sabberte dabei die Scheibe voll. Tja, Pech gehabt, das war Panzerglas.

„Diese Sabberfelcken wirst du mir büßen!“ Reese zerrte hastig ein kleines Betäubungsgewehr aus der Reisetasche und warf es mir in den Schoß. Ein zweites nahm er sich selber und kramte praktisch gleichzeitig nach einer kleinen Schachtel, die sauber aufgereiht zehn Betäubungspfeile auf einem angepassten Schaumstoffbett beherbergte. „Toxrin-Gift. Nur ein Kratzer mit diesem Zeug und die Biester sind Geschichte.“

Ich schnappte mir einen der Pfeile und lud ihn in die Waffe. „Und wenn die Pfeile nicht reichen?“

„Dann kommst du vielleicht doch noch zu dem Vergnügen, dein Blasrohr zu benutzen. Und jetzt los!“ Während er bereits die Tür aufstieß, griff er sich noch die Hälfte der Pfeile, dann war er auch schon draußen.

Auch ich stieß meine Tür auf, hielt aber noch mal inne, als plötzlich ein Handy im Wagen klingelte. Es war das von Reese. Bimmelnd lag es auf dem Fahrersitz. Es musste ihm eben aus der Tasche gefallen sein.

Ich kümmerte mich nicht weiter darum, nahm meine Hälfte der Pfeile und stieg aus dem Wagen. Im gleichen Moment spürte ich wie mich etwas in die Seite rammte und unter sich begrub. Mein Kopf donnerte gegen den Wagen, während das enorme Gewicht mich auf den Boden drückte, genau auf meine verletzte Hüfte.

Ich stieß einen Schmerzenslaut aus. Über mir brüllte ein Lyvara und noch in der gleichen Sekunde wurde das Gewicht von mir runter gestoßen. Nach Luft schnappend drehte ich mich auf die Seite und klammerte mich an meine Waffe. Es war wie ein Wunder, dass sie mir bei meinem Sturz nicht aus der Hand gefallen war. Bei den Pfeilen sah die Sache ganz anders aus, die lagen verstreut neben mir auf dem Boden. Zumindest drei davon, der vierte war zerbrochen.

Mühevoll richtete ich mich auf, bedacht darauf, den Schmerz in meinem Kopf zu ignorieren. Etwas Warmes, Klebriges lief an meiner Schläfe hinab, tropfte mir vom Kinn und irgendwie konnte ich die Geräusche um mich herum nicht mehr richtig wahrnehmen. Da war das Knurren und Brüllen mehrerer Lyvaras und der laute Ruf. Ein Mann rief immer wieder etwas, doch ich verstand nicht was und konnte auch nicht orten, wo genau es herkam. Alles drang dumpf zu mir, wie durch Watte.

Ich sah mich selber, halb orientierungslos, mein Ziel fest vor Augen, wie ich mit zittrigen Fingern nach den Pfeilen griff und mich dann schwankend auf die Beine arbeitete.

Wieder rief ein Mann lautstark. Hinter mir gab es ein lautes Schrillen. Ein Handy?

Langsam hob ich meine Waffe und nahm die streitenden Lyvaras durchs Zielfernrohr in Visier. Meine Bewegungen fühlten sich träge und unbeholfen an. Unter der Anstrengung die Waffe halten zu müssen zitterten die Muskeln meiner Arme. War die schon die ganze Zeit so schwer gewesen? Ich dachte nicht weiter darüber nach, zog den Abzug einfach durch und schoss.

Der Lyvara der mich an der Wagentür angegriffen hatte, knurrte wütend auf, doch schon im nächsten Moment begann er zu torkeln und unkontrolliert zu zucken.

Ich wartete gar nicht erst darauf, dass er zu Boden ging, sondern versuchte sofort meine Waffe nachzuladen.

„Shanks, verdammt!“

Reese. Die Stimme die da die ganze Zeit rief, das war Reese.

Langsam drehte ich mich zu ihm herum und das war der Augenblick, in dem mich meine Kraft verließ und meine Beine wegknickten. Von jetzt auf gleich sackte ich einfach in mich zusammen und ich konnte gar nichts dagegen tun.

Reese rief nach mir. Im gleichen Moment stürzte der andere Lyvara auf mich zu. Reflexartig riss ich die Arme vors Gesicht, da wurde ich auch schon niedergerissen.

Der Lyvara jaulte so laut auf, dass mir fast das Trommelfell platzte. Sein Körper begann unnatürlich zu zucken, während mir sein stinkender Atem ins Gesicht blies. Er schien einen epileptischen Anfall zu haben. Dabei geriet ich durch sein Körpergewicht unter Atemnot. Ich stemmte meine Arme gegen ihn. Das lange Fell verdeckte mir die Sicht. Mein Kopf schmerzte. Irgendwo rief Reese erneut nach mir. War er in Bedrängnis? Brauchte er meine Hilfe?

Ich stemmte mich stärker gegen den Lyvara, doch er schien immer schwerer zu werden, ich brauchte einen weiteren Moment um zu bemerkten dass die Zuckungen aufgehört hatten und zu verstehen, dass er tot war. Wie war das möglich?

Da ertönte ein Knall. Ein lauter Fluch, noch ein Knall. Ein Lyvara jaulte schmerzverzerrt auf.

Mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte, versuchte ich weiter mich unter dem Lyvara rauszuarbeiten. Verdammt, warum mussten diese Biester nur so schwer sein? Der Schmerz in meinem Kopf pochte im Rhythmus meines viel zu schnellen Pulses. Ich spürte, wie mein eigenes Blut mir ins Haar sickerte und das Gewicht auf meiner Brust jeden neuen Atemzug schwerer machte. Aber dafür schien mein Gehör sich endlich wieder zu normalisieren.

Da waren Stimmen, hastige Schritte in meine Richtung. Irgendwo knarrte eine verkeilte Wagentür und das Schluchzen einer Frau lag in der Luft.

„Shanks!“ Reese rannte um seinen Wagen herum, rutschte fast weg, als er zu hastig um die Ecke bog und schlug neben mir so hart auf die Knie, dass es mit Sicherheit wehgetan hatte. „Shanks! Wenn du tot bist, dann werde ich echt sauer! Dann …“ Er ließ den Satz unbeendet, während er mit Händen und Füßen versuchte den schweren Leib von mir runter zu wuchten.

Ich versuchte, so gut es ging zu helfen, doch irgendwie fühlte ich mich völlig kraftlos. Und ich wusste nicht einmal warum.

„Oh Gott, was …“

„Hab ich Ihnen nicht gerade gesagt Sie sollen in ihrem verdammten Wagen bleiben, weil ich das Gebiet noch nicht gesichert habe?!“, fuhr Reese die unbekannte Frauenstimme an. Im nächsten Moment versetzte er dem toten Lyvara einen so kraftvollen Stoß, dass er endlich von mir runter rollte.

Als meine Lungen sich endlich wieder voll entfalten konnten, schnappte ich so heftig nach Luft, dass mir davon ganz schwindlig wurde.

„Scheiße, du lebst!“ Reese stieß ein erleichtertes Geräusch aus und half mir dann mich auf die Seite zu drehen. Als mich dann auch noch ein Hustenkrampf packte, strich er mir sogar beruhigend über den Rücken. „Gott Shanks, hab ich dir nicht gesagt du sollst so einen Mist nicht in meinen Beisein abziehen?! Verdammt, ich dachte schon … mach das nie wieder!“

„Ich werd es … versuchen“, krächzte ich mit heiserer Stimme.

Seine Hand strich fahrig über mein Gesicht. „Scheiße, du blutest wie ein abgestochenes Schwein. Wo kommt das ganze Blut her?“

Oh wie nett. „Kopf.“ Ich atmete noch einmal tief ein und tastete dann vorsichtig nach der pochenden Stelle. „Ich bin gegen den Wagen geknallt.“

Reese zog meine Hand unnachgiebig zur Seite, um sich die ganze Sache selber anzusehen. „Platzwunde“, teilte er mir mit. „Sieht nicht so aus, als müsste es genäht werden.“

So wie das weh tat konnte ich mir das beim besten Willen nicht vorstellen. „Fühlt sich aber so an, als sei mir die Hälfte von meinem Kopf weggeflogen.“ Noch ein tiefer Atemzug. Frei atmen zu können war wirklich etwas Fantastisches. „Wärst du so nett mir hoch zu helfen?“

„Nur wenn es nicht zur Gewohnheit wird.“

Und da war er wieder, mein ewig miesgelaunter Lehrcoach.

Mit seiner Hilfe schaffte ich es, mich langsam in eine sitzende Position zu arbeiten. Gleichzeitig ertönte neben uns das Stöckeln hochhackiger Schuhe.

„Ich habe die Polizei gerufen und ihnen gesagt, dass Sie die Lyvaras eliminiert …“

„Sie haben was?!“ Reese sah aus als wollte er ihr gleich an die Kehle springen. „Warum zum Teufel bleiben Sie nicht in ihrem verdammten Wagen und tun was ich Ihnen gesagt habe?!“

Weitere Autotüren wurden geöffnet. Stimmengemurmel setzte ein. Schritte. Das schmerzverzerrte Stöhnen eines Mannes. Irgendwo schrie ein Baby.

„Aber ich dachte es sei jetzt sicher. Und die Leute brauchen Hilfe. Sie …“

„Und Sie brauchen verdammt noch mal ein bisschen Verstand!“, fuhr er ihr einfach über den Mund. „Ich habe das Gebiet noch nicht gesichert, weil ich nach meiner Partnerin sehen musste!“

Also wusste er nicht mit Sicherheit, dass er nicht doch einen Lyvara in der Hektik übersehen hatte.

Ich zog meinen Jackenärmel über die Hand und drückte ihn vorsichtig gegen die blutende Wunde. Ein Zischen konnte ich mir gerade noch so verkneifen – das tat aber auch weh. Dabei glitt mein Blick auf die zerzauste Frau in dem teureren Designerkostüm. Bis auf ein paar Kratzer schien sie unversehrt und ich stellte erfreut fest, dass nicht nur mein Gehör wieder einwandfrei funktionierte, sondern auch, dass ich sie klar und deutlich erkennen konnte. Das bedeutete ich hatte keine Gehirnerschütterung – wenigstens etwas.

Die Frau sah etwas unsicher umher. „Das hab ich nicht gewusst.“

Mein Lehrcoach spießte sie förmlich mit einem Blick auf. „Natürlich haben Sie das nicht.“

In der Ferne ertönten Sirenen, die sehr schnell näher kamen.

Reese erhob sich und stellte sich so dicht vor die Frau, dass er damit schon in ihren persönlichen Bereich eindrang. „Und genau deswegen habe ich Ihnen gesagt, dass Sie in ihrem scheiß Wagen sitzen bleiben sollen!“

Die Wagen der Rettungseinheiten kamen schnell näher. Eine Polizeistreife fuhr direkt an uns vorbei und hielt ein Stückchen weiter neben einem eingedrückten kleinen Ford. Drei Sanitätsfahrzeuge bremsten mit Blaulicht vor uns ab. Im nächsten Moment klappten schon die hinteren Türen auf und die Notärzte strömten heraus. Die Feuerwehr und weitere Polizeiwagen hielten mit quietschenden Reifen, um gleich darauf den Unfallopfern in den zerbeulten Autos zu Hilfe zu eilen. Selbst ein Übertragungswagen der Nachrichten hatte sich dem Konvoi angeschlossen.

„Scheiße!“, fluchte Reese und blickte grimmig um sich. Die Situation wurde immer unübersichtlicher. Zwar war die Wahrscheinlichkeit, dass hier noch ein Lyvara herumlief sehr gering, aber sie war leider nicht auszuschließen.

Wütend und frustriert drehte er sich zu mir um. „Du bleibst hier und lässt die Wunde von einem Sanitäter ansehen. Ich gehe den Einsatzleiter suchen.“ Mit einem letzten verärgerten Blick auf die Frau, zog er seine Zigaretten aus der Manteltasche und verschwand in dem geordneten Chaos der Rettungseinheiten.

„Es tut mir wirklich leid“, sagte die Frau noch einmal zu mir.

Ich gab nur ein Grunzen von mit, das alles und auch nichts heißen konnte und ließ dann langsam den Arm sinken. Einige Haare ziepten an dem geronnenen Blut, aber es suppte bei weitem nicht mehr so schlimm wie am Anfang. Jetzt mussten nur noch die Kopfschmerzen nachlassen. „Mistvieh“, murmelte ich mit einem Blick auf meinen blutverschmierten Ärmel und sah mich dann nach dem toten Lyvara neben mir um.

Er wirkte völlig unversehrt, als würde es nur schlafen. Meine Stirn legte sich in Falten. Warum war es eigentlich tot? Reese hatte es ja offensichtlich nicht erschossen. Und als es mich niedergerissen hatte, war es noch sehr lebendig gewesen. Also warum … aber natürlich. Als es mich ansprang, hatte ich noch die drei Giftpfeile in der Hand gehabt. Es musste direkt in sie hinein gesprungen sein.

Drei Pfeile.

Diese Dosis hätte sogar einen Wal kollabieren lassen. Kein Wunder also dass es den Lyvara sofort dahingerafft hatte.

Hinter Reese' Wagen wurden mehrere Stimmen laut.

Die Frau neben mir blickte stirnrunzelnd hinüber.

Was war denn nun schon wieder los? Eigentlich sollte es mich nicht interessieren. Ich sollte einfach hier sitzen bleiben und warten bis sich ein Sanitäter meinen Kopf angesehen hatte, aber andererseits befand ich mich noch im Dienst. Außerdem musste ich sowieso irgendwann von der kalten Fahrbahn aufstehen und meine Beine fühlten sich wieder fit genug an um einen ersten Versuch zu wagen. Fraglich war nur, ob meine schmerzende Hüfte mitspielen würde.

Ich würde es ja merken.

Mit einer Hand an der Wagentür zog ich mich langsam in die Senkrechte. Die Frau wollte mir helfen, aber ich winkte ab. Das konnte ich noch alleine, auch wenn ich mich anschließend erst mal an den Wagen lehnen musste um nicht gleich wieder in die Knie zu gehen.

Die Stimmen der Männer wurden lauter und die eine von ihnen erkannte ich an dem herablassenden Ton auch ohne hinzusehen. Reese stand mit zwei Polizisten und einem Zivilisten zusammen und knurrte ihnen wütend Worte entgegen. Um was genau es da ging verstand ich nicht, aber dafür erregte etwas anderes meine Aufmerksamkeit.

Es war nur eine klitzekleine Bewegung im Augenwinkel, kaum der Rede wert und ich konnte auch nicht sagen was mich dazu bewog den Kopf zu drehen. Vielleicht war es einfach nur Schicksal, denn dort drüben, wo zwei Feuerwehrleute gerade einer alten Dame aus ihrem zerbeulten VW Käfer halfen, stand ein Lyvara.

Unverletzt, unbemerkt, lauernd und halb versteckt hinter dem umgekippten Anhänger eines Turans.

Ich dachte nicht weiter darüber nach, sah nur wie dieses Vieh den rechten Feuerwehrmann fixierte und hatte plötzlich meine M19 in der Hand. „Achtung!“, schrie ich laut und hob die Waffe über das Wagendach.

Einatmen, zielen.

Der Lyvara spannte die Muskeln zum Sprung an. In Reese‘ Wagen klingelte ein Handy. Alle Gesichter wandten sich mir zu, nur nicht das von Reese. Sein Blick schnellte in die Richtung in die ich zielte.

Ausatmen, durchziehen.

Der Schuss peitschte überlaut über die Unfallstelle, flog an dem Feuerwehrmann vorbei und schlug dem Lyvara frontal in die Stirn. Es gab keinen Ton von sich, zuckte nur heftig zusammen und fiel dann einfach um. Ein kleines Rinnsal Blut lief über seine Schläfe und spiegelte damit die Ironie der Situation.

Ich fasste an meine eigene Wunde. Tja, es stimmte also doch. Karma.

Das klingelnde Handy im Wagen verstummte, als ich meinen Blick Reese zuwandte.

Er nickte kaum merklich und durchbohrte die Frau neben mir mit einem tödlichen Blick.

Oh ja, diese beiden würden niemals Freunde werden.

 

°°°

 

Das Handy neben mir verstummte, als der Sanitäter seinen Koffer zusammen packte und sich mit einem Nicken bei mir verabschiedete. Ich blieb alleine auf dem Beifahrersitz von Reese' Wagen zurück. Wie mir mitgeteilt wurde, hatte ich wohl doch eine leichte Gehirnerschütterung, aber zum Glück war es nichts Weltbewegendes. Und sobald die Kopfschmerztablette wirkte, war ich wieder fit.

Okay, das hatte der Sanitäter nicht gesagt, aber ich wollte mir keine Ruhe gönnen – nicht noch mehr. Es reichte schon, dass Reese mich in den Wagen verbannt hatte, unter Androhung mich bei Jilin zu verpetzten, sollte ich meinen Arsch auch nur einen Millimeter von diesem Sitz bewegen – seine Worte, nicht meine. Das war vor über einer Stunde gewesen. Seitdem sah ich ihn immer wieder auf der Unfallstelle hin und her laufen, während ich hier dumm rum saß und Däumchen drehte.

Tief durchatmend lehnte ich mich in dem Sitz zurück und schloss die Augen. Das Pflaster an meiner Stirn ziepte unangenehm, aber es tat nicht mehr ganz so schlimm weh. Und was auch immer der Sanitäter mir da in den Arm gespritzt hatte, es machte mich schläfrig. Ich fühlte mich so müde, dass ich selbst die Geräuschkulisse draußen ausblenden konnte.

„Bist du eingepennt?“

„Das würde ich mich doch gar nicht trauen, solange du in der Nähe bist“, murmelte ich leise. Als Reese nichts darauf erwiderte, öffnete ich die Augen.

Er stand in der offenen Autotür auf meiner Seite, eine halb gerauchte Zigarette in der Hand und musterte mein Gesicht. „Du siehst echt beschissen aus.“

Wie direkt wir heute doch wieder waren „Das ist nichts was eine Mütze voll Schlaf nicht wieder hinbekommen kann.“

Er schnaubte abfällig. „Du siehst aus wie ein Zombie, da wird eine Mütze voll Schlaf wohl nicht reichen.“

Charmant, mehr gab es da wirklich nicht zu sagen. „Übrigens, dein Handy hat ein paar Mal geklingelt.“

„Mein Handy?“

Ich klaubte es von Fahrersitz und reichte es ihm hoch. „Handy“, erklärte ich, als hätte ich einen Dreijährigen vor mir.

„Hab das Mistding schon gesucht“, murmelte er und nahm es mir aus der Hand. Als er die Einträge der verpassten Anrufe kontrollierte, wich der nachdenkliche Zug einem verhärmten Stirnrunzeln. Halb von mir abgewandt wählte er eine Nummer und schien dabei sogar die Zigarette in seiner Hand zu vergessen.

Während des kurzen Telefonats konnte ich beobachten, wie jeder Zug in seinem Gesicht zu Stein wurde, der nicht die kleinste Gefühlsregung zuließ. Nur seine Augen nicht. In ihnen lag eine so tiefe Erschöpfung, die mich an einen alten Mann denken ließ.

„Okay, hab verstanden, bin unterwegs.“ Noch während dieser Worte schlug er meine Tür zu und lief dann eilig um den Wagen herum. Seine Zigarette ließ er beim Einsteigen achtlos auf den Boden fallen.

„Wir fahren schon?“ Ich drehte den Kopf an der Nackenstütze herum. „Judd ist doch noch nicht mal da.“

„Notfall“, sagte er kurz angebunden und startete den Motor. Er sagte niemandem am Unfallort Bescheid, dass wir wegmussten, fuhr einfach los und das mit viel zu hoher Geschwindigkeit.

Ich studierte sein Gesicht, die verhärteten Züge um seinen Mund, den etwas stumpfen Glanz seiner Augen, die stur durch die Windschutzscheibe blickten, als wir die Straßensperre hinter uns gelassen hatten und er sich in den Verkehr einordnete. Er wirkte verkrampft, hatte seine Hände so fest an das Lenkrad geklammert, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn es unter dem Griff einfach gebrochen wäre. Er wirkte resigniert und gereizt.

Irgendwie kam mir diese Haltung bekannt vor, aber mein Hirn war im Moment einfach nicht fit genug um die fehlenden Puzzelteilchen an die richtigen Plätze zu legen.

Notfall. Das konnte alles bedeuten. Ich musste dafür in Topform sein, doch im Moment fühlte ich mich einfach nur unendlich müde. Vielleicht war auch das der Grund, warum ich die ganze Fahrt halb in Trance verbrachte und erst als Reese den Wagen vor dem eingezäunten Betonklotz in eine Parklücke stellte verstand ich, wo wir uns wieder befanden.

Die Straße, die Hochsicherheitsgegend, die alten Bäume und das Gebäude mit den vergitterten Fenstern. Ich runzelte die Stirn. „Was machen wir schon wieder hier?“

Reese warf mir nur einen kurzen Blick zu und zog dann den Schlüssel vom Zündschloss ab. „Bleib einfach im Wagen.“

Oh nein, das konnte er vergessen. Beim letzten Mal hatte ich es ihm durchgehen lassen, weil ich wegen der Sache mit dem Hausmeister in der Schule selber völlig durch den Wind war, aber dieses Mal konnte er es vergessen. „Was ist das hier für ein Ort, was machst du hier?“

„Das geht dich nichts an.“ Ohne mir die Zeit für eine Erwiderung zu geben, stieg er aus dem Wagen und knallte die Tür zu.

Doch dieses Mal ließ ich mich nicht so leicht abspeisen. Ich schnallte mich hastig ab und stieß die Tür in dem Moment auf, als er an mir vorbei lief. „Wir haben zu arbeiten! Du kannst während der Arbeitszeit doch nicht ständig deinen privaten Sachen nachgehen. Reese! Ich rede mit dir.“

Das interessierte ihn aber nicht. Er drehte sich nicht um, sagte keinen Ton, lief einfach weiter auf das kleine Pförtnerhäuschen zu.

Ich stieg aus dem Wagen. „Reese, wenn du jetzt nicht verdammt noch mal zurück in den Wagen steigst, dann werde ich es Jilin sagen!“

Er wirbelte so schnell zu mir herum und kam auf mich zugeschossen, dass ich hastig an den Wagen zurück wich. „Du wirst nichts sagen. Keinen Ton!“

„Noch ein Geheimnis?“ Ich schnaubte, versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr seine bedrohliche Ausstrahlung mich einschüchtern konnte. „Noch mehr illegale Aktivitäten? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Reicht dir Taid nicht?!“

„Es geht dich verdammt noch mal nichts an! Weder das mit Taid noch das hier. Halt dich einfach da raus.“ Er spießte mich förmlich mit seinem Blick auf.

„Wenn du das in unserer Arbeitszeit machst und dafür sogar einen Unfallort verlässt, dann geht mich das sehr wohl etwas an! Wenn du diese Scheiße in deiner Freizeit abziehen musst, kann ich dich nicht daran hindern, aber jetzt geht das nicht!“

Er schnaubte nur. „Du hast doch keine Ahnung.“

Ich hielt seinem drohenden Blick stand. „Jetzt vielleicht noch nicht, aber solltest du da rein gehen, dann werde ich herausfinden war hier los ist und …“

„Es geht dich nichts an!“, brüllte er mir ins Gesicht. „Also halt dich verdammt noch mal da raus!“

Ich wollte es. Verdammt noch mal, so wie er aussah, wollte ich am liebsten einfach in die andere Richtig davon rennen und mich verstecken, bis er sich wieder beruhigt hatte. Aber ich ruderte nicht zurück. Er musste doch einsehen, dass ich Recht hatte. „Nein, tu ich nicht. Ich werde kein weiteres Mal wegsehen. Das kannst du vergessen, also steig in den scheiß Wagen ein, damit wir hier weg können!“

„Ich kann hier aber nicht weg!“

„Ach, und warum nicht? Geht dir sonst Geld flöten, dass du für irgendwelche Scheiße ausgeben kannst?!“

Er kam mir so nahe, dass ich nicht nur seinen Atem in meinem Gesicht spüren konnte, sondern auch seinen wütenden Blick. „Ich kann hier nicht weg, weil in dieser psychiatrischen Anstalt meine geisteskranke Mutter lebt und gerade völlig am Austicken ist. Und leider bin ich der Einzige, der sie in diesem Zustand beruhigen kann.“

 

°°°°°

Kapitel 11

 

Nach dieser Eröffnung war ich sprachlos. Ich versuchte etwas zu sagen, wirklich, mein Mund klappte sogar mehrmals auf, doch es kam einfach kein Ton raus.

„Vergiss es einfach!“, fauchte Reese mich an, drehte sich um und marschierte auf das Pförtnerhäuschen zu. Dabei wirkte er so verbittert, dass es mir schon in der Seele wehtat. Aber wie hätte ich das denn auch ahnen sollen? Warum hatte er denn nie ein Wort gesagt? Natürlich, Reese war noch nie besonders mitteilsam gewesen, aber wenn ich es gewusst hätte, hätte ich doch nicht so einen Aufstand gemacht.

Und jetzt hatte ich alles versaut und konnte nur noch zusehen, wie er mit hochgezogenen Schultern auf dem Gelände verschwand. Ich verstand natürlich, dass das nichts war, was man jedem x-beliebigen Menschen mitteilte, aber es hätte doch auch schon gereicht, wenn er mir gesagt hätte, dass seine kranke Mutter hier sei und seine Hilfe benötigte. Ich wäre der letzte Mensch auf der Welt gewesen, der ihn daran gehindert hätte herzukommen. Ganz im Gegenteil, wahrscheinlich hätte ich ihm sogar noch einen Tritt in den Hintern versetzt, damit er schneller ans Ziel kam. Doch jetzt? Jetzt hatte ich es verbockt.

Niedergeschlagen setzte ich mich zurück in den Wagen und schlug meinen Kopf gegen die Nackenstützte – nicht gut, meine Kopfschmerzen meldeten sich sofort wieder zu Wort. Heute ging aber auch mal wieder alles schief.

Seine Mutter. Bisher hatte er sie nur einmal ganz kurz erwähnt. Und wenn ich so darüber nachdachte, war auch von Nick nie etwas in dieser Richtung gekommen. War das der Grund? Schämten sie sich für sie? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Es war doch egal, was mit ihr nicht stimmte, sie war und blieb immer noch ihre Mutter. Ich würde wirklich alles dafür geben meine noch einmal in die Arme schließen zu dürfen.

„Scheiße.“ Dieses Mal hatte ich es so richtig versaut und ich glaubte auch nicht, dass es mit einer Entschuldigung getan wäre. Reese war extrem nachtragend und das hier würde er mir sicher nicht so schnell verzeihen – falls diese Option überhaupt im Raum stand.

Ich starrte aus dem Fenster zu dem Betonklotz. Meine Gedanken kreisten dabei die ganze Zeit um das Problem, wie ich das wieder hinbiegen konnte, aber dafür gab es leider kein Handbuch, in dem man eine schnelle Lösung nachschlagen konnte.

Die Zeit verstrich nur tröpfelnd. Immer wieder glitt mein Blick zur Uhr, doch Reese kam und kam einfach nicht wieder heraus. Ich versuchte, mich mit dem Radio abzulenken, schrieb ein paar Minuten mit Evangeline über das Handy und hätte am liebsten bei Nick angerufen um mit ihm darüber zu reden, aber was hätte ich denn sagen sollen?

Zehn Minuten verstrichen, eine halbe Stunde, eine ganze. Meine Augen wurden schwer und ich döste wirklich einen Moment ein. Die Kollision zwischen meinem Kopf und diesem Wagen hatte mir wohl doch mehr zugesetzt, als ich es mir eingestehen wollte und auch das Pochen meiner Hüfte war ein stetiger Begleiter.

Ich konnte nicht sagen ob ich wirklich eingeschlafen war. Auf jeden Fall kam ich erst wieder zu vollem Bewusstsein, als die Fahrertür zugeschlagen wurde. Aus dem Radio drang die leise Stimme des Nachrichtensprechers, aber das war mir im Augenblick völlig egal. Mich interessierte nur Reese, der wie versteinert in seinem Sitz saß und nach vorne aus dem Fenster starrte. Keine Regung in seinem Gesicht verriet, was in seinem Kopf vorging, nur seine Augen sprachen wieder von dieser tiefen Erschöpfung, die ich bereits mehr als einmal bei ihm festgestellt hatte.

Die Stille zwischen uns war drückend. Ich hätte sie gerne beendet, aber ich wusste einfach nicht was ich sagen sollte. Warum schrie er mich denn nicht an? Warum beschimpfte und verfluchte er mich nicht? Damit wäre ich eher klar gekommen, als mit dieser stillen Abneigung, mit der ich einfach nicht umzugehen wusste.

„Na los, komm schon, ich sehe doch wie dir die Fragen auf der Zunge brennen. Also frag mich.“ Er wandte sich mir auf seinem Sitz zu. Dabei ging eine solche Kälte von ihm aus, dass ich schlucken musste. „Du willst nicht? Na gut, dann frag ich eben. Tack, warum hast du eine durchgeknallte Mutter? Sie wurde von einem Iuba angegriffen. Dabei hat sie eine Kopfverletzung erlitten und ist seitdem nicht mehr ganz dicht im Kopf. Interessant, Tack, aber sag mal, wie ist es denn so, mit einer verrückten Mutter zu leben? Davon abgesehen, dass sie Nick als Kleinkind versucht hat mit einer Pfanne zu erschlagen, weil sie ihn für ein Monster hielt, ging es eigentlich. Aber Tack, das ist ja grausam. Was ist weiter passiert? Wir haben sie in ein Irrenhaus eingeliefert, wo sie niemandem mehr gefährlich werden kann. Heißt das, Tack, dass sie seitdem niemanden mehr angegriffen hat? Aber nein, es gibt schließlich genug Personal, das sie …“

„Hör auf!“, schrie ich ihn an. Ich wollte das nicht hören. Das war unmenschlich. Sein Blick, diese Kälte in seiner Stimme, das war einfach nur … abscheulich. „Bitte, hör auf.“

„Warum? Du wolltest es doch unbedingt hören. Was ist das hier für ein Ort? Was willst du hier? Das waren doch genau deine Worte, oder leide ich jetzt auch an einer Geisteskrankheit und habe mir das nur eingebildet?“

„Das ist nicht witzig.“

Er drückte die Lippen fest zusammen und lehnte sich wieder in seinen Sitz zurück. Sein Blick ging dabei einen Moment aus dem Fenster zu der psychiatrischen Klinik. „Nein, es ist nicht witzig.“ Müde rieb er sich übers Gesicht, ließ die Arme dann einfach in den Schoß fallen und tat nichts weiter als still da zu sitzen. Dabei machte er den Eindruck einen kleinen Kindes, das einfach nicht mehr weiter wusste. Überfordert, das war das Wort das mir einfiel. Auch wenn er es nicht zeigte und so abfällig darüber sprach, die ganze Sache machte ihn fertig.

„Deswegen brauche ich das Geld“, sagte er leise, als die Stille zu drückend wurde. „Diese private Einrichtung ist sehr teuer, aber viel besser als die Staatlichen. Dort geht es Celina gut, da kann man sich richtig um sie kümmern. Und es ist sicher. Hier kann ihr nichts mehr passieren.“ Er sah mich an, als fürchtete er, dass ich ihn dafür verurteilen könnte. „Nur deswegen arbeite ich für Taid. Bei der Gilde verdiene ich einfach nicht genug um für die ganzen Arztrechnungen für sie und Nick aufzukommen. Ich habe keinen anderen Weg mehr gesehen und es kommt dabei ja auch niemand zu schaden.“

Versuchte er bei mir, gerade Abbitte zu bekommen? Moment … „Nick? Was hat Nick damit zu tun?“

Reese sah mich nur einen Moment an, ließ seinen Kopf dann geräuschvoll gegen die Nackenstütze fallen und gab dabei ein schnaubendes Lachen von sich, das vieles war, aber sicher nicht glücklich. „Das willst du doch gar nicht wissen.“

„Natürlich will ich es wissen, sonst hätte ich ja nicht gefragt.“

Reese beachtete das gar nicht. Still starrte er aus dem Fenster, als würden dort die Antworten des Lebens liegen. Die Hände in seinem Schoß spielten dabei unablässig mit dem Zündschlüssel herum. Auch wenn er versuchte unbeteiligt zu wirken, er war es nicht.

„Reese, bitte, sag es mir. Was ist mit Nick?“

Sehr langsam wandte er mir das Gesicht zu, suchte einen Moment meinen Blick, nur um dann resigniert den Kopf zu schütteln und den Schlüssel ins Zündschloss zu stecken. „Es geht dich nichts an.“

„Verdammt, Reese!“ Bevor er den Wagen starten konnte, griff ich entschlossen nach seinem Arm und hielt ihn fest. Ich würde ihn nicht losfahren lassen, ehe wir das nicht geklärt hatten. Scheiß auf die Arbeitszeiten – wenigstens für einen Moment. „Warum schweigst du jetzt wieder? Wovor hast du eigentlich Angst?“

„Ich habe vor gar nichts Angst!“

Da hatte ich aber einen ganz anderen Eindruck. „Was glaubst du denn bitte was passieren würde, wenn du mit mir sprichst?“, fragte ich ohne auf seine Worte einzugehen. „Glaubst du wirklich ich renne gleich zu aller Welt und erzähle ihnen, dass deine Mutter krank ist? Verdammt Reese, mittlerweile müsstest du doch kapiert haben, dass ich Dinge für mich behalten kann. Was ist mit Nick? Sprich endlich mit mir.“

Bei meinen letzten Worten trat etwas in Reese' Augen, was ich nicht genau benennen konnte. Sehnsucht? Angst? Schmerz? „Das hat sie damals auch gesagt“, flüsterte er.

„Wer?“

„Maggie.“ Vorsichtig löste er meine Finger von seinem Arm und lehnte sich wieder in seinen Sitz zurück. „Sie saß damals auf dem gleichen Platz wie du heute. Ich war gestresst, wegen Nick. Und Celina hat …“ Sein Blick war in weite Ferne gerichtet. An einen anderen Ort, zu einer anderen Zeit, zu einem Moment der mir verschlossen blieb. „Maggie hat gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Sie hat es immer gemerkt, aber dieses Mal hat sie mir den Schlüssel weggenommen und mir einen langen Vortrag über Vertrauen gehalten.“ Er schnaubte. „Es war so gefühlsduselig und … keine Ahnung. Und dann hat sie das auch gesagt. Sprich endlich mit mir.“ Er seufzte tief. „Und ich habe mit ihr gesprochen.“

Für einen Moment war ich völlig sprachlos. Reese hatte mir etwas von sich anvertraut. Ein kleines Stückchen seiner Vergangenheit gehörte nun auch mir. Und wie er von Maggie sprach, so weich. Ich hatte ihn noch nie so über einen anderen Menschen sprechen hören. Kein abfälliges Wort, kein verächtliches Geräusch, nur diese Sehnsucht nach dem was für ihn verloren war.

„Liebst du sie noch?“ Ich wusste nicht, wo diese Worte plötzlich herkamen, aber sie waren raus, bevor ich mir darüber Gedanken machen konnte. Und nun standen sie zwischen uns im Raum.

Als Reese sich mir mit einer hochgezogenen Augenbraue zuwandte, hielt ich die Luft an. „Wen? Maggie?“ Und dann geschah etwas womit ich im Leben nicht gerechnet hätte. Es begann ganz klein, nur ein kurzes Zucken seines Mundwinkels. Und dann lachte er. Nur leise, als wollte er es still und heimlich tun, es mit niemand teilen, aber er lachte klar und deutlich. Und dann grinste er mich auch noch auf so eine offene Art an, dass ich ein ganz komisches Kribbeln im Magen bekam.

Das war auch der Moment, in dem ich nicht zum ersten Mal die Ähnlichkeit zwischen ihm und Nick entdeckte. Sie hatten beide das gleiche Lächeln, das mit dem kleinen Grübchen am Mundwinkel. Und ihre Augen leuchteten auf dieselbe Weise.

„Maggie war Ende vierzig.“

„Bitte?“

Das entlockte ihm ein weiteres Schmunzeln. „Maggie. Als ich als Praktikant in die Gilde kam, war sie bereits Ende vierzig. Von Suzanne einmal abgesehen war sie die Älteste in der Gilde.“

„Du hast sie also nicht geliebt? Aber ich dachte die ganze Zeit …“ Ich ließ den Satz unbeendet, da ich selber nicht wusste, was ich noch sagen sollte. Ich hatte die ganze Zeit geglaubt sie wären ein Pärchen oder etwas in der Art gewesen. Traute Zweisamkeit, Liebe, die Einzige die er wollte.

„Ich hab sie geliebt, aber nicht so wie du glaubst. Maggie war mein Mentor, meine Freundin.“ Er drückte die Lippen einen Moment aufeinander. „Sie war der Mensch, dem es nicht egal war, was aus mir wurde und mir den Arsch aufgerissen hat, wenn ich Scheiße gebaut habe.“

„Sie fehlt dir sehr.“

„Sie war meine Mutter.“ Er legte seinen Kopf in den Nacken und starrte hinauf zur Wagendecke. „Celina hat mich zwar geboren, aber Maggie war meine Mutter. Die einzige die ich jemals wirklich hatte.“

Wie er über sie sprach, mit so viel Sehnsucht in der Stimme. Ich wusste genau wie sich das anfühlte.

„Aber jetzt ist es eh egal, weil sie tot ist.“ Er beugte sich vor und rammte den Schlüssel ins Schloss, doch bevor er ihn drehen konnte, hatte ich meine Hand auf seine gelegt, denn wir waren hier noch nicht fertig.

„Nein, es ist nicht egal.“

Resigniert schloss er die Augen. „Was willst du eigentlich von mir?“

„Ich will, dass du es mir erzählst, das mit Nick.“

„Und was versprichst du dir davon, außer deine Neugierde zu befriedigen?“

„Was versprichst du dir davon, es zu verschweigen“, fragte ich ohne auf seine Provokation einzugehen. Ich drehte mich halb auf meinem Sitz herum. „Bitte Reese, hilf mir zu verstehen.“ Hilf mir zu verstehen, was hier wirklich los ist. Warum du dich so verhältst.

Er sah mich nicht an, schüttelte nur meine Hand ab um sich dann zerstreut eine Zigarette aus der Tasche zu ziehen. Mit fahrigen Fingern zündete er sie an, schaute dabei rüber zu der Anstalt.

Ich konnte nicht sagen was in seinem Kopf vorging. Er wirkte wie ein Buch mit sieben Siegeln, die langsam aber sicher zu brechen drohten, weil sie dem Druck im Inneren nicht mehr standhielten.

„Nick ist fünf Jahre jünger als ich“, begann er, stockte dann aber wieder, als sei er sich nicht sicher, ob er das wirklich erzählen sollte. Er schüttelte den Kopf, seufzte und ließ den Kopf mit einem ordentlichen Rums gegen die Nackenstütze krachen. „Kurz bevor er auf die Welt kam, hat unser Vater uns verlassen. Er hatte versucht Celina das Kind aus dem Leib zu prügeln, aber es hat nicht funktioniert, also ist er gegangen. Er wollte schon das erste nicht und mit dem Zweiten wurde er dann in die Flucht geschlagen.“ Ein tiefer Atemzug. „Celina leidet, schon so lange ich mich zurückerinnern kann, an Depressionen, doch von diesem Tag an ging es mit ihr bergab. Der Mistkerl hat sie von morgens bis abends verprügelt, aber sie wollte ihn trotzdem nicht gehen lassen. Doch dann war er weg und für sie machte das Leben plötzlich keinen Sinn mehr. Doch wirklich schlimm wurde es erst nach der Geburt. Sie wollte sich nicht um Nick kümmern. In ihren Augen war er nichts weiter als ein kleiner Parasit, der ihr Glück geraubt hatte.“ Er unterbrach sich kurz, schweifte mit den Gedanken in die Vergangenheit. „Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich nachts von Nicks Weinen aufgewacht bin, weil er Hunger hatte, oder einfach nur eine volle Windel. Ich war erst fünf Jahre und doch habe ich mich mehr um ihn gekümmert, als Celina in ihrem ganzen Leben. Leider war ich selber noch ein kleines Kind, ich konnte nicht alles machen. Zum Glück hatten wir Marla. Sie war unsere Nachbarin und irgendwie auch eine Freundin von Celina. Sie hat sich regelmäßig um uns gekümmert, uns Essen gegeben, damit wir nicht verhungern, Nick von seinen dreckigen Windeln befreit, oder ist mit uns zum Arzt gegangen, aber sie war auch nicht mehr die Jüngste und nach ihrem Tod waren wir Kinder wieder auf uns allein gestellt. Zum Glück war ich mittlerweile zwölf und konnte nun schon mehr Verantwortung tragen.“

Reese nahm einen langen Zug von seiner Zigarette und entließ den Rauch dann nur sehr langsam. „Celina war eine Scheißmutter. Sie hätte ihre Kinder verhungern lassen, nur weil sie sich in ihrem eigenen Elend gesuhlt hat. Ich bin dabei noch gut weggekommen, mich mag sie, weil ich meinem Vater so ähnlich sehe. Nick ist für sie ein rotes Tuch. Sie gibt ihm die Schuld, dass dieser Mistkerl sie vor neunzehn Jahren hat sitzen lassen.“ Er drehte mir das Gesicht zu. „Sag Nick nichts davon. Er weiß es nicht mehr, er war damals noch zu klein gewesen, um es wirklich zu verstehen. Er glaubt bis heute, dass sie sich immer so verhalten hat, weil sie krank ist. Er weiß nicht dass sie ihn hasst und dabei soll es auch bleiben.“

Ich nickte langsam, nicht sicher was ich von seiner Erzählung halten sollte. Wie konnte diese Frau nur? Sie hatte sich doch für das Kind entschieden, sie hatte ihn zur Welt gebracht. Sie war verdammt noch mal seine Mutter!

„Gut.“ Reese setzte die Zigarette erneut an und nahm nachdenklich einen Zug. „Celina war den lieben langen Tag so mit sich und ihrem eigenen Leid beschäftigt, dass ihr Nicks seltsames Verhalten nicht aufgefallen ist. Er hat …“ Er stockte. „Er war auffällig. Im Verhalten. Ich habe es gemerkt, seine Freunde haben es gemerkt und natürlich auch seine Lehrer, aber wenn man sie darauf ansprach, hat sie immer nur gesagt er sei ein Nichtsnutz, der nur alles kaputt macht. Es interessierte sie auch nicht, dass er ständig der Schule fern blieb und sich auf der Straße rumtrieb. Ich war es immer gewesen, der die ganzen Katastrophen abgewandt hat. Ich hab mit seinen Lehrern gesprochen und konnte immer irgendwie verhindern, dass das Jugendamt eingeschaltet wurde. Nick war ihr einfach egal. Ist es heute noch.“

Er schaute gedankenverloren auf den feinen Rauchfaden seiner Zigarette. „Und dann, in einem plötzlichen Anfall von mütterlichem Eifer, raffte sie sich auf und ging los, um Essen zu besorgen.“ Er schnaubte. „Was für eine Ironie. Wir hatten immer Hunger, nie war etwas zu Essen zu Hause, aber genau an diesem Tag ging sie in diesen beschissenen Laden.“

Wie er das sagte, so verbittert. „Was ist passiert?“

„Ein Rudel Iuba hat den Laden gestürmt.“ Er sah mich an, sah mir genau in den Augen, die in diesem Moment wohl das Entsetzen meines sechsten Geburtstags spiegelten.

Iuba.

„Sie ist weggerannt und gestürzt, hat sich den Kopf angeschlagen. Schädelhirntrauma. So hieß es.“ Er schnaubte. „Danach war sie nie wieder dieselbe, es wurde nur noch schlimmer mit ihr.“ Ein weiteres Mal führte er die Zigarette an den Mund. „Ein paar Wochen danach hat es angefangen. Plötzlich sah sie Dinge die nicht da waren, flüsterte mit unsichtbaren Leuten. Schizophrenie. Sie wurde richtig paranoid. Ihre Depressionen wurden so schlimm, dass sie es manchmal tagelang nicht aus dem Bett geschafft hat. Und wenn sie dann doch mal aus ihrem Zimmer gekrochen kam, hat sie seltsame Dinge getan. Das hier.“ Er klopfte sich mit der Hand auf die Schulter. „Das war sie. Ich weiß nicht was sie an diesem Tag in mir gesehen hat, aber es hat sie dazu veranlasst, einen Topf kochend heißes Wasser über mir auszukippen.“

Die Narbe auf seiner Schulter. Oh Gott, das war seine Mutter gewesen? Aber er hatte doch gesagt, dass es nur ein Unfall war. Ein schlimmer Unfall, aber … oh Gott!

„Aber wirklich schlimm wurde es kurz nach Nicks dreizehntem Geburtstag. Ich kam ziemlich spät nach Hause. Zu der Zeit machte ich bereits mein Praktikum in der Gilde und war lange mit Maggie unterwegs gewesen. Schon an der Wohnungstür habe ich ihre Schreie gehört. Sie schrie und schrie ohne auch nur ein verständliches Wort von sich zu geben. Ich fand sie in der Küche. Sie stand in der Ecke und schwang eine Bratpfanne, als wäre sie eine Waffe. Nick lag auf dem Boden in seinem eigenen Blut. Sie hatte versucht ihm den Schädel einzuschlagen und … ich weiß nicht.“ Er wandte mir den Blick zu. Die Zigarette blieb vergessen in seiner Hand. „Ich habe Nick immer, so gut es ging, vor ihr beschützt. Wenn sie sich aufgeregt hatte, konnte ich sie beruhigen, doch an diesem Tag war ich nicht da gewesen. Und als er da lag, mit dieser blutenden Wunde am Kopf und … und … einen Moment hab ich wirklich geglaubt sie hätte ihn umgebracht.“

Ich schlug die Hände vor den Mund. „Oh Gott.“ Das konnte es nicht geben. Das war so grausam, das durfte einfach nicht wahr sein.

„In dem Moment habe ich Rot gesehen“, gestand er. „Ich habe ihr diese dumme Bratpfanne aus der Hand geschlagen und ihr einen Fausthieb gegen den Kopf versetzt. Sie ist einfach bewusstlos zu Boden gegangen. Und weißt du was das wirklich Schlimme daran ist?“

Ich traute mich gar nicht darauf zu antworten, schaffte es gerade mal so ein kleines Kopfschütteln hinzubekommen.

„Es hat sie nicht mal gestört. Sie schien glücklich darüber. Ich hab sie geschlagen und seitdem bin ich ihr ein und alles.“ Er schüttelte den Kopf, als könnte er es immer noch nicht glauben. „Als sie bewusstlos auf dem Boden lag, habe ich die Polizei gerufen.“ Er sagte das so, als würde es ihn körperlich schmerzen. „All die Jahre habe ich alles verheimlicht, was bei uns zu Hause los war und dafür gesorgt, dass wir nicht auseinandergerissen werden, aber als Nick da in seinem eigenen Blut lag, wusste ich einfach nicht mehr weiter. Ich brauchte Hilfe. Also rief ich die Polizei.“

Das schien für ihn das Schwerste an der ganzen Sache zu sein, dass er sich hatte Hilfe von außen holen müssen. „Es war richtig von dir gewesen.“

Er schnaubte nur abwertend und schüttelte den Kopf. „Nein war es nicht. Nick war erst dreizehn. Das Jugendamt hat sich eingeschaltet und ihn in ein Kinderheim gesteckt. Mir wollten sie ihn nicht geben, ich hatte noch keinen festen Job. Er wohnt jetzt erst seit etwas mehr als einem Jahr bei mir. Natürlich habe ich ihn, so oft es ging, zu mir geholt. An den Wochenenden und in den Ferien, aber er musste immer wieder zurück. Die haben einfach nicht mit sich reden lassen.“ Er blickte auf seine Zigarette, nur um festzustellen, dass sie komplett abgebrannt war und schmiss sie achtlos in den halbvollen Aschenbecher. „Im Heim haben sie natürlich auch Nicks seltsames Verhalten bemerkt und ihn zu einem Psychoklempner geschickt. Nick leidet an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit Auffälligkeiten von Borderline und einer emotionalen Instabilität. Seit der Aktion mit der Bratpfanne, leidet er außerdem auch noch an PTBS. Posttraumatische Belastungsstörung. Er kann es nicht ertragen am Kopf berührt zu werden und tut man es doch, rastet er völlig aus.“ Bei diesen Worten sah er mich direkt an. „Das ist der Grund, warum du dich von ihm fernhalten sollst. Nick ist ein guter Kerl, aber manchmal ist er unberechenbar. Seine letzte Freundin hat … sie hat geglaubt damit klar zu kommen und ihn ständig bedrängt. Nick hat eine Panikattacke bekommen und einfach zugeschlagen. Und als sie dann verschwinden wollte, hat er sie in sein Zimmer eingeschlossen, damit sie nicht gehen konnte. Nick hat unglaubliche Verlassensängste. Er lässt niemanden freiwillig los.“

Mein Mund klappte auf, aber es kam kein Ton heraus. Nick war psychisch krank? Aber wie … „Mr. Who“, hauchte ich und sah ihn mit großen Augen an. „Ich hab ihm gesagt, dass ich das kleine Biest nicht leiden kann. Mr. Who mag keine Handschuhe und ich mag Mr. Who nicht.“

Reese neigte den Kopf leicht zur Seite. In seinen Ohren ergaben diese Worte wahrscheinlich keinen Sinn.

„Das hat er gesagt, kurz bevor er mit der Gabel zugestochen hat.“

„Sowas habe ich mir schon gedacht.“ Er seufzte. „Nick beginnt sich an dich zu gewöhnen, er will dich nicht mehr gehen lassen und tut alles um dich zum Bleiben zu bewegen.“

„Aber ich wäre doch auch so geblieben.“

„Das versteht er nicht. Er hat Angst loszulassen und dass du einfach wieder aus seinem Leben verschwinden wirst.“ Er sah mich an. „Wirst du?“

„Was?“

„Verschwinden.“

In dem Moment guckte ich wahrscheinlich wie ein Frosch auf LSD. „Spinnst du? Warum sollte ich? Er ist doch nicht plötzlich ein anderer, nur weil ich etwas Neues über ihn erfahren habe. Er ist immer noch Nick.“

„Aber Nick kann gefährlich werden. Seine Stimmung kann ohne Grund von einem Moment zum anderen völlig umschlagen. Er merkt dann selber nicht genau was er tut, er weiß es einfach nicht. Im einen Augenblick kann er mit dir lachen und im nächsten einfach auf dich losgehen.“

„Das hätte er vorher auch gekonnt, aber er hat es nicht getan.“

„Noch nicht.“

Ich runzelte die Stirn. „Willst du denn, dass ich gehe?“

„Ja.“ Gerade heraus. „Es wäre sicherer für dich. Ich kann nicht immer dabei sein, wenn ihr euch seht.“

Wie den Abend, als ich mit Nick Essen gegangen war. Reese hatte sich so vehement dagegen ausgesprochen, dass ich mich mehr als nur gewundert hatte. Er hatte absolut nicht gewollt, dass ich mit Nick allein unterwegs war. Jetzt ergab das endlich Sinn. Genau wie die Beruhigungsmittel als er im Krankenhaus war. Oder warum Nick mich immer so fest hielt und mich nie gehen lassen wollte. Oder auch warum er so darauf bestanden hatte, dass alle von ihm wussten. Und auch warum er sich nicht am Kopf berühren lassen wollte. Jetzt ergab das alles und noch mehr endlich einen Sinn.

„Nein“, sagte ich. „Ich bleibe.“ Ich beugte mir vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Darüber war ich selber so erschrocken, dass ich von ihm weg zuckte. Was war das denn gerade gewesen? Warum hatte ich das getan?

Bemüht unbekümmert ließ ich mich wieder in meinen Sitz fallen und vermied es, in seine Richtung zu sehen. „Danke, dass du es mir gesagt hast. Aber jetzt sieh zu, dass du die Kiste in Bewegung bringst. Ich hab Hunger. Und ich werde mal kurz bei Judd anrufen und fragen wie es am Unfallort aussieht.“ Ich zog mein Handy aus der Tasche. Natürlich bemerkte ich seinen Blick dabei, aber ich tat so, als würde es meine volle Aufmerksamkeit brauchen die richtige Nummer rauszusuchen. Wahrscheinlich wunderte er sich über den Wangenkuss genauso wie ich selber. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Es war einfach passiert. Das war … seltsam.

„Sag Jilin nichts davon.“

„Von Nick?“

„Von Celina.“

Gerade wollte ich die Nummer wählen, ließ mein Handy jetzt aber noch einmal sinken. „Warum?“

„Weil Jilin nicht dumm ist. Irgendwann würde sie sich unweigerlich fragen, wie ich eine so teure Klinik bezahlen kann. Sie weiß bereits, dass Norberts Rechnungen einen Großteil meines Geldes fressen und ihr wird klar sein, dass ich nicht in der Lage bin auch noch für Celina zu bezahlen.“

„Wer ist Norbert?“

„Nicks Therapeut.“ Zum dritten Mal griff er nun nach dem Zündschloss und dieses Mal hielt ich ihn nicht davon ab, den Motor zu beleben. „Schweineteuer der Idiot, aber er bringt wirklich etwas.“

„Ich sage kein Wort.“

„Das hoffe ich, sonst werde ich dieses Gespräch wohl noch bereuen müssen.“

Der Wagen fuhr aus der Parklücke und beschleunigte dann auf der leeren Straße um schnell an Tempo zu gewinnen.

Warum nur musste er immer das Schlimmste von den Menschen annehmen? Okay, bei seiner Kindheit war er es wahrscheinlich nicht anders gewohnt. Aber ich war nicht wie seine Eltern. „Darf ich doch noch etwas fragen?“

„Hab ich heute nicht schon genug erzählt?“

„Nur eine Sache.“

Er seufzte. „Schieß los.“

„Warum nennst du deine Mutter beim Vornamen? Ich meine, zu deinem Vater sagst du ja auch Vater. Warum Celina und nicht Mama?“

Seine Lippen drückten sich kurz zu einem dünnen weißen Strich zusammen. „Meine Mutter ist gestorben, als sie versuchte Nick zu töten. Mein Vater hat uns im Stich gelassen, ja, aber er hat uns Kinder nie angefasst. Diese Frau da drin ist nicht meine Mutter, nur jemand, mit dem ich zufällig die DNA teile.“

Dazu war es wohl das Beste einfach zu schweigen. „Ich hab Lust auf was richtig Fettiges. Sieh mal zu ob du irgendwo eine Pizzeria entdeckst.“ Ich hob das Handy an mein Ohr und beendete damit das Gespräch, auch wenn meine Gedanken sich weiter darum drehten. Und es war erstaunlich, wie sein Verhalten in den nächsten Stunden, Tagen und Wochen umschlug. Dieses Gespräch, diese ganzen Eröffnungen, hatte etwas zwischen uns verändert. Er wurde zu dem Lehrcoach, denn ich mir von Anfang an gewünscht hatte. Natürlich, er war immer noch Reese, aber endlich war er auch ein Mensch.

Ich brauchte fast zwei Wochen um zu verstehen, dass er mir vertraute. Ich hatte ihm zugehört, ihn nicht verurteilt und mich auch nicht abgewandt. Weder von ihm noch von Nick. Ich verstand sie beide nun einfach besser. Und das half mir. Es half mir ihn zu verstehen und einzuschätzen und es half mir, auch mit Nick klar zu kommen.

Die Zeit verstrich in einem Rhythmus des Alltags. Die Arbeit in der Gilde wurde einfacher und manchmal verschwand der Ernst des Erlebten. Reese machte sogar hin und wieder einen Witz und auch das eine oder andere Lächeln trat in sein Gesicht. Selbst Jilin bemerkte, dass sich das Verhältnis zwischen uns gebessert hatte und beglückwünschte mich zu meinem Erfolg.

Den Kuss in der Garage erwähnten wir nicht mehr und auch nicht dieses Gespräch, denn es war nicht mehr nötig. Reese sagte auch nichts mehr dazu, wenn ich einfach bei ihnen auftauchte, um Nick zu sehen. Er hatte immer noch ein wachsames Auge auf seinen kleinen Bruder, aber er versuchte nicht mehr mich rauszuschmeißen, oder mir die Beziehung auszureden.

Und Nick schien in dieser Zeit auch stabil zu sein. Ich bekam schnell mit, dass er täglich Medikamente einnehmen musste, tat aber immer so als würde ich es nicht bemerken. Nick wusste nicht, dass Reese mir von seiner Erkrankung erzählt hatte und solange er es mir nicht selber sagen wollte, hielt ich es für das Beste es einfach dabei zu belassen.

Zwei Wochen nach diesem Gespräch zogen wir sogar zu dritt los, um Nick eine Katze zu kaufen. Ein kleines, weißes Fellknäuel, von sieben Jahren, das er auf den Namen Cherry taufte. Es durfte sogar in seinem Bett schlafen und es sagte auch niemand etwas, als es begann die zerschlissene Couch in der Küche als Kratzbaum zu benutzen.

Doch sobald Nicks Verband von seinem Arm entfernt wurde, bekam dieser Aufschwung einen kleinen Dämpfer. Nick war wieder fit genug um seiner Arbeit bei Taid nachzugehen und ich erlebte auch zwei weitere Verkäufe von besonders aggressiven Proles mit. Jetzt verstand ich, warum Reese das tat und auch wenn ich es immer noch nicht in Ordnung fand, sagte ich nichts mehr dagegen. Er brauchte das Geld. Nicht nur für sich und Nick, auch für Celina. Vielleicht hasste er seine Mutter, aber er kümmerte sich trotz allem um sie.

Fast vier Wochen nach diesem Gespräch, fand ich mich an einem Samstagabend an Reese' Seite im Lagerhaus ein. Wir wollten Nick abholen, doch schon beim Betreten des alten Schuppens wurde klar, dass wir hier heute nicht so schnell wegkommen würden. Taid hatte mal wieder einen seiner Monsterkämpfe zu laufen. Die ganze Halle war gerammelt voll. Die Menschen drängten sich so dicht aneinander, dass ich kaum zwischen ihnen hindurch kam und der Lärm hier drin war ohrenbetäubend.

Ich achtete nicht weiter auf den Kampf, drängte mich nur hinter Reese durch die Menge, bis wir an die Tür zur Zwingerhalle kamen und war heilfroh hindurch schlüpfen zu können. Das Gedränge war wirklich kaum zu ertragen. „Idioten“, murmelte ich, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Der Geruch hier war noch schlimmer als sonst. In den letzten Wochen war es so richtig kalt geworden. Der Herbst hatte sich durchgesetzt und steuerte nun unablässig auf den Winter zu. Und deswegen wurde hier drinnen geheizt. Gestank und Wärme waren keine gute Mischung. Ich musste wirklich an mich halten, um nicht sofort wieder herauszurennen. „Oh Gott.“ Ich hielt mir die Nase zu, das war die einzige Möglichkeit, es hier drinnen auszuhalten.

Reese zog nur eine Augenbraue hoch. „Hab dich nicht so. Im Sommer ist es noch viel schlimmer.“

„Dann erinnere mich daran, dass ich niemals im Sommer herkomme.“

„Wie wäre es, wenn du statt zu nörgeln mal nach Nick gucken würdest?“

Wie gesagt, Reese war und blieb Reese, mehr gab es dazu eigentlich nicht zu sagen. Außer: „Funktionieren deine Augen heute nicht, oder warum suchst du ihn nicht selber?“

Über die Schulter warf er mir einen grimmigen Blick zu, nur um sein Augenmerk dann wieder auf das Ende des Gasse zu richten, wo ein von der Sohle bis zum Scheitel geschniegelter Taid stand und offensichtlich auf jemand wartete. Und da die beiden Männer auf dem Weg hierher telefoniert hatten, wusste ich auch ganz genau auf wen. „Geh und such Nick, ich bin gleich wieder da.“

Seine Schultern waren wie Drahtseile gespannt. Als er auf Taid zuging wirkte er, als hätte er den sprichwörtlichen Stock im Hintern. Und auch Taid war heute sein ewig falsches Lächeln abhandengekommen. Ein kurzes Nicken war alles, was die beiden zur Begrüßung tauschten. Dann verschwanden sie auch schon im hinteren Korridor. Doch der Ernst, der zwischen ihnen geherrscht hatte, blieb zusammen mit mir und den brüllenden Proles in der Zwingerhalle zurück.

Irgendwas stimmte da nicht. Ich konnte nicht mit dem Finger drauf zeigen, aber heute war irgendetwas anders. Es war wie ein nagendes Gefühl, dass mir einfach keine Ruhe lassen wollte.

Unentschlossen kaute ich auf meiner Unterlippe herum. Eigentlich sollte ich wirklich zusehen, Nick zu finden. Aber diese ungewöhnliche Anspannung bei Reese ließ mich zögern. Schon seit einiger Zeit hatte ich das Gefühl, dass das Verhältnis zwischen den beiden mit jedem Gespräch schlechter wurde.

Nach einem Moment des Zögerns gab ich mir einen Ruck und folgte ihnen die Gasse entlang durch die schmuddelige Küchenecke in den verschimmelten Korridor. Irgendwas war da im Busch, aber da Reese nicht mit mir sprechen wollte und Nick angeblich nichts darüber wusste, würde ich es jetzt auf eigene Faust herausbekommen. Ich hatte einfach ein ungutes Gefühl, das ich nicht ignorieren konnte.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als ich den Flur betrat. Wenn sie mich hier erwischten … ich wollte mir gar nicht so genau vorstellen, was dann wäre. Doch ich hatte Glück. Durch die Kämpfe in der vorderen Halle, war keiner von Taids Leuten hier hinten und ich kam nicht nur unbemerkt in den schimmligen Korridor, sondern auch vor die geschlossene Bürotür, durch die ich sehr leise die Stimmen der beiden Männer hören konnte.

Noch ein schneller Blick in beide Richtungen, dann schlich ich direkt hinter die Tür und bekam fast einen Herzinfarkt, als in diesem Moment eine Diele unter meinem Fuß knarrte. Ich hielt die Luft ein. Mein Blick flog zu der Tür, aber sie blieb geschlossen. Niemand stürmte mit gezückter Knarre heraus, um mich für mein Vergehen anzuklagen. Die Stimmen im inneren blieben gleichbleibend. Entweder sie hatten es nicht gehört, oder sie schenkten dem Geräusch kein Interesse.

Nichts geschah, alles war ruhig und ich blieb allein.

Noch einmal tief durchatmen, dann wagte ich einen zweiten Versuch. Vorsichtig, dieses Mal darauf bedacht die knarrende Diele nicht zu betreten, trat ich das letzte Stück an die Tür und legte mein Ohr vorsichtig an das kalte Holz. Die Stimmen der beiden Männer waren nur ein dumpfes Geräusch, ein Murmeln, das leiser war als das Blut das laut in meinen Ohren pochte.

„Finde ihn.“

Das war Taid.

Ich drückte mein Ohr fester an das Holz.

„Ich versuche es.“

„Aber ich sehe keine Erfolge.“ Er schwieg einen kurzen Moment. „Ich weiß ja nicht was du den ganzen Tag tust, aber ich werde langsam ungeduldig. Hundt kommt in einer Woche, dann brauch ich ihn.“

„Ich weiß.“

Etwas klickte. Im ersten Moment erinnerte mich das Geräusch an das Entsichern einer Waffe und mir wollte schon das Herz in die Hose rutschen, aber dann wiederholte sich das Geräusch. Und noch mal. Und noch mal. Das war keine Waffe, das war dieses dumme Zippo, mit dem Taid immer rumspielte.

„Aber anscheinend erkennst du den Ernst deiner Lage nicht.“

Es folgte eine bedrückende Stille.

„Muss ich dich noch mal aufklären?“

„Nein.“

„Dann hör auf meine Zeit zu verschwenden und …“

„Taid, ich weiß nicht ob ich das hinbekomme. Es gibt Spuren, aber …“

Etwas knallte so laut, dass selbst ich zusammen zuckte. „Keine Entschuldigungen mehr!“

Schweigen. Etwas knarrte, schabte über den Boden. Schritte. Sie bewegten sich durch den Raum.

Verdammt.

Zu spät begriff ich was das zu bedeuten hatte. Da kam jemand auf die Tür zu! Hecktisch machte ich einen Schritt zurück und wollte den Korridor hinunter laufen, doch das hätte ich nie geschafft. Da blieb nur noch der alte Notausgang auf der anderen Seite. Wenn ich …

Wie in Zeitlupe drehte sich die Klinke und in dem Moment in dem die Tür aufschwang, sprang ich einfach dahinter und drückte mich mit dem Rücken flach gegen die verschlissene Wand. Mein Puls raste und mein Herz trommelte so wild, dass ich schon befürchtete, sie könnten es hören.

„Und Tack?“

Die Tür blieb auf halber Höhe stehen. „Ja?“

„Auch meine Geduld kennt Grenzen. Ich hoffe, wir verstehen uns.“

„Du hast dich klar und deutlich ausgedrückt.“

„Ich wollte nur noch mal sicher gehen.“

Das sagte Taid in einem so drohenden Ton, dass es mir kalt den Rücken runter lief.

„Ich habe dich sehr genau verstanden“, sagte Reese nach einem Augenblick der Stille.

„Das freut mich zu hören.“

Ohne ein weiteres Wort kam Reese heraus. Er schloss die Tür von außen und in dem Moment, in dem das Schloss einrastete, entdeckte er mich. Sein grimmiger Blick weitete sich ungläubig.

Nur nicht bewegen. Einfach still stehen und Luft anhalten. Vielleicht übersah er mich dann einfach. Es gab Raubtiere, bei denen funktionierte das. Leider war Reese kein solches Raubtier und damit ging diese Strategie nicht auf. Seine Lippen pressten sich zu einem wütenden Strich zusammen und seine Augen sprühten praktisch vor Zorn.

Sein Blick ging von mir zur Tür und wieder zurück. Dann packte er mich am Handgelenk und zerrte mich unbarmherzig hinter sich den Korridor hinunter.

Ich wagte es nicht, Widerstand zu leisten. Auch wenn sein Griff schmerzhaft fest war, ließ ich es einfach über mich ergehen. Ich wagte es auch nicht, einen Ton von mir zu geben, als er mich grob in die schmuddelige Küchenecke zog und mich dort mit dem Rücken gegen die Wand stieß.

„Sag mir was du da getan hast.“

In einer schützenden Geste legte ich meine Arme um mich und wich seinem Blick aus.

Er kniff die Augen leicht zusammen. „Du hast gelauscht.“

Darauf brauchte ich nichts zu erwidern, es war offensichtlich.

„Verdammt, Shanks! Bist du von allen guten Geistern verlassen?!“ Er schlug seine Hände links und rechts neben meinen Kopf gegen das Mauerwerk. „Was hast du gehört?“

Was sollte ich darauf antworten? Im Grunde hatte ich gar nichts gehört. Jedenfalls nichts, womit ich etwas anfangen konnte.

„Sag es mir!“

Ich schluckte, wagte es aber immer noch nicht aufzusehen. „Nur das was ihr gesagt habt, als die Tür offen war. Zum Schluss.“

Reese schwieg. Ich konnte seinen Blick auf mir spüren, seine Wut. Er war mir so nahe, dass alleine seine Körpergröße eine Bedrohung für mich darstellte.

Seine linke Hand löste sich von der Wand und er griff überraschend sanft mein Kinn. Er drehte mein Gesicht so, dass ich ihn ansehen musste. Ich konnte die schwarzen Tiefen seiner Augen erkennen. „Vergiss, was du gehört hast. Vergiss dieses ganze Gespräch und tu so etwas nie wieder. Hast du mich verstanden?“

Das Schlauste wäre es gewesen, ihm einfach zuzustimmen und dann glücklich in den Tag hinein zu leben, doch so wie er sich verhielt, konnte ich das nicht. „Nein, ich werde es nicht vergessen. Was ist hier los?“

„Du …“ Er kniff die Lippen zusammen. „Gar nichts, also vergiss das alles ganz schnell!“

„Willst du mich verarschen? Du bist da gerade reingegangen, als seist du zu deiner eigenen Beerdigung unterwegs. Was ist hier los? Das bist doch nicht du!“

Reese kam mit seinem Gesicht so nahe an meines, dass sich unsere Nasenspitzen fast berührten. „Hast du schon vergessen, was ich dir an deinem ersten Tag gesagt habe?“

„Wie könnte ich? Du hast dich ja klar und deutlich ausgedrückt.“

„Dann hör endlich auf dich wie ein dummes, kleines Mädchen zu verhalten und nimm Vernunft an. Halt dich an das, was ich dir gesagt habe, sonst wir des früher oder später …“

„Was ist denn mit euch los?“

Unisono drehten Reese und ich den Kopf. Mit ein paar Arbeitshandschuhen in der Hand, stand Nick an der Mündung zur Küchenecke und schaute neugierig zwischen uns hin und her.

„Gar nichts“, sagte Reese und trat ein Stück von mir zurück. Seine Hand löste sich von meinem Kinn, doch sein Blick blieb noch einen Moment an mir haften. „Ich musste Grace nur an etwas Wichtiges erinnern.“ Er kniff seine Augen ein wenig zusammen. „Und ich hoffe sie wird sich ab jetzt daran halten.“

„A-ja“, machte Nick nicht sehr geistreich. „Und an was musstest …“

„Bist du fertig?“, fuhr Reese seinem kleinen Bruder einfach über den Mund. „Ich will hier raus, hier stinkt es.“ Damit verschwand er aus der Küchenecke.

Nick drehte sich fragend zu mir um. „Möchte ich wissen, was gerade hier los war?“

„Es ist … nein, nicht so wichtig.“ Ich ging zu ihm rüber und ergriff seine Hand. „Lass uns hier verschwinden.“ Ich hasste diesen Ort. Jeden Tag ein klein wenig mehr.

 

°°°

 

Seine Hand schummelte sich langsam unter mein Shirt, strich über meinen Bauch, immer höher, während sein Mund versuchte, mich mit Küssen im Nacken abzulenken. Sein Gewicht drückte mich in die Laken. Es war angenehm, ihn so halb über mir zu spüren, doch als seine Finger den unteren Rand meines BHs streiften, hielt ich seine Hand fest.

„Nicht.“

„Warum nicht?“ Er versuchte seine Hand ein wenig höher zu schieben.

„Nein.“ Ich rutschte von ihm weg und zog mein Shirt wieder nach unten. „Ich möchte das nicht.“

Alles Sanfte schwand aus Nicks Gesicht. Er bekam wieder diesen seltsamen Glanz in seinen Augen, den er immer hatte, wenn ihm etwas nicht passte. „Warum denn bitte nicht? Verdammt, Cherry, was ist eigentlich mit dir los? Das ist jetzt das vierte Mal.“

„Ich will einfach nicht.“ Ich zog die Decke höher und steckte sie wie einen schützenden Wall unter meinen Armen fest.

„Ich versteh es nicht.“ Er richtete sich auf und griff nach meinem Gesicht, doch ich wich zur Seite. Ich wusste genau, wenn er mich einmal hatte, dann würde er mich nicht so schnell wieder loslassen. Er meinte es nicht böse, er war einfach so. „Was soll das? Beim ersten Mal konntest du es kaum erwarten und jetzt hab ich das Gefühl, du würdest am Liebsten eine Mauer zwischen uns stellen, damit ich dir nicht zu nahe komme.“

Wie sollte ich das erklären? Ich wusste ja selber nicht genau woran es lag. Von ihm berührt zu werden war wunderbar. Ich genoss es, jede Sekunde mit ihm. Aber wenn er weiter gehen wollte, sperrte sich irgendwas in mir. Es fühlte sich … nicht richtig an.

„Willst du Schluss machen? Hast du genug von mir?“

„Was?“

Er kniff die Augen zu dünnen Schlitzen zusammen. „Du willst mich verlassen. Du willst gehen und nicht wiederkommen.“

Also das war doch … „Wie kommst du denn auf diesen Blödsinn?“

„Du zeigst es mir doch. Jedes Mal weichst du mir aus.“

„Das ist überhaupt nicht wahr!“

„Natürlich ist es das! Hier, pass auf.“ Wieder griff er nach mir.

Ich wich zurück. Es war wie ein Reflex. Seine Hand kam so schnell auf mich zugeschossen, und dann auch noch dieser Blick, ich konnte gar nicht anders als ihm auszuweichen.

„Siehst du. Du willst mich nicht!“

Okay, ganz ruhig. Er war nur unsicher. „Nick, nur weil ich nicht mit dir schlafen will, heißt das noch lange nicht, dass ich …“

„Siehst du, jetzt hast du es selber gesagt. Du willst nicht mit mir schlafen! Du willst Schluss machen!“

„Verdammt, Nick, hörst du dir eigentlich selber zu? Ich will nicht mit dir Schluss machen.“

„Dann zeig es mir.“

„Bitte?“

„Zeig mir dass ich dir etwas bedeute. Jetzt.“

„Indem ich mit dir schlafe?“

Er sah mir nur ruhig entgegen.

„Du spinnst doch.“ Ich erhob mich samt Decke von der Matratze.

„Wo gehst du hin?“

„Weg.“

Dieses eine Wort war für ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Ich sah es an seinen Augen, sah das Entsetzen darin. Er glaubte wirklich ich wollte ihn verlassen.

„Nick, ich …“

„Verschwinde!“

Verdammt, was lief hier eigentlich gerade? So war das doch gar nicht geplant gewesen. Eigentlich hatte ich geglaubt, dass wir uns einen schönen Abend machen konnten. Nachdem wir aus Taids Lagerhaus abgehauen waren, hatten wir uns hier noch einen Film angesehen. Alles war okay gewesen. Wie hatte die Stimmung nur so schnell umschlagen können? „Ich möchte nicht gehen, ich …“ Ich verstummte als er aus seinem Bett aufsprang und drohend auf mich zukam. Die Aggressivität sprühte ihm in diesem Moment praktisch aus jeder Pore und erschlug mich förmlich.

„Hau ab!“

Ich schluckte, wollte genau das tun, traute mich aber nicht, ihn aus den Augen zu lassen. Aber ich wusste auch, dass jedes weitere Wort unnütz wäre. Es geschah nicht zum ersten Mal. Vor zwei Wochen hatten wir diese Situation schon einmal gehabt. Es war so schlimm gewesen, dass ich Reese hatte rufen müssen, aber heute wusste ich was ich tun musste.

Entzieh dich der Situation, aber kehre ihm nicht den Rücken zu. Sobald Nick wieder klar denken kann, wird alles wieder beim Alten sein. Das hatte Reese mir geraten.

„Okay.“ Ich wich rückwärts bis zur Tür zurück. „Wenn du möchtest, dass ich gehe, dann gehe ich.“

Das schien ihm den Rest zu geben. Von einem Moment auf den anderen verschwand dieser aggressive Kerl und zurück blieb ein kleiner Junge, der mich mit großen angstvollen Augen ansah. „Du gehst?“

„Ich werde auf der Couch in der Küche schlafen. Wir sehen uns morgen früh.“

„Nein, bitte. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es tut mir leid. Es …“

„Ich weiß.“ Ich griff hinter mich, um die Klinke runter zudrücken. „Wir sehen uns morgen, Nick.“ Damit schlüpfte ich eilig aus dem Raum und schloss die Tür zwischen uns wieder, doch der Blick, mit dem er mich als letztes bedachte, blieb mir erhalten. Verletzt. Ich hatte ihn verletzt. Aber ich konnte nicht bei ihm bleiben. Dann hätte es wieder von vorne begonnen und ich war einfach nicht bereit, mit ihm diesen Schritt zu gehen.

Nein, ich verstand mich selber nicht, aber für den Augenblick war es besser, sich erst einmal zurückzuziehen.

Drinnen knallte etwas gegen die Wand. Es knallte so laut, dass ich zusammen zuckte und wieder in den Raum stürmen wollte, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war.

Ich biss die Zähne zusammen und stieß mich von der Wand ab. Es kostete mich all meine Kraft, der Tür den Rücken zu kehren und meine Füße in die Küche zu lenken. Ich musste es ignorieren. Auch wenn alles in mir nach dem Gegenteil strebte, es war das Richtige. Nick musste verstehen, dass er keine Entscheidungen für mich treffen konnte. Ich ließ mich zu nichts drängen. Es würde geschehen, wenn ich so weit war und keinen Tag früher.

Seufzend trat ich aus dem kleinen Flur. Seit meinem Putzwahn, vor ein paar Wochen, konnte man die Küche der beiden Männer auch als solche erkennen. Sie gaben sich sogar Mühe, dass es auch so blieb, besonders Nick, weil er wusste, wie sehr ich auf Sauberkeit bedacht war. Die einzige Unordnung in diesem Raum bestand aus ein paar dreckigen Tellern im Abwasch. Trotzdem konnte ich mich nicht einfach so auf die Couch legen, denn sie war bereits besetzt. Ein langhaariges, weißes Fellknäuel hatte sich dort breit gemacht.

Cherry.

Alle Viere von sich gestreckt lag sie auf dem Rücken und blinzelte mich maunzend an.

„Na meine Süße.“ Mit der Decke unter die Achseln geklemmt, lief ich um den Tisch herum und ließ mich neben ihr aufs Polster fallen. Sofort rollte sie sich herum und drückte schnurrend ihren weichen Kopf gegen meinen Arm. „Teilst du heute dein Nachtlager mit mir?“

Ob sie mich nun verstand oder nicht, sie schnurrte begeistert weiter.

Cherry war kein Baby mehr. Wir hatten sie von einer alten Dame, die sich nicht mehr in der Lage fühlte, sich um so eine zwar kleine, aber vor allen Dingen quirlige Katze zu kümmern. Cherry brachte mit ihren sieben Jahren nur vier Kilo auf die Waage – ja, sie war wirklich sehr klein – und wenn sie nicht gerade Unsinn trieb, dann wollte sie die ganze Zeit nur kuscheln. Dabei war sie immer sehr gemütlich. Und sie legte sich überall hin. Ich war schon mehr als einmal fast über sie gefallen, weil sie mitten auf dem Boden gelegen hatte, wo man sie einfach nicht erwartete. Und auch jetzt schien sie keine Probleme damit zu haben, es sich mit mir zusammen auf der Couch bequem zu machen. Sie wartete einfach, bis ich mich ordentlich hingelegt hatte und legte sich dann schurrend auf mich rauf, sodass ich ihren Schwanz in meinem Gesicht hatte. Das störte zwar ein bisschen, war aber auszuhalten.

Natürlich konnte ich auch einfach nach Hause fahren, aber um diese Zeit ging ich in dieser Gegend nicht mehr gerne auf die Straße und ich wollte meinem Onkel auch nicht Rede und Antwort stehen müssen, warum ich mitten in der Nacht durch die halbe Stadt fuhr. Nein, hier zu liegen war schon in Ordnung. Außerdem hatte ich Nick auch versprochen, dass ich hier blieb.

Seufzend strich ich den Schwanz aus meinem Gesicht, schloss die Augen und befahl meinem Kopf Ruhe zu geben. Trotzdem hatte ich das Gefühl noch Stunden lang wach zu liegen, bevor der Schlaf mich endlich übermannte und mir Träume der Vergangenheit bescherte, die sich so fest in mein Unterbewusstsein gefressen hatten, dass ich mich wohl niemals davon würde befreien können. Sie vermischten sich mit der Gegenwart. Ein düsterer Strudel voller Monster mit gebleckten Zähnen, die in der Nacht lauerten.

Es war verwirrend, keine klare Linie. Blut und Schreie verfolgten mich durch die Dunkelheit. Dazwischen tauchten immer wieder die Gesichter der Menschen auf, die in meinem Leben eine Bedeutung hatten. Ganz vorne immer wieder Nick, wie er sich den Kopf hielt. Die Augen weit aufgerissen schrie er in die Finsternis, als hätte er Schmerzen. So verzweifelt. So voller Wut und Einsamkeit. Ich drehte mich um mich selbst, doch überall sah ich sein Gesicht, hörte seine Schreie. Ich wollte ihm helfen, wollte ihn heilen, wollte dass der Schmerz in ihm nachließ.

Plötzlich streifte mich etwas Sanftes. Es war keine Berührung, nur ein Hauch, wie von Wind und Nebel. Ich drehte mich danach um und blickte in zwei schwarze Untiefen von solch sanftem Glanz, dass es mich verzauberte.

„Na, gut geschlafen?“

Ich blinzelte und merkte erst einen Moment später, dass ich nicht mehr schlief. Diese schwarzen Untiefen, das waren Reese Augen. Nur in Jogginghose lehnte er an der Küchenanrichte, schlürfte seinen allmorgendlichen Kaffee und versuchte mit der anderen Hand Cherry von seinem Frühstück wegzuschubsen – ja, diese Katze war extrem verfressen. Vor ihr war absolut nichts sicher.

„Warum liegst auf der Couch?“

Ich kniff die Augen leicht zusammen. Davon abgesehen, dass ihn das nichts anging, gab es eine viel wichtigere Frage. „Hast du mich beobachtet?“

„Oh ja. Ich fand es unglaublich erotisch, wie du da schnarchend auf meiner Couch geschlafen und dabei voller Inbrunst in meine Polster gesabbert hast.“

Es war nichts weiter als ein Reflex, dass ich in diesem Moment zu meinem Mund fasste und auch das Kissen auf Feuchtigkeit abtastete, aber da war nichts. „Das ist nicht witzig“, murrte ich.

Es schien ihn auch nicht zu amüsieren. Sein Blick war so intensiv auf mich gerichtet, als suchte er etwas. „Warum schläfst du hier und nicht bei Nick?“

Weil er etwas gewollt hatte, wozu ich noch nicht bereit war. Natürlich sagte ich das nicht.

„Was hat Nick gemacht?“

Ich wusste genau, worauf er mit dieser Frage hinaus wollte. Nicht ob er mich falsch angefasst hatte, sondern ob er einen seiner Aussetzer hatte und mir wehgetan hatte. Gähnend drehte ich mich mit einem „Alles okay“ auf den Rücken und streckte die Arme über den Kopf. Es ging ihn einfach nichts an, was zwischen mir und meinem Freund los war. Okay, er war der große Bruder und auch mein Lehrcoach, aber kein Freund, mit dem ich über sowas sprechen würde.

Er zog nur seine Augenbraue hoch und nahm einen Schluck von seinem Kaffee. Offensichtlich erwartete er, dass da noch etwas kam. Leider bemerkte er dabei nicht, dass Cherry um seinen Rücken herum schlich und sich mit der Pfote die Wurst vom Brot angelte. Er schien sie nicht mal schmatzen zu hören, so fixiert war er auf mich.

Aber wo er gerade schon mal gute Laune hatte, gab es da noch ein anderes Thema, das wir gestern nicht mehr beenden konnten. Zumindest nicht nach meinem Ermessen. Vielleicht hatte er ja sogar so gute Laune, dass er mir sogar antworten würde. „Wen sollst du finden?“

Reese blickte stirnrunzelnd von seinem Kaffee auf.

„Wer ist Hundt?“, half ich ihm weiter auf die Sprünge, weil er offensichtlich nicht wusste, was ich meinte. „Und was braucht Taid in einer Woche?“

Sehr langsam sank seine Tasse. Es schien es nicht glauben zu können, dass ich schon wieder von diesem Thema anfing.

Ich richtete mich auf. „Hat das immer noch etwas mit deinen Schulden wegen dem unbekannten Proles-Welpen zu tun?“

Es war nicht erkennbar was in seinem Kopf vor sich ging. Sein Gesicht war eine versteinerte Maske, die keine Regung zuließ. Ohne auch nur ein Wort zu sagen, drehte er sich zu seinem Teller herum, nur um Cherry vorzufinden, die sich gerade genüsslich das Mäulchen leckte und nun damit begann ihm die Butter vom Brot zu lecken.

„Reese?“

Er ließ seinen Teller stehen und ich konnte zusehen, wie er mit dem Kaffee in der Hand aus der Küche spazierte. Einen Moment später knallte seine Zimmertür zu.

Okay, das war eindeutig. Gute Laune hin oder her, er wollte mit mir immer noch nicht darüber sprechen. Warum versuchte ich es eigentlich immer wieder? Mir hätte doch eigentlich klar sein müssen, dass ich wieder nur zu diesem Ergebnis kam.

Tief einatmend schlug ich die Decke zurück und schwang die Beine auf den Boden. Wenn ich jetzt eh schon wach war, konnte ich genauso gut den Tag beginnen. Nick würde sicher noch ein Weilchen schlafen und nach diesem Nicht-Gespräch, kam Reese sicher auch nicht mehr so schnell aus seinem Zimmer. Also begann ich meinen Morgen damit, meine Tasche aus dem Flur zu holen und ins Bad zum Duschen zu verschwinden. Nach der Morgenwäsche tauschte ich mein Nachtshirt gegen Jeans und Rollkragenpullover ein und versuchte, meine Haare mit dem Handtuch so trocken wie möglich zu bekommen.

Wie ich wieder einmal feststellen musste, fehlte diesem Haushalt eindeutig ein Föhn, aber da ich heute nichts weiter zu tun gedachte, außer mich mit Nick auf seine Matratze zu verziehen, war es auch egal. Nur leider schienen meine Pläne nicht mit seinen übereinzustimmen.

Als ich aus dem Bad kam, war seine Zimmertür noch immer verschlossen. Umso erstaunter war ich, ihn mit Reese auf der Couch vorzufinden, wo die beiden Männer frühstückten – und natürlich auch Cherry. Sie saß bettelnd auf der Sofalehne und fieberte sehnsüchtig dem Stück Wurst entgegen, dass Nick ihr vor die Nase hielt. Es war zu niedlich.

Auch sein Lächeln war zurückgekehrt. Nichts erinnerte mehr an die kindliche Verzweiflung, die er mir letzte Nacht gezeigt hatte. Er schien wieder ganz normal. Mit noch von der Nacht zerwühlten, blonden Haaren, die ihm zu allen Seiten abstanden. Seine blauen Augen strahlten, so wie sie es immer taten. Nick eben.

Und Reese hatte in der Zwischenzeit seine Klamotten gefunden. Natürlich, er musste heute wieder für die Gilde raus auf die Straße.

„Hey“, lächelte ich, als ich die Küche betrat und strebte direkt auf meinen Freund zu.

Sein Blick hob sich. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht und machte etwas Traurigem Platz. Er gab keinen Ton von sich, als er sich von der Couch erhob, Cherry von der Sofalehne pflückte und direkt an mir vorbei aus der Küche marschierte. Er sah mich nicht mal an. Es war, als wäre ich Luft für ihn.

Das tat weh. Fast so sehr wie das Geräusch seiner sich schließenden Zimmertür. Er ließ sie immer offen wenn ich hier war. Es war wie eine Einladung, die mich dazu verlocken sollte, möglichst viel Zeit mit ihm zu verbringen. Aber jetzt hatte er sie geschlossen und mich ausgesperrt. Er wollte mich nicht sehen.

Hatte ich gestern was falsch gemacht? Hätte ich doch nicht gehen sollen? Glaubte er vielleicht wirklich, dass ich mich von ihm trennen wollte?

Ich wandte mich vom Flur ab und begegnete Reese' ruhigem Blick. Er fragte nicht was zwischen uns vorgefallen war, obwohl ich die Neugierde deutlich in seinen Augen erkennen konnte. „Ich glaub er will seine Ruhe“, versuchte ich es mit einem ziemlich schiefen Lächeln.

Reese legte sein Brot zurück auf den Teller. Ich glaubte, dass er etwas sagen wollte, aber bevor er dazu kommen konnte, klingelte sein Handy zwischen Brot und Belag auf dem Tisch.

„Gilde“, sagte er mit einem kurzen Blick auf das Display und hielt es sich ans Ohr. „Tack.“

Ich ließ meine Tasche neben der Tür auf den Boden plumpsen und lehnte mich mit verschränkten Armen an den Türrahmen. Dabei konnte ich genau beobachten, wie Reese jeder Zug in seinem Gesicht entglitt.

„Scheiße“, sagte er nur und sprang auf die Beine. „Bin unterwegs.“

„Was ist los?“, fragte ich, als er an mir vorbei eilte.

„Massaker in einem großen Einkaufszentrum. Die haben da heute so eine Aktion. Verkaufsoffener Sonntag.“ Er stieß seine Füße in seine Schuhe und schnappte sich seinen Mantel vom Boden. „Drei Teams sind reingegangen, von keinem gibt es eine Rückmeldung.“

Oh. Mein. Gott. „Kein Team? Du meinst Partner.“

Reese schüttelte den Kopf. „Sechserteams.“

Nun war ich es, der die Gesichtszüge entglitten. Achtzehn ausgebildete Venatoren und von keinem gab es eine Rückmeldung? Das war nicht möglich.

„Jetzt rufen sie alle verfügbaren Kräfte zusammen. Wir müssen herausfinden, was da los ist.“

Ich warf einen Blick zu Nicks Zimmer und zögerte einen Moment. „Warte, ich komme mit“, sagte ich, als Reese schon die Wohnungstür aufriss und ich mir hastig die Schuhe anzog.

„Du hast heute frei“, erinnerte er mich.

„Und? Du hast gesagt sie brauchen alle verfügbaren Kräfte.“ Und hier würde ich im Moment sowieso nichts ausrichten können. Wenn ich ging hatte Nick noch ein wenig Zeit, um wieder zu sich selber zu finden und ich würde etwas Sinnvolles tun. Ich griff nach meiner Jacke und den Waffen. „Und ich hab im Moment eh nichts Besseres zu tun.“

„Na dann los.“

 

°°°°°

Kapitel 12

Reese lenkte den Wagen in die Hauptstraße zum Einkaufszentrum. Panische Menschen kamen uns entgegengerannt. Ein paar bluteten, eine Frau weinte, ein Mann bugsierte eilig seine Familie in den Wagen und andere wollten einfach nur schnell von diesem Ort weg. Doch ihnen allen stand das gleiche in den weit aufgerissenen Augen: Furcht.

Wir mussten zwischen Polizeistreifen, Feuerwehrwagen und Sanitätsfahrzeugen mitten auf der Straße parken. Alle Ausfahrten des Centers waren mit Autos blockiert die hastig die Flucht ergriffen. Die Auffahrt in das intrigierte Parkhaus war sogar komplett dicht. Da war ein Mercedes in einen Mazda gefahren, hatte ihn halb in die Betonwand gedrückt. Hinter dem Steuer des kleinen Wagens war eine Frau eingeklemmt und kam nicht raus, während der Mercedes bereits leer war. Der Besitzer hatte wie alle anderen auch die Flucht ergriffen und nicht daran gedacht, der Frau zu helfen.

Leute der Rettungsmannschaft waren bereits bei ihr und versuchten sie aus ihrem Wagen zu befreien, doch sie war so eingekeilt, dass es sicher noch eine ganze Weile dauern würde. Und es waren auch nicht die einzigen Wagen. Die nachfolgenden Autos waren in sie reingefahren und auf der Straße standen auch einige Wagen, die bei ihrer übereilten Flucht ineinander gefahren waren – aber wenigstens schien dort niemand festzustecken.

Reese hielt direkt neben einem Sanitätsfahrzeug. Kaum dass der Zündschlüssel gezogen war, waren wir schon auf der Straße und bahnten uns zwischen den herumeilenden Leuten einen Weg zu dem Fahrzeug der Staatlichen vor einer leeren Apotheke. Hier hatten sie eine Art Sammelpunkt der Venatoren eingerichtet, an dem sich bereits zwei Duzend Leute drängten – alles Kräfte der Staatlichen. Auch Goldberg war unter ihnen und versuchte wohl meinen Lehrcoach mit Blicken zu erdolchen. Nur Pech für ihn, dass er für Reese nicht interessanter als ein Gähnen am Morgen war.

Die Leitung für diesen Auftrag überraschte mich allerdings. Ein Venator der Staatlichen. Nichts Ungewöhnliches. Aber dieser Venator war eine schlanke, großgewachsene Frau mit raspelkurzen Haaren. An ihrer Schläfe hatte sie ein Tribaltattoo aus einer verschnörkelten Schrift, die ich beim besten Willen nicht entziffern konnte. Mehrere Piercings an Augenbraue, Lippen, Nase und Ohren zierten ihr Äußeres, aber das wohl auffälligste an ihr war ihre linke Hand. Dort gab es nur noch Daumen und Zeigefinger. Die anderen fehlten. So vernarbt wie ihre Hand und der Unterarm aussahen, war sie wohl mal einem Proles zu nahe gekommen.

Einmal, am ersten Tag auf der Akademie, hatte Herr Keiper etwas zu uns gesagt, was ich nie vergessen würde. Der Beruf des Venators war nicht nur gefährlich. Selbst wenn man jeden neuen Tag mit seinem Leben davon kam, so war es doch ein Weg voller Narben, die einem für sein Leben zeichneten. Als ich diese Venatorin sah, musste ich wieder daran denken. Wie Recht er damit doch hatte.

„… war hier in dem Schuhladen“, sagte die Frau grimmig und hielt den anderen einen Lageplan des Einkaufcenters unter die Nase. „Dann ist die Verbindung abgebrochen. Seit dem hatten wir keinen Kontakt mehr zu ihnen. Wir wissen nicht, was geschehen ist und das bereitet mir Sorgen.“

Goldberg nickte verstehend. „Das heißt, wir gehen blind rein.“

Reese stellte sich zwischen die Leute, während mein Blick auf der Suche nach Evangeline über die Anwesenden schweifte. Ein paar bekannte Gesichter waren dabei. Ihren Lehrcoach Benedikt und seinen Partner Mace entdeckte ich sofort, aber von ihr gab es keine Spur.

Ich musste meine Gehirnwindungen einen Moment anstrengen, bevor mir der Grund dafür einfiel. Natürlich, heute war Sonntag, die Praktikanten hatten alle frei. Außer mir schliefen sie vermutlich alle noch, nur um sich dann anschließend einen gemütlichen Tag zu Hause zu machen.

„Ist die Anlage denn jetzt geräumt, oder befinden sich noch Zivilisten darin?“, wollte Reese wissen.

Durch die Venatorin ging eine Verwandlung. Bei seiner Stimme verschwand der grimmige Zug in ihrem Gesicht und machte einem erfreuten Lächeln Platz. Einem ehrlichen Lächeln, das deutlich machte, wie gut die beiden sich kennen mussten. Okay, vielleicht entsprang das auch nur meiner Fantasie, aber dann würde sie doch sicher nicht so gucken, oder?

„Geräumt“, antwortete sie auf Reese' Frage. „Der Großteil der Leute ist raus, die meisten sogar unverletzt, aber bei so einer Panik gibt es immer welche, die andere über den Haufen rennen und einfach liegen lassen, oder auch welche, die sich einfach nur verstecken, bis alles vorüber ist. Du kennst das ja.“

„Dazu kommen noch die Verletzten, die sich nicht mehr aus eigener Kraft bewegen können“, fügte Benedikt noch hinzu.

„Und die Toten.“

Das kam von Mace.

Reese presste die Lippen aufeinander. In der Hand hielt er wieder eine glühende Zigarette, die er nachdenklich in seinen Fingern drehte. „Wissen wir wenigstens ungefähr was darin los ist?“

Auf der Straße, weiter hinten, entstand einiges Gedränge der Helfer, als zwei weitere Fahrzeuge versuchten, näher an das Geschehen heranzukommen – Mitglieder der Gilde. Zwei Polizisten eilten zur Stelle, um ihnen Platz zu machen und wiesen ihnen dann einen Platz zu, an dem sie halten konnten.

„Nicht genau.“ Die tätowierte Leiterin verlagerte ihr Gewicht aufs andere Bein. Dabei ließ sie Reese keinen Moment aus den Augen. „Wir wissen nur folgendes: Der Proles konnte bisher nicht identifiziert werden, aber er zieht eine Spur aus Blut und Leichen durch das ganze Einkaufszentrum.“

Die Türen der Gildefahrzeuge öffneten sich. Aus dem ersten kamen Shea mit Partner und Devin – na sieh mal einer an, da war ich wohl doch nicht der einzige Praktikant, der sich freiwillig gemeldet hatte. Aus dem anderen stiegen Aziz und Julian zusammen mit Max aus. Irgendwie schienen die fünf, genau wie Reese, auch nur für ihren Job zu leben. Wann immer ich sie sah, waren sei für die Gilde beschäftigt.

„Das zumindest wurde uns über Funk berichtet, bevor die Verbindung abriss“, erklärte die Venatorin weiter. „Sie sagten, ein Blutbad sei nichts gegen das, was dieses Biest da drin angerichtet hat.“

„Moment.“ Hatte ich das jetzt richtig verstanden? Ich wandte mich der Frau zu. „Soll das heißen, dass dieses Massaker von einem einzigen Proles angerichtet wurde?“

Shea und die anderen kamen mit gespitzten Ohren näher. Sie schienen meine Frage gehört zu haben und waren nun genauso begierig auf die Antwort wie ich. Als Devin sich neben mich stellte, stieß er mir sogar freundschaftlich gegen die Schulter.

„Wir wissen es nicht“, erwiderte sie mit einem Schulterzucken. „Wir haben nur einen groben Überblick über das, was geschehen ist. Es muss unten durch die U-Bahntunnel gekommen sein. Das Sicherheitssystem hat zurzeit Lücken, da in den Tunneln Bauarbeiten stattfinden. Das hat das Biest genutzt. Das Einkaufscenter hat einen eigenen Zugang zu dem U-Bahnhof darunter. Über den ist es in das Center eingedrungen und hat alles niedergemäht, was seinen Weg gekreuzt hat.“

Wirklich nur ein einziger Proles? Das konnte ich mir irgendwie immer noch nicht richtig vorstellen. Dieses Einkaufscenter war riesig. Dicht an dicht drängten sich in diesem Gebäude weit über hundert Geschäfte. Gastronomie, Kleidung, Kino, Wallmärkte, Elektronik, Lebensmittelgeschäfte. In diesem Center gab es einfach alles. Tausende von Menschen strömten täglich hierher. Es war fast so gut gesichert wie Schulen und Kindergärten. Dass ein Proles hier rein kam, war fast unmöglich und war, soweit ich mich zurück erinnern konnte, seit der Anfangszeit der Abkömmlinge auch nicht mehr geschehen. Aber viel unglaubwürdiger war, dass ein einziger Proles für den Schrecken in diesem Gebäude verantwortlich sein sollte? Das konnte ich einfach nicht glauben. Da musste ein ganzes Rudel eingedrungen sein.

Mace spielte am Reißverschluss seiner Jacke herum. „Und was ist mit …“

„Okay, genug gelabert“, unterbrach Goldberg ihn rüde. „Lasst uns endlich gehen und dieses Biest zur Strecke bringen.“ Er sah von einem zum anderen und blieb dann auf Reese hängen. „Und du sorg dafür, dass dein schießwütiger Frischling nicht wieder mit einer Waffe auf mich zielt.“

Also, das gab es doch wohl nicht! Davon abgesehen, dass es im Moment gar keinen Grund gab diesen Zwischenfall zu erwähnen, es war auch völlig aus dem Zusammenhang gerissen!

Reese verzog keinen Gesichtsmuskel. „Jedem das, was ihm gebührt.“

So wie Goldberg die Augen verengte, war es wohl nicht das, auf was er gehofft hatte. „Dann pass besser auf, dass du nicht irgendwann das bekommst, was dir gebührt.“

„Oh, deine Sorge um mich erwärmt mir mein Herz. Aber sei beruhigt, ich kann schon auf mich aufpassen.“

Oh bitte, nicht schon wieder. „Könnt ihr dieses Platzhirschgehabe verschieben? Im Moment haben wir soweit ich weiß wichtigeres zu tun.“

Der Blick der Frau richtete sich auf mich. Und er war nicht gerade freundlich. „Ich kann mich nicht entsinnen, dich schon einmal gesehen zu haben.“

Reese schnipste seinen Zigarettenstummel weg. „Darf ich dir vorstellen? Das ist meine Praktikantin.“

Ihre Überraschung sprang mir förmlich ins Gesicht. „Du und eine Praktikantin?“ Sie nahm mich so genau unter die Lupe, dass ich mir richtig seziert vorkam. Diese Musterung war wirklich nicht mehr normal. „Was willst du mit ihr?“

Bildete ich mir das ein, oder hörte ich da einen feindlichen Unterton aus ihrer Stimme? Ich trat ein Stück zur Seite, bis ich wieder Devins Schulter spürte. Diese Frau war mir nicht geheuer.

„Lass gut sein Kira. Wie Shanks schon gesagt hat, im Moment haben wir etwas zu erledigen. Sag uns lieber, wie der Plan aussieht.“

Es gefiel ihr nicht wie er mit ihr sprach. Es gefiel ihr genauso wenig wie die Tatsache, dass er nicht auf ihre Frage reagiert hatte, sondern stattdessen in seiner Tasche herumkramte. Sie wollte seine Aufmerksamkeit und es passte ihr nicht, dass sie sie nicht bekam.

Nach einem undefinierbaren Blick in meine Richtung, bei dem sich mir die Härchen im Nacken aufstellten, wandte sie sich dann aber wieder ihrer eigentlichen Aufgabe zu. „Der Plan ist ganz einfach. Wir gehen zusammen rein und schalten die Gefahr aus. Alles hört auf mein Kommando. Um Überraschungen zu vermeiden, werden wir als große Gruppe zusammen bleiben. Plan sieben Punkt zwei Code gelb.“

Plan … was? Das musste etwas der Staatlichen sein, denn davon hatte ich noch nie etwas gehört. Und das ärgerte mich – ganz massiv. Ich tappte einfach nicht gerne im Dunkeln umher.

„Okay.“ Kira klatschte einmal in die Hand. „Macht euch fertig. Betet zu eurem Gott, oder kratzt euch am Hintern. Tut was immer ihr tun müsst, um euch vorzubereiten. In fünf Minuten will ich euch alle am vorderen Eingang sehen. Reese, bleibst du bitte noch, ich will mit dir sprechen.“

Leises Murmeln setzte ein. Die breite Masse der Venatoren machte sich sofort auf dem Weg zum Eingang neben dem beliebten Burgerrestaurant. Dabei blieben sie in ihren Reihen. Die Gilde bei der Gilde und die Staatlichen bei Ihresgleichen. Es war schon seltsam. Wir spielten alle für dieselbe Seite und trotzdem machten wir untereinander Unterschiede.

Ein paar einzelne Venatoren verschwanden noch mal zu ihren Fahrzeugen, um sich auszurüsten.

Ich wollte mich schon Devin anschließen, als ich hörte wie Kira zu Reese sagte: „Schick deine Praktikantin nach Hause.“

Bitte?! Sofort machte ich auf dem Absatz kehrt.

„Warum?“ Ganz ruhig rollte Reese dieses Wort über die Zunge. Was er dachte, verbarg er mal wieder gut hinter seiner Maske aus Gleichmut.

„Zum einen weil es ein sehr gefährlicher Auftrag ist und sie noch eine unerfahrene Praktikantin ist …“

Unerfahren?!

„… und zum anderen …“

„Ich bin nicht unerfahren!“ Der ging es doch wohl zu gut! Wie konnte sie so etwas behaupten, ohne mich zu kennen? Ohne zu wissen, was ich bereits durchgemacht hatte?

Sie hatte nur einen abwertenden Blick für mich übrig. „Ach nein? Du bist also nicht frisch aus der Akademie, wo den Proles die Krallen und Zähne gezogen werden?“ Sie legte Reese sehr vertrauensvoll eine Hand auf den Arm. „Ich habe keine Lust nachher ihren Leichnam bergen zu müssen.“ Noch ein kurzer Blick in meine Richtung. „Oder das, was davon noch übrig sein wird.“

Reese blickte nur auf ihre Hand und schüttelte sie ab, als sei es ihm zuwider, sich von ihr berühren zu lassen – und sei es nur auf dem Ärmel seines Mantels. Mit einem Schritt von ihr weg erschien eine Kälte in seinen Augen, die mich frösteln ließ. „Die Meldung besagt, jede verfügbare Kraft. Shanks ist heute nicht der einzige Grünschnabel. Außerdem bringt jeder Auftrag Gefahren mit sich.“ Er kniff die Augen ein wenig zusammen. „Also wäre es wohl das Beste, wenn du mit dem Kindergartenkleinkrieg aufhörst und dich auf deine eigentliche Aufgabe besinnst. Du hast es versaut, nicht ich, also lass diesen Scheiß endlich!“

Die letzten Worte zischte er ihr nur noch entgegen und langsam bekam ich ein ungefähres Bild von dem was hier vor sich ging.

Ohne Kiras Gewittermiene zu beachten, wandte er sich von ihr ab und schob mich mit einer Hand auf meinem Rücken vor sich die Straße entlang. „Halt dich von ihr fern.“

Über die Schulter sah ich zurück und bereute es sofort. Kira bedachte mich mit einem Blick, den ich nicht mal meinem schlimmsten Feind wünschte. „Wer ist sie?“

„Kira.“

Für diese Antwort hätte ich ihm am liebsten einen Klapps auf den Hinterkopf gegeben. „Du weißt genau, was ich gemeint habe.“

Wir kamen an dem eingedrückten Mazda vorbei. Die Frau hatte man in der Zwischenzeit befreien können. Ein Sanitäter half ihr gerade auf eine Trage, aber dahinter befanden sich noch weitere Autos, deren Insassen die Hilfe der Rettungskräfte benötigten. Ihre Fahrzeuge hatten sich so sehr ineinander verkeilt, dass sie aus eigener Kraft niemals freikommen würden.

Die Straßen rund um das Einkaufscenter waren noch immer völlig überlaufen. Viele Verletzte. Menschen die ihre Angehörigen suchten. Feuerwehr, Polizei, Sanitäter. Dazwischen immer mal wieder ein Venator. Weiter hinten entdeckte ich auch den Übertragungswagen von Kanya Witmer – klar, die wurde von so einem Unglück angezogen, wie eine Motte vom Licht. Und alles lief durcheinander. Dieses Chaos zu ordnen würde wohl noch einige Zeit in Anspruch nehmen.

Reese hatte keinen Blick dafür. Er steckte sich eine seiner Zigaretten an und blies den Rauch hoch in die Luft. „Wird das jetzt ein Verhör, oder was?“

Diesen scharfen Ton hatte ich nicht verdient. „Es war eine schlichte Frage. Mehr nicht.“ Ich musterte sein Seitenprofil. „Wenn du nicht darüber reden möchtest, dann lass es.“ Auch wenn mich meine Neugierde zerfrisst.

Wir kamen am Haupteingang an.

Die Tore der Stahlzäune, die das ganze Gelände umschlossen, standen sperrangelweit auf. Warum auch nicht? Da die Proles bereits drinnen waren, machte es keinen Sinn mehr sie geschlossen zu halten. Auch Pförtner waren keine mehr anwesend. Das vergitterte Häuschen stand leer.

Diese Sicherheitsvorkehrungen, diese Zäune und Tore, sie waren ein hässliches Gebilde. Aber sie funktionierten und hielten die Gefahr der Proles draußen – zumindest wenn nicht ein Teil des Sicherheitssystems wegen Bauarbeiten abgeschaltet war.

Manchmal war das Schicksal doch wirklich ein gemeines Biest.

Die anderen Venatoren standen bereits innerhalb des Zaunes vor dem Haupteingang in kleinen Grüppchen zusammen, prüften ihre Waffen, sprachen leise miteinander und tüftelten dabei Strategien aus. Anspannung und vorsichtige Aufregung lagen wie Elektrizität in der Luft. Die Jagd stand kurz bevor und keiner wusste genau, was uns erwarten würde.

„Sie ging mit mir zur Akademie.“

Ich sah zu Reese hoch. „Bitte?“

Er gab ein ziemlich genervtes Geräusch von sich und zog dabei seine Waffe, um sie zu überprüfen. „Kira. Sie ging mit mir auf die Akademie der nächsten Generation. Auch sie hat ihr Praktikum in der Gilde gemacht, entschied sich dann aber, für die Staatlichen zu arbeiten.“

„Warum?“

„Bessere Arbeitszeiten, ein Festgehalt, super Krankenversicherung, eine gute Rente und im Falle eines sehr wahrscheinlichen Todes wird für die Hinterbliebenen gesorgt.“

Während dieser Aufzählung vermied er es mich anzusehen, was mir den Eindruck vermittelte, den wahren Grund nicht ausgesprochen zu haben. Deswegen sagte ich die nächsten Worte ganz direkt. „Wie lange wart ihr ein Paar?“

Er schien von dieser Frage nicht überrascht, oder gar genervt zu sein. Es war eher, als fragte ich ihn nach nichts anderem als dem Wetter. Er war völlig emotionslos. „Das ist egal. Sie hat es gründlich verbockt und damit hat sich die Sache erledigt.“

Wie er das sagte, so endgültig. Mir war klar, dass das Thema damit beendet war, also machte ich mich daran meine eigenen Waffen zu überprüfen. Den kleinen Flammenwerfer in der Dose, der gerade Mal für eine heiße Stichflamme reichte. Pfeile, Blasrohr, Messer. Gerade als ich meine M19 überprüft und wieder gesichert hatte, wurde ich so heftig an der Schulter angerempelt, dass ich nach vorne gegen Reese stolperte und mir die Nase an seiner Schulter stieß – au-a! „Hey, pass doch auf!“ Verärgert wandte ich mich herum und blickte direkt in das Gesicht von Kira. Meine Hand, die bereits auf halbem Wege zu meiner Nase war, blieb mitten in der Luft stehen.

„Komm mir bloß nicht in die Quere“, zischte sie mich an. „Oder du wirst es bereuen.“

„Kira.“ Allein der Name aus Reese' Mund war eine deutliche Drohung.

Sie schenkte ihm keine Beachtung, drehte sich einfach herum und machte die Truppe mit einem Klatschen in die Hände auf sich aufmerksam. „So, sind alle soweit?“

Zustimmendes Nicken und Gemurmel.

„Und jeder weiß was er zu tun hat?“

„Überleben!“, rief Shea laut genug, dass es auch alle hören konnten und kassierte dafür sogar einige Lacher.

Bei Kira jedoch zuckte nicht einmal der Mundwinkel – da hatte wohl jemand extrem schlechte Laune. „Genug rumgealbert. Auf geht´s.“

Augenblicklich hielt der Ernst der Lage in jeden von uns Einzug.

Die Tore des Centers waren zwar weit geöffnet, aber die automatischen Glasschiebetüren des Haupteingangs waren außer Betrieb. Wahrscheinlich abgestellt, als das hier alles angefangen hatte – vielleicht auch, damit der Proles nicht mehr entwischen konnte. Daher benutzten wir den Straßeneingang des Burgerrestaurants daneben.

Kira war die erste, die den Laden mit gezückter Waffe und wachsamen Augen betrat. Sie war kein Anfänger mehr, wusste genau was sie tat und ließ es uns alle spüren. Sie führte uns und ich musste gestehen, dass sie es gut machte.

Nach und nach folgten ihr die anderen. Die Luft war erfüllt von unseren wachsamen Augen und der Anspannung, die uns wie eine Aura umgab. Nichts, was uns auf unserem Weg begegnete, würde uns so einfach entgehen.

„Bleib dicht bei mir“, wies Reese mich an.

„Warum?“ Ich schielte aus dem Augenwinkel zu ihm. „Glaubst du jetzt auch, dass ich nicht auf mich alleine aufpassen kann und es besser wäre, mich kleine, untalentierte Praktikantin nach Hause zu schicken, weil ich ja von nichts eine Ahnung habe?“ Oh ja, ich hasste es wie die Pest, wenn jemand meine Arbeit nicht zu schätzen wusste und dann durfte ich auch ein kleinen bisschen sarkastisch sein.

Reese sah das wohl nicht so. Ich bekam von ihm einen sehr bösen Blick mir einer extra Portion Nerv-mich-nicht oben drauf. „Tu einfach was ich dir sage und komm.“

Im Grunde war das keine Antwort gewesen, aber das behielt ich im Moment lieber für mich. Wir hatten Wichtigeres zu tun und unsere Nerven lagen so schon blank – kein guter Moment um mit irgendjemand Wortklauberei zu betreiben.

Der Geruch, der mir entgegenschlug als ich durch die Glastür schritt, ließ mich fast würgen. Sofort waren alle meine Instinkte hellwach und sondierten die Umgebung nach möglichen Gefahren. Doch hier schien nichts zu sein. Das Restaurant wirkte leer, verlassen, tot. Das einzige Lebendige waren die Venatoren, die sich wachsam verteilten, um auch die hinterste Ecke abzusuchen. Nach Gefahren. Nach Überlebenden. Nach Hilfebedürftigen.

Meine Augen wanderten zur Orientierung über das Innerste. Dieser Laden ging über zwei Ebenen. Die Obere lag etwa zwei Meter über der Unteren und war mit einer Ecktreppe mitten im Raum mit ihr verbunden.

Hier unten waren nur ein paar verwaiste Tische. Volle Tabletts, halb gegessene Burger, verschüttete Getränke und umgekippte Stühle erzählten von dem eiligen Aufbruch der Leute. Dort hinten hatte ein Kind seinen Schulranzen zurück gelassen. Eine vergessene Jacke lag achtlos auf dem Boden und links an einem Tisch stand ein leerer Kinderwagen, die Babydecke halb auf dem Boden.

Mein Blick schweifte nach oben zur zweiten Ebene. Ein beißender Geruch nach verbranntem Fleisch drang von dort zu uns nach unten. Als die Leute in ihrer Hast das Weite gesucht hatten, hatte wohl keiner mehr daran gedacht den Grill auszuschalten. Das Fleisch war dann wohl nur noch Grillkohle. So jedenfalls roch es.

Doch das war nicht der einzige Geruch, der schwer in der Luft hing und drohte, jeden Atemzug zu verseuchen. Blut. Die ganze Luft war gesättigt von dem Geruch nach Blut und bereits auf der Treppe begegneten mir die ersten rostroten Flecken, die nur auf eine Ursache schließen ließen.

In diesem Moment wünschte ich so sehr Unrecht zu haben, ich hoffte das es nur Ketchup war, den jemand bei seiner Flucht verkleckert hatte, doch wusste ich es besser. Jeder von uns wusste es besser. Meine Bestätigung kam, als ich die Freitreppe mit dem Aluminiumgeländer hinauf schlich.

Ein Großteil der anderen Venatoren befand sich bereits auf der zweiten Ebene. Ein jeder von ihnen hatte sich dem grausigen Anblick stellen müssen, der uns oben an der Treppe erwartete. Ein junges Mädchen, jünger noch als Wynn. Ihre blutige Hand hing die obersten Stufen herunter. Ihre verengten Gliedmaßen standen in unnatürlichen Winkeln vom Körper ab und ihre weit aufgerissenen Augen erzählten noch von der Angst, die sie zum Zeitpunkt ihres Todes ausgestanden haben musste. Doch all das verblasste im Hintergrund, beim Anblick der blutüberströmten Kehle. Das Monster hatte ihr den Hals bis zu den Wirbeln aufgerissen. Dieses Mädchen war keine Beute gewesen, wurde nicht aus Hunger einer Bestie getötet, nein, es wirkte als hätte sie einfach nur im Weg gestanden.

Kira teilte die Venatoren mit Handzeichen auf um den Rest des Ladens absuchen zu lassen. Ein Teil verschwand nach hinten in den Küchenbereich, während andere hinunter in den Keller gingen, um die Toiletten in Augenschein zu nehmen. Erst als der ganze Laden gesichert war, versammelten wir uns am Eingang, der hinaus in die überdachte Einkaufsstraße des Centers führte.

Ich war eine der letzten die das Schnellrestaurant verließen und sah mich plötzlich etwas gegenüber, dass ich nicht mal in meinen schlimmsten Alpträumen erwarten hätte, einem Friedhof.

Das Einkaufszentrum war in einen Friedhof verwandelt worden, auf dem der blutige Tod vorherrschte.

Im Handygeschäft nebenan war ein Mann durchs Schaufenster geschleudert worden. Große Glasscherben lagen verstreut um ihn herum und hatten ihm Gesicht und Arme zerschnitten. Alles nichts lebensbedrohliches. Dieser Mann hätte überleben können, wäre da nicht die offene Wunde in seinem Brustkorb. Er war wie eine Walnuss geknackt worden.

Doch das war nichts zu dem Bild, das uns beim gegenüberliegenden Italiener erwartete. Dieses Restaurant war ein Schlachthaus. Unser Zielobjekt musste hier drinnen nach Lust und Laune gewütet haben und dabei jeden getötet haben, den es zwischen seine Pranken bekommen hatte.

Ein Dutzend Toter beschmutzen jeden Fleck dieser Gaststätte. Ein Anblick grausamer als der vorherige. Doch eines war so unmenschlich, dass es mich für wenige Sekunden zurück zu meinem sechsten Geburtstag katapultierte. Eine Frau, die sich mit ihrem Baby im Arm schützend in einer Nische unter einem der Tische versteckt hatte. Es hatte ihr nicht geholfen. Beide waren tot. Das Biest musste sie an den Beinen hervorgezerrt haben. Teile davon fehlten und eine große Wunde im Rücken legte den unteren Bereich der Wirbelsäule frei. Vor ihrem erlösenden Tod musste sie unglaubliche Schmerzen gelitten haben. Doch das wirklich schreckliche war das kleine Baby. Ohne das ganze Blut konnte man glauben, dass es nur schlafen würde. Nur die Tatsache, dass das Beinchen einen Tisch weiter lag, entlarvte diesen Glauben als Lüge.

„Sieh nicht so genau hin.“

Ich sah über die Schulter. Shea stand hinter mir. So ernst hatte ich den Mann mit der langen Narbe im Gesicht noch nie erlebt. Da lag eine Kälte in seinen Augen, die von blutiger Rache erzählte.

„Du darfst niemals zu genau hinsehen. Es verfolgt dich sonst, macht dich kaputt und lenkt dich zu sehr ab. Ablenkung kann deinen Tod bedeuten.“

Das wusste ich alles. Es war einleuchtend und trotzdem richtete ich meinen Blick auf den blutigen Sabberlatz vor meinen Füßen. Dieses kleine Würmchen … es konnte nicht älter als ein paar Wochen gewesen sein.

Meine Hände ballten sich zu Fäusten. Das war so ungerecht, so …

Ein markerschütternder Schrei, ihm hinteren Teil des Restaurants, ließ nicht nur mich herumfahren. Im gleichen Moment kam Max nach vorne in den Gästeraum geschossen.

„Wir haben eine Überlebende gefunden.“

Bei all dem Grauen das uns hier bereits begegnet war, war diese Nachricht ein Wunder, mit dem keiner von uns mehr gerechnet hatte. Dementsprechend brauchten die Venatoren einen Moment, um zu reagieren.

„Verletzt?“, fragte ein Jäger der Staatlichen.

Max zuckte mit den Schultern. „Sie hat sich in der Vorratskammer eingeschlossen und will nicht rauskommen.“

Kira strich sich seufzend über die kurzrasierten Haare. „Okay, dann teilen wir uns auf. Max, geh mit Aziz und Julian nach hinten und versuch sie da raus zu bekommen. Dann bringt ihr sie aus dem Center zu den Sanitätern und stoßt anschließend wieder zu uns. Ihr sieben bleibt bei ihnen und passt auf, dass nichts passiert.“ Sie deutete mit dem Finger auf eine Gruppe Venatoren am blutigen Buffet. „Die Gilde geht rüber in die Cafeteria und sieht da nach dem Rechten. Der Rest geht mit mir nach nebenan in das Kleidungsgeschäft. Auf geht´s.“

Wir sollten uns nun doch aufteilen? Aber war das nicht genau der Fehler, den die anderen Venatoren gemacht hatten?

„Hältst du das für eine gute Idee?“, fragte Benedikt, bevor ich die Gelegenheit dazu bekam – was vielleicht ganz gut war.

Kira kniff ihre Augen leicht zusammen. „Wir müssen den Proles schnell finden, damit er uns nicht durch die Lappen gehen kann. Wenn wir uns aufteilen, steigen unsere Chancen, also bewegt euch endlich!“

Auch wenn so ein Handeln kaum zu verantworten war, dieser Logik ihres Arguments konnte keiner widersprechen. Deswegen fand ich mich wenige Minuten später vor dem Lokal neben dem Handyladen unter der großen, kreisrunden Kuppel des Centers wieder, die den Mittelpunkt für Veranstaltungen in diesem Gebäude bildete.

Die rustikalen Farben und die Holzvertäfelung des Lokals ließen es wie eine gemütliche Eckkneipe mit Familienambiente wirken, die sogar einen eigenen Sommergarten unter der Kuppel besaß. Gut, es war nicht wirklich ein Garten, nur Tische mit Stühlen in einem eingezäunten Bereich vor dem Geschäft. Doch so wie es aussah, war diese Lokalität bei den Leuten sehr beliebt und gut besucht. Die zurückgelassenen Teller und Gläser zollten davon, ebenso die beiden toten Männer, die ich mir nicht zu genau ansehen wollte. Das tat Shea schon. Zwischen umgerissenen Tischen und zersprungenem Geschirr, bahnte er sich einen Weg zu den Kerlen.

Den einen brauchte er nicht überprüfen. So viel Blut wie sich um seinen Körper ausgebreitet hatte, war er ohne Zweifel tot. Bei dem anderen, dem Jüngeren, tastete er nach dem Puls, schüttelte aber nach ein paar Sekunden den Kopf und bestätigte uns damit, was sein erschlaffter Körper uns schon verraten hatte. Auch ihm war nicht mehr zu helfen. Dies waren zwei weitere Opfer auf der Liste unseres Unbekannten.

Ich festigte den Griff um meine Waffe. Es war einfach nicht zu fassen. Für dieses ganze Unheil sollte ein einziger Proles verantwortlich sein? Mit jedem neuen Toten konnte ich es weniger glauben. Die ganzen kaputten Schaufenster, verteilten Waren auf den Gängen, zerstörte Geschäfte, überall Tote, angefressene Leichen, umgekippte Regale, persönlicher Besitz, der auf der Flucht zurückgelassen wurde. Hier drinnen musste in der Panik eine richtige Massenhysterie ausgebrochen sein.

Es war einfach nicht möglich, dass ein einfaches Wesen allein dafür verantwortlich war. Das sagte einem doch bereits der logische Menschenverstand.

Nein, das konnte einfach nicht sein. Egal was die Venatoren sagten, sie irrten sich. Da war ich mir sicher. Und diese Tatsache konnte für uns tödlich sein.

Wachsam ließ ich meinen Blick durch die Kuppel gleiten, über die anliegenden Geschäfte der kreisrunden Fläche, über die Ladenstraße, die weiter ins Innere führte. Die Rolltreppe hinauf zu den Läden in der ersten und zweiten Etage, die durch eine offene Galerie zu betreten waren. Sie war nur durch eine halbhohe Umzäunung aus Glas umgegeben.

Es war ein modernes Gebäude. Viel Glas, Metall und Beton, auf eine helle, freundliche Art. Der Architekt hatte genau gewusst, was er hier tat.

Vor dem heutigen Ereignis war ich noch nie hier gewesen und jetzt, nachdem sich das Bild von Blut, Chaos und Zerstörung in meinen Kopf gebrannt hatte, würde ich es nach diesem Auftrag wohl auch nie wieder sein. Ich hatte nach diesem Tag, der mein Leben für immer zerstörte, auch nie wieder das Haus meiner Eltern betreten. Das hatte ich einfach nicht gekonnt. Genau wie hier, hatte dort der Tod Einzug gehalten und auch wenn man die Spuren der Katastrophe beseitigte, so würde das Unheil auf ewig diesem Ort anhaften.

Ein Schatten hinter der Brüstung auf der Galerie, ließ mich die Augen leicht verengen. Da hatte sich doch gerade etwas bewegt, oder war das nur meiner Phantasie entsprungen?

Ich ließ den Blick ein wenig umher schweifen, konnte aber nichts entdecken. Es war weg. Was immer ich da gerade bemerkt hatte, es war nicht mehr da.

Ich fasste den Griff meiner Waffe fester, ließ den Blick ein weiteres Mal wachsam über die gesamte Galerie wandern.

Es gab Blutspuren, Zeichen derer, die versuchten der drohenden Gefahr zu entkommen. Der Inhalt eines der Schuhgeschäfte dort oben lag über die ganze Galerie verteilt. Ein Toter lehnte mit dem Rücken an der Balustrade. Aber die Bewegung die ich glaubte wahrgenommen zu haben, wiederholte sich nicht. Hatte ich mich wirklich getäuscht? Ich konnte es mir nicht recht vorstellen. Auf meinen sechsten Sinn war normalerweise Verlass.

Als mich plötzlich etwas an der Schulter berührte, fuhr ich vor Schreck fast aus der Haut. Sofort war meine Waffe auf die Ursache gerichtet.

„Hey, ganz ruhig.“ Devin stand mit erhobenen Händen vor mir. Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen. „Ein wenig nervös, mh?“

Dazu sagte ich nichts. Ich ließ meine M19 einfach sinken und richtete meinen Blick wieder nach oben.

„Ziemlich krass was hier passiert ist, was?“

„Ich würde es nicht unbedingt mit diesem Wort beschreiben.“

Auch seine Augen wanderten über die Umgebung. „Wie bist du heute hier gelandet?“

„Ich war bei Nick, als Reese den Anruf bekam.“

„Also so ähnlich wie bei mir.“ Seufzend strich er sich mit der Hand über den Kopf und sah über die Schulter in die Cafeteria. Die anderen Venatoren waren bereits dabei, den Laden genau unter die Lupe zu nehmen und was sie dort bisher aus den Ecken hervorgekramt hatten, wollte mir so gar nicht gefallen.

Noch mehr Tote.

Ich drückte die Lippen zu einem festen Strich zusammen. Wie viele Menschen heute wohl ihr Leben gelassen hatten? Eigentlich wollte ich es nicht so genau wissen, nicht wenn ich noch immer das Bild des kleinen Babys vor Augen hatte. „Lass uns unseren Job machen und dieses Monster zur Strecke bringen.“

„Ladys first.“

Darauf gab es nun wirklich nichts zu erwidern. Noch einmal sah ich hinauf, doch noch immer war alles ruhig. Keine verdächtigen Bewegungen, keine Geräusche, nichts was nur darauf schließen ließ, dass dort oben etwas darauf lauerte, uns hinterrücks anzugreifen. Nur diese Totenstille, die wie eine drückende Aura über diesem Ort lastete.

Ich schloss mich den anderen Venatoren in dem kleinen Lokal an. Sie waren gerade dabei den Hauptraum gründlich zu durchsuchen. Reese entdeckte ich mit Shea an der Seite im hinteren Teil, wo extra ein Raum für die Raucher hergerichtet worden war.

„War schon jemand in der Küche?“

Der Venator namens Maik blickte auf. Wenn ich mich richtig erinnerte, dann war er der Lehrcoach von Bay. „Nee, noch nicht.“

„Dann mach ich das.“

„Ich gebe dir Deckung.“ Devin lud seine Waffe durch. Jeder Ansatz eines Lächelns war nun verschwunden, er war nun ganz Venator.

Vorsichtig näherte ich mich dem Tresen und warf einen Blick dahinter. Ein Teil der Gläser und Flaschen war aus den Regalen gerissen worden. Scherben und Flüssigkeiten verteilten sich über den gesamten Zwischenraum, aber es gab weder Leichen noch Blut. Das sah doch schon mal ganz gut aus. Vielleicht hatten die Menschen aus diesem Lokal es wenigstens geschafft, der Todesfalle zu entkommen.

Als ich mit Devin hinter den Tresen trat, knirschten die Scherben unter meinen Schuhen. Dort hinten lag noch ein Teller mit dem Tagesmenü. Es schien, als hätte die Kellnerin ihn einfach fallen gelassen, bevor sie die Flucht ergriffen hatte, aber Blut gab es hier hinten keines.

Meine Finger streiften über die raue Oberfläche der rustikalen Theke. Wenn sie könnte, hätte sie sicher viele Geschichten zu erzählen. Aber keine davon wäre wohl so grausam wie die heutige. Und außerdem war der Gedanke albern, weil eine Theke nicht sprechen konnte.

Die Küche war mit einer Schwingtür vom vorderen Teil abgetrennt. Sie quietschte leicht, als ich sie aufdrückte und einen vorsichtigen Blick in das Innerste riskierte. Hier herrschte das gleiche Bild wie überall. Chaos in seiner reinsten Form. Egal was hier drinnen vorgefallen war, es hatte dafür gesorgt, dass die Küche komplett demoliert worden war.

„Sieht nicht gut aus“, sagte Devin.

„Sieht genauso aus wie überall.“ Ich drückte die Schwingtür weiter auf und trat wachsam in den dahinterliegenden Raum. Mit dem Fuß schob ich eine Kelle zur Seite. Scherben und Dreck knirschten unter meinen Sohlen.

„Du links, ich rechts lang.“

Ich nickte, hob meine Waffe ein wenig höher und begann den kleinen Raum systematisch abzusuchen. Viel gab es nicht zu sehen. Zwei Minuten, dann waren wir durch. Keine Toten, keine Überlebenden, keine Gefahren. „Hier ist nichts.“

„Das ist sowohl ein gutes, wie auch ein schlechtes Zeichen.“

Wohl wahr. Für den Moment waren wir hier sicher. Aber es hieß auch, dass unsere Suche noch nicht beendet war. „Hier kommen wir nicht weiter. Vielleicht haben die anderen ja was entdeckt. Und wenn nicht …“

„Hast du das gehört?“, unterbrach er mich.

Ich spitzte die Ohren. Aus dem Gästeraum drangen die Geräusche der anderen Venatoren. Ein Rascheln, das Verschieben der Tische. Irgendwer stieß einen leisen Fluch aus. Aber da war noch etwas anderes. Ein leises Stöhnen, das so gar nicht in die Geräuschkulisse passte. Und es kam auch nicht von vorne. In der Küche gab es eine weitere Tür. Sie war ein Spalt offen und wenn ich mich nicht vollkommen irrte, dann kam das leise Stöhnen von dort.

Ich gab Devin ein stummes Handzeichen, hob meine Waffe wieder etwas höher und schlich auf den Spalt zu. Ein kleiner Blick hindurch brachte keine großen Ergebnisse. Nur ein leerer Gang, aber das Stöhnen wiederholte sich, mischte sich mit einem Röcheln. Es kam eindeutig von hier.

Okay, noch einmal tief durchatmen und sammeln. Ich warf noch einen prüfenden Blick zu Devin, gab ihm stumm zu verstehen, was ich vorhatte und riss dann ohne weiteres Zögern die Tür auf.

Die Waffe gerade vor mir zielte ich auf alles was sich bewegen könnte, aber da war nichts, alles leer. Bis auf die rostrote Schleifspur, die sich über den Boden zog – immer weg von der Tür.

„Blut“, kommentierte er.

Ja, Blut. Und zwar ziemlich viel davon. „Eine Schleifspur.“

„Vielleicht hat da jemand versucht sich in Sicherheit zu bringen.“

Im besten Fall, ja. Aber daran konnte ich nicht so recht glauben. Nicht bei dem, was ich hier bereits gesehen hatte. Das Bild eines Proles, der ein unschuldiges Opfer hinter sich her zog, verankerte sich in meinem Kopf und ließ sich einfach nicht mehr abschütteln. Dafür hatte ich hier einfach schon zu viel gesehen. „Lass uns nachsehen gehen.“

Devin zögerte einen Moment, blickte zurück in die Küche, als überlegte er den anderen Bescheid zu geben, schob sich dann aber an mir vorbei und übernahm die Führung.

Weit mussten wir nicht gehen. Schon hinter der nächsten Ecke fanden wir die Ursache der Geräusche. Mir blieb beinahe das Herz in der Brust stehen. Eine alte Frau mit schlohweißem Haar in einem gemusterten Strickpulli und einer hellbraunen Hose. Ihre übergroße Handtasche lag noch neben ihr. Doch das Schreckliche war ihr Arm. Er befand sich nicht mehr am Körper, sondern am anderen Ende des Ganges. Ihr Oberschenkel war völlig zerbissen und blutüberströmt und ihr Gesicht war so zerfetzt, dass ich die runzlige Haut kaum noch erkennen konnte.

Aber das Schlimmste war, dass sie in diesem Zustand noch lebte. Ich hörte das leise Stöhnen, das Röcheln ihrer Lunge. Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln, vermischten sich mit dem Blut. Sie war dem Tod näher als dem Leben und trotzdem musste sie noch all diese Schmerzen ertragen. Das war grausam.

Ein leises „Oh Gott“, kam mir über die Lippen. Ich schaffte es kaum, meine Beine in Bewegung zu setzten und mich neben sie zu hocken.

„Wir können ihr nicht mehr helfen“, sagte Devin leise.

Das wusste ich selber. Die Frau war so schwer verletzt, dass nicht mal ein Wunder sie retten konnte, aber sie hatte so gütige Augen, wirkte so zerbrechlich in dem ganzen Blut, dass es einfach unmenschlich gewesen wäre tatenlos daneben stehen zu bleiben, oder gar wegzugehen. Hier konnte ich wenigstens ihre Hand nehmen und den kraftlosen Griff erwidern.

Sie bewegte die Lippen, aber statt Worte kam Blut aus ihrem Mund.

„Schhh“, machte ich und strich mit dem Daumen beruhigend über ihren blutigen Handrücken. „Alles wird wieder gut.“

Ihre Augen suchten meinen Blick. Sie wusste genau dass ich log. Nichts würde wieder gut werden, nicht für sie. Sie hatte ein langes und erfülltes Leben gehabt und hier und heute würde es ein Ende nehmen, das so erbarmungslos war, dass es kein Mensch verdient hatte.

Ich presste einen Moment die Augen zusammen, als die blutigen Bilder der Vergangenheit ein weiteres Mal an die Oberfläche zu kommen drohten.

Guck mal, Gracy, der lustige Hund. Ich habe ihn Plüsch genannt, weil er so plüschig aussieht.

Blut. Alles war befleckt mit Blut. Die Spur zog sich durch mein ganzes Leben und würde es immer tun. Immer mehr Blut, ein Meer in dem ich irgendwann ertrinken würde. Schon jetzt paddelte ich nur noch mit halber Kraft darin. Wie lange würde ich das noch ertragen können? Wie viel Leid konnte ein Mensch auf sich nehmen, bevor er daran zu Grunde ging?

Ich merkte erst, dass mein Atem schneller geworden war und die Panik drohte, langsam von mir Besitz zu ergreifen, als Devin seine Hand auf meine Schulter legte und sie so fest drückte, dass es schon wehtat. Er war einer der wenigen aus meiner Akademie, die wussten, was an meinem sechsten Geburtstag geschehen war. Es war nicht so, dass ich es geheim hielt, ich ging damit nur einfach nicht hausieren. Das war meine Sache und ging niemanden etwas an.

Ich schlug die Augen wieder auf und starrte in den leeren Blick der alten Frau. Sie hatte es geschafft, sie war ihrem Leid entkommen, auf die einzige Möglichkeit, die ihr geblieben war. Und ich hatte nichts weiter getan als ihre Hand zu halten, weil ich wieder mal in meinem eigenen Leid gefangen gewesen war.

In meinem Magen bildete sich ein fester Klumpen und ich musste mehrere Male schlucken. Es war fast noch schlimmer, als der Tag mit dem Hausmeister an der Schule. Diese Frau war heute hergekommen um eine wichtige Besorgung zu machen. Vielleicht hatte sie etwas für einen ihrer Liebsten holen wollen, oder war mit einem alten Freund zum Essen verabredet gewesen. Was auch immer sie hier gewollt hatte, nun hatte sie mit dem Leben dafür bezahlt, so wie bereits viele tausend Menschen vor ihr. Und den vielen tausend, die noch folgen würden.

Wie das kleine Baby bei dem Italiener.

„Nimm es nicht so schwer.“

Ich schüttelte Devins Hand ab und richtete mich auf, ohne ihn dabei anzusehen.

Du darfst niemals zu genau hinsehen. Es verfolgt dich sonst, macht dich kaputt.

Sheas Worte halfen nun auch nicht mehr. Ich hatte in den letzten Wochen zu oft zu genau hingesehen, hatte auf meinem Geburtstag zu genau hingesehen und würde es wahrscheinlich auch in Zukunft machen. Ich war bereits kaputt und selbst der beste Psychologe würde nichts mehr dagegen tun können.

Das Quietschen von Schuhen ließ uns beide herumfahren, doch es war kein böses Monster, das uns hinterrücks überfallen wollte, es war Reese – obwohl da manchmal kein Unterschied war.

Sein Blick glitt direkt zu der alten Frau, dann auf meine blutige Hand und blieb an meinem Gesicht hängen. „Hab ich dir nicht gesagt, du sollst immer dicht bei mir bleiben?!“

„Ich wollte doch nur …“

„Mir ist es scheißegal was du wolltest!“, ranzte er mich an. „Ich habe dir einen Befehl gegeben. Das hier ist doch kein Spiel, bei dem man einfach einen Neustart machen kann, wenn es schief geht!“

„Hey.“ Devin hob in einer beruhigenden Geste die Hände. „Nun mal ganz langsam. Sie hat doch nur …“

„Hab ich irgendwie verständlich gemacht, dass es mich interessiert, was du denkst? Kümmere dich um deinen eigenen Kram!“ Er richtete den Blick wieder auf mich. „Vielleicht hatte Kira ja doch Recht. Ihr seid nur ein paar Praktikanten, was wisst ihr schon von der Gefahr?“ Kopfschüttelnd drehte er sich herum und verschwand wieder durch die Tür in die Küche.

„Rede so nicht mit mir, ich bin kein dummes Kind!“, fauchte ich ihm hinterher.

„Das sehe ich aber ganz anders!“, rief er zurück.

„Ist mir doch egal, wie du das siehst!“

„Sehr erwachsen!“

Etwas schepperte in der Küche. Entweder hatte er die Einrichtung weiter demoliert, oder war aus Versehen gegen einen Topf getreten. Bei ihm war beides möglich.

Aber ich musste mir eingestehen, dass er recht hatte. Irgendwie. Verdammt.

„Hey, mach dir nichts draus. Er ist ein Idiot.“

Wenn es doch nur so einfach wäre. „Ich hätte versuchen müssen, sie zu retten.“ Ich richtete meinen Blick auf die alte Frau. „Und nicht nur tatenlos danebensitzen.“

„Das ist doch Schwachsinn, du hättest nichts tun können.“ Er legte mir wieder die Hand auf die Schulter. „Wenigstens war sie in ihren letzten Minuten nicht allein gewesen.“

Das war zu wenig, viel zu wenig. Es hätte gar nicht erst soweit kommen dürfen. Diese Frau hätte ihren Lebensabend in Ruhe genießen müssen. Es gab sowieso schon zu wenige Leute, die so alt wurden. Warum hatte das Schicksal sie nicht einfach in Ruhe lassen können?

„Komm schon, lass uns zu den anderen zurückgehen und …“

In diesem Moment zerriss der Schrei eines Mannes die Stille des Centers. Das Brüllen eines Proles folgte, ein Krachen, dann ein Schuss.

„Das kam von vorne!“

Devin hatte noch nicht mal zu Ende gesprochen, da rannte ich bereits durch die Küche zurück in das Lokal.

Ein weiterer Schuss peitschte durch die Luft. Und noch einer. Und ein weiterer. Plötzlich war die Luft erfüllt mit dem Geräusch von unzähligen Schüssen.

Ich stürmte durch die Schwingtüren, rutschte auf den Scherben weg und knallte aus dem Lauf voraus in den Tresen. Eine Schale ging dabei zu Bruch.

„Runter!“, brüllte von irgendwoher Reese.

Ich wollte dem Befehl sofort nachkommen, aber das war unmöglich. Was sich da vor meinen Augen abspielte, das ließ mich einfach mitten in der Bewegung erstarren.

„Heilige Scheiße“, hauchte Devin hinter mir und brachte es damit genau auf den Punkt.

Mitten im Sommergarten unter der Kuppel, zwischen verschobenen Tischen und umgekippten Stühlen stand ein … Monster. Das war kein Proles, das konnte einfach keines sein. Von so etwas hatte ich in meinem ganzen Leben noch nichts gehört.

Es hatte einen hundeähnlichen Körperbau, einen schlanken Hundekörper mit einer sehr ausgeprägten Brust. Doch die Gelenke waren die eines Bären. Kugelgelenke. Und die vorderen Tatzen schienen zum Greifen zu sein. Wie bei einem Waschbären, oder eine Ratte. Spitze Ohren an einem langen, schmalen Kopf. Und die Zähne. Sie waren so groß, dass sie nicht in die Schnauze passten. Links und rechts standen sie aus dem Maul heraus. Bleiche Gebilde, wie gelbliche Gebeine, zwischen denen noch die Reste seiner Opfer hingen.

Die Haut dieses Biestes war lederartig, von der Farbe einer Olive und wurde nur an wenigen Stellen von Büscheln grünem Fells bedeckt. Es wirkte, als hätte es die Räude und damit ein Großteil seines Pelzes eingebüßt. Daher waren die extrem langen Krallen sehr deutlich. Der lange Schwanz erinnerte mich an den einer Schlange.

Und er war riesig. Weit größer als ein Spuma und die galten neben dem Candir als die größten Proles der Welt.

Aber das wirklich schrecklichste war der Mann den er wie eine gliederlose Puppe in seinem Maul herum schüttelte. Gesicht und Hals waren aufgerissen, der ganze Körper blutverschmiert und der gebrochene Blick zeigte, dass er seinen letzten Atemzug bereits ausgehaucht hatte. Aber es war nicht deutlich, ob er durch die Verletzungen dieser Kreatur oder die Schusswunden gestorben war. Der ganze Körper des Mannes war durchsiebt mit Schusswunden.

Und ich kannte diesen Mann, hatte selber einmal meine Waffe auf ihn gerichtet.

Es war Goldberg.

Goldberg war tot.

Diese Bestie hatte Goldberg zwischen seinen Zähnen und warf ihn mit beachtlichem Schwung in die Reihen der schießenden Venatoren.

Wie hatte das passieren können? Er sollte doch so ein hervorragender Jäger sein.

Als das Monster laut brüllte, duckte ich mich hinter den Tresen und zog Devin mit mir hinunter. Warum verdammt noch mal hatten die auf Goldberg geschossen?

Es gab ein paar Rufe bei den Venatoren der Staatlichen, weitere Schüsse. Ein Krachen hallte durch die Kuppel, gefolgt von einem zweiten und einem Dritten. Flüche und Rufe folgten.

Ich schlich nach vorne. Scherben knirschten unter meinen Schuhen. Ein kurzer Blick um den Tresen zeigte mir, dass das Monster noch immer im Sommergarten stand und mit den Stühlen in die Reihen der Venatoren warf – das erklärte das Krachen. Es machte fast den Eindruck, als versuchte er seine Gegner abzuwehren. Nicht eine Kugel traf ihn. Blitzschnell sprang es hin und her, warf Stühle und das Geschirr, das dort überall herumlag und duckte sich dann hinter jeder sich bietenden Möglichkeit, die ihm etwas Schutz bot.

Ich entsicherte meine Waffe.

Einatmen, zielen.

Ausatmen …

„Hey!“

Bei dem Ruf blieb mir fast das Herz stehen. Das war von Reese gekommen. Und er war nicht wie ich die ganze Zeit vermutet hatte irgendwo in Deckung im Lokal, sondern stand draußen beim Sommergarten. Und das Schlimmste? Er war unbewaffnet! Mit erhobenen Händen stand er da und versuchte dieses Biest auf sich aufmerksam zu machen.

„Hey, hier bin ich du Wixer!“

Wie zum Teufel war er da hingekommen?! Und was, verflucht noch mal, tat er da?!

Die Schüsse verstummten, um keine Querschläger zu riskieren, die Reese treffen konnten. Irgendwo hörte ich Kira schimpfen, dass Reese ein riesiger Volltrottel sei und seinen Hintern da sofort wegbewegen sollte. Doch das tat er nicht. Stattdessen ging er noch einen Schritt auf das Vieh zu, was das Monster leicht zu irritieren schien.

„Was zum Geier macht er da?“, fragte Devin leise. Er kauerte halb hinter mir, seine Waffe verfolgte jede Bewegung unseres Gegners, aber wir hatten kein freies Schussfeld, da es halb hinter zwei umgestürzten Tischen verbarg.

Ein lautes Knurren grollte in der Kehle des Monstrums. Aus seinen kleinen, stechenden Augen beobachtete er jede Bewegung von Reese. Ich hatte sogar den Eindruck, dass es seine Hände nach einer Waffe absuchte. Aber das war sicher nur Einbildung. So intelligent konnte es einfach nicht sein. Ansonsten hätten wir nämlich ein echtes Problem.

„Scheiße, Reese! Komm endlich da weg!“, schrie Kira. Sie hielt sich mit den anderen Staatlichen hinter den zerbrochenen Schaufenstern des Klamottenladens verborgen.

Reese schien sie nicht zu hören, oder – wie er es so gerne tat – er ignorierte sie schlicht. Seine Aufmerksamkeit galt alleine der knurrenden Kreatur vor sich, die er mit leisen Beleidigungen bewarf, als wollte er sie immer weiter reizen.

Was hatte er nur vor? Er war doch sonst nicht so lebensmüde.

Über den Lauf meiner Waffe hinweg behielt ich das Biest im Visier und als es dann ein Stück nach vorne gekrochen kam, ging mir endlich ein Licht auf, das so hell leuchtete, dass ich davon eigentlich hätte geblendet werden müssen. Reese bot sich ihm als Beute, um ihn aus seinem Versteck zu locken.

Das war … dumm. Aber auch intelligent. Beides. Dieser Blödmann brachte sich in Lebensgefahr, aber so würde ich das Biest schnell und sauber töten können.

Mein Blick huschte einen Moment zu Goldberg. Nein, ich würde nicht zulassen, dass es ein weiteres Opfer geben würde. Hier und jetzt war Schluss.

Im provozierenden Ton beleidigte Reese die Kreatur in einer Tour. Sie fletschte die Zähne, hielt den Kopf aber noch im Verborgenen. Nur die krallenbesetzte Pfote lag im Freien. Ich kniff die Augen leicht zusammen, fokussierte den Punkt, an dem das Biest aus seinem Versteck treten würde. Ich durfte meinen Einsatz nicht verpassen.

Kiras Rufe traten in den Hintergrund, genau wie Reese' Worte. Meine Konzentration lag allein auf dem was vor mir lag.

Komm schon, nur noch ein kleines Stück.

Die Nase schaute hervor. Langsam aber sicher folgte der Kopf. Die kleinen, misstrauischen Augen schienen dabei alles genau im Blick zu behalten. Es sah zu den Staatlichen, zu Reese, hinein ins Lokal. Nur mich und Devin hinter dem Tresen, schien es nicht bemerkt zu haben.

Die nackten Ohren zuckten, fingen jedes Geräusch in der Umgebung ein.

Okay, jetzt ganz ruhig. Nur noch ein kleines Stück, dann würde ich es haben.

„Komm schon, du hässliches Stück Dreck“, murmelte Reese und wich einen weiteren Schritt zurück. Er stand bereits am Zugang zur Rolltreppe. Beim nächsten Schritt löste er den Bewegungsmelder aus und die Rolltreppe setzte sich mit einem leisen Summen in Bewegung.

Diesen Moment erlebte ich wie in Zeitlupe.

Das Biest riss den Kopf herum und in diesem Moment drückte ich ab.

Peitschend knallte der Schuss durch die Kuppel.

Reese riss erschrocken den Kopf herum, Kira rief irgendetwas.

Das Monster bewegte sich mit solch einer Geschwindigkeit zur Seite, dass die Kugel ganz knapp an seinem Kopf vorbei flog und in den Stützpfeiler hinter ihm einschlug. Wütend brüllte es auf. In dem Moment gaben auch die Staatlichen wieder Schüsse ab. Reese rief etwas, dass in der Geräuschkulisse einfach unter ging.

Die Kreatur spannte die Muskeln an.

Ich hechtete hinter dem Tresen hervor, rief Reese eine Warnung zu, da ich vor meinem inneren Auge bereits sah, wie dieses Biest sich auf ihn stürzte, aber das war gar nicht sein Ziel.

Es sprang mit einer Kraft, die ich nicht für möglich gehalten hätte senkrecht in die Höhe, flog nach oben durch die Luft und klammerte sich auf halber Höhe an die Rolltreppe.

Mitten im Lauf gab ich einen weiteren Schuss ab, doch das Biest zog sich mit den muskulösen Beinen an dem Handlauf hinauf und verschwand dann über das Geländer auf die Galerie der ersten Etage. Das ging so schnell, das keiner die Möglichkeit hatte, richtig zu reagieren.

Reese begann sehr ausgefallen zu fluchen, warf mir einen bitterbösen Blick zu und rannte dem Biest dann über die Rolltreppe hinterher.

„Reese!“, rief ich. War der heute noch ganz bei Trost? Der konnte diesem Monster doch nicht alleine hinterher rennen.

Wie es aussah konnte er doch.

Von hinten stürmten die Staatlichen heran. Einige postierten sich unten und eröffneten das Feuer, doch das fliehende Biest verschwand einfach in den nächsten Laden. Andere rannten die Rolltreppe hinauf. Oben splitterte ein Schaufenster unter lautem Getöse. Ein lautes Brüllen folgte.

Mit Devin im Windschatten rannte auch ich zu der Rolltreppe. Shea stand mit seinem Partner unweit hinter mir und behielt die Glasfront der ersten Etage im Auge.

Mitten im Lauf zog Mace seine Machete heraus, stürmte die letzten Stufen hinauf und verschwand dann auf der zweiten Ebene.

„Grace! Hier lang!“

Ich drehte mich nach Max um, der auf der anderen Seite der Rolltreppe mit Aziz und Julian im Schlepptau entlang rannte – tiefer in die Eingeweide des Centers hinein. „Wo willst du hin?“

„Dem Biest den Weg abschneiden!“

„Da hinten ist noch eine Rolltreppe“, hörte ich Devin hinter mir sagen.

Mich hielt nichts mehr auf meinem Platz. So schnell meine Beine mich trugen eilte ich den anderen hinterher. Shea und Partner folgten uns und auch Maik schloss sich uns an.

Oben zerschnitten wieder Schüsse die Geräuschkulisse. Rufe ertönten, Kira brüllte Befehle, das Monster gab einen unmenschlichen Laut von sich, der mir die Haare zu Berge stehen ließ.

Die Rolltreppe war vielleicht fünfzig Meter entfernt und führte über einen kleinen Crêpestand nach oben. Max hatte sie als erstes erreicht und flog die Stufen praktisch hinauf. Maik und Aziz gleich hinter ihm.

Und da geschah es.

Ich sah Reese oben an der Balustrade entlang rennen. Er rief etwas, das wir aufgrund der Entfernung nicht verstehen konnten. An der untersten Stufe hielt ich an, spitzte dir Ohren und da sah ich es.

Das Biest war nicht mehr oben auf der Galerie, es hing unter der Rolltreppe, halb versteckt von dem Crêpestand.

„Max!“, schrie ich noch, aber es war bereits zu spät.

Das Monster schwang sich bereits in einer schnellen Bewegung an den Handlauf der Rolltreppe hinauf, krallte sich dabei in Max' Schulter und schmiss ihn seitlich hinunter, während es sich selber hochzog.

Ich bekam gar nicht mehr richtig mit, wie das Biest Maik und Aziz die Treppen rückwärts runter stieß und die beiden Männer auf Shea landeten. Mein Blick haftete auf dem fallenden Mann, auf den aufgerissenen Augen, die in dem Moment, als er mit dem Nacken auf die Kante des Crêpestands fiel leer und glasig wurden.

Dieser dumpfe Klang, mit dem er auf den Boden aufschlug, so endgültig und unwiderruflich, übertönte in meinen Ohren sogar das Knallen der Schüsse.

„Max!“

„Max!“

„Maximilian!“

„Nein“, hauchte ich und blickte wieder auf, als das Monster seinen Triumph hinausbrüllte. Es blutete an ein paar Stellen. Wunden von Streifschüssen. An seinem Leib waren davon mehrere, aber niemand schien es wirklich ernstlich getroffen zu haben. Wie denn auch? Es war verteufelt schnell, viel zu schnell. So etwas hatte ich noch nie erlebt.

Julian rannte an mir vorbei auf Max zu. Devin stand einfach völlig erstarrt daneben.

Von oben rannte Reese herbei, die Rolltreppe runter, vorbei an den Männern am Boden. Die Staatlichen waren direkt hinter ihm – Mace ganz vorne, während Shea, Aziz und Maik wieder auf die Beine kamen.

In dem Moment sprang diese Kreatur der Hölle von der Rolltreppe auf das Dach des Crêpestands. Es brüllte zu mir herunter, zeigte mir seine hässlichen Zähne in voller Pracht und spannte die Muskeln an.

Ich dachte gar nicht weiter nach, riss die Waffe hoch und drückte ab. Im gleichen Moment ertönten von gefühlten hundert anderen Seiten auch Schüsse.

Das Biest kreischte auf. Irgendeine Kugel hatte es ins linke Vorderbein getroffen. Doch das hinderte es nicht daran zu springen. Genau auf mich zu …

Der Ruf von Reese ließ mich den Kopf herumreißen, als mich etwas sehr unsanft in die Seite traf. Ich stürzte, rollte mich herum und verlor dabei meine Waffe.

Hinter mir gab es einen markerschütternden Schrei, der so abrupt endete, wie er begonnen hatte.

Ich wirbelte herum, gerade als das Monster den blutenden Körper von Julian einfach zur Seite warf. Julian, der mich eben zur Seite gestoßen hatte. Julian, der sich nun panisch an die aufgerissene Kehle griff, während das Blut in Strömen aus ihm hinaus floss und den Boden um ihn herum blutrot einfärbte.

Ich merkte gar nicht wie das Biest mich ins Visier nahm.

„Grace!“

Von irgendwo ertönte ein Knall. Im nächsten Moment schmiss Reese sich auf mich und riss mich von den Beinen. Der Aufprall war hart, aber ich hatte keine Zeit mich um meinen Schmerz zu kümmern. Reese rollte mit mir herum, bis er schützend über mir lag. Über uns trommelten die Schüsse der Waffen. Das Monster brüllte auf, eine weitere Kugel musste es getroffen haben.

„Geh verflucht noch mal in Deckung, hast du mich verstanden?!“

Ich sah zu Reese auf. Er atmete genauso schwer wie ich. „Hast du den Verstand verloren? Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, unbewaffnet diesem Monster gegenüberzutreten?!“

Er kniff die Augen leicht zusammen. „Davon abgesehen, dass ich dir keine Rechenschaft schuldig bin, tu einfach was ich dir sage und geh irgendwo in Sicherheit. Am besten verschwindest du aus dem Center, das hier ist eine Nummer zu groß für dich. Und nun los!“

Er gab mir keine Gelegenheit für Widerworte, sprang einfach auf die Beine, als das Schaufenster des großen Gemischtwarenladens in tausend Teile zersprang – eines der wenigen Schaufenster, die bis eben noch heil geblieben waren.

Hastig rappelte ich mich auf die Beine.

Eine verirrte Kugel musste das Schaufenster zerschossen haben. Die Bestie nutzte seine Gelegenheit und sprang hindurch in den Laden hinein, eine Horde Venatoren auf den Fersen.

Wie genau das Folgende dann geschah, konnte ich mir nicht erklären. Ich wusste nur, dass mein Blick sich auf Devin richtete. Er hob gerade die Hand mit der Waffe, als er aus dem nichts zusammenzuckte. Seine Augen weiteten sich ungläubig. Für einen Moment stand er einfach nur da. Stand da mit der erhobenen Waffe und den aufgerissenen Augen und dann knickten ihm die Beine einfach ein.

Seine Hand verlor an Kraft, die Waffe fiel einfach auf den Boden und im nächsten Moment schlug er daneben auf.

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf, verstand nicht genau was da gerade passiert war, aber eines wusste ich bei seinem Anblick sofort. Er war tot. Devin war tot. Seine Augen waren geschlossen, die Glieder in einem unnatürlichen Winkel und seines Brust bewegte sich nicht mehr. Er atmete nicht. Devin atmete nicht mehr, aber man musste atmen. Atem bedeutete Leben, eine stille Brust den Tod. „Devin!“

Ich wusste nicht wie ich neben ihn gekommen war und es interessierte mich auch nicht. Mein Ziel war einzig mich davon zu vergewissern, dass ich mich irrte. Ich musste mich einfach irren. Devin konnte nicht tot sein, aber als ich an ihm rüttelte, gab er keine Regung von sich. Nichts. „Devin, komm schon, mach die Auge auf. Bitte.“ Ich rüttelte an ihm, spürte die Tränen in meinem Augen brennen. Und dann entdeckte ich das Blut. Es war nicht viel. Nicht wie bei Goldberg und auch nicht so wie bei Julian, der nun regungslos neben dem Crêpestand in seinem eigenen Blut badete.

Es war nur wenig, auf seinem Rücken. Ein Einschussloch. Jemand hatte auf ihn geschossen. Nein, das war nicht möglich. Dazu hatte hier niemand einen Grund. Es musste ein Querschläger gewesen sein. Ein Querschläger hatte Devin in den Rücken getroffen und nun bewegte er sich nicht mehr.

„Nein, bitte, nein.“ Die erste Träne lief über meine Wange und tropfte auf seine Stirn. Eine zweite folgte und auch eine Dritte. Eben hatte ich noch mit ihm gesprochen und nun würde er kein Wort mehr von sich geben.

Er war der erste gewesen, der damals in der Akademie mit mir gesprochen hatte. Vielleicht gehörte er nicht zu meinen besten Freunden, aber das war immer noch Devin.

Ich drückte die Hand auf den Mund, um mein Schluchzen zu ersticken. Da hörte ich das Brüllen des Monsters aus dem Laden. Und immer noch waren da Schüsse. Schüsse und schreien und immer wieder dieses Brüllen.

Diese Kreatur, dieses Monster, es war dafür verantwortlich. Ohne diese Bestie würde Devin noch leben. Ohne diese Bestie würden viele Menschen noch leben. Das tote Mädchen in dem Burgerladen. Das Baby und seine Mutter, die alte Dame. Max, Julian und auch Goldberg.

In mir baute sich eine unglaubliche Wut auf. Ich sah rot. Überall wohin ich meinen Blick richtete, war es plötzlich rot. Das würde dieses Biest büßen. Das musste enden, jetzt, bevor es noch mehr Opfer gab.

Ich verbot es mir, ein weiteres Mal zu Devin zu sehen, ignorierte das Blut an meinen Händen. Nur mein Ziel vor Augen kam ich auf die Beine. Meine Waffe hatte ich irgendwo in dem Chaos verloren, aber das war egal. Ich besaß noch andere. Ich wusste genau wie ich es machen musste. Der größte Vorteil dieser Kreatur war seine Schnelligkeit, also musste ich es langsamer machen.

Entschlossen ergriff ich den kleinen Handflammenwerfer. Wenn das Vieh erstmal brannte, dann würde es langsamer werden. Oder vielleicht sogar ganz drauf gehen. Wie war mir völlig egal, Hauptsache diese Sache wurde schnellstmöglich beendet.

Ich kletterte durch das kaputte Schaufenster, schob mit den Füßen die Waren in der Auslage zur Seite und duckte mich dabei hinter einem Klamottenständer. Es wurde nicht mehr so viel geschossen, aber die Luft war immer noch erfüllt vom Knallen der Waffen.

Im Schutz des Ständers bereitete ich den kleinen Flammenwerfer vor. Dann atmete ich noch einmal tief durch. Devins Anblick vor Augen sprang ich aus meinem Versteck und plötzlich geschahen mehrere Dinge zur gleichen Zeit.

Ich wusste nicht woher es kam, aber plötzlich war das Biest in den Reihen der Staatlichen und riss sie alle mit sich zu Boden. Ob er sie dabei verletzte, konnte ich nicht erkennen, dafür waren zu viele Regale dazwischen. Aber da waren eine Menge Schreie und Rufe.

Reese hechtete hinter einem Regal für Gartenbedarf hervor. Dabei stieß er so einen schrillen Pfiff aus, dass sogar mir die Ohren davon schmerzen.

Die Kreatur brüllte verärgert auf, ließ aber von den Staatlichen ab und wandte sich meinem Lehrcoach zu. Der war jedoch schon dabei den Laden zu verlassen.

Ich sprang gerade hervor und wollte ihm noch etwas zurufen, da war er auch schon verschwunden und das Biest machte sich an die Verfolgung. Ohne darüber nachzudenken rannte ich ihnen hinterher. Ich hatte schon Devin verloren, ich würde nicht zulassen dass dieses Monster sich auch noch meinen Coach holte. Doch leider verfing sich meine Jacke beim Klettern durch das kaputte Schaufenster an einer hervorstehenden Stange und riss mich fast zu Boden.

Fluchend machte ich mich wieder los. Doch als ich den Laden endlich verlassen hatte, war von den beiden keine Spur mehr zu sehen. Auf der Suche nach ihnen flog mein Kopf hektisch von einer Seite zur anderen, aber da war nichts. Nur die angespannten Rufe aus dem Laden.

„Komm schon, komm schon, wo bist du?“, murmelte ich und wollte mich gerade nach rechts wenden, tiefer in die Eingeweide des Centers, als ich aus der anderen Richtung einen Knall hörte. Nicht als wäre da geschossen worden, sondern als sei etwas irgendwo reingerannt.

U-Bahn.

Das war das Wort das mir durch den Kopf schoss, als ich losrannte. Diese Richtung führte direkt zur U-Bahnstation.

Er muss durch die U-Bahntunnel gekommen sein. Das Einkaufcentrum hat einen eigenen Zugang zum U-Bahnhof darunter. Über den ist er in das Center eingedrungen und hat alles niedergemäht, was ihm im Weg gestanden hat.

Das hatte Kira gesagt.

Auch ohne diese Worte hätte ich es gewusst. Dieser Teil des Centers war gesäumt von Toten. Dieses Monster hatte auf dem Weg ins Innerste eine Spur aus Blut und Leichen zurückgelassen.

Ich verbot mir, allzu genau hinzusehen, rannte einfach weiter. Immer weiter. Ich musste Reese finden, konnte nicht zulassen, dass noch jemand sein Leben ließ, besonders nicht dieser Blödmann.

Weiter vorne knickte die Ladenstraße leicht nach rechts ab. Dahinter hörte ich ein lautes Scheppern und einen unterdrückten Schmerzenslaut, der nur von Reese stammen konnte. Ich hatte mich also richtig entschieden.

Die Sprühdose mit der Tröte fest im Griff gab ich noch mal alles was in mir steckte und sprintete vorbei an zerstörten Läden um die Ecke.

Hier sah es schlimmer aus, als im ganzen Rest des Centers. Die Waren der Läden lagen über den kompletten Gang verteilt. Kleidung, Schmuck, Haarteile aus einem Trendshop, Zeitschriften aus dem Kiosk, Sprühdosen und Haarpflegeproduckte eines Spezialladens für Friseurbedarf. Es machte den Eindruck als hätten einige der Leute die Panik ausgenutzt um die Läden ein wenig zu plündern und dabei alles was ihnen im Weg war einfach nach draußen geschmissen.

Zwischen den ganzen Waren erblickte ich immer wieder Blut, erschlaffe Gesichter und verrenkte Gliedmaßen. Es war ein Bild des Grauens, wie es nur aus der Hölle stammen konnte.

Und mitten drin in diesem Chaos lag Reese.

Oh Gott, Reese stand nicht, er lag auf dem Rücken!

Er versuchte sich gerade aus seinem Mantel zu befreien. Das Monster hatte ihn am Saum gepackt und zerrte an dem bodenliegenden Mann herum. Aber Reese war nicht so dumm zu versuchen sich loszureißen. Fluchend streckte er einfach die Arme über den Kopf aus und ließ sich den Mantel von den Schultern zerren.

Das Biest beutelte seinen Fang und merkte erst das Reese ihm entkommen war, als dieser sich auf die Beine rollte und schwer atmend ein paar Schritte von ihm wegtaumelte. Dabei drückte er sich die flache Hand auf die rechte Schulter.

Hatte das Vieh ihn etwa erwischt?

Ich war nur noch ein paar Meter von ihm entfernt, als Reese aus seiner hinteren Hosentasche etwas zog, das ich im ersten Moment für seine Waffe hielt. Doch als er es noch vorne richtete, gab es einen blauen Funken und im nächsten Moment gab das Monster ein hohes Kreischen von sich. Es krachte zu Boden. Seine Gliedmaßen zuckten unkontrolliert, aus dem Maul trat Schaum und die Zähne verkrampften sich um das Leder des Mantels.

Nein, das war keine Waffe, das war ein Taser und der schickte seine volle Ladung gerade in diese Bestie. Doch er hatte nicht richtig getroffen. Durch die Spasmen rissen die Kabel aus der Haut. Das Biest wimmerte, versuchte sich auf wackligen Beinen zurückzuziehen.

Das war meine Chance. Ich riss die Sicherung des kleinen Flammenwerfers heraus, stürzte auf das Monster zu und in dem Moment geschah es. Es sprang wieder auf die Beine und warf sich zähnebleckend auf Reese. Das ging so schnell, dass er gar keine Chance hatte zu reagieren und einfach mit zu Boden gerissen wurde.

Ich dachte gar nicht darüber nach was ich da tat, drückte einfach den Auslöser der Sprühflasche und setzte damit die Stichflamme frei. Dabei wurde sie so heiß, dass ich sie mit einem Schrei fallen ließ.

Das Biest wurde getroffen und sprang kreischend zur Seite. Reese rollte sich weg und die Flasche knallte auf den Boden. Dabei steckte sie die Klamotten in Brand. Die Zeitschriften und Kleidung der Toten gingen in Flammen auf. Die verstreuten Waren brannten wie Zunder. Es passierte so schnell, dass ich nicht wusste wie mir geschah.

Erst nur kleine Flammen, dann immer größere. Sie griffen auf alles über, dessen sie habhaft werden konnten.

Das Monster zischte und fixierte mich.

Reese wandte den Kopf fluchend in alle Richtungen.

Und dann kam meine Chance. Das Feuer breitete sich über ein paar Zeitschriften hinter der Bestie aus und züngelte nach seinem Schwanz. Panisch drehte es sich herum, schrie dabei einen Laut, der sich in meinen Ohren fast wie ein Wort anhörte.

Ich rannte einfach auf dieses Vieh zu, wollte es in die Flammen stoßen, um dem Ganzen ein Ende zu machen. Es war abgelenkt, es sah mich nicht kommen. Ich streckte meine Hände aus …

In diesem Moment packte Reese mich an der Taille und riss mich zurück.

„Nein!“

„Wir müssen hier raus, bevor der ganze Schuppen in Flammen aufgeht!“ Er zerrte mich von dem Monster weg, zurück in Richtung Kuppel.

„Nein, wir müssen es beenden!“

Das Biest trat langsam den Rückzug an. Immer weiter wich es vor den Feuerzungen zurück, die gierig nach seiner Haut leckten. Seine Augen waren in Panik geweitet. An manchen Stellen war sein Körper angesengt.

„Wir müssen hier weg!“

Über uns knackte es drohend.

Wir richteten beide den Blick nach oben.

Ich wusste nicht, wie es möglich war. Eigentlich sprach das gegen alle physikalischen Gesetze, dass sich das Feuer so schnell ausbreitete, aber mittlerweile standen wir in einem halben Flammenmeer und das Feuer frass sich mit rasender Geschwindigkeit weiter durch die Ladenstraße. Der Rauch brachte mich zum Husten und erschwerte mit jeder verstreichenden Sekunde meine Sicht. Ich spürte die Hitze auf meiner Haut, fühlte sie drohend auf mich zukommen. Reese hatte Recht, wir mussten hier raus.

„Es tut mir leid“, flüsterte ich in Gedanken an Devin.

Reese packte meine Hand, riss mich hinter sich her, weg von den Flammen, aber ich konnte den Blick nicht von dem Monster abwenden. Es war eingeschlossen. Vor ihm türmte sich das Feuer und kroch immer weiter auf ihn zu. Hinter ihm versperrten ihm verschlossene Glastüren den Weg zurück zum Zugang zur U-Bahn. Vielleicht hatten wir ja Glück und es würde qualvoll zu Grunde gehen.

Im Lauf warf ich dieser Bestie einen hasserfüllten Blick zu. Ich konnte sehen, wie es sich nach einer Fluchtmöglichkeit umsah, während es immer weiter zurück wich. Solange, bis es mit dem Hintern gegen die Glastüren stieß. Es zeigte mir die Zähne und gerade in dem Moment, als Reese mich um die Ecke ziehen wollte, drehte es sich herum und sprang gegen die Glastüren.

„Nein!“ Ich riss mich von Reese los, musste stehen bleiben um zu sehen was geschah. Die Türen hatten gehalten, aber das Biest sprang immer und immer wieder dagegen. Dabei leckten die Feuerzungen an seinem Körper.

Bitte, es durfte nicht entkommen. Es musste sterben.

„Grace!“ Reese schnappte sich meine Hand, aber ich ließ mich nicht wegziehen.

„Wir müssen es töten!“

„Und wie?! Willst du durch das Feuer und den Proles erwürgen?“

Wenn ich das könnte, würde ich es glatt tun, aber wir wussten beide wie unrealistisch das war. Wir konnten es nicht erreichen, nicht durch die Flammen. Da kam mir eine Idee. Sie war so einleuchtend, so simpel, dass ich mir am liebsten in den Hintern getreten hätte, weil ich nicht gleich darauf gekommen war. „Gib mir deine Waffe.“

„Was?“

Das Biest sprang wieder gegen die Tür. Sie wackelte drohend. Lange würde sie nicht mehr halten.

„Deine Waffe! Ich hab meine verloren. Es ist eingeschlossen, es kann nicht abhauen. Wir können es erschießen. Schnell, bevor die Tür nachgibt!“

Ein paar Meter entfernt gab es eine kleine Explosion. Eine der Sprühflaschen aus dem Spezialladen für Friseurbedarf hatte der Hitze nicht länger Stand gehalten und war unter dem Druck einfach geborsten. Eine Zweite folgte der ersten. Und eine dritte und vierte.

Ich duckte mich weg, versuchte der aufkommenden Hitze zu entkommen, ließ das Monstrum dabei aber nicht aus den Augen. Die Flammen schlugen immer höher. Sie leckten an den Wänden hinauf, berührten die Decke.

Wieder eine Explosion. Und noch eine. Eine Flasche mit Haarfestiger flog quer an mir vorbei. Wenn das so weiter ging, würde uns gleich das ganze Center um die Ohren fliegen. „Reese!“

Er zögerte nicht länger, zog seine Waffe aus dem Holster und richtete den Lauf auf das schreiende Biest.

Der Knall dröhnte laut in meinen Ohren, doch was dann geschah, konnte ich kaum fassen. Reese verfehlte das Vieh. Die Kugel drang nicht in den Kopf des Monsters ein, sondern zerschlug das Glas der Tür direkt daneben. Es brach unter lautem Klirren, die Scherben rieselten zu Boden und diese Kreatur nutzte sofort seine Gelegenheit und sprang durch das zerbrochene Glas.

„Nein!“ Das durfte doch nicht wahr sein. Das konnte ich einfach nicht glauben. „Du hast es verfehlt!“ Und ich konnte nur noch zusehen, wie es durch die kleine Vorhalle in den Zugang zur U-Bahnstation verschwand.

Reese presste nur die Lippen aufeinander, steckte die Waffe weg und griff meine Hand fester. „Komm jetzt.“

Das konnte einfach nicht möglich sein.

Während Reese mich von den Flammen wegzog, die unaufhaltsam in unsere Richtung krochen, konnte ich meinen ungläubigen Blick nicht von der Stelle wenden, an dem das Vieh verschwunden war. Reese hatte es verfehlt. Er hatte das Glas getroffen und diesem monströsen Proles damit die Flucht ermöglicht.

Ich hatte mich geirrt. Ich hatte nicht glauben können, dass für so viel Leid ein einziges Proles verantwortlich sein konnte, aber es war so. Nur ein Wesen, von solcher Grausamkeit, das es dafür keine Worte gab.

Und es war entkommen.

 

°°°

 

„Hier.“

Ich sah zu dem Sanitäter mit dem gutmütigen Lächeln auf und nahm von ihm dankend die Wasserflasche entgegen. Noch immer herrschte hier heilloses Durcheinander, doch langsam schafften die Helfer es ein wenig Ordnung in das Chaos zu bringen.

„Soll ich mir mal ihren Arm ansehen?“

Meinen Arm? Ich schaute nach. Tatsächlich, da klebte Blut. Aber … ich drückte die Lippen fest aufeinander. Das musste noch von Devin sein. Devin der jetzt tot war, genau wie so viele andere. Tot wie Goldberg, Max, Julian, Sheas Partner und siebenundzwanzig Venatoren von den Staatlichen. Die Zahlen der Opfer unter den Zivilisten waren noch nicht genau bekannt, aber es waren weit über zweihundert, dass wusste ich bereits.

In meinem Hals bildete sich ein dicker Kloß, an dem ich versuchte die aufkommenden Tränen vorbei zu schlucken. „Nein, ich bin nicht verletzt“, sagte ich schwach. „Das Blut ist nicht von mir.“

„In Ordnung.“ Er wollte sich schon abwenden, zögerte dann aber. „Wenn Sie etwas brauchen, dann sagen Sie mir Bescheid.“

„Okay.“ Ich sah nicht auf, als er sich von mir entfernte, wollte nicht sehen, was um mich herum los war. So viel Leid, so viel Schmerz.

Das Schlimmste war, ich hatte versagt. Dieses Monster lebte noch immer. Es hatte hunderte von Menschen getötet, es war schuld daran, dass Devin tot war, aber es selber lebte noch. Das war nicht gerecht. Es hatte Kugeln überlebt, Schnittwunden und Feuer. Es war nicht unverwundbar, aber es war verflucht schnell. Und dann war es durch Reese' Missgeschick auch noch entkommen.

Wie hatte das nur passieren können? Das Biest hatte ganz ruhig gestanden, war vom Feuer eingekesselt gewesen. Freies Schussfeld und trotzdem hatte Reese danebengeschossen.

Reese traf immer. Ich hatte noch nie erlebt, dass er bei so guten Bedingungen nicht getroffen hätte. Das war einfach nicht möglich. Es war absurd, aber es hatte fast den Anschein, dass mein Lehrcoach mit Absicht das Glas zerschossen und diesem unsagbaren Proles damit zur Flucht verholfen hatte. Aber das ergab absolut keinen Sinn. Warum sollte er sowas tun? Ich musste mich einfach täuschen. Ich war aufgewühlt, von all dem was geschehen war. Das war einfach zu viel für einen Tag gewesen und jetzt sah ich schon Hirngespinste. Außerdem war ja auch alles so schnell gegangen. Selbst meinem Lehrcoach konnte ein Fehler unterlaufen. Und dann war da überall Feuer gewesen und die Luft erfüllt vom beißenden Rauch.

Ich drehte die Wasserflasche zwischen meinen Händen hin und her. Dabei hob ich meinen Blick auf der Suche nach meinem Lehrcoach. Seit er mich hier beim Sanitätsfahrzeug abgesetzt hatte, war er verschwunden. Er hatte sich nur noch mein Handy geben lassen, um mit der Gilde zu telefonieren – seines steckte noch in seiner Manteltasche und war wahrscheinlich zusammen mit der Jacke verbrannt.

Ich hatte schon ein paar Mal nach ihm Ausschau gehalten, aber außer dem Seiteneingang zum Center und ein paar Helfern gab es nicht viel zu sehen, nicht mehr seit wir mit den anderen Venatoren im Schlepptau eilig das Gebäude verlassen hatten.

Keiner von ihnen hatte mitbekommen, wie das Feuer ausgebrochen war, zu sehr waren sie mit der Versorgung der Verletzten beschäftigt gewesen. Kira hatte erst bemerkt, dass Reese und ich verschwunden waren, als der Rauchgeruch zu ihnen gedrungen war. Auf halbem Wege waren sie uns entgegen gekommen, aber für Erklärungen war keine Zeit geblieben.

Ich senkte den Blick wieder auf die Flasche. Reese hatte einfach nur befohlen so schnell wie möglich das Gebäude zu räumen, dann waren wir auch alle schon gerannt. Und da der unbekannte Proles weder gefangen noch eliminiert worden war, galt die ganze Zone vorerst noch als Gefahrenzone der Stufe Rot. Das hieß, niemand betrat das Gebäude ohne Begleitung der Venatoren, aber von denen gab es jetzt viel weniger. Man hatte sogar die Venatoren aus den anderen Schichten und aus ihren freien Tagen geholt, um die Sache hier endlich in den Griff zu bekommen. Aber außer dass festgestellt wurde, dass unser Gesuchter durch die U-Bahntunnel verschwunden war, war noch nichts passiert. Daher war es fraglich, ob das Biest heute noch gefunden werden würde. Vorerst war es jedenfalls verschwunden und damit stand ich wieder am Anfang.

Ich hatte versagt.

Ich war hier, um etwas besser zu machen, aber ich hatte es nicht geschafft. Meine erste, harte Bewährungsprobe und ich hatte nicht nur zugelassen, dass unschuldige Menschen starben, sondern auch noch alles versaut. Hätte ich nur nicht meine Waffe verloren, dann wäre alles vielleicht anders gekommen.

Meine Hände verkrampften sich so stark um die Wasserflasche, dass meine Knöchel weiß hervorstachen. Der Kloß in meinem Hals wurde immer größer. Meine Augen brannten und mein Magen fühlte sich an, als müsste ich mich gleich übergeben.

Ich. Hatte. Versagt.

Wütend über mein eigenes Scheitern warf ich die Wasserflasche von mir und konnte gerade noch ein Schluchzen unterdrücken.

Die Flasche flog quer über die Straße und krachte gegen ein Polizeiauto neben dem Ü-Wagen von Kanya Witmer, die sich heute zum Glück von mir ferngehalten hatte. Ich bekam ein paar böse Blicke, aber ich sah offensichtlich so fertig aus, dass sie es einfach dabei beließen. Ein toller Anblick war ich nach dem ganzen Terror sicher nicht mehr.

Mit zusammengedrückten Lippen wandte ich den Blick ab und sah wie Reese hinter dem Übertragungswagen hervor trat. Im ersten Moment hätte ich ihn fast nicht erkannt, was nicht nur daran lag, dass sein Mantel fehlte und er nur noch einen Rollkragenpullover trug. Auf seinem Rücken hatte er einen großen Rucksack, über der Schulter ein Fangnetz und das Gesicht zeigte nicht die kleinste Regung, als er mit entschlossenem Blick an dem Sanitätsfahrzeug vorbei marschierte. Er schien vergessen zu haben, dass er mich hier abgesetzt hatte. Er schien um sich herum eigentlich kaum etwas mitzubekommen. Aber ein Ziel, das schien er vor Augen zu haben.

Seine Schritte waren zielstrebig, seine ganze Haltung sagte, dass ihn nichts aufhalten konnte. Etwas daran machte mich misstrauisch. Was hatte er nur vor?

„Reese?“ Ich streckte den Hals ein wenig. „Reese!“

Den zweiten Ruf hörte er. Sein Blick huschte kurz in meine Richtung, aber er hielt nicht an, oder wurde wenigstens langsamer. Er drehte sich einfach wieder weg und lief weiter, riss die Tür zum Seiteneingang auf und verschwand darin.

Was war das denn jetzt?

Ich wusste nicht genau was es war, das mich dazu bewog aufzustehen und ihm zu folgen. Es war einfach ein nagendes Gefühl, das sich neben dem drückenden Gefühl in meinem Magen breit machte. So entschlossen wie er gewirkt hatte … da stimmte etwas nicht.

Keiner beachtete mich, als ich in die kleine Vorhalle trat, die auch das Monster auf seiner Flucht zur U-Bahn durchquert hatte. Auf dem Boden konnte ich sogar noch den einen oder anderen Blutfleck entdecken, den es hinterlassen hatte. Zahlreiche Füße hatten sie verschmiert und auch den Dreck von den Löscharbeiten hier hindurch getragen, aber ein paar Flecken waren noch übrig und diese verliefen die Rolltreppe hinunter zur U-Bahn.

Auf der Suche nach Reese wandte ich den Kopf einmal umher, aber hier oben war er nicht. In mir machte sich ein ganz ungutes Gefühl aus. Er würde doch nicht …

Hastigen Schritts eilte ich die Rolltreppe zum U-Bahnhof hinunter. Sie war außer Betrieb, aber wahrscheinlich eher, weil sie abgestellt wurde, als wegen einem Defekt.

Leere U-Bahnhöfe hatte ich schon immer gespenstig gefunden. Der große leere Raum, mit den tausend Schatten in der schlechten Beleuchtung. Die unheimliche Stille, die Echos und plötzlichen Geräusche, die immer von überall und nirgends zu kommen schienen. Doch am Schlimmsten waren diese Tunnel. Tiefe Schlünde, finster wie die Nacht, in der Monster hausten – nicht Proles, sondern die Monster, die auch unter Kinderbetten lauerten. Aber das hier war ein ganz anderes Kaliber.

Es war nicht leer. Es war nicht still. Es war nicht dunkel. Doch in der Atmosphäre lauerte noch der Tod.

Der ganze Bahnhof war mit Scheinwerfern ausgestrahlt, damit man auch die hintersten Winkel einsehen konnte. Polizisten, Feuerwehrleute und Venatoren, sie alle hatten hier unten zu tun. Gespräche, Geräusche ihrer Tätigkeiten. Dieser Bahnhof war belebt, doch gleichzeitig völlig ausgestorben.

Dieser Gedanke verursachte mir eine Gänsehaut. Ich fröstelte richtig und rieb mir über die Arme, während ich mich nach Reese umsah. Normalerweise war es nicht schwer ihn selbst in großen Menschenansammlungen ausfindig zu machen. Das hatte nicht nur etwas mit seiner Körpergröße zu tun, sondern hauptsächlich mit seinem Mantel. Aber der war nun weg. Vielleicht übersah ich ihn deshalb mehrere Male, bis mir klar wurde, dass er der Kerl hinten am Tunnel war, der nach einem kurzen, wachsamen Blick über die Schulter auf dem schmalen Steg im Tunnel verschwand.

Ich runzelte die Stirn. Er würde doch nicht wirklich … nein, so dumm konnte er nicht sein. Aber falls doch …

Ich beeilte mich, hinter ihm herzukommen und hielt mich auch nicht lange damit auf, einen Blick über die Schulter zu werfen um hier unbemerkt wegzukommen. Erst an der Öffnung zum Tunnel zögerte ich einen Moment. Hier gab es keine Beleuchtung. Bis auf den hüpfenden Lichtkegel da hinten war alles Dunkel.

„Reese?“

Der Lichtkegel hielt inne.

Hatte ich es also richtig erkannt, eine Taschenlampe. Nun warf ich doch einen kurzen Blick über die Schulter, bevor ich entschlossen in den Tunnel trat und eilig auf Reese zuging. „Was machst du hier? Du jagst doch nicht wirklich alleine hinter diesem Monster hinterher, oder?“

Ich konnte hören, wie er einmal tief durchatmete, bevor er sich zu mir umdrehte. Den Lichtkegel ließ er dabei auf dem Boden und hüllte sein Gesicht damit in Schatten. „Die wichtigere Frage ist doch, verfolgst du mich?“

„Ja, das tue ich. Und jetzt hätte ich gerne eine Antwort auf meine Frage.“ Ich blieb direkt vor ihm stehen, musterte das Wenige von ihm das ich erkennen konnte und hoffte wirklich, dass er die Fangausrüstung nicht aus dem Grund bei sich trug, den ich befürchtete.

„Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.“ Vor seinem Gesicht glühte das rötliche Schimmern einer Zigarette auf.

„Du willst dieses Vieh jagen.“

Er zuckte nur mit den Schultern, aber die Anspannung war nicht zu verkennen. „Es muss gefunden werden. Es ist zu gefährlich, um es länger hier draußen rumrennen zu lassen. Jetzt ist die Spur noch frisch.“

Also doch. Er war wirklich hier unten um dieses Vieh zu stoppen. „Bist du von allen guten Geistern verlassen? Dieses Vieh hat heute hunderte von Menschen getötet. Wegen ihm ist Devin tot und auch Max! Willst du dich auf die Liste zu ihnen gesellen, oder warum gehst du alleine?“

Reese seufzte und schnipste den Stummel seiner Zigarette in die Schienen. Sie würden noch ein paar Stunden unbefahren bleiben. „Geh nach Hause Shanks. Ruh dich aus, du kannst es gebrauchen.“

„Ausruhen? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Und was machst du? Du kannst dich diesem Vieh nicht alleine stellen! Es ist zu gefährlich! Wie kommst du überhaupt auf eine so dumme Idee?!“

„Also ersten habe ich alleine schon immer besser gearbeitet als im Team. Zweitens. Als ich dem Vieh alleine hinterher bin, hatte ich es fast gehabt und drittens hast du heute eigentlich sowieso frei, also geht dich das Ganze gar nichts an. Geh nach Hause, ich erledige das.“ Er wollte sich umdrehen, aber ich hielt ihn an seinem Pullover fest und spürte daher, wie er zusammen zuckte. War er etwas verletzt?

„Ich gehe hier nicht ohne dich weg, nur damit das klar ist. Ich werde nicht zusehen, wie du in deinen Tod rennst, weil du plötzlich Heldenkomplexe entwickelst. Wenn du gehen willst, okay, aber nicht alleine.“

„Ach und wer bitte soll mich begleiten? Du?“

Oh, für diesen höhnischen Ton hätte ich ihm am liebsten wehgetan. „Nicht ich alleine, aber das wäre schon Mal ein Anfang.“

Er schnaubte nur. „Ich nehme weder dich noch einen anderen mit. Allein habe ich eine größere Chance, es zu fangen.“

„Fangen?“ Ich starrte ihn ungläubig an. Das war doch nicht sein Ernst, oder? Das konnte nicht sein Ernst sein. Mein Blick glitt auf das Netz über seine Schulter und den schweren Rucksack auf seinem Rücken. „Du willst dieses Monster fangen? Bist du noch ganz dicht?!“ Die letzten Worte schrie ich ihm beinahe ins Gesicht. Er wollte es fangen? Das war einfach kaum zu glauben!

„Er ist ein unbekannter Proles. Er muss nach Historia. Du kennst die Regeln. Und hör auf es als Monster zu bezeichnen, es ist ein Abkömmling.“

„Ein monströser Abkömmling! Verdammt Reese, du kannst doch nicht …“

„Schluss jetzt!“, unterbrach er mich rüde. „Geh zurück, ich erledige das hier.“

„Nein, das werde ich nicht, ich …“

„Geh!“, brüllte er mir so laut ins Gesicht, dass ich vor Schreck wirklich einen Schritt vor ihm zurück wich. „Verschwinde jetzt, ich habe zu tun!“ Er wirbelte herum und stampfte tiefer in den Tunnel hinein.

„Tu das nicht, Reese, bitte.“ Ich wollte heute nicht noch jemanden verlieren, es waren einfach schon zu viele Menschen gestorben. „Bitte“, fügte ich noch einmal hinzu.

Er blieb nicht stehen, drehte sich nicht herum, oder reagierte mit Worten. Er verschwand einfach in der Dunkelheit bis nur der Lichtkegel der Taschenlampe zu erkennen war.

Er ging wirklich. Er setzte sich der Gefahr aus – ganz alleine. In diesem Moment traten mir die Bilder von dem toten Mädchen und der alten Frau ins Gedächtnis. Ich sah das Baby und seine Mutter, sah Max und Julian. Goldberg und hundert anderer toter Gesichter, denen ich heute begegnet war. Und ich sah Devin.

In der plötzlichen Angst Reese nie wieder zu sehen, begann mein Herz wie wild zu rasen. Ich konnte ihn nicht alleine gehen lassen, das war einfach zu gefährlich. Aber es musste ja auch gar nicht wissen, dass ich ihn begleitete. Ich würde mich nur im Notfall zeigen.

Entschlossen setzte ich meine Füße in Bewegung.

Nein, dieses Monster würde heute niemanden mehr töten.

Das schwor ich mir.

 

°°°

 

Mit klopfendem Herzen drückte ich mich ganz platt in die flache Nische und betete zum gefühlten tausendsten Mal, dass mich der Zug nicht mitreißen würde. Immer wieder schossen diese gelben Monster an mir vorbei und ich hatte mich schon mehr als einmal unter ihren Rädern gesehen. Warum nur hatte dieser blöde Proles in die U-Bahntunnel fliehen müssen? Ich hasste es mit jedem Atemzug mehr.

Wie lange war ich jetzt eigentlich schon hier unten? Die Dunkelheit raubte einem jegliches Zeitgefühl. Ich wusste nur, dass ich seit Ewigkeiten hinter Reese herschlich. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass ich ihm die ganze Zeit mit reichlich Abstand gefolgt war. Der wandernde Lichtkegel seiner Taschenlampe war dabei mein einziger Orientierungspunkt.

Das Donnern des Zugs verklang und ich konnte wieder etwas aufatmen, aber mein Herzschlag wollte sich nicht so einfach beruhigen. Es fürchtete wohl immer noch, von einem dieser gelben Ungeheuer einfach mitgerissen zu werden. Aber wenn ich Reese nicht aus den Augen verlieren wollte, blieb zum Ausruhen keine Zeit. Und ich hatte auch nicht wirklich Lust darauf, hier unten alleine herumzuirren. Deswegen gestattete ich es mir noch einmal tief durchzuatmen, bevor ich um die Ecke der kleinen Nische spähte und mein Herz damit ein weiteres Mal zum Rasen brachte.

Mist, der Lichtkegel bewegte sich auf mich zu! Hastig zog ich den Kopf zurück. Wenn Reese mich hier entdeckte, würde es ein Donnerwetter geben. Und dann würde er mich erneut wegschicken und alleine hier unten herumrennen, konnte ich nicht zulassen. Also hielt ich ganz still und sperrte die Ohren weit auf.

Es war still genug, um seine Schritte zu hören. Sie kamen auf mich zu, entfernten sich dann wieder ein Stück um sich umzudrehen und wieder auf mich zuzukommen. Was machte er da? Hatte er die Spur verloren? Dann war alles ruhig. Ich wartete einen Moment und noch einen, aber alles bleib ruhig. War er weitergegangen?

Wagemutig erlaubte ich es mir, in einem Moment der Ruhe, noch einen Blick um die Ecke zu riskieren und bekam fast einen Herzstillstand. Ich blickte direkt in Reese' wütendes Gesicht.

Hastig zog ich den Kopf wieder zurück und presste mich wieder gegen die kalte Wand. Wenn ich ganz großes Glück hatte, hatte er mich nicht gesehen. Bitte, bitte, bitte …

„Willst du mich verarschen?!“

War ja klar.

Wie ein Berserker trat er vor mich und hielt mir den Strahl der Taschenlampe direkt ins Gesicht. „Hab ich dir nicht klar und deutlich gesagt, dass du nach Hause gehen sollst?!“

„Könntest du dieses Ding bitte aus meinem Gesicht nehmen?“ Ich drückte die Taschenlampe herunter.

„Das ist doch … das …“ Er fuchtelte mit den Händen vor mir herum und schien nicht zu wissen, was er sagen sollte.

Mein Gott, dass ich diesen Tag noch erleben durfte. Ein sprachloser Reese. Das war wirklich unglaublich. „Ich konnte dich nicht allein gehen lassen, okay?“ Ich sah ihm direkt ins Gesicht, versuchte die Wut in seine Augen zu ignorieren. „Es ist gefährlich und … und ...“ Einen kurzen Moment drückte ich die Lippen aufeinander. „Es sind heute schon genug Menschen gestorben und wenn dir etwas passiert wäre … ich hätte es mir nicht verzeihen können.“

„Das ist doch … Scheiße. Verdammt, Shanks, ich mache das hier schon seit Jahren, das ist mein Job! Ich jage Proles!“

„Ich weiß, aber … keine Ahnung, dieser Proles ist irgendwie anders. Ich dachte … ich wollte nur für den Notfall da sein, als Rückendeckung sozusagen. Du solltest mich gar nicht sehen. Wenn alles gut gegangen wäre, dann … naja. Dann hättest du nicht erfahren sollen …“ Den Rest des Satzes ließ ich offen.

Reese ließ nicht erkennen, was in seinem Kopf vor sich ging. Schweigend nahm er einfach meine Hand und zog mich aus der Ecke.

Diese Geste überraschte mich so sehr, dass ich ihn einfach gewähren ließ. Ich gab keinen Ton von mir, als er mich hinter sich herzog. In diesem Moment war ich auch gar nicht fähig dazu. Es war, als hätte ich das Sprechen verlernt. Dieses Verhalten war so untypisch für ihn, dass ich absolut nichts damit anfangen konnte.

Reese führte mich den schmalen Steg am Rand ein Stück entlang, bis wir zu einer Tür mit der Aufschrift Versorgungsraum kamen. Sie war nicht verschlossen und so fand ich mich kurz darauf in einem kahlen, dunklen Raum wieder.

Ich tastete nach dem Lichtschalter. „Funktioniert nicht.“

„Den brauchen wir nicht.“ Reese ließ meine Hand los und ließ das Netzt und den Rucksack auf den Boden gleiten und gab ein erleichtertes Geräusch von sich.

„Was hast du?“

„Nur eine Prellung an der Schulter.“

Er war verletzt und ging trotzdem alleine auf die Jagd? Oh ja, in diesem Moment hatte ich wirklich das brennende Bedürfnis ihm eine zu kleben.

„Und jetzt komm her.“

Warum bitte schlug mein Herz bei dem weichen Ton seiner Stimme plötzlich schneller? „Herkommen?“

„Herkommen. Zu mir.“ Er deutete mit dem Strahl seiner Taschenlampe direkt neben sich.

„W-wieso?“

„Damit ich dich loswerde und endlich weiter kann.“

„Bitte?“ Das hatte jetzt überhaupt keinen Sinn ergeben.

„Da ist eine Steigleiter zu einem Versorgungsraum weiter oben, aber hier gibt es kein Licht“, erklärte er mir, als hätte er es mit einer Minderbemittelten zu tun. „Ich habe eine Taschenlampe, eine Taschenlampe macht Licht. Das heißt ich kann dir den Weg leuchten, verstanden?“

Oh, ich hasste es wenn er so von oben herab mit mir sprach.

„Was hast du denn geglaubt, was ich damit meine?“

Das würde ich mit Sicherheit nicht sagen.

Als ich keinen Ton von mir gab und einfach nur peinlich berührt auf den Boden starrte, hielt er mir den Strahl der Taschenlampe ins Gesicht. „Shanks?“

„Ja, ich … ich …“

„Ich was? Was ist denn …“ Und da schien er wohl die Rötung auf meinen Wagen zu bemerken. „Du dachtest doch nicht etwa ich hab dich hier reingezerrt, um über dich herzufallen, oder?“

„Natürlich nicht.“ Das wäre doch lächerlich. Jedenfalls so wie er es klingen ließ. Ich wusste auch nicht woher der Gedanke gekommen war, aber es war einfach so. Wir waren allein – nicht dass das nicht regelmäßig geschah – und es war dunkel – das geschah definitiv nicht regelmäßig – und da war mir dieser eine Kuss zwischen uns einfach in den Sinn gekommen.

„Und warum bitte stehst du dann immer noch dahinten, anstatt endlich …“

Ein plötzliches Scheppern hinten im Raum ließ uns beide herumfahren. Der Strahl der Taschenlampe tastete hastig jede Oberfläche ab, doch der Raum lag ruhig vor uns. Wir konnten nicht einmal die Herkunft des Lärms ausfindig machen.

„Vielleicht nur eine Ratte“, überlegte ich. „Eine sehr große Ratte.“

Und in dem Moment hörten wir das tiefe Knurren.

Wir wirbelten beide herum.

„Das muss aber eine verdammt große Ratte sein“, kommentierte Reese und wich ein paar Schritte in meine Richtung zurück. Dabei zog er seine Waffe und zielte damit in Richtung der Quelle des Geräuschs.

Über seine Worte wollte ich gar nicht so genau nachdenken. Daher behielt ich lieber den Lichtkegel im Auge, der langsam den Boden abtastete. Als erstes fiel mir auf, dass hier drinnen schon lange nicht mehr sauber gemacht worden war. Und dann sah ich etwas, dass mich viel mehr beunruhigte. „Ist das Blut?“

„Es sind auf jeden Fall keine Kekse.“

Der Strahl wanderte höher und in dem Moment als wir endlich der Herkunft entdeckten, sah ich vor meinem inneren Auge wieder Devin sterben. Das war nicht möglich. Das war zu viel des Zufalls. Das konnte es einfach nicht geben. „Ich hab Halluzinationen.“

„Dann habe ich die auch.“ Reese Ton war angespannt, als er langsam seitlich zu seinem Netz schritt und dabei versuchte den Strahl der Taschenlampe ruhig zu halten.

Ich stand immer noch da und wusste nicht was ich denken sollte. Dort hinten, halb unter einem umgekippten Schaltschrank lag das Monster, dass heute so viele Menschenleben gekostet hatte. Es sah aus, als hätte es versucht auf den Schrank zu klettern um oben durch den Lüftungsschacht zu verschwinden und sei dann umgefallen. Dabei hatte es sich unter dem Schrank eingeklemmt und knurrte nun warnend in unsere Richtung.

„Hier, halt die Mal.“ Reese hielt mir die Taschenlampe direkt vors Gesicht. In seiner Hand hielt er das stabile Netzt mit dem eingearbeiteten Drahtgeflecht.

„Du willst es wirklich fangen?“

„Natürlich. Ich brauche es und jetzt nimm verflucht noch mal die blöde Lampe!“

Meine Stirn legte sich in Falten. Was war denn nun los? Und was zum Teufel hieß ich brauche es?

Ungeduldig drückte er sie mir in die Hand, breitete dann das Netz aus und bewegte sich langsam auf das Biest zu.

Es knurrte und zischte uns an, beobachtete jede unserer Bewegungen. Der Schrank schepperte laut, als es versuchte sich darunter hervorzuziehen.

Wie war er eigentlich in diesen Raum gekommen? Okay, er war nicht abgeschlossen gewesen, aber die Tür war zu und es gab keine Hinweise auf ein gewaltsames Eindringen eines Proles.

„Hier nimmt dein kleiner Ausflug nun ein Ende.“ Reese warf das Netz und begrub die Bestie darunter.

Es brüllte auf, schlug mit den Pranken danach und verfing sich mit den Krallen darin. Wieder schepperte der Schrank. Und noch mal. Jetzt hatten wir es echt sauer gemacht.

Ohne das tobende Biest aus den Augen zu lassen, trat Reese zu mir und begann an meinem Arbeitsbag herumzufummeln.

„Was machst du da?“

„Ich will deine Betäubungspfeile haben.“

„Was? Die sind doch viel zu klein. Die werden das Vieh nicht mal jucken.“

„Hast du eine bessere Idee?“

„Ja, lass es uns einfach abknallen!“ Nachdem was es heute getan hatte, nachdem Devin wegen dieser Kreatur tot war, hatte es das mehr als nur verdient. „Historia kann sich dann mit den Überresten begnügen und niemand läuft mehr Gefahr getötet zu werden.“

Reese beachtete diese Worte gar nicht. Er holte die Pfeile und das Blasrohr heraus, brachte sich in Position und atmete einmal tief ein.

Ich beobachtete jede seiner Regungen genau, sah wie der Pfeil aus dem Rohr schoss und zielsicher in der Haut dieses Monsters stecken blieb.

Es brüllte verärgert auf, wand sich immer Heftiger unter dem Schrank.

Reese lud den Pfeil erneut und traf ein zweites Mal.

Das Monster schlug mit den Pranken in unsere Richtung. Der Schrank wackelte und Schepperte. Er rutschte ein Stück zur Seite und genau in dem Moment als Reese den dritten Pfeil in das Blasrohr steckte, geschah es. Das Biest stemmte sich hoch und der Schrank fiel mit einem lauten Knall zur Seite.

„Pass auf!“, schrie ich.

Allein das Netz verhinderte, dass es sich auf uns stürzen konnte. Es verfing sich und geriet ins Stolpern.

Ich sprang zur Seite um nicht erwischt zu werden und rammte dabei ausversehen Reese. Der Pfeil fiel aus dem Rohr und rollte weg.

„Scheiße!“ Reese riss mich weiter nach hinten, als das Biest wieder auf die Beine kam. Es riss und zerrte an dem Netz, versuchte sich davon zu befreien, während Reese hektisch in seiner Hosentasche herumkramte.

„Was machst du? Nimm deine Waffe!“ Ich hätte ja meine eigene gezogen, aber die war im Center verloren gegangen und bisher hatte ich noch keinen Ersatz bekommen.

„Nein!“

In dem Moment hörte ich das Reißen.

Die Kreatur der Hölle brüllte auf, riss das Netz mit den Zähnen von seinem Körper. Der eingearbeitete Draht schnitt ihm ins Fleisch, aber es hörte nicht auf.

„Reese!“

„Ich muss es lebend fangen!“ Er zog eine Taserpatrone aus der Tasche, stürzte dann zu dem Rucksack, um das passende Gegenstück herauszukramen.

„Das ist doch wohl nicht dein Ernst!“

Wieder ein Reißen.

Ich wirbelte herum und konnte nur noch zusehen, wie das Biest das Netz von sich warf. Dann stürzte es auch schon auf uns zu.

Ohne zu zögern griff ich nach der Waffe in Reese' Schulterholster, entsicherte sie und zog den Abzug durch. In diesem Moment schlug Reese meinen Arm zur Seite. Der Schuss knallte überlaut in dem kleinen Raum wieder.

Mein Lehrcoach riss mich hinter sich, keine Sekunde zur früh. Das geifernde Biest landete genau auf der Stelle, wo ich eben noch gestanden hatte, drehte sich zu mir herum.

In Reese' Hand blitzte es auf und einen Moment später hörte ich das vertraute Tackern des Tasers.

Das Monster gab einen Laut des Schmerzes von sich und fiel zuckend zu Boden.

Ich nutzte die Gunst der Stunde und richtete die Waffe erneut auf das Biest. Es war mir egal was Reese wollte, es war mir egal was die Vorschriften besagten und es war mit auch egal, dass ich Historias Forschungen damit behinderte. Dieses Vieh war daran Schuld das Devin tot war und dafür würde es jetzt bezahlen!

„Nein!“ Reese packte meinen Arm und schlug mir die Waffe aus der Hand. „Ich brauche es lebend!“

Die Waffe schlug scheppernd auf den Boden auf.

„Es ist ein Monster!“

Das Biest brüllte auf, als dem Taser der Saft ausging. Es zischte und versuchte auf wackligen Beinen hochzukommen.

„Hol mir das Netz aus dem Rucksack!“, wies Reese mich an.

Ich dachte nicht im Traum daran. In dem Moment war es mir völlig egal, dass er mein Lehrcoach war und ich eigentlich zu tun hatte, was er von mir verlangte. Ich wollte einfach nur meine Rache. Es musste für all die Toten büßen. Für Devin und Max und Julian. Und auch für das kleine unschuldige Baby und die alte Frau. Für alle.

Hastig bückte ich mich nach der Waffe.

„Nein verdammt!“ Reese packte mich an der Taille und riss mich zurück. Ich wehrte mich heftig in seinen Armen, wollte diese Waffe – unbedingt!

In dem Moment sprang das Biest auf uns zu.

Reese reagierte einfach nur, ließ sich zu Boden fallen und riss mich mit hinunter. Das Vieh segelte über uns hinweg, krachte ich gegen die Tür und gab einen Laut der Frustration von sich. Und dann geschah etwas sehr seltsames. Anstatt uns erneut zu attackieren begann es mit den Pranken am Griff der Tür herumzufummeln. Einen Moment später war sie offen.

„Nein!“ Ich griff noch nach ihm, als wenn ich es so festhalten könnte, aber da verschwand es auch schon aus dem Raum. „Nein!“ Das durfte doch nicht wahr sein! Ich versuchte aufzustehen, aber Reese hielt mich immer noch fest. „Verdammt, nimm deine Pfoten weg, bevor es entkommt!“

Das leise Geräusch der sich schließenden Tür ließ uns beide aufsehen.

Die Taschenlampe hatte ich in dem Durcheinander irgendwann fallen gelassen und der Strahl leuchtete nun genau das nun wieder geschlossene Viereck an.

Er war weg. Der Proles war entkommen – zum zweiten Mal. Und genau wie vorhin war wieder Reese dafür verantwortlich. Das hieß doch nicht wirklich …

Ich drehte meinem Kopf zu ihm. Mein Herz raste immer noch wie wild und das Adrenalin wollte gar nicht aufhören zu pumpen. „Du hast es entkommen lassen“, warf ich ihm vor. „Genau wir vorhin im Center. Dieses Biest ist daran Schuld das Devin tot ist und du hast es entkommen lassen!“

Er wich meinem Blick nicht aus. Ich konnte die Schuld in seinen Augen sehen. Er wusste genau was er getan hatte, aber ich konnte es nicht glauben. Er hatte es wirklich entkommen lassen. Mit Absicht!

„Du Mistkerl!“ Ich holte mit er Faust aus und schlug ihm genau auf die geprellte Schulter. Das brachte ihn endlich dazu seine Pfoten von mir zu nehmen. Hastig brachte ich Abstand zwischen uns, beachtete sein Stöhnen nicht, als ich auf die Beine kam, mir die Taschenlampe schnappte vom Boden schnappte und ihn damit anleuchtete. „Devin ist tot und du hast es entkommen lassen!“, schrie ich ihm entgegen.

„Es musste sein.“

Bitte? Ich hatte mich wohl gerade verhört. „Willst du mich verarschen?! Du lässt es zum zweiten Mal auf die Welt los und alles was du zu sagen hast, ist, es musste sein?! Musste es auch sein das Max stirbt? Und das Julian stirbt?!“

Reese rieb sich über die Schulter. Er wich meinem Blick aus, als er sich langsam auf die Beine arbeitete und nach den Überresten seines Netzes griff.

Ich schlug es ihm aus der Hand. „Verteidige dich gefälligst!“

„Was willst du denn von mir hören?!“, fuhr er mich nun an.

„Jetzt sag mir was hier los ist! Du hast einen potentiell gefährlichen Proles entkommen lassen – zum zweiten Mal! Es ist egal, ob er ein unbekannter Typus ist und man ihn gerne zu Forschungszwecken haben möchte, er ist tot besser als lebendig!“ Und es ergab absolut keinen Sinn, dass er sich so verhielt.

Er drückte die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. „Egal. Ich muss wieder los. Vielleicht finde ich es noch.“

Das war doch jetzt nicht sein Ernst. „Und dann? Lässt du des dann ein drittes Mal entkommen?!“

Er kniff die Lippen zusammen, tastete mit der Hand nach seiner Hosentasche, als wollte er nach etwas greifen, ließ sie dann aber einfach wieder sinken. „Ich darf ihn nicht töten.“

„Gott verdammt, warum nicht?! Scheiß auf die Regeln, bringen wir das Vieh einfach um!“

„Nein, ich muss ihn lebendig fangen.“

„Warum?“

Er schwieg.

„Scheiße, Reese, jetzt mach endlich den Mund auf!“

Das tat er nicht. Er stand einfach nur mit zusammengepressten Lippen da und tat ansonsten nicht.

Mir kam ein ganz böser Verdacht. „Wegen Taid? Willst du ihn verkaufen? Bist du total bescheuert? Dieses Vieh hat Menschenleben gekostet! Es ist ...”

„Das weiß ich doch verdammt und darum geht es doch auch gar nicht!“, fuhr er mich an.

„Worum denn dann? Rede endlich, sonst geh ich zu Jilin und sag ihr was du getan hast!“ Und dafür würde sie ihn zur Rechenschaft ziehen – das wussten wir beide.

„Na dann geh doch zu Jilin!“ Er stieß mich weg, Richtung Ausgang, so dass ich strauchelnd ein paar Schritte zurück stolperte. „Los, geh zu ihr! Erzähl ihr dass ich es versaut habe, sorg dafür dass ich gefeuert werde! Mir doch egal!“

Es war ihm egal? Irgendwas stimmte hier nicht. Er liebte seinen Job und brauchte das Geld. Und so wie er dastand, so gehetzt, als suchte er nach einem Ausweg, den es einfach nicht gab, verursachte er bei mir ein ganz ungutes Gefühl. Hier stimmte etwas nicht. „Reese?“ Ich machte einen vorsichtigen Schritt auf ihn zu, als würde jede hektische Bewegung ihn sofort verschrecken. „Warum willst du diesen Prolos nicht töten?“

Unter seinen heftigen Atemzügen hob uns senkte seine Brust sich. Er wirkte panisch, verzweifelt. Sah zu mir, sah weg. Und schließlich brach es einfach aus ihm heraus. „Wenn ich ihn töte, dann sind Nick und ich auch tot!“

 

°°°°°

 

Kapitel 13

Darauf wusste ich nichts zu sagen. Ich stand einfach nur da und starrte Reese an.

Wenn ich ihn töte, dann sind Nick und ich auch tot!

Das … was sollte das heißen? Die Bedeutung dieser Worte wollte einfach nicht in meinen Kopf. „Ich verstehe nicht.“ Denn das ergab absolut keinen Sinn.

Doch Reese antwortete nicht, schüttelte nur den Kopf und fuhr sich mit der Hand rastlos durchs Haar.

Jetzt reichte es aber langsam. „Mann, Reese, jetzt mach endlich den Mund auf! Was ist hier los? Rede doch mit mir. Bitte.“

„Ich weiß nicht. Es ist nicht … das geht dich nichts an!“

„Es geht mich nichts an?“ Das durfte doch nicht wahr sein. „Erst lässt du dieses menschenmordende Biest zweimal entkommen, dann sagst du mir, dass du und Nick tot seid, wenn du es abknallst und jetzt willst du wieder in Schweigen fallen?“ Ich trat einen Schritt vor und packte ihn mit festem Griff an seinem Pullover. „Das kannst du vergessen. Du wirst mir jetzt endlich sagen was hier los ist, hast du verstanden?“

„Sonst was?“

„Sonst werde ich dir nicht mehr von der Seite weichen und dich solange nerven, bis du doch den Mund auf machst. Ich werde dir nach Hause folgen, ich werde dir in dein Schlafzimmer folgen, ja wenn es sein muss, werde ich dich sogar aufs Klo begleiten. Alles was ich machen muss, nur rede endlich mit mir.“

Er schnaubte in einer sehr abfälligen Geste. „Das ist doch verrückt.“

„Vielleicht, aber das wird mich nicht daran hindern es in die Tat umzusetzen.“ Ich zog ihn näher an mich heran. „Wir können uns das Ganze aber auch ersparen, indem du einfach mal über denen Schatten springst und dich mir anvertraust.“ Mein Blick war fest auf diese schwarzen Augen gerichtet. „Bitte.“ Ich hatte genug von seinem Schweigen, ich wollte es verstehen.

In seinem Kopf arbeitete es. Ich konnte sehen, wie er ins Taumeln geriet. Er wollte es mir sagen, er wollte sein Wissen jemandem aushändigen. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, aber ich hoffte einfach, dass seine Gedanken in diese Richtung gingen. Aber er wäre nicht Reese, wenn er nicht versuchen würde, alleine mit allem klar zu kommen.

„Shanks …“

„Bitte.“ Ja, dann klang ich halt flehend. Na und? „Bitte rede mit mir. Erklär mir, warum Devins Tot ungesühnt bleiben muss. Das bist du mir schuldig.“

Vielleicht war es unfair, aber das war mir egal, denn genau darum ging es hier. Ich brauchte einfach einen logischen Grund, warum dieses Monster am Leben bleiben durfte, während einer meiner Freunde sterben musste.

Ich sah genau wie sein Widerstand brach, sah es in seinen Augen, in der halben Drehung seines Kopfes. Er wollte es nicht und er wollte es doch. Es war so widersprüchlich, dass es ihn wohl all seine Überwindung kostete, über seinen eigenen Schatten zu springen. Aber er tat es. Reese gab meinen Forderungen nach und rieb sich geschlagen übers Gesicht. „Okay, meinetwegen. Ich hab zwar keine Ahnung was du damit bezweckst, doch wenn du es unbedingt wissen willst.“

„Ja, will ich.“ Unbedingt. Ich musste es einfach wissen.

„Okay, wie du willst, aber nicht hier.“ Er griff meine Hand und löste sie von seinem Pulli. „Komm.“

 

°°°

 

„Nick?“

Ich schloss die Wohnungstür hinter uns. Die Tüte mit dem Fastfood vom Imbiss knisterte in meiner Hand. Ich wusste gar nicht so genau warum wir das Zeug auf dem Weg hierher geholt hatten, allein von dem Geruch wurde mir schon schlecht. Vorhin erschien es mir noch eine gute Idee. Vielleicht hatte ich es aber auch nur gesagt, um die drückende Stille im Wagen irgendwie zu durchbrechen. Aber bei dem Gedanken, es jetzt essen zu müssen, wurde mir ganz anders.

„Nick?“, rief Reese erneut und bekam dieses Mal wenigstens ein Brummen aus der Küche zur Antwort. Das erinnerte mich wieder an sein Verhalten heute Morgen. Ob er noch immer sauer war? Ich hoffte nicht. Dafür hatte ich heute wirklich keine Kraft mehr. Ich wollte einfach nur wissen, was hier los war. Und vielleicht würde ich es ja auch noch schaffen Evangeline anzurufen, um ihr das mit Devin zu sagen. Bisher hatte ich es einfach nicht über mich gebracht. Ich hatte im Wagen gesessen, mein Handy angestarrt und es einfach nicht geschafft sie anzurufen. Und dann war mir die sinnlose Idee mit dem Essen gekommen.

„Willst du da jetzt die ganze Zeit rumstehen und Löcher in die Luft starren, oder bewegst du dich heute noch?“

Reese stand barfuß im Türrahmen zur Küche. Auch seines Pullis hatte er sich inzwischen entledigt. Wie lange hatte ich hier eigentlich rumgestanden?

„Okay, mach was du willst, ich geh erstmal duschen.“ Er klopfte mit den Knöcheln gegen den Holzrahmen. Einen Moment sah er so aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, aber dann wandte er sich einfach ab und verschwand daneben im Badezimmer.

Oh ja, eine Dusche wäre wirklich eine schöne Sache, aber das musste erstmal warten.

Seufzend entledigte ich mich meiner Jacke und den Schuhen und ging dann in die Küche, doch direkt dahinter blieb ich etwas unschlüssig stehen.

Nick fläzte auf der durchgesessenen Couch und streichelte Cherry, die es sich schnurrend auf seiner Brust bequem gemacht hatte. Er hob den Blick zu mir, aber sein Lächeln fehlte. Das machte mich nervös.

Mein Blick huschte kurz in den Flur. Warum nur musste Reese ausgerechnet jetzt duschen? Hätte er das nicht auch später tun können? So blieb mir gar nichts anderes übrig, als mich dem Kommenden alleine zu stellen. Etwas zögernd hob ich die Hand. „Hey.“ Na das war doch mal ein guter Anfang.

Er gab keine Reaktion von sich, blinzelte nicht einmal, starrte mich nur stumm an.

„Ähm … ich hab etwas zu essen mitgebracht.“ Wie zum Beweis meiner Worte hielt ich die Tüte hoch. „Hast du Hunger?“

Seufzend setzte Nick Cherry neben sich auf die Couch, stand auf und lief an mir vorbei aus der Küche.

Ich lief ihm hinterher. „Nick, bitte.“

Er schlug mir die Tür vor der Nase zu.

Einen Moment war ich versucht ihn einfach schmollen zu lassen, irgendwann würde er sich sicher wieder einkriegen, aber nach diesem Tag wollte ich meinen Freund haben. Ich wollte jemanden bei dem ich mich anlehnen konnte und wenn er dazu nicht bereit war, dann musste ich ihn eben dazu bekommen endlich mit diesem Mist aufzuhören.

Ich stieß die Zimmertür wieder auf, als er sich gerade sein Shirt auszog. „Nick.“

„Was? Willst du jetzt doch? Tja, dann muss ich dich enttäuschen. Ich hab jetzt keine Zeit. Du weißt schon, die Arbeit ruft.“ Er ließ sein Shirt achtlos auf den Boden fallen, ging zum Regal und zog ein frisches aus dem Stapel davor heraus.

„Nick, bitte.“ Bitte hör auf damit.

„Was bitte?!“ Er fuhr zu mir herum und kam so drohend auf mich zu, dass ich zurückwich, bis ich im Flur mit dem Rücken an der Wand stand. Die Tüte knisterte in meiner Hand. „Los, sag schon, was willst du jetzt noch?!“

Ich presste mich fest gegen die Wand. Wenn er so drauf war, konnte er einem wirklich Angst machen und heute hatte ich einfach nicht mehr die Muße, mich damit auseinander zu setzten.

„Na los!“, forderte er mich auf und schlug mit den flachen Handflächen neben meinem Kopf gegen die Wand. „Sag schon!“

„Ich … ich …“

„Was ich?! Spuck´s endlich aus!“

„Devin“, flüsterte ich.

„Was?!“

„D-devin. Er ist … er … er war ein Freund. Er ist …“

„Freund?!“, schrie er mich an. Dieses eine Wort schien ihn richtig rasend zu machen. Er packte mich an den Haaren und riss meinen Kopf in den Nacken.

„Nein, lass mich los. Reese!“ Ich ließ die Tüte fallen, griff nach seiner Hand und versuchte sie aus meinen Haaren zu lösen.

„Hast du mir nicht gesagt, du hattest vorher keinen Freund?! Willst du mich verarschen?!“

Neben uns ging die Tür mit einem Knall auf.

„Erst sagst du … ahhh!“ Ganz plötzlich ließ er mich los und schreckte zurück. Er stolperte über seine eigenen Beine, fiel auf den Hintern und sah mit weit aufgerissenen Augen zu seinem Bruder auf, der ihn mit beiden Händen am Kopf gepackt hatte. Ein Wimmern entrang sich seiner Kehle.

Oh Gott. Reese hatte ihm am Kopf gepackt. Das war grausam. Es machte Nick Angst. „Lass ihn los!“

Reese schaute nur kurz in meine Richtung, nahm seine Hände dann aber weg, als hätte er sich fürchterlich verbrannt.

Sofort wich Nick vor uns zurück. In seinen Augen stand noch immer die Furcht.

„Nick.“ Ich stieß mich von der Wand ab und wollte zu ihm laufen, doch Reese fing mich am Arm ab. „Lass mich!“

„Nein.“ Er wandte sich Nick zu. „Geh dich beruhigen und verschwinde zur Arbeit.“

Nicks Hände zitterten, als er auf die Beine kam. Der Schreck wollte einfach nicht aus seinem Gesicht weichen. Diese einfache Berührung seines Bruders hatte ihn in solche Panik versetzt, dass er es nicht wagte einen von uns beiden anzusehen, als er in sein Zimmer verschwand. Die Tür schloss sich sehr leise und trotzdem klang es in meinen Ohren unendlich laut – endgültig.

„Verdammt, was war hier los?!“

Ich sah zu Reese, merkte erst jetzt, dass er tropfnass war und außer einem Handtuch nichts am Leib trug. Deswegen machte ich mich hastig von seinem Griff los und taumelte zurück. „Ich wollte nur …“ Und dann, ganz plötzlich stiegen mir die Tränen in die Augen. Ich hatte sie den ganzen Tag zurückgehalten, hatte mir untersagt, mich von Gefühlen überwältigen zu lassen, aber jetzt, nachdem Nick mich angegriffen hatte, ging es nicht mehr. Ich verlor die Fassung und konnte nichts dagegen tun.

Nick hatte mich angegriffen. Glasklar stand dieser Gedanke plötzlich vor mir. Mein Freund hatte mich angegriffen. Mein Kopf schmerzte davon und die Haut unter dem Haar kribbelte unangenehm. Oh Gott.

Aus Nicks Zimmer kam ein lautes Krachen, dann ein wütender Schrei und ein Geräusch wie splitterndes Porzellan.

Ich spürte wie die Tränen an die Oberfläche drängten und mir über die Wangen liefen. Erst nur eine, dann noch eine. Es wurden immer mehr, ich konnte sie einfach nicht aufhalten.

Der Kloß in meinem Hals wurde immer größer. Ich konnte kaum schlucken.

„Shanks?“

Der weiche, fast sanfte Ton in seiner Stimme gab mir den Rest. Ich schlug noch die Hand vor den Mund, wollte den Schluchzer aufhalten, aber es war zu spät.

Schwarze Augen musterten mich mit unergründlicher Tiefe. „Hey.“ Reese trat einen Schritt auf mich zu und hob die Hand, um sie mir auf die Wange zu legen, aber ich wich ihm aus. Das wollte ich nicht. Das konnte ich einfach nicht ertragen. Es war zu viel.

Ich wirbelte herum und schloss mich im Bad ein. Reese versuchte nicht, mich aufzuhalten. Der Raum war noch vom Dunst von Reese erfüllt, doch die Kälte konnte er nicht vertreiben. Schluchzend rutschte ich an der Tür herunter, zog die Beine eng an meine Brust, während ich mich selber festhielt.

Nick hatte mich angegriffen. Es war heute so viel passiert und als ich ihm davon erzählen wollte, war er handgreiflich geworden. Was wäre passiert, wenn Reese nicht eingegriffen hätte? Nick war so wütend gewesen. Oh Gott, ich wollte es gar nicht wissen. Ich wollte das alles nur vergessen. Ich wollte diesen ganzen Tag aus meiner Erinnerung streichen und ungeschehen machen. Warum nur hatte alles so kommen müssen?

Es wurden immer mehr Tränen. Ich versuchte sie wegzuwischen, versuchte ihnen Einhalt zu gebieten, aber sie wollten einfach nicht nachlassen. Immer und immer wieder wischte ich mir über die Wangen. Meine Augen fühlten sich schon ganz geschwollen an. Und dann entdeckte ich das Blut. Es klebte unter meinen Fingernägeln und ein großer Fleck sogar am Handgelenk.

Das war Devins Blut.

Das Blut meines Freundes klebte seit Stunden an mir. Zusammen mit dem der alten Frau und dem Ruß des Feuers. Und wer wusste schon was noch alles.

Plötzlich war mir das alles zuwider. Es war alles zu viel, ich begann mich vor mir selber zu ekeln, konnte es keine Minute länger ertragen, all diesen Dreck an mir kleben zu haben.

Ich riss mir meine Waffen vom Leib, ließ siezusammen mit meinen Klamotten achtlos auf den Boden fallen. Es war mir egal was damit geschah, Hauptsache ich musste sie nicht länger auf meiner Haut spüren. Ich zerrte und riss an meiner Kleidung, bis ich nichts mehr am Leib trug. Aber der Dreck klebte an meiner Haut. Ich konnte es spüren, wie er versuchte mich zu vergiften, wie er jede meiner Zellen verseuchte.

Die Tränen verschleierten mir die Sicht, als ich in die Dusche stieg. Ein Griff zum Wasserhahn und eiskaltes Wasser prasselte auf mich nieder. Es würde noch einen Moment dauern bevor es warm werden würde, aber so lange konnte ich nicht warten. Ich musste den Dreck jetzt loswerden, das Blut, Devins Blut.

Ich zitterte am ganzen Körper. Das Wasser wollte einfach nicht warm werden. Ich hatte den falschen Hahn aufgedreht, aber ich konnte das jetzt nicht ändern, musste mir Schmutz von der Haut schrubben. Jeden Zentimeter, bis sie ganz rot war. Ich konnte einfach nicht damit aufhören. Immer weiter, immer mehr.

Durch die Tränen konnte ich kaum etwas sehen, aber ich konnte nicht aufhören. Ich schaffte es gerade mal so, das heiße Wasser anzustellen, bis der Dunst den Raum erwärmte und der Strahl beinahe meine Haut verbrannte. Arme, Beine, Bauch, meine Hände. Ich konnte nicht aufhören meine Hände zu schrubben, die Hände mit der ich die alte Frau berührt hatte, die Hände mit denen ich Devin gehalten hatte. Alles musste weg.

Ich stand lange unter der Dusche, sah zu wie meine Tränen mit dem Blut und dem Wasser im Abfluss verschwanden. Selbst als ich keine Tränen mehr hatte, als ich bereits zusammengesunken in der Duschwanne kauerte und meine Haut von dem vielen Schrubben weh tat, konnte ich damit nicht aufhören. Ich hatte einfach Angst, dass da irgendwo noch etwas war. Das konnte ich nicht ertragen. Selbst als die letzte Träne endlich schwand und das Zittern aufhörte, waren meine Hände noch immer in Bewegung.

Draußen am Fenster wanderte die Sonne vorbei. Es wurde immer dunkler in dem kleinen Raum. Die Nacht war auf dem Vormarsch und die einzige Lichtquelle für diesen Raum blieb die Reklametafel der Spielhalle auf der anderen Straßenseite.

Irgendwann schaffte ich es dann endlich, die Bürste aus der Hand zu legen. Meine Haut war in der Zwischenzeit krebsrot, schmerzte und brannte, aber die Entscheidung aus der Dusche zu klettern war nicht leicht. Da draußen waren Nick und Reese. Sie hatten miterlebt wie ich völlig die Fassung verloren hatte. Das war mir schon seit Jahren nicht mehr passiert. Nicht mehr, seit ich an der Akademie angefangen hatte und damit meinen Gefühlen ein Ventil geben konnte. Aber heute … ich hatte die Kontrolle über mich verloren.

Doch noch schlimmer als das Wissen, was mich da draußen erwarten konnte, war die Vorstellung die dreckigen Klamotten wieder anziehen zu müssen. Daher stand ich auch noch eine gefühlte Ewigkeit eingewickelt in einem großen Handtuch mitten im Bad und starrte die Tür an.

Saubere Wäsche hatte ich keine mehr hier. Ich könnte mir zwar einfach etwas von Nick holen, doch allein die Vorstellung ließ meinen Kopf wieder unangenehm prickeln. Also blieb mir eigentlich nur eine Möglichkeit, wenn ich die Nacht nicht hier im Bad verbringen wollte.

Ich wischte mir noch mal über die Augen, hoffte dass die Rötung nicht zu schlimm war und erst dann wagte ich mich zögernd in den Flur.

In der Befürchtung Nick zu begegnen, flitzte mein Blick sofort zu seiner geschlossenen Zimmertür, aber diese blieb geschlossen und ich alleine. Außer mir war niemand hier. Auch die Tüte mit dem Essen, die ich hatte fallen lassen, war verschwunden. Ich wagte es aber nicht aufzuatmen, bevor ich barfuß durch den Flur getappt war und im Türrahmen zur Küche stand.

Kein Nick. Nur Reese, der mit geschlossen Augen auf der Couch lag und ein Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit auf der nackten Brust balancierte. Die passende Flasche dazu stand mit einer Schüssel voller Eiswürfel neben dem unberührten Essen auf dem Tisch.

Whiskey.

Halb auf seinen Beinen hatte Cherry sich breit gemacht und erfüllte die Küche mit ihrem Schnurren. Dabei fuhr sie rhythmisch immer wieder die Krallen aus und versenkte diese in dem grauen Stoff von Reese Jogginghose.

„Reese?“

Er drehte seinen Kopf leicht in meine Richtung und musterte mich unter halb geschlossenen Augenlidern. Dabei wirkte er völlig entspannt.

Ich runzelte die Stirn. „Bist du betrunken?“

„Noch nicht.“ Er führte das Glas an seinen Mund und leerte es in einem Zug. Dabei entfloh ihm ein Tropfen den er mit der Zunge auffing. „Aber ich arbeite daran.“ Er wandte mir das Gesicht wieder zu. Einen Moment schien es, als wollte er etwas sagen, doch er schloss seinen Mund wieder und blieb stumm.

Ich zog das Handtuch etwas enger um mich. „Kannst du mir was zum Anziehen leihen? Meine Klamotten sind dreckig und ich hab nichts Sauberes mehr bei.“

„Nimm dir was von Nick. Sein Zimmer quillt über vor Klamotten.“

Meine Lippen verschlossen sich zu seinem dünnen Strich. Ich wollte ihm nicht gegenübertreten – nicht im Moment.

„Er ist nicht da“, sagte Reese leise, als könnte er meine Gedanken erraten. „Er hat an der Badezimmertür geklopft, doch du hast nicht aufgemacht. Da ist er einfach arbeiten gegangen.“ Er seufzte. „Aber keine Sorge, er wird sich sicher bei dir entschuldigen.“

Er hatte an die Tür geklopft? Das hatte ich gar nicht mitbekommen. Und das mit der Entschuldigung … im Augenblick wollte ich keine. Im Augenblick wollte ich gar nichts von ihm. „Kannst du mir nicht einfach etwas von dir geben? Du bekommst es auch gewaschen zurück.“

Dazu sagte Reese gar nichts. Er sah mich nur stumm an, seufzte dann und schwang die Beine vom Sofa, was Cherry mit einem empörten Maunzen kommentierte. Sein Glas klickte, als er es auf dem Tisch abstellte und die Couch gab ein ächzendes Geräusch von sich, als er auf die Beine kam.

Stumm lief er an mir vorbei in sein Zimmer. Dabei ließ er seine Tür offen.

Da ich mir nicht sicher war, ob es eine Einladung war, blieb ich zögernd am Türrahmen stehen und sah ihm dabei zu, wie er seine Kommode geräuschvoll durchsuchte. Zwei Teile kramte er hervor und drückte sie mir so in die Hand, dass seine Finger mein Schlüsselbein streiften.

Ich ergriff sie, beließ es aber dabei, weil es nur ein Versehen gewesen sein konnte. Reese würde mich doch nicht anfassen. Er mochte mich ja nicht mal wirklich.

„Das Hemd kannst du behalten, es ist mir eh zu klein. Ich fahr dich dann nachher nach Hause, dann brauchst du deine dreckigen Klamotten nicht mehr anziehen.“ Damit ging er aus dem Zimmer heraus und verschwand wieder in der Küche.

Ich sah ihm einen Moment hinterher, schloss dann die Tür von innen und ließ mein Handtuch fallen.

Das Hemd entpuppte sich als altes Jeanshemd, das seine besten Zeiten schon lange hinter sich gelassen hatte. Es war verwaschen und wunderbar weich und als ich hinein schlüpfte, glaubte ich eine Spur von Reese' Geruch daran zu riechen. Die Ärmel allerdings musste ich etwas hochkrempeln.

Die Hose war eine von den Jogginghosen mit denen Reese zu Hause immer rumlief. Ich konnte sie am Bund enger ziehen, damit sie mir nicht von den Hüften rutschte. Die Beine waren aber auch wieder zu lang, so dass mir gar nichts anderes übrig blieb, als sie auch hochzukrempeln.

Es war ein seltsames Gefühl so dazustehen. Nicht nur, dass ich mir in Reese' Klamotten so klein vorkam, ich konnte mich auch nicht entsinnen, jemals keine Unterwäsche getragen zu haben. Aber eigentlich war das auch völlig egal. Hauptsache ich musste nicht in dem Handtuch rumlaufen.

Keine zwei Minuten später war ich wieder in der Küche und ließ mich neben Reese auf dem Sofa nieder, zog die Beine an die Brust und platzierte mein Kinn darauf.

Reese sah mich nicht an, goss nur etwas von dem Whiskey in ein Glas, packte noch eine Handvoll der Eiswürfel aus der Schale auf dem Tisch hinein und hielt es mir dann wortlos unter die Nase.

Ich runzelte die Stirn. „Was soll ich damit?“

„Trinken.“ Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Du kannst es gebrauchen.“

„Warst du es nicht der mir gesagt hat, ich soll keinen Alkohol mehr trinken?“

„Nicht wenn du am nächsten Tag zur Jagd musst.“

Auch so, und da ich morgen nur in die Akademie musste, war es wohl völlig in Ordnung mit einem Kater rumzulaufen. „Und was ist mit dir? Musst du morgen nicht zur Jagd?“

„Nein.“ Er stellte mein Glas auf den Tisch, schnappte sich sein eigenes und lehnte sich damit zurück. „Ich habe morgen frei.“

„Frei?“

„Ja, frei. Jilin meinte, ich könnte mal eine Auszeit vertragen.“

Wie bitter er das sagte. Als wollte ihm damit jemand etwas Böses. „Vielleicht hat sie damit ja gar nicht so Unrecht.“

Er schnaubte nur und nahm einen weiteren Schluck von seinem Getränk. Dann griff er sich eine Zigarette vom Tisch und sah abwartend zu mir rüber, während der Rauch des Glimmstängels langsam aber sicher die Luft erfüllte.

„Was ist?“

„Ich warte darauf, dass du mich mit deinen Fragen bombardierst.“ Er musterte mich, wie ich da in die Ecke gekauert saß. „Oder hast du es dir etwa anders überlegt?“

Nein hatte ich nicht, aber nachdem was Nick getan hatte, war es irgendwie in den Hintergrund gerutscht. „Ich möchte es wissen.“

„Aber ich hoffe dir ist klar, dass es eines von den Dingen ist, über die man besser nicht spricht.“

Bildete ich es mir ein, oder wollte er jetzt unbedingt darüber reden? Vielleicht belastete es ihn ja. Außerdem, wen hatte er denn schon, dem er sich anvertrauen konnte? Mir fiel niemand ein. Da waren nur Nick und seine Mutter. Ansonsten hatte er nur seine Arbeit. Oder? „Ich hab verstanden.“

Nickend nahm er einen Zug von seiner Zigarette. Der Rauch kroch ihm nur langsam aus der Nase. Es schien, als bräuchte er die Zeit um sich zu überlegen, wo er beginnen sollte. „Mit den Monsterkämpfen kann man richtig viel Geld verdienen“, sagte er leise. „Die Leute lieben es zuzusehen, wie ihre schlimmsten Feinde sich gegenseitig zerfleischen, ohne dass sie Gefahr laufen selber verletzt zu werden. Es ist eine Art die Kontrolle über etwas zu bekommen, dass sich ihrer Macht sonst völlig entzieht.“

„Diese Kontrolle ist nichts weiter als eine Illusion.“

„Ja das ist sie, aber das sehen diese Menschen nicht.“ Er nahm einen weiteren Zug, griff während des Ausblasens nach seinem Glas und leerte es in einem Schwung. Die Eiswürfel klickten und er fackelte auch nicht lange damit, neu nachzufüllen.

Die Flasche war bereits halb leer. Hatte er das alles allein getrunken? Ich musterte ihn. Er konnte auf jeden Fall noch gerade sitzen.

„Taid ist nicht der einzige, der einen solchen Laden führt.“

Ich horchte auf. „Du meinst eine Arena?“

Reese nickte. „In der Stadt gibt es noch einen anderen Betrieb. Aber das sind nicht die einzigen. Illegale Proles-Arenen findest du überall, du musst nur wissen wo du suchen musst. Und sie alle bezahlen ziemlich gut wenn es um Nachschub ihrer Ware geht.“

Das konnte doch nicht sein Ernst sein. „Du meinst, es gibt davon ein ganzes Netzwerk?“

„So mehr oder weniger.“ Er streifte die Asche auf einem leeren Teller ab, den Nick wohl im Laufe des Tages dort stehen gelassen hatte und nahm dann noch einen Schluck von seinem Drink. „Mit den normalen Kämpfen kann man schon gut Geld verdienen, aber die richtige Kohle machen sie bei den Wettkämpfen.“

„Wettkämpfe?“

„Ja, Wettkämpfe zwischen den einzelnen Arenen. Sie finden immer woanders statt, aber jeder in dieser Branche ist dabei. Und glaub mir einfach wenn ich dir sage, dass Taid noch einer von den netten Kerlen ist.“

Also wenn Taid einer von den Netten war, dann wollte ich den anderen niemals begegnen. „Aber wie ist das möglich? Ich meine, wie kann es sein, dass niemand davon etwas weiß? Wenn es sogar Wettkämpfe gibt, dann das müsste doch bekannt sein.“

„Es ist auch bekannt.“ Er lehnte sich wieder zurück. „Oder was glaubst du, wo die ganzen Besucher herkommen?“

„Aber … warum habe ich dann noch nie etwas davon gehört, bevor du mich mitgeschleppt hast?“

„Weil du dich in den falschen Reihen bewegst. Nach der Tragödie mit deinen Eltern bist du behütet aufgewachsen. Kein …“

„Das ist nicht lustig!“

Er sah mich nur ruhig an, zog erneut an seiner Zigarette und legte den Arm dann auf die hintere Lehne. „Das war auch nicht witzig gemeint, aber genau das ist die Erklärung. Ob du es glaubst oder nicht, ich habe deine Akte gelesen, deine psychischen Gutachten. Nach deinem sechsten Geburtstag warst du ein Wrack, völlig apathisch. Du hast mehrere Jahre nicht gesprochen, standst immer unter Medikamenten und hast völlig isoliert von der Welt gelebt. Dein Onkel hat alles von dir und deiner Schwester ferngehalten.“

„Ich weiß das alles selber, ich war dabei!“, fauchte ich ihn an.

Er ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Aber manchmal haben wir von uns selber ein ganz falsches Bild.“

Da musste gerade er große Töne spucken.

„Nick hat mir von Wynn erzählt und so wie du es ihm gegenüber dargestellt hast, war immer Wynn es, die es härter getroffen hatte, aber das stimmt nicht. Du warst das Sorgenkind der Familie.“

Ich schnaubte. „Du hast doch keine Ahnung wovon du sprichst.“

Sein ruhiger Blick lag auf mir und das störte mich mehr als der Rauch der Zigarette, der mich in der Nase kitzelte. „Hast du eigentlich mal einen Blick in deine ärztlichen Unterlagen riskiert? Und ich rede hier nicht von den den Gutachten der Beluosus Akademie, ich rede von deinen psychiatrischen Unterlagen in der Klinik und bei den Ärzten, den ganzen Psychologen zu denen dein Onkel dich geschleppt hat.“

„Das brauche ich nicht, ich weiß genau was darin steht.“

„Wenn du meinst.“ Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette, drückte sie dann auf dem Teller aus und griff nach seinem Glas. „Ich wollte dich damit auch nicht angreifen, es war nur eine Erklärung dafür. Dein Onkel hat diese Sachen so gut es ging von dir ferngehalten.“

Diese Theorie war ziemlich weit hergeholt. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass Onkel Roderick zu sowas imstande wäre und daher ließ ich es auch unkommentiert.

„Ist ja auch egal“, ruderte er zurück und ließ das Thema damit fallen. „Auf jeden Fall gibt es zwei Mal im Jahr diese Wettkämpfe und dabei geht es um mehr Kohle als du dir in deinen kühnsten Träumen vorstellen kannst. Und Taid ist natürlich immer mit von der Partie. Aber leider hat er mit seinen Proles immer nur die hinteren Plätze belegt und das gefällt ihm gar nicht.“

Ja, das konnte ich glauben. Taid war meiner Meinung nach niemand, der sich gerne geschlagen gab.

„Und deswegen hat er sich in den Kopf gesetzt, die Arbeit von unserem allseits geliebten Doktor Christopher Krynick ein wenig fortzusetzen.“

Ich blinzelte. „Bitte?“ Das hatte er doch jetzt sicher nicht so gemeint, wie es sich angehört hatte, oder?

Reese ließ seinen Drink im Glas kreisen, nahm dann einen großen Schluck, der das Glas fast vollständig leerte. „Taid hat ein eigenes Forscherteam. Unter der Anlage in dem Kellergewölbe gibt es ein Labor und …“

„Redest du von den Minzmännchen?“

Er zog eine Augenbraue nach oben. „Minzmännchen?“

„Na diese Leute, die da immer in diesen OP-Kitteln rumlaufen. Die mit dem Klemmbrettern.“

„Minzmännchen.“ Er schüttelte den Kopf. Der Begriff passte wohl absolut nicht in sein Weltbild. „Das ist sein Forscherteam. Sie führen die Arbeit von Doktor Krynick fort, um das ultimative Monster zu erschaffen. Taid will ein Proles, der nicht nur gefährlich ist, sondern sich auch schwer töten lässt. Böse, verrückt, mordlüstern. Er will diese Wettkämpfe gewinnen. Unbedingt. Sein Team kreuzt die Proles durch die Bahn weg und …“

„Moment.“ Ich ließ meine Beine von der Couch rutschen. Der Unglaube stand mir ins Gesicht geschrieben. „Soll das etwa heißen, dass dieses Biest, dass das Massaker im Center angerichtet hat von Taid kommt?“ Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein. Ein extrem schlechter sogar.

„Drei Jahre Forschung und Zucht.“ Reese ließ die Reste seines Whiskeys im Glas kreisen. Die Eiswürfel klickten leise aneinander. „Er hat Unmengen an Geld in dieses Projekt investiert, aber er hat es nicht auf die Reihe bekommen einen Zwinger mit einem manierlichen Schloss zu versehen.“ Er schnaubte. „Sparmaßnahmen an den falschen Stellen und jetzt haben wir den Salat.“

Okay, das musste ich jetzt erstmal auf die Reihe bekommen. „Soll das heißen Taid hat das ultimative Monster gezüchtet und es entkommen lassen?“

Ein schlichtes Nicken war alles was ich zur Antwort bekam, bevor Reese sein Glas ein weiteres Mal leerte und wieder nach der Flasche griff.

„Oh Gott.“

„Du nimmst mir die Worte aus dem Mund.“ Er strich sich mir der Hand das Haar aus der Stirn. „Und damit fangen meine Probleme an. Taid will dieses Vieh unbedingt wieder haben. Es ist das einzige seiner Züchtungen, das genauso ist, wie er es sich vorstellt hat und da ich ja so ein hervorragender Venator bin, obliegt mir die Ehre es wieder einzufangen.“

„Das einzige? Soll das heißen er hat noch mehr von diesen Monstern?“

„Ein paar. Die meisten sterben recht schnell und die anderen sind ihm nicht stark genug, oder weisen andere Defizite auf. Drei/siebenunddreißig ist das Juwel seiner Sammlung. Mit ihm wird er die Wettkämpfe gewinnen können, aber dazu braucht er es wieder.“

„Drei/siebenunddreißig?“

„Seine Züchtungen haben Nummern, keine Namen.“ Er seufzte. „Erinnerst du dich an den Proles-Welpen den ich ihm verkauft habe?“

„Wie könnte ich das vergessen?“ Davon abgesehen, dass das an meinem ersten Tag beim Praktikum passiert war, hatte damit diese ganze Odyssee angefangen.

„Taid hat mir dafür eine Menge Geld gegeben, aber es ist gestorben.“

„Ja, daran erinnere ich mich auch.“

„Ich glaube nicht, dass es einfach so gestorben ist, aber es ist tot und Taid hat dafür Geld bezahlt. Deswegen stehe ich jetzt in seiner Schuld.“

Ich runzelte die Stirn. „Aber das ist doch völlig unlogisch.“

„In seinen Augen nicht. Dienst gegen Dienst. Er hat Geld bezahlt und jetzt will er etwas dafür. Dabei ist es völlig unerheblich, ob ich meine Schuld bereits in Form dieses Proles beglichen hatte. Außerdem braucht er mich, also dreht er es so, wie es ihm in den Kram passt.“

„Wie ist das Baby denn gestorben?“

„Vielleicht bei seinen Forschungen. Vielleicht hatte er dem kleinen Biest in einem Wutanfall auch einfach das Genick gebrochen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Es ist auch völlig egal. Er hat mich am Haken. Ich muss tun was er will, sonst bin ich am Arsch.“

„Er will, dass du das Monster wieder einfängst.“

„Er will, dass ich es bis nächsten Samstag wieder einfange. Dann ist der nächste Wettkampf.“

Okay, diese Information musste ich erstmal sacken lassen. Das waren nur noch sechs Tage. „Und was passiert, wenn du es nicht schaffst?“

„Ich muss Drei/siebenunddreißig unbeschadet zurück bringen. Dann bin ich meine Schulden los und bekomme sogar noch einen netten Geldbonus für meinen Aufwand.“ Er schnaubte über die Lächerlichkeit seiner Worte. „Weigere ich mich, lässt er Nick und mich umbringen. Ist das Vieh bis Samstag nicht wieder da, lässt er Nick und mich umbringen. Stirbt das Vieh, bevor ich es ihm bringen kann, lässt er mich und Nick umbringen.“ Völlig ruhig, als seien seine letzten Tage nicht gezählt, leerte er sein Glas erneut, um sich gleich darauf einen weiteren Drink einzuschenken.

Mir dagegen blieb vor Fassungslosigkeit die Sprache weg. Das war … das konnte er nicht machen! Das war ein Verbrechen. „Du musst ihn anzeigen! Geh zur Polizei!“

„Und dann?“ Er sah mich viel zu ruhig an. „Taid hat noch nichts getan, also kann er nach unserem Rechtssystem nicht angeklagt werden. Eine Drohung allein ist kein Verbrechen. Und wenn Taid mitbekommt, dass ich mit den Bullen geredet habe, dann kann ich mir schon mal einen Grabstein aussuchen.“

„Aber wenn du … du kannst doch nicht … du musst doch etwas tun!“

„Und was?“

Ich öffnete den Mund, aber kein Wort kam heraus.

„Und selbst wenn ich es wirklich irgendwie schaffe, dass Taid in den Knast geht, er hat genug Freunde die dann in seinem Auftrag handeln würden.“

„Dann musst du verschwinden.“ Das war die einzig logische Erklärung. Ich ließ die Beine von der Sofakante rutschen und rückte etwas näher an ihn heran. „Packt eure Sachen, du und Nick und dann verschwindet einfach.“

Er schnaubte. „Ich kann nicht weg.“

„Aber du kannst dich doch auch nicht umbringen lassen!“

„Ich kann Celina nicht allein lassen.“

Seine Mutter. An die hatte ich ja gar nicht mehr gedacht. Ich biss mir auf die Lippe. Die Zahnrädchen in meinem Kopf drehten sich mit Überschallgeschwindigkeit, aber es kam einfach nichts Produktives dabei heraus. Eigentlich gab es nur eine logische Schlussfolgerung. „Wir müssen das Biest fangen.“

„Was meinst du, was ich schon die ganze Zeit versuche?“ Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und ließ sein Glas zwischen den Beinen baumeln. „Ich bin seit Wochen hinter Drei/siebenunddreißig her. Dieser Proles, den Shea die ganze Zeit jagt, der der die ganzen trächtigen Abkömmlinge tötet, das ist Drei/siebenunddreißig.“ Er richtete den Blick auf sein Glas. „Ich kann Taid nicht verpfeifen, ich stecke viel zu tief drinnen. Ich kann nicht entkommen. Entweder ich finde Drei/siebenunddreißig, oder mein Leben ist kein Pfifferling mehr wert.“

Er steckte in der Klemme. Er steckte so tief in der Scheiße, dass es einfach keinen Ausweg mehr gab. Wie hatte das nur passieren können? Eigentlich war er doch nur in die ganze Sache reingerutscht, weil er seiner Familie helfen musste. Er war kein schlechter Kerl, also warum musste ihm das passieren?

Ich rieb mir über die Stirn. „Scheiße.“

„Du sagst es.“

Sechs Tage. Sechs verfluchte Tage. Wie lange jagte Reese schon hinter dem Biest her? Fünf Wochen? Fünf Wochen in denen er es nicht gefunden hatte. Heute war er nur durch Zufall auf diese Kreatur getroffen und jetzt blieben ihm nur noch sechs Tage. Wie bitte sollte er das schaffen? „Es muss einen Weg geben.“

„Ich werde einfach weiter suchen. Jetzt habe ich wenigstens einen Anhaltspunkt.“

„Du meintest wohl, jetzt werden wir weitersuchen.“

„Nein Shanks.“ Er schüttelte den Kopf. „Du weißt schon viel zu viel. Ich werde dich da nicht noch weiter mit hinein ziehen. Es stehen schon genug Leben auf dem Spiel.“

„Aber …“

„Nein!“ Wie ein Pistolenschuss knallte er mir dieses Wort an den Kopf. „Nein“, wiederholte er noch mal ein wenig ruhiger. „Du wirst dich da nicht einmischen. Das ist nicht deine Sache.“

„Du verlangst, dass ich jetzt, nachdem ich das alles weiß den Kopf in den Sand stecke und gar nichts tue?“

„Ganz genau. Du wirst dich da raushalten.“ Er senkte den Blick wieder auf sein Glas. „Ich bekomme das schon alleine hin. Das bekomme ich immer.“

„Und wenn nicht?“

Sein Schulterzucken sagte alles. Wenn nicht, dann waren seine letzten Tage gezählt. Sechs um genau zu sein. Nur noch sechs beschissene Tage, in denen es sehr unwahrscheinlich war, dem Biest noch einmal so nahe zu kommen wie heute.

Mein Blick glitt zu dem vollen Glas auf dem Tisch. Plötzlich schien es mir doch keine so schlechte Idee mehr, mir mit Reese richtig die Kante zu geben. Scheiß auf den Kater am Morgen, ich würde es überleben, aber jetzt brauchte ich erstmal etwas, um dass alles zu verdauen – oder es zu verdrängen.

Ich griff so hastig nach dem Glas, dass ich es dabei fast umschmiss. Ich wollte mich selber überrumpeln, bevor ich einen Rückzieher machen konnte. Daher kippte ich das Zeug in einem Zug herunter und verschluckte mich dann auch noch fast an einem der halb geschmolzenen Eiswürfel. Leider hatte ich nicht mit dem starken Brennen in meiner Speiseröhre gerechnet, das sich richtig in meine Organe ätzte und sich blitzartig in meinem Magen breit machte.

Oh verdammt, was war das? Salzsäure? Sowas hatte ich ja noch nie gehabt.

Tränen stiegen mir in die Augen und ein Hustenkrampf packte mich mit rasiermesserscharfen Klauen. In diesem Moment zog sich in mir wirklich alles zusammen – selbst meine Zehennägel.

Reese schüttelte nur belustigt den Kopf. Ein seltenes Schmunzeln lag auf seinen Lippen. „Also doch nur ein kleines Mädchen.“

Ich versuchte, ihm einen bösen Blick zuzuwerfen, als er selbstgefällig an seinem Glas nippte, um mir zu demonstrieren, dass er ein echt harter Brocken war, der Magenwände aus Stahl basaß, aber mit tränenden Augen und einem Röcheln in der Lunge, kam das leider nicht so gut an.

„Soll ich dir vielleicht ein Glas Saft holen? Ich glaube das wäre eher etwas für dich.“

Jetzt verhöhnte er mich auch noch! Oh, warte nur, dass würde ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich knallte das Glas etwas heftiger als beabsichtigt auf den Tisch, griff mir einer Handvoll Eiswürfel aus der Schüssel auf dem Tisch und im nächsten Moment hatte Reese sie hinten in seiner Hose zu stecken.

„Ahhh!“ Wie von der Tarantel gestochen sprang er auf die Beine, schaffte es dabei noch irgendwie sein Glas sicher auf den Tisch zu stellen und begann dann einen verrückten Tanz aufzuführen, mit dem er versuchte die Eiswürfel aus den Hosenbeinen zu schütteln.

Ich sah mit stoische ruhiger Miene dabei zu wie ein Eiswürfel nach dem anderen auf den Boden kullerte. Den letzten allerdings bekam er so nicht weg, den musste er mit der Hand rausfummeln.

Dann stand er da.

Den freien Oberkörper mit einer feinen Gänsehaut überzogen stierte er mich verärgert an. „Was sollte der Scheiß?!“

„Du hast geschrien.“ Ich blinzelte. Und dann, ganz langsam, breitete sich um meine Lippen ein breites Lächeln aus. „Wie ein kleines Mädchen.“

Na das nannte ich mal einen echt finsteren Blick.

Ich wusste nicht warum, aber ich fand das so witzig, dass ich von einem Moment auf den anderen losprustete. Ich versuchte nicht mal, mich zurück zu halten, lachte einfach, auch wenn es eigentlich gar nicht so lustig war. Heute war überhaupt nichts lustig gewesen. Eine Katastrophe hatte die nächste gejagt, aber wenn ich nicht lachte, dann würde ich vielleicht wieder anfangen zu weinen und das wäre viel schlimmer.

„Das wirst du büßen“, knurrte Reese, schnappte sich einen der Eiswürfel vom Boden und kam drohend auf mich zu.

Sofort erstarb das Lachen in meiner Kehle und ich hob abwehrend die Hände. „Oh nein, das tust du nicht. Das wagst du dich nicht.“

„Und ob ich das tun werde.“ Seine Beute fest im Blick pirschte er sich an das Sofa heran – oh ja, Reese war wirklich der geborene Jäger.

„Lass das, wir sind quitt.“

„Quitt sind wir erst, wenn ich das sage.“

„Scheiße!“ Hastig sprang ich auf, doch leider war ich einen Tick zu langsam – oder seine Beine einfach zu lang. Er machte einfach einen Ausfallschritt nach vorne, bekam meinen Arm zu fassen und riss mich zurück, sodass ich auf dem Rücken auf dem Sofa landete. Im nächsten Moment hockte er auch schon über mir und drückte mich mit einer Hand an der Schulter tief in die Polster.

„Nein, nein, nein, nein!“

„Oh doch.“ Er wollte mir den Eiswürfel in den Kragen stecken, doch ich schlug seine Hand geistesgegenwärtig weg und schubste ihn dabei auch noch fast von der Couch. Doch leider stützte er sich mit einem Bein auf dem Boden ab.

Der Eiswürfel flog quer durch die Küche, prallte von der Anrichte ab und blieb dann daneben liegen.

Cherry flitzte sofort hin um nachzusehen, ob es vielleicht etwas zum Fressen war.

Und dann begann zwischen Reese und mir eine kleine Kabbelei, in der niemand dem anderen etwas schenkte. Ich versuchte, ihn von mir runter zu stoßen und verpasste ihm dabei einen Kinnhaken mit dem Ellenbogen – natürlich ganz aus Versehen. Im Gegenzug riss er mir, in dem Versuch meine Hände einzufangen, ein paar Haare aus. Doch zum Schluss war leider ich es, die unten lag. Meine Handgelenke drückte er mir über den Kopf auf die Lehne und da er immer noch auf mir hockte, konnte ich mich so viel winden wie ich wollte, ich bekam ihn einfach nicht runter. Das war ungerecht.

„So, und jetzt kommen wir zum finalen Schlag.“ Um seine Mundwinkel spielte plötzlich ein richtig dreckiges Lächeln und als er dann auch noch meine Handgelenke mit einer Hand über meinem Kopf festpinnte, wurde mir plötzlich die Situation, in der ich mich befand, bewusst. Gefangen, ausgeliefert, wehrlos. Seltsamerweise beschleunigte sich mein Herzschlag, aber nicht weil ich in Panik verfiel. Ich vertraute Reese. Zwar auf eine sehr unkonventionelle Art, aber ich wusste dass er mir nichts tun würde und das machte die ganze Sache irgendwie … aufregend.

„Was hast du vor?“

Das beantwortete er mir, indem er mit der freien Hand in die Schüssel auf dem Tisch griff und mir dann eine Ladung Eiswürfel übers Gesicht hielt.

„Nein!“ Ich schüttelte hektisch den Kopf. Eiswasser tropfte mir auf die Wangen. „Bitte nicht!“

„So, dann wollen wir doch mal sehen, wer hier wie ein kleines Mädchen schreit.“ Und dann tat er es. Er schob die Hand samt Eiswürfel unter meinen Rücken ins Hemd. Vom plötzlichen Schock der Kälte wollte ich mich aufbäumen, aber Reese drückte mich nieder.

„Kalt, kalt, kalt, kalt!“

Das ließ ihn nur noch breiter grinsen.

Ich zappelte unter ihm, versuchte vor der Kälte zu fliehen. Die Eiswürfel schmolzen in meinem Rücken, machten das Hemd ganz nass und verteilten die Kälte damit noch mehr. „Bitte bitte bitte.“

„Bitte was?“

„Ich ergebe mich, du hast gewonnen!“

„Ich will erst deine kleine Mädchenstimme hören.“

Darauf konnte er aber lange warten. Ich zerrte an meinen Handgelenken, buckelte unter ihm und dann brachte ich es irgendwie fertig, meinen Dickschädel gegen seinen zu rammen.

„Uff.“

„Ahhh!“

„Verdammt!“ Er ließ von meinen Handgelenken ab und rieb sich über die schmerzende Stirn. Ich nutzte die Gelegenheit sofort um die Eiswürfel aus meinem Hemd zu fummeln.

„Du hast einen verdammt harten Schädel, weißt du das eigentlich?“

„Das Kompliment kann ich nur zurückgeben.“ Auch ich griff mir an die schmerzende Stelle. Wenn das mal kein Hörnchen gab.

Und so saßen wir dann da. Auf der Couch, jeder rieb sich seine Stirn. Unsere Blicke trafen sich und ich begann wieder zu lachen. Diese Situation war aber auch so absurd, dass ich nur noch lachen konnte. Doch die Belustigung schwand, als Reese plötzlich ein leises Glucksen von sich gab. Nur ganz kurz. Dann kicherte er und begann richtig zu lachen.

Dieser Anblick, dieses Lachen, plötzlich wirkte er so jung. Ich hatte ihn noch nie lachen gehört und dieser Klang nahm mich gefangen.

„Das solltest du öfter machen“, flüsterte ich und wusste nicht einmal warum ich so leise sprach.

„Was?“ Er rieb sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel und grinste so jungenhaft zu mir hinunter, dass ich fast glauben könnte, dass der griesgrämige Reese nur in meiner Einbildung existierte. „Dir einen Eiswürfel ins Hemd stecken?“

Ich kicherte. „Nein, lachen.“ Nur zögerlich folgte ich dem plötzlichen Impuls, die Hand zu heben und sie ihm auf die raue Wange zu legen. Ich fuhr ich mit dem Daumen an seinem Auge entlang, strich unter die dunklen Schatten. Er schien schon lange nicht mehr richtig geschlafen zu haben. Warum war mir das nie aufgefallen? „Wenn du lachst, dann lachen deine Augen mit.“ Mein Finger wanderte weiter, zog die Kontur seines Gesichts nach, seiner Kinnpartie.

„Was machst du da, Shanks?“, fragte er sehr leise. Sein Lachen war verloschen, aber er zog den Kopf auch nicht weg, oder versuchte mich anderweitig abzuwehren.

Der Kuss in der Tiefgarage stand plötzlich wieder zwischen uns. Er dachte auch daran, ich wusste es genau. Dieses Kribbeln kehrte zurück und in meinem Magen rumorte die Aufregung. „Ich bin mir nicht sicher“, flüsterte ich genauso leise zurück. Ich beugte den Kopf vor, strich mit meinen Lippen über seine. Nur ganz zart. Der Hauch einer Berührung, die ich mit der Intensität eines Messerstichs fühlte. „Ich weiß es wirklich nicht.“

„Dann solltest du vielleicht damit aufhören.“ Er kam mir ein wenig entgegen.

„Warum?“ Es war als wären wir zwei Magneten, die sich in diesem Moment anzogen und wir konnten gar nichts dagegen unternehmen.

„Um ehrlich zu sein, weiß ich darauf auch keine Antwort.“ Sein Atem strich warm über mein Gesicht.

„Dann sollte ich vielleicht doch nicht aufhören.“ Ich nahm sein Gesicht zwischen die Hände, zog ihn näher an mich heran und legte meine Lippen vorsichtig auf seine. Ich bewegte sie nur zögernd, wartete darauf, was er tun würde. Und dann erwiderte er den Kuss. Von einem Moment auf den anderen schmeckte ich ihn mit all meinen Sinnen. Rauchig, dunkel und dann erst sein Geruch. Es war berauschend, machte süchtig.

Meine Hand wanderte über seinen Hals, über die Schulter zu seiner festen Brust, während er mich an der Taille packte. Er wurde drängender, eroberte meinen Mund mit einer Intensität die mir den Atem raubte und mich vergessen ließ, wer ich eigentlich war.

Es war, als seien wir füreinander geschaffen. Alles passte. Seine Berührungen, die Art wie er sich gegen mich presste und als er seine Hand dann auch noch unter mein Hemd schob, kam aus meiner Kehle ein Geräusch, von dem ich nicht mal wusste, dass ich dazu fähig war. Genau das wollte ich. Das und noch mehr. Noch viel mehr.

Er wanderte mit den Lippen über mein Gesicht, küsste die Narbe, als sei sie etwas Besonderes und nicht abstoßend.

„Reese“, seufzte ich und klammerte mich an seine Arme. Ich presste mich mit dem Becken gegen ihn und das Gefühl dabei schlug wie ein Blitz durch mich hindurch. Sowas hatte ich noch nie gefühlt. Diese Intensität. Es erfüllte mich mit Sehnsucht, verlangte nach mehr. Dieser Rausch, er sollte niemals enden. „Oh Gott.“

Seine Lippen wanderten über mein Kinn, folgten dem Pfad auf meinem Hals bis zu meinem Schlüsselbein. Sein Atem, jede noch so kleine Berührung ließ meine Sinne explodieren. Jede Nervenzelle in meinem Körper stand stramm und wartete auf das Mehr.

Langsam zog er seine Hand wieder hervor, strich damit über meine Schulter zu den Knöpfen des Jeanshemds. Ich wusste, dass es eigentlich unmöglich war, aber ich hörte wie der erste Knopf durchs Loch ploppte. Dann der zweite. Kühle Luft strich mir dort über die nackte Haut. Sofort waren seine Lippen da um sie zu wärmen.

Der dritte Knopf flutschte durchs Loch. Und der vierte gleich hinterher. Seine Hand strich besitzergreifend über die freie Stelle, liebkoste die Ansätze meiner Brust.

Ein heißes Brennen jagte durch meinen Leib und ballte sich in meiner Körpermitte zu einer Kugel zusammen, die mit jeder neuen Berührung langsam anwuchs.

Ich warf den Kopf in den Nacken, als er mein Hemdkragen ein wenig zur Seite schob, spürte seine Lippen die langsam in unberührte Gefilde vordrangen.

Gott, sowas hatte ich wirklich noch nie gefühlt. Das war … perfekt. Dieses Gefühl, dieses ganze Zusammenspiel, es war einfach perfekt.

Ich griff in sein Haar, hielt ihn ganz fest bei mir und …

Ein lautes Klirren ließ uns auseinander fahren.

Auf dem Boden vor der Anrichte lag ein zerbrochener Teller. Oben auf der Spüle saß Cherry, schaute sich die Bescherung an und maunzte dann in unsere Richtung, als wollte sie ihre Unschuld beteuern.

Langsam wanderte mein Blick zurück zu Reese. Sein Atem ging genauso heftig wie meiner und ich konnte schwören, dass auch sein Herz mit der Geschwindigkeit eines Düsenjets in seiner Brust schlug. Es war genauso wie in der Garage und einen Moment hatte ich Angst, dass er wieder einfach verschwinden würde. Doch er griff in meinen Nacken, zog mich zu sich hoch und küsste mich, als hätte es diese kleine Unterbrechung niemals gegeben. Wenn es möglich war, waren seine Berührungen jetzt sogar noch drängender als vorher. Und auch ich konnte mich nicht mehr zurückhalten. Diese ganzen Gefühle, etwas brach in mir. Meine Hemmschwelle löste sich praktisch in Luft auf und ich begann damit, seinen ganzen Körper mit Händen zu erkunden, während unsere Lippen miteinander zu verschmelzen schienen. Diese raue Haut in seinem Gesicht, die vernarbte Schulter. Immer tiefer glitten meine Hände und fanden wie von selbst den Bund seiner Jogginghose.

„Nein, warte.“ Er nahm seine Lippen von meinen, aber da ich nicht warten wollte, hielt er auch noch mein Handgelenk fest. „Nicht hier.“ Noch ein kurzer Kuss auf den Mund, dann erhob er sich von der Couch und entzog mir damit auch seine Wärme.

Die plötzliche Kühle war wie ein körperlicher Schmerz und das nicht nur, weil ich seinen Rückzug nicht verstand. Ich streckte die Hand aus, wollte ihn wieder auf mich ziehen, sein Gewicht erneut spüren, doch er drehte den Spieß einfach um, schnappte sich meine Hand und zog mich auf die Beine. Dann lagen seine Lippen wieder auf meinen.

In diesem Moment schien er einen solchen Hunger nach mir zu verspüren, dass er seine Hände genauso wenig von mir lassen konnte, wie ich von ihm. Minutenlang standen wir küssend in der Küche und berührten alles, was wir vom anderen zwischen die Finger bekamen.

Doch dann schien Reese sich auf sein eigentliches Ziel zu besinnen. Schwer atmend löste er den Kuss und lehnte seine Stirn in solcher Vertrautheit an meine, dass sich in meinem Magen ein seltsames warmes Gefühl breit machte. „Nicht hier“, wiederholte er seine Worte flüsternd. „Nicht auf der Couch.“

„Okay.“

Seine Finger berührten mein Gesicht, strichen über die hässliche Narbe, bevor sie meinen Arm hinunter wanderten und nach meiner Hand griffen. „Komm.“

Mit einer Eile, als befürchtete er, ich könnte es mir noch einmal anders überlegen, wenn ich nur einen Moment Zeit zum Nachdenken hätte, zog er mich hinter sich aus der Küche auf direktem Weg in sein Zimmer. Er schob mich an sich vorbei, schloss die Zimmertür und dann stand er auch schon wieder vor mir. Sein dunkler Blick verhakte sich mit meinem und katapultierte meinen Herzschlag alleine damit in den Orbit. Dabei tat er nichts anderes, als mich anzusehen. Wie war das nur möglich? Das war doch verrückt!

Meine Finger zuckten. Ich wollte ihn wieder berühren. Die wenigen Zentimeter zwischen uns schienen kaum zu überwinden zu sein, als ich meine Hand ausstreckte und die ihm auf die Wange legte. Seine Augen schlossen sich flatternd und seine Atmung schien schneller zu werden. Langsam glitten meine Finger an seinem Gesicht entlang, zum Hals wo sein Puls in einem viel zu schnellen Rhythmus pochte.

Seine Hände ballten sich zu Fäusten, als ich zu der vernarbten Haut kam.

Ich hielt inne. „Tut das weh.“

„Nein.“ Er schlug die Augen wieder auf. In seinem Blick wohnte die Nacht, so dunkel war er. „Es tu nicht weh. Ich spüre dort nichts.“

„Gar nichts?“ Ich strich über die ganze Schulter, hinunter zu seinem Oberarm und stoppte genau an der Schwelle zur unverletzten Haut.

„Gar nichts“, flüsterte er, packte mich am Nacken und zog mich an sich heran. Dann lagen seine Lippen wieder auf meinen und sperrten jedes weitere Wort damit für die Ewigkeit weg. Dabei umklammerte er mich mit einer Verzweiflung, die ich nicht verstand.

Ich dränge mich ganz nah an ihn heran, schlang meine Arme um seinen Nacken und glaubte vergehen zu müssen, als er seine Hand unter mein Hemd schob und die Haut entlangstrich. Immer höher, bis er meine empfindliche Brust berührte.

Oh Gott, genau das war es, das wollte ich – das und noch viel mehr. Hier und jetzt wollte ich wirklich alles. Und das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass es passieren würde.

Jahrelang hatte ich kein Interesse an dem anderen Geschlecht gehabt, war viel zu sehr mit mir selber beschäftigt gewesen, mit den Alpträumen und Monstern in meinen Gedanken. Erst ein griesgrämiger Kerl, der mich am liebsten in die Hölle geschickt hätte, befreite mich nicht nur aus ihr, sondern schaffte es auch noch meine schlafenden Sinne zu wecken und mich an diesen Punkt zu bringen.

Das machte mich plötzlich ziemlich nervös. Und dass er mich dann auch noch rückwärts zum Bett manövrierte, machte es nicht unbedingt besser. Aber ich wollte das hier. In diesem Moment wollte ich es so unbedingt, dass ich die leisen Zweifel und das plötzlich mahnende Gefühl zum Schweigen brachte und mich willig von Reese nach hinten schieben ließ, bis ich mit den Kniekehlen an die Bettkante stieß.

Ich wusste was als nächstes kam, wollte es auch, aber dieser Kuss … ihn zu unterbrechen wäre eine Sünde die ich nicht bereit war, zu begehen. Daher tastete ich mit der Hand hinter mich, wollte mich vorsichtig ins Bett gleiten lasse – vielleicht auch ein wenig elegant – doch Reese hatte ganz anderes im Sinn. Eine Hand fest auf meinem Rücken, packte er mich mit der anderen in der Kniekehle und hob mich einfach hoch.

Vor Schreck unterbrach ich den Kuss und klammerte mich an seine Schultern. Doch es passierte gar nichts. Reese hatte alles im Griff. Behutsam legte er mich auf sein Bett, schob sich dabei über mich und vereinigte unsere Münder wieder in einem Tanz der so alt war wie die Zeit selber.

Dieses Gefühl, das alles, es war so intensiv … weder Raum noch Zeit spielten mehr eine Rolle. Es war völlig unerheblich wo ich war, wer ich war, oder ob draußen gerade die Welt unterging, Hauptsache er war bei mir und er hörte niemals auf. Das hier, dieses Zusammenspiel, es sollte niemals enden. Wenn mir das Schicksal heute gut gesonnen war, würde es das hier niemals enden lassen.

Tastende Hände fuhren über Haut, erkundeten Berge und Täler, liebkosten nicht nur den Körper, sondern auch die Seele.

Ich bemerkte erst das Reese mein Hemd komplett geöffnet hatte, als er es zur Seite strich und seine Hand von meiner Kehle langsam, ja fast anbetungswürdig über meine Brust wanderte.

Das brachte mich wieder ein wenig zur Besinnung. Dem Impuls folgend, mich wieder zu bedecken, wollte ich seine Hand wegschieben, doch dann begann er, seine Wanderung über meinen Oberkörper mit seinem Mund fortzuführen. In meinem Unterleib entstand ein so heftiges Ziehen, dass ich nach Luft schnappte und meine Augen sich ganz alleine flatternd schlossen, um es noch intensiver erleben zu dürfen.

Von da an fühlte ich nur noch. Ich fühlte seine Wärme und sein Gewicht. Seinen heißen Atem der über meine Haut strich und alle Härchen stramm stehen ließ. Ich spürte seine Hände, seine Bewegungen, seine Berührungen, die sich bis tief in meinen Leib zogen und jede Zelle meines Körpers vor Aufregung vibrieren ließen. Ich spürte, wie die Kleidung von unseren Körpern glitt, bis da nichts mehr zwischen uns war – nur Haut. Aber vor allen Dingen spürte ich seine Küsse. Das war wohl das einzige, von dem ich in meinem ganzen Leben niemals genug bekommen würde.

Diese Küsse, ich liebte sie. Und auch er schien sich an ihnen einfach nicht sättigen zu können. Niemals hätte ich geglaubt, dass Reese ein Mann sei, der so viel Zeit fürs Küssen aufbringen würde. Und dann auch noch mit solch einer Intensität. Erst hier in seinem Bett merkte ich, wie falsch ich doch gelegen hatte.

Es schien eine weitere Ewigkeit ins Land gezogen zu sein, als er seine Lippen von meinen löste und über mich hinweg zu seinem kleinen Nachtschränkchen in die Schublade griff.

Meine Hände glitten über den Rand seiner Narbe, fasziniert von dem Gefühl der verschiedenen Hautflächen und hielten erst inne, als ich das Knistern hörte. Ein Kondom. Natürlich, das war richtig so, doch in diesem Moment schlug meine Nervosität voll zu. Ich hatte das ja noch nie gemacht. Wie würde es sein? Tat es wirklich weh? Manche behaupteten das ja. Andere erzählten das genaue Gegenteil.

Als ich sah, wie er das Kondom mit geübten Griffen überzog, schlug mein Herz plötzlich aus ganz anderen Gründen mit Überschlaggeschwindigkeit. Er konnte mit Erfahrung aufwarten, die ich mir wahrscheinlich nicht mal in meinen kühnsten Träumen vorstellen konnte. Bisher war alles so schön gewesen, aber plötzlich schüchterte mich dieser Gedanke ein. Was wenn ich etwas falsch machte? Würde er es merken? Vielleicht sollte ich ihm ja sagen, dass ich noch Jungfrau war. Aber würde das überhaupt etwas ändern?

Ich wollte die Stimmung nicht durch unsicheres Gerede kaputt machen, daher ließ ich meinen Mund geschlossen, bis seine Lippen wieder da waren, wo sie für den Augenblick hingehörten – auf meinen. Diese Mal jedoch drängte er sich beharrlich zwischen meine Schenkel.

Es war ein seltsames Gefühl so offen und entblößt dazuliegen, doch ich wollte das hier – unbedingt. Deswegen zog ich ihn noch fester an mich, versuchte mich mit Berührungen abzulenken und mir meine plötzliche Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Doch auch wenn ich es vor ihm verbergen konnte, mir selber konnte ich leider nichts vormachen. Der Hauch von Angst lag in meiner gespannten Erwartung und wurde mit jeder streichelnden Berührung, mit jedem Kuss ein wenig größer.

Ich spürte seine tastenden Finger ganz genau, spürte wie er sich über mir positionierte und konnte nichts dagegen unternehmen, dass ich mich ein wenig verkrampfte, als er mich ein kleines Stück in Besitz nahm.

Er stöhnte, schloss die Augen und vergrub das Gesicht an meiner Halsbeuge. Sein Becken zog er ein wenig zurück, nur um dann ein wenig weiter vorzudringen. Dabei küsste er meine Schulter, meine Halsbeuge, mein Schlüsselbein. Immer wieder tat er das und langsam begann ich mich unter ihm wieder zu entspannen. Das war gar nicht schlimm, nicht schmerzhaft, nur angenehm.

Ich seufzte erleichtert und in diesem Moment drängte er sich mit seiner ganzen Länge in mich hinein – viel weiter, als die Male zuvor. Ich gab einen Schmerzenslaut von mir, verkrampfte mich und er wurde über mir ganz starr. Da war etwas gerissen. Ich hatte es ganz deutlich gespürt und das hatte Scheiße-noch-mal wehgetan!

Reese war das leider auch nicht entgangen. „Scheiße!“, fluchte er und erhob seinen Oberkörper von mir. Auf die Arme gestützt sah er mir ungläubig in die Augen. Nur ganz kurz zuckte sein Blick zu der Stelle an dem unsere Körper nun miteinander verbunden waren, als könnte er dort durch meine Haut sehen was eben passiert war. Dann waren seine Augen auch schon wieder auf meinem Gesicht. „Sag mir jetzt nicht, dass du noch Jungfrau bist.“

Schweigen, das war es was ich tat. Schweigen war Gold und ich war der Meinung, dass dieser Moment vergoldet gehörte.

Er zog seine Augenbrauen so fest zusammen, dass sie wie eine wirkten. „Shanks?“

War das da Reue in seinen Augen? Unsicherheit? Verdammt, vielleicht war Schweigen doch nicht immer Gold. „Ähm … genaugenommen nein. Also äh … jetzt … nein.“

Er tat einen kräftigen Atemzug, als müsste er sich beruhigen. „Warst du noch Jungfrau, als du diesen Raum betreten hast?“

Irgendwie fand ich dieses Gespräch ziemlich grotesk. Vielleicht auch einfach nur, weil ich es zu verschulden hatte, aber es war mir unangenehm. „Ist doch egal.“ Ich wich seinem Blick aus. „Jetzt bin ich es jedenfalls nicht mehr.“

„Nicht mehr? Verdammt Shanks! Warum hast du mir das nicht gesagt?!“ Er wollte sich von mir lösen, kam aber nicht weit, weil ich sofort Arme und Beine um ihn schlang.

„Nein, bitte, hör nicht auf.“

Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Er war nicht wütend, sondern … ich wusste es nicht. Vielleicht enttäuscht? Im Zwiespalt mit seinem Gewissen? „Ich kann nicht.“ Er schüttelte den Kopf, sodass ihm seine Haare in die Augen fielen. „Hätte ich das gewusst, wäre es niemals so weit gekommen. Ich dachte du bist einfach … eng, aber das …“ Wieder ein Kopfschütteln.

Das zu hören, versetzte mir einen Stich. Was bitte wäre denn anders, wenn ich keine Jungfrau mehr gewesen wäre? Da gab es eigentlich nur eine logische Antwort und die gefiel mir gar nicht. „Warum? Weil ich nicht mit der Erfahrung aufwarten kann, die du sonst gewohnt bist?“ Ich ließ Arme und Beine von ihm gleiten, wandte das Gesicht ab.

„Schwachsinn! Es ist nur … es …“ Er stockte, als wüsste er selber nicht was er eigentlich sagen wollte. „Shanks, wir …“

„Perfekt“, flüsterte ich sehr leise.

„Was?“

„Es ist perfekt. Das alles ist … ich möchte es so. Bis zum Ende.“ Zögern wagte ich es meine Hand auf seine pockennarbige Wange zu legen. „Es ist einfach nur perfekt.“

Seine weichen Lippen verengten sich ein wenig. Er sah mich nicht an, schien zerrissen zu sein zwischen dem was er sollte und dem was er wollte.

„Bitte, verweigere es mir nicht.“ Sanft strich mein Daumen unter seinem Auge entlang. „Nicht heute, nicht jetzt.“

Reese gab auf. Er schloss die Augen, senkte sich wieder auf mich und umschlang mich so fest, als befürchtete er, ich könnte sonst einfach auseinander fallen. Ein Kuss auf den Hals, einer auf die Schulter. Sehr langsam begann er sich wieder zu bewegen, wollte mir die Zeit lassen mich daran zu gewöhnen.

Anfangs war es noch unangenehm, aber je mehr Zeit verstrich, umso besser fühlte es sich an. Der Rausch kehrte zurück, die Berührungen wurden wieder intensiver und als seine Lippen zurück zu meinen fanden, vergaß ich das Universum um mich herum.

Da war nur noch Reese. Nichts anderes war mehr wichtig.

 

°°°

 

Die sanften Strahlen der Sonne kitzelten mich, als ich langsam die Augen aufschlug. Im ersten Moment war ich ein wenig orientierungslos. Das war nicht mein Bett. Und auch nicht das von Nick. Genaugenommen hatte ich dieses Bett noch nie in meinem Leben gesehen. Zumindest nicht aus diesem Blickwinkel, also was machte ich hier?

Als ich mich aufstützen wollte, um mich umzusehen, bemerkte ich den schweren Arm über meiner Taille und das war der Moment, in dem es mir wie Schuppen von den Augen fiel.

Oh.

Mein.

Gott.

Von einem Moment auf den anderen, standen mir die Bilder der vergangenen Nacht leibhaftig vor Augen. Ich hatte mir Reese geschlafen. Und nicht nur das, ich hatte mit Reese mein erstes Mal verbracht, nachdem er mir gebeichtet hatte, dass sowohl er als auch Nick in sechs Tagen sterben konnten.

Nick.

Oh Gott, ich hatte meinen Freund betrogen. Ich hatte ihn mit seinem Bruder bei einer Flasche Whiskey hintergangen und … Moment, das konnte die Lösung sein. Alkohol! Das Ganze war einfach nur ein völlig überzogener Traum, verursacht von zu viel Alkoholkonsum. Die Tatsache dass ich nur ein Glas getrunken hatte und auch mehr als deutlich spüren konnte, was in der letzten Nacht geschehen war, verdrängte ich einfach. Das war alles nur Einbildung aufgrund von zu viel Whiskey. Und ich lag nur in Reese' Bett, weil … weil … na darum eben.

Als Reese sich hinter mir plötzlich bewegte, wurde ich ganz starr. Er kuschelte sich einfach nur enger an mich heran, schlief aber weiter. Leider bemerkte ich dadurch eine Tatsache, für die ich keine Ausrede fand. Er war nackt! Das konnte ich ganz deutlich spüren. Aber noch viel schlimmer war, dass auch ich nackt war. Oder? Vielleicht bildete ich mir das ja auch nur ein. Vielleicht schlief ich ja noch.

Oh bitte, bitte. Wer immer dort oben mich hören konnte, sollte machen, dass ich nur einen ganz verrückten Traum von meinem Lehrcoach hatte, über den ich beim Aufwachen einfach nur den Kopf schütteln würde.

Nur leider wachte ich nicht auf. Ich lag da und betete zu jemandem, den es nicht gab.

Okay, ganz ruhig, jetzt musste ich logisch an die Sache rangehen. Aber wie machte man das in einer solchen Situation? Verdammt, ich hatte praktisch mit meinem Lehrer geschlafen!

Vorsichtig riskierte ich einen Blick über meine Schulter.

Reese schlief. Hier in seinem Bett sah er so friedlich aus, dass ich einen Moment glauben konnte jemand Fremdes hinter mir zu haben. Aber da waren diese vertrauten Züge und dieser Mund. Oh Gott, dieser Mund, seine Küsse, seine Berührungen. Alles erwachte vor meinem inneren Auge plötzlich wieder zum Leben.

Ich musste hier raus!

Und zwar ganz schnell.

Und ganz leise.

Für eine Auseinandersetzung, oder gar ein Gespräch hatte ich jetzt wirklich nicht die Kraft. Nicht wenn ich ihn noch überall an und in mir spüren konnte. Nicht wenn sein Geruch noch in meiner Nase hing und ich an meinem ganzen Körper seine Wärme fühlte.

Sehr vorsichtig griff ich unter der Decke nach seiner Hand und hob sie ein Stück nach oben. Ich verrenkte mir halb den Rücken bei dem Versuch, unbemerkt von ihm wegzurutschen und bekam beinahe ein Herzinfarkt, als er im Schlaf schmatzte.

Bitte wach nicht auf, bitte, bitte schlaf weiter. Bitte.

Ich wartete einen Moment und als er sich nicht weiter regte, rutschte ich noch ein Stück über die Laken. Meine Konzentration galt alleine Reese, deswegen bemerkte ich auch nicht wie nahe ich bereits der Bettkante war und fiel auch noch beinahe aus dem Bett. Das hätte mir an diesem Morgen gerade noch gefehlt, aber ich schaffte es irgendwie, mich oben zu halten und dankte dem lieben Herrgott im Himmel, als ich endlich neben dem Bett stand und Reese immer noch ruhig und gleichmäßig atmete.

Hastig flitzte ich auf der Suche nach meinen Klamotten durch das Zimmer, nur um festzustellen, dass ich gar keine Klamotten hatte. Da waren nur das Hemd und die Jogginghose die er mir gestern geliehen hatte. Gestern, bevor das alles geschehen war.

Ich biss mir auf die Lippe, um einen Fluch zu unterdrücken, als ich sie mir vom Boden klaubte und eilig überzog. Ohne einen weiteren Blick in seine Richtung zu werfen, schlich ich aus dem Zimmer. Aber auch hier konnte ich nicht aufatmen.

Ich hatte mit Reese geschlafen. Dieser Gedanke hatte sich so fest in meinem Hirn verankert, dass ich ihn einfach nicht loswurde. Ich musste nachdenken, aber nicht hier. Hier würde ich nicht zur Ruhe kommen. In Windeseile hatte ich meine Sachen in der Küche zusammengesucht und entdeckte sogar mein Handy auf dem Tisch. Hatte das da gestern schon gelegen? Ich wusste es nicht mehr und es war auch egal. Nicht egal waren die vielen verpassten Anrufe. Mist, ich hatte mich gestern den ganzen Tag nicht Zuhause gemeldet. Hoffentlich hatte Onkel Roderick sich nicht zu viele Sorgen gemacht. Ich würde ihn gleich anrufen, aber erstmal musste ich meine dreckigen Klamotten aus dem Bad holen.

Leider musste ich dazu an Nicks Zimmertür vorbei und zu meinem Schrecken stand die auch noch offen. Die war gestern aber auf jeden Fall geschlossen gewesen, da war ich mir ganz sicher.

Mein Herz schlug mir aus Angst vor Entdeckung bis zum Hals. Wenn Nick jetzt rauskam, wenn er mich hörte, wie sollte ich ihm meinen Aufenthalt hier erklären? Noch dazu in den Klamotten seines Bruders?

Verdammt, was hatte ich mir nur dabei gedacht? Wie hatte das passieren können? Das war doch sonst nicht meine Art. Also was hatte dieser Kerl an sich, dass ich mich zu so einer Tat hatte hinreißen lassen? Ich verstand es einfach nicht. Ich verstand es absolut nicht, besonders da ich so einen tollen Freund hatte. Okay, gestern war er auf mich losgegangen, aber sonst war er der beste Freund den ich mir vorstellen konnte.

Und ich hatte ihn betrogen, ohne auch nur einen Gedanken an ihn zu verschwenden.

Hier vor seiner Tür, vor den Augen anderer verborgen, schlug das plötzliche, schlechte Gewissen mit seiner ganzen Kraft zu. Ich hatte Nick betrogen. Ich hatte ihn hintergangen und die ganze Zeit nicht einmal an ihn gedacht. Kein Zögern, kein Zaudern. Nach Reese' erster Berührung war er völlig aus meinen Gedanken verschwunden gewesen, so als hätte er niemals existiert.

Und das war wohl das Schlimmste an der ganzen Sache. Nicht nur, dass ich ihn betrogen hatte, ich hatte ihn dabei völlig vergessen.

Wie war das möglich?

Ich legte meine Hand an Nicks Türrahmen, als könnte diese Berührung ungeschehen machen, was ich getan hatte. Wann war Nick nah Hause gekommen? Hatte er etwas gehört? Hatte er geglaubt, dass ein anderes Mädchen bei seinem Bruder war? Oder hatte er sogar gewusst, dass ich dort lag?

Ich zögerte lange, wagte dann aber doch einen vorsichtigen Blick in den Raum.

Nick lag auf seiner Matratze und schlief. Sein Gesicht war völlig entspannt, die blonden Haare ganz zerzaust und der Mund einen kleinen Spalt geöffnet. Er sah aus wie ein kleiner Junge, der darauf wartete richtig zugedeckt zu werden. Die Decke hatte er bis zur Hüfte runter gestrampelt und das Gesicht in dem Kissen vergraben, das ich immer zum Schlafen benutzte.

Als suchte er meine Nähe.

Als sehnte er sich nach meinem Geruch.

Als vermisste er meine Wärme.

Dieser Anblick gab mir den Rest. Er machte mir solche Schuldgefühle, dass ich meinen Blick abwenden musste. Ich musste hier raus. Das würde ich einfach nicht länger ertragen. Einfach nur raus und nachdenken. Damit würde ich meine Tat nicht ungeschehen machen können, aber vielleicht endlich wieder Luft bekommen.

Oh Gott, ich hatte ihn betrogen. Ich hatte mit seinem Bruder geschlafen. Es war egal was vorher alles geschehen war, ich hätte das niemals tun dürfen.

 

°°°

 

„Hallo, bist du anwesend?“ Evangeline schnipste mit den Fingern vor meinem Gesicht herum, aber ich reagierte nicht darauf. Viel zu sehr war ich von den Worten auf meinem Handydisplay gefangen. „Hallo-ho! Jemand zu Hause da oben?“

Ich schob ihre Hand weg und stützte meinen Kopf seufzend auf meinen Arm.

Vor zehn Minuten war ich in der Akademie angekommen und mein schlechtes Gewissen war auf dem Weg hierher zur Größe des Mount Everest angewachsen. Meinen Onkel hatte ich noch mit einer kurzen Erklärung abspeisen können, aber Nick schrieb mir bereits den ganzen Morgen kurze Nachrichten, weil ich einfach nicht ans Telefon ging, wenn er anrief.

Ich konnte nicht. Ich konnte einfach nicht mit ihm sprechen, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Was konnte man in einer solchen Situation auch sagen? Sollte ich es ihm beichten? War es besser es ihm zu verschweigen? Vielleicht war es aber auch das Beste, einfach abzuwarten um zu sehen, was passieren würde. Sozusagen den Dingen seinen Lauf lassen. Ich wusste es wirklich nicht und Nicks andauernde Nachrichten machten es nicht besser. Mit jeder neuen wuchs mein schlechtes Gewissen weiter und drohte mich unter seinem Gewicht zu begraben.

Reese dagegen hatte sich nicht einmal bei mir gemeldet. Vielleicht schlief er ja noch und hatte gar nicht bemerkt, dass ich schon weg war. Vielleicht war es ihm aber auch nicht wichtig und er war ganz froh, dass ich mich heute Morgen aus seinem Bett gestohlen hatte.

Mein Handy piepte zum gefühlten hundertsten Mal an diesem Morgen.

Es tut mir leid Cherry, ich wollte dich nicht verletzen.

Ich biss mir auf die Lippen.

Bitte verlass mich nicht, ich mache es wieder gut.

Bitte rede mit mir.

„Was starrst du denn da die ganze Zeit auf dein Handy?“ Evangeline lehnte sich mit einem schelmischen Lächeln zu mir hinüber. „Liebesschwüre von deinem Herzblatt?“

Wenn es nur so wäre. Seufzend legte ich das Handy auf den Tisch. „Nein.“

Sie stutzte über meinen schweren Ton. „Was ist los? Probleme?“

Das war eine gute Zusammenfassung, wenn auch etwas milde ausgedrückt.

„Grace?“

Mein Handy piepte erneut. Ich traute mich schon kaum noch, die Nachrichten zu lesen. Noch mehr Entschuldigungen konnte ich kaum ertragen, nicht mit der Gewissheit, dass ich ihn hintergangen hatte und er von nichts wusste. Und trotzdem konnte ich nichts dagegen tun, dass ich auch diese Nachricht wieder öffnete.

Bitte Cherry, rede mit mir, es tut mir wirklich leid.

„Also wenn du mir nicht gleich sagst was los ist, dann reiße ich dir das Handy aus der Hand und lese es selber.“

Als ich in die vertrauten Augen meiner Freundin sah, schienen die Stimmen der anderen Lehrlinge im Klassenraum irgendwie weit weg, Aber was sollte ich sagen? Ich schämte mich ja sogar vor mir selber für das, was ich getan hatte. Mein Gott, ich hatte einen Riesenkrach mit Nick gehabt, weil ich mich ihm verweigert hatte und dann hüpfte ich frisch-fröhlich mit seinem Bruder ins Bett? Was stimmte bei mir eigentlich nicht? Wie sollte ich einem der beiden Männer jemals wieder unter die Augen treten? Wie sollte ich Evangeline beichten, was ich getan hatte? Das war doch nicht ich, sowas tat ich normalerweise nicht. „Es ist … es …“

Sie sah mich nur abwartend an, aber als ich nicht weiter sprach, stieß sie mich mit der Schulter an. „Los komm schon, spuck es aus, so schlimm kann es doch gar nicht sein.“

Hast du eine Ahnung. „Wir haben uns gestritten, ich und Nick und …“ Verdammt!

„Oh“, machte sie nur. „Hey, mach dir keinen Kopf, das wird schon wieder. Sowas kommt in den besten Familien vor, das weißt du doch.“

„Ja schon, aber … es … er hat mir nicht zugehört. Gestern.“ Ich stockte kurz. „Als das mit Devin passiert ist, da hat er mir nicht zugehört.“

Bekümmernis hielt Einzug in ihrem Gesicht. Sie war mit Devin zwar nicht so gut befreundet gewesen wie ich, aber er war immer noch ein Klassenkamerad, der von jedem gemocht worden war.

„Nick wollte mir nicht zuhören, weil er sauer war und dann …“ Bin ich mit seinem Bruder im Bett gelandet. Und es war phantastisch. Nein, das konnte ich ihr nicht sagen, das war einfach nicht möglich. Ich musste erst selber mit diesem Gedanken klar kommen, bevor ich darüber reden konnte.

Evangeline nahm mich wortlos in den Arm.

Ich verdiente das nicht, sie sollte mich nicht trösten, weil sie es aus den falschen Gründen tat, aber ich konnte sie auch nicht wegstoßen. Es fühlte sich auch nicht gut an, dafür lastete die Schuld einfach zu sehr auf meinen Schultern, aber das hatte ich verdient. Ich hatte diese Gewissensbisse verdient. Ich hätte so viel mehr verdient.

In dem Moment wurde es in der Klasse ruhiger.

Ich sah auf und entdeckte Herrn Keiper, der hinter seinen Schreibtisch trat und uns mit ruhigem Blick musterte, bis auch der letzte sich schweigend auf seinem Platz eingefunden hatte.

Wieder piepte mein Handy. Ich wusste ich sollte es nicht tun. Ich wusste, das mein schlechtes Gewissen dadurch nur noch größer werden würde und trotzdem las ich die neue Nachricht.

Bitte Cherry, bitte verzeih mir.

Oh Gott, wie sollte ich das nur jemals überleben?

Vorne räusperte sich Herr Keiper. „Ich gehe davon aus, dass ihr es bereits alle wisst und trotzdem möchte ich es noch einmal mit euch darüber reden. Gestern gab es einen Großeinsatz in einem Einkaufszentrum. Zwei von euch haben daran teilgenommen, doch nur einer ist unversehrt wieder rausgekommen.“

Alle Blicke in der Klasse glitten zu mir.

Sie wussten es. Natürlich wussten sie es. Die meisten von ihnen hatten es noch gestern Abend erfahren und es dem Rest erzählt.

„Devin war ein aufstrebender Jäger, ein intelligenter Junge, der seine Fähigkeiten einzusetzen wusste.“ Herr Keiper sah uns nacheinander fest in die Augen. „Aber selbst den Besten unter uns unterlaufen Fehler. Devin hat nichts falsch gemacht. Er hat sich an Regeln und Anweisungen gehalten, aber leider ist das Verhalten eines Proles nie vorhersehbar und das ist das eigentlich gefährliche an der Jagd. Niemand kann im Vorfeld wissen, was einem bevorsteht. Bisher seid ihr alle mit einem blauen Auge davon gekommen. Einige haben bereits schwerere Einsätze hinter sich, doch nichts davon ist vergleichbar mit dem, was Devin und Grace gestern durchmachen mussten. Nur ein Fehler kann euch das Leben kosten. Nur ein Fehler und ihr …“

„Devin hat keinen Fehler gemacht!“, schrie ich ihn an. Ich wusste nicht warum, ich wusste nicht woher die Wut so plötzlich kam, aber mit jedem weiteren Wort, das von Herr Keiper kam, drängten die Bilder des vergangenen Tages wieder an die Oberfläche. Das Center, die vielen Toten, die sterbende alte Frau, das tote Baby, die leblosen Augen von Goldberg. Blut, Feuer, Gewalt. Schreie, Unglauben. Angst. Das war die Ursache für Devins Tod, die Venatoren hatten es mit der Angst zu tun bekommen und nicht mehr genau darauf geachtet was sie taten. „Er wurde von einer Kugel getroffen, nicht von diesem Monster getötet, also versuchen sie ja nicht, das ganze als Lappalie abzutun. Er wurde getötet und zwar von einem von uns!“ Selbst den Besten unter uns konnten Fehler unterlaufen? Devins einziger Fehler war es gewesen, helfen zu wollen. Das war der Grund warum er hatte sterben müssen. Weil er immer zu allen freundlich war, weil er immer helfen wollte, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. „Er wurde getötet, weil wir Angst hatten.“

Ruhig begegnete Herr Keiper meinem Blick. „Ich hatte nicht vor, es als Lappalie abzutun. Devin war ein großartiger Junge und ich wollte ihn eigentlich ehren und euch ermahnen vorsichtiger zu werden, damit euch sowas nicht auch passiert.“

„Vorsichtiger?“ Ich lachte scharf auf. „Wären Sie auch da gewesen, würden Sie nicht so eine gequirlte Scheiße von sich geben! Dieses Monster hat die Leute reihenweise umgebracht! Es war so schnell, dass wir es nicht erschießen konnten. Es hat Max getötet und Julian, aber nicht Devin. Devin wurde getötet, weil auch die erfahrenen Venatoren in Panik geraten sind. Das ist der Grund, warum er hatte sterben müssen!“

„Grace, vielleicht solltest du dich beruhigen. Du kannst auch …“

„Ich will mich aber nicht beruhigen! Was soll der Scheiß? Glauben Sie wirklich, dass ich hier sitze während Sie ruhig und sachlich seinen Tod besprechen?! Er ist tot! Devin ist in meinen Armen gestorben! Und ich werde nicht hier sitzen und mir den Schwachsinn von Ehre und Tugend anhören! Er ist weg, er wird niemals wiederkommen. Nie, verstehen Sie?! Niemals!“ Ich schnappte mir meine Tasche und rauschte aus dem Klassenraum. Mein Puls raste, mein Kopf dröhnte. Devin würde niemals zu uns zurückkommen. Er war nur achtzehn Jahre geworden, hatte sein Leben der Rettung anderer widmen wollen und jetzt war er tot. Tot!

Oh Gott, Devin war tot. Er war vor meinen Augen erschossen worden.

Ich hörte die Rufe von Evangeline und Herrn Keiper, aber ich beachtete sie nicht. Ich konnte da nicht wieder rein, ich konnte nicht dasitzen und sachlich über den Verlust eines Freundes reden, nur um daraus eine Lehre für mein Leben zu ziehen. Das konnte niemand von mir verlangen. Niemand – auch nicht Herr Keiper.

Er hatte doch gar keine Ahnung wovon er sprach, war nicht dabei gewesen, hatte nicht gesehen was geschehen war. Devin war tot. Nie wieder würde ich ihn lachen hören, nie wieder mit ihm sprechen, nie wieder würde ich sehen, wie er sich verlegen am Kopf kratzte und die Schuld daran trug Taid. Er hatte dieses Monster erschaffen, er hatte es entkommen lassen und nun waren deswegen auch noch die Leben von Nick und Reese in Gefahr.

Als mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss, blieb ich so abrupt im Korridor der Akademie stehen, als hätte sich vor mir plötzlich eine Wand aufgetan. Heute war Montag und der Wettkampf würde am Samstag stattfinden. Es blieben sechs Tage um eine Bestie zu fangen hinter der Reese bereits seit fünf Wochen her war. Nur sechs verdammt kurze Tage. Wie sollte das gehen? Das war doch gar nicht zu schaffen, oder? Aber es musste doch einen Weg geben. Und ich musste ihn finden, sonst würde ich bald zwei weitere Männer zu Grabe tragen können.

Andererseits, würde Taid das wirklich machen? War er fähig zwei unschuldige Männer für etwas büßen zu lassen, das er selber zu verantworten hatte?

In diesen Gedanken hinein piepte mein Handy ein weiteres Mal. Ich dachte gar nicht weiter darüber nach, als ich die Nachricht öffnete. Umso überraschter war ich, dass sie nicht von Nick war. Sie kam von einer mir unbekannten Nummer.

Hier kannst du mich jetzt erreichen. Reese.

Reese?

Das musste seine neue Nummer sein. Sein Handy hatte er ja im Center eingebüßt. Doch alleine den Namen zu lesen versetzte meinem Herzen einen schmerzhaften Stich. Er erwähnte mit keinem Wort, was in der letzten Nacht passiert war. Bedeutete es ihm so wenig? War es ihm völlig egal?

Ich kniff die Lippen zusammen und schrieb ihm, dass er mich morgen früh in der Gilde einsammeln sollte. Dann schaltete ich mein Handy aus. Heute kamen da sowieso keine positiven Nachrichten. Aber auch wenn ich nicht verstand, warum die wenigen Worte mich so enttäuschten, konnte ich ihn nicht einfach im Stich lassen. Es blieben noch sechs Tage um ihn und Nick den Hintern zu retten. Sechs Tage die ich Zeit hatte dieses Monster zu finden und es seinem Besitzer zu bringen.

Ich hatte keine Ahnung wie ich das machen sollte, oder wo ich mit der Suche überhaupt beginnen konnte, aber ich wusste ganz genau, dass ich ihm helfen musste, weil ich vorher sonst keine ruhige Minute mehr haben würde. Ich würde es einfach nicht ertragen, wenn durch dieses Biest noch jemand starb, der mir wichtig war.

Ja, Nick und Reese waren mir in den letzten Wochen wichtig geworden und deswegen musste ich etwas unternehmen, bevor es zu spät war.

Entschlossen setzte ich mich in Bewegung. Jetzt würde Jagd auf ein Monster machen – und zwar auf meine Art.

Alles andere kam später.

 

°°°°°

Kapitel 14

 

Müde rieb ich mir über die Nasenwurzel. Die Buchstaben und Zahlen begannen bereits vor meinen Augen zu verschwimmen und mir Worte zu suggerieren, die es nicht mal gab – am Tatwort? Im Rot? Sollte das nicht eigentlich im Tod heißen? Ich hatte eindeutig zu viel gelesen, aber ich konnte jetzt auch nicht aufhören. Ich hatte noch keinen einzigen, stichhaltigen Hinweis, alles nur vage Vermutungen und Indizien und die halfen mir im Moment leider nicht weiter.

Auf dem Schreibtisch nebenan klingelte ein Telefon, aber der dazugehörige Venator war draußen auf der Jagd und kein anderer schien sich dafür zuständig zu fühlen.

Vorne löste Madeleine gerade die Nachtschicht ab. Aziz hatte ich vorhin in den Korridor verschwinden sehen. Wahrscheinlich wollte er bei Jilin nicht in Vergessenheit geraten und sie mit seinem allmorgendlichen Besuch beehren.

Auch Sheas Schreibtisch war leer. Jilin hatte ihm Zwangsurlaub verpasst. Er hatte nicht nur seinen Partner und jahrelangen Jugendfreund verloren, sondern auch seinen Praktikanten. Bei seiner letzten Jagd wäre er um ein Haar schwer verletzt worden. Jilin hielt es einfach für sicherer, wenn er ein paar Tage hatte, in denen er wieder zu sich selbst finden konnte.

Im allgemeinen herrschte heute eine ziemlich gedrückte Stimmung in der Gilde. Es war beinahe noch schlimmer als gestern. Ich war von der Akademie aus direkt hierher gefahren. Niemand hatte gefragt, was ich hier zu suchen hatte. Ich durfte hier sein, auch auf einem Montag, denn ich gehörte zu ihnen. Und da Reese einen freien Tag hatte, war ich den ganzen Tag an seinem Schreibtisch beschäftigt gewesen. Ich hatte Akten durchforstet. Hunderte von Akten. Jede einzelne hatte ich gelesen, mir haufenweise Notizen gemacht, aber eigentlich war ich kein Stück weitergekommen.

Und das war es, was ich seit gestern tat. Ich sichtete die Akten von Shea über Drei/siebenunddreißig und auch die Unterlagen, die man über den Einsatz im Center angelegt hatte. Jede einzelne Seite, jedes einzelne Foto. Mein Block war voll mit Notizen, aber keine brachte mich auch nur ein Stück weiter. Bis in die späten Abendstunden war ich hier gewesen und war auch nur gegangen, weil Madeleine mich rausgeschmissen hatte, damit ich mich zu Hause ausschlafen konnte. Das war nicht geschehen. Ich hatte die ganze Nacht wach dagelegen und war schon um fünf wieder in die Gilde gefahren, einfach weil ich es nicht mehr ausgehalten hatte, tatenlos rumzuliegen – und weil ich den Stapel Akten, den ich mir mitgenommen hatte, bereits ausgelesen hatte.

Jetzt hatte ich noch fünf Tage und eine Karte mit allen Orten, an dem das Monster zugeschlagen hatte. Das war die Arbeit von einem ganzen Tag.

Ich klappte die aktuelle Akte zu und zog die nächste heran. Irgendwo in diesen Papieren musste doch etwas drinstehen, was uns helfen konnte. Mehr als nur eine vage Vermutung, mehr als nur Indizien. Nur eine Kleinigkeit. Irgendwas hatte ich sicher übersehen, ich musste es nur finden.

„Was machst du da?“

„Arbeiten“, sagte ich ohne aufzublicken. Auf eine Unterhaltung mit Seth konnte ich im Augenblick gut verzichten. Hier standen Menschenleben auf dem Spiel.

„Du beschäftigst dich mit dem Fall im Center, oder?“

„Was willst du, Seth?“ Ich zog ein Foto hervor. Es zeigte den seitlichen Eingang des Centers, nachdem das Feuer gelöscht worden war. Eigentlich wollte ich es mir gar nicht zu genau ansehen, aber ich musste es tun. Wenn hier ein Hinweis drauf war, der mich weiterbringen konnte, dann musste ich ihn finden. Ich musste einfach.

„Kann ich dir helfen?“

Diese Frage brachte mich einen Moment so aus dem Konzept, dass ich doch den Kopf hob. Seth bot seine Hilfe an? Ganz freiwillig? Misstrauisch kniff ich die Augen zusammen. „Du willst mir helfen? Warum?“

Bei dieser Frage versteifte sich sein ganzer Körper. „Dann eben nicht.“ Auf dem Absatz machte er kehrt und kehrte an den Schreibtisch von Aziz zurück, wo er seine Nase in irgendwelchen Unterlagen vergrub und mich nicht mehr beachtete.

Was bitte war das gerade gewesen? Hatte er mir wirklich helfen wollen? Irgendwie konnte ich mir das nicht vorstellen, nicht bei Seth, aber so beleidigt wie er jetzt guckte, schien er es wirklich ernst zu meinen.

Seltsam.

Gut, Devin war auch einer seiner Kameraden gewesen und der Partner seines Lehrcoachs war bei dem Einsatz ums Leben gekommen, aber konnte das wirklich eine hundertachtzig Grad Drehung bei ihm verursacht haben? Seth war doch sonst immer so ichbezogen. Ich hatte noch nie erlebt, dass er etwas aus reiner Selbstlosigkeit für andere getan hätte.

Wirklich seltsam. Aber es war auch gut, dass er so schnell wieder abgezogen war. Bei dieser Arbeit konnte ich ihn wirklich nicht gebrauchen. Die anderen Venatoren sagten nichts, wenn ich das tat. Sie glaubten, ich brauchte diese Arbeit um den Verlust zu verarbeiten, aber auch nur weil sie nicht die Wahrheit kannten.

Ich brauchte sie um zwei Leben zu retten.

Daher verdrängte ich Seth auch aus meinen Gedanken und zog mir die Karte mit den roten Punkten heran. Wie schon die von Shea verliefen die Punkte anfangs alle an der Spree entlang. Ungefähr nach zwei Wochen, veränderten sie sich, schlugen die Richtung tiefer in die Stadt ein. Von da an wurden die Reste seiner Beute in der ganzen Stadt gefunden, aber erst mir war aufgefallen, dass es in der Nähe der Fundstellen immer U-Bahnstationen gab. Drei/siebenunddreißig musste sich also schon eine ganze Weile einen Weg durch das unterirdische System bahnen. Und hier tauchte auch die erste Unregelmäßigkeit in seinem Verhalten auf.

Drei/siebenunddreißig hatte jeden Tag mehrere Proles getötet, hauptsächlich trächtige Weibchen. Doch zwei Tage vor seinem Endringen ins Center hörte diese Serie auf. Keine toten Proles mehr, keine andere Beute. Es hörte einfach auf und ich fragte mich warum. Irgendetwas musste vorgefallen sein, dass sein Verhalten grundlegend geändert hatte.

Vielleicht ein Zusammenstoß mit einem Menschen? Aber wenn ja, wo war dann die Leiche? Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass dieser Proles einen Menschen leben lassen würde. Vielleicht war er aber auch auf ein Rudel Abkömmlinge gestoßen, die es ihm nicht so leicht gemacht hatten.

Egal was geschehen war, es war der Wendepunkt gewesen und das bereitete mir große Sorgen. Zwei Tage hatte es kein Lebenszeichen von sich gegeben und das Ergebnis war ein Massaker gewesen. Und nun war es bereits wieder seit zwei Tagen still. Was würde es als nächstes tun? Wo würde es auftauchen? Ich musste es finden bevor wieder etwas passieren konnte, aber wo steckte es nur?

Ich sah mir noch einmal die einzelnen Punkte auf der Karte an. Irgendwo darauf musste es doch einen Hinweis geben, aber da war nichts. Keine Wege die es mehrmals beschritten hatte, keine Orte an denen es ein zweites Mal aufgetaucht war. Gar nichts.

Schritte nährten sich dem Schreibtisch und als ich aufsah, guckte ich in ein ziemlich verärgertes Gesicht.

Reese.

Seinen Mantel hatte er durch eine Lederjacke ersetzt, die schon ziemlich alt zu sein schien. Aber sie stand ihm. Sie stand ihm sogar verdammt gut und dass mir das auffiel, das gefiel mir so gar nicht.

Mein Herz geriet einen Moment aus dem Takt und schlug dann mit dreifacher Geschwindigkeit weiter. Die Bilder unserer gemeinsamen Nacht liefen wie ein Film vor meinem inneren Auge ab und in meinem Magen machte sich ein Gefühl von tausend Ameisen breit, die da drinnen eine Tanzparty zu schmeißen schienen.

Verdammt, nein, das war nicht gut. Sowas wollte ich nicht fühlen.

Reese stützte die Arme auf seinem Schreibtisch ab und beugte sich so weit vor, dass sich unsere Nasenspitzen beinahe berührten. Für einen verrückten Moment glaubte ich er wollte mich küssen, was meinen Puls auf eine angenehme Art auf Touren brachte. Doch sein verärgerter Blick sagte mir eindeutig, dass nichts von meinen Hirngespinsten wahr werden würde.

„Das ist das erste und einzige Mal, dass ich hier morgens wegen dir auftauchen werde. Verstanden?“

Da war er wieder, dieser schmerzhafte Stich. War das alles was er zu sagen hatte?

„Und jetzt werde ich dich auch nur mitnehmen, wenn du mir einen guten Grund dafür liefern kannst, warum zum Teufel ich hierher musste.“

Mein Mund klappte auf, aber anstatt ihm eine Antwort zu geben, wich ich seinem Blick aus. War es ihm egal dass wir miteinander geschlafen hatten? Oder wollte er es nur nicht erwähnen, weil hier so viele andere waren, die uns hören konnten? Aber er hatte mich ja auch nicht angerufen.

Keine Nachricht.

Nichts.

Fast hätte ich über meine eigenen Gedanken geschnaubt. Warum sollte er auch? Für mich war es etwas Besonderes, mein erstes Mal, aber für ihn war ich sicher nur ein Kerben im Bettpfosten.

„Wie du meinst.“ Er richtete sich wieder auf, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte los.

„Wo willst du hin?“

„Zur Arbeit, da wo ich schon längst hätte sein sollen.“

„Ohne mich?“ Ich sprang auf die Beine, rannte um den Schreibtisch herum und zwar so eilig, dass ich nicht mal die Karte ablegte. „Warte!“

„Vergiss es. Meinetwegen kannst du hier versauern.“

Verdammt, er würde mich wirklich hier lassen. „Wegen Nick“, rief ich ihm hinterher und verschwieg damit einen Teil der Wahrheit.

Reese blieb stehen und wandte sich wieder zu mir herum. „Was?“

„Ich bin hier, weil …“ Ich verstummte als mir auffiel, dass wir von mehreren neugierigen Augenpaaren beobachtet wurden. Das hatte mir gerade noch gefehlt, Zuschauer. Hatten die keine eigenen Probleme?

Ich setzte mich wieder in Bewegung, bis ich vor Reese zum Stehen kam. „Ich wollte Nick nicht begegnen“, sagte ich leise. „Nachdem was passiert ist … ich weiß einfach nicht was ich tun soll.“ Nicht mehr, nachdem wir miteinander geschlafen hatten. Verstand er es? Wusste er worauf ich hinaus wollte, oder glaubte er, dass ich von Nicks Aggression mir gegenüber sprach?

Reese schnaubte. „Super. Du hast dich mit ihm gezofft und ich muss mich deswegen jetzt verbiegen?“ Er beugte sich wieder zu mir runter. Sein Geruch schlug mir entgegen. Rauch, Zahnpasta und eine Note die ihm allein zu eigen war. Verdammt, das sollte mir gar nicht auffallen.

Ich musste schlucken. Warum nur mussten mir jetzt wieder seine Küsse in den Sinn kommen?

„Jetzt pass mal gut auf. Ab morgen wirst du wieder bei mir auf der Matte stehen, ansonsten nehme ich dich nicht mit. Wenn du Probleme mit Nick hast, dann klär die mit ihm, denn ich habe keine Lust mich in euer Beziehungsdrama mit hineinziehen zu lassen. Mir reicht es schon, dass ich das kleine Häufchen Elend den ganzen Tag Zuhause sehen muss. Ich habe dir gesagt dass Nick sehr anhänglich wird und deine Ignoranz verletzt ihn. Also hast du jetzt zwei Möglichkeiten. Vertrag dich wieder mit ihm, oder mach Schluss, aber hör auf, ihn zu ignorieren.“

Ich biss mir auf die Lippen. Vertragen? Schluss machen? Wie sollte ich das machen, wo ich doch nicht mal wusste wie ich ihm gegenübertreten sollte? „Geht es ihm wirklich so schlecht?“

„Schlechter.“

Das half jetzt nicht wirklich. „Was soll ich machen?“

„Woher soll ich das wissen? Er ist dein Freund und du kennst meine Meinung.“ Er richtete sich wieder gerade auf. „Du kanntest sie von Anfang an.“

Ich sah zu ihm auf, sah in diese dunklen Augen mit dem pockennarbigen Gesicht. Sie wirkten so abweisend, genervt, unerreichbar. Ich konnte nicht erkennen, was in seinem Kopf vorging. Er war unnahbar, so ganz anders als in dieser Nacht. Wo war sein Lächeln? Wo war die Sanftheit hin, mit der er mich behandelt hatte? Wie konnte er von einem Tag auf den anderen nur wieder so anders werden?

In den letzten Wochen hatten wir es irgendwie geschafft, uns zusammenzuraufen, aber jetzt schien er sich wieder von mir zu entfernen. Warum? Lag es wirklich an der Beziehung zwischen mir und Nick und weil er da einfach nicht mit reingezogen werden wollte, oder hatte es was mit unserer gemeinsamen Nacht zu tun?

Die Frage lag mir auf der Zunge. Sie brannte mir dort praktisch ein Loch hinein, aber ich wagte es nicht, sie auszusprechen. Er tat so als hätte es sie nie gegeben. Es war ihm egal, ob ich mit seinem Bruder zusammen blieb oder nicht, er wollte einfach nur seine Ruhe haben.

Ich runzelte die Stirn. Konnte er sich überhaupt daran erinnern, was zwischen uns passiert war? Ich meine, er hatte ja reichlich Whiskey getrunken. Vielleicht hatte er ja einen Black Out gehabt und erinnerte sich gar nicht daran. Das würde zumindest erklären, warum er so abweisend war. Oder war er das einfach nur um mit diesem Thema nicht behelligt zu werden, weil es ihm im Grunde egal war?

Als das mit dem Kuss in der Garage passiert war, hatte er mich ja auch nur schnell abgespeist. Es war passiert und damit war die Sache für ihn erledigt gewesen. Kein Grund, das alles noch mal in allen Einzelheiten durchzukauen.

Verdammt, warum musste das alles nur so kompliziert sein?

„Gibt es einen bestimmten Grund, warum du mich so anstarrst, oder ist jetzt auch noch das letzte bisschen Grips aus deinem Hirn verschwunden?“

Okay, er war eindeutig feindseliger als sonst. Oder? Das bildete ich mir doch sicher nicht ein. „Ich frage mich nur … weißt du noch was du mir Sonntagabend erzählt hast?“ Vielleicht würde ich auf diesem Wege herausfinden wie gut sein Erinnerungsvermögen für diesen Abend war.

Reese neigte den Kopf zur Seite, als müsste er erst in seinem Gedächtnis kramen, weil er sich wirklich nicht mehr an alles erinnern konnte. Vielleicht überlegte er aber auch einfach nur was genau ich meinen könnte. Oder wie viel er preisgeben sollte. Wollte er sich dumm stellen?

Sein unergründlicher Blick musterte mich und fiel dabei auf meine Hand. Sofort zogen sich seine Augenbrauen zusammen. „Ich weiß zumindest noch, dass ich dir gesagt habe, du sollst dich da raushalten.“

Bevor ich überhaupt realisieren konnte was er damit meinte, riss er mir die Karte aus der Hand und fuhr die einzelnen Punkte mit den Augen ab.

„Das kann doch nicht wahr sein!“, fuhr er mich an. Seine Augen fixierten mich auf eine Art, die mir das Gefühl gab in den Lauf einer geladenen Waffe zu gucken. „Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Verdammt, das ist doch kein Spiel! Ich hab dir gesagt …“

„Pssst!“, machte ich und schaute bedeutungsschwer zu Aziz Schreibtisch, an dem Seth bereits neugierig den Kopf gehoben hatte. Und er war auch nicht der einzige. Mehrere der Venatoren hier schienen gerade nicht viel zu tun zu haben.

Reese packte mich etwas grob am Arm und zog mich zu seinem Schreibtisch zurück. Seine Augen flogen über das Chaos, das ich auf seinem Tisch veranstaltet hatte und natürlich entdeckte er auch meinen Block mit den Notizen. „Was hast du dir dabei gedacht?!“ Er blätterte den Block durch. Dabei wurden die Runzeln auf seiner Stirn immer tiefer.

„Ich weiß nicht. Ich dachte mir, das Schlaf völlig überbewertet ist und ich mir stattdessen lieber hier die Nacht um die Ohren haue, um deinen undankbaren Hintern zu retten.“

Er schnaubte. Dieser Blödmann stieß doch tatsächlich ein höhnisches Schnauben aus. „Glaubst du nicht, dass ich bereits selber auf diese Idee gekommen bin? Ich habe alle diese Akten durchgesehen, mehr als einmal, aber da drin gibt es einfach nichts, was mich weiterbringt.“

„Vielleicht hab ich ja etwas entdeckt, was du übersehen hast.“

„Sehr unwahrscheinlich.“

Dieser … ahrrr! „Weil du ja so ein Überflieger bist, der niemals Fehler begeht. Und daran, dass du jetzt in dieser Situation steckst, sind auch andere Schuld, was?“

Dafür bekam ich einen bitterbösen Blick. „Du hast nichts Neues rausgefunden.“

War das jetzt eine Frage gewesen? Verdammt, warum musste bei diesem Kerl nur immer alles so kompliziert sein? „Er bewegt sich durch die U-Bahntunnel. Vor vier Tagen muss etwas passiert sein, weswegen er sein Verhaltensmuster grundsätzlich geändert hat. Er …“

„Er hat einen Menschen getötet.“

Ich blinzelte. „Bitte?“

„Vor vier Tagen. Drei/siebenunddreißig ist in den U-Bahn-Tunneln einem Wartungsarbeiter über den Weg gelaufen. Er hat ihn getötet. Er lernt verdammt schnell. In der Zwischenzeit weiß er, dass Waffen gefährlich sind.“ Reese schob alle Unterlagen, die ich in den letzten vierundzwanzig Stunden zusammengebracht hatte, zu einem Stapel zusammen. „Drei/siebenunddreißig ist von annähernd menschlicher Intelligenz. Er lernt. Mit jeder Minute lernt er dazu. Er hat immer nur Poles getötet, weil er es so gelernt hat. Taid hat andere Abkömmlinge an ihn verfüttert oder auch einfach zum Kämpfen zu ihm gesteckt. Aber nun hat er gelernt, dass Menschen wesentlich leichter zu töten sind, vorausgesetzt er weicht ihren Waffen aus.“

Mein Mund klappte auf. „Aber …“

„Ich habe wesentlich mehr Informationen. Du kannst hier nicht helfen, also halt dich verflucht noch mal in Zukunft raus, verstanden?!“

Ich presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Er tat ja gerade so als wenn ich ihm schaden wollte.

„Verstanden?“

Ja, ich hatte verstanden, aber das war egal. Er war in Schwierigkeiten und ich wusste es. Wenn ihm was passiert wüsste ich nicht, wie ich damit klarkommen würde. „Lass mich dir helfen“, bat ich.

„Nein.“

„Warum bist du nur so ein Sturkopf?“

„Warum kannst du kein Nein akzeptieren?“

„Weil ich nicht will, dass euch etwas passiert.“

Reese wandte einfach nur den Blick ab und packte meine ganzen Papiere in seinen Schreibtisch. Einen Klick später war es eingeschlossen. Jetzt würde niemand außer ihm dort rankommen.

„Reese, bitte. Ich will …“

„Es ist völlig egal, was du willst!“, fuhr er mich an. „Ich habe nein gesagt, das geht dich nichts an und jetzt will ich davon nicht mehr hören!“

„Du kannst mir nicht den Mund verbieten!“

Er kniff die Augen zusammen. „Aber ich kann dich durchfallen lassen.“

Mein Mund klappte auf, aber kein Ton kam heraus. Er meinte doch nicht wirklich das, was ich gerade vermutete, oder? „Redest du vom Praktikum? Du willst mich durchfallen lassen, wenn ich dir helfen will?“

„Nein.“ Er beugte sich mir über den Schreibtisch entgegen. Sein Blick war dabei so hart und eiskalt, wie ich es noch nie an ihm gesehen hatte. „Ich werde dich durchfallen lassen, wenn du dein Leben in Gefahr bringst, obwohl ich es dir verboten habe.“

Diesen Spieß konnte ich auch umdrehen. „Wie willst du mich denn durchfallen lassen, wenn du tot bist?“ Ich kniff die Augen zusammen. „Verstehst du denn nicht? Ich kann dir helfen. Du weißt, dass ich dir helfen kann, also höre endlich auf so stur zu sein und nimm mein Angebot verdammt noch mal an!“

Wir lieferten uns ein Blickduell. Keine Seite wollte nachgeben, weil beide Recht hatten. Aber ich hatte mehr Recht. Ich konnte ihm helfen. Zwei Köpfe waren besser als einer, vier Augen sahen mehr als zwei. Das musste er einfach verstehen!

„Tack! Grace!“, rief Madeleine uns in dem Moment. „Dringender Auftrag!“

Na toll. „Das hier ist noch nicht beendet.“

„Und ob es das ist!“ Reese stieß sich vom Schreibtisch ab und marschierte nach vorne zum Tresen.

Oh nein, das war noch nicht beendet. Dieses Mal würde ich nicht nachgeben, da konnte er sich Kopf stellen.

Mit diesem Entschluss folgte ich ihm.

Madeleine händigte uns unseren ersten Auftrag aus. Mehrere Amphs waren in ein Mehrfamilienhaus eingedrungen und sorgten dort für allerlei Unruhe.

Zeit, ihnen den Hintern zu versohlen.

 

°°°

 

So spät war es eigentlich noch gar nicht. Trotzdem war es draußen schon dunkel wie bei Nacht. Die Lichter der Häuser und Läden strahlten mit den Laternen am Straßenrand um die Wette und mischten sich zu einem bunten, aufdringlichen Kaleidoskop. Sie verschwammen durch das Fenster des Autos und wurden erst wieder deutlich, als Reese an einer roten Ampel halten musste.

„Keine Alleingänge.“

Ich drehte mich auf dem Beifahrersitz halb zu ihm herum. „Ich habe ganz ehrlich keine Ahnung, wovon du sprichst.“

„Drei/siebenunddreißig.“ Er zog seine Zigarettenschachtel aus der Lederjacke, steckte sich eine Kippe in den Mund und schmiss die Schachtel aufs Armaturenbrett. Das Feuerzeug klickte und gleich darauf war der Wagen erfüllt von dem Geruch seiner Zigaretten. „Du willst helfen? Okay, aber du gehst nicht alleine. Du machst immer genau das, was ich sage und wenn ich dir sage, dass du verschwinden sollst, dann tust du das auch, verstanden?“

Da blieb mir doch glatt der Mund offen stehen. Den ganzen Tag hatte er das Thema nicht mehr angesprochen. Wir waren in dem Mehrfamilienhaus gewesen und hatten die Amphs ausgeschaltet. Danach mussten wir in einer Hochgarage Fallen aufstellen und dann hatte noch eine Jagd nach einem verirrten Krant auf dem Plan gestanden.

Den ganzen Tag hatten wir uns nur auf die Arbeit konzentriert und waren allen Themen ausgewichen, die nichts damit zu tun hatten. Er hatte mit mir noch immer nicht über unsere gemeinsame Nacht gesprochen. Es schien fast, als hätte dieses Zusammenspiel zwischen uns nur in meinem Kopf stattgefunden. Er behandelte mich ganz normal. Keine Anspielungen, keine komischen Blicke oder unangebrachten Berührungen. Einfach nur Reese mein Lehrcoach.

Daher hatte ich mich dafür entschieden das Thema ruhen zu lassen. Ich würde nicht versuchen mit ihm darüber zu sprechen und ich würde auch Nick nichts davon sagen. Es war ein einmaliger Ausrutscher und wenn er nicht mehr wusste, was geschehen war, so konnte auch ich so tun, als wäre es niemals passiert.

Aber dass er jetzt aus heiterem Himmel wieder davon anfing, überraschte ich sehr.

„Verstanden?“, fragte er noch einmal nachdrücklicher.

Ein Nicken war alles, wozu ich fähig war.

„Gut.“ Er sog an seiner Zigarette, als die Ampel wieder auf grün sprang. „Ich war gestern noch mal unten in den Tunneln und konnte seine Spur noch etwas weiter verfolgen, doch …“

„Du warst noch mal unten? Alleine?“ War er noch zu retten?!

„Willst du das nun hören oder nicht?“

Ich klappte meinen Mund wieder zu. Mit Fragen konnte ich ihn auch hinterher noch löchern, jetzt interessierte es mich erstmal was er zu sagen hatte.

„Danke.“ Er setzte die Zigarette erneut an seinen Mund an und sprach dann weiter. „Ich hab seine Spur noch ein Weilchen verfolgen können, doch in der Nähe vom Kottbusser Tor war dann Feierabend gewesen. Da hat er sich praktisch in Luft aufgelöst.“

Kottbusser Tor? Das kannte ich ziemlich gut. Das war gar nicht so weit von mir entfernt. Irgendwie wollte mir dieser Gedanke nicht besonders gut gefallen. „Das heißt, dass wir die Suche dort fortsetzen müssen.“

„Ja.“ Er setzte den Blinker, um in eine schmale Seitenstraße einzubiegen. „Ich habe mir den Rest der Woche frei genommen. Du wirst solange mit einem anderen Venator mitfahren.“

Bitte? „Aber wie soll ich dir dann helfen, wenn ich gar nicht dabei bin?“

Er zuckte nur mit den Schultern. „Das ist dein Problem.“

Na ganz große Klasse. „Ich könnte mich die Woche krankscheiben lassen.“ Obwohl mir dieser Gedanke überhaupt nicht gefiel.

„Tu was du tun willst, das ist deine Sache.“

Natürlich. Erst warf er mir einen Knochen hin und dann hielt er mich so kurz an der Leine, dass ich nicht rankam. Wirklich sehr nett.

Ich blickte wieder aus dem Fenster. Die kleine Seitenstraße öffnete sich zu einer Hauptstraße und mir wurde eines sehr deutlich klar. „Das hier ist nicht der Weg in die Gilde.“

„Ach wirklich? Zum Glück habe ich dich, die solche Weisheiten mit mir teilt.“

Wenn wir nicht zur Gilde fuhren, wohin waren wir dann unterwegs? „Haben wir noch einen Auftrag bekommen?“

Er warf mir von der Seite einen Blick zu, unter dem ich mir sehr dumm vorkam.

„Was?“

„Ich war heute schon in der Gilde. Dank dir. Ich fahre nicht noch einmal hin.“

Mir schwante böses. „Und wenn wir nicht zur Gilde fahren, wo fahren wir dann hin?“

„Nick abholen.“ Kurz, sachlich, schmerzlos.

„Halt sofort an.“

„Warum sollte ich?“

Weil ich noch nicht bereit war meinem Freund gegenüber zu treten, darum. Sich dafür zu entscheiden, etwas zu verheimlichen und es dann auch wirklich zu machen, waren immer noch zwei Paar Schuhe. „Ich meine es ernst. Halt an, ich will aussteigen.“

Reese warf mir einen kurzen, undefinierbaren Blick zu, schüttelte dann denn Kopf und fuhr an der nächsten Möglichkeit an den Straßenrand. „Du kannst nicht ewig davon laufen.“

Er wusste also, warum ich aussteigen wollte. War ja auch nicht wirklich schwer zu erraten. „Das habe ich auch nicht vor. Ich muss nur erstmal … ich … jetzt kann ich das noch nicht.“

Als ich nach meinem Gurt griff, drehte Reese sich zu mir herum und hielt meinen Arm fest. Dabei kam er mir so nahe, dass mein Herz gleich wieder komische Sachen machte. Verdammt, ich musste diese Nacht endlich aus meinem Kopf bekommen.

„Er leidet, Shanks.“

Ich kniff die Lippen zusammen. Das wusste ich schon. Es tat mir auch leid, aber im Moment konnte ich das nicht ändern.

„Normalerweise mische ich mich da nicht ein, aber es tut ihm weh und wenn du nicht aufhörst ihn so zu behandeln, dann werde ich mich einmischen. Und glaub mir wenn ich dir sage, dass es dann für dich sehr unschön wird. Vertrag dich mit ihm oder mach Schluss, aber schaffe klare Fronten. Verstanden?“

„Ich bin ja nicht dumm.“

„Gut.“ Er ließ den Gurt los und widmete sich wieder seiner Zigarette.

 

°°°

 

„Igitt, manchmal bist du wirklich ekelhaft, Dom.“

Domenico grinste Evangeline nur frech an und manschte mit bloßen Händen weiter in der Masse herum, die einmal Teil einer Kuh gewesen war. „Das kann man doch alles abwaschen.“

Mein Handy piepte, wie schon so oft in den letzten Tagen.

Es ist bereits nach sechs, bist du schon auf dem Weg nach Hause?

Noch ein Piepen.

Sehen wir uns noch?

Und noch eines.

Ich kann dich auch abholen.

Und noch einmal.

Ich vermisse dich.

Ich seufzte, als läge die Last der Welt auf meinen Schultern. Das ging nun schon seit fünf Tagen so. Eine Nachricht folgte auf die andere, aber bisher hatte ich es immer noch nicht über mich gebracht, mit Nick zu sprechen, oder ihm gar gegenüberzutreten.

Und mit Reese lief es auch nicht besser. Hatte er mir am Montag noch versprochen, er würde mich zur Jagd mitnehmen, so wusste ich heute, er wollte mich nur ruhig stellen. Es war Freitag und ich hatte die ganze Woche nicht einmal etwas von ihm gehört. Sein Handy war die ganze Zeit aus und zu ihm nach Hause konnte ich nicht – nicht wenn ich nicht Nick begegnen wollte. Nicht mal Jilin konnte ihn erreichen, was sie mehr als einmal besorgt die Augenbrauen zusammenziehen ließ. Sonst war Reese immer erreichbar.

Ich wusste was los war, aber ich konnte es ihr nicht sagen und jetzt hatte er nur noch einen Tag. Morgen war der Wettkampf und im Moment sah es nicht so aus, als wenn Taid mit seinem Monster-Proles daran teilnehmen konnte. Die Chancen dazu standen extrem schlecht. Gerade mal vierundzwanzig Stunden, dann war Reese' Frist abgelaufen.

Vor Sorge hatte ich die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Genaugenommen hatte ich die ganze Woche äußerst schlecht geschlafen – so schlecht, dass Evangeline mich bereits mehr als einmal auf meine dunklen Augenringe angesprochen hatte. Selbst Maik, der Venator, mit dem ich die ganze Woche unterwegs gewesen war, hatte sie mehr als einmal bemerkt. Was er aber nicht gemerkt hatte war, dass ich Reese' Schreibtischschloss geknackt hatte. Es hatte zwei Tage in Anspruch genommen, aber ich hatte es geschafft und meine Notizen gehörten nun wieder mir. Leider brachte mir das nicht viel, aber in diesem ganzen Durcheinander und den ständigen Sorgen war das wenigstens ein kleiner Silberstreif am Horizont.

Wieder piepte mein Handy.

Wir könnten ins Kino gehen.

Und gleich darauf noch einmal.

Oder etwas essen. Ganz wie du möchtest.

Verdammt, warum nur musste er so lieb sein? Dadurch wuchs mein schlechtes Gewissen nur. Es wuchs mit jeder neuen Nachricht, mit jedem weiteren Wort. Ich hatte es verstanden, es tat ihm leid, aber leider war sein Vergehen nicht annähernd so schlimm wie meines. Und das war auch der Grund, warum ich mich einfach nicht traute, mich ihm zu stellen.

„Für sowas gibt es Kochlöffel und Kellen.“ Evangeline musterte ihre Fingernägel, als seien sie das interessanteste auf der ganzen Welt. „Nur damit du es weißt.“

Ich schielte aus dem Augenwinkel zu meiner besten Freundin hinüber. Sie hatte sich mit respektvollem Abstand zu dem Futterbottich, in dem Domenico die Mahlzeiten für seine Kuscheltiere anrührte, auf die Anrichte gesetzt und verzog jedes Mal das Gesicht, wenn er seine Hände erneut in das zerhackte Fleisch steckte, um es für die anstehende Mahlzeit vorzubereiten.

Sie hatte schon Recht, ich würde da auch nicht freiwillig reinfassen.

Wieder ein Piepen.

Wir können auch einfach nur zu Hause sitzen und reden.

Und noch ein Piepen.

Oder einen Film schauen.

Ich lehnte mich mit dem Rücken rechts neben Domenico an die Anrichte und ließ dabei mein Handy in der Tasche verschwinden. Wenn ich noch eine dieser Nachrichten las, würde ich wohl heulen. Oder wahlweise auch einfach nur schreien.

„Rede doch einfach mit ihm.“

Ich sah auf und begegnete sowohl Evangelines als auch Domenicos Blick.

Evangeline neigte den Kopf zur Seite. „Ich sehe doch wie sehr dich das belastet. Und so oft wie er dir schreibt, wird er wohl mindestens genauso leiden.“

Ich schüttelte den Kopf. Das ging nicht. Ich konnte ihm nicht gegenübertreten, noch nicht. Ich musste erst selber damit klar kommen.

„Was? Er leidet nicht genauso?“

„Nein, es ist …“ Ich biss mir auf die Lippen.

„Es ist was?“

„Kompliziert.“

„Was soll denn daran kompliziert sein?“ Domenico streifte sich Fleischreste vom Arm und warf sie zurück in den Bottich. „Ihr habt euch gestritten. Sprecht miteinander, vertragt euch wieder und seid glücklich bis zu eurem nächsten Streit.“

Am liebsten hätte ich aufgelacht. Wenn es nur so einfach wäre, dann würde ich bestimmt nicht seit einer Woche schlaflose Nächte erleben. Aber leider war es nicht einfach. In meiner Situation war im Moment gar nichts einfach. Und die Sache mir Drei/siebenunddreißig machte das Ganze nur noch schlimmer.

Noch ein Tag. Nur noch ein verfluchter Tag und ich konnte nichts weiter tun als abzuwarten und auf ein Wunder zu hoffen, dass niemals geschehen würde.

„Grace?“ Evangeline ließ ihre Fingernägel, Fingernägel sein und beugte sich leicht vor. „Warum ist es kompliziert?“

Ich sah sie an, ich öffnete sogar meinen Mund, aber kein Ton kam heraus. Stattdessen lief plötzliche eine Träne über meine Wange. Nur eine einzige. Einsam, verlassen. Ich wollte es nicht zugeben, aber diese Situation überforderte mich maßlos.

„Oh Scheiße.“ Evangeline entging die Träne natürlich nicht. Sie sprang von der Anrichte und wollte mich in die Arme reißen, doch ich war noch nie jemand gewesen, der gerne gekuschelt hat. „Hey.“ Ohne auf meine Abwehrhaltung zu achten, ergriff sie meine Hand. „Was ist denn los?“

„Was los ist?“ Nun konnte ich mir das höhnische Auflachen doch nicht mehr verkneifen. „Ich habe richtig Scheiße gebaut, das ist los.“

„Du?“ Evangeline runzelte die Stirn. „Aber ich dachte ihr habt euch gestritten, weil Nick dir nicht zugehört hat.“

„Ja, das ist auch … es …“ Wütend wischte ich mir die dumme Träne von der Wange. „Ich habe mit Reese geschlafen.“ So, nun war es raus.

Domenico, der gerade auf dem Weg zum Waschbecken gewesen war, hielt mitten in der Bewegung inne und starrte mich fassungslos an.

„Du hattest endlich Sex?“ In Evangelines Gesicht breitete sich ein Strahlen aus, aber dann ging ihr wohl die genaue Bedeutung meiner Worte auf und es schwand schneller als der Roadrunner. „Moment, Reese? Aber ist das nicht dein … Lehrcoach.“ Mit dem letzten Wort beantwortete sie sich ihre Frage ganz alleine.

Ich wich ihrem Blick aus, wollte die Verurteilung meiner Taten nicht sehen.

„Aber du bist doch mit Nick zusammen und ich dachte … oh Scheiße. Verdammt, wie konnte das passieren?!“

Wenn ich das nur wüsste.

„Darum also weichst du ihm aus.“ Sie ließ meine Hand los und stellte sich so vor mich, dass sie mir direkt ins Gesicht sehen konnte. „Du hast ein schlechtes Gewissen.“

„Natürlich hab ich ein schlechtes Gewissen. Verdammt Eve, ich habe mit dem Bruder meines Freundes geschlafen und hab jetzt keine Ahnung was ich machen soll.“ Ich sah sie flehend an. „Sag mir was ich machen soll, ich weiß es nicht.“

„Sag es ihm nicht.“

Ich wandte Domenico das Gesicht zu und begegnete einem Blick, der hart wie Stein war. So hatte er mich noch nie angesehen. Ich wusste nicht einmal, dass dieser warme und herzliche Mensch so kalt gucken konnte.

„Der Kerl scheint was für dich übrig zu haben. Wenn du es ihm sagst, wird er es sein der darunter leidet. Du hast hier die Scheiße gebaut, du hast ihn beschissen, also behalt dein schlechtes Gewissen für dich. Er hat nichts Falsches gemacht, das warst du, also komm alleine damit klar.“ Es schepperte laut, als er den Bottich von der Anrichte hob und auf den großen Metallwagen stellte. „Ich hätte niemals gedacht, dass einer von euch beiden zu so etwas fähig wäre.“

„Dom!“, mahnte Evangeline und warf mir einen vorsichtigen Blick zu.

Ich verstand ihn. Die Trennung von seiner Freundin Teresa war noch nicht lange her und es hatte auf die gleiche Art geendet. Er war noch nicht darüber hinweg. „Es tut mir leid.“

„Das sollte es auch.“ Domenico würdigte mich keines Blickes mehr, schnappte sich einfach seinen Wagen und brachte ihn hinaus um die Proles der Akademie zu versorgen – so wie er es jeden Tag nach dem Unterricht tat.

„Hey.“ Evangeline startete einen neuen Versuch mir den Arm um die Schulter zu legen und dieses Mal entkam ich ihr nicht. Ich hatte auch nicht die Ambitionen mich dagegen zu wehren, zu sehr schmerzten die harschen Worte die Domenico mir um die Ohren gehauen hatte. Und das nicht nur, weil er noch nie so mit mir geredet hatte. Er hatte Recht. Jedes seiner Worte hatte der Wahrheit entsprochen. Ich hatte die Scheiße gebaut, also sollte ich auch alleine damit klar kommen.

„Er hat es nicht so gemeint“, versuchte Evangeline mich zu trösten. „Er ist nur verletzt. Du weißt schon, wegen Teresa.“

„Doch, er hat es genauso gemeint. Und er hat Recht. Ich hab so richtig Mist gebaut und weißt du was das Schlimmste daran ist? Die ganze Zeit habe ich nicht einmal an Nick gedacht.“ Ich rieb mir über das Gesicht, verbot mir eine zweite Träne zu vergießen. Dazu hatte ich kein Recht, nicht nachdem was ich getan hatte. „Die ganze Zeit existierte nur Reese in meinem Kopf. Erst am nächsten Morgen ist mir wieder eingefallen, dass ich ja eigentlich einen Freund habe.“ Ich lachte freudlos auf. „Ist das nicht traurig? Was sagt das über mich aus?“

„Dass du viel zu wenig Erfahrung mit Männern hast.“

Ob das nun ein schlechter Scherz war, der mich eigentlich hätte zum Lachen bringen sollen, oder auch nicht, diese Aussage enthielt wirklich so viel Wahrheit, dass ich fast ein bedauernswertes Lachen ausgestoßen hätte. „Und wie hilft mir das jetzt weiter?“

„Im Grunde gar nicht, aber ich weiß etwas anderes was hilft.“

Na da war ich ja mal gespannt. „Und das wäre?“

„Eiscreme und schlechte Liebesfilme.“

Natürlich, Evangelines Allheilmittel bei Beziehungsproblemen aller Art.

„Und natürlich einer Tüte Chips.“ Nachdenklich tippte sie sich ans Kinn. „Vielleicht auch zwei.“

„Eve, ich glaube nicht …“

„Und ich glaube doch. Wir machen so einen richtigen Mädelsabend. Dann kannst du mir genau erzählen was passiert ist und dann überlegen wir uns, was wir machen können.“ Sie nahm ihren Arm von meinen Schultern und packte meine Hand. „Komm schon. Ist doch besser als den ganzen Tag zu Hause rumzusitzen und Trübsal zu blasen.“

Ich machte den Mund auf um zu widersprechen, doch sie beachtete es gar nicht.

„Und wenn das alles nichts hilft, dann betrinken wir uns halt.“

„Nein.“ Das lehnte ich nun wirklich kategorisch ab. „Nur deswegen ist ja alles so schief gelaufen.“

„Ich glaube, du hast mir eine ganze Menge zu berichten.“

Das konnte schon sein. Und vielleicht würde es ja wirklich helfen, sich alles einmal von der Seele zu reden.

Mit diesen Leuten da drin ist nicht zu spaßen, die mögen es nicht besonders, wenn man über ihre Aktivitäten aus dem Nähkästchen plaudert, also würde ich dir dringend empfehlen, die Klappe zu halten, wenn dir etwas an deinem Leben liegt.

Ich biss die Zähne fest zusammen. Zumindest könnte ich über einen Teil mit ihr reden. Dieses eine Geheimnis würde ich ihr niemals erzählen können, nicht wenn ich sie nicht in Gefahr bringen wollte.

Nur noch ein Tag.

„Und jetzt komm.“ Ohne etwas von der Richtung meiner Gedanken zu ahnen, zog sie mich hinter sich aus der Futterküche hinüber zu der Zwingergasse.

Domenico war gerade dabei, die großen Futterschalen zu füllen. Aber das war sicher nicht der Grund, warum die Verabschiedung von ihm so kühl ablief. Er sah mich nicht mal an, murmelte nur einen kurzen Gruß und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu.

Evangeline versuchte mich auf dem Weg nach draußen zu trösten und erklärte mir immer wieder, dass er es nicht so meinen würde. Ich war mir da aber nicht so sicher. Ich hatte seinen Blick gesehen, hatte seine Enttäuschung gespürt. Natürlich spielte auch die Sache mit Teresa mit hinein, aber diese Kälte, die von ihm ausging, konnte ich einfach nicht verleugnen.

Domenico verurteilte mich für das, was ich getan hatte und ich konnte es ihm nicht mal verübeln. Ich verurteilte mich selber dafür.

Nur Evangeline tat das nicht. Den ganzen Weg in den Laden an der Ecke versuchte sie mich aufzumuntern und mir meine Gewissensbisse zu nehmen. Beim Eiscremefach erklärte sie mir, dass die Umstände des Tages mich dazu gebracht hatten mit Reese Dinge zu tun, die ich noch niemals zuvor getan hatte. Bei dem Chipsregal sagte sie, dass es klar war, dass meine Neugierde mich irgendwann einfach überrennen würde, ob ich es nun wollte oder nicht und auf dem Weg in die Videothek waren meine aufgewühlten Gefühle, wegen dem Streit mit Nick, schuld an meiner Tat.

Bis wir bei mir zu Hause waren hatte sie so viele Entschuldigungen für mein Verhalten gefunden, dass ich fast selber an sie geglaubt hätte. Alles und jeder war schuld, die ganze Welt trug die Verantwortung, nur ich nicht. Das alles erklärte sie mir ohne die ganze Geschichte zu kennen und ich hätte es nur zu gerne geglaubt, aber ich kannte die Wahrheit. Ich konnte meine Tat nicht verleugnen, konnte diese Nacht nicht schönreden, denn ich wusste, was ich getan hatte und damit würde ich nun leben müssen.

Und das spürte Evangeline wohl. Im Bus verlegte sie ihre Taktik und sprach mit mir über alles, nur nicht über das, was geschehen war. So erfuhr ich, dass sie sich überlegte mal wieder zum Friseur zu gehen, oder auch dass sie gesehen hatte, wie Seth heute bei einer angehenden Venatorin aus den unteren Klassen abgeblitzt war. Sie sprach über ihren Lehrcoach Benedikt und darüber, dass morgen viele der Staatlichen zu einem großen Sondereinsatz eingeteilt waren. Außerdem erfuhr ich, dass ihre Mutter sich gestern, bei dem Versuch die Vorhänge zum Waschen von den Fenstern abzunehmen, fast den kleinen Zeh gebrochen hatte.

Ihre Worte wurden zu einem endlosen Strom, der irgendwann nur noch an meinen Ohren vorbeifloss.

Als wir bei mir zu Hause ankamen, freute Onkel Roderick sich darüber, Evangeline mal wieder zu sehen, ergriff aber ganz schnell die Flucht in sein Schlafzimmer, als sie ihm erklärte, dass wir einen Mädchenabend geplant hatten, bei dem Männer nicht zugelassen seien.

„Gegen so viel Weiblichkeit im Haus komme ich nicht an“, erklärte er ihr. „Außerdem habe ich da sowieso noch ein Buch, das ich schon weit Ewigkeiten lesen wollte. Ich glaube, jetzt wäre der beste Zeitpunkt dazu.“

Kopfschüttelnd stellte ich meine Schuhe im Flur ab und trug die Einkäufe in die Küche. Draußen war es bereits dunkel geworden und so musste ich das spärliche Licht unserer Deckenleuchte einschalten. Kam es mir nur so vor, oder wirkte unsere kleine Küche heute besonders schäbig? Dieser Riss im Linoleum war doch neu, oder? Und hatte da schon die ganze Zeit der Griff an der Schranktür gefehlt? Es wurde wirklich Zeit, dass wir diesen Raum renovierten. Aber dazu bräuchten wir Geld, das wir nicht hatten. Wir schafften es ja so schon immer kaum über den Monat. Für Extraausgaben war da nichts mehr übrig. Vielleicht wenn ich endlich das Studium an der Akademie beendet hatte und meine Lehre in der Gilde beginnen konnte. Dann würde es endlich besser werden. Das hoffte ich zumindest.

„Dein Onkel ist echt süß“, verkündete Evangeline, als sie in die Küche trat. „Er räumt für uns das Feld, damit wir uns im Wohnzimmer breit machen können.“

„Das funktioniert aber auch nur, wenn Wynn uns nicht stört.“ Ich stellte die Tüten auf den Küchentisch und begann sie systematisch auszuräumen.

Evangeline holte das alte Holztablett aus dem Unterschrank neben dem Herd und bestückte es mit zwei Schalen und Löffeln, bevor sie es neben die Tüten auf den Tisch stellte. „Wynn wird uns nicht stören, sie telefoniert gerade.“

Okay, dann würden wir wohl wirklich zu zweit bleiben. Wenn Wynn am Telefon hing, dann sollte man keinen dringenden Anruf erwarten.

„Das heißt, wir sind ganz allein und du kannst mir dein Herz ausschütten. So wie du es eigentlich schon längst hättest tun sollen.“ Den letzten Teil sagte sie mit einem vorwurfsvollen Blick in meine Richtung und stellte dann das halbgeschmolzene Eis zu den Schalen auf das Tablett.

Ich faltete die Tüten und räumte sie unter die Spüle. „Ich musste erstmal allein damit klar kommen.“

„Das ist dein Fehler.“

„Was?“

„Dass du immer alles mit dir selber ausmachen willst. Weißt du, es ist keine Schande sich eine Schwäche einzugestehen und um Hilfe zu bitten, wenn man nicht mehr weiter weiß. Und außerdem …“ Sie hob das Tablett vom Tisch. „… bin ich deine beste Freundin. Also ist es deine verdammte Pflicht, mit deinen Problemen zu mir zu kommen. Ansonsten komme ich mir so unnütz vor.“ Damit stolzierte sie an mir vorbei aus der Küche.

Ich musste mir eingestehen, dass sie eigentlich Recht hatte und bevor ich mein Praktikum bei der Gilde begonnen hatte, war es auch so gewesen. Wenn ich mal ein Problem hatte, oder es etwas Neues gab, war ich zu ihr gegangen. Und umgekehrt. Doch jetzt trug ich so viel Last mit mir herum, so viel was geheim bleiben musste, dass ich sie nicht einweihen durfte. Ich wollte sie nicht gefährden. Natürlich, eigentlich war das Risiko dass sich Evangeline und Taid jemals begegneten und sie somit in Gefahr geriet, wenn ich ihr etwas erzählte, sehr gering, aber ich kannte meine Freundin. Wenn sie glaubte, dass es mir schlecht ging, oder noch schlimmer, ich sogar in Gefahr war, dann würde sie alles in ihrer Macht stehende tun, um mich da rauszuholen. In diesem Fall würde sie vermutlich die Polizei einschalten und das durfte unter keinen Umständen passieren. Damit würde nicht nur ihr Leben in Gefahr geraten, sondern auch das von Nick, Reese und mir. Und Celina würde auf sich allein gestellt sein.

Nein, das war einfach keine Option.

„Kommst du jetzt endlich?!“, rief Evangeline ungeduldig aus dem Wohnzimmer. „Und bring die Filme und meine Chips mit, sonst darfst du gleich ein zweites Mal laufen.“

Ja, dieser nette, kleine Collie konnte zu einem Pitbull werden.

Ich schnappte mir Chips und Filme vom Tisch und marschierte damit rüber ins Wohnzimmer.

Evangeline hatte bereits den Fernseher eingeschaltet und spielte nun am Player herum. „Gib mir die Filme“, wies sie mich an ohne aufzublicken.

Wie sollte ich so eine nette Bitte abschlagen? Ich drückte ihr die Filme in die Hand und dann begann genau das was sie gesagt hatte: Ein Abend unter Mädels mit schlechten Liebesfilmen und jeder Menge Eiscreme. Nur die Heularien und Taschentücher fehlten. Ich war noch nie jemand gewesen, der viel geweint hatte, das hatte ich mir bereits als kleines Kind abgewöhnt.

Und während im Fernseher eine Liebesschnulze lief, zwang sie mich zu erzählen, was denn nun genau vorgefallen war.

Anfangs berichtete ich ihr nur zögernd und die Tatsache, dass Nick geistig krank war, hätte ich am liebsten für mich behalten. Aber ich verschwieg ihr ja schon die ganze Angelegenheit mit Taid und Celina.

Immer fließender kamen die Worte aus meinem Mund. Der Abend bei Nick, als ich mich ihm verweigert hatte, weil es sich einfach falsch anfühlte. Der nächste Morgen, als er so abweisend zu mir gewesen war und auch wie er mich attackiert hatte, als ich ihm von Devin erzählen wollte. An dieser Stelle allerdings bog ich die Wahrheit ein klein wenig. Ich erzählte ihr nur, dass ich mit Reese bei Whiskey in der Küche gesessen hatte um zu reden und wir dann irgendwann angefangen hatten, uns mit den Eiswürfeln zu piesacken.

Der Film lief die ganze Zeit unbeachtet im Hintergrund. Ja, ich verdrängte sogar, dass außer mir und Evangeline noch jemand im Haus war. Erst als es plötzlich an der Haustür schellte, kehrte ich ins hier und jetzt zurück.

„Ich geh schon!“, rief Wynn so laut, dass es sicher noch die Nachbarn zwei Blocks weiter hören konnten.

Ich stockte in meinen Erzählungen und sah sie an der Wohnzimmertür vorbeiflitzen.

„Gerade jetzt wo es spannend wird“, seufzte Evangeline.

Das gab einen vorwurfsvollen Blick. „Ich dachte, ich soll dir das erzählen damit du mir helfen kannst.“

„Natürlich! Aber jetzt kommen wir doch zu dem interessanten Teil. Nicht, dass der Rest nicht recht aufschlussreich war. Ich meine … was da im Moment alles bei dir los ist. Ich hatte ja keine Ahnung.“ Jetzt war sie es, die mich mit einem vorwurfsvollen Blick bedachte. „Und das ist deine Schuld.“

Im Flur wurde die Tür geöffnet. Leises Stimmengemurmel folgte.

Ich zuckte nur mit den Schultern. „Ich wollte erst selber …“

„Damit klar kommen. Ja ja.“ Sie winkte ab. „Das habe ich schon so oft gehört, dass ich längst Millionär sein könnte, wenn ich jedes Mal einen Cent dafür bekommen hätte.“

„Übertreibung mein Name ist Evangeline.“

„Nenn mich nicht so.“ Sie griff einmal großzügig in ihre Chipstüte und stopfte sich ihre Beute in den Mund – anders konnte man ihre Art zu essen nun wirklich nicht bezeichnen. „So und jetzt erzähl, wie es weiter ging. Du hast also gesagt, dass er öfter lachen soll. Und dann?“

„Nichts weiter.“ Erneutes Schulterzucken von mir. „Ich weiß nicht. Er hing da eben so über mir und naja …“

„Darf ich mal stören?“ Wynn lehnte mit einem ziemlich breiten Lächeln im Türrahmen. In ihrer Hand hielt sie ihr Handy. Wahrscheinlich wartete da jemand in der Leitung, bis sie wieder Zeit für ihn hatte. „Da steht ein echt süßer Kerl in der Tür und bittet darum Grace sprechen zu dürfen.“

Oh nein. „K-kerl?“, kiekste ich und warf Evangeline einen panischen Blick zu.

„Ja, Kerl. Er hat sich als Nick vorgestellt.“ Ihr Grinsen wurde breiter, als sie einen kurzen Blick über die Schulter warf. Dann formte sie ihre Hand zu einer Flüstertetüte und raunte mir im perfekten Bühnenflüstern zu. „Gott wie hast du es geschafft, dir den zu angeln? Und ich hab immer geglaubt du bist lesbisch.“

„Bitte?“ Ich hatte mich ja wohl verhört.

Sie streckte nur beide Daumen in die Luft, grinste noch mal breit und schon war sie wieder verschwunden.

Mir schwante böses. Nick war hier? „Ich kann das nicht.“

„Du kannst ihm aber nicht bis zu deinem Lebensende ausweichen. Los, komm schon.“ Sie packte mich am Arm und zog mich auf die Beine. Aber auch von hier aus schaffte ich es nicht, mich in Bewegung zu setzen, also schob sie mich seufzend aus dem Raum.

„Nein, Eve, bitte.“

„Du musst ihm ja nicht sagen was wirklich los ist, nur rede endlich mit ihm.“ Noch ein Schubs und ich stand im Flur.

Wie Wynn es zuvor getan hat, steckte auch Evangeline die Daumen in die Luft und schlug mir dann die Wohnzimmertür vor der Nase zu, damit ich auch ja nicht auf die Idee kommen konnte, die Flucht in diese Richtung zu ergreifen.

„Und so etwas nennt sich beste Freundin“, murmelte ich leise vor mich hin und starrte böse auf die Tür. Wenn ich nur könnte, hätte ich vermutlich ein Loch in das Holz gebrannt, nur um mich in Sicherheit zu bringen. Wie bitte sollte ich mit Nick reden?

„Cherry?“

Ich schloss die Augen. Allein der Name aus seinem Mund löste bei mir Herzklopfen aus, das garantiert nicht gesund war. Und auch mein Puls ging plötzlich viel zu schnell. Das konnte ich nicht. Ich konnte ihm nicht gegenübertreten und so tun als wäre nichts geschehen. Wie bitte sollte ich das machen? Wie sollte ich ihm in die Augen sehen?

Leise Schritte wurden von dem alten Teppich gedämpft. Er kam auf mich zu, ich konnte es genau hören. Trotzdem wäre ich vor Schreck fast an die Decke gesprungen, als er mich am Arm berührte.

Ich wirbelte herum und hatte wohl den Blick eines Rehs im Scheinwerferlicht in den Augen.

Er kniff die Lippen zusammen und senkte die Augen. Diese Reaktion hatte ihn verletzt. Das war das letzte was ich gewollt hatte, aber nun konnte ich es nicht mehr rückgängig machen. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“

„Nein, nein, schon gut, das hast du nicht.“ Nervös strich ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich hab nur … ich war nur … überrascht.“ Nun war ich es die den Blick abwandte. Dabei fiel mir auf wie zerknittert seine Kleidung war. Normalerweise würde er so niemals das Haus verlassen.

Danach herrschte zwischen uns eine drückende Stille, in der mein Herz sich einfach nicht beruhigen wollte. Jetzt war er hier, jetzt musste ich mit ihm reden und obwohl ich mir bereits geschworen hatte ihn niemals etwas von diesem Ausrutscher zu erzählen, geriet ich nun ins Schwanken.

„Du hast Angst vor mir.“

„Was?“ Ich hob den Blick. „Nein.“ Das zumindest konnte ich ganz ehrlich sagen. Ich hatte keine Angst vor ihm, nicht wegen dem was er getan hatte. Ich hatte Angst vor dem was sein könnte, wenn er herausfand was ich getan hatte.

„Dann willst du nichts mehr von mir wissen.“

„Nein, das ist … nein, so ist das nicht.“ Ich biss mir auf die Unterlippe.

„Was ist es dann?“

Ich blickte zu ihm auf, blickte in dieses schöne Gesicht, das im Moment so traurig wirkte. Seine Haare wirkten als hätte er sie sich seit Tagen nicht mehr gekämmt und unter den Augen hatte er dunkle Ringe. Er schlief wohl genauso schlecht wie ich.

Als ich nichts sagte, seufzte Nick und strich sich über die Stirn. „Hör zu, es tut mir leid. Was ich getan hab … ich hab das falsch verstanden. Ich wollte dir nicht wehtun. Es ist … es … es …“

„Du bist krank.“

Sein Mund klappte auf, aber kein Ton kam heraus.

„Reese hat es mir erzählt“, erklärte ich leise.

„Wann?“

„Schon vor Wochen.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich wusste es die ganze Zeit. Es bedeutet nichts, es ist mir egal.“

„Aber warum ignorierst du mich dann, warum …“ Er sah aus als wollte er sich am liebsten die Haare raufen.

In dem Moment ging die Zimmertür auf und Wynn erschien im Türrahmen. Sie trat sehr geschäftig in den Flur und verschwand gleich darauf im Bad. Dabei schenkte sie Nick ein Lächeln, das ich nur als hinreißend bezeichnen konnte.

„Cherry …“

„Nicht hier.“ Ich zeigte auf die Küchentür und ließ Nick den Vortritt. Da drin waren wir wenigstens ungestört. Und gerade als ich die Tür hinter uns beiden schließen wollte, trat Wynn erneut in den Flur. Dafür bekam sie einen äußerst bösen Blick von mir, dann war die Tür zu und ich mit Nick allein und ungestört in der Küche. Nur leider machte es die Situation für mich nicht einfacher.

„Du wusstest es also die ganze Zeit?“, fragte er leise. „Und es hat dich nicht gestört? Es stört ich nicht dass mein Kopf … anders ist?“

„Nein.“ Zur Bekräftigung meiner Aussage schüttelte ich den Kopf und lehnte mich dann mit verschränkten Armen an die Anrichte. „Warum sollte es mich stören? Bei mir läuft ja auch nicht mehr alles richtig.“ Nicht mehr seit meinem sechsten Geburtstag.

„Aber warum ignorierst du meine Nachrichten dann?“ Er machte einen Schritt auf mich zu, schien es sich dann aber wieder anders zu überlegen, so als hätte er Angst mich weiter von sich wegzutreiben, wenn er mich bedrängte. „Du ignorierst meine Nachrichten, du gehst nicht ans Handy wenn ich dich anrufe und jetzt bin ich vorbei gekommen, weil ich es ohne dich einfach nicht mehr aushalte und du siehst aus als wolltest du am liebsten vor mir weglaufen.“

Wahrscheinlich weil das der Wahrheit entsprach. Aber nicht aus den Gründen die er vermutete.

„Du musst mir verzeihen, Cherry. Bitte.“

Oh Gott. „Das habe ich doch schon längst.“

„Und warum weichst du mir dann immer noch aus?“

Weil ich etwas getan hatte, was nicht zu verzeihen war.

Ich sah auf, sah in dieses viel zu schöne Gesicht, dass so ganz anders war als das seines Bruders.

Reese.

Verdammt. Sollte ich Nick doch alles beichten und einfach auf das Beste hoffen? Oder wäre es vielleicht besser unter diese ganze Farce einen Schlussstrich zu ziehen, bevor es zu spät war? Oder sollte ich doch Stillschweigen bewahren, ihn in den Arm nehmen und hoffen, dass es niemals heraus kam?

Ich drückte die Lippen aufeinander und ließ meinen Blick zum Fenster schweifen. „Du hast nichts Falsches gemacht, Nick. Das darfst du niemals glauben.“

Einen Moment schwieg er. Ich hörte ihn schlucken. „Willst du mir damit sagen, dass es zwischen uns aus ist?“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf, nahm meinen Blick aber nicht von den Schatten im Laternenschein vor dem Fenster. „Nein, will ich nicht. Ich will … ich weiß selber nicht was ich will.“ Ich sah ihm ins Gesicht. „Es tut mir leid, aber ich weiß es einfach nicht.“

„Wir könnten die ganze Sache einfach vergessen“, schlug er mit einem vorsichtigen Lächeln vor. „Tun wir einfach so als wäre nichts passiert, okay?“

Wenn es nur so einfach wäre. Hätte diese Nacht mit Reese nicht stattgefunden, könnte ich das vielleicht tun, aber so? Ich wusste einfach nicht, ob ich dazu in der Lage wäre.

„Okay?“ Das Flehen in seiner Stimme versetzte mir einen Stich und plötzlich sah ich mich mal wieder der Frage gegenüber, was ich eigentlich für Nick empfand. Die ganzen letzten Wochen hatte ich mich das immer wieder gefragt. War das wirklich Liebe, oder einfach nur Zuneigung? Ich mochte Nick, keine Frage. Ich mochte es auch von ihm in den Arm genommen zu werden, mich von ihm berühren zu lassen und ihn zu küssen, aber reichte das wirklich aus? Reichte das, um ein Geheimnis vor ihm zu verbergen, das ansonsten alles kaputt machen konnte?

„Du hast nichts falsch gemacht“, wiederholte ich nur leise und richtete meinen Blick wieder auf das Fenster zur Straße.

Der Schreck durchfuhr mich mit einer Stärke die mir fast den Boden unter den Füßen wegriss. Die Schatten waren verdeckt und stattdessen blickte ich nun in die Fratze eines Monsters. Spitze Ohren an einem langen, schmalen Kopf. Und Zähne so groß, dass sie nicht in die Schnauze passten. Links und rechts standen sie aus dem Maul heraus und ließen die unheimliche Grimasse noch fürchterlicher erscheinen.

Aber das Schlimmste waren wohl diese stechend gelben Augen, die direkt in meine starten.

„Drei/siebenunddreißig“, flüsterte ich. Vor meinem Küchenfenster stand dieser verfluchte Proles, der seit einer ganzen Woche verschollen war.

„Was hast du gesagt?“

Einen Moment starrte ich noch in diese unheimlichen Augen. Dann bemerkte ich wie diese Kreatur die Muskeln anspannte. Das war der Moment in dem mir klar wurde, was gleich geschah. „In Deckung!“, schrie ich Nick entgegen.

Im nächsten Moment griff das Biest an. In einem Schauer aus Glassplittern, sprang es zähnebleckend durch mein Küchenfenster.

 

°°°°°

Kapitel 15

 

Splitterndes Glas flog durch die Küche und prasselte in einem Regen aus scharfen Geschossen auf den alten, spröden Linoleumboden. Ich riss die Arme schützend vors Gesicht, um mich vor den Scherben abzuschirmen und taumelte ein paar Schritte zurück. Doch lange konnte ich in dieser Haltung nicht verharren, denn da war gerade ein Proles durch mein Fenster gesprungen und stand nun knurrend in meiner Küche. Und es war nicht irgendein Proles. Es war drei/siebenunddreißig. Das Biest, wegen dem Devin tot war. Das Monster das über Leben und Tod von Reese und Nick entscheiden konnte.

Hastig wirbelte ich zum Messerblock herum, doch noch bevor ich eine Waffe in die Hand bekam, zog Nick einen der Stühle unter dem Tisch hervor und warf ihn mit beachtlichem Schwung in Richtung Eindringling. Er wartete gar nicht erst darauf zu sehen, ob er auch traf, packte mich nur am Handgelenk und zog mich aus der Küche.

Holz splitterte, der Proles brüllte wütend auf und schlug den Stuhl mit einer Pranke aus dem Weg. Er wollte uns folgen, wollte töten, aber da hatte Nick ihm schon die Küchentür vor der Nase zugeschlagen und schloss klickend das Schloss ab. Gerade in dem Moment, als er schwer atmend einen Schritt zurück wich, knallte etwas von innen gegen die Tür – vermutlich diese Kreatur selber.

„Das wird ihn nicht lange aufhalten“, sagte Nick schwer atmend.

„Erzähl mir etwas, dass ich noch nicht weiß.“

Unter den wütenden Schlägen des Eindringlings wackelte der ganze Türrahmen.

Ich stieß mit dem Fuß den Schirmständer zur Seite, um Platz zu haben, damit ich die schwere Kommode vor die Tür schieben konnte. Sofort kam Nick mir zur Hilfe und als wir uns gemeinsam gegen die Kommode stemmten, die sich nur langsam vorwärts bewegte, kündeten Schritte von dem Näherkommen der anderen.

„Scheiße!“, kam es von Wynn. Das entzückende Lächeln war aus ihrem Gesicht verschwunden. „Was ist hier los?“

Wie zur Antwort brüllte der Proles verärgert auf und es folgte ein Hagel aus Kollisionen mit der Tür.

„Wir haben einen ungebetenen Gast zu Besuch.“ Ich wandte mich zu Wynn um. „Schnell, hol Onkel Rod und versteck dich mit ihm im Keller.“

Wie ein Reh im Scheinwerferlicht stand sie da und starrte mich ungläubig an. Völlig unbewegt und erstarrt in ihrer Panik.

„Wynn! Nun mach schon!“

Sie reagierte nicht. Erst als Evangeline ihr einen heftigen Stoß in die Seite gab, kam sie in Bewegung. Ein panischer Blick zu uns, dann wirbelte sie endlich herum und rannte zu Onkel Roderick ins Schlafzimmer.

Ein ohrenbetäubendes Kreischen ertönte auf der anderen Seite der Tür. Es war so schrill, dass wir uns alle die Ohren zuhalten mussten.

„Verdammt!“, fluchte Evangeline. „Was ist das?“

„Das Vieh aus dem Einkaufscenter. Nick, pass auf die Tür auf!“ Ich rannte den Flur hinunter in mein Zimmer. Das war die Chance. Wenn wir es fangen konnten, dann waren Nick und Reese aus dem Schneider. Sollte das Schicksal wirklich so gnädig sein? Ich würde es wohl bald erfahren, aber dazu brauchte ich meine Ausrüstung.

Evangeline kam hinter mir in den Raum gerannt. „Der Proles aus dem Einkaufcenter? Du meinst den, der Devin …“

„Ja, genau den.“ Hastig schloss ich meinen Schreibtisch auf und schmiss die Sachen die ich nicht brauchte achtlos auf den Boden. „Hol mir ein Laken!“

„Was?“ Evangeline sah mich an, als hätte ich nun völlig den Verstand verloren. „Willst du jetzt Betten beziehen oder was?“ Trotz ihres Protests eilte sie schon zu meinem Schrank und riss eine Sekunde später die Türen auf.

„Ich will es fangen!“, erklärte ich und suchte mein Blasrohr aus meinem Arbeitsbag.

„Du willst was?!“

„Stell keine Fragen und tu was ich sage!“ Pfeile hatte ich noch vier. Hoffentlich würden die reichen. „Es darf nicht verletzt werden, verstanden?!“

„Du willst es fangen? Mit einem Laken?“

Okay, jetzt zweifelte sie mit Sicherheit an der Funktionstüchtigkeit meines Gehirns. „Ich brauche es“, war das einzige was ich noch dazu sagte. Noch ein schneller Griff zu meiner M19, dann war ich auch schon wieder auf dem Weg zu Nick.

Hinter mir hörte ich Evangeline lautstark fluchen. Trotzdem folgte sie mir mit dem Stofftuch bewaffnet. Ja, es war ein kläglicher Ersatz im Gegensatz zu einem verstärkten Netz mit Drahtgeflecht, aber es war das einzige, was ich gerade hatte.

„Fuck!“, hörte ich Nick laut rufen. Dem folgte das Geräusch von splitternden Holz und als ich in den Flur rannte, lief ich auch noch fast in meinen Freund hinein. „Die Tür ist hin.“

„Mist.“ Ich drückte Nick das Blasrohr und die Pfeile in die Hand. „Betäube es, aber töte es nicht. Du weißt warum.“

Das brauchte ich ihm nicht genauer erklären. Natürlich wusste er genauso gut wie sein Bruder, dass sein Leben auf Messers Schneide stand.

Von der Küchentür kam ein lautes Krachen. Ein Stück Holz flog an die gegenüberliegende Wand. Das Mistvieh brüllte frustriert auf griff mit der Klaue durch das entstandene Loch und versuchte es zu vergrößern. Die klauenbesetzte Pranke, das Bein und die Schulter hatten es bereits durchgeschafft und so wie die Tür im Rahmen wackelte, würde der Rest nicht lange auf sich warten lassen.

Ich brauchte einen Plan und zwar ganz dringend.

Mein Blick fiel auf die geschlossene Kellertür. „Ist Wynn da unten?“

Wieder ein Krachen.

Nick schüttelte den Kopf und belud das Blasrohr mit dem ersten Pfeil. „Sie hat sich mit deinem Onkel in seinem Schlafzimmer eingeschlossen.“

Verdammt, dass dieses Mädchen nie hören konnte! Wenn wir das hier hinter uns hatten, würde ich ihr den Hintern versohlen und sie solange mit … Moment, Keller, das war die Lösung.

„Und was machen wir jetzt?“, wollte Evangeline wissen. Sie hielt das Laken bereits so, dass sie es sofort benutzen konnte.

Das Bild von dem Hausmeister kam mir in den Sinn. Der Mann der alles auf eine Karte gesetzt hatte, um die Kinder vor dem Rudel hungriger Amphs zu retten.

Dieser Amph hat mich verfolgt und da habe ich die offene Tür bemerkt. Ich bin einfach rein und hab mich dahinter versteckt – also um die Ecke. Da kam er auch schon hinterher gestürzt. Er hatte so viel Schwung, dass er weggerutscht und die Treppe runtergestürzt ist. Da bin ich schnell wieder raus und habe die Tür von außen verschlossen.

„Keller“, sagte ich und stieß sowohl sie als auch Nick in mein Zimmer. Das war die Lösung. „Der Keller hat keine Fenster. Da können wir es einsperren bis Reese hier ist.“

„Reese?“, fragte Evangeline. „Was soll das bringen?“

Ich ignorierte ihre Frage. „Ich werde es zum Keller locken. Nick, versuch es zu betäuben und du schmeißt ihm einfach das Laken über den Kopf, dann stoße ich es hinein und wir verriegeln die Tür von außen.“

Evangeline sah mich völlig entsetzt an. „Bist du wahnsinnig?“

Die Küchentür knarrte ungesund. Splitter flogen, das Biest brüllte seinen Unmut heraus.

„Vielleicht“, sagte ich mit festem Blick auf die spärlichen Überreste unserer Küchentür.

In dem Moment gab es ein weiteres Knacken und das Monster brach mitten durch das Holz hindurch.

„Wünscht mir Glück“, flüsterte ich. Das Biest fest im Blick ging ich einige Schritte rückwärts, immer auf die Kellertür zu. Natürlich hatte es mich schon längst entdeckt.

Es bleckte die Zähne. Geifer tropfte ihm aus der Schnauze und benetzte sein ganzes Maul. Was ich bei unserem letzten Aufeinandertreffen nicht bemerkt hatte, aber nun sehr deutlich sah, waren die Brandverletzungen auf der linken Hälfte seines Kopfes. Auch schien es an der Hüfte und auf dem Rücken einen Streifschuss abbekommen zu haben. Und in seinem rechten Vorderbein steckte eindeutig eine Kugel drinnen. Das Zusammentreffen mit den Venatoren im Center war also doch nicht spurlos an diesem Ungeheuer vorbeigegangen. Vielleicht konnte ich das zu meinem Vorteil ausnutzen.

Immer weiter wich ich zurück. Ich konnte den Knauf der Kellertür bereits im Rücken spüren. „Komm schon du hässliches Biest, fang mich wenn du kannst, dann haben wir es endlich hinter uns.“ Vorsichtig tastete ich nach der Klinke, ließ meinen Gegner dabei aber nicht aus den Augen. Dieses Monster war gefährlich und das auf mehr als nur eine Art. „Na los, komm her.“

Es machte einen Schritt in meine Richtung, knurrte und behielt mich genau im Blick, aber ich sah sein Zögern.

Warum nur zögerte es? Ich stand hier praktisch auf dem Präsentierteller. Es musste mich nur holen. Und dann musste ich schnell genug sein.

Aus den Augenwinkeln sah ich den offenen Spalt meiner Zimmertür. Nick linste hindurch. Hoffentlich würden die beiden ihren Einsatz nicht verpassen.

„Na los, worauf wartest du?!“

Es brüllte zurück, machte aber immer noch keine Anstalten sich von der Stelle zu rühren. Stattdessen hob es die Nase in die Luft und nahm Witterung auf.

Drei/siebenunddreißig ist von annähernd menschlicher Intelligenz. Er lernt. Mit jeder Minute lernt er dazu.

Oh Gott, dieses Monster wusste, dass ich nicht allein war, es suchte die anderen, weil es gelernt hatte, dass mehrere menschliche Gegner gefährlich sein konnten. Ich musste es ablenken. Sofort.

Hastig sah ich mich nach etwas um, das ich werfen konnte, aber da war nichts! Ich hatte nur meine Waffe und die konnte ich nicht benutzen. Oder doch?

In meinen Kopf entstand eine so verrückte Idee, dass ich gar nicht näher über sie nachdachte, sondern sie einfach in die Tat umsetzte. Ein kurzer Handgriff und die Waffe war gesichert. Dann schmiss ich sie. Ich holte einfach aus und schmiss sie dem Vieh an den Kopf. Leider gab ich damit meine einzige Verteidigung aus der Hand, aber eine andere Möglichkeit fiel mir auf die Schnelle nicht ein.

Das Monster brüllte erbost auf. Und dann setzte es sich endlich in Bewegung.

„Gott, steh mir bei.“ Hastig griff ich nach der Klinke zur Kellertür und stellte eine Schrecksekunde lang fest, dass sie sich nicht öffnen ließ. Verdammt, diese Tür war so alt, dass sie immer klemmte. Wie hatte ich das nur vergessen können?!

Verbissen drehte ich den Knauf und riss mit aller Kraft daran. Zweimal, dreimal, aber das dumme Ding knarrte nur, anstatt seiner Arbeit nachzukommen.

Drei/siebenunddreißig war so schnell, dass es innerhalb von Sekunden bei mir war. Ich konnte nur noch schützend die Arme hochreißen und dann erwischte es mich auch schon. Mit der Pranke schlug es mir so stark gegen die Schulter, dass ich einen lauten Schrei ausstieß und einen Moment befürchtete, es hätte mir das Gelenk ausgekugelt.

Ich knallte gegen die Tür, wappnete mich gleichzeitig gegen den nächsten Schlag und verfluchte mich stumm dafür, dass ich meine Waffe zu einem Wurfgeschoss umfunktioniert hatte.

In dem Moment brüllte die Bestie laut auf und wirbelte zu meiner Zimmertür herum. Sie zischte und fauchte. „Büüüß“, machte sie. „Büüüß.“ Immer und immer wieder.

Ich stöhnte auf und erblickte in der Schulter von Drei/siebenunddreißig einen meiner Pfeile.

„Los, komm her!“, rief Evangeline und sprang in den Flur. Das Laken hielt sie wie einen schützenden Schild vor ihrem Körper. „Hey du hässliche Fratze, hier bin ich!“

Die Kreatur fuhr fauchend zu ihr herum und beachtete Nick nicht weiter. Zumindest nicht bis er aus dem Zimmer sprang ihm die übrigen Pfeile direkt in die Schulter rammte.

Und das war der Auslöser dafür, dass Drei/siebenunddreißig richtig böse wurde. Hatte er vorher noch Vorsicht walten lassen und sich zurückgehalten, so drehte er nun voll auf.

„Nick!“, rief ich noch, aber da hatte die Bestie bereits mit der Pranke nach ihm geschlagen und hätte Nick sich nicht geistesgegenwärtig auf den Boden fallen lassen, dann wäre er nun wohl Geschichte.

„Mach die Tür auf!“, schrie Evangeline mich an und schlug mit dem Laken nach dem Biest um es von Nick abzulenken.

Ich brauchte zwei Anläufe, um auf die Beine zu kommen. Meine Schulter schmerzte wirklich höllisch, was das Öffnen der Tür noch problematischer machte. Die Klinke nur mit einer Hand zu betätigen, war wirklich ein Meisterstück.

Hinter mir hörte ich es krachen, Nick gab ein schmerzverzerrtes Stöhnen von sich, während Evangeline laut fluchte und das Monster brüllte. Aber ich wagte keinen Blick über die Schulter ich durfte mich nicht ablenken lassen. Ich musste diese verdammte Tür aufbekommen.

„Nimm den Zipfel von dem Laken!“, wies Evangeline Nick an.

Ich zog und zerrte an der Tür und stemmte letztendlich ein Bein gegen die Wand daneben. Dann hin ich mich mit meiner ganzen Kraft hinein. „Nun geh endlich auf!“

„Pass auf!“, rief Nick.

Wieder ein Brüllen. Evangeline keuchte laut.

Und dann rutschte die Tür endlich aus dem Rahmen. Es war nur ein kurzer Ruck, aber bevor ich reagieren konnte, schwang sie in den Flur auf und ich knallte gegen die gegenüberliegende Wand – wieder genau auf die Schulter. Ich stöhnte vor Schmerz, aber dafür war jetzt einfach keine Zeit. „Offen!“, rief ich um das Fauchen und Zischen dieser Bestie zu überhören.

Nick duckte sich gerade unter einer Pranke hinweg, während Evangeline dem Monster samt Laken auf den Rücken sprang. „Den Zipfel!“, rief sie wieder.

Bevor Nick reagieren konnte, war ich schon bei den beiden. Ich schnappte mir die Ecke von dem Laken und wollte einmal um das Vieh herum. Wenn wir es schafften ihm das Ding um den Kopf zu wickeln, dann wäre es einen Moment orientierungslos und wir bekämen die Gelegenheit, es die Treppe in den Keller runter zu schubsen. Aber das war gar nicht nötig. In dem Moment als ich den Stoff zu fassen bekam wirbelte es herum. Durch die Straffung des Lakens geriet das Biest ins Stolpern. Es brüllte überrascht auf.

„Runter von ihm!“, brüllte ich.

Evangeline versuchte es, doch beim Absprung blieb sie in dem Laken hängen und knallte auf den Hintern.

Der Proles drehte sich herum und schnappte mit den Zähnen nach ihr. Vor meinem inneren Auge sah ich schon wie dieses Biest meiner besten Freundin die Kehle aufriss, als Nick sie geistesgegenwärtig am Arm packte und ein Stück nach hinten zerrte.

Das war meine Gelegenheit. Ich zögerte keinen Moment, stieß das Monster kräftig in die Seite um es die Treppe hinunter zu katapultieren, aber mein Plan ging nur halb auf.

Das Vieh stolperte erneut über das Laken, fiel Rückwärts in die offene Tür, schaffte es aber gerade noch so sich am Türrahmen festzukrallen, bevor es die Treppe hinunterstürzen konnte.

Das gab es doch einfach nicht!

„Platz da!“, rief Nick.

Ich wirbelte zu ihm herum, als er an mir vorbei rannte. In seiner Hand hielt er Onkel Rodericks Regenschirm und schlug damit ohne zu zögern auf das Biest ein. Auf den Kopf, auf die Pranken. Er stach ihn damit ins Fleisch, bis der Proles vor Schmerz aufschrie. Dann versetzte er dem Vieh einen kräftigen Schlag mit der bloßen Faust direkt auf die Nase und er kippte einfach nach hinten.

Ich hörte das Krachen und Donnern, als es die Treppe hinab stürzte, dann schlug Evangeline auch schon die Tür zu und drehte den Schlüssel im Schloss herum – na wenigstens ließ sie sich leicht schließen.

Dann standen wir drei da. Mit Kratzern und schmerzenden Stellen die sicher zu hübschen Blutergüssen werden würden.

Evangeline ließ sich rückwärts gegen die Wand sinken. An ihrem Kinn hatte sie einen blutenden Kratzer und ihre Frisur war nur noch ein Vogelnest, aber ansonsten schien sie völlig unversehrt zu sein. „Und jetzt will ich eine Erklärung.“

Ich sah zu Nick, der nur die Schultern zuckte, als wollte er sagen: „Das ist deine Sache.“

Na ganz toll. „Ich muss mal telefonieren.“

„Grace!“, protestierte sie sofort. „Ich will …“

„Vertraust du mir?“

„Was bitte soll denn diese dämliche Frage? Natürlich vertraue ich dir!“ Sie schien beinahe beleidigt, nur weil ich mich erdreistet hatte, das laut auszusprechen.

„Dann vertrau darauf, dass ich weiß was ich tue.“

„Das ist keine gute Erklärung.“

„Ich weiß.“ Aber mehr hatte ich im Moment nicht zu bieten, nicht solange ich ein Monster im Keller zu sitzen hatte, während meine Familie sich im Schlafzimmer eingeschlossen hatte. „Kannst du bitte Wynn und Onkel Roderick sagen, dass sie erstmal im Zimmer bleiben sollen.“

„Ja, aber …“

„Danke“, unterbrach ich sie und wandte mich meinem Zimmer zu. Mein Handy lag zwar in der Küche, aber da wollte ich im Moment nicht rein.

Wynns Handy fand ich auf ihrem Schreibtisch und erst als ich Reese' Nummer eingeben wollte, wurde mir klar, dass er ja eine neue besaß und ich die noch nicht im Kopf hatte.

„Cherry?“

Ich blickte auf. Nick stand hinter mir. In seiner Hand hielt er noch immer den Regenschirm von meinem Onkel, als bräuchte er etwas, an dem er sich festhalten konnte. Er sah nicht weniger ramponiert aus, als ich mich fühlte.

„Alles in Ordnung?“

„Das wird es sein“, murmelte ich und legte das Handy zurück auf den Schreibtisch. Sobald Drei/siebenunddreißig wieder bei Taid war, würde hoffentlich endlich wieder alles in Ordnung sein. „Kannst du mir mal dein Handy geben? Ich muss Reese anrufen.“

Einen Moment sah er mich nur schweigend an, dann griff er seufzend in seine Jackentasche und überreichte mir sein Handy. Dabei berührte er meine Hand mit einer so liebevolle Geste, dass ich mich wirklich zusammenreißen musste, um sie nicht einfach wegzureißen. Das hatte ich nicht verdient, nicht solange noch so viel zwischen uns stand.

Ich wandte mich von ihm ab, als ich seinen Bruder anrief.

Zwei Mal klingelte es, drei Mal.

Eine sanfte Berührung an der Wange ließ mich aufblicken.

Nick sah mich mit einem so ernsten Blick an, dass es mir beinahe das Herz brach. Es schien als spürte er, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war und hoffte diesen Fehler durch eine Berührung zu vernichten.

Ich schloss die Augen, ließ es zu dass er mir über die Wange strich. Dann nahm Reese endlich ab.

„Hm?“

„Reese?“

„Grace?“

Einen Moment fragte ich mich, warum er so verwirrt klang. Dann ging mir auf, dass ich ja von Nicks Nummer anrief. „Ja, ich bin es. Pass auf, du musst sofort herkommen. Drei/siebenunddreißig sitzt bei mir im Keller.“ Mein Blick glitt zu Nick hoch. Damit waren die Brüder gerettet. „Und er braucht ein Taxi, das ihn zurück zu Taid bringt.“

 

°°°

 

„Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen?!“

Das waren die Begrüßungsworte die mir Reese um die Ohren haute, als ich ihm mit Sack und Pack die Haustür öffnete. Kein „Hallo wie war dein Tag“ oder „Schön dich zu sehen“, nein, er brüllte mich an und sah aus, als würde er mir am liebsten den Kopf abreißen.

„Ich habe dir gesagt keine Alleingänge, also wie zum Teufel kommt dieser verdammte Proles in deinen Keller?!“

War es für diesen Mann wirklich so schwer ein klein wenig Dankbarkeit zu zeigen? Es war ja nun nicht so, dass ich das blöde Vieh eingeladen hatte sich mal in meinem Haus umzusehen. Aber nun war es eben hier gewesen, also was glaubte er, was ich tun würde? Es einfach wieder davon jagen und damit das Leben von ihm und Nick riskieren, nur weil er gerade nicht anwesend war? Reese kam mir eigentlich immer ziemlich intelligent vor, aber in solchen Momenten fragte ich mich doch, ob ich ihn da nicht vielleicht etwas überschätzte.

„Kommt da jetzt noch was, oder starrst du mich nur an?!“

„Jetzt halt mal die Luft an.“ Evangeline kam aus dem Zimmer meines Onkels in den Flur gehuscht. Sie hatte Onkel Roderick und Wynn angewiesen den Raum nicht zu verlassen, bevor die Venatoren und die Polizei da gewesen waren.

Der Venator war jetzt da. Und sobald er wieder weg war, konnte ich auch die Polizei rufen.

Evangeline stellte sich mit verschränkten Armen neben mich und funkelte den großen, bösen Jäger auf eine Art an, die eigentlich viel zu ernst für dieses niedliche Gesicht war. Aber das Lachen war ihr wohl in dem Moment vergangen, als es in der Küche klirrte. Und da ich ihr noch keine nähere Erklärung gegeben hatte, würde es wohl auch noch eine ganze Weile weg bleiben.

Reese hatte nur einen herablassenden Blick für sie übrig und wandte sich dann wieder mir zu. „Erklärung“, knurrte er. „Sofort!“

„Er ist im Keller. Lebendig, vielleicht betäubt.“

„Vielleicht?“ Reese drängte sich an mir vorbei in den Flur. Dabei streifte er meinen Arm, was ein seltsames Kribbeln in meinen Arm jagte. Was war denn nun los?

„Nick hat ihm fast ein halbes Dutzend Betäubungspfeile reingerammt. Danach ist es die Treppe runter gefallen. Wenn das Adrenalin ihn nicht wach hält, müsste er zumindest ein bisschen duselig im Kopf sein. Er hat die letzten zwanzig Minuten kein Geräusch von sich gegeben, aber das muss nichts zu bedeuten …“

„Ich will verdammt noch mal nicht wissen wie es dem Proles geht, sondern was es hier zu suchen hat!“ Er steckte seinen Kopf durch Reste der Küchentür und sah sich da drin die Bescherung an. „Hast du es etwa hierher gelockt?“

„Bist du bescheuert?“ Erst nachdem ich es gesagt hatte, fiel mir auf, was ich ihm gerade an den Kopf geworfen hatte und wie harsch meine Worte geklungen hatten. Aber ich würde es sicher nicht zurücknehmen – nicht dieses Mal. „Hier wohnt meine Familie, meine kleine Schwester! Ich habe gesehen was dieses Vieh mit ausgebildeten Venatoren getan hat, glaubst du wirklich ich bin so dumm und würde es dann hier her bringen?! Und dann auch noch ganz allein, ohne dich?!“

Reese sah mich an, fixierte mich mit diesen dunkeln, undurchdringlichen Augen. Und dann, kaum merklich schüttelte er den Kopf. „Nein, das würdest du nicht.“

Davon, dass er mir zustimmte, war ich so überrascht, dass mir glatt die Sprache versagte. Mein Mund klappte auf, aber erst beim zweiten Versuch kam ein leises „Nein, würde ich auch nicht“ raus.

Reese rieb sich über den Kopf, ließ seine Haare damit seltsam zu den Seiten abstehen und wandte sich zu der Kellertür herum. Als sein Blick dabei auf Nick fiel, der abwartend an der Wand lehnte zuckte sein Auge ganz seltsam. „Okay, dann sag mir was, hier los war.“

„Es ist durchs Küchenfenster reingesprungen und hat uns angegriffen. Dann haben wir es in den Keller gesperrt. Keine Ahnung warum es hier aufgetaucht ist.“ Das hatte ich mich auch schon mehr als einmal gefragt, aber jede Erklärung schien mir zu weit hergeholt. Vielleicht Zufall? Daran konnte ich nicht wirklich glauben, so viel Zufall konnte es einfach nicht geben. Aber was war dann die Erklärung?

„Und was ist mit deinem Arm?“

Wie von selbst glitt mein Blick zu meiner Schulter, die ich mir die ganze Zeit mit der Hand festhielt. Sie schmerzte immer noch. „Ich wurde an der Schulter erwischt. Nicht so schlimm.“ Das hoffte ich zumindest.

Reese' zweifelnder Blick sagte mir, dass er meinen Worten nicht traute, doch für den Augenblick ließ er es einfach gut sein. „Warum passiert sowas eigentlich immer dir?“

Was bitte sollte denn heißen? Es war ja wohl nicht alltäglich, dass da ein Proles durch mein Küchenfenster sprang – zum Glück.

Reese ließ seinen Rucksack von der Schulter auf den Boden gleiten und machte sich daran, einige Dinge herauszuholen. Netz, Taser, RBT. Aus einer zweiten Tasche kramte er noch eines seiner kleinen Betäubungsgewehre. „Wir machen es jetzt folgendermaßen. Ich habe RBT mitgebracht. Wir schmeißen sie in den Keller und …“

„Du willst in meinem Haus betäubende Rauchbomben werfen?“ War der noch zu retten?!

„Möchtest du das Vieh loswerden oder nicht?“

Die Antwort erübrigte sich wohl.

„Wenn das Gas ihn lahmgelegt hat, öffnen wir die Tür.“ Er zog auch noch zwei Gasmasken aus der Tasche, von denen er mir eine reichte. Nick bekam das Betäubungsgewehr. „Sollte es noch nicht im Land der Träume sein benutzt du das hier. Verstanden?“

„Ich bin ja nicht dumm.“ Sehr professional untersuchte Nick das Gewehr und lud es dann durch.

Das entging auch Evangeline nicht. Die Runzeln auf ihrer Stirn wurden immer tiefer. Sie hatte absolut keine Ahnung, war hier los war und würde sicher bald vor Neugierde platzen. Tja, aber manchmal war Unwissenheit gesünder – besonders wenn man es mit Leuten wie Taid zu tun hatte.

„Und jetzt würde ich gerne wissen, warum Nick bereits hier ist.“ Er drückte mir zwei RBT in die Hand und Evangeline das Netz.

„Warum bekomme ich eigentlich immer dieses Teil?“

Keiner beachtete ihr Murren.

„Er war bereits vorher hier gewesen.“ Ich überprüfte die Bomben und trat dann zur Kellertür, hinter der es noch immer verdächtig still war. „Wir standen in der Küche und haben geredet.“ Ich warf Nick einen kurzen Blick zu. „Und nun würde ich das hier gerne erledigen, damit ich die Polizei anrufen kann. Ohne die zahlt die Versicherung nämlich nicht.“ Und die brauchten wir. Den Schaden den Drei/siebenunddreißig angerichtet hatte, würden wir nämlich niemals aus eigener Tasche bezahlen können. Und Taid würde dafür sicher nicht aufkommen. Davon abgesehen, würde ich von diesem Kerl auch niemals Geld annehmen, egal wie dringend ich es benötigte. Bei diesem Mann wären daran immer Verpflichtungen gebunden und ich wollte mit ihm so wenig wie möglich zu tun haben.

Reese schaute mich eine Weile nur stumm an und schüttelte dann ganz langsam den Kopf. „Manchmal bist du echt unheimlich.“

Unheimlich? Ich? Nur weil ich in solchen Situationen auch Kleinigkeiten wie fehlendes Geld und die Versicherung berücksichtigte? „Das ist ein Talent.“

„Nein er hat recht“, stimmte Evangeline ihm zu. „Das ist unheimlich.“

Warum bitte stellte sie sich jetzt auf seine Seite?

„Komm jetzt Shanks. Nick, bring dich in Position.“ Reese wartete bis sein kleiner Bruder das Gewehr angelegt hatte und legte seine Hand auf den Türknauf. „Ich mache die Tür auf und du wirfst die Bomben.“

Ich nickte.

„Dann los.“ Reese griff seine Taser etwas fester. An seinem Hals konnte ich seine Anspannung sehen. Dann drehte er den Türgriff, zog und … nichts passierte.

„Ähm … die Tür klemmt ein bisschen“, erklärte ich.

Er zog eine Augenbraue hoch, knurrte etwas Unverständliches und riss erneut an dem Griff. Wieder passierte nichts. „Das nennst du ein bisschen? Wie zum Teufel habt ihr die wieder zubekommen?“

„Das ging ganz leicht.“ Ich zuckte mir den Schultern. „Nur vor dem Öffnen sträubt sie sich immer ein wenig.“

Er drückte Evangeline den Taser in die Hand, griff mit beiden Händen nach dem Knauf und stemmte sich mit dem Bein zusätzlich noch gegen die Wand.

Die Tür knarrte. Dann gab es einen Ruck und Reese wäre durch den Schwung fast gegen Nick geknallt. Er fiel nur nicht, weil er nach meinem Arm griff. Leider riss er mich damit ein wenig von der Tür weg. Die Rauchbomben rutschten mir fast aus der Hand, die offene Tür knallte gegen die Wand und schwang mit einem Knarren ganz leicht wieder zurück.

Verdammt, so hatte das aber nicht laufen sollen.

Erschrocken sahen wir alle in das gähnenden Loch hinunter in den Keller. Keiner bewegte sich, keiner wagte es zu atmen.

Nick zielte angespannt mit der Waffe hinunter, bereit sofort abzudrücken, sollte es nötig sein. Zwei Sekunden, drei Sekunden, vier.

„Hör ihr das?“, fragte Evangeline in die Stille hinein.

Ich spitzte die Ohren. Da, ganz leise. Es kam aus dem Keller. „Es schnarcht.“ Ich sah zu Reese. „Es schnarcht.“

„Ich höre es.“ Er löste sich von unserer kleinen Gruppe, ließ sich von Evangeline seinen Taser wiedergeben und trat vorsichtig zu der offenen Tür. Seine Hand glitt innen am Rahmen entlang. Dann flammte die einsame Glühbirne im Keller auf.

Ich wartete voller Anspannung, wollte gleichzeitig vorstürmen, um zu sehen was da los war und in die andere Richtung weglaufen. Als Nick mich dann auch noch am Arm berührte, wäre ich vor Schreck beinahe aus der Haut gefahren.

„Es schläft.“ Reese ließ seinen Taser sinken und sah sich nach uns um. „Die Betäubungspfeile von euch haben es ausgeknockt.“

Sollte das wirklich wahr sein? Sollte uns das Glück nach den ganzen Pannen wirklich einmal hold sein? Vorsichtig trat ich an Reese Seite und riskierte einen Blick nach unten.

Unser Keller war nicht groß. Die hintere Wand wurde von einem langen Regal eingenommen, das bis zum Bersten mit allerlei Gerümpel vollgepackt war. Unter der Treppe und auf der übrigen Fläche des Kellers standen ausrangierte Möbel und berge von Pappkartons. Nur genau in der Mitte war ein freier Pfad, um sich durch dieses Durcheinander zu schlängeln.

Und da, mittendrin in diesem Gerümpel lag Drei/siebenunddreißig und schnarchte leise.

Diese Situation war so absurd, dass ich fast angefangen hätte zu lachen. „Ihr seid gerettet.“ Ich sah zu Reese auf, in deren Augen sich das gleiche zeigte, wie in den meinen. Erleichterung. Reese hatte es geschafft, er hatte Drei/siebenunddreißig und konnte ihn Taid übergeben. Fristgerecht. Was dann weiter geschah würde man sehen müssen, aber für den Moment waren die Brüder in Sicherheit.

Danach ging alles ziemlich schnell. Es wurde nicht mehr gezögert und auch nicht gehapert. Zusammen mit Evangeline und Nick wickelten wir Taids Monster in das Netz ein und trugen es hinaus in Reese Wagen. Das gestaltete sich leider etwas schwer als vorab angenommen. Drei/siebenunddreißig war nicht gerade leicht und wir mussten alle vier anpacken, um es über die schmale Treppe nach oben zu bekommen. Nach der achten Stufe stolperte Evangeline und wurde halb unter dem Bewusstlosen Monster begraben. Auf der zweiundzwanzigsten Stufe rutschte Nick weg und warf es dadurch fast über das Treppengeländer. Und als wir endlich die Tür zum Flur erreichten, schob Reese von hinten so stark, dass der bewusstlose Drei/siebenunddreißig mit dem Kopf gegen den Türrahmen knallte. Es knurrte, schlief aber weiter. Im Flur schaffte ich es dann tatsächlich, ganze zwei Mal, auf seinen schleifenden Schwanz zu latschen und musste mich fragen, ob wir ihn wohl noch in einem Stück nach draußen bringen konnten, oder wir ihn auf dem Weg dorthin einfach kaputt machen würden. Doch dann standen wir am Wagen und während drei von uns das Biest festhielten, öffnete Nick die Heckklappe, damit wir es reinschieben konnten. Der Kofferraum war mit all der Ausrüstung ein wenig klein, aber wir schafften es.

Dann standen wir alle schwer atmend da. Diese Kraftanstrengung war so schweißtreibend gewesen, dass ich davon ganz sicher morgen Muskelkater haben würde. Und leider war es damit noch nicht erledigt.

Die Pfoten wurden von mir genau wie die Schnauze mit Klebeband zugeklebt – Vorsicht war immer besser. Keiner von uns wusste wie stark die Betäubung auf Drei/siebenddreißig wirken würde und wie lange sie anhielt. Und es jetzt noch mal kurz vor dem Ziel zu verlieren wäre ein Schicksalsschlag, der mehrere Leben besiegeln konnte. Nein, so war es schon besser.

Danach verschwanden wir wieder ins Haus. Den Moment brauchten wir einfach, um durchzuatmen.

„Was genau soll ich der Polizei sagen?“ Ich stand mitten im Flur und hielt mir die Schulter. Drei/siebenunddreißig war noch schwerer, als ich befürchtet hatte und sie war ja schon vorher lädiert gewesen. Hoffentlich hatte ich mir nichts Ernstliches zugezogen, denn wenn ich mein Praktikum deswegen abbrechen musste, würde ich wirklich sauer werden.

„Dass du es verjagt hast.“ Auch Reese massierte sich die Muskeln in den Armen. Tja, wir töteten zwar täglich Proles, aber wir mussten sie sonst niemals durch die Gegend schleppen. Das machte der Kadavertrupp.

„Proles lassen sich nicht so einfach verjagen.“ Das wusste sogar die Polizei.

„Doch“, widersprach er sofort. „Wenn sie bereits extrem schlechte Erfahrung mit diesem Menschen gemacht haben.“

Er meinte doch nicht etwa … „Du willst dass ich ihnen von Drei/siebenunddreißig erzähle?“

Er schnaubte. „Doch nicht so. Sag ihnen einfach, dass es der Proles aus dem Einkaufcenter war und du ihn in die Flucht geschlagen hast.“

Na ob das wirklich so gescheit war? Andererseits wäre das am nächsten an der Wahrheit und Lügen hatte mir noch nie gelegen. Ich wusste nicht woran es lag, aber wenn ich versuchte zu lügen, dann wurde es sofort bemerkt. Dabei war ich meiner Meinung nach gar nicht so schlecht. „Okay, Proles eingedrungen und wieder verjagt.“

„Das ist der sicherste Weg.“ Er hob die Hand als wollte er mich berühren. Vielleicht an der Schulter, vielleicht auch im Gesicht, aber er ließ sie dann einfach wieder unverrichteter Dinge sinken, schnappte sich sein ganzes Zeug und marschierte zur Tür hinaus. „Komm, Nick.“

Warum schlug mein Herz plötzlich so wild? Die Gefahr war doch gebannt. Warum wollte ich das Reese wieder zurück kam und das was er begonnen hatte zu Ende brachte? Warum wollte ich plötzlich, dass er mich wirklich berührte? Oh Gott, die Antwort darauf konnte nicht stimmen. Bitte, bitte, nein. Das würde alles nur noch komplizierter machen.

„Cherry?“

Ich wandte mich zu Nick um. Komplizierter war noch harmlos ausgedrückt. Verdammt, ich war mit Nick zusammen, er war mein Freund, also warum sehnte ich mich plötzlich danach von Reese berührt zu werden? Das durfte doch alles nicht wahr sein.

„Wegen vorhin. Wir haben noch nicht …“

„Nicht jetzt, Nick.“

Er drückte die Lippen zu seinem festen Strich zusammen. „Wann dann?“

„Morgen.“ Ich atmete tief durch. So würde mir noch ein Tag bleiben, um die Ereignisse für mich zu ordnen. „Wir sehen uns morgen. Dann klären wir das.“ Aber jetzt hatte ich keine Zeit. Ich musste die Polizei alarmieren und noch viel wichtiger, ich musste nach Onkel Roderick und Wynn sehen. Das mein Onkel noch nicht rausgekommen war, lag wohl nur daran dass er meine kleine Schwester beruhigen musste.

„Versprochen?“

Ich nickte. „Ja. Morgen nach Dienstende komme ich zu dir.“

„Okay.“ Er beugte sich vor und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. Es kribbelte nicht mal ansatzweise so sehr wie die Fast-Berührung von Reese und das war der Moment, in dem ich endlich eine Antwort auf meine Frage fand.

Liebte ich Nick?

Nein.

Nein das tat ich nicht und das war wohl das Schlimmste, was am heutigen Tag geschah. Ich liebte Nick nicht. Ich mochte ihn, sehr sogar und ich liebte es, von ihm berührt zu werden, liebte das Gefühl, das Kribbeln dabei, aber das war auch alles.

„Danke“, flüsterte er und verschwand zur Tür hinaus.

Ich blieb im offenen Rahmen stehen und sah zu wie er zu Reese in den Wagen stieg. Der Motor erwachte zum Leben, die Scheinwerfer blitzten in der Nacht auf und dann rollte der Wagen langsam in die Dunkelheit davon.

Hoffentlich geschah den beiden nichts. Wenn Drei/siebenunddreißig nun während der Fahrt aufwachte …

Ach komm schon, mal den Teufel nicht an die Wand. Er ist wie ein Paket verschnürt. Es wird schon alles gut gehen.

Evangeline trat mit verschränkten Armen neben mich.

„Jetzt weiß ich es.“

„Was?“

Ich wandte ihr das Gesicht zu. „Was ich machen werde. Mit Nick.“ Mein Blick glitt wieder hinaus in die Nacht, an die Stelle wo der Wagen gestanden hatte. „Ich werde das Richtige tun.“

„Erzähl mir wie es gelaufen ist. Aber vorher möchte ich wissen, was zum Teufel hier los ist.“

Ich schwieg. Natürlich, sie hatte eine Erklärung verdient, aber die konnte ich ihr nicht geben. Ich wollte nicht ,dass sie da auch noch mit hineingezogen wurde. Ich wollte sie in Sicherheit wissen.

„Du verheimlichst mir etwas“, warf sie mir vor. „Ich bin nicht dumm. Du verheimlichst mir etwas und es hat mit diesem Reese und diesem Proles zu tun.“

Warum sollte ich leugnen? Nachdem was sie gerade mitgemacht hatte, war das doch offensichtlich. Daher konnte ich nur eines sagen. „Ja.“ Ganz leise und viel zu müde. Ich war es einfach so leid. Wie hatte mein geordnetes Leben in so kurzer Zeit so in Unruhe geraten können?

„Sagst du mir auch was?“

Ich sah auf, sah in dieses vertraute Gesicht und konnte nichts anderes tun als den Kopf zu schütteln. „Es tut mir leid, aber das kann ich dir nicht sagen.“

Das war nicht das, was sie hören wollte. „Warum?“

„Es ist einfach so.“ Auf nähere Erklärungen, würde ich mich gar nicht erst einlassen. Seufzend schloss ich die Tür und machte mich auf den Weg in mein Zimmer. Es war Zeit, die Polizei zu rufen. Dann musste ich mir noch eine glaubhafte Story einfallen lassen, die nicht nur die Beamten, sondern auch meine Familie glauben würde. Um die Versicherung könnte ich mich dann morgen kümmern, da wäre heute sicher keiner mehr zu erreichen.

„Grace?“

Ich blieb stehen, drehte mich aber nicht um. „Ja?“

„Bist du in Schwierigkeiten?“

„Nein.“ Das konnte ich ganz ehrlich sagen. „Nein, hierbei geht es nicht um mich.“

„Und warum sagst du es mir dann nicht?“

„Gerade deswegen. Es steht zu viel auf dem Spiel. Bitte Eve, frag nicht mehr. Mir geht es gut. Allen geht es jetzt wieder gut.“

„Du vertraust mir nicht.“

„Doch das tue ich. Und jetzt musst du mir vertrauen. Ich kann es dir nicht sagen. Diese eine Sache kann ich dir einfach nicht sagen.“ So gerne ich es auch tun würde. Aber ihr Leben war zu wichtig, sie war zu wichtig. Ich würde nichts davon aufs Spiel setzten, nur um ein bisschen Druck von der Seele zu bekommen. Das würde ich mit meinem Gewissen niemals vereinbaren können.

„Falls du es dir anders überlegst, dann …“

„Dann bist du die erste, die es erfährt.“ Nun drehte ich mich doch zu ihr herum. „Aber jetzt muss ich dich bitten, zu schweigen. Niemand darf hiervon etwas erfahren. Bitte.“

Sie sah mich stumm an, forderte mit Blicken eine Erklärung und als sie die nicht bekam, fuhr sie sich mit der Hand seufzend durchs Haar. „Ich muss verrückt sein, aber bitte, von mir erfährt niemand auch nur ein Sterbenswörtchen.“

„Danke.“

„Ja, ja. Und jetzt geh zu deiner Schwester, ich rufe die Polizei.“

Manchmal fragte ich mich, womit ich so eine loyale Freundin verdient hatte. „Danke Eve, das meine ich ernst.“

„Ich weiß.“ Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche, blickte dann aber noch einmal auf, bevor sie die Nummer wählte. „Aber eine Sache würde ich jetzt doch zu gerne wissen.“

Bitte nicht. Nicht mehr heute. Ich hatte einfach nicht mehr die Muße, mich mit Kleinigkeiten auseinanderzusetzen. „Welche?“

„Dieser Proles, das war doch der aus dem Einkaufszentrum, richtig?“

Ich nickte.

„Das, das du gejagt hattest.“

„Ja. Das war das Biest, das Devin auf dem Gewissen hat.“ Und auch Max und Julian. Und so viele andere.

„Wie kann es sein, dass dieses Biest ausgerechnet hier auftaucht? Ich meine, das Center liegt ja nicht gerade um die Ecke, also wie hat dieser Proles hierher gefunden? Es hat fast den Anschein, als hätte er nach dir gesucht.“

Ihre Worte schlugen bei mir ein wie eine Bombe. Gesucht? Nein, das konnte nicht sein. Das würde ja heißen … nein, das war einfach nicht möglich.

Oder?

 

°°°

 

Der Käse zog lange Fäden, als ich das Pizzastück aus der Schachtel nahm.

Reese gab ein genervtes Geräusch von sich und schob die Papiere auf seinem Schreibtisch zur Seite. „Wenn du die Berichte vollkleckerst, dann schreibst du sie allein neu.“

„Hör auf zu schimpfen und sei mir lieber dankbar.“

„Warum sollte ich?“

Ich wusste genau, welche Antwort er mit dieser Frage bezweckte, aber da hatte er sich getäuscht. Hier ging es nicht um Drei/siebenunddreißig. „Weil ich diese Pizza besorgt habe und damit dafür Sorge trage, dass du nicht verhungerst.“

Er schnaubte nur und wandte sich wieder den Berichten des Tages zu.

Es war Samstagabend und während Reese und ich hier drinnen die Berichte der heutigen Aufträge ausfüllten – oder ich sie eben vollkleckerte – tobte draußen vor den Fenstern das Gewitter des Jahres. Der Herbst war nun endgültig da und schickte bereits Vorboten des Winters. Schon den ganzen Tag hatte es eine Mischung zwischen Schneeregen und Graupelschauer gegeben. Und bei diesem Wetter hatten wir, zusammen mit vier anderen Venatoren, einem Rudel Krants hinterherjagen müssen.

Um die Spur nicht zu verlieren, hatten wir sogar das Mittagessen ausfallen lassen. Jetzt war es bereits weit nach sieben und mein Magen hing mir irgendwo auf Höhe der Kniekehlen. Die Pizza war im Moment das Beste, was mir passieren konnte. Das und die Wärme der Gilde, nachdem ich den ganzen Tag gefroren hatte.

Kauend sah ich hinüber zu Reese. Zu dem gestrigen Vorfall war kein Wort über seine Lippen gekommen – auf jeden Fall nicht freiwillig. Ich hatte ihn erst ausfragen müssen um zu erfahren, was geschehen war. Seine Antwort war kurz und bündig gewesen. „Ich habe Drei/siebenunddreißig bei Taid abgegeben.“ Damit war das Thema für ihn erledigt gewesen.

Mit der Polizei war auch alles soweit geregelt. Sie hatten mir meine Geschichte ohne Beanstandung abgenommen und Onkel Roderick hatte heute sogar gleich das Fenster in der Küche erneuern lassen. Nur die Küchentür würde noch etwas auf sich warten lassen. Da würde es erst Ersatz geben, wenn die Angelegenheit mit der Versicherung geklärt war.

Jetzt gab es nur noch einen offenen Punkt auf meiner To-do-Liste: Reese und Nick. Ich wusste in der Zwischenzeit ganz genau, was ich in Bezug auf Nick tun würde und auch, dass ich es noch heute in die Tat umsetzte. Nur Reese war eine ganz andere Angelegenheit.

Erinnerte er sich wirklich nicht an unsere gemeinsame Nacht, oder bedeutete sie ihm einfach nichts?

Ich musterte ihn. Seit ich ihn kennengelernt hatte, war sein Haar länger geworden und fiel ihm nun unordentlich in die Stirn. Die dunklen Ringe unter seinen Augen waren verschwunden. Genau wie ich, hatte er wohl das erste Mal seit langer Zeit die Nacht manierlich schlafen können. Seine Lederjacke hatte er über den Stuhl gehängt. So saß er jetzt in Rollkragenpullover und Jeans auf der anderen Seite des Schreibtisches. Und er sah verdammt gut darin aus.

Hatte ich ihn anfangs nicht hässlich gefunden? Was hatte sich geändert? Wann war die Antipathie in Zuneigung umgeschlagen? Und was verdammt noch mal, sollte ich jetzt damit anfangen?

Ich konnte es nicht länger leugnen, ich fühlte mich zu Reese hingezogen, auch wenn ich wusste wie dumm das war. Als wenn Reese mich auch nur mit der Kneifzange anfassen würde – also ein zweites Mal, wenn er nicht besoffen war. Das war alles so verworren, dass ich davon fast Kopfschmerzen bekam. Erledigte sich ein Problem, tauchte das nächste auf. Das nannte man dann wohl Leben.

„Gibt es einen bestimmten Grund, warum du mich so anstarrst, oder hast du im Moment einfach nichts Besseres zu tun?“

„Option zwei.“

Sein Mundwinkel zuckte. Er versuchte noch es zu verbergen, aber ich sah es ganz genau.

Diese kleine Bewegung ließ meinen Magen hüpfen und mein Herz einen Takt schneller schlagen. Schon seltsam, wie schnell ich mich hatte darauf einstellen können, dass ich Reese mochte – ja, vielleicht sogar mehr.

„Das nervt“, teilte er mir mit.

„Tut es gar nicht.“ Ich biss in mein Pizzastück und nahm gleichzeitig ein zweites aus der Schachtel, dass ich ihm vor die Nase hielt. Woher ich plötzlich die Kühnheit dazu besaß, wusste ich nicht, aber es erschien mir einfach richtig. „Und jetzt iss.“

Wäre Reese der Typ dafür, hätte er jetzt wohl die Augen verdreht, aber so nahm er einfach nur stumm das Pizzastück und biss herzhaft hinein. Kauend schrieb er eine Zeile. Dann stockte er und blickte mich mit einem Stirnrunzeln an. „Hast du Suzanne schon deine Schulter gezeigt?“

„Nein.“ Ich legte den Rand von meinem Pizzastück zurück in die Schachtel. Ich wusste auch nicht, warum ich das immer tat. Eigentlich mochte ich ihn, aber ich hatte das als kleines Mädchen immer bei meinem Vater beobachtet und mir damals angewöhnt, es genauso zu machen. „Brauche ich auch nicht. Der Schulter geht es heute schon viel besser.“

Reese zog skeptisch eine Augenbraue nach oben. „Und das weißt du, weil du Medizin studiert hast und bei dir zu Hause einen MRT versteckst?“

„MRT?“ Ich wusste ja nicht, dass eine schmerzende Schulter gleich einen Kernspintomographen brauchte.

„Du weißt was ich meine.“

Nicht wirklich, aber ich konnte es mir zumindest vorstellen. „Reese, meiner Schulter geht es gut. Sie schmerzt nicht mal mehr. Vielleicht war es ja nur ein eingeklemmter Nerv.“

„Da sollte trotzdem mal jemand einen Blick draufwerfen.“ Grummelnd steckte er sich den Rest seines Pizzastücks in den Mund.

„War das ein Angebot?“ Oh. Mein. Gott. Hatte ich das gerade wirklich gesagt?

Mit einen Stirnrunzeln hob Reese den Blick von dem letzten Bericht. Wahrscheinlich fragte er sich, ob das mein Ernst gewesen war. Oder schossen ihm auch gerade Bilder unserer gemeinsamen Nacht durch den Kopf?

Verdammt.

„Ich …“

Ich sollte nie erfahren was Reese in dem Moment hatte sagen wollen, denn er brach sofort wieder ab und richtete seinen Blick auf einen Punkt in meinem Rücken. Kurz darauf stand Jilin bei uns am Schreibtisch.

„Was gibt´s?“ Reese griff in die Pizzaschachtel, um sich ein weiteres Stück zu genehmigen.

„Ich will mit dir sprechen.“ Ihr Blick lag dabei auf mir. „Wegen des gestrigen Vorfalls bei dir zu Hause.“

Ich konnte es mir gerade so verkneifen, einen schnellen Blick in Reese' Richtung zu werfen. Schauspielen war noch nie eine Kunst gewesen derer ich mächtig war, doch wenn sie mit mir über gestern sprechen wollte, musste ich alles aufbringen, was ich zu bieten hatte, denn eines war glasklar: Jilin würde sich nicht so leicht belügen lassen wie die Polizisten. „Okay.“

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Reese seine Pizza unberührt sinken ließ, als Jilin sich von dem Nebentisch einen Stuhl ranzog und sich bei uns niederließ. Ihn umgab plötzlich die gleiche Anspannung, die ich auch verspürte und ich konnte schwören, dass er versuchte mir Mental folgenden Satz zu übermitteln: „Bau bloß keinen Scheiß!“

Natürlich konnte es auch sein, dass ich mir das einbildete, einfach weil Reese mental keine Nachrichten übermitteln konnte, aber wenn er es gekonnt hätte, wäre dieser Satz sicher bei mir angekommen.

Jilin streckte mit einem tiefen Seufzen, das wirklich von Herzen kam, ihr kaputtes Bein aus. „Ich habe eben den Bericht von der Polizei gelesen.“

Mir schwante Böses. Vielleicht hätte ich meinen Bedenken doch mehr Nachdruck verleihen sollen und Drei/siebenunddreißig besser unerwähnt gelassen.

„Und du bist sicher, dass es der Proles aus dem Einkaufszentrum war?“

Mein Blick verdüsterte sich. „Ich habe gesehen, wie dieses Monster getötet hat. Dieses Biest würde ich niemals vergessen.“

„Das habe ich befürchtet.“ Nachdenklich lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück. „Erzähl mir noch mal, was im Center los war. Alles. Auch die kleinste Kleinigkeit.“ Sie wandte ihr Gesicht Reese zu. „Du auch.“

Ich runzelte die Stirn, verstand den Sinn dahinter nicht, folgte der Anweisung aber. Ich erzählte ihr von unserer Ankunft, von der Besprechung bevor wir hineingegangen waren und auch unsere ersten Schritte in dem Burgerrestaurant. Ich ließ nichts aus. Nicht das tote Mädchen, nicht die Mutter mit dem Kind, nicht die beiden Männer in dem Sommergarten und auch nicht die sterbende Frau. Nur an der Stelle mit Devin geriet ich kurz ins Stocken. Ein Wort reihte sich an das andere. Wie plötzlich die Panik ausbrach, wie das Monster ausrastete und dann verfolgt von Reese die Flucht ergriff. Der Taser, das Feuer und Schluss endlich der Schuss der das Glas hatte splittern lassen. Dabei verschwieg ich allerdings, dass Reese das mit Absicht getan hatte.

Das war die Stelle, an der ich verstummte. Ich wusste nicht, ob ich ihr auch von den U-Bahntunneln erzählen sollte, oder es besser war, wenn das ein weiteres Geheimnis zwischen mir und Reese blieb. Soweit ich wusste war unser gemeinsamer Ausflug bisher in allen Berichten unerwähnt geblieben und das hatte sicher seinen Grund.

„Ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen“, sagte Reese. Das Pizzastück hatte er in der Zwischenzeit zurück in den Karton gelegt. „Außer du möchtest noch eine Aufzählung der herumliegenden Gedärme haben.“

„Nein, das möchte ich nicht. Aber ich möchte es aus deinem Sichtwinkel noch mal hören.“

Ich runzelte die Stirn. „Warum?“

„Weil“ – sie zog das Wort in die Länge – „wir es hier mit einem unbekannten Proles zu tun haben. Noch dazu mit einem äußerst gefährlichen. Jetzt ist es auch noch bei dir zu Hause eingedrungen. Wir brauchen alle Informationen, die wir bekommen können, um es unschädlich zu machen. So etwas wie im Center darf kein weiteres Mal passieren. Und ich möchte auch keine Berichte mehr lesen in denen steht, dass die Persona non grata bei einem meiner Venatoren zu Hause eingedrungen ist. Wir haben in den letzten Tagen mehr als genug Verluste erlitten.“

Sie machte sich Sorgen, wurde mir klar. Jilin war alles andere als dumm und sie hatte in der Zwischenzeit garantiert erkannt, wie intelligent das Monster war, mit dem wir es hier zu tun hatten und nun befürchtete sie wohl, dass die Jäger zu den Gejagten werden könnten.

„Hast du denn eine Vermutung, warum es bei mir aufgetaucht ist?“

Sie schwieg einen Moment, als müsste sie die Frage in all ihren Einzelheiten durchdenken. „Es ist weitaus intelligenter, als alle Proles, die ich bisher gesehen habe. Ich habe alle Berichte, die ich kriegen konnte, gelesen und eines ist dabei sehr deutlich geworden. Es lernt. Dieser Proles ist wie ein kleines Kind das seine Umgebung sehr genau in Augenschein nimmt. Er lernt was gefährlich ist, was ihm gut tut und auch wer sein Feind ist.“

Das waren in diesem Fall wir, denn wir versuchten ihn aufzuhalten.

„Wir haben es hier mit einem instinktgetriebenen Wesen zu tun, das über eine Intelligenz verfügt, die wir uns bei keinem Tier vorstellen können. Das ist eine äußerst gefährliche Mischung.“

Das brauchte sie mir nicht sagen. Ich hatte die Leichen gesehen. Vor meine Augen hatte es Morde begangen und ich war es gewesen, die von ihm einen Hausbesuch bekommen hatte.

„Je mehr Informationen wir haben, umso besser.“

„Meinetwegen“, grummelte Reese und erzählte dann noch einmal haargenau, was ich gerade wiedergegeben hatte. Aber auch er verheimlichte den kleinen Ausflug nach dem Einsatz. Genau wie die Tatsache, dass Drei/siebenunddreißig keine Gefahr mehr war, da er nun wieder Hausmonster bei seinem Herrchen spielen durfte. „Und dann habe ich Shanks rausgebracht.“

Jilin runzelte die Stirn, als müsste sie das Gesagte erst noch verarbeiten. Oder vielleicht versuchte sie auch, Zusammenhänge zu ziehen und aus der Erzählung neue Erkenntnisse zu ermitteln. „Erzähl mir noch einmal genau wie es ausgesehen hat.“

„Wie ein Monster“, sagte ich, während Reese' Mund das Wort „Hässlich“ verließ.

„Geht das vielleicht auch ein wenig genauer?“

„Es hatte einen hundeähnlichen Körperbau. Ziemlich schmal, wie ein Windhund vielleicht, aber die Brust war sehr ausgeprägt.“ Ich rief mir noch weitere Einzelheiten des Monsters ins Gedächtnis. „Kugelgelenke, glaube ich, wie bei einem Bär und seine Vorderpfoten waren zum Greifen. Ein langer schmaler Kopf, spitze Ohren. Und die Zähne.“ Allein bei der Erinnerung daran, schüttelte es mich am ganzen Körper. „Riesige Zähne, die zu beiden Seiten aus seinem Maul herausgeragt hatten.“ Zähne, mit denen es ihm ein leichtes war, seine Opfer zu töten.

„Grüne, lederne Haut“, führte Reese meine Beschreibung fort. „Es hatte ein bisschen Fell, so kleine, grüne Büschel überall am Körper. Ein langer, unbehaarter Schwanz.“

„Und sehr lange Krallen.“ Oh ja, an die erinnerte ich mich gut. Damit hatte das Biest nach mir geschlagen und das würde ich nicht so schnell vergessen.

„Und es ist groß“, vollendete Reese die Beschreibung. „Weit größer als ein Spuma. Mit üblem Mundgeruch.“

„Und gestern?“, wollte Jilin wissen? „Hatte es sich verändert?“

„Wie, verändert?“

„Mutation.“

Okay, jetzt griff sie wirklich nach jedem Strohhalm, auch wenn er noch so abwegig war. „Nein, es sah noch genauso aus. Naja, ein paar Wunden waren da. Schusswunden, aber die können noch aus dem Center stammen. Genau wie die Verbrennungen.“

Danach wurde Jilin sehr still und nur die gewohnte Geräuschkulisse der Gilde blieb bestehen. Was wir ihr hatten erzählen können, war wohl nicht das gewesen, was sie sich erhofft hatte. Aber was sollten wir sonst tun? Wir konnten ihr ja wohl schlecht sagen, wo sich Drei/siebenunddreißig aufhielt. Oder woher es eigentlich stammte.

Wenigstens war es jetzt weggesperrt und konnte niemanden mehr gefährlich werden. Vorausgesetzt, Taid ließ es kein zweites Mal entkommen. Der Gedanke schmeckte bitter. Es war bereits einmal passiert, also war ein zweites Mal gar nicht so abwegig. Da blieb uns wirklich nur die Hoffnung, denn ein zweites Mal würde ich nicht zusehen, wie Reese es ihm wiederbrachte.

„Das bringt mich nicht weiter“, sagte Jilin schlussendlich. „Und das gefällt mir gar nicht. Sowas wie gestern, darf kein weiteres Mal passieren.“

„Hast du denn eine Ahnung, wie dieses Biest bei mir auftauchen konnte?“ Die Frage beschäftigte mich bereits den ganzen Tag. Evangeline hatte es schon sehr passend ausgedrückt.

„Es ist intelligenter als alle Proles, die ich in meinem Leben kennenlernen durfte.“ Der spöttische Unterton in ihrer Stimme entging mir nicht. „Und wie ich den Berichten und auch deiner Aussage entnehmen konnte, hast du es auf der Jagd erheblich verletzt.“

„Du meinst das Feuer.“

Sie nickte. „Das wird es sich gemerkt haben. Er hat dich als Gefahr eingestuft, die es zu beseitigen gilt und deswegen glaube ich …“

„Dass es Jagd auf mich gemacht hat.“ Also wurde der Jäger hier wirklich zum Gejagten. Dieser Gedanke gefiel mir überhaupt nicht. „Aber wie hat es mich finden können? Ich meine, es ist sicher nicht intelligent genug, sich beim Einwohnermeldeamt nach meiner Adresse zu erkundigen.“

„Dein Geruch.“ Ihr Blick lag sehr eindringlich auf mir. „Proles, egal wie intelligent sie sind, sind immer noch Tiere und Tiere haben einen sehr ausgeprägten Geruchssinn. Ich kann dir nicht sagen, ob er zufällig auf deine Spur gestoßen ist, oder er dich wirklich aktiv durch die halbe Stadt gejagt hat, aber ich bin mir sicher dass er dich durch deinen Geruch gefunden hat.“

Er hatte sich meinen Geruch gemerkt? Das gefiel mir noch viel weniger.

„So muss es gewesen sein. Der Angriff war einfach zu gezielt. Er hatte es auf dich abgesehen.“

Super. Zum Glück saß er jetzt ordentlich weggesperrt in einem Käfig.

„Tu mir einen Gefallen, Grace.“

„Welchen?“

„Trag immer eine Waffe bei dir.“ Sie beugte sich leicht vor. „Bis wir dieses Biest haben, ob nun tot oder lebendig, will ich nicht dass du unbewaffnet rumläufst. Verstanden?“

Ich nickte mechanisch. Was hätte ich auch sonst tun sollen? Jetzt sollte ich auch noch Tag und Nacht mit meiner Waffe rumlaufen? Verdammt, diese Situation gefiel mir immer weniger. Wenn ich ihr doch nur sagen könnte, dass die Gefahr vorbei war, aber das durfte ich nicht. Damit würde ich Reese und Nick nur in Schwierigkeiten bringen. Und auch Celina.

„Gut.“ Stöhnend erhob sie sich von ihrem Stuhl und stellte ihn wieder an seinen Platz am Nachbartisch. Ihr Bein schien ihr heute Probleme zu machen. „Dann macht langsam Schluss für heute. Und falls euch noch etwas einfällt, dann gebt mir Bescheid.“

Reese nickte. „Klar.“

„Machen wir.“ Oh, wie bitter zwei so kleine Worte doch schmecken konnten. Ich musste den Blick abwenden, weil ich befürchtete, dass sie die Wahrheit sonst in meinen Augen entdecken könnte. Nein, ich hatte nicht direkt gelogen, alles was ich gesagt hatte entsprang den tatsächlichen Sachverhalten, aber ich hatte ihr eine Menge verschwiegen und das belastete mich. Ich war in sowas einfach nicht gut.

Reese schaute Jilin hinterher, bis sie in den Korridor zu ihrem Büro verschwunden war. Dann gab er ein erleichtertes Geräusch von sich. „Sie macht sich Sorgen um die Venatoren.“ Er rieb sich über die Stirn. „ Nicht nur dass Shea sein ganzes Team verloren hat, Aziz hat sie gestern angeschrien.“

Aziz? Der Aziz der den ganzen Tag um sie herumscharwenzelte und keine Gelegenheit ausließ sie mit seinem bezaubernden Lächeln zu bezirzen? „Wir sind im Moment eben alle …“

„Am Arsch.“

Das hatte ich zwar nicht sagen wollen, aber so falsch war es gar nicht.

Er seufzte. „Das war wirklich knapp gewesen.“

„Hmh.“

„Mach das nicht.“

Ich sah überrascht auf. „Was?“

„Dieses Geräusch.“

Dieses Geräusch? „Welches Geräusch?“

„Dieses, das sich anhört, als würdest du gleich unter einer schweren Last zerdrückt werden.“ Er erhob sich von seinem Platz und zog dabei seine Lederjacke über. Es war immer noch ungewohnt, ihn darin zu sehen. Es sah nicht schlecht aus, aber eigentlich gehörte der Mantel zu ihm. „Und als sei es meine Schuld, dass diese Last auf deinen Schultern ruht.“

Drauf würde ich nicht eingehen. Es war seine Schuld und das wusste er genauso gut wie ich. Kein Grund darauf herumzureiten. „Wo geht es hin?“ Auch ich erhob mich von meinem Platz und griff dabei nach meinem Parker auf der Stuhllehne.

„Ich geh jetzt Nick abholen.“ Mit zwei Handgriffen hatte er die Berichte zu einem ordentlichen Stapel gehäuft und in seiner Ablage verstaut. Die offene Pizzaschachtel dagegen beachtete er nicht. Er ließ seinen Müll eben liegen wo er gerade war. Als ich heute in seinen Wagen gestiegen war, hatte mich fast der Schlag getroffen. Eine Woche war ich nicht mit ihm gefahren und er hatte sich wieder in eine komplette Müllkippe verwandelt. Wie machte er das nur?

„Du meinst wohl wir, wir fahren jetzt zu Nick.“

Das ließ ihn für einen Moment in der Bewegung inne halten. Er versuchte es zu überspielen und sich gleichgültig zu geben, aber ich hatte es deutlich bemerkt. „Ihr habt euch also wieder vertragen?“

„Nicht so wie du denkst.“ Ich strich mir die roten Haare aus dem Gesicht. Irgendwo auf der Jagd hatte ich mein Haargummi verloren und seitdem fielen sie mir ständig ins Gesicht. „Ich muss mit ihm reden.“

„Was hast du vor?“ Er klappte noch den Pizzadeckel zu und machte sich dann auf den Weg zum Ausgang.

Ich folgte ihm auf dem Fuße. „Warum willst du das wissen?“ Bei der Frage schlug mein Herz gleich ein klein wenig schneller. Dummes Organ.

„Er ist mein kleiner Bruder“, sagte er und verabschiedete sich mit einem Handzeichen von Madeleine am Tresen – hatte diese Frau eigentlich auch mal Freizeit? „Wenn du vorhast, ihm das Herz zu brechen, würde ich das gerne vorher wissen.“

„Wie kommst du darauf, dass ich das vorhabe? Vielleicht will ich ihn ja auch zu einem Besuch im Kino überreden.“

Reese zog die Eingangstür auf. Heute hatte er draußen auf der Straße geparkt, was ich ziemlich ärgerlich fand, da es immer noch in Strömen regnete. Sogar ein Blitz zuckte in der Ferne über den Himmel, aber zum Glück war es bei Weitem nicht mehr so schlimm, wie noch am Nachmittag. „Immer wenn du seinen Namen sagst, dann guckst du so komisch.“

Ach, tat ich das? Oder versuchte er auf diesem Wege nur etwas anderes herauszufinden? Etwas, das mit unserer gemeinsamen Nacht zu tun hatte? Für diesen Gedanken scholl ich mich selber. Langsam sollte mir eigentlich klar sein, dass Reese an dem Abend so blau gewesen war, dass er sich an nichts mehr erinnern konnte. Alles andere war reines Wunschdenken.

„Ich liebe ihn nicht“, sagte ich leise und blieb an der Beifahrertür stehen, während ich mein Gesicht vom Regen abwandte. „Das ist mir gestern klar geworden.“

Reese sah mich nur einen Moment schweigend an. Sein Blick war genau wie seine Gedanken unergründlich. Dann stieg er mit einem „Tu ihm nicht weh“ in den Wagen.

Dass hatte ich nicht vor. Ich wusste zwar noch nicht genau, wie ich es machen sollte, aber Nick war mir wichtig und schon deswegen musste ich es so schonend wie möglich machen. Er würde es verstehen, da war ich mir sicher. Nick war nicht dumm und genau deswegen würde er es verstehen.

Die Fahrt zum alten Lagerhaus verlief weitestgehend schweigend. Nur der Regen, der unablässig auf das Wagendach prasselte, füllte die ruhige Atmosphäre und lenkte mich von meinen Gedanken ab. Dafür war ich dankbar. Zu wissen, was mir bevorstand, machte mich doch ein wenig nervös. Nick würde es bestimmt verstehen, aber das hieß noch lange nicht, dass er glücklich darüber sein würde. Ich hatte nicht gelogen, ich wollte ihm nicht wehtun, dafür war er mir einfach zu wichtig geworden, aber ich wusste eben nicht, wie er es aufnehmen würde.

Und das verunsicherte mich.

Nur langsam kamen wir durch die Stadt. Der Regen nutzte die Zeit, um sich in einen leichten Nieselregen zu wandeln, der über alles, was er berührte, einen feinen Film legte. Als wir langsam über das Hafengelände fuhren, hatte er sogar fast aufgehört.

Von außen sah Taids Domizil nicht anders aus, als jeden anderen Abend. Unscheinbar, dreckig, heruntergewirtschaftet. Nur die vielen Wagen auf dem Grundstück verrieten mir, dass es kein Abend wie jeder andere war. Heute standen die Wettkämpfe auf dem Spiel und das Gebäude war sicher bis zum Bersten gefüllt. Kein guter Ort, um ein ernsthaftes Gespräch zu führen.

Ich stand draußen neben dem Wagen, blinzelte einen Tropfen von meinen Wimpern und fragte mich, wie etwas so Reizloses so viel Grauen beherbergen konnte. „Tust du mir einen Gefallen?“

Reese ließ den Zündschlüssel in seiner Lederjacke verschwinden und tauschte ihn gegen eine Zigarette aus. „Wenn du willst, dass ich an deiner Stelle mit Nick rede, dann kannst du das vergessen.“

Hielt er mich wirklich für so feige? Na vielen Dank auch. „Nein, ich werde selber mit ihm reden. Nur … kannst du ihn nach draußen schicken? Bitte.“

„Klar.“ Er ließ sein Feuerzeug klicken und marschierte bereits auf das Gebäude zu, als er sie sich anzündete. Seine Schultern wirkten angespannt und das schien nicht nur an dem feinen Nieselregen zu liegen, der sich kalt in seinen Nacken legte. In dem Moment, als er die Tür zum Gebäude aufriss, konnte ich den Lärm dort drinnen auch hier draußen vernehmen, doch sobald sie wieder geschlossen war, blieb nichts als Stille und drückende Einsamkeit.

Ich steckte die Hände in die Taschen meines Parkers, um sie warm zu halten und musste plötzlich das Bedürfnis niederkämpfen, einfach wegzulaufen und dieses Gespräch noch ein bisschen hinauszuzögern. Aber ich hatte es ihm versprochen. Und es wäre auch nicht fair, ihn noch weiter im Ungewissen zu lassen.

Trotzdem schlich sich einen Moment die Idee in meinen Kopf, das Ganze zu vergessen und Nick einfach in dem Glauben zu lassen, dass alles in Ordnung war. Es war ja nicht so dass ich ihn nicht mochte. Und er konnte so lieb sein. Alles andere würde vielleicht später kommen. Doch wenn nicht, was dann?

Nein, entschied ich und richtete meinen Blick nach oben auf den verhangenen Himmel. Ich konnte nicht so tun, als wäre alles in Ordnung. Das wäre einfach ungerecht. Verdammt, warum musste das nur so schwer sein? Und warum schmerzte mich der Gedanke, ihn verletzen zu müssen?

Lange starrte ich in den Himmel und ballte die Hände in den Taschen gegen die Kälte fest zusammen. Ich senkte meinen Blick auch nicht, als der Lärm aus dem Inneren erneut für einen Moment nach draußen drang. Entweder war das irgendein Besucher, der mal kurz an die frische Luft musste, oder es war Nick. Und wenn er es war, musste ich den Moment, in dem ich ihn ansah noch einen kurzen Augenblick hinaus zögern, weil ich sonst vielleicht einen Rückzieher gemacht hätte.

Ich lauschte den Schritten, die über den Kiesweg an meine Ohren drangen. Sie hielten direkt auf mich zu. Also war es wirklich Nick.

Mich innerlich wappnend schloss ich einen Moment die Augen und atmete tief durch und als ich ihm dann endlich entgegensah, als ich diesem Lächeln begegnete, dass ich in den letzten Wochen so lieb gewonnen hatte, wurde mir eines sehr deutlich klar: Das hier würde noch schwerer werden, als ich befürchtet hatte.

„Hey.“ Ich versuchte mich an einem Lächeln, das sich sehr falsch anfühlte und kurz geriet ich wieder ins Taumeln. Ich hatte es in der Hand, ich könnte es einfach so lassen wie es war, mich mit ihm vertragen und glücklich in den Sonnenuntergang reiten. Nichts müsste sich ändern.

„Du bist gekommen.“

Absolut nichts.

Nick streckte seine Hand nach mir aus und legte sie auf meine Wange.

Aber ich konnte ihm das nicht antun. Nicht wenn bei einer Berührung von ihm Reese' Bild vor meinem inneren Auge auftauchte. Das wäre einfach falsch. „Nick, ich muss dir etwas sagen.“

„Okay.“ Er trat so nahe an mich heran, dass ich seine Körperwärme durch den Parker spüren konnte. „Ich hab dir auch etwas zu sagen.“

Oh nein, was kam jetzt noch?

Bevor ich den Mund öffnen konnte, legte er mir einen Finger auf dem Mund.

„Ich liebe dich.“

Nein, nein, oh Gott, nein! Das konnte er doch nicht tun, nicht jetzt wo ich mit ihm Schluss machen wollte. Warum zum Teufel tat er das?

Nick verstand meine Sprachlosigkeit falsch. Er ließ seinen Finger über die Narbe auf meiner Lippe wandern, doch als er sich dann auch noch für einen Kuss vorbeugte, hielt ich es einfach nicht mehr aus.

„Ich hab mit Reese geschlafen.“ Verdammt, das war doch gar nicht das, was ich hatte sagen wollen! Das hätte er gar nicht erfahren sollen! Aber jetzt war es zu spät. Ich hatte die Worte ausgesprochen und er hatte sie gehört.

Der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er sah aus, als hätte ich ihm eine kräftige Ohrfeige verpasst und ihm dann noch einen Tritt in die Weichteile versetzt. Seine Lippen zuckten, als hielte er das für einen schlechten Scherz, doch das vertraute Lächeln wollte ihm nicht so recht gelingen. „Was?“

Die Unsicherheit in seiner Stimme schmerzte mich. Mit diesem einen Wort versuchte er das Gesagte ins Lächerliche zu ziehen, doch er musste auch die Wahrheit erkannt haben.

So hätte das nicht laufen sollen. So war das absolut nicht geplant gewesen.

„Das ist …“ Nervös nahm er die Hand von meinem Gesicht und strich sich fahrig über das Kinn. Ein Blick über die Schulter zum Lagerhaus, dann wieder einen zu mir. „Sag mir, dass das ein Scherz ist.“

Das konnte ich nicht. Es war die Wahrheit und er sah es in meinen Augen.

„Bitte, sag mir dass du nur einen Scherz gemacht hast.“

„Nick …“

„Sag, dass du nur einen Scherz gemacht hast!“, schrie er mir so plötzlich ins Gesicht, dass ich rückwärts gegen den Wagen stolperte. Ich konnte mich nur zu gut an das letzte Mal erinnern, als er so wütend gewesen war.

„Bitte. Cherry, das kann nicht dein Ernst sein.“

Was sollte ich da noch sagen, außer: „Es tut mir leid, so war das nicht geplant gewesen.“

Er schnaubte. Wandte den Blick wieder ab, starrte auf den Boden, in den Himmel, zum Wagen. „Das kann nicht dein Ernst sein.“

„Es tut mir Leid, Nick, es ist einfach … passiert.“

„Wie bitte kann sowas einfach passieren?! Hä?! Ist er auf dich raufgefallen und zufällig an der richtigen Stelle gelandet, oder was?!“

Ich kniff die Lippen zusammen. Wenn er so wütend war, konnte man einfach nicht mit ihm reden.

„Ich kann es einfach nicht glauben. Bei mir machst du so ein Theater und von ihm lässt du dich dann durchficken?!“

„So war das nicht“, sagte ich leise. Natürlich, ich verstand ihn und er hatte jedes Recht dazu, sauer auf mich zu sein, aber er sollte diese Nacht nicht in den Dreck ziehen.

„Ach nein? Wie war es dann? Bist du über ihn hergefallen?!“ Er beugte sich herausfordernd vor. „Na los, sag schon, wie hat es sich angefühlt, sich von meinem Bruder vögeln zu lassen?!“

„Sprich nicht so.“

„Wie soll ich denn dann sprechen? Hä? Ich kann es einfach nicht fassen. Die ganze Zeit hast du mich in dem Glauben gelassen, dass ich es verbockt habe und in Wirklichkeit … ahhhr!“ Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte mit wütenden Schritten auf das Lagerhaus zu. „Die Missgeburt mach ich fertig.“

Scheiße, was war denn jetzt los? „Nick, was hast du vor?“ Ich rannte ihm hinterher, erwischte ihn gerade noch als er durch die Tür wollte, doch er schüttelte mich einfach ab. „Nick!“

Mein Ruf ging in dem Gebrüll der Menge unter. Die Begeisterungsrufe waren noch lauter, als beim letzten Mal, die Menschen brüllten lauter als die Proles, die sich in der Voliere gegenseitig zerrissen. Es war voll, stickig und kaum ein Durchkommen möglich. Daher fiel es mir auch nicht ganz einfach Nick durch das Gedränge auf den Tribünen zu folgen. Kurzzeitig verlor ich ihn sogar aus den Augen. Verdammt, was hatte er nur vor?

Ich reckte mich auf die Zehenspitzen, rempelte dabei eine junge Frau mit Papageiengesicht an, die sich lauthals mokierte und entdeckte Nick dann unten, wie er sich durch das Gewimmel auf einem abgesperrten Bereich an der Seite durchkämpfte. Dass er dabei zahllose Leute anrempelte und einen Mann sogar mit umriss, schien er nicht einmal zu merken. Er hatte nur ein Ziel vor Augen, das Separee, in dem sich Taid mit ein paar Anzugträgern auf bequemen Stühlen lächelnd niedergelassen hatte – auch Reese war bei ihnen. Alles andere war ihm egal.

In meinem Magen machte sich ein sehr ungutes Gefühl breit. So hätte das nicht laufen sollen, das hätte niemals passieren dürfen.

Wie ein Aal schlängelte ich mich an den Menschen vorbei. Ich wusste nicht, was Nick vorhatte, doch Grußkarten verteilen war es ganz sicher nicht. Zwischendurch teilte sich die Menge vor mir. Da hinten saß Reese, direkt neben Taid. Der Boss schien ziemlich zufrieden mit sich und der Welt, legte Reese eine Hand auf die Schulter, als wollte er ihn loben. Da war wohl jemand überglücklich, seinen Champion wiederzuhaben.

Reese dagegen wirkte, als wollte er sich seine Schulter mit Desinfektionsspray einsprühen, um auch jeglichen Rückstand von Taids Berührung zu vernichten.

Keiner von beiden bemerkte Nick, bis er einfach über die Umzäunung sprang, ausholte und seinem großen Bruder mitten ins Gesicht schlug.

„Reese!“ Scheiße!

Reese kippte samt Stuhl einfach in die Anzugträger hinein. Er hatte es nicht kommen sehen. Die Logik sagte mir, dass es nicht möglich war, aber ich hörte sein Ächzen trotz der Entfernung – zumindest bildete ich mir das ein. Nick hatte ihn voll getroffen. Aber das reichte ihm noch nicht. Er stürzte sich wieder auf ihn, schlug erneut zu und brüllte dabei so laut, dass die Sehnen an seinem Hals hervortraten.

Aber das Schlimmste war, dass Reese sich nicht wehrte. Er schlug nicht zurück, versuchte nur die Schläge abzuwehren, ohne Nick dabei einen Schaden zuzufügen.

Die Anzugträger traten zurück, empörten sich über diese Unruhen, Taid brüllte etwas – jetzt sah er nicht mehr so glücklich aus – und aus der Tür hinter ihnen, die zur Zwingerhalle führte, kamen zwei von seinen Handlangern herausgestürzt – Hendrik und Scott.

Gerade als ich den abgesperrten Bereich erreichte, stürzten sie sich auf Nick und rissen ihn von Reese runter. Er wehrte sich heftig, trat und schlug um sich, während er die ganze Zeit brüllte.

Die umstehenden Gäste waren auf den Aufruhr bereits aufmerksam geworden. Plötzlich waren die prügelnden Männer interessanter, als die blutrünstigen Proles.

„Nick!“, rief ich und beugte mich halb über die Brüstung. „Nick, hör auf!“ Ich hoffte so, dass er auf mich hören würde, doch meine Worte schienen den Nebel der Wut in seinem Kopf nicht durchdringen zu können.

„… verficktes Arschloch!“, schrie er Reese an. „Du scheiß Hurenbock, ich mach dich fertig!“

Taid sah nicht weniger verärgert aus. „Könnte mir jemand sagen, was hier los ist?“

„Niklas“, versuchte Reese mit ruhiger Stimme zu ihm durchzudringen. „Nick.“

„Das wirst du büßen! Das …“

„Nick!“ Verdammt er hörte einfach nicht auf. Ich musste was unternehmen. Vielleicht konnte ich ihn ja wieder beruhigen, aber sicher nicht, wenn ich weiter hier draußen vor der Umzäunung stand. Also machte ich es wie Nick und sprang einfach über die Absperrung.

Hendrik und Scott hatten arge Probleme ihn festzuhalten und als Reese es dann zurück auf die Beine schaffte, wurde er richtig wütend.

„Scheiße, jetzt beruhig dich doch mal!“, fluchte Scott. Das Gesicht mit den Piercings war vor Anstrengung bereits ganz rot angelaufen.

„… hast du nicht umsonst gemacht, du scheiß …“

„Was ist dein scheiß Problem?!“ Reese wischte sich Blut von der Lippe und funkelte seinen kleinen Bruder böse an.

Na super, jetzt wurde er auch noch sauer. Das hatte mir wirklich noch gefehlt.

„Was mein scheiß Problem ist?!“ Er lachte höhnisch auf. „Du verdammtes Arschloch hast meine Freundin gefickt!“

Das ließ nicht nur Reese' Kopf zu mir herumwirbeln. Von einem Moment auf dem anderen, kam ich mir wie im Scheinwerferlicht vor. Doch die anderen Männer sah ich nicht, nur Reese, der mich mit undurchdringlicher Miene musterte. Erinnerte er sich jetzt wieder? Hatte er es überhaupt vergessen gehabt, oder wollte er es die ganze Zeit einfach nur verheimlichen?

Sein Blick gab nichts von seinen Gedanken preis. Unnahbar, undurchdringlich. Und dann wandte er sich einfach von mir ab um Nick mit einem so kalten Blick zu begegnen, dass es selbst mich fror. „Jetzt weißt du mal, wie sich das anfühlt.“

Diese Worte, dieser kleine Satz, war wie eine Ohrfeige mitten ins Gesicht. Das konnte doch nicht das heißen was ich glaubte, oder?

„Kira? Geht es hier wirklich um diese Schlampe?!“ Nick lachte auf.

Reese erwiderte nichts.

„Diese Schlampe ist in mein Bett gekrochen, du Missgeburt!“

Ich schlug die Hände vor den Mund? Kira? Die Kira vom Center? Die Venatorin?

„Du hättest sie rauschmeißen können. Stattdessen hast du die Gelegenheit wie ein notgeiler, kleiner Junge ausgenutzt.“

Oh Gott, nein. Das durfte nicht wahr sein.

Nick warf sich so plötzlich nach vorne, dass er Taids Handlangern fast durch die Lappen ging. „Du elender Bastard, ich mach dich fertig!“

„Das reicht jetzt.“

Ich hörte das Klicken der Waffe nicht, aber ich sah sie deutlich im Licht aufblitzen, als Taid sie Nick in den Rücken drückte.

„Nein!“ Ich machte einen hastigen Schritt nach vorne, doch allein der Blick dieses Scheusales ließ mich sofort wieder erstarren.

„Und jetzt …“ Taid drückte Nick den Lauf ein wenig fester in die Seite. „Ab nach hinten. Und Schluss mit den Mätzchen.“

Alle meine Muskeln spannten sich an. Das konnte er doch nicht tun, nicht hier vor all den Leuten. Mein Blick hastete von einem zum anderen, aber niemand schien auch nur ein Fünkchen Mitleid mit ihm zu haben. Ganz im Gegenteil, sie schienen sogar mehr als froh, als Scott und Hendrik ihn nach hinten zogen. Diese Anzugträger, sie waren wie Taid, wurde mir klar. Das mussten die Besitzer der anderen Kampfarenen sein.

Auch Reese stand nur tatenlos da und ließ nicht erkennen, was in seinem Kopf vor sich ging. Und die anderen Menschen in dieser Halle? Nur die wenigsten hatten bemerkt, was hier los war und da Taid die Waffe mit seinem Körper verdeckte, bemerkten die restlichen sie nicht. Nur wir. Und von uns sahen alle still dabei zu, wie Nick in die Zwingerhalle gebracht wurde.

„Reese!“ Sein Name war eine einzige Aufforderung. Er konnte doch nicht einfach zusehen. Wer wusste schon, was sie mit ihm tun würden?

Doch mein Lehrcoach schüttelte nur den Kopf. „Er wird ihm nichts tun.“

Er hat eine Waffe du Dummkopf!, hätte ich ihn an liebsten angeschrien, doch bei den ganzen Leuten hier hielt ich es nicht für geistreich, ihm sowas an den Kopf zu werfen. Daher beließ ich es bei einem wütenden Blick und folgte den anderen durch die Tür.

Sofort drang mir der muffige Geruch in die Nase. Das Knurren und Fauchen der Proles erfüllte die Luft und irgendwo raschelte der Zaun eines Zwingers.

Mit dem Schließen der Tür, wurde die Geräuschkulisse ausgeschlossen und ich konnte die Stimmen der Männer sofort ausmachen.

„… uns hoffentlich verstanden“, knurrte Taid gerade.

Er stand nicht weit von der Tür entfernt und hielt Nick seine Waffe von unten gegen das Kinn. Hendrik und Scott hielten ihn immer noch an den Armen fest, aber er wehrte sich nicht mehr, stand nur still da und funkelte seinen Boss wütend an.

„Niklas.“ Taid Stimme war noch eine Oktave tiefer gerutscht.

„Ja“, knurrte Nick und schien an diesem einem Wort fast zu ersticken. „Ja, ich habe verstanden.“

„Gut.“ Taid gab seinen Jungs ein Zeichen, ihn loszulassen. „Beim nächsten Mal …“ Taid stockte. „Ich hoffe für dich, es wird kein nächstes Mal geben.“

Nick presste die Lippen wütend aufeinander. Er hatte mich bereits bemerkt und sein Blick … ich hatte mich in meinem ganzen Leben noch nie so schuldig gefühlt, wie in diesem Moment.

Der Oberbösewicht schnipste mit den Fingern. „Abgang.“

Ich schaute nicht auf, als die drei Männer an mir vorbei gingen. Trotzdem wusste ich, dass sie mich ansahen. Ich konnte ihre Blicke spüren, ihre Abneigung, ihre Urteile. Klar, in ihren Augen war ich erst mit Reese zusammen gewesen und dann mit Nick, nur um mit dem großen Bruder dann ins Bett zu steigen. Und selbst wenn ich offiziell nicht mit Reese zusammen gewesen wäre, so hatte ich diese Blicke verdient. Das wusste ich selber.

Als die Tür sich öffnete, drangen für einen Augenblick die Beifallsrufe der Menschen zu uns hinein. Dann, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, herrschte nur noch drückende Stille und ich war mit Nick allein. Selbst die Proles schienen ruhiger geworden zu sein. Vielleicht bildete ich mir das auch einfach nur ein.

Nick trat von einem Bein auf das andere. Er rieb sich über den Mund, schaute weg, schaute zu mir und schlug dann mit einen Schrei, der mich zusammenzucken ließ, gegen die Wand. „Warum?!“ Noch ein Schlag. Dann schoss er plötzlich so schnell zu mir herum, dass ich hektisch zurückstolperte in der Angst, der nächste Schlag würde mich treffen.

Doch Nick hatte nicht vor, mich für meine Verfehlung zu bestrafen. Jedenfalls nicht so, wie ich befürchtete. Er packte mein Kinn so fest dass es schmerzte und im nächsten Moment lagen seine Lippen auf meinen. Er küsste mich. Aber es war kein Kuss wie ich ihn kannte. Er war hart, drängend, beinahe schon brutal. Kein Zögern, kein Zaudern. Er nahm sich einfach was er wollte und dass es mir wehtat, schien ihn kein bisschen zu interessieren.

Im nächsten Moment stieß er mich mit dem Rücken so heftig gegen die Wand, dass Schmerz durch meine lädierte Schulter schoss. Und als ich versuchte, ihn von mir wegzustoßen, packte er meine Handgelenke und presste sie gegen die Wand.

Ich gab ein Wimmern von mir, versuchte ihn mit den Beinen wegzutreten, aber er wurde nur noch zudringlicher.

Mein Herz schlug wie wild in meiner Brust. Angst. Alles was ich noch fühlte war Angst. Und als er meine Handgelenke dann auch noch mit einer Hand fixierte und mir mit der anderen den Parker öffnete, bekam ich Panik.

Ich hatte ihn dazu gebracht. Ich hatte ihn so sehr verletzt, dass er mir das jetzt antun wollte.

Eine Träne rollte über meine Wange. Und noch eine, aber selbst als er seinen groben Kuss von mir löste beachtete er sie nicht. „Nick“, versuchte ich es. Die Tränen waren sogar in meiner Stimme zu hören. „Nick, hör auf, bitte.“

Er reagierte nicht. Seine Mimik war hart, steinern, nichts erinnerte mehr an den lächelnden jungen Mann, der mich allein mit seinem Strahlen bezaubern konnte.

„Nick, bitte, ich will das nicht.“

Er schob ein Bein zwischen meine Schenkel, nahm mir jede Möglichkeit zur Flucht.

Und dann brach ich einfach zusammen. Ich schluchzte, meine Tränen nahmen überhand. „Nick, hör auf!“

Er keuchte leicht, als er seine Hand unter mein Shirt schob und die bebende Haut berührte. Er war erregt, dass konnte ich spüren, aber er zeigte es nicht. Das hier war eine Strafe für mich und er war bereit sie bis zum Ende durchzuziehen.

„Niklas!“

Er hörte mich, kniff die Lippen zusammen, aber er hörte nicht auf. Ganz im Gegenteil. Nun schob er meine Hand unten in meinen Schritt.

Ich konnte nicht mehr. Ich fing an zu schreien, zu weinen und wehrte mich nach Leibeskräften.

„Was?!“, schrie er mich plötzlich an und trat dabei einen Schritt von mir weg. Seine Brust bebte unter seinem Atem.

Ich schlang die Arme um mich, kauerte mich auf dem Boden an der Wand zusammen, um ihm so wenig Angriffsfläche wie möglich zu bieten. Durch den Tränenschleier konnte ich kaum etwas sehen. Doch seine Wut, diese unbändige Wut, die konnte ich spüren.

„Mein verfickter Bruder darf dich knallen, aber bei deinem eigenen Freund machst du solche zicken?!“

Freund? Glaubte er etwa dass wir immer noch zusammen waren? Hatte er denn nicht verstanden, was ich ihm damit eigentlich hatte sagen wollen?

„Ich bin dein Freund!“, schrie er mich an. „Niemand außer mir darf dich anfassen!“

Darauf konnte ich nichts sagen. Ich konnte nichts anderes tun als schluchzend zu ihm aufzusehen.

„Ich hätte es sein sollen, nicht er!“ Und dann lief auch ihm plötzlich eine Träne über die Wange.

Jetzt erst wurde mir klar, wie tief ich ihn verletzt hatte. Wir kannten uns noch nicht lange und natürlich war es ein Verrat, aber ich hätte niemals gedacht, dass er so stark an mir hängen würde.

„Ich hätte es sein sollen, Cherry“, sagte er mit brüchiger Stimme.

Ich wollte ihn trösten, wollte das alles von ihm wegnehmen, aber ich konnte nicht. Ich hatte Angst vor ihm. Nachdem, was er gerade versucht hatte, konnte ich es kaum aushalten, ihn vor mir stehen zu haben.

„Scheiß auf Jungfrauen“, knurrte er und wischte sich die Träne aus dem Auge. „Sowas wie dich hab ich nicht nötig, also scheiß auf dich!“

Ich sah wie er litt, als er sich umdrehte und zurück in die Arena ging, spürte sein Leid und war trotzdem nicht fähig, ihm zu helfen. Das, was er gerade getan hatte, seine Worte, es tat so weh. Hatte ich es verdient? Ich wusste es nicht. Ich wusste in diesem Moment gar nichts mehr. Da war nur noch diese Angst und gleichzeitig auch die Erleichterung, dass ich seinem Vorhaben noch einmal entgangen war.

Natürlich, Nick reagierte niemals so, wie man es erwartete, er war krank und ich konnte irgendwo auch verstehen, dass er mich bestrafen wollte, aber das machte die Angst nicht besser.

Oh Gott, wie hatte er das nur tun können?

Ich wollte nicht darüber nachdenken, versuchte das Erlebte zu verdrängen, mir einzureden, dass er es niemals durchgezogen hätte, dass er nur sauer war. Nick würde sowas nicht tun, so war er einfach nicht. Nick war ein guter Kerl und ich hatte ihn verletzt.

Scheiß auf Jungfrauen.

Der Tränenstrom wollte einfach nicht nachlassen. Es war egal, wie lange ich wartete. Zehn Minuten, dreißig, eine Stunde. Ich spürte seine groben Berührungen immer noch. Es war wie Schmutz, der einfach nicht verschwinden wollte, egal wie stark ich darüber rieb. Diesem Gefühl konnte ich mich auch nicht erwehren, als das Salz meiner Augen nach und nach trocknete und nur noch meine heiseren Schluchzer die Luft erfüllten.

Nick hatte mich gegen meinen Willen angefasst.

Nick hatte versucht mich … oh Gott, er hätte mich fast vergewaltigt.

Plötzlich wurde neben mir die Tür so stark aufgestoßen, dass sie neben mir an die Wand knallte.

Ich zuckte zusammen, befürchtete dass er zurückkam, um das zu Ende zu bringen, was er begonnen hatte, doch es war nicht Nick, es war Scott, der mit einem gehetzten Gesichtsausdruck in die Zwingerhalle rannte, direkt an mir vorbei. Er schien mich nicht mal zu bemerken.

Aus der Arena hörte ich seltsame Schreie und Rufe. Die Begeisterung in den Stimmen der Menschen war durch Panik ersetzt worden.

Ich musste sofort an die maroden Zäune der Voliere denken. Kalte Angst krallte sich in meine Brust. Nein, bitte, nein, das durfte nicht sein. Dort waren so viele Menschen drinnen, dass konnte jetzt einfach nicht passieren.

Eine Frau schrie, ein Mann bellte laute Befehle und Rufe der Empörung wurden laut. Und dann ertönte plötzlich die blecherne Stimme eines Megaphons.

Meine Stirn legte sich wie von selbst in Falten. Das klang falsch, da war keine Panik, eher ein Aufruhr.

Langsam erhob ich mich vom Boden, wischte mir dabei die Tränen von den Wangen und warf einen vorsichtigen Blick in die Arena. Und was ich da sah, konnte ich kaum glauben. Das durfte nicht wahr sein, so grausam konnte das Schicksal einfach nicht sein.

Schwarzuniformierte Frauen und Männer mit Helmen und Schutzkleidung drängten sich zwischen den Gästen, riefen Befehle und ließen Handschellen klicken. Ich sah Schilde und Waffen.

Ein Mann wurde grob gegen die Wand gedrückt und verhaftet.

Der folgende Schuss ließ nicht nur meinen Kopf herumwirbeln. In der Voliere lag ein toter Proles – Kopfschuss. Gleich darauf folgte ein zweiter Schuss und erst da entdeckte ich den blauuniformierten Venator. Und nicht nur ihn, plötzlich erblickte ich sie überall.

SEK.

Polizei.

Staatliche Venatoren.

Das war kein Aufstand, keine Unruhen und auch keine Panik, ausgelöst durch einen freigekommenen Proles, der sich nun durch die Zuschauer mordete. Das hier war eine Razzia. Eine Großrazzia der Polizei gegen illegale Proles-Kämpfe. Und ich stand hier und tat nichts, als diesem Schauspiel zuzuschauen.

Eine Frau im Abendkleid rannte, im Versuch sich in Sicherheit zu bringen, an mir vorbei, aber sie kannte sich hier nicht aus, lief in die falsche Richtung, hinaus aus meinem Sichtfeld.

Und dann wurde mir klar, warum Scott an mir vorbeigeschossen war. Er versuchte sich davonzumachen und genau das sollte ich auch tun. Ich wollte mir gar nicht vorstellen was passieren könnte, wenn man mich hier erwischte.

Aber dort raus konnte ich nicht. Noch hatten sie mich nicht entdeckt, doch lange würde es sicher nicht mehr dauern.

Auf der Suche nach einem Fluchtweg sah ich mich panisch um, sah die Gassen hinunter, zu den Zwingern, nach hinter zu der verdreckten Küchenecke und der Tür zum … natürlich, das war die Lösung. Am Ende vom Korridor gab es einen Notausgang.

Ohne näher darüber nachzudenken machte ich es Scott nach und gab Fersengeld.

„Grace?“

Von dem Ruf überrascht warf ich einen hastigen Blick über die Schulter und sah Benedikt, Evangelines Lehrcoach. Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Evangeline hatte mir davon erzählt. Gestern, als wir von der Akademie nach Hause gefahren waren, hatte sie mir nebenbei von einem Großeinsatz erzählt, den die Staatlichen planten. Verdammt, warum hatte ich nicht besser aufgepasst?!

Ich hielt nicht an, rannte die Gasse hinunter, durch die Küchenecke hinein in den verschimmelten Korridor. Meine Beine trugen mich bis ans andere Ende. Ich hatte so viel Schwung drauf, dass ich beinahe in die Tür hinein rannte, doch als ich panisch an dem Griff riss, ging sie nicht auf. Verdammt, Taid hatte das Teil mit einem Vorhängeschloss gesichert.

„Scheiße!“ Ich strich mir über die Stirn, sah mich nach allen Seiten um. Wo war eigentlich Scott abgeblieben? Es musste noch einen Ausgang geben, denn es war sehr unwahrscheinlich, dass er durch diese Tür verschwunden war und sie dann wieder verschlossen hatte – von innen.

Ich rannte zurück und hatte den Korridor fast hinter mir gelassen, als plötzlich zwei bewaffnete Beamte durch die Tür stürmten.

Eine Steinmauer hätte mich nicht wirksamer zum Halten bringen können.

„Stehen bleiben!“

Nicht mal im Traum. Ich machte auf dem Absatz kehrt, rannte wieder in Richtung Tür, schlüpfte dieses Mal aber in Taids Büro. Alles sah hier noch genauso aus wie beim letzten Mal. Bis auf das offene Fenster.

„Gott sei Dank.“

Auf meinem Weg konnte mich nichts mehr aufhalten, auch nicht die hastig näher kommenden Schritte. Einen Wimpernschlag, mehr brauchte ich nicht, um den Raum zu durchqueren. Ein zweiter und ich hatte nach dem Fensterbrett gegriffen.

„Bleiben Sie stehen!“

Ein dritter und ich schwang meinen Oberkörper hinaus. Es war mir egal ob ich unten aufknallen würde, für mich war nur eines wichtig, ich musste hier weg. Wie wollte ich auch erklären, was ich hier zu suchen hatte? Wie würde Onkel Roderick sich fühlen, wenn er davon erfuhr? Verdammt, ich war eine angehende Venatorin, die Beste in meinem Jahrgang, ich hatte einfach nicht hier zu sein.

Mein Atem ging schwer, mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich stieß mich ab und in dem Moment packte mich jemand am Bein.

„Neiiin!“

Ich wehrte mich, wollte einfach nur hier weg, aber ich wurde reingezerrt und krachte auf den Boden. Im nächsten Moment wurde ich grob auf den Bauch gedreht. Hände zerrten meine Arme auf den Rücken und dann spürte ich das kalte Metall an meinen Handgelenken.

„Sie sind verhaftet.“ Die Handschellen schnappten zu.

Nein.

„Sie haben das Recht zu schweigen.“

Bitte, nein.

„Machen sie von diesem Recht keinen Gebrauch, kann und wird alles was sie sagen gegen sie verwendet werden.“

Nein, nein, nein, das durfte nicht wahr sein.

„Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Sollten sie sich keinen leisten können, stellt ihnen das Gericht einen zur Verfügung.“

 

°°°°°

Kapitel 16

 

Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe herum und sah zu, wie der korpulente Polizist hinter dem Schreibtisch in seiner Schublade nach einem Stift suchte. Der Stuhl unter ihm knarrte dabei bedenklich. Obwohl, es war schon fast ein Hilfeschrei, da er unter der Last, die er tragen musste, zu brechen drohte.

Jakob Betings. Das stand auf dem Schild auf seinem Schreibtisch.

Mein unruhiger Blick huschte zu den anderen Tischen um uns herum. An vielen von ihnen saßen Leute wie ich, einfache Menschen, die bei der Razzia einkassiert wurden. Auch der kleine Wartebereich vorne war voll von ihnen. Ich hatte Hendrik entdeckt und auch zwei von diesen Anzugtypen aus dem abgesperrten Bereich. Taid dagegen schien ihnen durch die Lappen gegangen zu sein. Zumindest war er mir in dem heillosen Durcheinander nicht aufgefallen, was vielleicht auch daran gelegen haben könnte, dass ich mit ganz anderen Dingen beschäftigt war.

Nicht nur die Frage was nun mit mir passieren würde hatte mich vor Nervosität meine halbe Lippe zerbeißen lassen. Was war mit Reese und Nick passiert? Ich hatte kein Anzeichen von ihnen entdecken können. Waren sie entkommen? Befanden auch sie sich irgendwo in diesem Gebäude und wurden verhört? Oder hatten sie mich einfach zurückgelassen, um ihre eigene Haut zu retten?

Eigentlich sollte diese Option nicht so schmerzen. Natürlich, nur wegen ihnen war ich da gewesen, nur wegen ihnen wusste ich überhaupt von dem Lagerhaus, aber … es sollte nicht so wehtun.

Die Ungewissheit durch diese ganze Situation, nagte an meinen Nerven. Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut, wollte hier nur schnellstmöglich weg. Das war kein Platz für mich, ich hatte nichts Falsches gemacht, also warum musste ich nun an diesem Schreibtisch sitzen und zugucken wie der beleibte Mann auf der anderen Seite einen Bogen Papier aus seiner Ablage zog, den Stift klicken ließ und seinen Blick dann auf mich richtete?

Ich hatte nichts verbrochen!

„Name?“ Als ich nicht sofort darauf reagierte, hob er ungeduldig eine Augenbraue. „Sagen sie mir Ihren Namen.“

„Ähm …“ Nervös leckte ich mit der Zunge über meine Lippe. „Grace, Grace Shanks. Das ist mein Name. Grace Shanks.“ Der einzige Hoffnungsschimmer in diesem Moment war die Tatsache dass ich bereits volljährig war und die Polizei damit keinen Grund hatte sich bei meinem Onkel zu melden, um ihn über meine Verfehlungen zu informieren. Ich wollte gar nicht wissen, wie enttäuscht Onkel Roderick sein würde, wenn er davon erführe.

Der beleibte Mann notierte etwas auf seinem Zettel und sprach dabei weiter, ohne den Blick zu heben. „Können sie sich ausweisen?“

„Ja. Mein Ausweis ist in meiner Jacke.“

Er wedelte ungeduldig mit der Hand. „Wenn sie dann so gütig wären, ihn herauszuholen und mir zu zeigen.“

„Ja, ähm … Moment.“ Hecktisch griff ich in die Innentasche meines Parkers und zerrte mein Portemonnaie hervor. Dabei fiel ein kleines, weißes Kärtchen mit meinem Foto auf den Schreibtisch. Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, wie der Kerl danach gegriffen hatte – für so einen fleischigen Mann war der ganz schön flink.

„Gilde?“, fragte er und zog seine Augenbrauen dabei auf sehr kuriose weise nach oben. Es gab ihm das Aussehen eines erstaunten Meerschweinchens mit extremen Verstopfungen. „Sehr interessant.“ Er legte den Ausweis wieder auf den Tisch und widmete sich erneut seinem Zettel, auf dem er hektisch ein paar Zeilen schrieb.

Meine Hand zuckte Richtung Ausweis, aber ich war mir nicht sicher, ob ich ihn nehmen durfte und zögerte daher. „Ich bin dort Praktikantin“, fühlte ich mich verpflichte zu erklären. „Ein Praktikum über die Akademie, bevor ich meine abschließende Ausbildung antrete.“

Ohne aufzublicken schüttelte er nur den Kopf. „Wenn ich dann jetzt um den richtigen Ausweis bitten dürfte.“

„Ähm … natürlich.“ Ich zog meinen Ausweis aus meinem Portemonnaie und reichte ihn ihm. Beim Zurückziehen der Hand nahm ich meinen Gildenschein vom Tisch und ließ ihn wieder in meinem Parker verschwinden. Irgendwie wollte ich nicht, dass er ihn noch einmal anfasste.

Die nächsten zwei Minuten studierte er mein Bild und alle Angaben auf dem eingeschweißten Kärtchen. Dann schrieb er noch ein wenig auf seinem Zettel herum und legte anschließend den Stift zur Seite. Damit genoss ich seine vollste Aufmerksamkeit, was mich unruhig auf dem Stuhl hin und her rutschen ließ.

„Dann lassen sie mal hören.“

Hören? „Ähm …“

Er seufze genervt, als hätte er von rebellierenden Teenagern schon lange die Nase voll. „Ihnen ist klar, dass wir Sie bei einer illegalen Veranstaltung aufgegriffen haben und Sie anschließend versucht haben, sich der Festnahme zu entziehen?“

Musste ich darauf wirklich antworten?

Als ich nur nervös auf meiner Unterlippe herumkaute und versuchte den Blick nicht abzuwenden, stieß er einen theatralischen Seufzer aus. „War das Ihr erster Besuch dieses Etablissement?“

„Ja, ich …“ Stottere hier nicht rum! „Also, normalerweise mache ich so etwas nicht.“

Die Skepsis war ihm deutlich anzusehen. „Und was war heute nicht normal?“

Wollte er damit wissen, was mich dazu gebracht hatte dort hinzugehen? Zum Glück hatte ich wenigstens über diese Frage genug Zeit gehabt nachzudenken. Schließlich war es schon ein paar Stunden her, dass sie mich festgenommen hatten. Und auch wenn es wehtat, diese Lüge auszusprechen und den Namen damit zu beschmutzen, es war das einzige, was mir eingefallen war um niemanden in Schwierigkeiten zu bringen.

Ich atmete noch einmal tief durch, konnte mich dieses Mal aber nicht daran hindern den Blick zu senken. „Ein Freund hat mir davon erzählt. Ich war neugierig und wollte sehen was dort los ist.“

„Hat dieser Freund auch einen Namen?“

Ich drückte die Lippen fest aufeinander. Noch konnte ich zurück, aber wenn ich es erstmal ausgesprochen hatte, wäre es zu spät.

„Frau Shanks, antworten Sie.“

„Devin“, flüsterte ich. „Sein Name lautet Devin Doak.“

Er nahm seinen Stift wieder zur Hand. „Und wo finde ich diesen Devin Doak?“

Vermutlich in der Leichenhalle eines Krankenhauses. „Er ist tot“, flüsterte ich und konnte nicht verhindern, dass mir zum Schluss die Stimme wegbrach.

„Bitte?“

„Devin, er ist …“ Ich musste hektisch einatmen und die aufsteigenden Tränen wegblinzeln. Oh Gott, was tat ich hier eigentlich? Ich beschmutzte seinen guten Ruf um Kriminelle zu schützen. Aber was sollte ich sonst tun? Mir war nichts Besseres eingefallen. „Er ist … er war Praktikant, genau wie ich. Aber er … er …“

Der Beamte wartete, aber seine Geduld war wohl schon lange aufgebraucht. Das Zucken seiner Augenbraue verriet ihn. „Ja?“

„Der Einsatz. Letzte Woche im Center … er war auch da und … und jetzt ist er tot.“

„Moment, reden sie von dem Großeinsatz mit diesem unbekannten Proles?“

Ein Nicken war alles, was ich noch zustande brachte. Verdammt, wie konnte ich das nur tun? Wie konnte ich es wagen, sein Ansehen so in den Schmutz zu ziehen?

„Sie wissen von diesem Spektakel also von jemanden der vor einer Woche gestorben ist“, fasste er zusammen.

Noch ein Nicken.

„Wie praktisch für Sie.“ Wieder schrieb er etwas auf seinen Zettel.

Ich biss die Zähne so fest zusammen, dass mir der Kiefer davon schmerzte. Wie konnte er es wagen so über Devin zu sprechen?

„Und heute Morgen sind Sie dann einfach aufgewacht und haben beschlossen, dass es ganz nett sein könnte zuzusehen wie Proles sich gegenseitig in der Luft zerreißen.“

„Ich wollte wissen ob es stimmt.“ Wie bitter diese Worte doch schmeckten.

„Und was hätten Sie mit diesem Wissen angefangen, wenn wir nicht aufgetaucht wären?“

„Ich weiß nicht, ich … ich wollte … ich weiß nicht was ich mir dabei gedacht habe.“

Am Schreibtisch nebenan wurde es plötzlich laut. Der dort befragte Mann hatte wohl keine Lust mehr, zu antworten. Es gab einen kleinen Aufstand, der unsere Aufmerksamkeit kurze Zeit auf sich zog, aber sobald andere Polizisten herbeigeeilt kamen, um wieder für Ruhe und Ordnung zu sorgen, lag der Blick dieses Betings wieder auf mir. „Ich glaube Ihnen nicht, aber da ich Ihnen im Moment nichts nachweisen kann und ansonsten noch genug zu tun habe, können Sie gehen, sobald Sie ihre Aussage unterschrieben haben.“

„Ich kann gehen?“

„Ja.“ Er schob mir das Blatt Papier samt Stift zu. „Ich möchte Sie aber dazu anhalten, die Stadt in nächster Zeit nicht ohne unser Wissen zu verlassen und sich zu weiteren Befragungen bereit zu halten.“

Nur zögernd zog ich den Zettel zu mir heran und ließ meine Augen über die kraklige Schrift gleiten, die von einem Erstklässler zu stammen schien.

„Sobald wir die Anzeige geschrieben haben, werden Sie darüber informiert.“

Mit dem Stift über der untersten Zeile hielt ich inne. „Anzeige?“

Er zog die Augenbrauen wieder auf diese höchst eigenartige Weise nach oben. „Na was haben Sie denn geglaubt? Sie haben sich an einem Ort herumgetrieben an dem illegale Proles-Kämpfe stattfanden und Sie können mir nicht erzählen, dass Sie nicht gewusst haben, dass es gesetzwidrig ist.“

Meine Zähne taten schon weh, so fest drückte ich sie aufeinander. Was hätte ich darauf auch erwidern sollen? Natürlich hatte ich es gewusst. Ich wusste sogar noch viel mehr, aber das würde er hoffentlich niemals erfahren.

Schweigend setzte ich meine Unterschrift auf das Dokument und schob es ihm wieder hin. Für einen Moment war ich in Versuchung ihn nach Reese und Nick zu fragen, aber falls sie wirklich entkommen waren, dann würde ich sie damit in die Scheiße reiten. So nahm ich einfach wieder meinen Ausweis an mich, erhob mich von dem Stuhl und kehrte dem Polizisten den Rücken.

Ich musste mich zusammenreißen, um nicht einfach herauszurennen. Keine Ahnung, was jetzt noch auf mich zukommen würde, aber es wäre sicher nicht von Vorteil wenn ich Fersengeld gab. Und so konnte ich auch die anderen Verhafteten besser mustern. Jeden Mann und jede Frau, doch es waren keine vertrauten Gesichter dabei. Alles Besucher, die sich auf einen Abend voller Blut gefreut hatten und nun bekamen, was sie verdienten. Doch ich gehörte nicht zu ihnen, ich war anders, nur würde mir das hier niemand glauben.

Es gab nur zwei, die mir glauben würden, doch auf die hatte ich in dem ganzen Trubel keinen Blick erhaschen können. Vielleicht waren die Brüder ja wirklich rausgekommen. Doch bevor ich das nicht mit Sicherheit wusste, hätte ich keinen Moment Ruhe. Daher zückte ich, kaum dass ich auf der Straße vor dem Revier stand, mein Handy und wählte Reese Nummer.

Es klingelte.

Genau sieben Mal.

Dann ging die Mailbox ran.

Kann gerade nicht, versuch es später noch mal“, erklärte mir Reese' blecherne Stimme vom Tonband.

„Verdammt!“

Bei meinem Ausruf schauten zwei Polizisten auf, die vor dem Gebäude eine Zigarettenpause machten.

Vielleicht war es ja keine gute Idee, das direkt vor dem Revier zu klären.

Ohne wirklich eine Ahnung zu haben, wohin ich lief, kehrte ich den Beamten den Rücken und marschierte die Straße hinunter. Dabei wählte ich Reese Nummer ein zweites und ein drittes Mal in der Hoffnung, dass er zu beschäftigt war, gleich beim ersten Anruf ranzugehen. Doch leider kam ich jedes Mal zum selben Ergebnis. Dann musste es eben eine kurze und bündige Nachricht tun.

Ruf mich an. Sofort!!!

Gerade als ich sie abgeschickt hatte, kam mir der Gedanke, dass er im Augenblick vielleicht gar nicht ans Handy gehen konnte. Wenn er nun doch in einem Verhörraum saß und beichten musste, was er die letzten Jahre getrieben hatte, hätte er sicher besseres zu tun, als meinen Anrufen nachzugehen.

Ich biss mir auf die Lippe. Es gab noch eine zweite Nummer die ich wählen konnte, doch allein bei dem Gedanken daran, lief es mir eiskalt den Rücken runter.

Nick. Ein Zittern durchlief meinen Körper. Was er da in der Zwingerhalle getan hatte … so hatte ich ihn noch nie erlebt, so … eiskalt und aggressiv.

Ich war auch noch selber schuld daran.

Und was er alles zu mir gesagt hatte. Ich hatte es verdient. Ich hatte Scheiße gebaut und zwar von der richtig großen Sorte. Und deswegen musste ich mich jetzt auch zusammenreißen, egal wie schwer es war. Ich wollte ja nur wissen, ob er und Reese entkommen waren.

Meine Hände zitterten, als ich mir das Handy ein weiteres Mal ans Ohr hielt. Sie bebten geradezu.

Es klingelte.

Einmal

Zweimal.

Dreimal.

Ich ließ es immer länger läuten in der Hoffnung, dass Nick irgendwann abnehmen würde. Ich wollte mich schließlich nur kurz versichern, dass bei ihm alles in Ordnung war, aber er ging nicht ran. Egal wie lange ich in der Leitung blieb, ich hörte nichts weiter als dieses immer wiederkehrende Klingeln.

Er ging einfach nicht ran.

Reese ging nicht ran.

Was sollte ich jetzt machen?

Zweifelnd blieb ich stehen und ließ das Handy sinken. Hatte die Polizei sie doch verhaftet? Alle beide? Nein, Reese würde das sicher nicht zulassen. Natürlich, Nick war vorhin auf dem besten Weg gewesen ihn zusammengeschlagen, aber Reese würde seinen kleinen Bruder nicht im Stich lassen – niemals.

Vielleicht war ja nur Nick verhaftet worden und Reese versuchte nun, ihn rauszuhauen. Oder die beiden schliefen einfach schon. Es war in der Zwischenzeit nach drei Uhr am Morgen, also wäre das gar nicht so unrealistisch. Aber dann könnten sie doch wenigstens an ihre blöden Handys gehen. Das war doch wirklich nicht zu viel verlangt. Einfach ein kurzer Wortwechsel, damit ich mit Sicherheit wusste, dass es ihnen gut ging.

Ich rief noch mal an. Bei beiden. Und noch einmal. Aber das Ergebnis war immer das gleiche und langsam wurde mir klar, so würde ich nicht weiterkommen. Aber was hatte ich denn sonst noch für Optionen?

Eigentlich nur eine.

Ich suchte mir die nächste Bushaltestelle, musste aber leider feststellen, dass der um diese Zeit nicht mehr fuhr. Also musste ich auf eine Nachtlinie ausweichen.

Die ganze Fahrt über versuchte ich die beiden immer wieder anzurufen – ohne Erfolg. Und auch als ich bei den Brüdern zu Hause ankam, blieb die Tür verschlossen. Und da konnte ich noch so viel Sturm klingeln. Da war eindeutig niemand zu Hause.

Der Verzweiflung nahe rief ich erneut auf Reese‘ Handy an.

„Bitte, geh doch ran.“

Es klingelte sieben Mal.

Kann gerade nicht, versuch es später noch mal.“

Er ging nicht ran. Vielleicht konnte er wirklich nicht rangehen. Vielleicht saß er ja wirklich auf dem Revier.

Niedergeschlagen ließ ich das Handy sinken.

Ich konnte nichts tun. Ich konnte nur hier rumstehen und darauf warten, dass einer von ihnen nach Hause käme. Vorausgesetzt sie konnten nach Hause kommen.

Gedankenverloren starrte ich in die Nacht. Was wenn sie nicht kamen? Was wäre dann mit Celina? Was würde mit ihnen passieren?

Ich wusste nicht wie lange ich dort vor dem Haus stand, aber irgendwann wandte ich mich einfach davon ab. Die Hoffnung schwand. Ich glaubte nicht daran, dass sie kommen würden. Irgendetwas war passiert und hierzubleiben würde mich nicht weiterbringen.

Einer von beiden würde sich schon bei mir melden. So viele Anrufe, wie sie von mir bekommen hatten, würden sie anrufen. Aber hier und jetzt konnte ich nichts tun, also konnte ich mich auch auf den Weg nach Hause machen.

 

°°°

 

„Gracy.“

Eine vorsichtige Berührung am Arm, ließ mich die verschlafenen Augen aufschlagen.

„Hey mein Schatz.“ Onkel Roderick beugte sich ein wenig über mich. „Da ist eine Jilin Halco am Telefon und möchte mit dir sprechen.“

„Jilin?“ Ich blinzelte zu ihm hinauf. Er hatte wieder einmal vergessen, sich die Haare zukämen, aber dafür sah sein Hemd manierlich aus. Jeder Knopf steckte in seinem Loch. „Wie spät ist es denn?“

„Halb acht. Wynn schläft noch und ich muss gleich noch mal kurz weg.“

Ich ließ die Augen wieder zufallen. Halb acht. Nicht mal drei Stunden Schlaf. Und das auf einem Sonntag. Heute hatte ich frei, also was konnte Jilin von mir wollen?

Razzia.

Dieses Wort schoss durch meinen Kopf und sofort war ich hellwach. Konnte es sein dass … nein. Was sollte Jilin auch damit zu tun haben? Das war wahrscheinlich nur ein Zufall, dass sie ausgerechnet heute anrief und hatte gar nichts mit dem zu tun, was in den letzten zwölf Stunden passiert war.

„Gracy?“

„Ja, ich geh schon.“ Wie um meine Worten Nachdruck zu verleihen, schlug ich die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Der Fußboden war kalt. Auf dem Weg ins Wohnzimmer zum Telefon bekam ich eine Gänsehaut. Wenn die Temperaturen weiter so fielen, dann würden wir demnächst anfangen müssen zu heizen. Viel zu früh. Das würde wieder ein Haufen Geld kosten, das wir nicht hatten.

Wenn nur endlich meine Ausbildung beginnen würde, dann könnte ich auch etwas zur Haushaltskasse beisteuern und wir müssten nicht ewig jeden Cent zwei Mal umdrehen.

Während ich den Telefonhörer zur Hand nahm und mich damit auf die Couch fallen ließ, hörte ich Onkel Roderick im Flur, wie er sich fertig machte. „Hallo?“

„Grace, ich bin es, Jilin. Ich würde nicht so früh anrufen, wenn es nicht wichtig ist, aber ich bräuchte dich heute ganz dringend hier in der Gilde. Kannst du das einrichten?“

„Ähm … heute?“ Ich runzelte die Stirn. „Was ist denn los?“

„Ich brauche dich für eine Identifizierung.“

Identifizierung? „Was soll ich denn identifizieren?“

„Grace, tut mir leid, ich habe jetzt keine Zeit für lange Erklärungen, hier ist die Hölle los.“

„Oh, okay, klar, ich kann kommen.“

„Wann bist du hier?“

„Wenn ich mich sofort fertig mache? Höchstens eine Stunde.“

„In Ordnung, dann bis gleich.“

Klick, Leitung unterbrochen.

Stirnrunzelnd starrte ich das Telefon in meiner Hand an. Was war das denn gerade gewesen? Die kühne Jilin schien heute Morgen ein wenig durch den Wind. War etwas passiert? Bitte nicht, noch mehr konnte ich einfach nicht gebrauchen.

Doch bevor ich mich um das nächste Problem kümmern konnte, musste ich erstmal das alte klären. Meine Finger wählten Reese' Nummer bereits, bevor ich es mir wirklich bewusst war. Doch ich hatte genauso wenig Erfolg wie vor ein paar Stunden. Auch unter Nicks Nummer erreichte ich nichts und eine Kontrolle meines Handys brachte so viel, wie mit einem Zahnstocher auf einen Marmorblock einzuschlagen. Keine Anrufe in Abwesenheit, keine Nachrichten.

Verdammt, Reese, wo steckst du?

 

°°°

 

Der inzwischen vertraute Geruch der Gilde umfing mich, als ich durch die Eingangstür trat. Eine Mischung aus Holz, abgestandener Luft und vielen Menschen. Aber er war nicht unangenehm. Ganz im Gegenteil. In der Zwischenzeit assoziierte ich diesen Geruch mit Sicherheit. Die Gilde bedeutete Sicherheit, Schutz für Menschen und ein paar verrückten Leuten, die ihr Leben der Jagd verschrieben hatten.

Stimmengewirr und klingelnde Telefone begrüßten mich. Irgendwo lachte jemand sehr laut.

Ein ganz normaler Tag in der Gilde. Doch eigentlich hätte ich heute gar nicht hier sein dürfen. Das beschäftigte mich schon die ganze Zeit.

Ich brauche dich für eine Identifizierung.

Den Weg hierher hatten mich diese Worte beschäftigt, doch ich konnte mir absolut keinen Reim darauf machen. Wen sollte ich identifizieren? Und dann auch noch in der Gilde. Was hatte eine Identifizierung mit der Gilde zu tun? Ich kam einfach auf keinen gemeinsamen Nenner, der das logisch erklären konnte.

Und wenn meine Gedanken mal eine Minute von dieser Frage abwichen, dann spukten mir Reese und Nick im Kopf herum. Ich wusste immer noch nicht was mit ihnen passiert war und das nagte an meinen Nerven. Wo zum Teufel trieben die …

Mitten im Schritt stoppte ich. Das war doch nicht möglich. Das konnte einfach nicht möglich sein.

Ein großer Kerl mit Lederjacke und finsterem Blick schritt aus dem Arbeitsareal zu Madeleine an den Tresen. Er beugte sich zu ihr runter, um ihr etwas auf dem Notizzettel in seiner Hand zu zeigen.

Verdammt noch mal, das war Reese!

Ich machte mir die ganze Nacht Sorgen, rief ihn ständig an und fuhr sogar durch die halbe Stadt um herauszufinden was mit ihm geschehen war und da stand er. Einfach so, als wäre nichts passiert! Dieser … dieser … Blödmann!

„Reese!“ Mit weit ausholenden Schritten marschierte ich auf ihn zu und wurde wirklich sauer, als er bei meinem Anblick nichts weiter als eine erhobene Augenbraue übrig hatte. „Kannst du mir mal sagen warum …“ Ich stockte mit dem Blick auf Madeleine, die uns neugierig lauschte. Vorwitzige Zuhörer, das hatte mir jetzt gerade noch gefehlt.

Ich schnappte ihn mir am Leder seiner Jacke und zog ihn mit mir an die gegenüberliegende Wand. Hier konnte die uns zwar noch sehen, aber wenigstens nicht mehr hören.

„Kannst du mir mal sagen, wo du dich die letzten Stunden rumgetrieben hast?“, zischte ich ihn an und versuchte meine Stimme leise zu halten. Das war gar nicht so einfach. „Ich habe dich tausend Mal angerufen und war sogar bei dir zu Hause!“ Meine Hand zuckte. Am liebsten hätte ich ihm ein paar gescheuert. „Und du Mistkerl bist die ganze Zeit hier und hältst es nicht mal für nötig, an dein verfluchtes Handy zu gehen, damit ich mir keine Sorgen machen muss!“

Seelenruhig verschränkte Reese mit diesem typisch herablassenden Blick die Arme vor der Brust. „Bist du jetzt fertig?“

„Nein! Ich habe noch nicht mal richtig angefangen. Und eine Antwort bist du mir noch immer schuldig. Wo zum Teufel warst du die ganze Zeit? Ich dachte …“ – ein kurzer Blick zu Madeline, dann senkte ich meine Stimme noch eine Oktave. „Ich dachte sie hätten dich auch erwischt!“

„Erwischt?“ Er warf einen kurzen Blick über die Schulter und beugte sich dann weiter zu mir. „Soll das heißen du warst noch im Lagerhaus als die Razzia stattfand?“

„Du nicht?“

„Nein“, knurrte er verärgert, doch dieses Mal schien nicht ich der Grund dafür zu sein. Er zog die Augenbrauen so dicht zusammen, dass sie sich in der Mitte berührten. „Ich bin gleich, nachdem ihr nach hinten verschwunden seid, abgehauen.“

Er war zur Razzia also gar nicht mehr anwesend? „Und Nick?“

„Nick war auch nicht mehr da. Er war …“ Er stockte und drückte für einen Augenblick die Lippen fest aufeinander. „Rede selber mit ihm darüber.“

„Wie bitte soll ich das machen? Genau wie du, hält er es nämlich nicht für nötig an sein verdammtes Handy zu gehen! Wozu habt ihr die Dinger überhaupt?!“

Mehrere neugierige Blicke wurden zu uns rüber geworfen. Da war ich wohl etwas zu laut gewesen. Aber verdammt noch mal, ich war echt sauer!

„Bei mir ist er rangegangen, aber … egal. Pass auf.“ Er warf noch einmal einen kurzen Blick über die Schulter, wie um sich zu versichern, dass wir auch keine Mithörer hatten. Dann beugte er sich noch ein Stück vor. „Die Staatlichen und die Polizei haben sich mit dieser Razzia ein wenig übernommen, deswegen wurde die Gilde auch noch dazu geholt. Ich war die ganze Nacht unterwegs um die Proles aus Taids Forschungslabor zu transportieren, während die anderen die Zwingerhalle ausgeräuchert haben. Jetzt …“

„Moment, du warst daran beteiligt?“

„Ja, später, aber erst nachdem …“

„Das heißt du warst die ganze verfluchte Nacht in diesem Lagerhaus?“

„Ja, ich …“

„Und warum bist du dann nicht an dein verdammtes Handy gegangen?!“

„Würdest du mich jetzt mal ausreden lassen?“

„Nein, nicht bevor …“

„Tack? Grace?“

Bei Jilins Stimme schauten wir beide auf.

Sie kam gerade am Tresen vorbei und musterte uns mit ausdruckslosem Gesicht. Ihre Kleidung wirkte zerknittert, so als würde sie sie schon seit Tagen am Leib tragen und aus ihrem Pferdeschwanz hatten sich zahllose Strähnen gelöst. Sie war völlig übermüdet und trotzdem blickten ihre Augen immer noch sehr wachsam

Ihre Augen huschten von Einem zum Anderen. Wahrscheinlich war ihr unser Ton nicht entgangen. „Gibt es ein Problem?“

„Nein“, knurrte Reese, während ich den Kopf schüttelte.

Irgendwas an ihrem Blick sagte mir, dass sie uns nicht so ganz glaubte. Hatte sie einen Verdacht? Nein, warum sollte sie. Reese war sicher intelligent genug gewesen, sich nicht anmerken zu lassen, dass er regelmäßig in dem Lagerhaus am Hafen zu Gast war. „Wenn das so ist. Grace, ich brauche dich einen Moment und du gehst in mein Büro und parkst deinen Hintern dort bis ich komme.“

„Ich hab Feierabend!“, protestierte Reese.

„Genau wie ich und trotzdem bin ich noch hier, also beklage dich nicht.“

„Man, du kannst ein richtiger Sklaventreiber sein.“ Grummelnd ließ Reese uns stehen und verschwand am Tresen vorbei nach hinten.

„Für was brauchst du mich denn?“

Jilin richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. Dabei huschte etwas wie Misstrauen über ihr Gesicht. „Ich möchte dir etwas zeigen. Komm.“ Ohne auf mich zu warten verschwand sie in die gleiche Richtung wie Reese und mir blieb gar nichts anderes übrig, als ihr weiter unwissend zu folgen. Dabei machte sich in meinem Magen ein Gefühl breit, das mir so gar nicht gefallen wollte. Warum diese Geheimniskrämerei? Sonst redete sie doch auch nicht lange um den heißen Brei herum und brachte alles gleich auf den Punkt.

Ich brauche dich für eine Identifizierung.

Nein, irgendwie wollte mir das wirklich nicht gefallen.

Der Weg nach unten in den Keller verlief in angespanntem Schweigen. Vielleicht empfand auch ich das nur so, weil diese drückende Stille sowohl Anspannung als auch Erwartung mit sich brachte. Wen sollte ich nur identifizieren? Darauf konnte ich mir immer noch keinen Reim machen.

„Weißt du, was letzte Nacht hier los war?“, fragte sie, als wir fast das Ende des Korridors im Keller erreicht hatten. Sie steuerte direkt auf den Sicherheitsbereich hinter der gesicherten Stahltür zu, in dem wir Proles lagerten und sogar ein kleines Labor untergebracht war.

„Reese hat mir davon erzählt.“ Ich zögerte einen Moment. „Es soll eine Razzia gegeben haben, in irgendeinem Lagerhaus.“

Jilin hielt vor der Tür und gab in das Zahlenfeld daneben eine ziemlich lange Nummer ein. „Ein Lagerhaus, das zu einer Proles-Kampfarena umgebaut wurde.“ Mit der Schulter drückte sie die schwere Tür auf und ließ mich an sich vorbei als erste eintreten. „Und der Betreiber dieser illegalen Arena hat scheinbar einen Gottkomplex entwickelt.“

Taid und ein Gottkomplex? Ziemlich gute Beschreibung. „Was meinst du damit?“ Verdammt, es war gar nicht so einfach, völlig unbeteiligt zu wirken und so zu tun als hätte man von nichts eine Ahnung. Nach diesem Gespräch mit Jilin war Reese mir ein Eis schuldig. Ein großes Eis mit viel Sahne.

„Er hatte unter dieser Arena eine eigene Forschungseinrichtung, wo er neue Proles kreiert hat.“

Die Tür fiel hinter uns wieder ins Schloss und verriegelte sich ganz automatisch.

„Bitte?“

„Ja.“ Sie nickte. „Wie es den Anschein hat, hat dieser Taid Breslin versucht das ultimative Proles zu züchten. Stark, grausam, unbesiegbar.“

Oh Gott, dieser Druck. Um mein Wissen nicht auszuplaudern, musste ich mir auf die Lippen beißen. Es tat richtig weh. Zum Glück kehrte mir Jilin in dem Moment gerade den Rücken. Während wir an einigen Edelstahlschränken und Seziertischen vorbei zu einer weiteren Tür in der hinteren Wand liefen, hatte sie nicht die geringste Ahnung, was in meinem Kopf vor sich ging. Wahrscheinlich war es so das Beste, aber ich mochte es nicht. Von Geheimnissen hatte ich so-was-von die Nase voll.

„Leider funktioniert so ein Vorhaben nicht von heute auf Morgen“, nahm sie ihren Monolog wieder auf. „Er und sein Team müssen Jahre geforscht und gezüchtet haben. Als die Venatoren der Stadt mit der Polizei dort unten eingedrungen sind, haben sie achtundzwanzig unbekannte Abkömmlinge gefunden, bei denen teilweise nicht einmal mehr die Abstammung zu bestimmen ist.“

„So viele?“ Nein, das Entsetzen in meiner Stimme musste ich nicht vorspielen, das kam von ganz allein. Achtundzwanzig. Das war … unfassbar. Ich hatte gerade mal zwei gesehen, aber achtundzwanzig? Was hatte Taid mit so vielen Kreationen gewollt? Warum hatte er sie nicht getötet, als er feststellte, dass sie ihm nicht von Nutzen sein würden?

Jilin nickte und zog aus ihrer Hosentasche eine Sicherheitskarte, die sie durch einen Scanner an der Tür zog. Dann gab sie in dem Tastenfeld daneben einen weiteren Code ein. „Ja, aber wie es scheint waren das bloß ein Teil der Proles, die er gezüchtet hat. Es wurden Unterlagen gefunden aus denen hervorgeht, dass er die meisten seiner Züchtungen verkauft hat und andere aus verschiedenen Gründen einfach nicht lebensfähig waren.“ Die Tür gab ein Summen von sich, dann konnte Jilin sie aufdrücken – aber nur einen Spalt, dann blieb sie stehen, um mir ins Gesicht sehen zu können. „Die übrigen hat er mit Zahlen geordnet. Typ Zwei/elf oder Drei/siebenunddreißig.“

Bildete ich mir das nur ein, oder beobachtete sie mich bei diesen Worten wirklich ein wenig zu genau? Auf jeden Fall war es sehr schwer keine Reaktion von mir zu geben, als sie diese Bestie erwähnte, wegen der Devin gestorben war.

„Die erste Zahl steht für die Generation, die zweite für den Zuchtversuch, das haben wir in der Zwischenzeit bereits herausgefunden. Vier/zweiundzwanzig war die höchste Zahl.“

„So viele“, konnte ich nur wieder sagen.

„Ja, viel zu viele.“ Jilin drückte für einen Moment die Lippen aufeinander. Dann stemmte sie sich gegen die Tür und ließ uns beide hinein.

Das Knurren eines Proles begrüßte uns. Eine Art Ziegenbock mit kurzer Schnauze und langem Schwanz. Es hatte keine Ohren, dafür aber extrem lange Zähne. Und Fell besaß es auch keines.

„Was ist das?“ So einen Abkömmling hatte ich noch nie gesehen.

„Vier/zweiundzwanzig.“ Sie trat etwas weiter in den kleinen Raum, wodurch ich auch einen Blick auf die beiden anderen Käfige bekam, die in diesem Raum fest in den Wänden installiert waren. Auf jeder Seite des Raumes einer. „Zwei/elf.“ Sie zeigte auf einen schmalen Abkömmling, der sehr entfernt an eine orientalische Katze erinnerte, dabei aber die Größe eines irischen Wolfshundes hatte. Und Krallen, die mich an einem Raptor denken ließen. Einen weißen Raptor.

„Und Drei/siebenunddreißig.“

Beim Anblick von meinem alten Bekannten lief es mir eiskalt den Rücken hinunter. Er erinnerte mich sofort wieder an das was im Center passiert war und auch daran was hätte geschehen können, als er bei mir Zuhause eingedrungen war.

Ich warf Jilin einen Blick zu, bemerkte wie genau sie mich beobachtete. Sollte ich ihr sagen, was für ein Proles das war? Anhand der Beschreibung, die sie von mir und Reese erhalten hatte, wusste sie das mit Sicherheit schon selber. Und wenn ich jetzt nichts sagte, bekam sie vielleicht den Verdacht, dass ich ihr etwas verschwieg. Verdammt, nach diesem Gespräch wäre Reese mir mehr als nur ein Eis schuldig.

„Du willst, dass ich dieses Vieh identifiziere“, hörte ich mich sagen und sah dieses Monster wieder an. In diesem Moment rastete es völlig aus. Es sprang gegen die Panzerglasscheibe. Immer wieder. Kratzte an ihr, versuchte dadurch nach mir zu schnappen und veranstaltete dabei einen Lärm, der fast meine Gedanken übertönte. Zum Glück für mich war es in diesem Hochsicherheitskäfig untergebracht. Nicht mal ein Panzer würde es leicht haben, da hindurchzukommen. „Es ist der Proles aus dem Einkaufzentrum. Und auch das, das bei mir eingedrungen ist.“

„Also hatte ich Recht.“

Dazu sagte ich nichts. „Wie kommt es hierher?“

„Die Staatlichen hatten nicht genug Kapazitäten um all diese Abkömmlinge aufzunehmen.“ Sie trat neben mich und beobachtete das aggressive Verhalten dieses Biestes mit stoischer Ruhe. „Deswegen haben wir diese drei bei uns aufgenommen. Sie müssen zeitnahe nach Historia.“

Natürlich. Schließlich waren es unbekannte Proles. Die müssten erforscht und dokumentiert werden.

Trotzdem war es seltsam, dass ausgerechnet dieses Monster in der Gilde gelandet war. Auf ein Wiedersehen hätte ich gut verzichten können. „Besser wäre es, wenn wir sie einfach erschießen würden.“

Wieder beobachtete Jilin mich mit diesem merkwürdigen Misstrauen. „Wir müssen uns ans Gesetz halten.“

„Leider.“

Drei/siebenunddreißig kratzte am Glas und zeigte mir sein Zähne. Dabei stieß es wieder dieses seltsame Zischen aus. „Büüüß, büüüß, büüüß …“

„Ich glaube es mag dich nicht.“

Damit hatte sie wahrscheinlich Recht. „Ich habe es mit einem Flammenwerfer angegriffen und es beinahe verbrannt. Das wird es wohl nicht vergessen haben.“

„Daran kann es liegen“, sagte sie sehr kryptisch und wandte sich wieder zum Gehen. „Komm mit.“

Das war es schon? Vor Erleichterung hätte ich beinahe einen lauten Seufzer ausgestoßen. Drei/siebenunddreißig hier zu sehen, war schon ein Schock gewesen. Aber jetzt kam ich doch mit dem sprichwörtlichen Schrecken davon. So messerscharf wie Jilins Verstand funktionierte, hätte das auch ganz anders ablaufen können.

Wieder folgte ich ihr. Durch die zwei Räume, den langen Korridor entlang und die Treppe hinauf.

An der Tür zum Arbeitsareal wollte ich mich von ihr verabschieden, doch dann ergriff sie wieder das Wort.

„Manchmal geht das Leben wirklich seltsame Wege, findest du nicht?“

Okay, dann war ich wohl doch noch nicht entlassen. „Was meinst du damit?“

Als sie den Weg zu ihrem Büro einschlug, blieb ich an ihrer Seite. „Wusstest du eigentlich, dass Benedikt mein Bruder ist?“

„Wer?“

„Benedikt Halco.“

Benedikt? Irgendwo in meinem Kopf schrillten Alarmglocken, doch ich konnte den Namen nicht wirklich einordnen.

„Er ist Venator bei den Staatlichen und der Lehrcoach von …“

„Eve“, schloss ich den Satz für sie, als mir plötzlich ein Licht aufging. Benedikt war Jilins Bruder? Mir lief es eiskalt den Rücken herunter als mir klar wurde, was das bedeutete. Benedikt hatte mich im Lagerhaus gesehen – direkt bevor ich verhaftet wurde. Aber das würde doch sicher kein Problem werden, oder? Ich meine, das war in meiner Freizeit geschehen und hatte somit nichts mit der Gilde zu tun. Auch die Anzeige die folgen würde, hätte keine Auswirkungen auf meine Leistung in diesem Hause. „Warum erzählst du mir das?“

Diese Frage blieb ohne Antwort, was das ungute Gefühl in meinem Magen noch verstärkte.

Die letzten Meter den Korridor hinunter lief sie schweigend neben mir her und ließ mir dann den Vortritt in ihr Büro. Und was mich dort erwartete, ließ mich auf der Stelle stehen bleiben.

Reese lehnte mit grimmigem Gesicht und verschränkten Armen an Jilins Schreibtisch. Doch das war es nicht, was mich stutzig machte. Ihm gegenüber, auf den Stühlen an der Wand, saßen zwei weitere Männer. Den einen hatte ich erst vor zwei Tagen gesehen. Und zwar in der Beluosus Akademie.

Dem anderen begegnete ich dort auch regelmäßig. In den Gängen, oder in der Cafeteria.

Dort saßen mein Ausbilder Herr Keiper und der Direktor der Akademie Herr Ross Bochner. Was machten die beiden hier? Und dann noch auf einem Sonntag. Langsam bekam ich richtige Magenbeschwerden und die ernsten Gesichter der drei Männer halfen nicht gerade dabei, dass es besser wurde.

Ich wandte mich halb zu Jilin um. „Was ist hier los?“

„Wir müssen uns unterhalten.“ Völlig nüchtern kamen diese Worte über ihre Lippen, bevor sie an mir vorbei zu ihrem Schreibtisch ging und sich dahinter nieder ließ. Dann deutete sie mit der Hand auf den freien Platz davor. „Bitte setz dich.“

Ich zögerte, kam nur langsam in Bewegung und auch nur weil ich mich an Reese' ruhigen Blick halten konnte. Was auch immer hier los war, er würde mir schon helfen. Oder? In der Vergangenheit war er ja auch nicht wirklich hilfsbereit gewesen, aber das hatte sich mittlerweile geändert. Wenigstens ein kleinen bisschen. Er akzeptierte meine Gegenwart nun.

Der Stuhl scharrte über den Boden, als ich ihn unter dem Tisch hervorzog und ließ diese Stille nur umso intensiver erscheinen. Ich setzte mich und versuchte mir dabei, meine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Irgendwas ging hier vor und so wie alle Blicke auf mich gerichtet waren, ging es dabei um mich.

Das gefiel mir gar nicht.

„Darf ich jetzt erfahren, was hier los ist?“

Jilin lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. „Ich habe dir das mit Benedikt erzählt, damit du weißt woher ich es weiß. Aber mach dir keine Illusionen, ich hätte es auch so erfahren. Vielleicht nicht so schnell, aber spätestens wenn die Polizei Anklage gegen dich erhebt, wäre diese Information auch zu mir durchgedrungen.“ Bei diesen Worten ließ sie mich nicht aus den Augen, so als wollte sie sich meine Reaktion nicht entgehen lassen. Aber außer, dass ich befürchten musste langsam ein Magengeschwür zu bekommen, hatte ich immer noch keine Ahnung, warum ich nun mit ihr und den drei Männern in diesem Raum saß. Das ergab keinen Sinn.

„Hast du dazu gar nichts zu sagen?“

„Ich weiß gar nicht so genau, worum es geht.“

Jilin ließ eine Augenbraue nach oben wandern. „Kannst du dir das nicht denken?“

„Nur so ungefähr.“ Ich biss mir auf die Lippen, warf Reese einen kurzen Blick zu und schwor mir aufzupassen, was ich von mir gab. Es gab eigentlich nur einen Grund, warum wir alle hier saßen. „Es geht darum, dass ich in dem Lagerhaus am Hafen war.“

„Zum Teil, ja.“

Ich traute mich kaum zu fragen. „Und was ist der andere Teil?“

„Wo du aufgegriffen wurdest.“ Jilin beugte sich nach vorne und stützte die Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab. „Die Zuschauer wurden allesamt im vorderen Teil, in der Arena festgenommen. Du wurdest im hinteren Teil bei den Proles entdeckt und hast bei deiner Flucht den Anschein erweckt dich dort ziemlich gut auszukennen. Du bist schnurstracks in den hinteren Bereich verschwunden und hast dann versucht, durch das Büro zu verschwinden. Zumindest wurde es mir so zugetragen.“

Ich klappte den Mund auf, aber Jilin sprach schon weiter, bevor ich überhaupt einen Ton von mir geben konnte.

„Natürlich ist mir klar, dass das alles Zufall gewesen sein könnte, einfach Glück. Du hast bemerkt dass es dort eine Razzia gibt und wolltest schnell verschwinden, weil du wusstest, dass du eigentlich nicht da sein durftest. Aber da alle Ausgänge versperrt waren, hast du dich auf gut Glück tiefer in das Gebäude bewegt und rein zufällig sofort den richtigen Weg gefunden.“ Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. „Sowas soll es ja bekanntlich geben.“

Ich drückte die Lippen fest aufeinander. Wir wussten beide, dass das so nicht abgelaufen war, aber ich konnte ihr ja wohl schlecht sagen was wirklich los war.

„Gut, dann legen wir die Karten doch mal offen auf den Tisch. Du hast dich widerrechtlich bei einem illegalen Proles-Kampf aufgehalten und wurdest dort verhaftet. Kurz nachdem du aufgegriffen wurdest, hat das SEK ein Forschungslabor im Kellergewölbe entdeckt, in dem nicht nur zwei Dutzend unbekannte Proles gefunden wurden, sondern auch noch der Abkömmling mit der Nummer Drei/siebenunddreißig, der eine deutlich erhöhte Aggression gezeigt hat, als du ihm gegenüber gestanden hast.“

„Es ist also wahr“, kam es da von Herr Bochner.

„Es ist zumindest anzunehmen“, erwiderte Jilin. „Der Proles hat deutlich auf Grace reagiert und sie hat auch bestätigt, dass er der Abkömmling ist, den sie sowohl aus dem Center kennt, als auch der, der bei ihr zu Hause eingedrungen ist.“ Sie richtete ihren Blick wieder auf mich. „Der, der keine vierundzwanzig Stunden vorher angeblich entkommen ist.“

„Schöne Scheiße“, knurrte Herr Keiper.

Oh nein, sie glaubten doch nicht … „Was wird mir hier eigentlich unterstellt?“

„Teilnahme und Mitwirkung an illegalen Proles-Kämpfen.“

Ich zuckte zurück, als hätte sie mir eine Ohrfeige verpasst. „Was?“ Das konnte doch nicht ihr ernst sein. „Ich habe nicht …“

„Wir haben genug Indizien um dich zu belasten. Der Proles ist dir zwei Mal entkommen und kurz nach dem zweiten Mal werdet ihr beide am selben Ort gefunden.“

„Ich habe mich nicht an diesen Kämpfen beteiligt!“ Mein Blick flog zu Reese. Warum sagte er denn nicht. „Wirklich, ich habe nichts damit zu tun.“

Reese' Lippen pressten sich zu einem dünnen Strich zusammen. Er hatte den Kopf so gesenkt, dass es keiner außer mir sehen konnte.

„Bitte, ihr müsst mir glauben. Ich war da nur … ich war neugierig. Das war nichts als Zufall.“ Mein Blick flog hektisch von einem zum anderen. „Mehr nicht.“

„Grace“, sagte Jilin. „Eindeutiger wäre es nur, wenn einer von uns gesehen hätte, wie du diesen Proles an diesen Mann verkauft hast.“

„Verkauft?!“ Das wurde ja immer besser. „Ihr glaubt dass ich dieses Monster verkauft habe?!“

„Grace, wir wissen um die finanzielle Lage deiner Familie. Wir wissen …“

„Aber das ist nicht wahr!“, unterbrach ich sie und schaute zu Reese. Bitte, sagte mein Blick. Bitte unternimm etwas.

Er drückte die Lippen aufeinander und einen Moment befürchtete ich wirklich, dass er einfach schweigen würde. Doch dann seufzte er. „Ich glaube nicht, dass Shanks sowas machen würde. Ich bin jetzt schon eine ganze Weile mit ihr unterwegs und da wäre mir sowas sicher aufgefallen. Außerdem ist sie einfach nicht der Typ dafür.“

Ja, genau, ich war einfach nicht der Typ für sowas.

„Ich denke eher, dass sie irgendwie von diesen Kämpfen erfahren hat und dem mal nachgehen wollte“, fuhr er fort. „Vielleicht hat sie gehofft, eine Medaille oder sowas zu bekommen, wenn sie diese Leute auffliegen lässt. Ehrgeizig genug dafür ist sie jedenfalls.“

Jilin schüttelte bereits den Kopf, bevor er zu Ende gesprochen hatte. „Und wie erklärst du dir, dass der Proles den sie schon zweimal gejagt hat – wobei ich betonen möchte, dass wir nur von zwei Malen wissen – genau an dem Ort wieder auftaucht, an dem sie bei einer Razzia verhaftet wird?“

Was?! Wollte sie mir jetzt auch noch unterstellen, dass ich in diesem Punkt log? Ich hatte den Proles nur zwei Mal gejagt!

Reese zuckte nicht sehr überzeugend mit den Schultern. „Zufall.“

„Nein“, blieb Jilin auf ihrer Meinung bestehen. „Das ist zu viel Zufall auf einmal.“ Sie seufzte müde und richtete ihren strengen Blick wieder auf mich. Darin lag nicht das kleinste bisschen Mitgefühl, nur die Härte, die man sich als Venator aneignete. „Ich muss sagen, ich bin ziemlich enttäuscht von dir, das hätte ich niemals erwartet, aber in Anbetracht der Tatsachen bleibt mir gar nichts anderes übrig, als dich vom Praktikum auszuschließen.“

Diese Worte trafen mich wie ein Dolch mitten ins Herz. „Nein, bitte, das kannst du nicht machen, ich hab doch gar nichts getan.“

Jilin sprach einfach weiter, als hätte ich nichts gesagt, „Darüber hinaus werde ich die Polizei von meiner Vermutung unterrichten und dich wegen Behinderung anzeigen. Und ich denke auch, dass die Akademie dich ausschließen wird.“ Sie warf Herrn Bochner einen Blick, bis dieser zustimmend nickte.

„Aber nein, bitte“, flehte ich. „Ich schwöre, ich habe das nicht getan.“

„Jilin“, sagte Reese leise. „Ich …“

Mit einer erhoben Hand gebar sie ihm zu schweigen. „Gib mir bitte deine Waffen und deinen Gildeausweis.“

Ich wandte mich hilfesuchend an Reese. Er könnte das hier alles innerhalb von Sekunden aufklären, doch er wandte einfach nur seinen Blick ab. „Bitte“, versuchte ich es noch einmal und sah von einem zum anderen. „Ich schwöre bei allem was mir heilig ist, ich habe nichts Unrechtes getan.“

„Allein schon die Tatsache, dass du dich in dieser Lagerhaus aufgehalten hast, war illegal“, erwiderte Jilin erbarmungslos. „Und berechtigt mich außerdem dazu, dich nicht nur von der Gilde, sondern auch vom Verband der Venatoren auszuschließen. Bei uns ist kein Platz für jemanden, der nur Blut sehen will.“

„Aber so ist es doch gar nicht“, versuchte ich ihr klar zu machen. Ich konnte nichts dagegen tun, dass mir die Tränen in die Augen stiegen. Mein Traum, mein Leben, alles zerbrach gerade. „Was muss ich den tun, damit ihr mir glaubt?“

„Du kannst gar nichts tun“, sagte Jilin. „Die Entscheidung ist gefallen. Wenn ich nun um die Waffen bitten dürfte?“ Sie hielt mir mit einer auffordernden Bewegung die Hand hin. Aber ich wollte nicht, ich hatte das nicht verdient.

„Bitte“, flehte ich noch einmal. In dem Moment war es mir ganz egal, dass die erste Träne ihren Weg nach draußen fand. „Das könnt ihr mir nicht antun. Ich hab nichts getan.“

„Grace“, sagte da Herr Keiper und wartete, bis ich ihn ansah. „Es ist vorbei Grace. Mach es dir nicht schwerer als es ist.“

„Sie auch?“ Eine weitere Träne floss. Und noch eine. „Sie glauben das auch?“

„Ich weiß wie arm deine Familie ist und …“

„Was soll ich mit dem scheiß Geld, wenn ich dafür alles verliere, wofür ich seit Jahren so hart gearbeitet habe?!“, schrie ich ihn an. „Ich hab nichts getan, Sie können mich nicht einfach so ausschließen!“

„Du warst auf dieser Veranstaltung“, wiederholte Jilin ruhig. „Allein das bemächtigt uns, Schritte einzuleiten.“

Ich sah ihr in die Augen, sah von einem zum anderen, bettelte mit Blicken, dass sie mir doch glaubten, aber plötzlich schienen sie alle ein Herz aus Stall zu haben. Niemand berührte meine Tränen, niemand interessierte sich für mein Schluchzen und niemand glaubte auch nur eines meiner Worte. Sie hatten sich eine Meinung gebildet und von der würden sie nicht abrücken.

Die Wahrheit zu sagen, würde mir auch nicht helfen, sondern auch noch Reese seinen Job kosten. Ich war in Taids Lagerhalle gewesen, in der gleichen Lagerhalle, in dem der unbekannte Proles gefunden wurde und das allein zählte. Hätte ich nicht so lange geschwiegen, wäre vielleicht noch etwas zu retten gewesen, aber jetzt würde es nur so aussehen, als wollte ich die Schuld auf jemand anderes abwälzen.

„Bitte“, flehte ich erneut. „Bitte, das ihr mir nicht antun. Bitte.“

„Das hättest du dir vorher überlegen müssen“, erwiderte Jilin kalt. „Ich habe dir, genau wie allen anderen, ganz am Anfang gesagt, dass ich hier keine Unruhestifter dulde und jemand der sich solche Kämpfe ansieht und sich auch noch daran erfreut …“

„Ich habe mich nie daran erfreut!“, schrie ich sie an. Ein weiteres Schluchzen entfloh mir.

Jilin zog eine Augenbraue nach oben. „Nie? Heißt das, dass du nicht zum ersten Mal dort warst, oder wie soll ich das verstehen?“

Ich drückte die Lippen zusammen. Es hatte kein Zweck, sie würden mir nicht glauben und wenn ich noch weiter redete, würde ich ihnen nur noch mehr Hinweise auf etwas geben, das sie nicht wissen durften. Reese brauchte das Geld, ich durfte seinen Job nicht riskieren.

Damit war mein Traum geplatzt.

Nur sehr langsam löste ich den Arbeitsbag mit meinen Waffen von der Hüfte und legte ihn auf den Schreibtisch. Der metallische Klang dabei, hatte etwas sehr endgültiges an sich. Als ich den Gildeausweis aus meiner Hose zog, zitterten meine Finger. Sobald er weg war, war alles verloren. „Bitte“, versuchte ich es ein letztes Mal. „Bitte.“

Keiner reagierte darauf und als er dann vor mir auf dem Schreibtisch lag, konnte ich nicht anders, als mir die Hände vor den Mund zu schlagen, um mein Schluchzen zurückzuhalten. Jetzt war es vorbei, mein Traum ausgeträumt und für immer unerreichbar.

Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, wirbelte ich herum, rannte weinend aus dem Büro. Seth kam gerade mit Aziz aus dem Keller. Sie sahen mich, sagten etwas, doch ich lief einfach an ihnen vorbei. Ich musste hier raus – ganz schnell.

Ich sah Maik und Shea und Madeleine, hörte dass sie nach mir riefen, aber ich konnte nicht stehen bleiben. Sie würden das gleiche denken wie Jilin und die anderen. Sie würden denken, dass ich alles für ein wenig Geld aufs Spiel gesetzt hatte.

Ich riss die schwere Eichentür am Eingang auf, wollte hinausrennen, doch da packte mich jemand am Arm. Ein Blick über die Schulter reichte, um mir klar darüber zu werden, dass es Reese war.

„Shanks“, sagte er. „So muss es nicht enden. Du kannst beim Verband der Venator Widerspruch einlegen, dann müssen sie deinen Fall prüfen und …“

„Und was?!“, schrie ich ihn an. Jetzt war es mir egal, dass ich heulte. Sollten es doch alle mitbekommen. „Ich war in diesem versifften Lagerhaus, das ist nun mal eine Tatsache, an der auch eine Prüfung nichts ändern wird!“ Ich schüttelte seinen Arm ab. „Ich verwünsche den Tag, an dem ich dich kennengelernt habe“, schluchzte ich. „Du bist an allem schuld.“

Ohne ihm die Chance für eine Erwiderung zu geben, rannte ich aus der Gilde.

 

°°°

 

Eve ließ sich neben mir auf die rote Couch in ihrem Zimmer fallen und reichte mir das Wasserglas. „Hier, trink das und dann erzählst du mir schön der Reihenfolge nach, was passiert ist.“

Ich murmelte einen Dank, als ich es entgegennahm, doch anstatt davon zu trinken, hielt ich es einfach nur zwischen den Händen fest und starrte blicklos hinein.

Es war vorbei.

Endgültig.

Es liefen keine Tränen mehr. Wahrscheinlich hatte ich in der letzten Zeit so viel davon vergossen, dass ich alle die mir in einem Leben zustanden bereits aufgebraucht hatte. Und trotzdem spürte ich immer noch dieses Brennen in den Augen. Es tat einfach so weh. Alles war dahin. Ich konnte nichts dagegen tun. Und Reese war daran schuld.

Warum nur musste mir das passieren? Hatte ich in meinem Leben nicht schon genug gelitten? Mussten sie mir jetzt auch noch das einzige nehmen, wofür es sich zu leben lohnte? Ich hatte es versprochen! Ich hatte es beim Grab meiner toten Eltern geschworen!

„Grace?“ Evangeline beugte sich ein wenig vor. „Erzählst du mir jetzt was los ist? Bitte?“

„Weg“, sagte ich und schüttelte den Kopf. „Alles wofür ich gearbeitet habe ist einfach weg.“ Ich würde mein Versprechen nicht halten können. Ich würde niemandem mehr helfen dürfen. Mein Traum war aus und vorbei.

Evangeline runzelte die Stirn. „Was meinst du damit?“

Ich sah sie an, sah in diese vertrauten Augen, mit denen ich jedes Geheimnis geteilt hatte. Aber dieses Mal war es nicht so. Sie wusste nicht, wie sonst, worum es ging und trotzdem war ich von der Gilde aus direkt zu ihr gefahren. Warum? Ich durfte doch sowieso nicht mit ihr darüber reden.

„Grace, du machst mir langsam echt Angst. Was ist los? Ich hab dich noch nie so verstört gesehen.“

Verstört? Wohl eher am Boden zerstört. „Mein Praktikum, ich wurde ausgeschlossen. Herr Bochner wird mich von der Akademie werfen. Herr Keiper ist enttäuscht von mir. Alle sind enttäuscht von mir, dabei habe ich doch gar nichts gemacht.“ Bei den letzten Worten brach meine Stimme weg. Und dann fand doch noch eine Träne ihren Weg ins Freie.

„Was?“ Evangeline schüttelte unverständlich den Kopf. „Ich versteh nicht. Warum wirst du von der Akademie geworfen?“

„Weil ich in dem Lagerhaus war.“ Ich senkte meinen Blick wieder auf das Glas, drehte es zwischen meinen Händen hin und her und beobachtete die kleine Wellenbewegung darin. „Du weißt schon. Gestern.“

„Du meinst … redest du hier von der Großrazzia?“

Ich nickte. „Ich war unter den Zuschauern. Irgendwie. Und dann kam die Polizei. Ich wurde verhaftet und jetzt …“ Wieder brach meine Stimme weg.

Evangeline setzte sich kerzengrade auf. „Was bitte hattest du da zu suchen und was hat das mit dem Praktikum zu tun?“

„Drei/siebenunddreißig. Sie haben ihn dort gefunden und erkannt. Sie glauben, ich hätte ihn an Taid verkauft. Aber so war das nicht. Reese musste ihn doch zurückholen, sonst hätte Taid sie umgebracht. Verstehst du? Und ich kann nichts sagen, weil er das Geld braucht. Er braucht es für Celina und Nick. Er hat doch sonst niemand der ihm Hilft.“

„Nick? Celina? Wovon zum Teufel sprichst du da eigentlich?“

Erst als sie diese Frage stellte, wurde mir klar was ich da gerade ausgeplaudert hatte. Meine Finger krampften sich um das Wasserglas. Ich warf ihr einen hastigen Blick zu und biss mir auf die Lippe.

„Verdammt, Grace, jetzt mach endlich den Mund auf!“ Sie rutschte bis nach vorne an die Sofakante. „Geht es um diesen Proles in deinem Haus? Ist es das?“

Resigniert schloss ich die Augen und schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht.“

„Warum?“

Noch ein Kopfschütteln.

Evangeline ließ sich von der Couch rutschten und kniete sich direkt vor mich. Sie ergriff meine Hände du zwang mich damit sie anzusehen. „Bitte, sprich endlich mit mir. Langsam mache ich mir wirklich Sorgen um dich.“

Ich drückte die Lippen zusammen. Ich wollte es ihr erzählen, wollte mir endlich alles von der Seele reden, aber das konnte gefährlich werden – für sie.

„Okay, du lässt mir keine andere Wahl.“ Sie stand auf, holte ihr Handy vom Schreibtisch und setzte sich damit wieder neben mich. Dann sah sie mich mit einem Ernst an, der mir noch so fremd an ihr erschien. „Du hast jetzt genau zwei Möglichkeiten. Entweder du redest mit mir und dann versuchen wir zusammen eine Lösung für dein Problem zu finden, oder ich werde jetzt deinen Onkel anrufen und ihm erzählen, dass mit dir etwas nicht stimmt. Es liegt bei dir.“

Nein. Nein, nein, nein, das konnte sie nicht machen. „Lass Onkel Rod da raus.“

Die Weichheit kehrte in ihr Gesicht zurück. „Ich kann nicht. Ich weiß nicht, was ich sonst noch machen soll. Es geht dir nicht gut. Irgendwas ist passiert und du willst einfach nicht darüber sprechen. Du brauchst Hilfe, das ist offensichtlich, aber irgendwas hindert dich daran. Ich muss das tun, Grace.“

„Aber ich darf es niemandem sagen.“

„Glaubst du ich würde damit hausieren gehen? Hallo? Ich bin deine Freundin! Ich will einfach nur endlich wissen, was mit dir los ist. So wie du dich zurzeit verhält … das ist nicht normal. Nicht für dich.“

Nein, das war es nicht, aber ich wusste mir auch nicht anders zu helfen.

„Bitte Grace, zwing mich nicht deinen Onkel anzurufen. Rede endlich mit mir.“

Onkel Roderick. Ich hatte ihm schon so viel Kummer bereitet, mehr brauchte er nun wirklich nicht mehr. Und das wusste sie ganz genau.

Ich schloss die Augen. Es war gefährlich, aber es musste ja niemand etwas erfahren. Ein Geheimnis. „Du musst es für dich behalten“, sagte ich leise.

„Das sollte mir nicht weiter schwerfallen.“

Da konnte ich ihr nur zustimmen. Wenn Evangeline wollte, konnte sie schweigen wie ein Grab. Meistens.

„Er braucht das Geld.“ Meine Hände lockerten sich ein wenig um das Glas, aber ich schaffte es einfach nicht den Blick davon abzuwenden. „Du darfst nicht denken, dass er schlecht oder kriminell ist, aber er braucht das Geld wirklich.“

„Er?“

„Reese.“ Nun wagte ich es doch, sie anzusehen. „Er hat … es ist …“ Ich verstummte. Ich wollte ja reden, aber nachdem ich so lange geschwiegen hatte, war es gar nicht so einfach die Worte zu finden. „Unser erster Praktikumstag, da hat es angefangen. Er war an dem Tag nicht besonders nett zu mir gewesen, wie du weißt.“ Ich schnaubte über meine eigenen Worte. „Eigentlich hat er immer noch Probleme mit dem nett sein. Das ist nicht sein Ding, aber er meint es nicht böse.“ Das zumindest wusste ich in der Zwischenzeit. Es war einfach sein Art, ein Abwehrmechanismus, um die Leute auf Abstand zu halten. „Ich hatte mir diesen Tag so toll vorgestellt. Wie hast du noch gesagt? Endlich dürfen wir bei den großen Jungs mitspielen.“ Ich schüttelte den Kopf. Es schien alles so ewig lange her zu sein. „Und da hat es angefangen.“

„Was?“

„Der unbekannte Proles, den wir an diesem Tag gefangen hatten, die vier Babys.“

„Vier?“ Sie runzelte die Stirn. „Hattest du mir nicht gesagt es waren drei?“

„Ja, das habe ich.“ Ich stellte das Wasserglas auf den kleinen Beistelltisch und lehnte mich auf dem Sofa zurück. Nun konnte ich ihr direkt ins Gesicht sehen. „Aber ich habe dich angelogen. Es waren vier.“ Nach diesen Worten, konnte ich nicht mehr aufhören zu sprechen. Die Silben und Sätze verließen einfach meinen Mund, reihten sich in einem endlosen Strom aneinander. Alles wollte auf einmal raus, nichts ließ sich zurückhalten. Nicht unsere erste Fahrt zum Lagerhaus oder die etwas verstörende Begegnung mit Nick. Auch nicht das Kennenlernen von Taid und was Reese mit dem unbekannten Proles-Welpen getan hatte.

Es war schwer, alles in geordneter Reihenfolge auszusprechen, sodass sie es auch verstehen konnte. Tag und Tag, Woche um Woche. Die Gefühlswelt die ich dabei durchlebt hatte, das Geheimnis um seine Mutter und Nicks Krankheit. Drei/siebenunddreißig, das Einkaufszentrum, die Tatsache das Taid vorhatte Nick und Reese umzulegen, sollte Reese es nicht schaffen, ihm seinen Proles bis zum Wettkampf wiederzubeschaffen.

Evangeline unterbrach mich nicht. Schweigend folgte sie jedem meiner Worte und verkniff es sich Fragen zu stellen, obwohl ich sicherlich mehrere auf der Zunge brannten. Doch an ihren Reaktionen war deutlich zu erkennen, wie genau sie mir zuhörte.

Ich erzählte alles, bis zum heutigen Tag.

„Sie werfen mir Teilnahme und Mitwirkung an illegalen Proles-Kämpfen vor. Die Polizei wird Anklage gegen mich erheben und ich kann nichts dagegen tun.“ Mit dem Handballen wischte ich mir eine Träne von der Wange. „Mein Traum ist ausgeträumt. Ich werde niemals Venatorin werden können. Ich kann Reese nicht verraten. Das kann ich einfach nicht.“ Ich sah sie flehentlich an. Sie sollte es verstehen. „Er braucht das Geld, er muss sich doch um seine Familie kümmern. Familie ist das Wichtigste.“ Und wieder begannen Tränen zu fließen. Ich konnte es einfach nicht aufhalten. Es war alles so ungerecht und ich konnte nichts dagegen unternehmen.

Evangeline hielt sich nicht lange damit auf, mir ein Taschentuch zu reichen, sondern zog mich gleich fest in ihre Arme und strich mir beruhigend über den Rücken.

„Was soll ich denn jetzt machen?“ Ich kniff die Augen fest zusammen. „Ich weiß nicht mehr was ich machen soll.“

„Das kann ich dir ehrlich gesagt auch nicht sagen.“ Sie seufzte und schob mich ein Stück von sich. Dann nahm sie doch ein Taschentuch und tupfte mir die feuchten Schlieren aus dem Gesicht. Es war albern sich so bemuttern zu lassen und doch war das wohl das Beste, was mir heute passiert war. „Du kannst deine eigene Haut retten, wenn du zur Polizei gehst, aber …“

„Das kann ich nicht.“ Ich schüttelte den Kopf um meinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Wenn rauskommt was Reese die letzten Jahre getan hat, dann geht er sicher in den Knast. Wer soll sich dann noch um Nick und Celina kümmern? Und davon abgesehen würde Taid sicher Himmel und Hölle in Bewegung setzten, um den Verräter zu bestrafen.“

Evangeline seufzte schwer. „Dir ist aber schon klar, dass so wie die Dinge im Moment stehen, du es sein könntest, die in den Knast geht?“

Ich blickte auf. „Was?“

„Jilin hat gesagt, dass sie gehen dich auch Anzeige erheben wird. Dann ist die Tatsache, dass sie dich bei einem Proles-Kampf erwischt haben, deine kleinste Sorge.“ Sie rutschte ein wenig näher. „Verstehst du denn nicht? Sie werfen dir vor, Proles verkauft zu haben und an diesen Kämpfen beteiligt zu sein. Was glaubst du denn, was passieren wird, wenn es so weit kommt? Dass du dem Verband der Venatoren dann nicht beitreten kannst, wird dein geringstes Problem sein.“ Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite. „Verstehst du denn nicht, Grace? Jetzt geht es nicht nur darum ihn zu beschützen, jetzt geht es auch um dich. Wenn du nichts machst, verbaust du dir alles.“

Von der Seite hatte ich es noch gar nicht betrachtet. Natürlich, Evangeline hatte Recht, aber deswegen konnte ich doch nicht zur Polizei gehen. Oder? Allein bei dem Gedanken daran krampfte sich mein Magen schmerzvoll zusammen und mein Herz flatterte wild in der Brust. Und das hatte sicher nichts damit zu tun, dass Nick und Celina dann auf sich selber gestellt wären. Ich wollte einfach nicht, dass Reese etwas geschah. Ich wollte nicht dass er in den Knast ging. Das konnte ich einfach nicht.

„Grace, du musst verstehen, wenn du nicht …“ Sie unterbrach sich, als mein Handy im Parker auf dem Schreibtischstuhl anfing zu bimmeln. Aber ich hatte jetzt nicht die Muße ranzugehen. Ich wollte niemanden sprechen, die Welt sollte mich einen Moment einfach in Ruhe lassen.

Evangeline sah mich erwartungsvoll an, aber als ich mich nicht regte und dass Handy dann ein weiteres Mal zu klingeln begann, erhob sie sich und zog es aus meinem Parker. Ein Blick aufs Display und ihr Gesicht verfinsterte sich. „Na sieh mal einer an, wenn man vom Teufel spricht. Es ist Reese.“

Ich schüttelte den Kopf und wandte mich ab. Das konnte ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Ihn nicht zu verraten war eine Sache, aber mich persönlich mit ihm auseinanderzusetzen eine ganz andere.

Das Handy verstummte wieder, nur um gleich mit dem Bimmeln fortzufahren.

Evangeline fackelte nicht lange und nahm den Anruf selber entgegen. „Wie kannst du es wagen sie noch anzurufen?!“, fauchte sie sofort in den Hörer hinein. „Nach allem was du bereits verbockt hast, solltest du dich möglichst fern von ihr halten, bevor sie wegen dir noch mehr Probleme bekommt! Und für Entschuldigungen ist es auch zu spät. Du … na was glaubst du wohl wie es dir geht? Wegen dir ist sie gerade dabei alles zu verlieren und aus was weiß ich für Gründen weigert sie sich zur Polizei zu gehen! Sie rettet dir den Arsch und geht dafür vielleicht selber in den Knast, ist dir das eigentlich klar? Scher dich zum Teufel, Reese Tack und halt dich von Grace fern, denn ich habe nicht so viel Skrupel wie sie und werde zur Polizei gehen, wenn du sie noch weiter belästigst. Hast du mich verstanden?!“ Ohne auf eine Antwort zu warten, legte sie einfach auf.

Und ich saß einfach nur da und konnte nicht verhindern, dass mir schon wieder die Tränen übers Gesicht liefen.

Ich konnte nicht mehr. Das war einfach zu viel für mich.

Ohne auf ihren Ruf zu achten sprang ich von ihrer Couch auf und rannte aus der Wohnung. Ich wusste nicht wohin, ich wusste nicht wie lange und ich wusste auch nicht warum. Ich wusste nur, ich konnte da nicht bleiben. Und so lief und lief ich. Aus dem Haus, die Straße entlang. Über Wege, an Geschäften und Häusern vorbei.

Die kalte Luft biss in meine Lunge, der einsetzende Regen durchnässte mich bis auf die Haut. Mir war kalt, so unendlich kalt und das lag nicht nur daran, dass ich meinen Parker bei Evangeline gelassen hatte.

Ich lief Stunden, Tage und Wochen. So jedenfalls kam es mir vor. Ich rannte so lange, bis ich Seitenstechen bekam, bis meine Lunge protestierte und meine Beine drohten, unter mir nachzugeben, aber ich konnte einfach nicht aufhören.

Halt dich von Grace fern.

Warum tat es nur so weh? Warum musste ich diese Gefühle für Reese habe? Warum musste in meinem Leben immer alles so schwer sein? Ich hatte doch nichts verbrochen, nicht damals und auch nicht heute und doch schien das Schicksal versessen darauf, mir einen Tritt nach dem anderen in den Hintern zu verpassen.

Die Blicke der Menschen waren mir egal. Ihre Rufe und Hilfsangebote waren mir egal. Es war alles vorbei. Während ich durch die Straßen lief, wurde mir das so deutlich bewusst, dass ich am liebsten zum Himmel hinaufgeschrien hätte. Doch es hätte keinen Unterschied gemacht. Alles war ruiniert und nichts konnte dran etwas ändern.

Ich wusste nicht genau wie ich später nach Hause gekommen war. Die Zeit war nichts als Nebel und meine Gedanken nur Watte die ich nicht lüften wollte, doch irgendwann stand ich bibbernd bei uns vor der Haustür und klingelte. Ich konnte nicht aufschließen, da sich mein Schlüssel in meinem Parker befand.

Vorbei.

Aus und vorbei.

Es überraschte mich wenig, dass es Onkel Roderick war, der mir die Tür öffnete.

„Grace!“ Seine Augen waren weit aufgerissen, als er mich an der Hand nahm und ins Haus zog. „Verdammt, wo bist du gewesen, wir haben uns alle Sorgen gemacht. Wynn! Schnell, bring mir Handtücher.“

Nicht mal wenn ich gewollt hätte, hätte ich darauf antworten können. Ich zitterte am ganzen Körper. Meine Zähne klapperten. Mir war so kalt.

„Wo warst du nur? Eve hat vor Stunden angerufen und gesagt, dass du verschwunden bist.“

„E-e-eve?“, schaffte ich es durch meine klappernden Zähne zu stottern.

Wynn kam mit einem Stapel Handtücher in den Flur gerannt. Um die Nase herum war sie etwas blass, aber das lag wohl eher an meiner erbärmlichen Aufmachung, als daran, dass sie etwas ausbrütete.

„Ja.“ Er warf mir einen mitleidigen Blick zu, als er nach den Handtüchern griff und begann mich damit abzurubbeln, als sei ich noch immer ein kleines, verstörtes Mädchen. „Sie hat uns erzählt was passiert ist. Und … es tut mir leid. Ich weiß doch, wie sehr du dir gewünscht hast Venator zu werden.“

Was?! Sie hatte es ihnen erzählt?!

„Aber vielleicht kann man da noch etwas machen. Vielleicht könntest du noch mal mit dieser Jilin sprechen. Sie scheint mir doch ein ganz vernünftiger Mensch zu sein.“

Ich schüttelte den Kopf. Wieso glaubte er, dass Jilin nach dieser ganzen Sache noch mit sich sprechen lassen würde? „W-w-was hat Eve er-erzählt?“

Onkel Roderick wickelte meine Schultern in ein dickes Handtuch ein und machte sich dann über meine nassen Haare her. „Nur dass du wegen eines Missverständnisses ausgeschlossen wurdest und du deswegen einfach abgehauen bist.“ Er hielt kurz inne und sah mir fest in die Augen. „Sie hat sich Sorgen gemacht. Das haben wir alle.“

Evangeline hatte also nichts erzählt. Natürlich hatte sie das nicht, schließlich hatte sie es versprochen.

Ich griff nach Onkel Rodericks Armen und zog sie von meinem Kopf weg. „Lass nur, ich … ich geh schlafen.“

„Aber Grace.“

Ich achtete nicht auf seinen Einspruch, hatte im Moment einfach nicht die Kraft, mich damit auseinanderzusetzten.

Das Handtuch zog ich fest um meine Schultern, während ich an ihm und Wynn vorbei in mein Zimmer verschwand. Ich wollte jetzt niemanden sehen, auch nicht meine Familie. Doch insbesondere Wynn war noch nie jemand gewesen, der sowas ohne Worte verstanden hatte.

„Du wirst jetzt also kein Venator?“

„Lass mich in Ruhe.“ Mit ihrem Triumpf, wollte ich mich im Moment nicht auseinandersetzen. Wahrscheinlich war sie gerade überglücklich, dass ich gefeuert wurde. Endlich würde ihre große Schwester sich von den Monstern fernhalten müssen.

„Was ist passiert?“ Sie lehnte sich in den Türrahmen und beobachtete mich dabei, wie ich durchs Zimmer zu meinem Bett ging und dort einfach unter die Decke kroch. Es war mir egal, dass ich noch nass war, ich wollte einfach nur … ich wusste selber nicht so genau was ich wollte.

„Redest du jetzt nicht mehr mit mir?“

Ich konnte hören wie sie ihr Gewicht verlagerte.

„Weißt du, ich hatte eigentlich nie etwas dagegen, dass du Venator wirst. Klar, ich war nie besonders begeistert von dem Gedanken, dass du dich willentlich in Gefahr begibst, schließlich habe ich nur noch dich und Onkel Rod. Das Einzige, was mich immer gestört hat, waren deine Gründe. Du wolltest den Menschen nie helfen, du wolltest immer nur Rache.“ Sie wartete einen Moment, hoffte wohl auf eine Reaktion, aber diese blieb aus. „Wenn du das wirklich machen willst, dann mach es aus den richtigen Gründen, denn dann kann dich niemand aufhalten. Gib dein Traum nicht auf, nur weil andere es so wollen.“

Ich zog die Decke hoch über meinen Kopf.

Wynn hatte doch keine Ahnung von was sie da sprach.

 

°°°

 

Gib dein Traum nicht auf, nur weil andere es so wollen.

Es waren nur ein paar kleine Worte, nicht Großes, nichts von Bedeutung und einzeln völlig wertlos. Doch zusammenhängend ergaben sie einen Satz, der mich seit Tagen nicht mehr loslassen wollte. Wer hätte gedacht, dass meine kleine Schwester einmal etwas von sich geben würde, was mich Stunden und Tage beschäftigen konnte? Ich mit Sicherheit nicht.

Ich saß im Wohnzimmer auf der Couch und starrte in den Fernseher, ohne wirklich etwas zu sehen. Genaugenommen tat ich seit drei Tagen nichts anderes. Oder waren es bereits vier? Ich wusste es nicht mehr genau und es war auch egal, denn ich hatte ja sowieso keine anstehenden Termine. Ich hatte gar nichts mehr.

Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so nutzlos und überflüssig gefühlt. Mein Traum war weg und nun gab es absolut nichts mehr, was ich tun konnte. Natürlich, es stand mir frei, mich in eine andere Richtung zu bewegen. Ich könnte eine neue Lehre beginnen, oder einfach irgendwo einen Job annehmen, aber ich hatte nie etwas anderes machen wollen, als die Monster zu jagen, weil sie mir einen Teil meiner Familie entrissen hatten.

Gib dein Traum nicht auf, nur weil andere es so wollen.

Wie sollte das gehen? Ich war kein Phönix, ich konnte nicht aus meiner eigenen Asche auferstehen und noch mal von vorne beginnen. Jilin hatte es sehr deutlich gemacht. Sie würde alles daran setzen, mich von den Jägern fernzuhalten und da konnte ich noch so gut sein. Meine einzige Möglichkeit wäre, ihnen wirklich alles zu erzählen, aber in der Zwischenzeit glaubte ich nicht mal mehr daran, dass mir die Wahrheit helfen konnte. Dafür hatte ich einfach zu lange geschwiegen. Und ich konnte es auch Nick und Reese nicht antun. Es war egal ob sie daran schuld waren, dass ich nun hier saß und seit Tagen nichts weiter tat, als Löcher in die Luft zu starren. Ich konnte sie einfach nicht verraten, dafür stand zu viel auf dem Spiel und das war wohl das Schlimmste an der ganzen Sache.

Gib dein Traum nicht auf, nur weil andere es so wollen.

Was wusste sie schon. Wynn hatte doch keine Ahnung vom Leben. Sie versteckte sich Wochen, Monate und Jahre im Haus, also warum konnten ihre Worte mich nicht einfach in Frieden lassen? Warum spukten sie noch immer in meinem Kopf herum?

Weil sie recht hatte.

Wynn hatte Recht und das machte mich so fertig. Wie konnte ich meinen Traum aufgeben? Einfach so das Feld räumen und andere über meinen Kopf hinweg Entscheidungen fällen lassen? Das wollte ich nicht, so etwas ließ ich mir normalerweise nicht gefallen. Aber das hier war keine normale Situation. Hier spielten viel zu viele Faktoren mit hinein und nur ein falsches Wort von mir konnte das Leben von Leuten ruinieren, die mir trotz allem wichtig waren.

Reese.

Nick.

Und dann war da auch noch Celina. Ich kannte sie nicht, aber sie war wichtig für die Brüder. Reese mochte es bestreiten, er mochte so tun als würde er seine Mutter hassen, aber er kümmerte sich um sie. Zeigte das allein nicht bereits, wie viel sie ihm eigentlich noch bedeutete?

Seufzend zog ich meine Decke höher.

Diese Gedanken brachten mich nicht weiter. Ich könnte weiterhin Stunde um Stunde hier sitzen und alles noch einmal durchgehen. Ich könnte darüber nachdenken, was hätte anders laufen müssen, aber am Ende würde ich doch nur weiterhin auf dieser Couch sitzen und weiterhin mit leerem Blick auf die Mattscheibe starren.

Gib dein Traum nicht auf, nur weil andere es so wollen.

Verdammt, wie brachte ich diese Stimme nur endlich zum Verstummen?! Ich wollte sie nicht mehr hören, ich wollte einfach nur meine Ruhe haben, mal wieder eine Nacht durchschlafen, oder mal wieder durch das Haus gehen, ohne von meiner Familie diese Blicke zu bekommen. Enttäuschung und Mitgefühl. Diese Vorsicht, als könnte ich jeden Moment zerbrechen. Zumindest von Onkel Roderick wurde ich so angesehen. Wynn dagegen hatte mir gesagt was sie dachte.

Wenn du das wirklich machen willst, dann mach es aus den richtigen Gründen, denn dann kann dich niemand aufhalten.

Ja, aber wie? Wie sollte ich es machen? Egal was ich tat, die Gilde würde mich sicher nicht wieder einfach so aufnehmen. Ich bräuchte eine verdammt gute Erklärung, aber die hatte ich nicht. Und ein einfaches Gespräch mit Jilin würde mich sicher nicht wieder auf die Gehaltsliste bringen – wobei ich da ja noch nie draufgestanden hatte und so wie es aussah, würde ich das auch niemals tun.

Gib dein Traum nicht auf, nur weil andere es so wollen.

Ich biss die Zähne fest zusammen. Sie hatte leicht reden, aber so einfach war das leider nicht. In meiner Situation war gar nichts einfach. Nichts konnte mir helfen, nur die Wahrheit und die durfte ich nicht verraten.

Als das Telefon neben mir klingelte, überlegte ich einen Moment es einfach zu ignorieren. Das hatte ich die letzten Tage oft getan. Ich wollte mit niemandem sprechen, sie konnten mir sowieso nicht helfen. Aber als das Telefon verstummte, begann es gleich von neuem zu klingeln. Und noch einmal. Und dann ein viertes Mal.

Ich versuchte es zu ignorieren, stopfte es sogar unters Kissen, damit ich es nicht mehr hören musste, aber es wollte einfach nicht verstummen. Nicht beim siebenten Mal, nicht beim zwölften Mal und auch nicht beim vierzehnten Mal.

Wer immer da versuchte mich zu erreichen, hatte viel Ausdauer. Aber auch die ging irgendwann zu Ende und dann starrte ich auf ein Display, in dem siebzehn verpasste Anrufe angezeigt wurden. Alle von Evangeline, die einzige, die von meiner Situation wusste.

Seufzend legte ich das Telefon wieder auf den Tisch und starrte es einfach nur an. Das hatte sie nicht zum ersten Mal getan. Sie rief ständig an, aber bisher hatte ich es nicht über mich gebracht, mit ihr zu reden. Sie konnte ihren Traum weiterverfolgen. Und ich? Ich saß auf dieser Couch und bemitleidete mich selber.

„Verdammt!“ Ich hatte keine Ahnung warum ich das tat, oder was das bringen sollte, aber ich schlug die Decke zur Seite und schwang meine Beine hinunter. Wynn hatte verdammt noch mal Recht und ich würde hier jetzt nicht länger rumsitzen, mich vor der Welt verstecken und mich selber bemitleiden. Vielleicht brachte es nichts, aber ich würde jetzt in die Gilde fahren und noch einmal mit Jilin sprechen. Ich hatte keine großen Aussichten auf Erfolg, keine Erklärung für sie, einfach gar nichts, aber ich hatte einen Willen und ich war nicht bereit, das, wofür ich so lange gearbeitet hatte, einfach wegzuschmeißen, weil andere es so wollten.

Mein erster Weg führte mich unter die Dusche, der nächste zu meinem Kleiderschrank. Einfache Jeans, ein Pulli und mein Parker würden mich auf dem Weg warm halten. Kurz glitt mein Blick zu meinem Schreibtisch. Jeden Tag bevor ich zur Gilde gefahren war, hatte ich meine Ausrüstung dort herausgenommen. Meine Waffe, meinen Ausweis und mein Arbeitsbag und in diesem Moment schwor ich mir, dass es wieder passieren würde. Dieses Fach würde nicht lange leer bleiben, das durfte es einfach nicht.

Ich hatte keine Ahnung, wo die plötzliche Entschlossenheit herkam, oder wie ich es schaffen sollte, aber mein Wille wurde mit jedem Schritt stärker. Auf dem Weg in die Küche, wo ich Onkel Roderick auf dem Tisch eine Nachricht hinterließ, damit er sich keine Sorgen machte. Auf dem Weg zum Bus, auf der Fahrt zur Gilde.

Ich würde es schaffen. Ich musste es einfach schaffen, denn es ging schon lange nicht mehr um Rache, nicht mehr, seit ich den Hausmeister hatte sterben sehen. Es ging darum, den Menschen zu helfen und dabei würde ich nicht zulassen, dass sich mir jemand in den Weg stellte.

Das war mein Traum, meine Bestimmung und die würde ich mir von niemandem nehmen lassen. Das musste ich Jilin nur einfach klar machen. Leider verließ mein überschwänglicher Mut mich wieder ein klein wenig, als ich schlussendlich vor der Gilde stand.

Vier Tage war es her, dass ich durch die Tür geflohen war, weg von all diesen Augen, nur weg, um niemanden meine Schande sehen zu lassen und nun stand ich doch wieder hier.

Verdammt, ich musste wahrsinnig sein – schien momentan eine Volkskrankheit zu sein.

Okay, ich würde mich nicht abwimmeln lassen. Jilin musste mir einfach zuhören und egal was sie sagte, ich würde sie vom Gegenteil überzeugen. Ich war eine der besten angehenden Venatoren dieser Stadt und das wusste sie. Sie würde mir zuhören, sie musste mir einfach zuhören und dann würde sie alles zurück nehmen und mich mein Praktikum fortsetzen lassen.

Hoffentlich.

Mir selber im Geiste weiter Mut zuredend, bestieg ich die wenigen Stufen der kurzen Treppe, doch als ich an der Tür angelangt war, hielt ich noch einmal inne. Okay, tief durchatmen. Was sollte schließlich schlimmes passieren? Ich war bereits ausgeschlossen worden, schlimmer konnte es mich wirklich nicht mehr treffen.

„Ich schaffe das, ich werde sie überzeugen.“ Vorher würde ich dieses Gebäude nicht mehr verlassen.

Entschlossen drückte ich die Tür auf und trat in den vertrauten Eingangsbereich.

Und damit direkt in die Hölle hinein.

 

°°°°°

Kapitel 17

 

Es war die Stille, die jede Alarmsirene in meinem Kopf losschrillen ließ. Da war kein Stimmengewirr, kein Lachen, kein Papierrascheln, kein klingelndes Telefon. Ja nicht mal Schritte, die sich ihren Weg zwischen den Schreibtischen bahnten, oder ein Husten, weil sich jemand in seiner Hast an seinem Kaffee verschluckt hatte. Da war gar nichts, auch nicht Madeline hinterm Tresen, die fleißig wie ein Bienchen in die Tasten haute.

Nur Stille.

Absolute, gänsehautbringende Stille, die sich wie eine kalte Umarmung um mich legte und mich bis auf die Knochen frösteln ließ.

Dieser Ort, an dem sonst der Trubel und die Hektik in jeder Ecke zu spüren war, schien plötzlich jegliches Leben abhandengekommen zu sein und das war alles andere als normal.

Vorsichtig machte ich einen Schritt von der Tür weg, sperrte Ohren und Augen auf und ließ meinen Blick wachsam durch den Eingangsbereich gleiten. Mehr konnte ich von meiner Position aus nicht einsehen, nur den vorderen Teil und ein Stück des Tresens.

Einen Moment war ich in Versuchung, einfach mal laut „Hallo!“ zu rufen, um dann hinterher für meine alberne Wachsamkeit von den anderen Venatoren ausgelacht zu werden, doch dann entdeckte ich das Blut.

Es war nur ein kleiner Tropfen, auf dem dunklen, abgewetzten Parkettboden, kaum zu erkennen, aber er war da und das beunruhigte mich. Blut war dort fehl am Platz, es hatte dort einfach nichts zu suchen. Natürlich war es möglich, dass sich einfach jemand in den Finger geschnitten hatte, aber warum war es dann so still?

Ein ungutes Gefühl stieg aus den Tiefen meines Körpers auf. Ich wagte es kaum, einen weiteren Schritt zu machen, doch etwas veranlasste mich dazu, dem Fehlen der Geräusche auf den Grund zu gehen. Es war ein innerer Zwang und auch Neugierde, aber gegen das Unbehagen, das sich mit jedem Schritt verstärkte, konnte ich nichts ausrichten.

Noch ein Schritt, noch ein Tropfen Blut.

Ich wollte ihn gerade genau in Augenschein nehmen, als ich den Schuss hörte. Der Knall hallte laut in meinen Ohren wieder und ließ mich alle Vorsicht vergessen. Ich dachte gar nicht darüber nach, was mich erwarten könnte, rannte einfach los und landete in einem Meer aus Blut.

„Oh mein Gott.“

Direkt hinter dem Tresen lag Shea. Er lag auf dem Boden und bewegte sich nicht mehr. In seiner Hand hielt er noch seine Waffe umklammert, als hätte er alles dafür gegeben, sie nicht zu verlieren.

Aber er bewegte sich nicht mehr!

Ohne auf das viele Blut zu achten, oder mir überhaupt klar darüber zu sein, was es bedeutete, stürzte ich an seine Seite, um nach seinem Puls zu fühlen. Bitte sei nicht tot, bitte, nicht tot sein. Meine Hände zitterten, als ich die noch warme Haut des Mannes berührte.

Kein Puls, keine Bewegung, keine Atmung.

„Nein, nein, nein, nein, nein.“ Ich rüttelte panisch an seiner Schulter, versuchte ihn zu wecken, aber er blieb einfach regungslos liegen. „Bitte, du kannst nicht tot sein.“ Er war doch Venator, einer der besten in der ganzen Gilde. Er durfte einfach nicht …

Das plötzliche Klingeln des Telefons, jagte das Adrenalin in meinen Adern hoch. Es klingelte und klingelte, aber niemand ging ran. Auch nicht Madeleine. Ihr Platz war leer, der Stuhl umgerissen und ihr Monitor umgekippt. Bunte Tabellen und Warnleuchten blinkten noch darauf und auf ihrem Telefon leuchtete jedes einzelne Lämpchen.

Und obwohl dieser Anblick mich schwerer traf, als ich es hätte glauben können, war es doch nicht das Schlimmste. Die Schreibtische waren teilweise verrückt, als wäre ein Bulldozer hindurchgefahren. Umgekippt und leergeräumt. Das Wasser einer Blumenvase tropfte rhythmisch auf den Boden und klang noch lauter, als das Telefon verstummte.

Stühle waren umgerissen, Papiere, Fotos und Ordner lagen verstreut auf dem Boden. Eines der Fenster war gesprungen und in der Ecke entdeckte ich ein eingerahmtes Familienfoto, das von einem der Tische gefallen sein musste.

Und dann waren da die Leichen.

Sie lagen zusammengesunken auf dem Boden, halb über dem Schreibtisch und einer lehnte sogar an der Wand, als sei er daran zusammengebrochen. Alles bekannte Gesichter mit weit aufgerissenen Augen, blutverschmierter Kleidung, blutverschmierten Händen, blutverschmierten Gesichtern. Das war so viel Blut. Es klebte überall, beschmutzte beinahe jede Oberfläche. Die Wände, den Boden. Sogar an den Fenstern.

Mein Kopf wirbelte zu dem zugemüllten Schreibtisch am Fenster herum. Die Ablagen und eine Tasse waren heruntergefallen, der übervolle Mülleimer umgekippt und der Tisch leicht verrückt, aber Reese war nicht da.

Sein Stuhl war leer.

Er saß nicht an seinem Platz.

Reese war nirgendwo in diesem Raum. Er war draußen auf den Straßen, er war immer draußen. Er hasste es, an einen Schreibtisch gefesselt zu sein und blieb nie länger als es nötig war. Und trotzdem schaffte ich es nicht, meinen Herzschlag zu beruhigen.

Reese war nicht hier, ihm war nichts passiert, da war ich mir sicher.

Oh bitte, ihm durfte nichts passiert sein, ihm musste es gut gehen.

Wieder begann das Telefon zu klingeln und stimmte mit in das rhythmische Tropfen der Vase ein.

Ich saß da, in einem Meer aus Blut und konnte nicht fassen, was meine Augen mir zeigten. Das war einfach nicht möglich. Sie konnten nicht alle tot sein. Das waren Venatoren, die Jäger der Monster. Mein Verstand weigerte sich, dieses Bild zu glauben.

Ich umklammerte Sheas Arm, sah das Blut an meinen eigenen Fingern und weigerte mich zu glauben, dass hier mindestens zwanzig tote Venatoren lagen, die in ihrem eigenen Blut ertranken.

Wo waren die anderen? Alle im Außeneinsatz? Aber es musste doch auch hier noch Lebende geben. Wo war Madeleine? Sie ging nicht mehr nach draußen, sie war immer hier, aber jetzt konnte ich sie nicht finden.

„Madeleine“, flüsterte ich und ließ meinen Blick ein weiteres Mal über das Grauen wandern. Sie war nicht hier. Sie war nicht hier!

Was war hier nur geschehen?

Proles, natürlich. Es musste ein riesiges Rudel gewesen sein, aber wo waren sie alle? Warum gab es von ihnen keine Kadaver? Warum nicht?

Ich wusste nicht, wie lange ich dort saß. Vielleicht waren es nur Sekunden, die sich zu einer halben Ewigkeit dehnten, in denen all diese Eindrücke auf mich einströmten. Vielleicht waren es aber auch Tage und Wochen in denen ich nichts anderes tun konnte, als neben Shea auszuharren und die Wahrheit dieses Bildes zu verdrängen. Kurzzeitig verfiel ich sogar dem Glauben, dass ich mir das alles nur einbilden würde, dass ich mich in einem Alptraum befand und einfach nur aufwachen müsste und alles wäre wieder ganz normal. Egal wie lange es war, erst ein weiterer Schuss riss mich aus meinem Zustand und katapultierte mich mit einem Arschtritt zurück in die Realität.

Er war aus dem hinteren Korridor gekommen, genau wie der folgende Wutschrei eines Mannes. Da lebte noch jemand! Oh Gott, sie waren nicht alle tot.

„Es tut mir leid“, flüsterte ich, als ich nach Sheas Hand griff und seine Waffe an mich nahm. Es stand mir nicht zu. Nicht nur weil ich keinen Waffenschein mehr hatte, sondern auch weil sie ihm gehörte, weil er sie sogar in seinem Tod festgehalten hatte, aber ich musste diesen Schüssen auf den Grund gehen und das wollte ich nicht unbewaffnet tun. „Du bekommst sie zurück.“ Das war ein Versprechen.

Als ich aufstand und in den anliegenden Korridor rannte, versuchte ich nicht darauf zu achten, was mich umgab. Ich durfte mich nicht ablenken lassen. Da lebte noch jemand. Ich musste ihm helfen und vielleicht konnte er mir dann auch sagen, was hier geschehen war.

Schon die Blutspur in den Korridor hätte mich darauf vorbereiten müssen, was mich hier erwarten würde. Trotzdem traf mich die zerfleischte Leiche völlig unvorbereitet. Sie war so stark zerstört, dass ich nicht mal mehr erkennen konnte, wer das gewesen war. Und er war auch nicht der einzige. Ich sah vier tote Männer auf dem Gang zur Treppe in den Keller. Mit schnellen Blicken registrierte ich die Umgebung. Die Tür zum Krankenzimmer war geschlossen, der Schlüssel lag außen davor auf dem Boden. Das fiel mir aber nur auf, weil alle anderen Türen im Korridor geöffnet waren und diese Tür am Griff blutverschmiert war.

Hatte da jemand etwas eingesperrt?

Ich zwang mein Herz sich zu beruhigen und ließ meinen Blick in die andere Richtung schweifen. Auch dort lag ein Mann auf dem Boden und bei seinem Anblick wurde mir das Herz schwer.

Aziz.

Hinter ihm hatte sich eine Blutspur gebildet. Es wirkte fast als hätte er versucht sich mit letzter Kraft zu Jilins Büro zu …

Oh Gott, Jilin! Hatte es sie etwa auch erwischt?

In dem Moment als ich losrennen wollte, brüllte Aziz los. Es kam so plötzlich, dass ich vor Schreck beinahe an die Decke gegangen wäre. Ich sah wie er sich halb aufbäumte. Seine Hand umklammerte seine Waffe, zielte damit in Jilins Büro. Er zog den Abzug durch und noch mal und noch mal. Es klickte. Leer.

Kraftlos sank er einfach wieder in sich zusammen.

„Aziz!“ Mich hielt nichts mehr auf meinem Platz. Als ich zu ihm rannte, ließ ich alle Vorsicht fahren. Er musste es gewesen sein, der geschossen hatte. Von ihm waren sicher die Schreie gekommen.

Meine Knie schlugen schmerzhaft auf dem Boden auf, so eilig hatte ich es neben ihn zu kommen. Er atmete schwer. Seine Schulter schien ausgekugelt zu sein und er blutete stark aus mehreren Wunden an Beine und Hüfte. Scheinbar hatte ihn etwas an den Beinen gepackt und er hatte versucht es wegzutreten. Seine Hose war so zerfetzt, dass ich darunter das blanke Fleisch erkennen konnte.

„Oh Gott, Aziz, Bleib ganz ruhig. Ich hole Hilfe.“ Meine Hand strich über sein schweißnasses Haar, während ich die Waffe zur Seite legte und in meiner Jacke nach dem Handy kramte. „Hörst du? Ich hole Hilfe, dann …“

„Grace“, keuchte er in dem Moment mit so schwacher Stimme, dass mein Herz einen Schlag aussetzte.

Nein, nein, bitte, nein. Er lebte noch, er würde überleben. Er musste überleben. „Streng dich nicht an. Bleib einfach …“

„Grace“, sagte er eindringlich. Er schlug die Augen auf schaffte es aber nicht mein Gesicht richtig zu fokussieren. „Jilin, bitte.“ Er hustete. „Jilin.“ Seine Lider fielen ihm wieder zu.

„Aber …“

„Bitte.“

„Verdammt!“ Ich ließ das Handy stecken, griff wieder nach der Waffe und rannte weiter in Jilins Büro. Sollte er deswegen jetzt sterben, würde ich ihm das niemals verzeihen. Ich würde ihm das bis …

Ich erstarrte, sobald ich das Büro betrat und mich Auge in Auge mit Drei/siebenunddreißig gegenüber sah.

Nein, hier war kein mordlüsterndes Proles-Rudel eingefallen, das alle Venatoren systematisch abgeschlachtet hatte. Viel schlimmer. Das Monster war aus seinem Käfig gekommen. Es machte wieder Jagd. Und dieses Mal hatte es sogar ein paar Freunde mitgebracht.

Vier/zweiundzwanzig und Zwei/elf standen auf der anderen Seite des Raums, unweit von der bewegungslosen Jilin entfernt. Die beiden starrten sich an, jeder hatte ein Ende eines abgerissenen Beins in der Schnauze. Oh Gott, sie hatten Jilin das Bein abgebissen!

Keiner von beiden gab ein Geräusch von sich, keiner bewegte sie. Sie starrten sich einfach nur still an, nicht bereit von ihrer Beute abzulassen.

Und Jilin. War sie tot? Atmete sie noch? Ich konnte es aus dieser Entfernung nicht erkennen. Ihr Körper lag zusammengekrümmt vor dem Schreibtisch. Aus einer Wunde an der Schläfe blutete sie stark. Um ihren Kopf hatte sich schon eine große Lache ausgebreitet. Aber ich konnte nicht zu ihr. Drei/siebenunddreißig stand auf dem offenen Fensterbrett und ließ mich nicht aus den Augen. Die Haarbüschel auf seinem Rücken waren gesträubt, aber sonst verhielt es sich ganz ruhig. Kein Geräusch, keine gebleckten Zähne, kein aggressives Verhalten. Nur seine Augen. Sie lagen auf meiner ausgestreckten Waffe.

Er wusste ganz genau, was das war. Reese hatte es mir gesagt. Drei/siebenunddreißig verfügte über eine außergewöhnliche Intelligenz. Es lernte. Mit jeder Minute lernte es seine Feinde besser kennen. Es wusste in der Zwischenzeit was Gefahr bedeutete und auch das Menschen die leichtere Beute waren. Und auch jetzt schien es zu versuchen, jede meiner Reaktionen einzuschätzen.

Wie war das nur möglich? Schließlich hatte ich es hier mit einem einfachen Tier zu tun.

Annähernd menschliche Intelligenz. Das hatte Reese zu mir gesagt.

Was sollte ich jetzt tun? Drei/siebenunddreißig schien nicht im Mindesten so überrascht, wie ich zu sein. Natürlich, es hatte mich wahrscheinlich kommen hören.

Als eines seiner beiden Gefährten plötzlich laut knurrte, trat ich vorsichtshalber einen großen Schritt zurück in den Korridor. Ich hatte nur eine Waffe und drei Gegner. Dieser Biester hatten alle Venatoren der Gilde ausgelöscht, also wie sollte ich dagegen ankommen?

Das Knurren wurde zu einem Brüllen. Plötzlich begannen Vier/zweiundzwanzig und Zwei/elf wie die verrücken an dem Bein herumzuzerren. Dabei verrutschte der Stoff der Hose, riss, sodass Vier/zweiundzwanzig, dem ziegenartigen Monster ohne Fell nur ein Stück Stoff blieb.

Bei diesem Geräusch lief es mir eiskalt den Rücken runter und dann entdeckte ich die Plastikbeschichtung. In diesem Moment hätte ich mir vor Dummheit am liebsten selber in den Hintern getreten. Das war gar kein Bein, um das sie sich da stritten, das war Jilins Prothese. Erst jetzt fiel mir auf, dass das einzige Blut bei Jilin aus der Kopfwunde zu kommen schien.

Hieß das, dass sie nur bewusstlos war? Lebte sie vielleicht noch? Aber ich konnte nicht zu ihr. Wenn ich auch nur einen Fuß in diesen Raum wagte, dann war mein Leben kein Pfifferling mehr wert. Andererseits war es schon äußerst seltsam, dass Drei/siebenunddreißig sich so ruhig verhielt. Die letzten Male war es immer direkt zum Angriff übergegangen. Aber da hatte es auch immer den Kürzeren gezogen – zumindest wenn es mir gegenübergestanden hatte. Natürlich, ich wusste, dass es immer nur Glück gewesen war, aber Drei/siebenunddreißig war nur ein Abkömmling, dem sowas sicher nicht bewusst war.

Hatte es Angst vor mir? Ließ es nur Vorsicht walten? Oder verfolgte es mit seinem Handeln einen Plan?

Gott, was dachte ich denn da nur? Es war ein Tier! Nichts weiter als ein monströses Tier!

Ich hob meine Waffe ein wenig höher und provozierte damit eine sofortige Reaktion bei ihm. Er fletschte die Zähne und knurrte aus tiefster Kehle. Speichel tropfte ihm vom Maul.

Die anderen Beiden hörten sofort auf, sich um die Prothese zu streiten. Ihre Köpfe wirbelten herum. Erst jetzt schienen sie meine Anwesenheit zu bemerken und wie es aussah, waren sie darüber nicht sonderlich erfreut.

Und dann geschah etwas ganz seltsames. Dieser Ziegenbock ohne Fell spuckte den Stoff aus dem Maul und wollte mich angreifen. In dem Moment, als ich die Waffe herumriss, gab Drei/siebenunddreißig ein lautes Brüllen von sich. Vier/zweiundzwanzig hielt sofort an, grummelte in Richtig Fenster, zog sich dann aber wieder einen Schritt von mir zurück. Es knurrte immer noch, ließ mich nicht aus den Augen, aber es versuchte nicht noch einmal anzugreifen.

Mein Herz schlug mir bis zum Hals und alle meine Sinne waren hellwach. Ich spürte jeden einzelnen Muskel in meinem Körper, so angespannt war ich, wagte es aber nicht, den Kopf zu bewegen. Nur mein Blick huschte von einem zum anderen. Aber ich konnte nicht schießen. Egal auf wen ich meine Waffe richtete, die anderen beiden würden mich vermutlich sofort angreifen und ich war niemals schnell genug um alle nacheinander auszuschalten. Da brauchte ich mir nichts vormachen.

Und dann sprang Drei/siebenunddreißig einfach aus dem Fenster. Er passte kaum hindurch, blieb mit dem Schenkel dann auch noch am Rahmen hängen und fiel nicht sehr elegant hinaus. Aber dann war es weg.

Zwei/elf folgte ihm sofort. Mit der Prothese in der Schnauze rannte er ihm hinterher, schaffte es beim rausspringen auch noch, das Fensterglas zu zerschlagen und dann war auch es weg.

Ich zögerte nicht, schwang meine Waffe in Bruchteilen von Sekunden einfach herum und schoss auf Vier/zweiundzwanzig.

Es knallte laut. Die Kugel flog durch die Luft und dann jaulte das Biest laut auf.

Getroffen.

Doch zu meinem Entsetzen brach es nicht zusammen. Ich hatte es am Kopf getroffen, aber es stand immer noch. Verdammt, ich sah sogar das Blut, also wie war das möglich? Ein Streifschuss. Die Kugel war durch sein Horn abgelenkt worden. Scheiße!

Es knurrte, wich noch einen Schritt zurück und noch einen. Dann wirbelte er herum und folgte seinen Gefährten.

Ich schoss noch einmal, traf dieses Mal aber nur die Wand.

Dann sprang das Vieh durch das Fenster.

„Verdammt!“ Hastig stürzte ich hinterher, schnitt mir an den Glasresten fast noch die Hände auf und suchte die Straße nach den Monstern ab. Aber die ersten beiden waren weg. Nur Vier/zweiundzwanzig entdeckte ich wie es die Straße entlang rannte, setzte einen weiteren Schuss hinterher der wieder daneben ging. Dann verschwand es aus meinem Sichtbereich. „Nein!“

Verflucht noch mal, das durfte doch nicht wahr sein! Ich musste hinterher. Ich konnte nicht zulassen, dass diese drei Proles in der Stadt herumliefen. Dafür waren sie einfach zu gefährlich. Aber als ich herumwirbelte um die Verfolgung aufzunehmen, fiel mein Blick auf Jilin. Nein, ich konnte sie nicht rumlaufen lassen, aber ich konnte auch nicht weg. Jilin und Aziz, sie brauchten meine Hilfe. Aber wenn ich nichts tat, würden bald noch viel mehr Menschen Hilfe brauchen.

„Mist.“ Während ich zu Jilin rannte, riss ich mein Handy aus der Jackentasche. Es gab nur eine Person die ich anrufen konnte. Durch sein Geheimnis hatte er mir alles kaputt gemacht, aber es war nun einmal eine Tatsache, dass er in seinem Job der Beste war.

Die Waffe neben mir auf dem Boden, das Handy zwischen Schulter und Ohr geklemmt, tastete ich Jilins Hals nach dem Puls ab und … „Oh Gott sei Dank.“ Sie war nicht tot, sie war nur bewusstlos und …

Am anderen Ende der Leitung wurde abgenommen.

„Ja?“

„Reese! Schnell, du musst zur Gilde kommen. Ich weiß nicht wie, aber Drei/siebenunddreißig ist rausgekommen.“ Ich sprach so schnell, dass sich die Worte praktisch überschlugen. „Shea ist tot und Maik und Elias und … alle sind tot. Und Aziz ist schwer verletzt und Jilin …“

„Moment, halt, stopp. Was ist in der Gilde passiert?“

„Taids Bestien sind frei gekommen und sie haben ein weiteres Blutbad angerichtet.“

„Was?!“

Warum nur hörte Jilins Kopfwunde nicht auf zu bluten? „Drei/siebenunddreißig, Vier/zweiundzwanzig und Zwei/elf sind aus dem Sicherheitsbereich ausgebrochen und laufen jetzt frei auf der Straße rum. Ich kann ihnen nicht hinterher. Aziz und Jilin leben noch, aber sie sind schwer verletzt, darum …“

„Was bitte heißt, sie sind aus dem Sicherheitsbereich ausgebrochen?! Niemand kann aus diesem Bereich einfach ausbrechen, nicht mal ein Mensch!“

„Ich kann dir nur sagen, was ich vorgefunden habe. Und jetzt hör auf mit mir zu diskutieren, jemand muss den dreien hinterher. Und ich muss die Polizei rufen und den Krankenwagen.“ Ich strich Jilin vorsichtig eine verklebte Strähne aus dem Gesicht. „Warum hört das nicht auf zu bluten?“

„Scheiße. Hör zu, geht ins Krankenzimmer, da gibt es Erste-Hilfe-Material.“

„Krankenzimmer.“ Natürlich, warum war ich nicht selber darauf gekommen? Ich rappelte mich auf die Beine und rannte aus dem Büro.

„Um die Venatoren und den Krankenwagen kümmere ich mich gleich.“

„Okay, dann rufe ich die Polizei.“ Als ich in den Flur kam, traf mich der neuerliche Anblick von Aziz wie ein Schlag. Seine Atmung ging schnell und flach, doch als er mich kommen hörte, schlug er sofort die Augen auf. „Jil … Jil …“ Er hustete.

„Schhh, ganz ruhig.“ Ich hockte mich zu ihm und strich ihm eine verschwitzte Strähne aus der Stirn. Ich hatte diesen Mann noch nie so schwach gesehen.

„Nein, ich bin schon bei der Polizei …“

„Jilin geht es gut“, flüsterte ich um Reese nicht zu unterbrechen. „Mach dir keine Sorgen. Sie ist bewusstlos, aber sie lebt.“

Es war förmlich zu sehen, wie die Erleichterung Aziz durchströmte. „Danke“, flüsterte er und schloss flatternd die Augen.

„… wenn ich komme, dann bringe ich sie gleich mit.“

Moment, was hatte er gerade gesagt? „Warum bist du bei der Polizei?“

„Das erzähle ich dir später. Kümmere dich jetzt um die Verletzten, ich bin so schnell wie möglich da.“

„Verstanden.“ Ich strich Aziz noch einmal beruhigend über den Kopf, dann rappelte ich mich wieder auf die Beine. Ich musste ins Krankenzimmer. Die beiden konnten noch gerettet werden und ich würde nicht zulassen, dass auch sie starben. Nicht noch mehr. Für heute hatte es bereits mehr als genug Tote gegeben.

„Bis gleich und … es tut mir leid.“ Seine letzten Worte waren nur ein Flüstern und doch verstand ich sie so glasklar, als hätte er sie mir ins Ohr gebrüllt.

Ich drückte die Lippen zu einem festen Strich zusammen. Ja, vielleicht tat es ihm leid, aber das änderte nichts an dem was geschehen war. „Beeil dich“, war alles was ich darauf erwidern konnte. Dann beendete ich das Gespräch und ließ das Handy wieder in meiner Jacke verschwinden.

Der Schlüssel lag immer noch vor der Zimmertür. Er schien aus dem Schlossgefallen zu sein. Und genau wie die Klinke war er Blutverschmiert.

Als ich ihn an mich nahm, versuchte ich diese Tatsache zu verdrängen, aber ich kam einfach nicht umhin mir Gedanken darüber zu machen von wem das Blut stammte, oder wie der Schlüssel hier hingekommen war. Doch es half alles nichts.

Meine Hände waren für diese Situation viel zu ruhig, doch schon als ich den Schlüssel ins Schloss steckte und von innen plötzlich einen Schrei hörte, merkte ich, wie sehr die Anspannung sich in mir festgesetzt hatte. Ich erschrak so sehr, dass ich den Schlüssel erstmal in einem weiten Bogen von mir warf. „Scheiße!“ Hastig klaubte ich ihn ein weiteres Mal auf, steckte ihn dann ins Schloss, zögerte aber mit dem Herumdrehen. Die Tür war sicher nicht grundlos abgeschlossen.

Als dann von innen heftig gegen die Tür geschlagen wurde, zuckte ich erneut zusammen.

„He, lass uns hier raus! Aziz!“

Aber das war doch … „Seth?“

Einen Moment war Ruhe. „Grace?“

„Ja, ich … Moment.“ Ich drehte den Schlüssel herum und sofort wurde die Tür von innen aufgerissen.

Vor mir, mit weit aufgerissenen Augen stand Seth. Er sah ein wenig zerzaust aus und bekam scheinbar ein Veilchen, aber ansonsten schien er unverletzt zu sein.

„Was machst du hier drin?“ Die Frage schien im Moment völlig überflüssig, aber ich wunderte mich einfach.

„Aziz dieser Sack hat uns hier eingesperrt, als die Biester aus dem Keller kamen und Amok gelaufen sind.“ Knurrend drängte er sich an mir vorbei. „Er war der Meinung uns retten zu müssen und …“ Als er den Schwerverletzten auf dem Flur entdeckte, bleib ihm jedes weitere Wort im Halse stecken. „Scheiße.“

Okay, fast jedes.

„Du kannst ihn dafür später umbringen, jetzt müssen wir ihn erstmal retten.“ Ich flitzte ins Krankenzimmer und konnte gerade noch so die Tränen zurückhalten, als ich die beiden Frauen sah. Madeleine und Suzanne. Sie saßen aneinandergedrängt auf der Liege. Madeleine machte den Eindruck, als suchte sie bei Suzanne Schutz. „Oh Gott, euch geht es gut.“

Madeleines Augen waren weit aufgerissen. Sie schien unverletzt, zitterte jedoch am ganzen Körper.

„Was ist da draußen los?“, wollte Suzanne wissen und drückte die verängstigte Frau an sich. „Wir haben seit fast einer Stunde nichts mehr gehört.“

„Nicht mehr nachdem die Schreie aufgehört haben“, flüsterte Madeleine und hielt sich die Ohren zu, als könnte sie sie so aussperren – aber dafür war es wohl zu spät.

„Ich weiß nicht.“ Ich sah zu den Schränken. „Aber ich brauche Verbandszeug. Jilin ist bewusstlos. Sie blutet aus einer Wunde am Kopf und Aziz …“

„Der sieht echt scheiße aus.“ Seth stellte sich an meine Seite. Seine Wut war verflogen, dafür war er aber ziemlich blass.

„Und die Proles?“ Madeleine sah sich wachsam um, als könnten sie jeden Moment um die Ecke springen und „Buh!“ rufen. „Sind sie …“

„Sie sind weg“, beruhigte ich sie. „Ich habe gesehen, wie sie abgehauen sind.“ Bei dem Gedanken daran, biss ich die Zähne fest zusammen. „All drei.“ Mit Jilins Prothese im Maul.

„Shit“, fluchte Seth und nahm mir die Worte damit aus dem Mund.

„In Ordnung.“ Suzanne machte sich vorsichtig von Madeleines Klammergriff los. Ihr Blick war entschlossen und sie hatte einen Zug um den Mund, denn ich nur als kämpferisch bezeichnen konnte. „Liebes, du bleibst hier. Alles ist in Ordnung, die Abkömmlinge sind weg. Und du“ – sie wandte sich an Seth – „gehst nachsehen, ob wir noch mehr Überlebende haben.“ Ohne auf sein Nicken zu warten lief sie zu ihren Schränken und begann hastig damit alles Mögliche heraus zu kramen. „Grace, du rufst den Krankenwagen und die …“

„Ist schon erledigt. Polizei, Krankenwagen und Venatoren, alle sind bereits unterwegs.“

„Dann kannst du mir helfen. Und jetzt Beeilung, jede Sekunde kann die Entscheidende sein.“

Bewegung kam in unsere kleine Gruppe. Das Suzanne das Kommando übernahm, war wohl das Beste, was uns passieren konnte. Diese Frau wusste was zu tun war.

Die nächsten zwanzig Minuten verbrachte ich wie im Nebel. Ich funktionierte nur noch auf Autopilot. Suzanne gab die Anweisungen und ich folgte ihnen, half ihr bei der Erstversorgung von Aziz und saß dann bei Jilin und drückte ihr eine Kompresse auf die Stirn, damit die Blutung aufhörte.

Seth lief das ganze Gebäude ab und fand noch drei Überlebende, doch einer von ihnen verstarb bereits, bevor der Krankenwangen eintreffen konnte.

Drei/siebenunddreißig und seine Gefährten hatten wirklich durch jeden Raum gewütet. Sogar der Techniker, der kurz vor dem Ausbruch in die Gilde kam um unten in der Forschungseinrichtung die Klimaanlage zu reparieren, war ihnen zum Opfer gefallen. Dieser Mann hatte nicht mal etwas mit der Gilde zu tun gehabt und nun war er auch tot – wahrscheinlich sogar das erste Opfer das zur Beute der Monster geworden war.

Die ersten Helfer, die eintrafen waren die Venatoren der Staatlichen, gleich darauf folgte der Krankenwangen. Nur wenig später erschien die Polizei zusammen mit Reese.

Und Nick.

Als ich sah wie er hinter Reese in das Büro gestürzt kam, blieb mir für einen Moment das Herz stehen.

Scheiß auf Jungfrauen. Sowas wie dich hab ich nicht nötig, also scheiß auf dich Grace!

Allein die Erinnerung an diesen Moment schmerzte so sehr, dass ich es kaum wagte, ihn anzusehen. Ich hatte mit ihm seit diesem Tag auch kein Wort mehr gesprochen. Er hatte mich nicht angerufen und ich war zu sehr mit mir selber beschäftigt gewesen, um auch nur daran zu denken.

Doch Reese, er hatte sich bei mir gemeldet. Das eine Mal, als Evangeline ans Handy gegangen war. Und dann vor zwei Tagen, als er mir eine kurze Nachricht geschrieben hatte.

Ich bring das wieder in Ordnung, versprochen.

Diese Worte konnte ich noch immer nicht glauben. Wie auch wollte er das machen? Es gab nur einen Weg, das alles wieder in gerade Bahnen zu biegen und das konnte er nicht tun. Celina und Nick brauchten ihn. Und ich? Ich würde auf der Strecke bleiben.

Als sie auf mich zukamen, lehnte ich an der Wand, um den Sanitätern nicht in die Quere zu kommen. Ich hatte meine Hände in die Jackentasche gesteckt, um das Blut nicht ansehen zu müssen.

Nick hielt Abstand und wich meinem Blick genauso aus, wie ich dem seinen. Es war Reese, der sich vor mich schob und mit diesem dunkeln Blick bedachte, der mich sogar schon in meine Träume verfolgte. Er öffnete den Mund, als wollte er was sagen, doch es kam kein Wort heraus.

„Ist schon gut.“ Ich sah zu ihm auf. „Mir geht es gut.“

Seufzend rieb er sich über die Augen. Er wirkte Müde, völlig übernächtigt, so als sei es schon eine ganze Weile her, dass er das letzte Mal geschlafen hatte. „Warum lügst du mich an?“

„Die bessere Frage lautet doch, warum rede ich überhaupt noch mit dir?“ Ich schüttelte den Kopf und wandte mich von ihm ab, beobachtete die Sanitäter, die gerade Jilin versorgten. „Vergiss es einfach.“ Es tat einfach zu weh, ihn vor der Nase und diese Gefühle zu haben, obwohl ich genau wusste, was er getan hatte.

Wann war das eigentlich passiert? Wann hatte ich angefangen, in Reese mehr als einen Mentor zu sehen? Mehr als einen Freund? Und warum ausgerechnet er?

„Ich habe dir versprochen, dass ich das wieder hinbiege.“

Ich schnaubte nur. Versprechen konnte man vieles. Es war leicht etwas in Worte zu fassen, um einen anderen zu beruhigen, aber etwas ganz anderes, dies auch in die Tat umzusetzen. Es gab keinen Weg, uns alle aus diesem Mist wieder rauszubekommen. Die Würfel waren gefallen, jetzt gab es kein Zurück mehr.

„Hab ich dich jemals angelogen?“

„Ich weiß nicht.“ Ich wandte ihm wieder meinen Blick zu, bemerkte den verkniffenen Zug um seinen Mund. „Hast du?“

„Mit Sicherheit.“

Na bitte.

„Aber dieses Mal nicht.“

„Nein, natürlich nicht.“ Ich linste aus dem Augenwinkel zu Nick hinüber, aber der fand die Aussicht aus dem Fenster im Moment wohl interessanter. Fühlte er sich genauso unwohl wie ich? Musste er an das gleiche denken? An unsere letzte Begegnung?

„Ich war bei der Polizei.“

„Ich weiß, das hast du mir bereits am Telefon gesagt.“

„Nein, du verstehst nicht.“ Er beugte sich vor, stützte sich mit einer Hand hinter mir an der Wand ab und kam mir dabei, meiner Auffassung nach, viel zu nahe. „Ich war bei der Polizei und habe mich selber angezeigt.“

Mein Mund klappte auf, aber es kam kein Ton heraus. Hatte ich das gerade richtig verstanden?

„Ich habe ihnen alles gesagt.“ Er schloss einen Moment müde die Augen. „Wirklich alles. Du bist aus dem Schneider.“

Als es neben uns knallte, war ich nicht die einzige, die erschrocken herumwirbelte und mit ansah, wie Nick wütend aus dem Büro stampfte. Er hatte eine Lampe vom Schreibtisch gefegt. Sie lag zerbrochen am Boden der Wand.

Hatte er das getan, weil Reese mit seiner Aussage bei der Polizei alles – wirklich alles – aufs Spiel setzte, oder war es …

Plötzlich wurde ich mir der Nähe dieses Mannes nur allzu bewusst und auch wenn mein Herz schneller schlug, wollte mir das so gar nicht gefallen. Vielleicht war Nick ja auch deswegen so sauer, weil sein Bruder meine persönliche Zone nicht beachtete. Doch im Angesicht dessen, was er mir gerade gesagt hatte, war das eigentlich völlig unwichtig. „Du warst bei der Polizei? Aber was ist mit Nick und Celina? Und … Taid.“

Oh Gott, was hatte er nur getan? Ich packte ihn mit kräftigem Griff am Arm. „Du musst deine Aussage zurücknehmen! Wenn du das …“

„Es ist zu spät, Shanks.“ Er seufzte. „Ich war bereits gestern dagewesen. Zusammen mit Jilin. Heute habe ich nur noch ein paar Beweise vorbei gebracht.“

„Jilin?“

„Ja. Ich habe ihr alles gebeichtet. Sie war ziemlich wütend, aber sie hilft mir. Ein Anwalt der Gilde wird mich unterstützen und versuchen …“

„Aber warum hast du das getan?!“ Mein Griff wurde fester. Ich verstand es nicht. Er setzte alles aufs Spiel. Seine Familie brauchte ihn doch. Und ich? Was war mit mir? Ich hatte so viel für dieses verfluchte Geheimnis geopfert, meine Familie belogen, mich in den Ruin getrieben. Sollte das alles völlig umsonst gewesen sein? Das konnte er doch nicht tun!

„Was glaubst du denn, warum ich das getan habe?“

Bei diesen Worten sah er mich so eindringlich an, dass mein Herz einen komischen Hüpfer machte und in meinem Magen eine Horde Schmetterlinge Tango tanze. Ja, es hörte sich kitschig an, aber genauso war es.

„Ich …“ Meine Kehle war auf einmal ganz trocken. Hier, zwischen all dem Grauen und dem Chaos, versuchte ich einen Sinn hinter sein Handeln zu bringen, doch keiner der Gedanken, der mir durch den Kopf schoss, war logisch. Das wäre es nur wenn …

„Frau Shanks?“

Reese und ich wandten unsere Köpfe unisono dem Polizisten neben uns zu.

„Ja?“

„Ich möchte Sie bitten, mich zum Revier zu begleiten um eine Aussage zu machen.“

„Ähm …“ Musste das ausgerechnet jetzt sein? Ich sah wieder zu Reese und einen Moment glaubte ich, dass er das gleiche dachte wie ich.

„Ich will, dass du eine Zukunft hast“, flüsterte er und stieß sich dann von der Wand ab. „Ich begleite dich.“

Zum Revier? „Okay.“ Dann würde ich dieses Mal wenigstens nicht allein dort sitzen müssen. „Aber zuerst muss ich Shea noch seine Waffe zurückgeben.“ Ich zog die Pistole aus meine Jackentasche. Auch an ihr klebte mittlerweile Blut. „Ich habe es ihm versprochen“, sagte ich traurig. „Ich hab ihm gesagt, dass ich sie ihm zurückgeben werde.“

Ob Reese nun verstand oder nicht, er nickte jedenfalls und nahm mir die Waffe aus den zitternden Händen. Jetzt wo die Anspannung vorbei war, konnten sie damit gar nicht mehr aufhören.

„Ich kümmere mich darum“, versprach er.

Und ich glaubte ihm.

 

°°°

 

Es war der gleiche Schreibtisch wie letzten Samstag, der gleiche Polizist und der gleiche herablassende Blick, dem ich mich gegenüber sah. Der einzige Unterschied zu meinem letzten Besuch hier auf dem Polizeirevier, war die Tageszeit. Naja und natürlich auch der Grund.

„Gut Frau Shanks, wenn wir noch Fragen an Sie haben, werden wir uns bei Ihnen melden. Sie können dann gehen.“

Gott sei Dank. Wenn ich noch länger auf diesem Stuhl hätte sitzen müssen, wäre ich vermutlich bald durchgedreht. Noch immer klebte mir das Blut von Shea, Jilin und Aziz unter den Fingernägeln. Das Schrubben am Waschbecken hatte rein gar nichts gebracht. Warum nur hatte ich ständig Blut an den Händen zu kleben? Warum immer Blut von Leuten, die mir nahestanden?

Ganz unwillkürlich rieb ich mit den Fingern über meine Jeans, während ich mich von meinem Platz erhob.

„Und wenn ich Ihnen noch einen guten Rat geben darf, dann halten Sie sich die nächste Zeit aus jeglichem Ärger raus.“ Er ordnete seine Papiere zu einem säuberlichen Stapel und sortierte sie dann in seine Ablage ein.

Ich schoss einen Blick wie ein Pfeil auf ihn ab. „Glauben Sie denn, ich mache das mit Absicht? Sind Sie der Meinung, dass ich es toll finde ständig in Blut zu baden?!“ Bei den letzten Worten brach mir die Stimme weg und ich musste stark schlucken, um das Brennen in meinen Augen in ihre Schranken zu weisen.

Der korpulente Polizist zeigte sich von meinen Worten wenig beeindruckt. „Ich sage es mal so wie es ist. In den letzten Tagen passiert eine ganze Menge, wenn Sie in der Nähe sind.“ Er faltete die Hände auf dem Tisch. In seinen Augen funkelte ein Misstrauen, das ich nicht verdient hatte. „Und das ist ziemlich auffällig.“

„Ich kann nichts für die Razzia und auch nicht für die Folgen, die daraus entstanden sind!“ Ich konnte nichts dafür, dass Drei/siebenunddreißig und seine Gefährten ausgebrochen waren und die Gilde in ein Schlachthaus verwandelt hatten.

Oder?

Hätte ich es vielleicht doch erschießen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte? War es vielleicht doch meine Schuld? Mussten Shea und die anderen sterben, weil ich zu schwach war das zu tun, was hätte getan werden müssen?

Aber dann wären Reese und Nick in akute Gefahr gewesen. Doch ob es jetzt wirklich besser war, was in der Gilde geschehen war? Warum mussten überhaupt Menschen sterben? Warum nur hatte Taid sich nicht mit einem der hinteren Plätze zufrieden geben können? Warum nur hatte er sich in den Kopf setzten müssen, das ultimative Monster zu kreieren?

„Es war nur ein gut gemeinter Rat gewesen.“

Das konnte ich nicht glauben. Es hatte eher wie ein Vorwurf geklungen, so als wäre ich an all diesen Ereignissen Schuld, weil sie keinen anderen Schuldigen finden konnten.

Ich verkniff mir jedes weitere Wort, weil es ja doch nichts bringen würde. Er hatte sich eine Meinung über mich gebildet – jeder hatte das – und einfache Worte würden ihn davon nicht mehr abbringen. Sollte er doch glauben was er wollte, ich kannte die Wahrheit und nur das war wichtig.

Mein Kurs führte mich zielgrade zum Ausgang. Die unbeteiligten umstehenden Blicke, wurden nicht beachtet. Genau wie der betrunkene Mann, der lautstark die Polizisten anpöbelte. Ich war hier halt doch nicht die Einzige mit Problemen. Dies war ein Ort, an dem die Probleme sich immer weiter anhäuften.

Und wie so oft in den letzten zwei Stunden, schweiften meine Gedanken zu dem ab, was Reese zu mir gesagt hatte, zu dem, was ihm nun Probleme bereiten würde.

Ich war bei der Polizei und habe mich selber angezeigt.

Ich will dass du eine Zukunft hast.

Aber was war mit seiner Zukunft? Er war doch auch nicht viel älter als ich. Hatte er denn keine Angst, dass Taid sich rächen würde? Soweit ich informiert war, hatte man ihn bisher noch nicht aufgespürt. Sein Lagerhaus hatte man dicht gemacht, sein Privathaus wurde vierundzwanzig Stunden am Tag überwacht und seine Konten waren gesperrt. Die Polizei hatte alles getan, um ihm das Leben so schwer wie möglich zu machen. Doch er war und blieb spurlos verschwunden.

Ob das so bleiben würde, wenn er erfuhr, was Reese getan hatte? Es war eine Sache Indizien gegen ihn zu haben, doch Reese' Wissen war ein ganz anderes Kaliber. Er hatte Insiderinformationen von denen die Beamten nur träumen konnten. Genau wie Nick. Wenn sie wirklich gegen Taid aussagten, das war dann sein Ende.

Und vielleicht auch das von Reese und Nick.

Vorne angelangt, zog ich die gläserne Tür auf und trat hinaus ins Freie. Die kühle Luft des Nachmittags umschlang mich wie ein eisiges Tuch. Es war noch Herbst, doch zum ersten Mal in diesem Jahr lag der Geruch nach Schnee in der Luft.

Ich zog meine Jacke fester um mich und sah mich nach den Brüdern um. Sie waren nicht mit reingekommen, weil die Polizei mit mir allein hatte sprechen wollen, aber sie hatten versprochen, hier draußen auf mich zu warten. Nun ja, Reese hatte das versprochen, von Nick war bisher nicht ein einziges Wort gekommen. Ich wusste nicht, was in seinem Kopf vor sich ging. So verschlossen hatte er sich mir gegenüber noch nie gegeben und das war … befremdlich.

Auch jetzt, als ich ihn entdeckte, wie er unten am Geländer der Freitreppe vor dem Revier lehnte, wirkte er so unnahbar und unbeteiligt, als hätte ich einen Fremden vor mir. Das war nicht der Nick den ich kennengelernt hatte. Ich wusste nicht, wer dieser junge Mann war, denn ohne sein Lächeln war er nicht mehr der gleiche.

Neben ihm auf dem Bürgersteig stand Reese mit dem Handy am Ohr. Er wirkte noch erschöpfter, als in der Gilde. Wann er wohl das letzte Mal geschlafen hatte? Ob es ihm die letzten Tage genauso ergangen war wie mir? Offensichtlich hatte er sich ja Gedanken über mich gemacht, warum also wäre er sonst zu Jilin und der Polizei gegangen?

Ich will dass du eine Zukunft hast.

Dieser dumme, dumme – DUMME – Kerl!

Seufzend machte ich mich an den Abstieg und kam gerade unten bei den beiden an, als Reese sein Gespräch beendete. Sein Blick glitt direkt auf mich und während er mich musterte, tauschte er das Handy gegen eine Zigarette aus. „Alles okay bei dir?“

„Es ging mir schon besser“, sagte ich ganz ehrlich und ließ meine Hände in der Jackentasche verschwinden. Irgendwie hatte ich mich in der Gegenwart der beiden noch nie so unwohl gefühlt. Und das kam nicht nur daher, dass ich mit Reese geschlafen hatte und Nick davon wusste. Es stand auch noch so viel anderes zwischen uns und das machte mich langsam wirklich fertig.

Reese legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch seiner Zigarette zum Himmel hinaus. „Das war eben Jilin gewesen.“

„Jilin?“ Das war doch wohl nicht sein Ernst. Vor nicht einmal drei Stunden war sie noch bewusstlos gewesen und jetzt telefonierte sie schon wieder?

„Ja, sie ist aufgewacht, schon auf dem Weg ins Krankenhaus. Und sie ist stinksauer.“

Das konnte ich mir bei Jilins beherrschtem Temperament sehr gut vorstellen. „Konnte sie denn sagen, was passiert ist?“

„Nur ungefähr.“ Reese nahm einen weiteren Zug und blies ihn dann in die klare Herbstluft. „Die Polizei und die Venatoren konnten das Geschehen, dank den Überwachungsbändern unten im Sicherheitsbereich, rekonstruieren.“

„Und?“, fragte ich ungeduldig, als er sich nach einem hupenden Wagen auf der Straße umsah. Irgendwer hielt es nicht für nötig, die Ampel drei Meter weiter zu benutzen, was die Autofahrer nicht witzig fanden.

„Heute war ein Techniker da, der …“

„Die Klimaanlage reparieren wollte.“

Reese ließ überrascht eine Augenbraue ein wenig nach oben wandern.

„Seth hat es mir gesagt. Aber der Mann ist wohl tot.“

„Das hat er auch verdient.“ Reese mahlte mit den Kiefern, als müsste er eine alte, lederne Schuhsole klein kriegen. „Greg hatte den Kerl runtergebracht und wurde als Dankeschön von ihm niedergeschlagen, sobald sie den Sicherheitsbereich betreten hatten. Dann hat er mit dem Notschalter die drei Käfige gleichzeitig geöffnet. Aber er kam nicht mehr schnell genug raus. Er war der erste, der von Taids Bestien geholt wurde. Und Greg der der zweite.“ Erneut landete die Zigarette an seinen Lippen. In seinen Augen loderte die Wut.

Ich konnte es ihm nachfühlen. Mehr als zwei Dutzend Menschen waren heute gestorben und weitere würden sicher folgen, denn soweit ich wusste, hatten sie Taids Brut bisher noch nicht wieder einfangen können. „Warum hat er das gemacht? Ich meine, diese Monster sind hochgradig gefährlich.“

„Deswegen sind sie jetzt auch zum Abschuss freigegeben. Die Züchtungen, die man nach der Razzia bei den Staatlichen untergebracht hat, wurden bereits alle exekutiert. Man war der Meinung, dass sich Historia, nach allem was passiert ist, mit den Kadavern zufriedengeben muss. Taids Züchtungen sind schließlich nicht natürlich entstanden.“

Natürlich. Kein Abkömmling war natürlich. Sie alle waren das Werk von Pfusch in der Natur. Manches sollte man eben doch einfach so lassen wie es war, sonst konnte es passieren, dass die Natur begann sich zu wehren. „Das hilft uns jetzt aber auch nicht.“ Ich verlagerte mein Gewicht, starrte dabei den Boden an. „Ich meine, es muss doch einen Grund dafür gegeben haben, dass er die Biester rausgelassen hat.“

„Den gab es sicher, aber bisher ist uns dieser noch nicht bekannt.“ Er beobachtete den feinen Rauchfaden, der von seiner Zigarette aufstieg. „Aber wir werden es herausfinden.“

Da war ich mir sicher. Schließlich ging es hier um Mord. Jemand hatte die Abkömmlinge mit dem Vorsatz rausgelassen, dass sie Menschen töten würden. Es musste einfach einen Grund geben.

„Jilin jedenfalls setzt gerade Himmel und Hölle in Bewegung um herauszufinden, was genau passiert ist.“

Das konnte ich mir gut vorstellen. „Wie geht es ihr denn?“

„Sie hat eine Gehirnerschütterung, Monsterkopfschmerzen und ist rasend vor Wut. Und dass ihre Prothese verschwunden ist, findet sie zum Kotzen. So hat sie nämlich nichts, was sie verbrennen kann.“

Die Frage, warum sie ihre Prothese verbrennen wollte, sparte ich mir an dieser Stelle einfach mal. „Die Proles haben sie geklaut.“

Reese blinzelte. „Bitte?“

„Taids Bestien. Sie haben sich darum gestritten und sie dann mitgenommen.“ Eigentlich schon seltsam. Was das nun wieder zu bedeuten hatte? Vielleicht glaubten sie aber auch, sich mit der Prothese einen Snack für später mitgenommen zu haben. Allein bei dem Gedanken daran, lief es mir eiskalt den Rücken herunter.

Schnaubend sog Reese erneut an seinem Glimmstängel. „Sachen gibt es.“ Mit den Fingern schnipste er die Zigarette weit von sich. „Aber ansonsten geht es ihr ganz gut. Am schlechtesten hat es von den Überlebenden wohl Aziz getroffen. Ausgekugelte Schulter, starke Biss- und Kratzverletzungen an Beinen und Hüfte, ein paar innere Verletzungen und hoher Blutverlust.“

Oh nein, bitte nicht, nicht Aziz.

„Er liegt gerade im OP.“

„Wird er überleben?“

Reese zuckte mit den Schultern und ließ dabei die Hände in den Taschen seiner Lederjacke verschwinden. „Fraglich. Die Ärzte geben sich wohl alle Mühe. Das Einzige was wir wissen ist, dass er zumindest im Moment noch lebt.“

Oh Gott, das durfte nicht wahr sein. „Wie konnte das nur passieren? Da waren so viele Venatoren, wie haben drei Proles sie alle überwältigen können?“ Wie hatten sie so ein Massaker angerichtet? Wie war es ihnen gelungen so viele ausgebildete Jäger einfach zu überrennen?

„Die Biester sind sehr schnell. Sie kamen aus dem Keller und haben direkt angegriffen. Bevor die Venatoren überhaupt gemerkt haben was los ist und ihre Waffen ziehen konnten, hatten sie die Hälfte wohl schon außer Gefecht gesetzt. Jilin hat gesagt, dass sie nicht genau weiß, was geschehen ist. Sie hörte nur plötzlich die Schreie und die Schüsse und als sie aus dem Büro gestürmt ist, stand sie wohl sofort einem dieser Viecher gegenüber.“ Reese schnaubte, als könnte er die kommenden Worte selber kaum glauben. „Sie hat ihre Waffe im Schreibtisch vergessen. Ist das zu fassen? Ich meine, sie ist eine der Besten und als sie das ganze Chaos mitbekommt, springt sie auf und vergisst ihre Waffe mitzunehmen.“

„Sie ist eben schon lange nicht mehr im Außeneinsatz gewesen.“

„Lass sie das bloß nicht hören, sonst reißt sie dir den Kopf ab.“

Ja, das würde sie wohl.

Reese seufzte. „Madeleine ist wohl richtig hysterisch geworden. Jilin hat noch mitbekommen, wie Aziz und Seth sie zu Suzanne gebracht haben, als sie wieder in ihr Büro gerannt ist, um die Waffe zu holen. Dabei ist sie wohl wegen der Prothese weggerutscht …“

Was dann wohl erklären würde, warum sie sie verbrennen wollte.

„… und mit dem Kopf auf die Schreibtischkante geknallt. Danach weiß sie nichts mehr.“

Aber ich wusste, was danach geschehen war. Zumindest das Ende hatte ich mitbekommen. Das Blut, die Toten, Jilin, Aziz. Verdammt, Aziz. Er durfte nicht auch noch sterben. Niemand durfte mehr sterben. „Wir müssen sie finden“, sagte ich. „Wir müssen diese Biester ein für alle Male erledigen, damit sowas nie wieder passieren kann.“

„Aber nicht mehr heute.“ Reese kramte in seiner Jacke nach seinen Autoschlüsseln.

„Doch, wir müssen …“

„Nicht. Mehr. Heute.“ Er sah mir so eindringlich in die Augen, dass ich es schon als niederstarren empfand. „Du bist fertig mit den Nerven. Eine Jagd würde dich umbringen. Außerdem wurdest du noch nicht wieder eingestellt. Eine Jagd wäre also illegal.“

Als wenn es das erste Mal gewesen wäre, dass ich etwas gesetzwidriges tun würde. Aber er hatte schon Recht. Vom Kopf her war ich so fertig, dass eine Jagd mich umbringen konnte. Alles was heute passiert war. Ich war mit dem Ziel, mein Praktikum wieder aufzunehmen, in die Gilde gegangen und hatte nur Tod vorgefunden. Der Weg in meine Zukunft war immer noch versperrt, aber …

Ich war bei der Polizei und habe mich selber angezeigt.

Ich sah zu Reese auf, konnte immer noch nicht richtig fassen, dass er das getan hatte. Und verstehen konnte ich es erst recht nicht. Für mich konnte jetzt alles wieder gut werden, aber für ihn war es aussichtslos. Nicht nur dass er dadurch jetzt in Konflikt mit dem Gesetz gekommen war, sobald Taid herausfand was er getan hatte, war sein Leben in Gefahr – mal wieder. Und das war es nicht wert. Nichts war so viel wert, wie das Leben eines Menschen. Und Reese war trotz seiner ganzen Art, einer der wertvollsten Menschen die ich kannte.

Ihm durfte einfach nichts passieren.

„Okay, du hast gewonnen.“

Meine widerspruchslose Zustimmung erstaunte ihn so sehr, dass er einen Moment aus dem Tritt geriet. Er sah mich an, als würde er mich zum ersten Mal in seinem Leben wirklich sehen. Mich, Grace. Nicht die penetrante Praktikantin, oder die Freundin seines Bruders. Wirklich nur mich als Person. Und dieser Blick dabei ließ mein Herz schneller schlagen. Ich musste mich abwenden, um nicht auf komische Gedanken zu kommen, oder sie gar in die Tat umzusetzen.

„Ähm … ja …“ Reese räusperte sich und spielte nervös mit seinem Schlüssel rum. „Ich fahr dich nach Hause. Nick, kommst du?“

„Ach, ihr habt bemerkt, dass ich auch noch da bin?“ Er stieß sich von dem Geländer ab und rempelte seinen Bruder im Vorbeigehen grob mit der Schulter an. „Und ich dachte schon, ich sei unsichtbar geworden.“

„Niklas.“

Nick ignorierte seinen Bruder einfach und steuerte auf einen ziemlich ramponierten Wagen am Straßenrand zu.

Er hatte doch jetzt nicht vor, dagegen zu treten, oder? Ich hielt es für sicherer den Blick abzuwenden und nach dem Wagen der Gilde Ausschau zu halten. „Wo steht denn dein Auto?“

„Am Straßenrand.“ Er schüttelte den Kopf, als fragte er sich, wie ich es jemals geschafft hatte, das kleine Einmaleins zu lernen.

Na sag mal war ich blind, oder was. „Wo denn?“

„Na da.“ Er zeigte auf das rostrote Ungetüm, neben dem Nick sich mit verschränkten Armen postiert hatte. Und nein, nicht die Farbe war rostrot, das Auto bestand praktisch nur noch aus Rost.

Ich machte den Mund auf, aber kein Ton kam heraus. Das konnte er nicht Ernst meinen. Der nahm mich doch auf den Arm. Ich sah zu Reese auf, doch da stand kein Schalk in seinen Augen. „Was … was ist das?“

Oh je, der Mann konnte wirklich böse gucken. „Mein Auto.“

Sein Auto? Davon mal abgesehen, dass ich dieses Vehikel niemals so betiteln würde, gab es da eine viel dringendere Frage zu klären. „Wo ist denn der Wagen von der Gilde?“

„Ich bin zurzeit suspendiert.“ Er schritt an mir vorbei und schloss den Wagen auf der Beifahrerseite auf.

Das war wirklich ein Erlebnis. Ich hatte gar nicht gewusst, dass es noch Autos gab, die man nicht mit Fernbedienung öffnen konnte.

Moment, was hatte er gesagt? „Suspendiert?“

„Na was hast du denn geglaubt was passieren würde, wenn ich all meine dunklen Geheimnisse ausplaudere?“ Er griff durch die offene Wagentür, um den hinteren Schließmechanismus zu öffnen. „Bis die Sache durch ist darf ich nicht arbeiten. Und danach … wahrscheinlich auch nicht mehr.“

„Du musst es rückgängig machen.“ Es gab zu viele Menschen die von ihm abhängig waren. Okay, ich würde dann vielleicht ins Gefängnis kommen, aber mein Leben wäre nicht in Gefahr, denn Taid war nicht hinter mir her.

„Dafür ist es in der Zwischenzeit ein wenig zu spät. Und jetzt steige endlich ein.“

Einsteigen. In dieses … Ding? Allein bei der Vorstellung daran, sträubten sich mir alle Nackenhaare. Das war kein Auto, das war ein Zustand – und zwar ein ziemlich schlechter. Vorne rechts fehlte eine Radkappe und eine der Rückleuchten war eingeschlagen. Die Seitenscheibe wurde von einem langen Riss geziert und von den Beulen am Kotflügel wollte ich gar nicht erst anfangen. Dieses Fahrzeug war so alt und heruntergekommen, dass es offensichtlich nur noch vom Rost zusammengehalten wurde.

„Ist der denn überhaupt noch sicher?“ Ich fand das war eine berechtigte Frage, denn so wie der aussah, musste man ja Angst haben, dass er einem jeden Moment unterm Hintern wegbrach.

Aber so wie Reese mich anfunkelte, hielt er sie wohl nicht nur für überflüssig, sondern auch noch für dreist. „Steig ein oder lauf nach Hause.“

Für einen Moment war ich ganz ehrlich am überlegen, ob ich das tun sollte. Laufen erschien mir wesentlich sicherer, aber jetzt hatten die beiden extra auf mich gewartet. Und ehrlich gesagt war ich auch viel zu müde um jetzt noch mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nach Hause zu fahren. Außerdem war die Nacht bereits im Begriff, sich über den Tag zu legen.

Es gab also viele gute Gründe um einzusteigen und nur einen, der mich davon abhalten konnte – nein, dieses Mal meinte ich nicht den Zustand des Wagens.

Es war Nicks Blick.

Wie er da auf dem Beifahrersitz saß und mich beim Einsteigen durch den Rückspiegel anstarrte, ließ es mir kalt den Rücken runterlaufen. Ich konnte ihn nicht ansehen, versuchte erst mich durchs Anschnallen und dann durchs ordnen meiner Gliedmaßen abzulenken, aber ich fühlte seinen Blick durch den Rückspiegel die ganze Zeit auf mir liegen.

„Was wird jetzt passieren?“, fragte ich nach ein paar Minuten Fahrt in der Hoffnung, mich mit einem Gespräch von dieser erstickenden Atmosphäre ablenken zu können. Wie schaffte Reese es nur, so ruhig zu bleiben? Hatte er sich vielleicht mit Nick ausgesprochen? Oder kam das einfach daher, dass er sich wirklich nicht an unsere gemeinsame Nacht erinnern konnte und sie damit keinerlei Bedeutung für ihn hatte?

„Die Venatoren werden versuchen, Taids Proles zu finden und dann wird alles seinen gewohnten Lauf nehmen.“

„Nein, das meinte ich nicht.“ Ich drehte mich auf meinem Platz, um ihn besser sehen zu können. „Ich meinte Taid. Wenn er erfährt was du getan hast, dann wird er sich an dir rächen wollen.“ Dieser Gedanke ließ mir einfach keine Ruhe. Wenn ihm nun was geschah, war das meine Schuld – irgendwie. Das konnte ich doch nicht zulassen.

„Taid ist geliefert. Er wird polizeilich gesucht. Alles andere wird sich zeigen.“

„Aber …“

„Lass gut sein, Shanks. Hör auf dir den Kopf darüber zu zerbrechen, das hilft niemandem.“

Die Sache totzuschweigen brachte aber auch nichts. Er musste sich doch Gedanken darüber machen, hier ging es schließlich um sein Leben. Verstand er das denn nicht. „Dann lass uns wenigstens …“

„Mein Gott“, unterbrach Nick mich lautstark. „Halt doch einfach mal die Klappe!“ Er griff nach dem Radio und stellte es so laut, dass der ganze Wagen davon zu vibrieren begann.

Von seinem scharfen Ton war ich so überrascht, dass ich wirklich den Mund zuklappte. Es war wieder dieser Ton, den er schon einmal angeschlagen hatte, an dem Tag als ich ihm von Devin erzählen wollte.

Auch Reese behielt jeglichen Gedanken dazu für sich. Er schaute zwar kurz zu dem Radio, wandte seinen Blick mit zusammengedrückten Lippen dann aber wieder von der Windschutzscheibe auf den Verkehr. Offensichtlich hatte er seine Differenzen mit Nick doch noch nicht geklärt.

Wie sollte man sowas auch klären? Dafür gab es sicher kein Handbuch, in dem man das nachlesen konnte. Nick hatte jegliches Recht, auf uns sauer zu sein. Wir hatten ihn betrogen, alle beide und im Moment konnte keiner von uns dreien damit umgehen.

Doch das Schweigen lastete auf uns. Dagegen konnte auch die laute Musik nichts ausrichten. Ich fieberte unserem Ziel praktisch mit jedem Meter entgegen, nur damit ich dieser unangenehmen Stimmung entkommen konnte.

Doch an meinem Haus angekommen, hatte Reese ganz anderes im Sinn. Er hielt direkt vor unserer Auffahrt und stellte dann den Motor ab. Die plötzliche Stille empfand ich fast noch lauter als die Musik.

„Ähm … ich werde dann mal …“

„Warte.“ Reese zog den Schlüssel vom Wagen ab und stieß die Tür auf. „Ich werde jetzt eine rauchen und dann könnt ihr beide das endlich mal klären.“

Nick gab keinen Ton von sich.

„Sag es ihr“, forderte Reese seinen kleinen Bruder auf. Dann stieg er aus dem Wagen und knallte die Tür so fest zu, dass zu befürchten war, sie würde einfach abfallen. Na wenigstens war dieser Wagen nicht so zugemüllt, wie der von der Gilde. Aber das lag wahrscheinlich auch nur daran, dass er ihn so selten benutzte.

Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf Nick. Sagen? Ich wollte es laut fragen, aber ich traute mich nicht. Ja, ich gab es zu, im Moment hatte ich vor Nick Angst. Nach unserem letzten Treffen … nachdem was er fast getan hatte … ich wollte nicht mit ihm allein im Wagen sein. Dazu konnte mich auch niemand zwingen. Doch als ich nach der Klinke griff, öffnete Nick den Mund.

„Wir sind quitt.“

„Quitt?“ Was sollte das heißen?

„Ja quitt.“ Er drehte sich auf seinem Sitz so herum, dass er mich ansehen konnte. Meine Hand an der Klinke verkrampfte sich ganz unwillkürlich und ich konnte nichts dagegen tun, dass ich mich mit einem Blick nach draußen versicherte, wohin Reese gegangen war.

Er saß auf der obersten Stufe vor unserer Haustür und rauchte eine Zigarette. Den Blick hatte er dabei auf seine Schuhe gesenkt.

„Du hast mit Reese geschlafen und ich mit diesem Mädchen. Jetzt können wir das Ganze vergessen und einfach weitermachen.“ Hoffnung glänzte in seinen Augen, doch ich war viel zu geschockt von seinen Worten, um das wirklich zu bemerken.

„Bitte was?“

„Ich versteh schon.“ Nervös leckte er sich über die Lippen. „Du bist sauer und das ist auch dein gutes Recht. Ich war auch sauer, aber jetzt ist wieder alles in Ordnung. Du hast mit Reese geschlafen, ich mit diesem Mädchen. Ausgleichende Gerechtigkeit, wir sind quitt. Okay?“

Für Sekunden starrte ich ihn einfach nur an. Was er da sagte, im ersten Moment verstand ich es einfach nicht. Natürlich, die Worte kannte ich, aber zusammenhängend ergaben sie irgendwie keinen Sinn. „Du hast mit einem anderen Mädchen geschlafen?“ Meine Stimme zitterte leicht. Das hatte er doch gerade gesagt, oder? Weil ich mit Reese im Bett gelandet war, hatte er sich einen Ausgleich gesucht, damit wir quitt sein konnten. „Wann?“ Vielleicht während mein Leben in die Brüche gegangen war? Wie konnte er glauben, dass so eine Tat eine andere ausglich?

„An dem Abend, als du es mir gesagt hast.“ Er drehte sich noch ein wenig herum. „Da war dieses Mädchen und ich wollte, dass zwischen uns wieder alles in Ordnung kommt, also hab ich sie mit nach Hause genommen. Es war nur einmal. Ich vermisse dich Cherry.“

Das konnte ich nicht glauben, das war so absurd, dass ich es einfach nicht glauben konnte. Quitt? Ausgleichende Gerechtigkeit? „Ich habe mir die ganze Zeit riesige Vorwürfe gemacht“, flüsterte ich und schnaubte über meine eigene Naivität. „Ich habe dich enttäuscht, ich habe mich selber enttäuscht und ich hatte verdammt noch mal Angst vor dir!“ Die Wut war so plötzlich da, dass ich ihn am liebsten geschlagen hätte. Nicht weil er mit einer anderen im Bett war, sondern aus den Gründen, aus denen er es getan hatte. „Während ich verhaftet wurde und stundenlang auf dem Polizeirevier saß, hast du also fröhlich vor dich hingepoppt? Ich habe tausend Mal versucht bei dir anzurufen. Verdammt Nick, ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht, dass ich danach auch noch zu euch nach Hause gefahren bin. Und du hast nichts Besseres im Sinn gehabt, als dich an mir zu rächen?“

„Es war das Beste was ich tun konnte. Jetzt ist alles wieder in Ordnung und wir können …“

„Gar nichts ist in Ordnung!“ Was er mir da sagte, ich konnte es einfach nicht glauben. Ja, ich hatte mir Reese geschlafen und ja, dieses Erlebnis spukte mir seit dem immer wieder im Kopf herum und ließ sich einfach nicht verdrängen. Aber der Unterschied zu Nicks Tat war, dass ich es nicht mit Berechnung getan hatte. Ich war nicht zu Reese gegangen, um mich entjungfern zu lassen, es war einfach passiert. Nick hatte sich ganz bewusst ein Mädchen gesucht, um es mir heimzahlen. Ja, vielleicht mit dem Grund, dass wir dann quitt sein konnten. Wahrscheinlich war das in seinem Denken die einzig logische Reaktion, aber es war falsch. Zwei Fehler glichen sich nicht gegenseitig aus. Es blieben zwei Fehler. „Verdammt Nick, ich hab dir das mit Reese doch nicht erzählt um dich zu verletzten, ich habe es dir gesagt, um dir deutlich zu machen, wie es zwischen uns steht. Du hast gesagt du liebst mich und da bin ich in Panik geraten, weil ich diese Gefühle nicht erwidere. Es ist … ich mag dich, aber jetzt … ich … ich …“ Oh Gott, wie sollte ich ihm das nur sagen. „Nick, wir sind nicht mehr zusammen. Wir sind kein Paar. Verstehst du?“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Du irrst dich.“

„Nick, ich habe Angst vor dir.“ Es tat mir leid, ihm das so deutlich ins Gesicht zu sagen, aber er musste es verstehen. „Du bist auf mich losgegangen. Zwei Mal. Und das in der Zwingerhalle … ich will nicht mir dir alleine sein. Ich habe Angst vor dem, was du tun könntest, wenn ich etwas Falsches sagte.“

Diese Worte taten ihm genauso weh wie mir. Aber es war geschehen und es ließ sich nicht zurücknehmen. Nichts von dem was passiert war, ließ sich jemals wieder rückgängig machen. Das hatte ich früh lernen müssen.

„Es tut mir Leid Nick, aber es gibt kein Zurück.“

„Nein, Cherry.“ Er schüttelte den Kopf, wollte einfach nicht einsehen, dass ich Recht hatte. „Du täuschst dich.“

„Nick …“

„Du täuschst dich!“

Da war sie wieder, diese Wut. Ich hatte geglaubt, ich könnte damit umgehen, hatte gedacht das seine Psychosen nur Nebensächlichkeit waren, etwas dem ich aus dem Weg gegen konnte, doch das Leben lehrte uns immer etwas Besseres. Die Einfalt zu glauben, dass ich damit klarkam war das einzige, worin ich mich getäuscht hatte. Doch jetzt, in diesem Moment, sah ich mehr als nur klar.

Ich sagte kein Wort mehr, wich dem flehenden Blick einfach aus und verließ den Wagen.

„Grace!“

Nicht umdrehen, geh einfach weiter.

„Verdammt Grace! Du kannst jetzt nicht einfach verschwinden!“

Ich biss mir auf die Lippe, rannte schon beinahe über die Steinplatten zu unserem kleinen Häuschen, nur um von ihm wegzukommen. Ich hörte wie Nick aus dem Wagen stieg, sah wie Reese sich von seinem Platz erhob, als ich an ihm vorbei lief, doch ich blieb nicht stehen. Ja, vielleicht war es feige sich dieser Situation einfach zu entziehen, aber ich wollte mich heute einfach nicht mehr damit auseinandersetzen.

„Grace!“, rief Nick wieder. Wut und Verzweiflung klangen in seiner Stimme mit.

Ich konnte und wollte nicht zurücksehen. Hastig kramte ich in meiner Jacke nach dem Schlüssel. Wenn ich erstmal im Haus war, würde alles wieder in Ordnung kommen – wenigstens für einen kurzen Moment.

„Shanks.“

Reese' Stimme war so nahe bei mir, dass ich vor Schreck den Schlüssel fallen ließ. Ich achtete nicht auf ihn, bückte mich nur danach und zwar so ungeschickt, dass ich mit dem Ellenbogen gegen die Haustür knallte. Doch es gab keinen Widerstand. Sie schwang geräuschlos nach innen in den dunklen Flur auf, der sich mir mit nichts als gähnender Leere präsentierte. Kein Onkel Roderick, der mich gehört hatte und mich reinlassen wollte. Keine Wynn. Nur Leere und Luft.

Die Tür war immer abgeschlossen – immer! Wynn hatte viel zu große Angst vor der Außenwelt, um nicht die drei Sicherheitsschlösser einrasten zu lassen und sich doppelt und dreifach davon zu überzeugen, dass sie auch wirklich verschlossen waren.

Aber jetzt waren sie nicht zu.

Mir stellten sich die Härchen im Nacken auf und in meinem Kopf schrillte jede Alarmglocke los, die ich hatte.

Reese runzelte die Stirn. „Warum ist die Tür offen?“

Ich achtete auf ihn genauso wenig wie auf Nick, der immer noch nach mir rief. Hier stimmte etwas nicht. Dieser Gedanke schoss so schnell in meinen Kopf, dass mir davon fast schwindlig wurde. Der Schlüssel blieb vergessen vor der Tür liegen, als ich ins Haus stürmte. „Onkel Rod?!“ Ich machte mir nicht mal die Mühe, das Licht einzuschalten, sondern rannte gleich tiefer in die Wohnung. „Wynn!“ Meine Beine trugen mich durch den Flur, vorbei an der Küche, direkt ins Wohnzimmer. Doch was ich dort fand hatte ich nicht erwartet und ließ mich sofort erstarren.

„Shanks! Verdammt, was …“ Reese kam neben mir zum Stehen und verstummte sofort. Ihm blieb die Sprache wohl genauso weg wie mir.

Das ganze Zimmer war verwüstet. Die Polster waren zerfetzt, der Tisch zerschlagen und der Fernseher aus dem Schrank gerissen. Das geliebte Bücherregal meines Onkels war umgekippt und der Inhalt wie Schnee auf dem ganzen Boden verteilt.

Ich bekam nicht mal mit, wie Nick zu uns stieß, sah nur dieses Chaos und geriet in Panik. Was war hier passiert? Wo waren Wynn und Onkel Roderick?

Ich stieß die beiden Männer zur Seite und rannte in die Küche. Das Licht war ausgeschaltet, aber der Schein des Vollmondes reichte, um mir zu zeigen, dass auch hier drinnen gewütet worden war. „Oh Gott. Wynn! Onkel Rod!“ Ich wirbelte herum und rannte Reese dabei direkt in die Arme. „Nein, lass mich! Ich …“

„Shanks! Beruhige dich, was ist hier los?“

Das Licht im Flur wurde angeschaltet und zeigte mir, dass es hier nicht besser aussah, als in den anderen Räumen. Die Tapete. Oh Gott, irgendwas hatte die Tapete solange zerfetzt, bis sie nur noch in Streifen herab hing.

„Ich weiß nicht.“ Panisch ließ ich meinen Blick durch den Flur gleiten. „Wynn, ich muss sie finden. Wo ist Wynn? WYNN!“

„Shanks …“

„WYNN!“

Reese versuchte meinen Blick einzufangen, aber ich wollte nicht. Ich wollte nur, dass er mich losließ. Wo war meine Schwester? Wo war mein Onkel? Oh Gott, was war hier nur geschehen?

„ONKELN ROD! WYNN!“

„Shanks, verdammt.“

„Ich glaube ich hab hier etwas“, sagte Nick plötzlich.

Ich wirbelte zu Nick herum und verrenkte mir dabei noch halb den Arm, da Reese mich nicht losließ.

Nick hockte vor meinem Zimmer. Vor ihm im alten, grünen Teppich war ein großer, roter Fleck.

Diese Farbe. Ich hatte sie schon viel zu oft gesehen, aber noch nie in diesem Haus. Nein, nein, nein, nein, das durfte einfach nicht sein, hier durfte so etwas nicht passieren. Bitte nicht.

Jetzt geriet ich wirklich in Panik. „WYNN!“ Ich riss mich von Reese los und stürmte in mein Zimmer. Ließ den Blick hastig über die Betten, Schränke und Schreibtische wandern, doch nichts hatte sich verändert. Hier schien alles unberührt, aber auch hier konnte ich meine Familie nicht finden.

Wo waren sie nur?

Mein Puls ging viel zu schnell. Min Herz raste und mit jeder verstreichenden Sekunde krallte sich die Angst tiefer in meine Eingeweide. „ONKEL ROD!“

„Habt ihr das gehört?“

Ich verstummte, spitzte die Ohren und versuchte über das Rauschen meines Blutes etwas zu hören. Das war etwas, wie ein Schluchzen. „Das kommt aus dem Keller.“ Ich stürmte sofort los, entging Reese, der noch versuchte nach mir zu greifen und riss die Kellertür auf. Dass sie nur angelehnt war, registrierte ich gar nicht, für mich war nur wichtig meine Familie zu finden. Und ich fand sie.

Der Keller war hell erleuchtet und schon von hier oben konnte ich Wynn und Onkel Roderick sehen. Sie waren unten an der Treppe zwischen einem Stapel umgeschmissener Kartons. Wynns Bein stand in einem seltsamen Winkel von ihr ab. Sie hatte sich ganz in die Ecke gekauert, die Augen weit vor Angst und Schrecken. Den Blick starr auf meinen Onkel gerichtet murmelte sie leise vor sich hin, immer wieder unterbrochen von einem kleinen Schluchzern.

Onkel Roderick lag einen halben Meter von ihr entfernt. Sein Gesicht und sein Kopf waren blutüberströmt. Unter ihm hatte sich bereits eine Lache gebildet. Wie bei Jilin am Nachmittag. Er war bewusstlos.

Das alles registrierte ich innerhalb von zwei Sekunden.

„Wynn!“ Ich ließ alle Vorsicht fahren und rannte auf die oberste Stufe zu.

Bei meinem Ruf blickte meine kleine Schwester erschrocken auf. „Nein, pass auf!“

In dem Moment rammte mich etwas mit der Wucht einer Kanonenkugel in den Rücken und katapultierte mich die Treppe hinunter.

 

°°°°°

Kapitel 18

 

Ich hatte gerade noch Zeit die Arme hochzureißen, um nicht mit dem Gesicht frontal auf den Steinboden zu knallen, da lag ich auch schon keuchend auf dem Bauch, während sich Krallen in meinen Rücken bohrten und der Schmerz vom Sturz meine Muskeln malträtierte.

„Shanks!“

„Grace!“

„Cherry!“

Tränen des Schmerzes schossen mir in die Augen. Das Gewicht von oben drückte mir auf die Lungen und machte das Atmen schwer.

„Büüüß“, zischte es mir ins Ohr und ich wusste sofort, wer da auf mir hockte.

„Nein!“, rief Reese.

Es krachte, er fluchte laut und dann war die Luft erfüllt vom Knurren mehrerer Proles.

Warmer, stinkender Atem drang an meine Nase.

„Büüüß!“

Nick brüllte. Etwas krachte. Hastige Schritte. Wynn schrie auf.

Ich versuchte den Kopf zu drehen, stützte mich mit den Armen auf, um das Gewicht von mir runter zu werfen, aber die Krallen bohrten sich nur fester in meine Schultern. Solange bis ich vor Schmerz aufschrie und Blut warm und klebrig über meine Haut laufen fühlte.

„Büüüß.“

„Nein!“, brüllte Reese.

Ich konnte ihn aus den Augenwinkeln erkennen. Zwischen umgefallenen Kartons und aufgestapelten Teppichresten wurde Reese von Zwei/elf auf den Rücken gedrückt. Er wehrte sich nach Leibeskräften, doch es brachte rein gar nichts. Zwei/elf schnappte nur nach seiner Kehle, bohrte seine Krallen in seine Arme und hielt ihn mit seinem ganzen Gewicht unten.

„Wenn du jemanden büßen lassen möchtest, dann mich. Ich hab dich gejagt!“

„Sssie mich verletzt.“

Ich erstarrte unter ihm. Hatte ich mir das gerade eingebildet? Das konnte doch nicht wahr sein, das gab es einfach nicht. Das war unmöglich!

„Fffeuerrr“, zischte es über mir. „Fffeuerrr. Sturzzz in Kellerrr. Schhhmerzzz.“

Soweit es ging drehte ich den Kopf herum. Ich musste mich einfach versichern, dass es wirklich Drei/siebenunddreißig war, der da auf meinem Rücken hockte.

Kein Zweifel, das war Taids gefährlichste Brut. Und sie … sprach. Dieser Proles konnte sprechen!

„Sie hat nur Befehle befolgt, also lass sie gehen!“

Und wie es aussah, wusste Reese das.

Drei/siebenunddreißig ist von annähernd menschlicher Intelligenz. Er lernt. Mit jeder Minute lernt er dazu.

Bisher hatte ich diese Worte von Reese nie wirklich verstanden. Ein außergewöhnlich intelligenter Proles, mehr nicht.

Das war doch einfach nicht möglich. Sowas gab es einfach nicht. Proles waren Tiere und Tiere konnten nicht sprechen. Sie konnten Geräusche nachahmen, aber sie waren einfach nicht in der Lage, logisch zu denken und dementsprechend Worte und Sätze zu bilden. Das war gegen die Natur!

„Stilll!“

„Erst wenn du deine dreckigen Pfoten von ihr nimmst!“ Reese wehrte sich wieder heftiger gegen Zwei/elf, aber es brachte ihm nichts als weiteren Schmerz. Am liebsten hätte ich ihn angeschrien, dass er damit aufhören sollte. Es brachte doch nichts.

Mein Blick fiel auf Wynn, die sich die Hände auf die Ohren gedrückt hatte und leise vor sich hinsummte. Ihre Augen waren fest zusammengekniffen. Sie versuchte sich abzuschirmen, wollte nichts sehen, nichts hören. Es war wie damals am meinem Geburtstag.

Nein, war es nicht.

Heute war ich kein kleines, unschuldiges Mädchen mehr, das sich nicht wehren konnte. Ich hatte gelernt gegen Proles zu kämpfen. Mir wurde beigebracht sie zu töten. In den letzten zwei Jahren hatte ich nichts anderes getan, als mich auf solche Situationen vorzubereiten und ich würde jetzt nicht aufgeben.

Ob diese Entschlossenheit nun aus Verzweiflung oder Mut geboren wurde, war völlig egal, es war nur wichtig, dass ich nicht aufgab. Drei/siebenunddreißig war ein Wesen aus Fleisch und Blut und damit konnte es getötet werden. Ich musste nur irgendwie eine Waffe in die Hand bekommen.

„Ich sssie töööten, sssie Schhhhmerzzz.“

„Das wirst du nicht!“ Reese versetzte Zwei/elf einen Gezielten Schlag auf die Nase, woraufhin sein Gegner knurrend nach ihm schnappte.

Ich ließ meinen Blick über die Berge von Kartons wandern. Onkel Roderick konnte einfach nie etwas wegschmeißen. In diesen Kisten lagen so viele Dinge, da war sicher etwas dabei, das ich als Waffe benutzen konnte. Ich musste nur irgendwie rankommen.

„Ichhh essse ihr Fleischhh.“

Ein widerlicher Sabberfaden tropfte mir in den Nacken und jagte mir Ekel pur über den Rücken, aber ich konnte mich gerade nicht damit befassen. Meine Augen hatten eine umgefallene Kiste mit altem Hausrat aus der Küche ausgemacht. Wenn ich den Arm ausstreckte, konnte ich ihn berühren, vielleicht etwas zu mir heranziehen. Onkel Roderick hatte dort sicher etwas reingetan, was ich gebrauchen konnte. Bitte, es musste einfach so sein.

Während Reese mit seinen Beschimpfungen meinen Peiniger ablenkte, versuchte ich unter Schmerzen meinen Arm auszustrecken. Ich musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut aufzustöhnen. Es tat wirklich höllisch weh und leider wurde mir schnell klar, dass ich die Kiste so niemals erreichen würde. Meine Arme waren einfach zu kurz dafür. Aber etwas anderes Brauchbares lag nicht in der Nähe.

Ich musste es einfach schaffen.

Vielleicht konnte ich Drei/siebenunddreißig dazu bringen seinen Griff ein wenig zu lockern. Aber wie? Für langes Grübeln blieb einfach nicht genug Zeit, daher tat ich das erstbeste, was mir in den Sinn kam. Ich begann zu strampeln. Aber nicht wild und unkontrolliert, nein, ich riss meine Beine nach hinten und trat so fest ich konnte mit den Fersen zu. Was genau ich traf wusste ich nicht, doch die Retourkutsche kam sofort. Drei/siebenunddreißig zischte und verlagerte sein Gewicht. Beim nächsten Tritt bohrte er seine rechte Pfote tiefer in meine Schulter. Ich schrie auf vor Schmerz, hörte wie Nick und Reese nach mir riefen, aber der Griff an der linken Schulter verschwand.

„Büüüß!“, zischte es wieder.

„Aber nicht heute.“ Woher ich die Kraft nahm, wusste ich nicht, aber durch meine Aktion waren wir näher an die Kiste herangerutscht. Ich fackelte nicht lange, griff nach dem Erstbesten, das ich zwischen die Finger bekam – einen Teller – und schlug ihn dem Biest blind auf den Kopf.

Es brüllte vor Wut auf, versetzte mir einen Schlag, der mich einen halben Meter über den Boden katapultierte, direkt in einen Stapel Kartons hinein. Der Berg stürzte über mir zusammen und begrub mich unter sich. Ich konnte nichts anderes tun, als schützend die Arme über den Kopf zu reißen, um mich vor dem schlimmsten Schaden zu schützen.

Nick rief nach mir. Knurren, Brüllen, ein Schrei.

„NEIN!“

Das war Reese gewesen.

Ich sah nichts, fühlte um mich herum überall nur diesen dumpfen Schmerz, den die Kartons verursachten, aber das Krachen, das hörte ich. Es wirkte fast überlaut, so als sei etwas Großes in die Tiefe gestürzt.

„Nick! Nein, Niklas!“

Scheiße, was war passiert?

Ich trat nach den Kartons, versuchte mich herauszugraben, doch letztendlich war es Drei/siebenunddreißig, der mich aus dem zusammengefallenen Stapel herauszog und quer durch den Keller warf, als sei ich nichts weiter als eine gliederlose Puppe.

„Nick! Nicki!“

Es war das Werkzeugregal von Onkel Roderick, das meinen Flug abbremste. Es krachte und dröhnte. Schmerz fuhr mir durch die Hüfte in die Wirbelsäule. Ich prallte ab, knallte auf den Boden und spürte wie die Narbe an meiner Lippe wieder aufplatzte.

„Scheiße, nein, lass sie! Geh weg von ihr, du dreckiges Biest!“

„Büüüß.“

Ich stöhnte vor Schmerz, blinzelte gegen den nebligen Schleier in meinen Augen, konnte aber nur den großen, verschwommenen Umriss erkennen, der sich geschmeidig auf mich zubewegte.

„Ichhhh dichhh fresss´n, ichhh genießßßen.“

„Nein, geh weg von ihr. Shanks! Verdammt, steh auf! Beweg deinen knochigen Hintern! Shanks!“

Zwei/elf knurrte, Reese fluchte und irgendwo schrie Wynn in heller Panik.

Gott, warum tat mir nur der Kopf so weh.

„Büüüß.“

Ich gab es auf, meinen Blick scharf zu stellen, versuchte die Schmerzen zu ignorieren und tastete mit der Hand meine Umgebung ab, bis ich eines von Onkel Rodericks Werkzeugen in die Hand bekam. Ein kleiner Schraubenzieher.

„Büüüß“, zischte das Biest wieder.

„Das kannst du vergessen.“ Meine Zunge fühlte sich schwer an, aber zu meiner eigenen Verwunderung funktionierte mein Arm einwandfrei. In dem Moment, als mir das Biest seinen widerlichen Atem ist Gesicht blies, riss ich meinen Arm blitzschnell herum und rammte ihm den Schraubenzieher mitten ins Auge.

Das Monster schrie vor Schmerz, taumelte rückwärts und rempelte dabei weitere Kartons um.

Wieder schrie Wynn. Ihr Weinen und Wimmern erfüllte die Luft wie eine grausame Melodie, die das Schreien von Drei/siebenunddreißig untermalte. Doch auch dieser Proles war nichts weiter als ein instinktgesteuerter Abkömmling. Und auch wenn er über weitaus mehr Intelligenz verfügte als all seine Artgenossen, so folgte er dem was ihm von der Natur gegeben war und ließ seinen Selbsterhaltungstrieb völlig außer Acht. Mit einem Brüllen rannte es wieder auf mich zu.

Ich reagierte rein instinktiv und trat mit den Beinen nach dem schiefen Regal. Es jaulte vor Wut, kam aber nicht mehr rechtzeitig davon und wurde darunter begraben.

„Ahhh!“

Reese' Schrei ließ mich alarmiert den Kopf herumwirbeln. Meine Sicht verschwamm wieder, aber ich sah genug um zu erkennen, dass er sich verbittert gegen seinen Angreifer wehrte. Und dann kam Vier/zweiundzwanzig auch noch angesprungen. Die nackte Ziege rammte alles, was ihr im Weg stand. Wie ein Bulldozer pflügte sie durch den Keller.

Ich zögerte nicht, griff mir einen Hammer und sprang auf die Beine. Leider wollten die nicht so recht mitmachen und sackten einfach wieder unter mir zusammen. Dann eben anders. „Reese!“ Selbst bei diesem kleinen Wort fühlte meine Zunge sich so schwer an, als sei sie am Gaumen festgeklebt. Aber er hatte mich gehört und schenkte mir einen Augenblick seiner Aufmerksamkeit. Mehr brauchte ich gar nicht. Ich warf ihm den Hammer zu und als hätte er nur darauf gewartet, fing er ihn noch in der Luft, holte damit aus und schlug ihn Zwei/elf direkt auf den Kopf.

Er gab ein so hohes Kreischen von sich, dass ich mir die Ohren zuhalten musste, ließ aber endlich von Reese ab. In allerletzter Sekunde. Mein Lehrcoach schaffte es gerade noch so, ein zweites Mal auszuholen und dem heranrasenden Vier/zweiundzwanzig das Ding so gegen die Schnauze zu hauen, dass es sofort mit einem fürchterlichen Jaulen zurückwich. Aber Reese ließ nicht locker. Er holte erneut aus und schlug zu. Und noch mal. Und noch einmal. Blut spritze. Vier/zweiundzwanzig schrie vor Schmerz, aber es konnte nichts mehr sehen, Reese hatte ihm bereits halb den Schädel eingeschlagen. Doch er hörte nicht auf. Immer und immer wieder schlug er zu. Selbst als sein Gegner sich nicht mehr regte und sich eine blutige Lache um das Monster bildete hieb er weiter auf ihn ein.

Und dann begann das schiefe Regal zu beben. Drei/siebenunddreißig brüllte vor Wut. Es krachte und knallte, Holz brach. Er war so wütend, dass er das Regal kurz und klein schlug, während er sich von seiner Last befreite.

Verdammt, warum gab er denn nicht endlich auf? Vielleicht war es das Adrenalin, das jede Zelle meines Körpers belebte, vielleicht auch einfach die kalte Angst, die sich in mein Herz gekrallt hatte, doch der Schmerz schien nachzulassen. Selbst meine Sicht wurde ein klein wenig klarer.

Ich zog mich ein wenig zurück, bis ich die Wand im Rücken hatte, tastete dabei über den Boden nach einer neuen Waffe, ohne meinen Gegner aus den Augen zu lassen. Mein Herz trommelte wie wild, auf meiner Zunge schmeckte ich Blut. In diesem Moment wirkte alles irgendwie irreal.

Mein Onkel, der bewusstlos auf dem Boden lag und von all dem nichts mitzubekam, Wynns Schreie, Reese, wie er mit wutverzerrter Mine immer weiter auf den toten Proles einschlug und auch Drei/siebenunddreißig mit dem Schraubenzieher im Auge.

Meine Hand stieß gegen die lange Wasserwaage von Onkel Roderick, doch bevor ich zupacken konnte, hatte Drei/siebenunddreißig sich bereits in meine Richtung gestürzt. Mit gefletschten Zähnen brüllte er mich an und schlug mit seiner Pranke nach mir, sodass ich auf die Seite geschleudert wurde.

„Schhhlussss!“, zischte er und im nächsten Moment riss er mir mit den Krallen den Arm auf.

Ich schrie vor Schmerz und brachte damit alle anderen zum Verstummen.

Reese wirbelte herum, doch bevor er auch nur einen Finger krumm machen konnte, war Drei/siebenunddreißig bei ihm und versetzte ihm einen heftigen Schlag gegen den Kopf. Reese fiel zur Seite, verlor dabei seinen Hammer und stöhnte vor Schmerz.

„Schhhlussss!“ Drei/siebenunddreißig warf einen warnenden Blick in meine Richtung, beugte sich dann über das, was Reese von Vier/zweiundzwanzig übrig gelassen hatte und schnüffelte vorsichtig daran.

Zwei/elf hatte sich ein wenig in die Ecke zurückgezogen. Nach dem Schlag gegen den Kopf wirkte es immer noch leicht benommen und zog sich sogar noch ein Stück zurück, als Drei/siebenunddreißig ihn ins Visier nahm.

Die Szene aus Jilins Büro kam mir in den Sinn. Drei/siebenunddreißig hatte nur ein Knurren von sich gegeben und die anderen beiden waren sofort zurück gewichen. Da wurde mir klar, dass er sowas wie ihr Alphatier sein musste, der Anführer. Er gab den Ton an und die anderen gehorchten. Eine strenge Rangordnung.

„Töte iiihn“, zischte er in Richtung Zwei/elf und wandte sich dann mir zu. „Du gehööörssst mir.“

Mit schmerzenden Muskeln drückte ich mich auf die Arme und versuchte so gut es ging zurückzuweichen.

„Ich dichhh fresssen, ichhh genießßßen.“

Mein Blick huschte zu Reese, der noch schwerer auf die Beine kam. Der Schlag von Taids Bestie musste ihn wirklich schlimm erwischt haben.

Ich zog mich noch weiter zurück. Wieder tastete meine Hand ziellos über den Boden, aber das einzige was ich zu greifen bekam war unnützer Krempel aus den Kisten, der mir nicht weiter helfen würde.

Langsam rückte Drei/siebenunddreißig näher. Meine Hände behielt er dabei ganz genau im Blick. „Ichhh dichhh töt´n.“

Nein, ich würde nicht sterben, nicht hier und nicht heute und da konnte es noch so in der Übermacht sein. Meine Familie brauchte mich, Nick brauchte mich. Und auch Reese. „Versuchs doch“, fauchte ich ihn an. Und dann entdeckte ich den langen Schraubenschlüssel, der halb unter der Kiste lag. Ich zögerte nicht, warf mich in dem Moment nach vorne, als das Monster auf mich zusprang. Seinen Pranken entging ich nur haarscharf, packte den Schraubenschlüssel und wirbelte einfach herum, bis ich auf dem Rücken lag. Eine Sekunde später landete das Biest auf mir drauf.

Die Schnauze weit aufgerissen, wollte es mir an die Kehle gehen.

Ich dachte nicht darüber nach, rammte den Schraubenschlüssel einfach nach vorne, der Höllenbrut direkt in den Rachen. Gleichzeitig schlug ich auf den Schraubenzieher in seinem Auge und stieß ihn direkt in sein Hirn hinein.

Drei/siebenunddreißig gab kein Geräusch von sich. Er wurde einfach ganz starr über mir. Sein gesundes Auge drehte sich nach innen und dann brach er neben mir einfach zusammen. Er gab noch ein paar kurze, abgehackte Atemzüge von sich, dann wurde er regungslos.

Ich hatte es geschafft, ich hatte Drei/siebenunddreißig getötet. Noch immer schlug mein Herz wie wild und mein Verstand brauchte eine Weile, um zu verstehen, was da gerade passiert war, aber dann wurde es mir wirklich bewusst. Er war tot, er konnte niemandem mehr gefährlich werden. Kein Mensch würde ihm mehr zum Opfer fallen, kein junges Mädchen ausgeweidet, keine Mutter mit ihrem Baby des Lebens beraubt. Schluss, aus, Ende. Ich hatte es geschafft.

Und dann schrie Reese.

Ich wirbelte so schnell herum, dass mein Nacken knackte.

Zwei/elf hatte ihn auf den Rücken gedrückt und sich in seiner Schulter verbissen. So unter ihm hatte Reese keine Chance. Aber ich hatte sie.

Mein Kopf war wie leergefegt, als ich nach dem Schraubenzieher in dem Kopf von Drei/siebenunddreißig griff und es mit einem schmatzenden Geräusch herauszog. Als ich aufstand konnten meine Beine mich kaum tragen. Alles tat mir weh. Ich hatte sogar Schmerzen an Stellen von denen ich gar nicht wusste dass ich sie besaß. Aber es war egal. Das hier musste endlich aufhören und ich würde nicht zulassen, dass eines dieser Monster Reese etwas antat.

Mit schweren Schritten humpelte ich auf die beiden zu. Sie waren so miteinander beschäftigt, dass sie mich gar nicht bemerkten, zumindest nicht bis ich Zwei/elf den Schraubenzieher mit letzter Kraft durch die Schädeldecke direkt ins Gehirn rammte.

Er schrie, bäumte sich auf, zuckte zurück und riss mich dabei auch noch von den Füßen, doch dann brach er einfach leblos zwischen den ganzen Kartons und Kisten zusammen.

Nun war es wirklich vorbei. Er war der letzte gewesen. Wir hatten es geschafft. Die Proles waren tot und sie würden niemals wiederkommen.

Plötzlich wurde ich von so einer heftigen Müdigkeit übermannt, dass ich einfach die Augen schloss. Schlafen. Ich war so fertig, dass ich nichts anderes als schlafen wollte. Wenn ich aufwachte, würde ich vielleicht feststellen, dass das alles nur ein böser Traum gewesen war, ein Gespinst meiner Phantasie gespeist aus den Erlebnissen der Vergangenheit.

„Nein, nicht schlafen, aufwachen.“ Ein leichter Schlag traf mich auf der Wange. „Komm schon Shanks, mach die Augen auf.“

Ich blinzelte und sah über mir das verschwommene Abbild von Reese.

„Shanks, du musst wach bleiben. Bitte.“

„Mir geht es gut“, versicherte ich ihm mit schwerer Zunge und schloss wieder die Augen. „Mach dir keine … Sorgen.“

„Nein!“ Mit festem Griff packte er mich am Arm und zerrte mich in eine sitzende Position. „Los, bleib wach, mach die Augen auf!“

Ich blinzelte mit schweren Liedern. „Reese …“

„Nein, verdammt Shanks, du musst wach bleiben, du kannst eine Gehirnerschütterung haben. Nicht einschlafen.“

Da konnte er Recht haben, aber ich war so furchtbar müde. Meine Augen wollten sich immer wieder mit bleierner Schwere schließen.

„Bitte Shanks, bleib wach. Ich muss nach Nick sehen.“

„Nick?“ Wo war er eigentlich? Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seit ich in den Keller gestürmt war. Und auch jetzt, als ich meinen Blick über das Chaos schweifen ließ, konnte ich ihn nicht entdecken. Nur Wynn, die sich in die Ecke gekauert hatte und sich langsam summend vor und zurück wiegte. Und Onkel Roderick, der noch immer in tiefer Bewusstlosigkeit war.

„Ja, Nick hat mit Vier/zweiundzwanzig gerangelt. Dabei sind die beiden von oben runtergestürzt, aber Nick ist nicht mehr aufgestanden. Ich muss nach ihm sehen.“

Von oben? Ich ließ meinen Blick die Treppe hochgleiten. Da ging es mindestens vier Meter in die Tiefe.

„Bleib wach“, wiederholte er noch einmal, strich mit dem Daumen dann Blut von meinen Lippen und wandte sich hastig von mir ab. Er schob Kisten und Kartons achtlos zur Seite, schmiss zwei die ihm im Weg waren sogar halb durch den Keller und bückte sich dann nahe bei der Wand.

Ich konnte nicht sehen was er da tat, nur der verbissene Ausdruck in seinem Gesicht entging mir nicht. Seine Hände tasteten etwas ab. Dabei fielen mir die Prellungen in seinem Gesicht auf, das Blut von dem Riss auf seiner Wange.

„Er ist bewusstlos.“ Hastig griff Reese in seine Lederjacke und zog sein Handy heraus.

Bewusstlos. Genau wie Onkel Roderick.

Ich musste nach ihm sehen und dann musste ich mich versichern, dass mit Wynn alles in Ordnung war. Ihr Bein fiel mir wieder ein. Es hatte seltsam verdreht gewirkt. Aber zuerst Onkel Roderick.

Meine Beine wollten mich noch immer nicht wirklich tragen. Ich hatte das Gefühl noch zehn Zentner mit mir rumzuschleppen, so schwer fühlten sie sich an. Aber ich konnte jetzt nicht nachgeben. Durchhalten, meine Familie brauchte mich.

Ich riss mich zusammen, zwang mich auf die Beine und dann einen Schritt vor den anderen. Immer weiter und weiter.

Eigentlich war es gar nicht so weit, vielleicht zwei Meter, doch es kam mir vor, als hätte ich eine halbe Weltreise hinter mich gebracht, als ich neben meinem Onkel in die Knie ging. „Onkel Rod?“ Vorsichtig tätschelte ich ihm die Wange, hoffte dass das ausreichte, um ihn dazu zu bringen die Augen zu öffnen, doch er gab keine Regung von sich. „Onkel Roderick.“ Ich rüttelte ihn leicht an der Schulter. Als das auch nichts brachte, rutschte ich näher und schüttelte etwas kräftiger.

Immer noch keine Reaktion.

„Onkel Rod, komm schon, aufwachen. Bitte, mach die Augen auf.“

Warum nur gab er keine Reaktion von sich? Warum blinzelte er mich nicht an? Er musste doch aufwachen.

„Bitte, wach auf. Onkel Rod.“ Meine Augen begannen zu brennen. Ein Teil von mir hatte bereits erfasst, was der andere nicht wahrhaben wollte. Es konnte nicht wahr sein. Wir brauchten ihn doch. Ich brauchte ihn. „Bitte Onkel Rod, bitte, wach auf.“

Mein Herz krampfte sich zusammen. Ich rüttelte heftiger, ignorierte die blauen Lippen und die Tatsache, dass sein Brustkorb sich nicht hob und senkte, genau wie die Blutlache um seinen Kopf, die am Rand bereits zu gerinnen begann. Ich musste ihn einfach nur dazu bekommen die Augen zu öffnen, dann würde alles wieder gut werden.

„Onkel Rod. Bitte, bitte.“

Die erste Träne rollte über meine Wange. Das Salz darin brannte in meiner offenen Narbe, doch ich bekam es gar nicht mit. Eine zweite Träne, eine Dritte. Sie liefen mir übers Gesicht, tropften mir vom Kinn, direkt auf seine Brust, direkt auf sein totes Herz.

Immer mehr Tränen bahnten sich ihren Weg ins Freie. Ein Schluchzen entrang sich meiner Kehle und egal wie heftig ich ihn schüttelte, er wachte einfach nicht auf.

Im Hintergrund hörte ich Reese mit dem Handy telefonieren. Er beorderte Polizei und Krankenwagen hierher. Das war alles so surreal.

Onkel Roderick konnte nicht tot sein, das durfte er einfach nicht, wir brauchten ihn doch. Er war doch alles was wir noch hatten. „Wach auf!“, schrie ich ihn in meiner anwachsenden Verzweiflung an. Er durfte nicht sterben, das konnte ich einfach nicht zulassen. Doch da war kein Puls, kein Herzschlag und auch keine Atmung.

Ich schlug auf seinen Brustkorb, begann mit einer Herzmassage und drückte ihm dann meine Lippen auf dem Mund, um ihn meinen Atem einzuhauchen. Blut und Tränen vermischten sich in meinem Gesicht miteinander. Immer und immer wieder schluchzte ich, während ich um sein Leben kämpfte.

Ich hatte schon einmal versagt, damals auf meinem sechsten Geburtstag. Das würde mir kein zweites Mal passieren. Nie wieder. Ich würde nicht zulassen, dass mich noch jemand verließ. Onkel Roderick würde leben!

Wieder begann ich mit der Herzmassage, wechselte zu seinem Mund, nur um meine Hände dann erneut auf sein Herz zu drücken. „Komm schon, wach auf!“, befahl ich mit zitternder Stimme. Ich konnte kaum noch was sehen. Meine Sicht war von den Tränen völlig verschwommen und meine Schultern schmerzten noch vom Kampf, aber ich hörte nicht auf. Ich konnte nicht aufhören. Und wenn ich hier Stunden zubrachte, ich würde nicht aufhören, bis er die Augen wieder aufgeschlagen hatte.

„Shanks.“

„Wach auf. Bitte.“ Mit dem Handrücken wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht, legte sie dann erneut auf seinen Brustkorb.

„Shanks.“ Eine Hand berührte mich vorsichtig an meinem unverletzten Arm.

Ich zählte im Geist mit. Eins, zwei, drei …

„Shanks, hör auf.“

Ich spürte Reese' Wärme hinter mir. Er war so nahe, doch er konnte die Kälte nicht vertreiben, die sich immer tiefer in meine Knochen zu graben schien und mein Herz langsam zum Erstarren brachte. „Wach auf, wach auf, wach auf.“

„Er wird nicht aufwachen.“ Reese versuchte leicht an meinem Arm zu ziehen, doch ich schüttelte ihn nur ab, drückte meine Lippen erneut auf die von Onkel Roderick. „Shanks, er ist tot.“

Ich schüttelte den Kopf, begann wieder rhythmisch damit seinen Brustkorb zusammenzupressen. Eins, zwei, drei …

„Shanks, es ist zu spät.“ Wieder griff er nach meinem Arm und versuchte mich wegzuziehen. „Er wird nicht mehr aufwachen, er ist …“

„Nein!“ Ich schlug nach ihm. Ich wollte das nicht hören. Er war nicht tot, ich musste nur weitermachen, irgendwann würde er wieder anfangen zu atmen.

Als er mich nicht loslassen wollte, schlug ich noch mal nach ihm und genau wie eben zuckte er nicht einmal mit der Wimper. Es war ihm völlig egal, dass ich dabei die Wunde an seinem Oberarm traf. Er ließ mich einfach gewähren. „Nein, nein, nein!“ Immer wieder schrie ich ihm dieses Wort entgegen. Meine Verzweiflung spiegelte sich in seine Augen wieder.

„Er darf nicht tot sein, nein, nicht er, ich brauche ihn doch, oh Gott, ich brauche ihn doch. Er darf nicht tot sein, bitte nicht, bitte.“ Die Kraft verließ mich einfach. Schluchzend brach ich in seinen Armen zusammen und krallte mich in sein zerfetztes Hemd. Mein Onkel war tot. Genau wie meine Eltern. Er würde nie wieder zu mir zurückkommen. Nie wieder würde ich von ihm verursachte Katastrophen abwenden müssen, nie wieder sein Lachen hören, oder den leicht abwesenden Ausdruck in seinem Gesicht sehen, wenn er durchs Haus lief und versuchte sich daran zu erinnern, was er gerade hatte tun wollen. Ich würde ihn morgens nie wieder darauf hinweisen müssen, dass er sein Hemd falsch geknöpft hatte oder ihn einfach dabei zusehen können, wie er in seinem Sessel eingeschlafen war.

Onkel Rod war weg und er würde nie wiederkommen.

Verzweifelt krallte ich mich fester in Reese' Hemd, drückte das Gesicht gegen seine Brust, doch auch diese Nähe konnte mich nicht trösten. Ich hatte Venator werden wollen, um diesen Schmerz nie wieder spüren zu müssen, doch ich hatte versagt. Ich hatte meinen Onkel nicht retten können.

„Schhh.“ Beruhigend strich Reese mir über den Rücken, versuchte mir etwas Halt zu geben, doch es brachte nichts. „Es tut mir leid.“ Er drückte mir einen Kuss auf den Scheitel. „Es tut mir leid.“

Jetzt hatte ich nur noch Wynn, sie war alles, was mir noch geblieben war.

Ich drehte den Kopf, doch durch den Tränenschleier konnte ich meine Schwester kaum erkennen.

Auch ihr Schluchzen lag in der Luft. Sie hatte es auch verstanden, vielleicht sogar vor mir. Sie wusste, dass wir ab jetzt nur noch uns beide hatten. Niemand sonst war noch übrig.

„Wynn“, schluchzte ich. „Wynn.“ Ich zwang meine verkrampften Finger sich zu lösen, sah nur noch meine kleine Schwester, die ohne mich genauso verloren war, wie ich ohne sie.

Wie ich zu ihr gelang, wusste ich nicht, doch dann kniete ich neben ihr und drückte sie an mich, klammerte mich an ihr fest. Jetzt hatten wir nur noch uns.

Wiegend saßen wir in der Ecke neben meinem toten Onkel, als in der Ferne die Sirenen der Polizei und der Krankenwagen ertönten. Doch sie kamen zu spät.

Ich schloss die Augen, klammerte mich fester an meine kleine Schwester und übergab mich meinen Tränen.

 

°°°

 

„Er hat mit ihnen gesprochen?“ Der Polizist hob zweifelnd eine Augenbraue.

Ich war zu müde, um ihn für seinen spöttischen Ton anzufahren. „Das habe ich doch wohl gerade gesagt.“ Mit der unverletzten Hand rieb ich mir über die brennenden Augen. „Er sprach sehr abgehackt, zischend, irgendwie guttural, aber ja, er hat deutlich gesprochen.“

„Aha und was hat Ihnen der sprechende Proles gesagt?“

„Dass er mich fressen will und es genießen wird.“ Natürlich konnte ich die Skepsis des Polizisten verstehen. Wäre ich nicht selber dabei gewesen, würde es mir sicher nicht anders gehen, aber das war mir im Moment egal. Eigentlich war mir im Moment alles egal. Und ganz besonders dieser Polizist.

„Aha“, machte er und schrieb etwas in seinen kleinen Notizblock. Vielleicht so etwas wie Verdacht auf Geisteskrankheit. Sollte er doch.

Als er sein Gewicht verlagerte, gaben seine Schuhe auf dem gewienerten Boden des Krankenhauses ein quietschendes Geräusch von sich. Hinter ihm eilte eine Krankenschwester den Korridor entlang und verschwand in das Zimmer neben uns – Wynns Zimmer.

Ich folgte ihr mit den Augen. Mein Puls beschleunigte sich und einen Moment wollte ich von dem Stuhl im Wartebereich aufspringen und nachsehen, ob alles mit ihr in Ordnung war, doch das wäre albern. Wynn hatte nur ein gebrochenes Bein. Ich war dabei gewesen, als sie die Diagnose gestellt hatten und hatte auch dabei zugesehen, wie sie ihr den Gips angelegt hatten, da ich mich geweigert hatte, von ihrer Seite zu weichen.

Meine eigene Behandlung hatte parallel zu ihrer stattgefunden. Nachdem man mich in eines dieser Krankenhaushemdchen gesteckt hatte, wurden die Wunden an meinem Körper systematisch abgearbeitet.

Die Narbe an meiner Lippe hatte sich nur oberflächlich geöffnet, dafür hatte ich aber eine Platzwunde an der Schläfe, die mit sieben Stichen hatte genäht werden müssen. Eine geprellte Hüfte, Abschürfungen an jeder nur erdenklichen Stelle und darüber wo ich überall blaue Flecken bekommen würde, wollte ich gar nicht nachdenken. Mein rechter Arm war komplett eingewickelt und meine Schultern so dick bandagiert, dass ich mich gar nicht richtig bewegen konnte. Aber trotz allem spürte ich keine Schmerzen, nur diese bleierne Müdigkeit, die mich dazu aufforderte, ganz schnell ein weiches Bett zu suchen und mehrere Tage durchzuschlafen. Das war das einzige Gefühl neben dem dumpfen Schmerz in meinem Herzen, der sich dort häuslich eingerichtet hatte.

Ich richtete meinen Blick wieder auf den Polizisten, der eifrig Notizen über unser Gespräch machte. Sie hatten mir nicht gesagt, was bei mir zu Hause los war. Nachdem sie unser Haus samt Sanitätern und Venatoren gestürmt hatten, waren wir alle sofort ins Krankenhaus verfrachtet worden. Nick, Wynn und ich waren auf Krankenliegen geschnallt worden, Reese hatten sie einfach mit zu Nick in den Wagen gesetzt. Nur mein Onkel war zurück geblieben. Ganz allein unter all diesen Fremden. Kalt. Tot.

Um Nick stand es schlecht. Ich wusste nicht genau was los war, das hatte mir Reese nicht sagen wollen, doch der Ausdruck in seinem Gesicht hatte ausgereicht um alles zu erfahren. Egal warum Nick nach dem Sturz das Bewusstsein verloren hatte, es war schlimm.

Reese war nur kurz bei mir gewesen um es mir zu sagen. Ein Verband um den Kopf, um den linken Unterarm und die Brust. Ihn hatte es nicht ganz so schlimm wie mich erwischt, doch sein seelischer Schmerz stand meinem in Nichts nach. Genau wie ich hatte er versagt, er hatte es nicht geschafft, seinen Schutzbefohlenen zu verteidigen. Nick war sein kleiner Bruder und auch wenn er noch nicht tot war, so stand es nicht gut um ihn.

„Und was ist dann geschehen?“, fragte der Polizist und riss mich damit aus meinen Gedanken. „Was passierte, nachdem der Proles gesprochen hatte?“

Ich war viel zu erschöpft, um ihn für seine Herablassung anzufahren. „Ich weiß nicht genau. Er hatte mich auf den Boden gedrückt und dann hat Reese nach Nick gerufen.“

Mit schnellen Schritten eilten zwei Krankenschwestern an uns vorbei.

Meine Blicke folgten ihnen. Dieses Mal ging es nicht in Wynns Zimmer. Sie liefen zwei Türen weiter auf der gegenüberliegenden Seite und verschwanden in dem Raum. Kaum ein Meter hinter ihnen folgte noch ein Pfleger, der sicher besser als Türsteher geeignet wäre.

„Es ging alles so schnell“, berichtete ich weiter und fragte mich, warum er mich nicht einfach in Ruhe lassen konnte. Er könnte doch morgen wiederkommen oder nächste Woche. Oder niemals.

„Versuchen Sie trotzdem, sich zu erinnern.“

Ich konnte mich erinnern, an jeden einzelnen Augenblick. Es war wie ein Film, ein grausamer Streifen, der ohne Pause in einer Endlosschleife in meinem Kopf ablief. Dabei würde ich es so gerne vergessen. Ich würde all dies so gerne verdrängen und ungeschehen machen.

„Ich weiß dass es schwer ist, Frau Shanks, aber jetzt ist …“

„Sie wissen gar nichts.“ Es war kein Angriff, einfach nur eine schlichte Feststellung. „Sie können es gar nicht wissen, weil Sie nicht dabei waren.“

Aus dem Zimmer, in dem der Pfleger verschwunden war, ertönten laute Stimmen. Eine von ihnen war mir mehr als bekannt, nur diese verzweifelte Wut darin hatte ich noch nie gehört.

„Bitte konzentrieren Sie sich Frau Shanks.“

Als die Stimmen in dem Raum lauter wurden, hatte der Polizist meine Aufmerksamkeit vollends verloren.

„Frau Shanks, bitte …“

„… hier rauskommen!“

Die beiden Krankenschwestern stolperten rückwärts aus dem Raum. Während die eine mehr als entrüstet über das Verhalten ihres Gegenübers wirkte, war bei der anderen nichts als Mitgefühl wahrzunehmen.

„Herr Tack“, versuchte es der Pfleger, der auch halb in der Tür stand. „Ich kann verstehen dass Sie …“

„Verschon mich mit deinem Scheißgelaber und verpiss dich!“

„Herr Tack, wir können …“

„Hau ab!“ Er versetzte dem Pfleger einen heftigen Stoß und knallte ihm dann die Tür vor der Nase zu.

Der Pfleger ging sofort nach vorne und griff nach dem Türknauf, doch die jüngere Krankenschwester legte ihm eine Hand auf den Arm. „Nicht, lass ihn.“

Ich sah wie er die Lippen aufeinander drückte, dann aber von der Klinke abließ und sich geschlagen von der Tür abwandte.

Die drei hatten sich noch nicht einmal richtig in Bewegung gesetzt, da erhob ich mich von meinem Platz und achtete auch nicht auf den Polizisten. „Nur fünf Minuten“, gab ich ihm zu verstehen. Ich musste einfach nach Reese sehen. Da stimmte etwas nicht.

Auf halber Strecke kreuzte ich den Weg mit dem Krankenpersonal. An der Tür hielt ich mich nicht lange mit klopfen auf, sondern öffnete sie gleich, steckte zögernd den Kopf hinein.

„Hab ich nicht gesagt, ihr sollt verschwinden?!“

Er sah nicht mal auf, als er das sagte. Gebeugt stand er am Fußende von Nicks Bett und stützte sich dort mit den Armen auf. Er wirkte völlig fertig. Seine Haare standen ihm zu allen Seiten ab, als sei er ständig mit den Händen hindurch gefahren und sein Gesicht … die Züge darin wirkten völlig vergrämt.

„Lasst mich doch einfach in Ruhe.“

Ich schlüpfte in den Raum hinein, schloss die Tür leise hinter mir, traute mich aber nicht, näher zu treten. Wortlos stand ich einfach da und wagte es nicht, den Mund aufzumachen. Dabei wäre es nur eine kleine Frage gewesen, doch ich war mir nicht sicher, ob ich die Antwort verkraften würde. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich sie überhaupt hören wollte.

Mein Blick huschte zu Nick. Regungslos lag er in einem von diesen sterilen Krankenhausbetten. Mit Kabeln und Schläuchen war er an Maschinen angeschlossen, die in immer wiederkehrenden Rhythmen Pieptöne von sich gaben. Seinen Kopf hatte man in einen dicken Verband eingewickelt, der sich kaum von der blassen Hautfarbe abhob.

Er sah schlimm aus, so leblos. Nicht als würde er schlafen, sondern so, als wären die Maschinen alles was ihn noch am Leben erhielt.

„Sein Herz hat zweimal aufgehört zu schlagen.“

Als ich meinen Blick wieder auf Reese richtete, bemerkte ich, dass er mich beobachtete.

„Im Krankenwagen auf dem Weg hierher. Zweimal. Sein Herz hat einfach aufgehört zu schlagen.“ Er richtete seinen Blick auf das Gesicht seines kleinen Bruders. „Ohne Vorwarnung, einfach so.“

Nun wagte ich es doch, meinen Platz an der Tür zu verlassen und an seine Seite zu treten. Es war nicht halb so schwer, wie ich befürchtet hatte. Er schüttelte mich nicht mal ab, als ich zögernd eine Hand auf seine Schulter legte. „Aber wenigstens lebt er.“

Reese schnaubte und ließ den Kopf wieder hängen. „Er liegt im Koma.“

Diese Worte trafen mich völlig unvorbereitet. Ich stand nur da und konnte nichts anderes tun, als ihn anstarren. Nick sollte im Koma liegen? Aber ich dachte er sei nur narkotisiert, oder wegen irgendwelcher Schmerzmittel außer Gefecht gesetzt. Reese musste sich irren. Nick konnte nicht im Koma liegen.

„Die Ärzte haben noch nicht alle Ergebnisse der Test, aber so wie es aussieht …“ Bei dem letzten Wort brach seine Stimme weg und dann spürte ich das Beben seiner Schultern. Er versuchte es zu unterdrücken, aber da war eine Träne auf seiner Wange.

Er meinte das ernst. Nick lag im Koma.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, wusste nicht ob es in so einem Moment überhaupt Worte gab, also tat ich das Einzige was mir übrig blieb. Ich zog ihn in meine Arme und tat das, was er getan hatte, als mir klar wurde, dass ich meinen Onkel nicht würde retten können. Ich gab ihm die Möglichkeit, einfach zusammenzubrechen, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Reese weinte nicht laut, schluchzte nicht wie ich es getan hatte, oder schrie seinen Schmerz zur Welt hinaus. Er schlang einfach nur die Arme um mich und hielt mich so fest, als wäre ich der einzige Halt der ihm noch geblieben war. Sein Gesicht, an meiner Halsbeuge vergraben, zitterte er wie Espenlaub und mir wurde klar, dass er sich in diesem Moment genauso fühlen musste wie ich.

Nein, sein Bruder war nicht tot, aber er lag im Koma und das war für ihn mindestens genauso schlimm. Nick würde in nächster Zeit nicht mehr lächeln, keine seltsamen Witze reißen, oder mit Cherry sein Frühstück teilen.

Cherry.

Mein Augen begannen zu brennen. Wie oft hatte ich diesen Namen aus seinem Mund gehört?

Ich liebe dich.

Oh Gott. Ich drückte Reese fester an mich. Die letzten Worte, die ich mit ihm getauscht hatte waren voller Anschuldigungen und Verzweiflung gewesen. Er liebte mich, er wollte dass zwischen uns alles wieder in Ordnung kam, doch das war nicht möglich gewesen. Er war mein Freund, genau wie Evangeline und Domenico, doch jetzt lag er in einem Schlaf, aus dem es kein Erwachen gab.

Warum tat das Schicksal sowas? Warum geschahen immer und immer wieder schlimme Dinge? Warum immer den Menschen, die ich gerne hatte? Ich verstand es nicht.

„Er wird nicht mehr aufwachen“, flüsterte Reese. „Die Ärzte sagen … er wird nicht mehr aufwachen.“

Nein. Bitte nein. „Sie irren sich. Sie müssen sich einfach irren.“ Etwas anderes durfte einfach nicht eintreten. Genau wie ich, hatte Reese in seinem Leben schon genug durchgemacht. Es wäre einfach nicht fair, wenn er seinen kleinen Bruder, für den er sich sein ganzes Leben lang aufgeopfert hatte, auf diese Art verlieren würde. „Du musst nur daran glauben, dann wird es wahr.“

Er gab ein Geräusch von sich, das sich nach einem abgehackten, sehr traurigen Lachen anhörte.

„Sie irren sich“, flüsterte ich noch einmal und drückte ihn fester an mich.

„Ich wünschte, ich könnte glauben. So wie du.“

„Das kannst du.“ Man musste es nur wollen, dann konnte fast alles wahr werden.

„Ich will es.“ Seine Worte waren ein Hauch auf meiner Haut, genau wie die Lippen die darüber streiften. Einmal, zweimal. Ein sanfter Kuss.

Ich verkrampfte mich in seinen Armen, verstand nicht, was da plötzlich geschah, warum mein Herz plötzlich schneller schlug. Das war weder der richtige Ort noch die richtige Zeit für so etwas, und doch küsste er mich. Nur kleine, zärtliche Berührungen, die mir durch Bein und Mark fuhren.

Als seine Hand dann von meinem Rücken in meinen Nacken rutschte, bekam ich eine Gänsehaut. Bis auf meine Unterwäsche trug ich immer noch nur dieses dünne Krankenhaushemdchen und das war am Rücken nun mal sehr luftig.

„Reese.“

„Schhht.“ Seine Lippen wanderten über meinen Hals, hinauf zu meinem Kinn, doch bevor er meine Lippen berühren konnte, stieß ich ihn mit aller Kraft von mir. Keuchend taumelte ich von ihm weg und konnte nichts anderes tun, als ihn mit schreckensweiten Augen anzustarren. Es erschreckte mich, wie sehr ich das wollte und es erschreckte mich, wie viel Angst ich davor hatte.

Stumm standen wir voreinander. Kein Wort fiel. Da waren nur diese Blicke, diese Verzweiflung, die uns in diesem Augenblick zu Dingen trieb, die völlig unangebracht waren.

Die Gedanken in meinem Kopf rasten, aber ich bekam keinen einzigen davon zu fassen. Was war hier gerade geschehen? Warum war es geschehen? Ich verstand es nicht und im Moment wollte ich es auch nicht verstehen. Es ging nicht. Nicht jetzt, nicht nachdem was heute alles geschehen war.

Ohne mir Zeit zum Nachdenken zu geben, wirbelte ich herum und ergriff die Flucht. Die Türklinke hielt ich bereits in der Hand, als seine Stimme mich stoppen ließ.

„Glaubst du wirklich, ich hätte diese Nacht vergessen?“, fragte er leise. „Glaubst du wirklich, dazu wäre ich fähig?“ Er schnaubte. „Das hätte ich nur zu gerne, aber sie geht mir nicht aus dem Kopf. Du gehst mir nicht aus dem Kopf und ich werde nicht mehr stumm daneben stehen und so tun als wäre da nichts.“

Oh mein Gott, das konnte doch nicht sein. Aber seine Worte, ihre Bedeutung. „Du kannst dich erinnern.“ Nur flüsternd kamen diese Worte über meine Lippen. Und sie waren keine Frage, sie waren eine Feststellung.

„Ja.“ Sein Blick war so intensiv auf meinen Rücken gerichtet, dass ich ihn in jeder Zelle spüren konnte „Und ich könnte dir immer noch den Hintern dafür versohlen, dass du mir nicht gesagt hast, dass du noch Jungfrau warst.“

Nein, nein, nein, warum sagte er mir das? Warum jetzt? Warum nicht schon vor einer Woche, oder gestern?

„Ich werde nicht länger zur Seite treten und jemand anderem den Weg frei machen – egal ob es das Beste wäre. So edelmütig bin ich nicht.“

Ich schloss die Augen und versuchte mich so, der Realität zu entziehen.

„Du gehörst mir, Grace Shanks, merk dir das.“

Diese Worte zu hören … ich konnte es einfach nicht glauben. Ich musste träumen, obwohl es im Moment eher etwas von einem Alptraum hatte. „Nur um das mal klar zu stellen, ich gehöre nur mir allein und niemand sonst.“ Ich riss die Tür auf und machte vor Schreck fast einen Satz rückwärts.

Direkt vor mir auf Krücken, die Hand halb zum Klopfen erhoben, stand Jilin. Im Gegensatz zu mir hatte sie von irgendwoher einen richtigen Pyjama bekommen, der sie irgendwie klein und zierlich wirken ließ – ja fast zerbrechlich.

„Hatte Benedikt also mal wieder recht gehabt“, war ihre Begrüßung. Dann machte sie mit ihrer Krücke eine Bewegung, die mich dazu aufforderte zur Seite zu treten.

„Benedikt?“

„Mein Bruder.“ Sie humpelte an mir vorbei in den Raum und sah zwischen mir und Reese hin und her. „Die Staatlichen bekamen einen Auftrag herein. Ein Haus, in das drei Proles eingedrungen waren. Als er eure Namen aufschnappte wurde er hellhörig und hat mir gleich Bescheid gesagt.“ Nach einer kurzen Sondierung des Raums, entschied sie sich für den Stuhl an der Wand und ließ sich seufzend darauf fallen. Dann glitten ihre Augen wieder zwischen uns hin und her. „Warum machen die besten Leute eigentlich immer die größten Probleme?“

Wollte sie darauf eine Antwort?

Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie meine stumme Frage verneinen. „Ich habe gehört was passiert ist. Es tut mir leid.“

Ich drückte die Lippen fest aufeinander. Ihre Beileidsbekundungen waren nichts wert. Sie hatte Onkel Roderick ja nicht einmal gekannt.

„Warum bist du hier.“ Reese war von ihrer plötzlichen Anwesenheit wohl genauso begeistert wie ich. Er wandte sich von ihr ab und stützte sich wieder ans Fußende von Nicks Bett.

„Zum einen wollte ich sehen, wie es euch geht und zum anderen bin ich hier, um euch helfen zu verstehen.“ Seufzend stellte sie ihre Krücke an die Wand und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Wahrscheinlich interessiert euch das im Moment herzlich wenig, aber manchmal ist es einfacher wenn einem alle Fakten bekannt sind.“

Reese ließ den Kopf hängen. „Was für Fakten?“

„Wir haben herausgefunden, wer der Mann war, der in der Gilde die Käfige geöffnet hat.“

Diese Information schlug bei mir ein wie eine Bombe, aber es war noch nichts zu dem, was folgen würde.

„Sein Name war Torben Breslin.“

Reese fuhr herum. „Was?!“

Mir sagte der Name nichts, aber so blass wie er geworden war, handelte es sich bei dem Eindringling wohl um einen Bekannten von ihm.

„Sag mir, dass das nicht wahr ist.“ Reese ballte die Hände zu Fäusten. „Sag mir, dass das nicht stimmt.“

Jilin ließ sich nicht anmerken was in ihrem Kopf vor sich ging. „Es tut mir leid, aber das kann ich nicht. Der Eindringling war Torben Breslin. Wir haben seine Daten überprüft. Außerdem ist er bei der Polizei einschlägig bekannt.“

Reese schüttelte den Kopf. „Nein“, flüsterte er. „Nein!“ Voller Wut wirbelte er herum und schlug die Faust gegen die Wand. Es blieb eine leichte Delle zurück. Und eine rote Spur. „Das hätte er nicht tun dürfen. Er hätte nur mich angreifen dürfen. Nur mich und niemand anderes.“ Noch ein Schlag. Dieses Mal nicht so nachdrücklich, eher verzweifelt. „Verdammt!“

Reese so zu sehen tat mir weh, doch als ich einen Schritt auf ihn zumachen wollte, schüttelte Jilin den Kopf. Einen Moment war ich versucht, ihre Anweisung einfach zu ignorieren, aber dann verstand ich. Das war ein innerer Kampf, bei dem ihm niemand helfen konnte. Was auch immer gerade in seinem Kopf vor sich ging, es war etwas, das er mit sich selber ausmachen musste.

Aber auch wenn ich ihm nicht helfen konnte, so konnte ich doch herausfinden was hier eigentlich los war. „Wer ist Torben Breslin?“

Jilin bedachte mich mit einem prüfenden Blick. „Sagt dir der Name Taid Breslin etwas?“

„Taid Breslin?“ Ich wollte schon den Kopf schütteln, als es mir wie Schuppen von den Augen fiel. „Meinst du Taid?“

„Ich meine den Mann, der die illegalen Proles-Kämpfe ausgerichtet hat, die du und Reese so lange vor mir verheimlicht habt.“ Der Vorwurf schwang in ihren Worten mit.

„Lass sie in Ruhe“, knurrte Reese Jilin an und bekam dafür eine hochgezogene Augenbraue. „Sie hat nichts gesagt, weil ich das …“

„Weil du das so wolltest?“ Jilin schüttelte den Kopf. „Grace ist vielleicht noch jung, aber sie ist nicht dumm. Sie hat es verheimlicht, weil sie es so wollte.“

„Sie hat es verheimlicht, weil ich es ihr befohlen habe.“

„Ich habe es verheimlicht, weil ich es für das Richtige hielt“, unterbrach ich die beiden. Ich hatte es getan um Reese zu helfen, um meine Freunde und Familie zu schützen und um Nick und Celina zu unterstützen.

Jilin schüttelte den Kopf, als könnte sie so viel Dummheit gar nicht glauben. „Wie dem auch sei. Torben Breslin ist der große Bruder von diesem Taid. Der Mann ist nicht dumm, aber der Schicksalsschlag seines Bruders hat ihn wohl blind für die Folgen seines Handelns gemacht. Es war Rache.“ Jilin richtete ihren Blick auf Reese. „Rache an der Gilde, den Staatlichen und der Polizei, weil wir Taids Laden dicht gemacht haben.“

„Es war Rache an mir“, knurrte Reese. „Und ich war nicht mal in der Gilde gewesen.“

Jilin schüttelt bereits den Kopf, bevor er fertig war. „Zu diesem Zeitpunkt wusste Taid noch gar nicht, dass du bei der Polizei gewesen bist, das hat er erst später erfahren.“

Reese richtete seinen Blick auf sie. „Woher willst du das wissen?“

„Weil er bei seiner Verhaftung noch keine Ahnung hatte und ziemlich überrascht, ja sogar ungläubig wirkte. Er hatte wohl nie im Leben damit gerechnet, dass du den Mund aufmachen würdest.“

Wäre ich nicht gewesen, hätte er das wohl auch nicht. Er war nur zu der Polizei gegangen, damit ich eine Zukunft haben konnte. Eine ungewisse Zukunft, in der bereits jetzt Teile fehlten. Onkel Roderick. Nick. Die Venatoren. Und vielleicht auch mein Mentor, wenn er ins Gefängnis musste.

Reese schloss und öffnete seine Faust. Seine Knöchel waren aufgeplatzt und blutverschmiert. „Die Polizei hat ihn also gefasst?“

„Ja, gleich nachdem die Venatoren ihn zufällig in die Finger bekommen hatten.“ Eiskalt kamen diese Worte aus Jilins Mund und ich wollte gar nicht wissen, was genau sie damit meinte. „Sein großer Bruder hat uns direkt zu ihm geführt. Taid hatte sich bei ihm in der Wohnung versteckt.“

„Das heißt, er wurde jetzt der Polizei übergeben?“, versicherte ich mich.

Jilin nickte. „Das hat Benedikt mir erzählt.“ Sie verzog grimmig die Lippen. „Ich sitze ja im Moment hier fest und kann nichts weiter tun, als darauf zu warten, dass ich wieder nach Hause kann. Gehirnerschütterung. Sie wollen mich vorsichtshalber eine Nacht zur Beobachtung hier haben.“

Eine Nacht? War wirklich erst alles gestern passiert? Es kam mir vor, als seien seit dem Vorfall in der Gilde bereits Jahre vergangen. Selbst der Mond hatte sich bereits von der Nacht verabschiedet und der aufgehenden Sonne Platz gemacht. „Weißt du wie es Aziz geht?“

Bei dem Namen verschwanden alle Emotionen aus Jilins Gesicht. „Besser“, war alles was sie antwortete.

Besser war nicht gut, so viel war klar, aber besser bedeutete wenigstens, dass er lebte und sich vielleicht sogar auf dem Weg der Besserung befand.

Was war das eigentlich zwischen den beiden? Ich wurde daraus wirklich nicht schlau.

„Er wird überleben“, fügte Jilin noch leise hinzu und auch wenn sie es nicht zeigen wollte, ich sah ihre Erleichterung. Als sich von hinten aus dem Korridor Schritte näherten, wandte ich mich um und hätte fast laut aufgeseufzt.

„Frau Shanks, können wir dann bitte die Befragung fortführen?“

Am liebsten hätte ich „Nein!“ gebrüllt und dem Polizisten die Tür vor der Nase zugeknallt, aber ich wusste, dass ich mich nicht ewig davor drücken konnte.

„Frau Shanks wird kein Wort mehr ohne den Gildeanwalt sagen.“

Überrascht wandte ich mich zu Jilin um. Hatte ich mich gerade verhört?

„Frau Halco, es ist nur eine kurze Befragung zu den Ereignissen der …“

„Diese Ereignisse stehen im Zusammenhang mit einem anderen Verfahren und daher ist es Frau Shanks untersagt, auch nur ein weiteres Wort darüber zu verlieren.“

Danke, formte ich mit den Lippen in ihre Richtung. Sie hatte wahrscheinlich gar keine Ahnung, wie dankbar ich ihr in diesem Moment war.

„Frau Halco“, versuchte der Polizist es noch einmal. „Soweit ich informiert bin, wurde Frau Shanks aus der Gilde ausgeschlossen und damit verfällt der Zuständigkeitsbereich des Anwalts der Gilde.“

„Junger Mann.“ Schwerfällig erhob Jilin sich auf die Beine und hüpfte auf einem Bein humpelnd zum Türrahmen, um sich dort abzustützen. „Sicher kennen sie sich ein wenig im Paragraphendschungel aus. Dann ist ihnen sicher auch bewusst, dass so ein Ausschluss nicht von heute auf morgen vonstattengeht. Frau Shanks ist im Moment nur suspendiert und damit immer noch Teil der Gilde. Und durch die aktuellen Ereignisse ist es sowieso fraglich, ob sie dem Verband der Venatoren noch verwiesen werden kann.“ Sie gab mir ein unauffälliges Zeichen mit der Hand zum Verschwinden, ohne den Blick von dem Polizisten abzuwenden. „Außerdem sollte Ihnen bewusst sein, dass unser Anwalt auch Mandanten außerhalb der Gilde annehmen kann, wir haben schließlich keinen Exklusivvertrag mit ihm.“

Oh je, jetzt schien Jilin richtig Fahrt aufzunehmen. Ich sah noch einmal zu Reese, begegnete seinem stummen Blick, der in diesem Moment rein gar nichts preis gab und wandte mich dann ab. Vielleicht sollte ich mich langsam doch hinlegen. Oder mir wenigstens einen Platz zum Sitzen suchen. Aber nicht bevor ich nicht noch mal nach Wynn gesehen hatte. Vielleicht konnte ich mir auch einfach einen Platz bei ihr suchen, dann musste ich sie überhaupt nicht allein lassen.

Als ich an der Tür zu ihrem Zimmer stand, zögerte ich. Es war albern und ich wusste auch nicht warum ich es tat, doch für einen kurzen Moment konnte ich den Raum nicht betreten. Ich musste mich richtig dazu zwingen hineinzugehen. Sofort suchten meine Augen nach ihr.

Die Hände im Schoß zusammengekrampft, saß sie aufrecht in ihrem Bett. Ihr stumpfer Blick war zum Fenster hinaus gerichtet. Ihre Wangen waren feucht von den Tränen und in ihren Augen lag so viel Verzweiflung, dass es kaum mit Händen zu greifen war.

„Wynn“, flüsterte ich und allein bei dem kleinen Geräusch, zuckte sie so heftig zusammen, dass das ganze Bett wackelte. Sie drückte sich die Hände auf die Ohren, kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf.

Wie damals als unsere Eltern gestorben waren. Es fing wieder von vorne an, aber dieses Mal hatten wir keinen Onkel Roderick, der uns helfen konnte zurück ins Licht zu finden. Jetzt waren nur noch sie und ich übrig, also würde ich es wohl sein müssen, die ihr zurück ins Leben half. Daher verbot ich mir auch, dem Brennen in meinen Augen nachzugeben, als ich mich zu ihr auf die Bettkante setzte und einfach ihre Hände von den Ohren wegzog.

Sie wehrte sich, versuchte mich halbherzig abzuschütteln, aber als ich nicht von ihr abließ, ergab sie sich einfach. Was mir dabei wirklich Sorgen bereitete war, dass sie dabei kein Geräusch von sich gab. Kein Schreien, kein Schluchzen. Nur lautloses Weinen, genau wie ich es als kleines Kind getan hatte.

„Wynn.“ Ich ließ eines ihre Handgelenke los und griff nach den Kleenex auf dem Nachttisch. „Ich lass dich nicht allein. Wir schaffen das schon.“ Ich zupfte zwei Tücher heraus und begann damit ihre Wange abzutupfen. „Hörst du? Ich bin bei dir.“

Sie murmelte etwas und kniff dann die Lippen zusammen?

„Was?“ Ich ließ die Hand sinken. „Wynn, bitte, sieh mich an.“ Schließ mich nicht aus, lass mich nicht allein, du bist doch alles, was ich noch habe.

„Du bist Schuld“, sagte sie dumpf und richtete ihren Blick auf mich. Neue Tränen liefen ihr übers Gesicht und tropften ihr in einem nicht enden wollenden Strom vom Kinn. „Du bist Schuld, dass diese Monster in unser Haus gekommen sind.“

Mir entglitt jeder Muskel im Gesicht. Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte.

„Du bist schuld dass sie mich und Onkel Rod angegriffen und in den Keller gejagt haben.“

Nein, nein, nein. Ich schüttelte den Kopf, wusste nicht mal warum ich das tat, aber das war wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Das konnte sie nicht wirklich so meinen.

„Du bist schuld, dass mein Bein gebrochen ist“, zischte sie mir entgegen und schlug meine Hand weg. „Du bist schuld dass sie Onkel Rod getötet haben.“

„Nein, Wynn, das meinst …“

„Du bist schuld an seinem Tod!“, schrie sie mir mitten ins Gesicht. „Diese Viecher sind nur in unser Haus gekommen, weil du sie hingeführt hast!“

Ich wusste nicht warum, aber plötzlich stand ich neben ihrem Bett, die Hände zu Fäusten geballt und den Blick ungläubig auf sie gerichtet. „Wynn, ich …“

„DU BIST SCHULD!“

Meine Augen brannten, aber ich weigerte mich, dem nachzugeben. Ihre Worte taten so weh. Sie waren wie ein Dolchstoß mitten ins Herz.

„Du ganz alleine bist schuld daran.“

„Glaubst du, das weiß ich nicht?“, flüsterte ich und senkte den Blick auf den Boden. Meine Schuld war mir seit dem Moment bewusst, als Drei/siebenunddreißig durch unser Küchenfenster gesprungen war. „Meinst du ich hab das so gewollt?“ Ich schüttelte den Kopf. „Er war auch mein Onkel, falls du es vergessen hast, der einzige außer dir, der mir nach dem Tod unserer Eltern noch geblieben ist.“

„Ja und jetzt ist er auch weg.“ Sie schluchzte auf. „Wegen dir!“

„Hör auf damit“, bat ich sie. Sie sollte damit aufhören. Ich würde das nicht auch noch ertragen – nicht heute.

„Nein, das werde ich nicht!“, schrie sie mich an. „Ich hab dir die ganze Zeit gesagt, dass du das nicht machen sollst! Ich habe …“

„Und ich habe dir gesagt, dass du von dem Zaun wegkommen sollst!“ Die Worte waren raus, bevor ich mir überhaupt im Klaren darüber war.

Völlig perplex verstummte Wynn einen Moment, bevor sie unverständlich das Gesicht verzog. „Was?“

„Guck mal, Gracy, der lustige Hund. Ich habe ihn Plüsch genannt, weil er so plüschig aussieht“, sagte ich sehr ruhig und konnte dabei zusehen, wie ihr jeder Gesichtsmuskel entglitt. Es war mir egal. Ich war verletzt und wollte, dass sie diesen Schmerz genauso spürte wie ich. Diese Schuld, die meine Seele belastete und immer einen schwarzen Fleck darauf zurücklassen würde. Mit den nächsten Worten gab ich ihr den Rest. „Komm, Hundi, Hundi, Hundi.“

Wynn wurde weiß wie die Wand hinter ihr.

„Du hast sie damals in den Garten gelockt. Obwohl ich dir gesagt habe, du sollst da wegkommen, bist du sitzen geblieben und hast sie sogar noch angelockt, also erzähl mir nichts von Schuld, denn auch du bist schon lange nicht mehr unbefleckt.“ Erst als die Worte draußen waren, spürte ich, wie sehr sie mir auf der Seele gebrannt hatten.

„Ich war vier!“

„Ja und ich war danach eine Waise.“ Mit diesen Worten wandte ich ihr den Rücken zu und verließ das Zimmer. Ich hatte keine Tränen. Da war nur eine unglaubliche Leere in mir.

 

°°°°°

Kapitel 19

 

„Na los!“ Bay wechselte das Messer von einer Hand in die andere. „Komm endlich und zeig was du kannst.“

Der Oryx zeigte ihm die Zähne, rührte sich aber ansonsten nicht von der Stelle.

In der ganzen Arena war es mucksmäuschen still. Nur hin und wieder wurden flüsternd ein paar Worte ausgetauscht, die sich zu einem leise murmelnden Meer ausbreiteten. Die Luft war erfüllt von gespannter Erwartung und wenn eine besonders gefährliche Situation eintrat, wurde hier und da lautstark nach Luft geschnappt. Wie zum Beispiel jetzt, als Bay versuchte, dem plötzlichen Angriff des Oryx zu entgegen und beim Ausweichmanöver mal wieder sein Messer verlor. Also wirklich, vielleicht sollte man es ihm einfach an der Hand festkleben – das würde wohl viele seiner Probleme lösen.

Bays Eltern waren wohl die, die ihr Lungenvolumen am meisten beanspruchten und eine seiner kleinen Schwestern stieß sogar einen spitzen Schrei aus.

Ich verstand es nicht. Wie konnte man kleine Kinder zu so einem Bühnenspiel mitnehmen? Die Welt dort draußen war bereits grausam genug, da musste man ihnen nicht auch noch extra Alpträume verpassen – auch nicht wenn es sich dabei nur um die Abschlussprüfung des großen Bruders handelte.

Mein Blick wanderte zu den Zuschauertribünen. Heute war jeder einzelne Platz davon besetzt. Kein Sitz war leer geblieben. Sogar extra Stühle hatten aufgestellt werden müssen, um die ganzen Besucher zu fassen. Venatoren, Lehrer, Prüfer und die liebe Familie waren gekommen, denn heute waren die letzten Prüfungen in der Beluosus Akademie. Wenn wir hier und heute bestanden, durften wir die praktische Lehre bei den Venatoren im Dienst machen. Zwei weitere Jahre, dann wären wir ausgebildete Jäger.

Und ich durfte, trotz allem was geschehen war, daran teilnehmen.

Die letzten Wochen waren nicht einfach gewesen. Nach den ganzen Ereignissen war ein Sonderkomitee des Verbandes einberufen worden, um meine Lage zu prüfen und nach tagelangem Bangen hatte ich die Nachricht erhalten, dass ich meine Ausbildung wieder aufnehmen durfte – unter strenger Kontrolle und Vorbehalten. Und ich hatte nicht in die Gilde zurück gedurft. Das war eine Bedingung gewesen. Wenn ich meine Ausbildung fortführen wollte, musste ich das Praktikum bei den Staatlichen beenden. Der Grund dafür war genauso lächerlich wie einleuchtend gewesen: Sie wollten mich von Reese fernhalten.

Wegen allem was geschehen war, hatte man es für das Beste gehalten, wenn man uns eine Zeitlang trennte. Aber wenigstens hatte ich nach zwei Wochen des Zitterns weitermachen dürfen. Sowohl Jilin, als auch Herr Keiper waren dabei wohl die ausschlaggebenden Stimmen gewesen. Sie kannten mich persönlich, sie wussten wie ich arbeitete und sie waren es auch gewesen, die mehr als nur ein gutes Wort für mich eingelegt hatten.

Aber vorbei war diese Angelegenheit deswegen noch lange nicht und Normalität hatte ich bis heute nicht zurückbekommen. Wie denn auch? Alles war so anders geworden. Jede Konstante in meinem Leben war verschwunden. Ich hatte nur noch meine Ausbildung. Und Evangeline – die würde sich niemals vertreiben lassen.

Wieder schweifte mein Blick über die Zuschauerreihen, doch würde ich dort kein bekanntes Gesicht finden – zumindest keines das dort wegen mir erschienen war. Onkel Roderick war tot. Zwei Monate war es nun her, dass ich ihn zu Grabe getragen hatte, zwei Monate in denen mein Leben völlig auf den Kopf gestellt wurde. Zum Teil auch wegen meiner kleinen Schwester.

Wynn.

Bei dem Gedanken an sie, senkte ich den Blick auf meine Knie.

Sie war noch minderjährig und nach Onkel Rodericks Tod war niemand mehr übrig, der für sie das Sorgerecht beantragen konnte – niemand aus der Familie lebte noch. Natürlich, ich war bereits achtzehn, doch leider nicht in der Lage für eine weitere Person zu sorgen. Zwar hatte ich das Haus behalten können, aber ich hatte kein Geld – noch nicht.

Das war einer der Gründe, warum es so gekommen war, wie es jetzt war.

Wynn wohnte nicht mehr im Haus meines Onkels. Kurz nach seinem Tod war sie in eine Pflegefamilie gekommen. Der Tag, als sie mit versteinerter Miene unter Aufsicht eines Betreuers des Jugendamts ihre Koffer gepackt hatte, war der letzte Tag gewesen, an dem ich sie gesehen hatte. Der Moment im Krankenhaus, als ich ihr vorgeworfen hatte am Tod unserer Eltern schuld zu sein, war der letzte, an dem sie mit mir gesprochen hatte. Danach war sie mir aus dem Weg gegangen, oder war bei meinem Anblick in Tränen ausgebrochen.

Auch das war jetzt zwei Monate her.

Zwei Monate ohne meinen Onkel.

Zwei Monate ohne meine Schwester.

Zwei Monate ganz allein, in denen ich nichts anderes getan hatte, als mich auf meine Prüfung vorzubereiten, weil ich sonst vermutlich verrückt geworden wäre.

Ich wusste wo Wynn nun wohnte, hatte auch ihre Telefonnummer und obwohl ich mehr als einmal das Telefon in der Hand gehalten hatte, um mich zu entschuldigen, oder einfach nur ihre Stimme zu hören, hatte ich mich nie dazu durchringen können sie anzurufen. In den letzten Monaten hatte ich sowieso nicht viel mit anderen Menschen zu tun gehabt – jedenfalls nicht privat.

Dieser eine Tag dort unten in meinem Keller, er hatte mir alles zurückgebracht für das ich so hart gearbeitet hatte, aber dafür hatte ich alles verloren, was mir wichtig war. Der Preis war zu hoch gewesen und trotzdem machte ich weiter. Immer weiter ohne zurückzusehen oder mir die Chance zu geben um das zu trauern, was ich verloren hatte.

Es würde mich zerstören und das konnte ich nicht zulassen.

Das einzig Positive war im Moment die Tatsache, dass, wenn ich hier und heute die Prüfung bestand, meinen Ausbildungsplatz sicher hatte. Dann würde ich zur Gilde zurückkehren dürfen und musste mich nicht länger mit der blauen Uniform der Staatlichen abmühen. Die Verhandlungen waren vorbei, die Urteile gesprochen. Es gab keinen Grund mehr, mich weiter von der Gilde fernzuhalten. Und obwohl ich bei den Staatlichen viel erlebt hatte, wollte ich unbedingt zurück. Diese beiden Einrichtungen waren so verschieden wie Tag und Nacht. In der Gilde fühlte ich mich einfach wohler. Sie war alles, was mir noch geblieben war.

Die plötzlichen Beifallsrufe rissen mich aus meinen Gedanken.

Mitten in der Arena stand Bay schwer atmend über dem toten Oryx. Er blutete am Arm, aber er war glücklich und grinste wie ein Honigkuchenpferd. Er hatte es geschafft, eine weitere Hürde war genommen. Jetzt würde er seine Ausbildung beginnen können um einen Weg zu beschreiten, der von Blut getränkt war.

„War das nicht phantastisch?!“, rief Evangeline mir ins Ohr und klatschte wie wild Beifall. „Er hat sich wirklich verbessert.“

Ich reagierte nicht, blieb stumm auf der Bank in dem kleinen Séparée am Zwinger sitzen und starrte zu dem toten Proles hinüber, der gerade von Helfern aus der Arena entfernt wurde. Unter ihnen war auch Domenico. Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, als er Bay gratulierte und mir wurde wieder einmal schmerzlich bewusst, wie sehr ich ihn doch vermisste.

Wir waren keine Freunde mehr.

Nach allem was geschehen war, hatten wir uns auseinander gelebt. Evangeline zu liebe pflegten wir immer noch einen freundlich Umgang miteinander und manchmal konnten wir sogar zusammen lachen, aber es war nicht mehr dasselbe – nicht mehr seit er erfahren hatte, dass ich Nick fremdgegangen war.

Nick.

Er war bis heute nicht aus dem Koma erwacht und die Ärzte zweifelten auch daran, dass es noch dazu kommen würde. Hin und wieder besuchte ich ihn, aber dann saß ich nur stumm an seinem Bett und fragte mich immer, wie das alles hatte soweit kommen können. In dem einen Moment war noch alles in Ordnung gewesen und im nächsten so aus dem Ruder gelaufen, dass ich dafür kaum Worte fand.

Und es tat so weh, ihn dort regungslos in seinem Bett liegen zu sehen. So blass und kraftlos. Wäre er doch nur nicht mit in mein Haus gekommen. Warum war er nicht einfach im Wagen sitzen geblieben?

Jedes Mal, wenn ich ihn in diesem weißen Bett sah, wurde der Kummer in mir größer. Die letzten Worte die ich zu ihm gesagt hatte, standen noch immer zwischen uns. Ich hatte ihn betrogen, er mich, aber deswegen waren wir noch lange nicht quitt.

Ich hatte ihn verletzt.

Das war es, woran ich immer denken musste, wenn ich sein regungsloses Gesicht auf diesem weißen Kissen sah. Ich hatte ihn betrogen und dann Schluss gemacht. Meine Gefühle für ihn waren nicht die gewesen, die er sich gewünscht hatte. Und das hatte er erfahren müssen, kurz bevor er ins Koma gefallen war, weil er mir helfen wollte, weil er nicht im Auto geblieben war, weil Taids Monster nicht zu bändigen waren.

Alles hatte sich verändern.

„Jetzt ist Pia dran.“ Evangeline knuffte mich mit dem Ellenbogen in die Seite und winkte unserer Klassenkameradin dann zu. „Danach kommst du an die Reihe.“ Bei diesen Worten hüpfte sie auf der Bank neben mir praktisch auf und ab. „Ich bin so aufgeregt.“

Ich ballte meine Hände zu Fäusten. Die Lederhandschuhe gaben dabei ein leises, knarzendes Geräusch von sich. Genau wie alle anderen, trug ich bereits meinen ledernen Schutzanzug. Er war unbequem, viel zu warm und erschwerte die Jagd eigentlich nur, aber es war nun mal Vorschrift ihn zur Abschlussprüfung zu tragen. Dass wir uns auf der Straße bereits Narben zugezogen hatten, war völlig unerheblich, hier drinnen durfte kein Blut fließen – zumindest nicht unseres. Und schon gar nicht vor unseren Familien.

Ich schnaubte. Das war der größte Witz des Tages. Ich hatte hier keine Familie, die schockiert sein konnte, wenn ich verletzt wurde. Genaugenommen hatte ich überhaupt keine Familie mehr, also war dieser Schutzanzug in meinem Fall überflüssig.

„Ich bin so nervös“, flüsterte sie wieder und knautschte ihre Hände im Schoß. „Was wenn ich etwas falsch mache? Wenn ich stolpere?“

Dann war es eben so.

Ich senkte den Blick auf den Schutzhelm vor meinen Füßen. Ich musste mir nicht ansehen wie Pia kämpfte, ich wusste es schon. Und dumme Gaffer hatte sie bereits genug.

„Oder wenn ich das Messer fallen lasse, so wie Bay“, überlegte Evangeline weiter.

Darauf brauchte ich nicht reagieren. Diese Fragen und Befürchtungen war ich mit ihr in den letzten Monaten so häufig durchgegangen, dass ich die Gespräche bereits alleine führen konnte. Da ich nach den ganzen Ereignissen mein Praktikum bei den Staatlichen hatte beenden müssen, war das auch nicht weiter schwer gewesen.

„Oder wenn ich Sand in die Augen bekomme?“ Sie schlug vor Schreck bei dem Gedanken gespielt übertrieben die Hände vor den Mund. „Dann wäre ich blind!“

Aber eigentlich war es sowieso egal. Ich machte einfach weiter, etwas anderes war mir ja nicht mehr geblieben. Nur noch die Jagd.

„Da steht er!“

Und selbst die war nicht mehr das, was sie einmal gewesen war.

„Guck doch mach, Grace.“

Nur noch ein Kampf, jeden Tag aufs Neue.

„Verdammt Grace!“

„Schhht!“, machte es von allen Seiten. Selbst die Prüfer drüben an ihren Tischen warfen schon mahnende Blicke in unsere Richtung.

„´tschuldigung“, murmelte Evangeline und knuffte mich dann ziemlich schmerzhaft in die Seite.

„Au! Was …“

„Guck da.“ Sie deutete zu den Tribünen auf der rechten Seite. Ganz oben, direkt unter dem leuchtend, grünen Schild für den Notausgang stand ein vertrautes Gesicht, dass ich in den letzten Wochen nur einmal gesehen hatte – und zwar im Gerichtssaal.

Die Haare trug er etwas kürzer, aber ansonsten schien er sich nicht verändert zu haben. Das gleiche markante Gesicht, dessen Züge bereits vom Leben gezeichnet waren. Die dunklen Augen, die nie preisgaben welche Gedanken sich dahinter verbargen. Und der abweisende Ausdruck, der nur selten durch ein Lächeln ersetzt wurde.

Mein Herz geriet auf eine Art aus dem Takt, wie ich es schon seit Monaten nicht mehr gespürt hatte.

Doch sein Anblick tat weh.

Seit dem Tag im Krankenhaus, hatte ich ihn nicht mehr gesprochen. Genau wie Wynn war er von heute auf morgen einfach aus meinem Leben getreten und das direkt, nachdem er mir all diese Worte an den Kopf geknallt hatte.

Ich wusste, dass es nicht allein seine Schuld war. Der Verband hatte es für besser gehalten, uns eine Zeitlang zu trennen. Man hielt es für das Beste solange die Verfahren gegen uns und Taid liefen. Das war auch ein Grund dafür gewesen, dass ich bei den Staatlichen gelandet war. Aber selbst bei dem Gerichtstermin, oder auch danach, war es zwischen uns zu keinem Kontakt mehr gekommen. Er hatte sich nicht bei mir gemeldet und ich konnte ihn einfach nicht anrufen. Nach allem was passiert war, nach allem was nun zwischen uns stand, nach allem … war ich einfach zu feige gewesen.

Wenn ich im Krankenhaus gewesen war, um Nick zu besuchen, hatte er sich nicht dort aufgehalten. Alles was ich in den letzten Monaten von ihm erfahren hatte, war aus zweiter Hand gekommen. Von anderen Praktikanten, von Gesprächen mit Jilin, Madeleine und Aziz. Und von Kanya Witmer, die beinahe täglich über uns und den Skandal um die Venatoren berichtet hatte.

Ja, Reese und ich hatten eine ganze Weile zweifelhaften Ruhm genossen. Selbst jetzt wurde ich noch oft mitten auf der Straße angesprochen. Ich hasste es, aber ich hatte mich bei dieser Frau in der Zwischenzeit revanchiert.

Bei einem Einsatz, von dem sie live berichtet hatte und mal wieder kein gutes Wort an den Venatoren im Allgemeinen und Reese und mir im Besonderen gelassen hatte, hatte ich einen Spuma in ihre Richtung gejagt. Natürlich es war mehr als nur riskant gewesen, aber diese Frau und ihre ständigen Anschuldigungen waren eine solche Belastung geworden, dass ich einfach Rot gesehen hatte und den Spuma zu ihr lockte.

Er hatte sie einfach über den Haufen gerannt. Die perfekte Frisur und das teure Kostüm waren danach im Eimer gewesen. Erst hatte ich es auf sie gehetzt und sie dann davor gerettet – vor laufenden Kameras. Ich erinnerte mich noch genau an ihren fassungslosen Blick und dem stillen Vorwurf darin, aber sie hatte mir nicht nachweisen können, dass ich es mit Absicht getan hatte. Und danach war endlich Ruhe gewesen. Keine Berichte mehr über Grace Shanks. Und auch Reese tauchte seitdem nicht mehr so oft in den Nachrichten auf.

Reese.

Ich hatte keine Ahnung wie er es geschafft hatte, aber er war noch immer Venator bei der Gilde. Vermutlich hatte Jilin ihre Finger mit im Spiel. Trotzdem stand er im Moment wohl unter strenger Aufsicht. Ihm war sogar ein Partner zugeteilt worden, damit er in Zukunft keinen Unsinn mehr anstellen konnte. Aziz. Zum Glück war der Türke hart genug im Nehmen, um sich von unserem Sonnenscheinchen nicht vergraulen zu lassen. Und zum Glück hatte er sowohl den Überfall auf die Gilde, als auch das schlechte Krankenhausessen so gut überstanden, dass er wieder arbeiten durfte. Aziz hatte an diesem Tag wirklich eine ganze Armee von Engeln gehabt, die ihre schützenden Hände über den Türken gehalten hatten.

Meinem Lehrcoach war es da nicht ganz so gut ergangen. Vom Gericht hatte er zwar nur Bewährungsauflagen bekommen, weil seine Beweggründe nicht aus Eigennutz entstanden waren, aber jetzt hatte er einen Babysitter am Hintern zu kleben, der sich einfach nicht abschütteln lassen wollte. Natürlich, er hatte die Sache völlig falsch angepackt, aber nicht um sich selber zu bereichern und das hatte der Richter ihm hoch angerechnet.

Was nun mit seiner Mutter war, das wusste ich nicht. Zwar gab es jetzt mehr Leute die über Celina Bescheid wussten, aber von denen plauderte niemand aus dem Nähkästchen.

So viel war passiert.

Ich senkte den Blick wieder, wich dem von Reese regelrecht aus. Was wollte er hier nur? Warum jetzt? Konnte er nicht einfach wegbleiben, so wie er es die letzten beiden Monate gehandhabt hatte? Nicht heute, nicht jetzt, nicht hier. Er sollte einfach wieder verschwinden, das würde es für uns alle einfacher machen.

Ich wusste, dass er mich beobachtete, spürte geradezu wie sein Blick sich in meine Seele fraß und am liebsten hätte ich ihn angeschrien, damit er das unterließ. Er sollte einfach wieder verschwinden. Noch mehr Komplikationen konnte ich im Moment nun wirklich nicht gebrauchen – nicht vor der wichtigsten Prüfung meines Lebens. Und auch sonst nicht.

Du gehörst mir, Grace Shanks, merk dir das.

Ich kniff die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Warum ließen sich diese Worte nicht einfach aus meinem Kopf vertreiben? Sie bedeuteten nichts, nicht mehr nach den ganzen Monaten.

„Grace!“ Evangeline knuffte mir ein weiteres Mal in die Seite.

„Verdammt, lass das!“ Das wurde ja langsam zu einer schlechten Angewohnheit. Und zu einer schmerzhaften noch dazu. Missmutig rieb ich mir über die Seite und funkelte sie böse an.

„Träumst du? Du wurdest aufgerufen.“ Sie zeigte zu den Prüfern auf der anderen Seite. „Zwei Mal schon!“

Erst jetzt registrierte ich, dass so gut wie die ganze Arena ihre Blicke auf mich gerichtet hatte. Pia trat bereits mit einem breiten Lächeln zurück in das Séparée und die Helfer beseitigten einen weiteren, toten Proles.

„Nun komm schon.“ Evangeline schubste mich regelrecht von der Bank. „Ab mit dir.“

Den bösen Blick sparte ich mir, war mir doch nur allzu bewusst, dass sie es eigentlich gut meinte. Doch als ich mich nach meinem Schutzhelm bückte, konnte ich nichts dagegen tun, dass mein Blick wieder nach oben zu den Tribünen wanderte, genau unter das Notausgang-Schild.

Der Platz war leer.

Reese war weg.

Das war beinahe noch schlimmer, als die ganze Zeit in der er mich mit Schweigen und Ignoranz bestraft hatte. Warum war er denn bitte hier aufgetaucht, wenn er mir nicht zusehen wollte? Oder war er gar nicht wegen mir, sondern wegen jemand anderem hier gewesen?

Mein Blick schweifte zu Pia, die Bay nach ihrem Erfolg abklatschte.

Eigentlich konnte es mir auch egal sein. Sollte er doch machen was er wollte, es interessierte mich nicht mehr. Seine Probleme waren nicht länger meine und das war auch gut so.

Ich setzte den Helm auf den Kopf und betrat den Zwinger, in dem ein knurrender Iuba auf mich wartete.

 

°°°

 

Als ich die Akademie am Nachmittag verließ, war das ein ganz komisches Gefühl. Zwei Jahre war ich hier gewesen, zwei Jahre in denen ich gelernt hatte, im Kampf gegen die Monster der Welt zu überleben. Doch jetzt hatte ich meinen Abschluss in der Tasche und würde nicht mehr herkommen müssen. Alles was man zu der Proles-Jagd aus Büchern lernen konnte, war bereits fest in meinem Kopf verankert. Theorie abgeschlossen, jetzt kam die Praxis.

Zwei Jahre in der Gilde.

Natürlich hätte ich mich auch bei den staatlichen Venatoren einschreiben können, denn wie Jilin einmal gesagt hatte, dort würden sie mich mit Kusshand nehmen, doch in der Gilde fühlte ich mich einfach wohler. Ich wollte zurück, unbedingt.

Zum ersten Mal seit Tagen war die graue Wolkendecke, die so viel Schnee mit sich gebracht hatte, aufgerissen und hatte den Strahlen der Sonne Platz gemacht. Sie schien angenehm warm auf meinen Kopf, als ich die Treppe hinunter ging. Der Schnee hatte bereits vor Tagen Einzug in die Stadt gehalten und zeigte sich unerbittlich in seiner ganzen Pracht. Alles war weiß, die ganze Stadt war bedeckt unter eine Schicht Unschuld, die die Grausamkeiten der Realität aber nur oberflächlich verbergen konnte, denn Nichts hatte sich geändert – nur der äußere Schein.

Ich stellte den Kragen meines Parkers hoch, denn auch wenn die Sonne angenehm war, so war der Wind beißend kalt. Unter jedem meiner Schritte knirschte der Schnee, doch in meinem Herzen herrschte ein trauriger Herbst, den auch die lachenden Gestalten auf dem Vorplatz der Akademie nicht vertreiben konnten.

Überall um mich herum waren Familien, die ihren Sprösslingen stolz zu ihrem Erfolg gratulierten – oder in Marlens Fall, ihr Taschentücher reichten und sie mit tröstenden Worten überschütteten.

Ich war allein.

Meine Familie war tot, niemand mehr da, der mich in den Arm nehmen konnte, um mir zu sagen, dass ich es gut gemacht hatte. Nur Wynn, aber sie würde niemals einen Fuß auf dieses Grundstück setzten. Sie würde mir niemals zu meinem Erfolg gratulieren.

Sie war nicht gekommen. Bis zum Schluss hatte ein kleiner Teil von mir insgeheim gehofft, sie doch noch irgendwo auf den Tribünen zu entdecken, aber mir hätte eigentlich gleich klar sein müssen, dass diese Hoffnung vergebens war. Sie hasste die Proles und alles was dazu gehörte und da ich mich von diesem Weg nicht abbringen ließ, hasste sie auch mich. Nachdem, was ich ihr an den Kopf geknallt hatte, konnte ich es ihr nicht mal verübeln.

Während ich das Gelände verließ, versuchte ich mich unsichtbar zu machen. Ich wollte nicht, dass mich jemand aus Mitleid zu sich rief. Selbst die Einladung von Evangelines Eltern zum Essen hatte ich abgelehnt. Nicht, dass ich die beiden nicht mochte, doch ich wollte keine Almosen. Ich schaffte das schon – wenn es sein musste auch ganz alleine.

Für die anderen schien ich im Moment sowieso nur ein Geist zu sein. Sie alle hatten in den letzten Wochen gelernt, dass es das Beste war, mich einfach in Ruhe zu lassen. Ihre tröstenden Worte brachten sowieso nichts, sie rissen die frischen Wunden nur immer wieder auf, bis sie begannen zu bluten und zu eitern. Eine Entzündung konnte man eben nicht mit netten Worten heilen.

Ich versuchte nicht allzu genau hinzusehen, als ich die ganzen glücklichen Familien passierte. Da war Bay, umringt von seinen drei kleinen Schwestern und den beiden stolzen Eltern. Evangeline hing ihrem Vater halb um den Hals und bestaunte das Armband, das er ihr zum gelungenen Abschluss geschenkt hatte. Pias Mutter versuchte ihre Tochter zu umarmen – es klappte mit dem dicken Schwangerschaftsbauch nicht wirklich. Seth schlenderte mit seinen beiden großen Brüdern über den Vorplatz und kabbelte sich mit ihnen.

Bei dem Anblick von ihnen allen wurde mir eines sehr schmerzlich bewusst: Trotz all der Freude hier draußen, fehlte etwas. Wir waren unvollständig. Nicht nur meine Familie fehlte, auch die von Devin. Er würde niemals hier stehen und sich beglückwünschen lassen können. Keine Geschenke für ihn, kein Schulterklopfen, nicht mal eine einfache Zukunft. Devin war tot. Genau wie Onkel Roderick lag er in der kalten Erde und war für die Lebenden unerreichbar geworden.

Genau wie Nick, der zwar noch atmete, aber trotzdem mit jeder Sekunde still und heimlich starb. Keiner von ihnen würde jemals zurückkehren.

Ich wandte all dem den Rücken zu, machte einfach, dass ich davonkam, um das alles hinter mir lassen zu können – wenigstens für einen kurzen Moment. Meine Prüfung hatte ich bestanden, nun gab es nichts mehr was mich hier noch halten konnte. Einfach nur runter vom Gelände und ein letztes Mal den vertrauten Weg zur Bushaltestelle einschlagen.

„Du hast ganz schön nachgelassen.“

Reese.

Ich konnte gar nichts dagegen tun, dass ich bei der Stimme anhielt und mich nach ihm umsah.

Er lehnte an seinem Wagen, der mal wieder aussah, als wäre er damit mehrmals durch eine Schlammgrube gefahren, nur um zu sehen, wie hoch der Dreck spritzen konnte. Zwischen seinen Fingern steckte eine Zigarette, die einen feinen Rauchfaden in die Luft abgab. „Man könnte glatt glauben, du hättest gar nichts von mir gelernt.“

„Du hast zugesehen?“

„Na wegen der netten Atmosphäre, bin ich sicher nicht gekommen.“

Aber er war doch vor meinem Kampf verschwunden. Ich hatte nach oben gesehen und er war weg gewesen. „Ich hab dich nicht gesehen.“

„Das war Absicht. Ich wollte dich nicht ablenken.“ Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und schnippte den Filter dann in einem hohen Bogen in den Schnee. Dann zog er die Beifahrertür auf. „Komm, steig ein, ich fahr dich nach Hause.“

Meine dummen Füße wollten sich wirklich sofort seiner Aufforderung beugen, aber das konnte er vergessen. Er hatte sich nicht gemeldet. Die Verhandlung bei Gericht lag nun schon zwei Wochen zurück und in der ganzen Zeit war nicht ein Anruf, oder wenigstens ein blöder Brief gekommen. Und jetzt erwartete er, dass ich einfach zu ihm in den Wagen stieg und so tat, als wäre das alles niemals passiert? Stur verschränkte ich die Arme vor der Brust. „Weißt du nicht, dass es für kleine Mädchen gefährlich sein kann, einfach zu einem fremden Mann in den Wagen zu steigen? Wenn das nun einer sieht, die könnten dich glatt für pädophil halten.“ Ob ihm wohl auffiel, dass ich die Worte aus unserem allerersten Gespräch gewählt hatte?

„Damit werde ich wohl leben müssen. Und jetzt steig ein, ich habe keine Lust hier draußen festzufrieren.“ Er wartete gar nicht darauf, dass ich seinen Worten Folge leistete, sondern umrundete einfach den Wagen und setzte sich hinters Steuer. Es war so wie früher, er ging einfach davon aus, dass ich tat was er wollte. Allein aus diesem Grund machte ich auf dem Absatz kehrt, um zu der Bushaltestelle am Ende der Straße …

In dem Moment fuhr mein Bus an mir vorbei. Er hielt nicht mal an der Haltestelle, fuhr einfach weiter und weg war er.

Super.

Das hatte mir gerade noch gefehlt. Der nächste würde erst in zwanzig Minuten kommen. Bis dahin wäre ich sicher am Boden festgefroren. Natürlich konnte ich wieder in die Akademie gehen und dort im Warmen warten, oder Evangelines Eltern bitten, mich mitzunehmen – das würden sie sicher machen – aber ich wollte nicht. Ich wollte auf niemanden mehr angewiesen sein. Das brachte nur Schmerz und Verlust mit sich.

Du gehörst mir, Grace Shanks, merk dir das.

Nein, das tat ich nicht. Und auch wenn ich mich danach sehnte, dass es so war, ich würde dem nicht nachgeben. Dafür war Reese einfach zu launisch. Wer wusste schon, wie er jetzt darüber dachte.

Gegen meinen Willen drehte ich mich wieder um und sah zu dem Auto. Die Beifahrertür stand immer noch einladend offen. Reese hatte in dieser Nacht im Krankenhaus so viel zu mir gesagt, doch ich war mir nicht sicher, ob das nur aus der Situation heraus geschehen war. Kurz vorher hatten wir dem Tod ins Auge gesehen. Wir hatten zusehen müssen, wie Menschen die wir liebten verletzt und getötet wurden. Vielleicht hatte er all diese Worte gar nicht so gemeint, vielleicht war das der Grund warum er die ganze Zeit nichts hatte von sich hören lassen. Und wenn ich nun zu ihm in den Wagen stieg, dann … was? Worüber zerbrach ich mir hier eigentlich so den Kopf? Was glaubte ich denn was geschehen würde? Er wollte mich doch nur nach Hause fahren. Eine nette Geste, um den Frieden zwischen uns wieder herzustellen, da wir ab Montag wieder am gleichen Ort arbeiteten. Warum sonst sollte er heute hier erschien sein?

Ich schüttelte den Kopf in der Hoffnung, all diese unnützen Gedanken damit los zu werden. Sie brachten mich nicht weiter. Genau wie die Tatsache, dass ich hier einfach erfrieren würde, wenn ich mich nicht bald in irgendeine Richtung in Bewegung setzte.

Eigentlich wollte ich nur eines, und das war so schnell wie möglich nach Hause.

Die Entscheidung fiel, ohne dass ich mir wirklich bewusst darüber war. Meine Beine trugen mich ganz von selbst zum Wagen und das vertraute Chaos seiner Müllkippe begrüßte mich. Alleine der Anblick des müllverseuchten Fußraums hätte mich meine Entscheidung fast noch einmal überdenken lassen, aber ich wollte einfach nur raus aus der Kälte und weg von den ganzen glücklichen Familien, die ihren Nachwuchs mit viel Lob und Geschenken beglückwünschten. Ich sparte es mir sogar, meine Schuhe vom Schnee abzuklopfen, als ich mich auf den Beifahrersitz fallen ließ. Suchte mir einfach einen Platz zwischen dem ganzen Abfall und schlug die Tür zu.

Reese sagte nichts dazu, dass ich ihn eine Ewigkeit hatte warten lassen. Er startete nur stumm den Motor und parkte ruhig aus der Parklücke, um sich in dem Verkehr einzuordnen.

Es war Wochenende, die Straßen um diese Zeit dementsprechend fast leer und so kamen wir zügig voran.

Lange Zeit blieb es zwischen uns unnatürlich still. Wir hatten lange gebraucht um eine Ebene zu finden, auf der wir miteinander klarkamen, aber jetzt schien das alles wie ein ferner Traum, der nur in unserer Phantasie existiert hatte. Ich empfand es als richtig unangenehm. Es war nicht dieses abweisende Verhalten, dass er die ersten Tage und Wochen mir gegenüber an den Tag gelegt hatte, das hier war etwas ganz anderes.

Es war die absolute Stille.

Wir wussten einfach nicht, wie wir miteinander umgehen sollten und das Reese – für seine Verhältnisse – auch noch sehr langsam fuhr, machte das Ganze für mich umso anstrengender. Es gab mir das Gefühl, als wollte Reese den Zeitpunkt unserer Trennung besonders lange hinauszögern, wusste aber nicht, was er mit mir bis dahin anfangen sollte.

„Summa cum laude“, sagte er plötzlich und schnippste den Rest seiner Zigarette aus dem Fenster, bevor er es wieder schloss und damit endlich die Kälte aussperrte. „Mit Bravur bestanden.“ Er schnaubte. „Aber bilde dir nur nichts darauf ein, das war bisher nur der Anfang.“

„Hast du dich heute nur blicken lassen, um dich über meine Leistung lustig zu machen, oder hat dein Besuch, nach so langer Zeit, auch noch einen akzeptablen Grund?“ Mist, das hätte nicht so verbittert klingeln sollen. Aber was sollte ich machen? Dass er sich nicht gemeldet hatte … es hatte mich verletzt. Wie sollte es, nach allem was er zu mir gesagt hatte, auch nicht so sein?

„Ich hatte ein paar Sachen zu regeln“, sagte er ruhig und ordnete sich an der Ampel in die Abbiegerspur ein. „Ich musste so einiges wieder auf die Reihe bekommen.“ Einen Moment schweigen. „Du hast mich auch nicht angerufen.“

Was bitte sollte jetzt dieser vorwurfsvolle Ton? „Ich hatte ein paar Sachen zu regeln“, erwiderte ich gleichgültig. So eine dumme Ausrede. Mal kurz durchzuklingen wäre sicher nicht das Problem gewesen.

Reese seufzte auf eine Art, die mich an einen alten Mann denken ließ. „Ich hab dir nur etwas Zeit zum Nachdenken geben wollen. Nach allem was passiert ist … ich hielt es einfach für das Beste.“

„Es freut mich zu hören, dass auch du einer von diesen Menschen bist, die immer wissen was für andere das Beste ist.“

Die Ampel schaltete auf grün, doch vor uns waren so viele Autos, dass sie schon wieder rot war, als wir an der Reihe waren und Reese erneut halten musste. Diese Pause nutzte er um sich eine weitere Zigarette anzustecken.

War er nervös? Das passte so gar nicht zu ihm. Und ich wüsste auch gar nicht welchen Grund er dazu hätte. Im Grunde wusste ich im Moment überhaupt nichts. Ich wollte einfach nur nach Hause und daher ertrug ich die drückende Stille und beobachtete während der Weiterfahrt die Häuser und Straßen, die an meinem Fenster vorbeiflogen. Ich sah sie nicht wirklich, verbot mir einen richtigen Blick zu riskieren.

„Hat es dir bei den Staatlichen gefallen?“

„Dazu gab es keinen Grund.“ Nicht nur, dass ich Kira unterstellt worden war – und dass war ein echtes Biest – die ganzen Regeln und Vorschriften fand ich bei der Arbeit äußerst behindernd. Dort hatte ich am Tag so viel Papierkram erledigen müssen, dass ich vor lauter Paragraphen kaum noch zur Jagd gekommen war. Wie Evangeline es dort nur mit so viel Begeisterung aushalten konnte, war mir ein Rätsel. Aber wahrscheinlich lag es einfach daran, dass sie selbst in den schlimmsten Situationen etwas Gutes finden konnte. Sie war eben eine Sonne, etwas das diese Welt gut gebrauchen konnte. Und Mace war ja auch immer dagewesen.

„Guck mal ins Handschuhfach.“

Ich guckte nicht ins Handschuhfach, ich guckte ihn an.

„Nun mach schon.“

Allein schon wegen seinem Ton hätte ich ihm am liebsten einen Korb gegeben, aber es gab mir wenigstens etwas zu tun. „Wonach suche ich?“, fragte ich, während ich die Klappe öffnete.

„Ein brauner Briefumschlag. Müsste ganz vorne liegen.“

Tat er auch. Ich zog ihn heraus, machte die Klappe wieder zu und wollte ihn schon an Reese weiterreichen, als ich meinen Namen quer über dem Kuvert las. Shanks. Die Handschrift kannte ich, die war von Reese. „Was ist das?“

„Die leichteste Möglichkeit das herauszufinden wäre wohl, wenn du einfach mal hinein schaust.“ Er setzte die Zigarette wieder an seine Lippen, ließ den Verkehr dabei aber nicht aus den Augen.

Keine Ahnung warum, aber ich zögerte. Der Umschlag hatte eine kleine Beule. Ach was soll das Theater. Ich öffnete ihn und kippte den Inhalt in meinen Schoß. Es war ein langes Lederband, mit einem Anhänger daran, aber nicht irgendein Anhänger. Was da dran hing, war eine grüne Kralle, in die man ein Loch gebohrt hatte, damit man sie auf das Lederband aufziehen konnte. Ich hielt diese Kralle nicht zum ersten Mal in meiner Hand. Vor nun knapp vier Monaten hatte ich sie bei meinem ersten Auftrag mit Reese in einem Hundezwinger gefunden. Sie hatte einst zu dem unbekannten Proles gehört, mit dem all das begonnen hatte.

Ich war mir nicht ganz sicher, wie ich dieses Geschenk finden sollte. Irgendwie war sie schon toll, ein Andenken an meinen allerersten Einsatz, der mich daran erinnerte, dass man im Leben nicht nur Glück, aber auch nicht nur Pech hatte. Die Dinge konnten schief gehen und trotzdem ein gutes Ende finden.

Andererseits hatte mit dieser Kralle auch eine ziemlich dunkle Zeit meines Lebens begonnen, von der ich mir manchmal nicht sicher war, ob ich sie vergessen wollte, oder es doch besser war sich zu erinnern.

Reese warft mir einen unauffälligen Blick aus dem Augenwinkel zu, als wollte er meine Reaktion abschätzen, doch ich ließ mir meine Gedanken nicht anmerken. Ich packte die Kralle zurück in den Umschlag, behielt in aber auf dem Schon. Ich sagte nicht danke, weil ich nicht wusste, ob man sich für sowas wirklich bedanken sollte, aber ich nahm sehr wohl zur Kenntnis, dass er das für mich gemacht hatte. Ich würde es auf jeden Fall behalten.

„Jilin will uns wieder in ein Team stecken.“

„Ich weiß.“ Das hatte sie mir bereits mitgeteilt. Sie hatte zwar nicht vor Aziz wieder von Reese zu trennen, aber sie war der Meinung, dass wir trotz allem so gut zusammengearbeitet hatten, dass sie mich wieder an seiner Seite sehen wollte. Wir würden ein super Dreiergespann abgeben.

„Wir sind ein gutes Team.“ Er sog an seiner Zigarette und ließ den Rauch langsam aus der Lunge entweichen. „Das haben alle gesagt. Wir ergänzen uns und vor allen Dingen lässt du dir nicht von mir auf der Nase herumtanzen.“ Er schmunzelte wie über einen Witz, den ich nicht verstand. „Dafür bist du viel zu stur und eigensinnig.“

„Dieses Kompliment kann ich nur zurückgeben.“ Ich versuchte meine Beine im Fußraum neu zu arrangieren, weil das Ganze mit der Zeit unangenehm in die Haut drückte, aber da war einfach kein Platz. Warum nur musste er seinen Wagen immer so zumüllen?

„Okay hören wir doch einfach mal auf, um den heißen Brei herumzureden. Wir sind ein tolles Team und ich will, dass wir das auf unser Privatleben erweitern.“

Ich schnaubte. „Du hast ein Privatleben?“ Da es einfach nicht anders zu machen war, zog ich die Beine auf den Sitz und schlang die Arme darum. Zwar war das eindeutig gegen die Verkehrsregeln, aber wenn ich meine Beine weiter dort unten lassen würde, musste ich befürchten, dass sie mir einfach abfaulten.

„Grace.“

Mein Kopf wirbelte zu ihm herum. „Hast du mich wirklich gerade mit meinem Vornamen angesprochen?“ Das war noch nie passiert. Er nannte mich Shanks – immer.

Reese sog ein letztes Mal ruhig an seiner Zigarette und spendierte ihr dann wieder einen Freiflug aus dem Fenster. „Ich glaube du siehst den Ernst der Lage nicht. Was ich da im Krankenhaus zu dir gesagt habe, dass ist nicht nur aus einer Laune heraus passiert. Ich habe jedes Wort absolut so gemeint wie ich es gesagt habe. Ich lasse dich nicht mehr gehen. Und da kannst du dich Kopf stellen.“ Für einen kurzen Moment kreuzten sich unsere Blicke. „Nur damit du Bescheid weißt.“

Mein Mund klappte auf, aber es wollte kein Ton heraus kommen. Mein Kopf war absolut leergefegt.

Wenn er wirklich jedes Wort so gemeint hatte, wie er es gesagt hatte, warum hatte er sich dann solange nicht bei mir gemeldet? Warum hatte er mich mit all der Scheiße allein gelassen? Warum tauchte er jetzt auf, in dem Moment, in dem ich mich endlich damit abgefunden hatte, niemanden mehr zu haben? In dem ich beschlossen hatte niemanden mehr zu brauchen?

Das konnte er nicht tun. „Was glaubst du eigentlich wer du bist!?“, fauchte ich ihn an und wusste gar nicht, woher plötzlich diese ganze Wut kam.

„So sauer wie du aussiehst? Ich vermute ich bin der, der sich gleich eine von dir fängt.“ Er lenkte den Wagen in die nächste Straße und ich nahm nur nebenbei wahr, dass es meine war. „Obwohl ich absolut nicht weiß, womit ich das verdient hätte.“

„Dann denk mal scharf nach!“ Ich wandte hastig den Blick ab, bevor ich wirklich noch auf den Gedanken kam, ihm ein paar zu klatschen. So sauer wie ich plötzlich war, war das absolut nicht abwegig. Wie konnte er es nur wagen schon wieder solche Dinge zu mir zu sagen? Warum jetzt und nicht schon vor Monaten?

„Shanks, ich will dich nicht verlieren.“

Mein Herz krampfte sich zusammen. Solche Worte aus seinem Mund ließen wieder all die Wünsche der Vergangenheit in mir erwachen, die ich so sorgfältig weggeschlossen hatte.

„Und wenn du dich mir nicht freiwillig ergibst, dann werde ich dich zu deinem Glück zwingen. Nur so als kleine Warnung.“

Vielleicht sollte ich ihm einen Duden schenken, damit er ein paar der Worte, die er benutzte auch in den richtigen Zusammenhang bringen konnte. Oder ich zog ihm das Ding gleich über den Kopf. Worte wie Zwang und Glück passten nämlich absolut nicht zusammen.

Schweigend fuhr Reese auf die Auffahrt zu meinem Haus. Wie leer und uneinladend es wirkte. Das Leben war aus den Mauern gewichen und in allen Räumen hingen der Tod und die Schatten der Vergangenheit. Ich hatte es nicht mal über mich gebracht, Onkel Rods Zimmer auszuräumen. Ich schlief nicht mal mehr in meinem Zimmer, weil die Seite von Wynn, bis auf die Möbel, völlig leer war. Sie hatten mich verlassen, aber ein Teil ihrer selbst hing noch immer in diesem Haus. Und auch wenn ich mich nicht davon trennen wollte, so konnte ich es nicht ertragen, dem zu nahe zu kommen.

Ich wohnte in diesem Haus, aber leben tat ich nur noch im Wohnzimmer. Dort schlief ich, dort aß ich und dort vegetierte ich vor mich hin, wenn das Geschehene mal wieder über meinem Kopf zusammenzubrechen drohte.

Ich wandte mich Reese zu, der mich mit ruhigem Blick beobachtete. Ging es ihm genauso? Er hatte nur noch Nick gehabt und der würde laut den Ärzten ohne ein Wunder nie wieder aus dem Koma erwachen – und an Wunder glaubte ich schon lange nicht mehr.

Ich öffnete den Mund zu einer Frage, die mir nur äußerst schwer über die Lippen kam, aber ich musste es einfach wissen. Ich brauchte die Gewissheit. „Heißt das, du liebst mich?“ Meine Finger glitten ganz von selbst in meine Jackentasche und knüllten dort einen kleinen Zettel zusammen, den ich seit Wochen mit mir rumtrug.

Sollte sich dringend die Brust rasieren.

Ein Pfefferminz wäre nicht schlecht.

Hat eine blühende Fantasie, sollte sich in Hollywood bewerben.

Hat er überhaupt Patronen in seiner Flinte?

Die Boxershorts gefallen mir.

Jedes Wort auf diesem Zettel war mir so vertraut, als hätte ich sie alle selber verfasst. Er war die Notiz aus Reese' Notizblock von meinem ersten Tag. Ich wusste nicht genau warum ich sie mit mir rumtrug. Er war mir beim Durchstöbern meines Schreibtisches zufällig wieder in die Hand gefallen und seitdem konnte ich ihn einfach nicht mehr zur Seite legen.

Reese schaltete den Motor aus und lehnte sich völlig ruhig in seinem Sitz zurück. „Also manchmal zweifle ich wirklich an deiner Intelligenz. Wie kannst du nur so eine blöde Frage stellen?“

Na das war doch mal eine eindeutige Liebeserklärung.

Als er sich zu mir vorbeugte und eine rote Strähne aus meinem Gesicht strich, geriet mein Herz einen Moment völlig aus dem Takt. Die Berührung ließ meine Haut angenehm kribbeln und bei seinem dunklen Blick wurde mir ganz anders. „Ich lass dich nicht mehr gehen, Grace Shanks.“ Diese Worte raunte er so leise, dass mir eine angenehme Gänsehaut über den Rücken jagte. Wie schaffte dieser Kerl es nur, dass meine Wut sich einfach wieder in Luft auflöste? Was hatten diese Augen nur an sich, das mich so in den Bann schlagen konnte? Ich verstand es einfach nicht.

Und trotzdem hatte ich keine Angst.

„Willst du mich damit fragen, ob ich mit dir zusammen sein möchte?“

„Ich frage nicht.“ Er beugte sich soweit vor, dass ich seinen warmen Atem auf den Lippen spüren konnte und mich an Tage und Orte zurückversetzte, an denen wir mehr geteilt hatten, als nur die Luft in seinem Wagen. „Ich teile dir mit wie es ist. Und denk dran, ich bin ein Jäger, du kannst mir also nicht entkommen.“

„Du vergisst dabei nur, dass ich nicht deine Beute bin.“ Ich zog meinen Kopf zurück, stellte die Beine zwischen dem ganzen Müll auf den Boden und öffnete die Beifahrertür. „Und dass ich eine Knarre habe, mit der ich umzugehen weiß.“

Sein Lachen verfolgte mich, als ich ausstieg. Selbst als ich schon im Haus war, konnte ich es noch als Echo in meinen Ohren wahrnehmen.

 

°°°°°

Epilog

 

Es war der Geruch nach Kaffee und das Geräusch klingelnder Telefone, das mich am Montag früh in der Gilde begrüßte. Die Spuren der Katastrophe waren beseitigt worden. Nichts erinnerte mehr an das viele Blut, das diesen Ort besudelt hatte. Alles war wie es sein sollte und doch völlig anders.

Das Stimmengemurmel klang noch verschlafen, nur Madeleine schien wie immer viel zu viel Energie zu haben. Wie sie es jeden Tag aufs Neue schaffte, so perfekt in den Morgen zu starten, war für mich echt ein Rätsel. Jedes Haar auf ihrem Kopf saß genau dort wo es hingehörte. Genau wie das Lächeln auf ihren Lippen.

„Grace!“, begrüßte sie mich enthusiastisch und sprang von ihrem Platz auf, um mich kurz in den Arm zu schließen. Dann runzelte sie die Stirn. „Wozu ist die Sprühflasche?“

Ich senkte den Blick auf das unförmige Ding in meiner Hand und zuckte nichtssagend mit den Schultern. „Erziehungsmaßnahmen.“

Damit schien sie nicht viel anfangen zu können, daher überging sie das Thema einfach. „Und, wie geht es dir? Alles in Ordnung?“

„Ich kann nicht klagen.“

Sie musterte meine tiefen Augenringe und den unordentlichen Pferdeschwanz, aus dem sich bereits unzählige Strähnen gelöst hatten. „Ich glaube dir zwar nicht, aber ich lasse die diese kleine Lüge ausnahmsweise einmal durchgehen.“

Wofür ich im Augenblick wirklich dankbar war. Das ganze Wochenende hatte ich über das, was im Wagen passiert war – oder auch nicht – nachgegrübelt. Es war wie ein innerer Zwang, dem ich einfach nichts entgegenzusetzen hatte. Immer wieder sah ich Reese vor mir, spürte seinen Atem auf meinen Lippen und wusste genau was passiert wäre, wenn ich nicht ausgestiegen wäre.

Diese Bilder des Augenblicks hatten sich bis in meine Träume geschlichen und sich mit dem Erlebten vermischt. Der Kuss in der Garage, die Nacht in seinem Bett.

Gott, ich konnte gar nicht mehr zählen, wie oft mich diese Bilder aus dem Schlaf gerissen hatten, nur um dann feststellen zu müssen, dass außer mir niemand im Haus gewesen war. Ich war alleine gewesen, das ganze Wochenende. Nicht mal Evangeline hatte sich gemeldet.

„Und? Was gibt es hier so Neues?“, fragte ich um mich von meinen düsteren Gedanken abzulenken. Dabei konnte ich nicht vermeiden, dass mein Blick über den Tresen zu der Schreibtischreihe am Fenster glitt. Dass ich nicht überrascht die Augen aufriss, als ich Reese an seinem Platz entdeckte, hatte wohl nur etwas mit meiner Selbstbeherrschung zu tun – einen Platz, der wieder bis obenhin zugemüllt war. Es war kurz nach acht. Normalerweise befand er sich um diese Zeit bereits auf dem Weg zu seinem ersten Auftrag des Tages. Bisher hatte er sich nie lange damit aufgehalten der Gilde morgens noch einen Besuch abzustatten.

War er vielleicht wegen mir hier? Es wäre logisch, doch es passte so gar nicht zu Reese, sich an Anweisungen zu halten. Doch welchen Grund sollte es sonst geben, dass er um diese Zeit tief über einen Ordner gebeugt an seinem Schreibtisch saß? Bevor er sich lange mit Papierkram aufhielt, machte er lieber die Straßen unsicher.

„Wir haben letzte Woche neue Grünschnäbel bekommen“, erklärte Madeleine. „Vom Internat Posterum.“

„Bitte?“ Ich musste mich praktisch von Reese' Anblick losreißen, um meine Aufmerksamkeit wieder auf Madeleine zu richten.

Sie schmunzelte, als hätte sie meine Gedanken von eben erraten. „Praktikanten.“ Dieses Wort kam aus ihrem Mund, als müsste sie es einem Kleinkind erklären. „Drei Stück.“

Ich wusste nicht was es war, vielleicht weibliche Intuition, aber ich spürte genau den Moment, als Reese meine Anwesenheit bemerkte. Es war als würde sein Blick sich auf meine Haut brennen und dort unanständige Dinge tun, die hinter verschlossene Türen gehörten. „Und wie sind sie so?“

Natürlich versuchte ich zu widerstehen, doch einen kurzen Blick konnte ich mir nicht verkneifen. Und ich sollte Recht behalten, Reese beobachtete mich.

Denk dran, ich bin ein Jäger, du kannst mir also nicht entkommen.

Madeleine setzte sich wieder an ihren Platz und tippte mit schnellen Schlägen auf die Tastatur ein. „Sie sind in Ordnung, soweit ich das bisher feststellen konnte. Aber einer von ihnen ist ein wenig … nennen wir es schüchtern.“

Ich stützte mich auf die Unterarme und beugte mich halb über den Tresen. „Du meinst er hat keine Chance zu bestehen.“

„Ich meine, er braucht noch eine Menge Übung. Einer von den neuen Venatoren hat ihn unter seine Fittiche genommen. Daniel.“ Sie sprach den Namen so verträumt aus, dass es wirklich schwer war, nicht einfach loszuprusten.

Aber grinsen war erlaubt. „So wie du lächelst, muss ich diesen Daniel dringend kennenlernen.“

Mit strenger Miene zeigte sie mir den Zeigefinger. „Untersteh dich, der gehört mir.“

Okay, jetzt konnte ich mir trotz allem nicht mehr das Lachen verkneifen. Aber weiteren Worten in dieser Richtung entging ich zum Glück, da in diesem Moment das Telefon klingelte.

Wieder warf ich Reese einen kurzen Blick zu. Er ließ mich immer noch nicht aus den Augen und das, obwohl sich ein Gesprächspartner an seinen Tisch gestellt hatte, der ihm mit viel gestikulieren scheinbar eine Geschichte erzählte.

Der blonde Mann war mir unbekannt, aber das war nicht verwunderlich. Hier gab es reichlich neue Gesichter. Alles Venatoren aus anderen Stellen und Städten. Bei ihrem Anblick wurde mir nur eines allzu bewusst: Wir waren alle ersetzbar. Drei/siebenunddreißig hatte hier gewütet und gemordet, doch jetzt war das Monster tot und die Jagd nach den Proles, die die Menschheit bedrohten musste weitergehen.

Und das war der Grund warum ich hier war.

Es war an der Zeit weiterzumachen.

Ich wollte gerade auf den Tresen klopfen, um mich von Madeleine zu verabschieden, als ich plötzlich eine Hand auf meinem Hintern spürte. Im ersten Moment glaubte ich, dass Reese sich von seinem Platz erhoben hatte und sich einen schlechten Scherz erlaubte, doch als ich mich umdrehte, hatte ich einen völlig fremden Typen vor mir, der mich so lasziv anlächelte, dass ich ihm allein schon dafür fast eine geklebt hätte.

Doch so weit kam es gar nicht erst, denn hinter ihm tauchte Aziz auf, der ihm ohne zu zögern sein Klemmbrett mit einem ordentlichen Rums auf den Hohlkopf haute.

„Scheiße!“, fluchte der Blödmann und brachte sich mit einem schnellen Schritt zur Seite aus der Gefahrenzone. „Was soll das?“ Murrend griff er sich an seinen Kopf und betastete vorsichtig die schmerzende Stelle. „Das hat wehgetan.“

Aziz legte völlig ruhig sein Klemmbrett auf den Tresen, ließ den Idioten – der dem alter nach einer der Praktikanten sein musste – nicht aus den Augen. „Ich habe einen Tipp für dich. Du tätest gut daran deine Hände in Zukunft bei dir zu lassen. Grace ist unter uns Jungs hier recht beliebt und wir sehen es gar nicht gerne, wenn sie belästigt wird.“ Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, zeigte er auf Reese, der das Ganze mit grimmiger Miene verfolgt hatte. „Und das nächste Mal wird es vielleicht kein Klemmbrett sein, das man dir über den Kopf zieht, sondern eine Waffe. Ist alles schon vorgekommen.“

Der Typ sah nicht aus als würde er ihm glauben, aber er war wenigstens schlau genug, unangebrachte Kommentare für sich zu behalten.

„Solltest du an Hormonüberschuss leiden, so baue den in der Freizeit ab, den auch unsere anderen Mädels haben nicht viel für Lüstlinge übrig.“

„Ja, ist ja gut, ich hab es kapiert.“

„Das will ich für dich hoffen. Und jetzt mach, dass du an die Arbeit kommst.“

Der Typ warf Aziz noch einen bösen Blick zu, machte dann aber, dass er davon kam. Die mörderischen Blicke von Reese die ihn dabei verfolgten, schienen ihm richtig unangenehm zu sein. Auf jeden Fall war er ziemlich schnell nach hinten in den Korridor verschwunden.

„Danke“, sagte ich, obwohl ich das sicher auch alleine hinbekommen hätte. Aber er meinte es nur gut.

„Kein Problem.“ Er schlang den Arm um meine Schulter und drückte mich an sich. Trotz allem was passiert war, hatte er sich kein bisschen verändert. Selbst das Drachentattoo auf seinem Oberarm war unbeschädigt. Natürlich, die Narben hatte er an den Beinen und der Hüfte. Und in seinem Innersten. Die Ausgekugelte Schulter war nichts gegen das, was er in der Reha hatte erleiden müssen. Drei/siebenunddreißig und seine Gefährten hatten ganze Arbeit geleistet. Aber Aziz war willensstark genug, um sich von so etwas nicht aufhalten zu lassen. Er konnte auch erst wieder seit ein paar Tagen hier sein.

Und nur wegen dieser Willensstärke stand er nun wieder hier und konnte mich anlächeln. „Schön, dass du wieder hier bist. Vielleicht hört die Trauermiene dann endlich auf.“

„Trauermiene?“

Er grinste mich nur schelmisch an und gab mir dann einen kleinen Stoß ins Arbeitsareal hinein.

Stirnrunzelnd sah ich zu ihm. Was war das denn gerade gewesen? Aber er beachtete mich gar nicht mehr, schob das Klemmbrett nur zu Madeleine über den Tresen und zeigte ihr etwas darauf.

Kopfschüttelnd schlängelte ich mich durch die schmalen Gänge zwischen den Schreibtischen zu Reese.

Er hatte seinen Stift in der Zwischenzeit zur Seite gelegt und sich auf seinem Stuhl zurückgelehnt. Der Mann ihm gegenüber schien bei ihm in Vergessenheit geraten zu sein. Es war mehr als offensichtlich, dass er seine Erzählungen ignorierte. Sein Blick war so wachsam auf mich gerichtet, dass ich davon eine Gänsehaut bekam und nicht umhin kam mich zu fragen, was er genau erwartete – sicher nicht das, was ihm gleich bevorstand.

Es war kein Witz gewesen, die Sprühflasche hatte ich wirklich aus erziehungstechnischen Maßnahmen mitgebracht, denn von dem ganzen Müll hatte ich wirklich die Schnauze voll.

Als ich vor dem Schreibtisch ankam, gluckerte das Wasser in der Flasche fröhlich vor sich hin und noch bevor er den Mund aufmachen konnte, sprühte ich ihm eine Ladung mitten ins Gesicht.

Er gab ein Geräusch des Ekels von sich und wischte sich das Wasser fluchend aus dem Gesicht. „Verdammt, was …“

Auch die zweite Ladung traf ihn ohne Vorwarnung, doch bevor ich noch ein drittes Mal auf den Sprühkopf drücken konnte, packte er meine Hand.

„Was soll das?“

„Ein Vorgeschmack auf deine Zukunft.“ Ich wand meine Hand aus seinem Griff und beachtete das Kichern des anderen Venators am Tisch nicht. „Das werde ich ab sofort immer machen, wenn du gemein zu mir bist, oder du wieder einmal der Meinung bist, deinen Müll einfach in den Fußraum werfen zu müssen, denn falls du es nicht weißt, für Abfälle gibt es Behälter in die man sie entsorgen kann. Aber dazu gehören weder Autos noch Schreibtische.“ Mit der Sprühflasche schob ich das Einpackpapier eines Schokoriegels von der Schreibtischkante direkt in den überfüllt Mülleimer daneben. „Kein Müll mehr, verstanden?“

„Wenn du glaubst …“

Und wieder trafen ihn die feinen Sprühtropfen im Gesicht und brachten ihn sofort zum Verstummen.

„Shanks, wenn du nicht …“

Spssst.

„Verdammt, hörst du wohl …“

Spssst.

Als er dann nach meine Flasche greifen wollte, bekam er die nächste Ladung ab. „Das ist meine.“

Reese blinzelte mich durch den feinen Sprühfilm in seine Augen böse an, stand dann knurrend auf und noch bevor ich mich wehren konnte, hatte er mein Kinn gepackt und mich vor sein Gesicht gezogen. „Und du bist meine“, flüsterte er so leise, dass nur ich es hören konnte. Dann küsste er mich.

Seine Lippen verschlossen meine und erstickten damit jedes Widerwort im Keim. Und es war mir völlig egal.

Dieser Kuss war so intensiv, dass ich all meine Zweifel, all das Grauen der letzten Wochen und Monate für einen Moment vergessen konnte. Da war nur er. Der feine Sprühfilm auf seinen Lippen, sein Geruch, seine Wärme und dieser Drang der mich zu verschlingen drohte.

Du gehörst mir, Grace Shanks.

In diesem Moment glaubte ich ihm. In diesem Moment wollte ich auch nichts anderes. Es war als wäre ich nach langer Zeit endlich nach Hause gekommen. Jetzt war ich genau da, wo ich hingehörte und auch wenn die Probleme, die uns umgaben sich damit nicht in Luft auflösten, so war es doch ein Rückzugsort, an dem ich mich wohlfühlen konnte. Ein Ort an dem selbst Zweifel keine Chance hatten.

Irgendwo stieß jemand einen lauten Pfiff aus und erst da wurde mir bewusst, dass wir nicht alleine waren. Doch das schien Reese nicht zu stören. Als ich mich von ihm zurückziehen wollte, packte er einfach meine Hand und vertiefte den Kuss sogar. Doch als dann auch noch Applaus ertönte, wurde es wirklich peinlich und ich wehrte mich nachdrücklicher, bis er seine Lippen einen Hauch von meinen löste.

„Und nur damit das klar ist“, hauchte er. „Du gehörst jetzt zu mir, also lass deine Sperenzchen.“

„Du willst es wirklich mit einer penetranten Praktikantin versuchen, die eine hässliche Narbe hat und flach wie ein Brett ist?“

„Ich weiß nicht welcher Idiot sowas zu dir sagen würde, aber ja.“ Er hauchte mir noch einen Kuss direkt auf die Narbe und löste sich dann von mir. „Und jetzt komm, wir haben zu arbeiten.“

Unter dem Jubel der anderen Venatoren griff er sich seine Lederjacke vom Stuhl, gab Aziz ein Zeichen und machte sich dann auf dem Weg zum Ausgang.

Ich stand einfach nur da und sah ihm nach. Konnte das alles wirklich wahr sein? Konnte auch ich endlich ein wenig Glück haben? Ich wünschte es mir, ich wollte zu ihm gehören und zwar auf mehr als nur eine Art. Und wie ich ihm so nachsah hoffte ich, dass es noch viele Küsse dieses Mundes gab, viele Berührungen dieser Hände, die … meine Sprühflasche hielten!

Ich sah auf meine eigenen Hände, aber die waren leer. Verdammt, wie hatte er das denn geschafft? Und vor allen Dingen wann? „Reese! Gib die wieder her, das ist meine!“ Fluchend rannte ich unter dem Gelächter der anderen Venatoren hinter ihm her. Dabei gingen mir zwei Gedanken durch den Kopf.

Erstens: Ich würde mir meine Sprühflasche zurückholen!

Und zweitens: Ich würde ihn genauso wenig gehen lassen, wie er mich.

Während ich schimpfend hinter Reese herlief, wurde mir eines sehr deutlich klar, trotz allem konnte ich mich glücklich schätzen. Ja, vieles war schiefgegangen und wir hatten Grauen hinter uns gebracht, das nur wenige Menschen überleben würden. Die Geschichte hatte uns geprägt und doch hatten wir eine Zukunft. Wir mussten nur etwas aus ihr machen.

 

°°°°°

 

The End

Impressum

Cover: Cover by Kathrin Franke-Mois - Epic Moon Coverdesign
Tag der Veröffentlichung: 05.03.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Testleser, die mich so bereitwillig unterstützt haben. Black.Point, BlackAssanssina, Biggy41, Charlotte57, NachtLesEr, und rikerike. Und am Meisten danke ich meiner Lyriky, die mich die ganze Zeit unterstützt hat. Ich danke euch.

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