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Prolog

„Ich werde es nicht länger dulden.“ Wie immer wenn seine Mutter an die Königin der Lykaner dachte, strichen ihre Finger geistesabwesend über die lange Narbe an ihrer rechten Schläfe. „Was sich dieses Halbblut herausnimmt, ist unerhört. Ihr Platz, alles was sie besitzt, steht uns zu! Nur durch Intrigen und Lügen hat sie es geschafft, so weit zu kommen. Ich verstehe nicht, warum das niemand sonst sieht.“ Ihr Arm fiel zurück an ihre Seite und ballte sich zu einer Faust.

Cerberus lehnte sich entspannt in dem Clubsessel vor dem Kamin zurück und schlug die langen Beine übereinander. Er kannte diese Ausbrüche seiner Mutter zur Genüge und auch wenn er wenigstens teilweise ihrer Meinung war, so fand er sie einfach nur noch ermüdend. „Die Leute sehen, was sie sehen wollen und im Moment sehen sie in ihr den einzig verfügbaren Alpha. Noch dazu ist sie die erste Königin, die es geschafft hat, der Plage der Skhän beizukommen.“

Seine Mutter wirbelte zu ihm herum. In ihren Augen funkelte ihr Ärger. „Sie ist ihnen beigekommen? Du meinst wohl Streuner und Abtrünnige, der Abschaum der Gesellschaft. Sie hat Verbrecher in das Rudel geholt und ihnen die Erlaubnis erteilt zu töten. Niemand von ihnen muss sich für die Morde die sie am Rudel begehen, rechtfertigen.“

Cerberus hob in einer gelangweilten Geste die Hände. „Aber es funktioniert.“

Das wollte sie nicht hören. Ruckartig wandte sie sich dem Fenster zu und sah hinaus in den verschneiten Wintermorgen. In den letzten Tagen hatte es immer wieder geschneit und nun war die Welt unter einer dicken Schicht Schnee begraben. Die Gärten der Gräfin sahen um diese Jahreszeit wunderschön aus.

„Wir sollten vielleicht an einem anderen Punkt ansetzen. Weder dieser uralte Stammbaum, noch deine Nachforschungen haben bisher Ergebnisse erzielt. Wir wissen, wer ihr menschlicher Vater ist, aber der ist tot.“ Die Schultern seiner Mutter spannten sich an. Er beachtete es nicht. „Wir brauchen jemand anderen, der in alles Einblick hat.“

Darüber dachte sie einen Moment nach. „Was schlägst du vor?“

Ein listiges Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Jeder der Näheres über ihre Vergangenheit und Herkunft weiß, ist entweder tot, oder befindet sich in ihrem Schutzkreis. Jeder, nur eine Person nicht.“

Sie wartete darauf, dass er weiterredete, als er das nicht tat, wirbelte sie zu ihm herum und fixierte ihn mit ihrem Alphablick. „Wer?“

Er liebte diese kleinen Machtspielchen mit seiner Mutter, zeigten sie ihm doch, dass er ihr mittlerweile überlegen war und das nicht nur, weil er sich weder durch Wut noch durch Hass blenden ließ. „Ihre Mutter, die verstoßene Tochter der Amaroks: Prinzessin Celine.“

Die Gräfin schnaubte. „Das haben wir bereits vor Jahren versucht. Erfolglos, wie du weißt.“ Sie ließ sich im gegenüber in den Sessel sinken. „Niemand weiß, was mit Prinzessin Celine geschehen ist, wahrscheinlich ist sie tot. Es würde mich jedenfalls nicht wundern, wenn König Isaac sie damals hat eliminieren lassen. Er hat Probleme nie sehr geschätzt – besonders nicht in der eigenen Familie.“

Cerberus gestattete sich ein wissendes Lächeln, das seine Zähne aufblitzen ließ. „Und wenn ich dir sage, dass sie gesehen wurde?“

Seine Mutter verengte die Augen leicht. „Was willst du damit andeuten?“

Ohne ein Wort erhob er sich von seinem Sessel und ging hinüber zum Schreibtisch, wo der Ordner lag, den er beim hereinkommen abgelegt hatte. Er nahm die Mappe, kehrte zu seinem Platz zurück und reichte ihn seiner Mutter.

Die Gräfin griff danach und schlug ihn sofort auf. Ein DIN A4 großes Foto lag darin. Es zeigte zwei Frauen. Die Jüngere der beiden war blond, schlank und groß gewachsen. Die Ältere der Frauen war einen ganzen Kopf kleiner, hatte sehr exotische Gesichtszüge und karamellbraunes Haar, dass ihr bis auf den Po reichte. So unterschiedlich die beiden Frauen auch waren, sie sahen sich doch sehr ähnlich. Das waren Königin Cayenne und ihre Mutter.

„Die Aufnahme ist drei Tage alt, falls du dich das fragst.“

Langsam hob die Gräfin ihren Blick. „Woher hast du das?“

„Von unserem Maulwurf.“ Mit sich selbst zufrieden, verschränkte Cerberus die Hände auf dem Bauch. „Er hat es heute durch einen Kurier schicken lassen. Du erinnerst dich doch sicher daran, dass Königin Cayenne mit ihrem Galan für einen Woche mit unbekanntem Ziel verreist war. Sie war in Frankreich, bei ihrem Cousin Graf Samuel. Am zweiten Tag nach ihrer Ankunft tauchte Celine dort auf.“

Die Rädchen im Kopf seiner Mutter begannen sich zu drehen. „Ist sie noch immer dort?“

Cerberus schüttelte bedauernd den Kopf. „Leider war sie nur zwei Tage zu Besuch und verschwand wieder genauso still und heimlich, wie sie dort aufgetaucht ist.“

„Wissen wir, wohin sie verschwunden ist?“

„Nein. Aber unser Maulwurf hat noch etwas Interessantes herausgefunden.“

Als er nicht sofort erklärte, was er damit meine funkelte seine Mutter ihn warnend an. „Lass die Spielchen, Cerberus und sag einfach was du weißt.“

„Die verstoßene Tochter gehört jetzt scheinbar zu einem Rudel der Simultanen.“ So nannte man die Abtrünnigen und Streuner, seit Königin Cayenne ihnen gestattet hatte, als eigenständige Rudel, neben ihrem eigenen, zu existieren. „Und nicht nur das. Sie leitet ein solches Rudel als Partnerin eines Alphas.“

Die Augen seine Mutter blitzten auf. „Wissen wir welches?“

Das musste er leider mit einem Kopfschütteln beantworten.

„Wie viele Simultan-Rudel gibt es mittlerweile?“

„Nach der letzten Zählung waren es in Europa zweiundfünfzig und weltweit zweihundertsiebenunddreißig.“ Leider waren die genaueren Angaben zu diesen Rudel streng geheim. Es gab nur eine Liste, in der sie aufgelistet waren und die befand sich im Besitz der Königin. Man hatte es für sicherer erachtet, diese Informationen geheim zu halten, denn nicht alle Lykaner aus dem Rudel der Könige waren mit der neuen Ordnung einverstanden.

Die Gräfin erhob sich von ihrem Sessel und trat mit dem Ordner in der Hand zurück ans Fenster. „Vielleicht ist es an der Zeit, unsere Nachbarn auswendig zu machen und ihnen einen Besuch abzustatten. Eigentlich ist es doch ziemlich unhöflich von uns, dass wir bei den anderen Rudeln noch nie vorstellig geworden sind.“

„Ja“, stimmte er ihr lächelnd zu. „Das ist ein Fauxpas, den wir schnellstens korrigieren sollten.“

 

°°°°°

Möge das Spiel beginnen

 

„Wo sind meine Kekse?!“

Tja, da konnte er lange suchen.

„Gnocchi, wir hatten eine Abmachung!“

Während mein Vater Raphael auf der Suche nach meiner Ziehmutter Tarajika durch die Wohnung wütete, lehnte ich mich im Liegestuhl auf dem Balkon zurück und verfütterte seine heißgeliebten Schokoladenkekse an Flair, meinen weißen Miniyorki – den man wegen seiner Größe zwar ständig übersah, dafür aber umso besser hören konnte. Sie saß auf meinem Schoß und krümelte dort systematisch meine ausgebeulte Jeans voll. Klar, ich wusste, dass Schokolade für Hunde nicht gut war, aber irgendwie musste ich die Dinger ja loswerden und ich fand das Zeug widerlich. Da blieb ich doch lieber bei meinen Gummibärchen.

Okay, ganz von Vorne. Ich hatte meine Erzeugerin besuchen wollen, meine leibliche Mutter – ein ewiges Streitthema zwischen mir und meinem Vater – und er hatte mal wieder – wenig überraschend – abgelehnt. Deswegen mussten jetzt auch seine Kekse daran glauben. Da ich mit Schokolade nichts anfangen konnte, musste eben Flair herhalten und die schien sich daran nicht zu stören – auch nicht daran, dass sie kaum größer als diese Kekse war. Ja, von der Größe her, konnte sie fast als Ratte durchgehen, nur war sie viel süßer. Und lauter.

„Gnocchi!“ Mein Vater stapfte an der Balkontür vorbei, ohne zu bemerken, was ich hier draußen eingemummelt in meiner dicken Cordjacke und einer kuscheligen Decke so trieb. „Du hast schon wieder meine Kekse genommen!“

„Hab ich nicht!“, antwortete eine hohe Stimme.

„Und wo sind sie dann?“

Ich konnte mir geradezu vorstellen, wie die beiden sich gegenüberstanden und sich herausfordernd anfunkelten. Dann würden sie irgendwann herausbekommen, dass ich die Kekse hatte, mein Vater würde mir eine Standpauke halten, meine Ziehmutter würde mich in Schutz nehmen, dann würde eine Diskussion über meine Erziehung folgen, an dessen Ende die beiden wild miteinander rumknutschten. Es war immer dasselbe – und für mich wahrscheinlich nur nicht eklig, weil ich damit neunzehn Jahre lang aufgewachsen war. Obwohl, eigentlich war es doch irgendwie eklig. Man sollte doch wohl meinen, dass nach so langer Zeit die Luft in einer Beziehung endlich raus war, aber nein, nicht so bei meinen Eltern, die wirklich alles andere als normal waren. Damit spielte ich nicht nur auf ihre Beziehung an.

„Ich habe sie aber nicht genommen!“

Flair leckte sich über das kleine Schnäuzchen und sah erwartungsvoll zu mir auf, in der Hoffnung, dass da noch ein Keks auf sie warten würde. Da ich meinen kleinen Liebling nicht enttäuschen wollte, angelte ich ein weiteres Plätzchen aus der Verpackung, auf das sie sich sogleich voller Enthusiasmus stürzen konnte. Der dicke, gestreifte Pulli den ich ihr übergezogen hatte, schränkte ihre Bewegung dabei in keinster Weise ein.

„Aber du klaust meine Kekse immer!“, beharrte mein Vater stur auf seiner Meinung.

In meiner Hosentasche begann mein Handy auf sich aufmerksam zu machen. Ich zupfte es heraus, verwundert darüber dass ich hier ausnahmsweise einmal Empfang hatte, versicherte mich mit einem kurzen Blick aufs Display, wer da meine Interesse forderte und blendete die Keksdiskussion meiner Eltern aus. „Na, bereit für ein Abenteuer?“

„Abenteuer?“ Kasper schnaubte abfällig in den Hörer. „Das ist kein Abenteuer, sondern eine Verschwörung.“

Ich grinste bei dem grimmigen Ton ins Telefon und konnte geradezu vor mir sehen, wie mein bester Freund die Augen leicht zusammen kniff. „Treffen wir uns am alten Steinbruch beim Museum? Ich hab meine Tasche schon da versteckt.“

Der Keks auf meinem Schoß wurde immer kleiner und kleiner – was nicht nur an den tausend Krümeln auf meinem Schoß lag. Manchmal fragte ich mich wirklich, wie dieser kleine Hund es schaffte, solche Unmengen in sich reinzuschaufeln. Naja, die war halt wie meine Mutter.

Am anderen Ende der Leitung hörte ich ein Seufzen. „Willst du das wirklich durchziehen?“

„Ja.“ Kurz und bündig. „Ich will sie endlich kennenlernen und jetzt weiß ich auch, wo ich suchen muss.“ Endlich, nach so langer Zeit, dem Verstecken und der ständigen Geheimnistuerei meines Vaters.

„Willst du nicht lieber noch mal mit deinen Vater reden?“

„Das habe ich bereits getan. Vor einer halben Stunde, um genau zu sein.“ Ich schob die Brille auf meiner Nase ein wenig höher. „Ich wollte ihm noch eine letzte Chance geben, aber er hat wieder nein gesagt und jetzt muss er mit dem Ergebnis leben.“

Einen kurzen Moment blieb es ruhig. „Ich finde aber immer noch nicht, dass das eine gute Idee ist.“

„Willst du etwa kneifen?“ Das wäre ganz schlecht für mich. Kasper war der einzige in meinem Freundeskreis, der ein eigenes Auto besaß und ohne ein Auto würde es ein sehr langer Fußmarsch zum nächsten Bahnhof werden.

Natürlich konnte ich auch den Bus nehmen, aber der fuhr hier nur zwei Mal am Tag und ich hatte eigentlich nicht vor, erst mitten in der Nacht in München anzukommen.

„Nein, natürlich nicht.“ Wieder ein Seufzen. „Ich fürchte nur, dass dein Vater mich umbringen wird, wenn er von meiner Beteiligung bei dieser Sache erfährt.“

„Er wird es nicht erfahren“, versicherte ich ihm. „Also, was ist nun, Steinbruch?“

„In zwanzig Minuten treffen wir uns dort“, war seine Antwort, dann war die Leitung auch schon tot. Kasper machte nie mehr Worte, als unbedingt nötig. Das wusste ich schon lange, daher war ich auch nicht beleidigt, wie manch anderer es in diesem Moment vielleicht gewesen wäre.

Ich steckte den halben Keks, den Flair noch nicht verdrückt hatte, zurück in die Schachtel, klemmte mir meinen Hund unter den Arm und marschierte ins Wohnzimmer, wo meine Eltern sich immer noch in den Haaren lagen. „Hier“, sagte ich und hielt meinem Vater, einem sehr großen Mann, mit kurzen, schwarzen Haaren und Kinnbärtchen, die Schachtel unter die Nase.

Zwei helle, eisblaue Augen richteten sich auf mich. Sein Mund klappte zu und er fixierte mich mit einem Blick, der jeden anderen wohl sofort in die Flucht geschlagen hätte.

Mein Vater war durchtrainiert und trotz seines Alters von … äh … naja, uralt eben, noch ein ansehnlicher Kerl – zumindest wenn man den Blicken der Frauen auf den Straßen trauen konnte. Er war schon ein schmucker Kerl, was hauptsächlich von seinen Augen herrührte. Sie verrieten auch, was er war. Nein, ich habe mich nicht falsch ausgedrückt, ich meinte was ich sagte. Mein Vater war ein Vampir und seine Augen verrieten das.

„Siehst du, ich hab doch gesagt, ich habe sie nicht“, kam es von meiner Mutter. Sie war eine zierliche, kleine Frau mit dunkler Haut und kurzem Krausehaar. Das besondere an diesem Haaren, waren die Flecken darin. Auch sie war kein Mensch. Nein, sie war auch kein Vampir, so wie mein Vater. Meine Mutter war eine Werkatze, die sich bei Lust und Laune in einen Panther verwandeln konnte. Und eigentlich war sie auch nicht meine Mutter, sondern die Lebenspartnerin meines Vaters. Aber sie war die Frau, die mich seit meinen vierten Tag auf diesem Planeten aufgezogen und sich damit den Titel meiner Mutter mehr als verdient hatte.

Um ihren Hals hingen zwei Ketten. An der einen war eine verzierte Phiole in Tropenform, an der anderen ein silbernes Amulett, dass mein Vater ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Sie legte niemals eines der beiden Teile ab.

Bevor mein Vater mir noch eine Standpauke wegen der Kekse halten konnte, wandte ich mich bereits ab und steuerte die Wohnungstür an. „Ich bin dann weg.“

Damit waren die Kekse vergessen.

„Was? Nein, Moment.“ Mein Vater – oder besser gesagt, mein Gefängniswärter und Zuchtmeister – war bereits bei mir im Flur, bevor ich auch nur die Türklinke runtergedrückt hatte. „Wo willst du bitte hin?“

„Ich treffe mich mit Kasper.“

Seine Augen verengten sich eine Spur. Laut meiner Mutter hatte ich mal die gleiche blasblaue Farbe gehabt, aber mit den Jahren waren meine Augen dunkler geworden. Nun war das einzige spezifische Merkmal, dass ich als Vampir besaß, meine Reißzähne. Nur an ihnen konnte man noch erkennen, was ich zu einem Teil war.

„Und wann bist du wieder da?“

Wenn alles klappen würde – wovon ich nun einfach mal ausging – dann frühstes in ein paar Tagen. Natürlich sagte ich ihm das nicht. „Irgendwann heute Abend, schätze ich.“ Ich schob meine Brille zurück auf meine Nase. Das machte ich schon ganz automatisch, ohne es zu merken, weil sie ständig rutschte.

„Und wo wollt ihr hin?“

Ich musste stark an mich halten, nicht meine Augen zu verdrehen. Ging das schon wieder los. Am liebsten würde mein Vater mich in einen kleinen Raum sperren, dort an die Wand ketten und mich da erst bei meinen Tod rauslassen, um mich vor den Gefahren des Lebens zu schützen. „Wir wollen ein Eis essen gehen und danach vielleicht noch ins Kino.“

„In Koenigshain gibt es kein Kino.“

„Sag bloß.“ Nein, das hatte ich mir nicht verkneifen können. Ich wollte einfach nur gehen und seine Fragerei war einfach nur hinderlich. Außerdem zappelte Flair ungeduldig auf meinem Arm. Auch sie wollte raus.

„Ys-oog, lass sie gehen“, mischte meine Mutter sich ein und benutzte den afrikanischen Spitznamen für ihn, denn sie ihm schon vor meiner Geburt gegeben hatte. Ich hatte sie einmal gefragt, was er bedeutete. „Eisauge“ war ihre Antwort gewesen. Sie war vom ersten Augenblick an fasziniert von seinen Augen gewesen. Im Gegensatz zu meinem Vater, der sie zum Teufel gewünscht hatte. Jup, aller Anfang war schwer und der meiner Eltern … sagen wir mal, es war nicht immer einfach gewesen.

„Donasie, geh.“ Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange und schob mich dann an meinem Vater vorbei zur Tür. „Wir sehen uns heute Abend.“

Irgendwie bekam ich von diesen fünf Worten so ein schlechtes Gewissen, dass ich die ganze Aktion fast abbrechen wollte, aber das konnte ich nicht, nicht jetzt, wo ich endlich wusste wohin ich gehen musste, um sie zu finden. Nein, ich würde so kurz vor dem Ziel nicht aufgeben. „Bis dann“, sagte ich noch und dann flog ich mit Flair unten Arm, fast die Treppe hinunter, so eilig hatte ich es auf die Straße zu kommen.

Koenigshain war ein kleiner Ort, so abgelegen, dass man fast glauben konnte, allein auf der Welt zu sein. Bis zum nächsten Dorf waren es fünf Kilometer. Es gab nur eine schmale Zufahrtsstraße mit der unser kleines Örtchen zu erreichen war und die führte auch noch durch einen dunklen, finsteren Wald. Jede Straße hier hieß Dorfstraße – das war für Fremde manchmal sehr verwirrend – und Telefonnummern waren alle drei- bis vierstellig. Internet gab es nur temporär und Handyempfang meist nur auf dem Berg – nur bei sehr viel Glück konnte man auch mal woanders telefonieren.

Mein Zuhause lag also irgendwo im Nirgendwo. Naja, eigentlich ja in Deutschland, aber trotzdem so abgelegen, dass ich genauso gut in Timbuktu wohnen könnte.

Trotzdem hatte der Ort etwas. Naja, zumindest für Urlauber und Touristen. Für jemanden wie mich, der hier leben musste, konnte es ziemlich langweilig werden. Die einzige Abwechslung die ich abgesehen von meinen Freunden genoss, war meine Ausbildung zur Pferdewirtin. Ich liebte Pferde, die so das genaue Gegenteil zu meinem anderen Hobby waren. Computer. Ja, ich gab es zu, ich war ein kleiner Nerd. Und ich stand nicht nur dazu, ich war auch noch stolz drauf.

Ich setzte Flair auf den Weg und sie begann sofort, begeistert an einem gefrorenen Grasbüschel zu schnuppern, auf den sie dann gleich auch noch draufpinkelte. Dann bellte sie einmal freudig, was mehr einem Quietschen ähnelte als allem anderen, und sauste los. Ich führte sie nie an der Leine und Halsband trug sie eigentlich nur zur Dekoration. Sie hörte sehr gut und entfernte sich sowieso nie weit von mir, warum also sollte ich sie an die Leine legen?

Ich schüttelte meinen Kopf, um diese Gedanken loszuwerden. Im Moment gab es wirklich wichtigeres, worüber ich mir den Kopf zerbrechen sollte, wie zum Beispiel das, was vor mir lag.

Die vertrauten Straßen, die meinen verschneiten Weg begleiteten, nahm ich kaum zur Kenntnis, als ich mich an den Abend vor zwei Tagen erinnerte. Der Abend, der alles verändert hatte, der Abend, an dem meine Gothictante Amber überraschend zu Besuch gekommen war …

Das schrillen der Tür war kein Anlass für mich, meinen Computer einfach so im Stich zu lassen. Besonders nicht da sich meine Gobblinkriegerin gerade mitten in einem Kampf gegen vier zweiköpfige Elite-Oger befand – diese Biester waren vielleicht lästig – und ich auch noch dabei war zu verlieren. Ich brauchte unbedingt bessere Ausrüstung.

Donasie, kannst du mal bitte an die Tür gehen? Ich bin noch im Bad.“

Dieses Wort schien mich manchmal zu verhöhnen. Donasie. Das war afrikanisch und bedeutete nichts anderes als Geschenk und genau so war ich auch hier gelandet. Meine leibliche Mutter hatte mich zum Wohle tausender anderer verschenkt. Natürlich, mein Vater hatte mir den Grund dafür mehr als einmal erklärt, doch das machte es für mich nicht weniger bitter.

Meine Mutter wollte mich mit diesem Kosenamen nicht kränken. Für sie hieß es eher so viel, wie ein Geschenk des Himmels an sie und ihren Vater. Ein Kind, da sie zusammen niemals eigene hätten bekommen können.

Donasie?“

Ich bin gerade beschäftigt!“, rief ich und schlug mit meinem Schwert verbissen auf diese hässliche Ding ein, aber der Oger wollte einfach nicht sterben. Und da mein Unterbrechungszauber noch nicht resettet war, konnte ich seine Heilung auch nicht unterbrechen. Blöde Quest.

Wieder schrillte es an der Tür.

Ys-oog?“

Ja, ich geh schon.“

Die folgenden Geräusche im Hintergrund auszublenden, war gar nicht so einfach, besonders nicht, als Flair auch noch von ihrem Lammfellkissen neben meinem Schreibtisch aufsprang und wie verrückt an der Tür kratzte, als sie die Stimme von Tante Amber hörte.

Flair, sei ruhig.“

Sie war ruhig. Zwei Sekunden, in denen sie mich ansah und versuchte mich mit einem Blick dazu zu bewegen, meinem Computer den Rücken zu kehren und sie hinaus zu lassen. Dann kratzte sie wieder an der Tür und fiepte mich kläglich an.

Nein, Flair, jetzt …“

Meine Zimmertür ging auf und eine schwarzgekleidete Frau, die nur als Gothic zu bezeichnen war, stürmte in mein Zimmer. Einen Moment später wurde ich in so viel Tüll und Spitze gedrückt, dass ich gar nichts anders mehr sah. Meine Maus glitt mir aus der Hand und ich wusste auch ohne hinzusehen, dass ich tot war.

Tante Amber!“, protestierte ich und machte mich von ihr frei. „Was soll das?“

Flair sprang wie verrückt an den Beinen meiner Tante hoch und freue sich dabei so sehr, dass sie fast vom Boden abhob.

Was soll was?“, fragte sie ganz scheinheilig.

Ich funkelte sie böse an, was ihr nur ein breites Grinsen entlockte.

Du wirst es kaum glauben, aber meine Ohren funktionieren sehr gut.“ Sie warf einen Blick auf meinen Monitor. „Ich wollte nur gucken, mit was du so beschäftigt bist, dass du mir nicht einmal die Tür aufmachen kannst.“

Natürlich, was auch sonst. Tante Amber fand, dass man von Computern verblödete. Okay, bei manchen stimmte das schon. Wenn ich mich den ganzen Tag auf diesen Sozialnetzwerken herumtreiben würde und mir dort den ganzen Schwachsinn ins Hirn stopfte, dann würden meine Gehirnzellen auch nach und nach absterben. Doch ich spielte hier gerade WoW, das war etwas ganz anderes. Aber davon mal abgesehen, war ich ein kleiner Computer-Crack und konnte mit meinem Maschinchen Dinge tun, die sie sich wahrscheinlich nicht mal vorstellen konnte. „Wegen dir bin ich jetzt tot“, warf ich ihr vor.

Dafür siehst du aber noch ganz bezaubernd aus.“ Sie drückte mir einen Kuss auf die Wange, strahlte mich an und marschierte dann mit Flair im Schlepptau zu meiner Tür. „Kommst du raus? Ich habe Schaschlik mitgebracht. Dein Vater wird jetzt vermutlich in der Küche stehen und sie noch mal neu machen, aber es ist ja der Wille der zählt, nicht wahr?“

Ja“, gammelte ich missmutig. „Ich komm gleich raus.“

Zufrieden damit verließ sie gemeinsam mit dieser kleinen Verräterin von Hund mein Zimmer. Das machte sie nur, weil Tante Amber sie immer vollstopfte.

Verärgert meldete ich mich bei meinem Account ab und fuhr den Computer herunter. Heute würde ich eh nicht mehr dazu kommen, mich noch einmal ranzusetzen, nicht wenn meine Tante da war. Sie hatte schon einen Narren an mir gefressen gehabt, als ich noch ein süßes, kleines Baby war, das ihr nicht widersprechen konnte und im Laufe der Jahre war es nur schlimmer geworden. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich war ihre Droge. Ohne einen täglichen Schuss Zaira konnte sie nicht überleben.

Seufzend erhob ich mich von meinem Drehstuhl und ging rüber zu meinem Wandspiegel. Ozeanblaue Augen erwiderten grimmig meinen Blick. Vor kurzem erst war ich beim Friseur gewesen, um das Nest auf meinem Kopf in den Griff zu bekommen – hatte nicht viel gebracht. Nun standen meine kurzen, schwarzen Haare fransig zu allen Seiten ab. Es sah eigentlich gar nicht schlecht aus, nur diese Nerdbrille störte das Bild leicht. Natürlich konnte ich auch Kontaktlinsen tragen, aber die fand ich immer so unangenehm.

Ich zupfte mein Karohemd ein wenig zurecht, ärgerte mich dabei über die kleinen Speckröllchen an meiner Hüfte – zu viele Gummibärchen – und befand, dass so alles gut verdeckt war.

Ich hatte eine ordentliche Oberweite, aber die zeigte ich nicht gerne. Ich mochte die Blicke nicht, nicht seit die Jungs in der sechsten Klasse damit angefangen hatte, mir lieber auf die Brust zu starren, als mir an den Haaren zu ziehen. Das war der Startschuss zu weiten, unförmigen Klamotten gewesen. Mit zwölf war einem halt noch so einiges peinlich und als frühreifes Mädchen in einer Klasse mit lauter unreifen Jungs zu sein, hatte mich erfinderisch gemacht. Und bis heute hatte ich noch keinen Grund gesehen, etwas an meinen Klamotten zu ändern – wofür mein Vater wohl ziemlich dankbar war, immerhin war ich sein armes, kleines Mädchen, das vor der großen, bösen Männerwelt geschützt werden musste. Meine Cousine Alina sagte mir immer, dass ich viel mehr aus meinem Typ machen könnte – was auch immer das hieß.

Ich griff nach meiner Haarbürste, um den wilden Flaum auf meinem Kopf ein wenig zu bändigen und dachte daran, dass niemand auf der Welt, der mich so sah, auf den Gedanken käme, dass ich von adliger Herkunft war. Niemand würde glauben, dass ich in Wirklichkeit eine Prinzessin war – nicht mal ich selber konnte das glauben, obwohl ich als kleines Mädchen immer gerne als Prinzessin zu Fasching gegangen war.

Seufzend legte ich meine Bürste zurück und machte mich daran mein Zimmer zu verlassen. Wenn meine Mutter erst mal aus dem Bad raus war und die Küche stürmte, würde für mich nicht viel übrig bleiben, also musste ich ihr zuvor kommen.

Die Dreizimmerwohnung in der wir leben war zwar recht klein, dafür aber sehr gemütlich und mit warmen und einladenden Farben gestaltet, die man nicht nur bei den Möbeln, sondern auch bei den Wänden fand. Mein Vater hatte alles selbst renoviert, als wir vor knapp acht Jahren hergezogen waren.

Kaum dass ich meine Zimmertür geöffnet hatte, schwebten mir die Düfte aus der Küche genauso entgegen, wie die leisen Stimmen meiner Familie. Die Schaschlikspieße meiner Tante waren wirklich die Besten der Welt, auch ohne das mein Vater sich noch mal an ihnen verging – nicht das ich mich beschweren wollte, mein Vater kochte wahnsinnig gut, was wohl auch der Grund für die überflüssigen Kilos war, die sich an meiner Hüfte festgesetzt hatten und einfach nicht weichen wollten, egal auf wie viele Gummibärchen ich verzichtete.

Ich trat gerade in den Flur, als mein Vater meine Tante anzischte leiser zu sprechen. „Ich will nicht das Zaira das hört.“

Ach hör doch auf.“ Ich konnte geradezu vor mir sehen, wie sie abwinkte und dabei ihre Armreife aneinander klickten. „Wenn deine Tochter an ihrem Spielzeug sitzt, bekommt die doch eh nichts von der Welt um sich herum mit.“

Mein Vater schnaubte. „Du würdest dich wundern, was sie alles mitbekommt.“

Ich blieb ganz still stehen, versuchte sogar das Atmen soweit es ging einzustellen, in der Hoffnung, dass sie mich dann nicht bemerken würden. Wenn mein Vater versuchte etwas vor mir zu verheimlichen, dann konnte das nur mit meiner Erzeugerin und der Welt in der sie lebte zu tun haben. Er versuchte immer alles in dieser Richtung vor mir zu verbergen, weil ich so anders war als all die anderen, weil sie mich dort niemals akzeptieren würden wie ich war und weil es schlimm enden könnte, wenn anderer herausfanden, wer und vor allen Dingen, was ich wirklich war.

Zaira hat schon immer spitze Ohren bekommen, wenn es um die verborgene Welt ging“, fuhr er fort. Es zischte, er musste etwas in die Pfanne gelegt haben.

Das ist doch nur natürlich“, warf da meine Mutter ein. Aha, sie war also doch schon aus dem Bad raus. Da konnte ich nur hoffen, dass Tante Amber mein Essen bis zum letzten Atemzug gegen sie verteidigte, damit nicht nur Reste für mich übrig blieben. „Sie ist neugierig auf ihre Herkunft. Und du machst immer so ein großes Geheimnis daraus, dass sie gar nicht anders kann als interessiert zu sein.“

Zaria weiß alles was sie wissen muss, den Rest verberge ich aus einem guten Grund vor ihr.“

Ja, aus dem gleichen Grund, warum du dich mit ihr seit Jahren in einem kleinen Kaff versteckst, wo es nur Menschen gibt“, gab meine Tante unwirsch zurück.

Mein Vater murrte etwas unverständliches und … „Halt dich da raus, Lalamika! Ich werde meine Meinung bestimmt nicht ändern, nur weil du auch noch deinen Senf dazugeben musst.“

Ah, meine andere Tante machte sich also auch bemerkbar.

Tante Lalamika war … etwas Besonderes. Genaugenommen war wie tot und spukte seit dem in den Köpfen meiner Eltern herum. Zu Lebzeiten war sie der gute Zwilling von meiner Mutter gewesen, doch danach war sie nicht einfach verschwunden, wie jeder andere anständige Geist es tat. Nein, sie war bei meiner Mutter geblieben und als die mit meinem Vater zusammen kam, hatte sie es sich zur Aufgabe gemacht, ihn in den Wahnsinn zu treiben – zumindest behauptete mein Papa das immer. Das tat sie einfach in dem sie mit ihm sprach – in seinem Kopf.

Auch mit mir tat sie das gelegentlich. Es störte mich nicht, ich war damit aufgewachsen und kannte es nicht anders.

Ich habe Zaira und Tarajika aus gutem Grund hier her gebracht“, fuhr mein Vater fort, „und das weißt du auch, also versuch nicht mir ein schlechtes Gewissen einzureden, nur weil ich meine Familie beschützen möchte.“

Es ist jetzt fast zwanzig Jahre her“, seufzte Tante Amber. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass sie sie noch immer jagen.“

Jagen? Wer wurde hier gejagt? Und warum?

Ich werde nichts riskieren.“ Das war sein Schlusswort. Ein Widerspruch wurde nicht geduldet, dass erkannte ich an seinem Ton.

Dieses Gespräch hatte nichts Neues, oder wirklich Interessantes für mich zutage gefördert, sodass ich mich schon in Bewegung setzten wollte, als Tante Amber wieder das Wort ergriff.

Ich wollte dir eigentlich ja nur sagen, dass Tristan mit Lucy für ein paar Tage in Silenda ist und nicht zum Grillen am Wochenende herkommen kann.“

Mein Vater schwieg dazu eisern. Nur das Brutzeln aus der Pfanne war zu hören.

Er war auch schon oben im Schloss bei Cayenne“, fügte sie noch hinzu.

Schön für ihn.“

Sie hat nach Zaira gefragt.“

Meine Erzeugerin … sie hatte nach mir gefragt? Uns Schloss und … und … was war Silenda?

Ein schweres Seufzen kam von meinem Vater, so als sei er dieses Thema schon lange leid. „Das ist doch auch nichts Neues, das tut sie immer und meine Antwort ist wie immer die gleiche. Nein, ich werde meine Tochter nicht nach Bayern bringen, Zaira wird Cayenne nicht besuchen. Es ist einfach zu gefährlich.“

Bayern?

Und wenn du sie nur nach Silenda bringst und nicht ins Schloss? Cayenne könnte sich dort mit ihr treffen. Zaira wünscht sich das, das weißt du. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft sie mich schon nach ihrer leiblichen Mutter gefragt hat. Sie will Cayenne kennenlernen. Unbedingt.“

Etwas knallte. Vermutlich das Bratbesteck, das mein Vater auf die Anrichte donnerte. „Verdammt, Amber, willst du es nicht verstehen? Cayenne ist die Königin der Lykaner. Sie hat das größte Rudel dieser Welt unter sich und in einer Stadt wie Silenda, in der er nur so von Vampiren und Lykanern wimmelt, fällt sie sofort auf. Jeder dort kennt Cayenne, jeder dort weiß, dass sie in dem Schloss wohnt und es würde mehr als nur eine Person geben, die sich fragen würde, wer das schwarzhaarige Mädchen an ihrer Seite ist, wenn ich Zaira dort hinbringen würde. Außerdem weiß ich von Hisham und auch Rahsaan ist immer mal wieder dort. Das werde ich nicht riskieren. Ich werde die Sicherheit meiner Familie nicht für so ein albernes Treffen aufs Spiel setzen, das kannst du vergessen.“

Einen Moment herrschte ruhe, ein Moment in dem die Gedanken in meinem Kopf rasten. Meine Erzeugerin lebte in einem Schloss. Ja, das wusste ich schon lange, doch bisher hatte dieser Ort nie einen Namen besessen. Mein Vater hatte es immer vermieden näher auf Einzelheiten einzugehen. Doch jetzt … langsam reifte in meinem Kopf ein Plan heran.

Du wirst sie nicht ewig fernhalten können“, sagte meine Tante leise.

Ich kann es aber versuchen.“

Ja“, stimmte sie ihm zu. „Du kannst es versuchen, aber früher oder später wirst du daran scheitern.“

Wie rechts sie mit diesen Worten doch gehabt hatte, würde sie wahrscheinlich sehr bald erfahren.

Noch am gleichen Abend hatte ich mich an meinem Computer gesetzt und eine alte Chatbekanntschaft von einer Vampirfanseite angeschrieben. Sie hatte mehr als einmal damit geprahlt echte Vampire zu kennen. Natürlich hatte ich ihr nicht geglaubt, bis sie nur so nebenbei einmal die blasse Farbe der Augen erwähnt hatte. Blasse, beinahe kristallene Augen, die jeden in seinen Bann zogen. Das einzige optische Merkmal eines jeden Vampirs, wenn er seine Reißzähne verborgen hielt. Da war ich zum ersten Mal hellhörig geworden, doch wie mir das Wissen, dass sie echte Vampire kannte weiterhelfen sollte, war mir damals noch nicht klar gewesen. Jetzt sah die Sache ganz anders aus.

Weiter vorne kläffte Flair ihr kleines Minibellen und raste dann die Straße entlang, direkt auf einen alte Schrottmühle zu, die nicht mal im Entferntesten den Namen Auto verdiente. Dieses blaue, halbverrostete Ungetüm, war das schon vor vielen Jahren in die Jahre gekommene Gefährt, meines besten Freundes Kasper – ich nahm zumindest an, dass es blau war, so ganz sicher war ich mir da nicht, könnte auch ein hässliches grün sein.

Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich gar nicht gemerkt hatte, wie weit ich in der Zwischenzeit bereits gelaufen war, doch auf meine Kampfarmeise, die gerade wie ein Flummi an Kasper hochsprang, war immer Verlass. Sie wusste auch wo es langging, wenn ich ihr mal nicht den Weg wies.

Mein bester Freund Kasper lehnte mit dem Rücken gegen seine Krücke von Wagen und schnalzte Flair zu, was sie völlig durchdrehen ließ. Sie freute sich so sehr darüber, dass sie wahrscheinlich gleich Purzelbäume in der Luft schlagen würde. Er war zwei Jahre älter als ich. Ich hatte ihn kennengelernt, als ich mit dreizehn Jahren der festen Überzeugung gewesen war, ich wäre ein zukünftiger Eishockeystar. Das hatte ungefähr drei Monate angehalten, dann war ich umgestiegen, um Gitarre zu lernen. Kasper jedoch hatte ich weiterhin getroffen.

„Wenn du sie nicht gleich streichelst, bekommt sie vor lauter Ungeduld noch einen Kollaps“, teilte ich ihm mit und drückte ihm zur Begrüßung einen Kuss auf die Wange. Das war nicht weiter schwer, da wir praktisch gleichgroß waren.

Braune Augen musterten mich mürrisch. Das war nichts Neues. Kasper hatte die schlechte Laune gepachtet – immer. „Du siehst müde aus.“

War nicht wirklich verwunderlich. Ich hatte die ganze Nacht vor Aufregung kaum ein Auge geschlossen. Wenn alles klappte, wie ich mir das erhoffte, dann würde ich endlich meiner Erzeugerin begegnen. Nur war ich mir noch nicht sicher, ob ich mich ihr annähern sollte, oder sie nur aus der Ferne beobachten. Ich wusste, dass es nicht ohne Risiko war, sie persönlich zu treffen. Genaugenommen war es für mich schon gefährlich, mich anderen Leuten aus der verborgenen Welt überhaupt zu näheren. Wenn jemand herausbekam, was ich war, konnte das sehr böse für mich enden. Ich war ja nicht dumm und kannte die ganzen Warnungen meines Vaters zur Genüge. Doch sie würden mich nicht länger daran hindern das zu tun, was ich schon seit meiner jüngsten Kindheit tun wollte.

„Vielleicht solltest du es dir doch noch mal anders überlegen.“

„Auf keinen Fall. Ich habe so lange gewartet, jetzt werde ich es auch durchziehen.“ Und da konnte sich die Welt kopfstellen.

Durch sein Seufzen hob sich das übergroße T-Shirt um den schlaksigen Körper. Er sollte sich mal wieder die Haare scheiden lassen, die braunen Locken hingen ihm ja schon beinahe in die Augen. „Na dann steig ein, damit wir zum Bahnhof kommen.“

„Willst du mich etwa loswerden?“, neckte ich ihn.

„Nein, will ich nicht. Eigentlich will ich gar nicht, dass du fährst, nicht wo du mir nicht mal sagst, wie genau dein Plan ist, aber da ich mir dein Geheule reinziehen darf, wenn ich dich nicht hinbringe, würde ich jetzt gerne losfahren, damit du deinen Zug nicht verpasst.“

Oh, das hatte er aber schön gesagt. „Moment noch, ich muss erst noch meine Tasche holen. Bin gleich wieder da.“ Als ich mich davon machte, um meine große Reisetasche aus dem Dickicht an der Straße zu ziehen, schaute Flair unentschlossen zwischen mir und Kasper hin und her, entschied sich dann aber doch dafür, dass es spannender war mir zu folgen und rannte so schnell die kleinen Beinchen sie trugen durch den Schnee. Als ich die Tasche aus dem Gebüsch ziehen wollte, saß sie schon hechelnd oben drauf und sah mich erwartungsvoll an. „Runter da“, befahl ich. „Du kannst laufen, du faules Stück.“

Sie stellte die Ohren auf, blieb aber wo sie war.

Oh man, dieser Hund. Sobald sie eine Tasche sah, musste sie sofort reinklettern und wenn die Tasche geschlossen war, dann setzte sie sich eben einfach oben drauf. Egal wie, Hauptsache sie wurde getragen. Besonders an so nasskalten Tagen wie heute. Flair war nämlich ein Schönwetterhund, dem jegliche Nässe oder Kälte zuwider war.

Nun gut, dann zog ich die Tasche, die ich bereits heute Morgen beim Spaziergang mit ihr hier versteckt hatte – um die Zeit hatten meine Eltern noch geschlafen – mit ihr obendrauf heraus und trug meinen Hund thronend darauf zu Wagen.

„Dir ist klar, dass dein Hund vier gesunde Beine hat?“, fragte Kasper, als er den Beifahrersitz umklappte, damit ich meine Last auf den Rücksitz werfen konnte.

„Erklär ihr das mal.“

Ein paar Handgriffe später war alles verstaut und ich saß mit Flair auf dem Schoß auf dem Beifahrersitz und versuchte mich anzuschnallen – gar nicht so einfach, wenn da so eine kleine Hupfdohle auf einem rumhampelte.

Kasper ließ sich hinterm Lenkrad nieder, was sein Sitz mit einem gequälten Ächzen kommentierte. Er brauchte drei Versuche, bis seine Tür endlich richtig schloss und mindestens genauso viele, um den Wagen davon zu überzeugen, dass ein gedrehter Zündschlüssel im Schloss bedeutete, anzuspringen.

„Lange macht deine Klapperkiste aber auch nicht mehr mit.“

„Erzähl mir etwas das ich noch nicht weiß“, grummelte er und lenkte den Wagen auf die leere Straße raus aus Koenigshain.

„Flair hat vorhin einen Keks gegessen, der größer war als sie selber.“

Bei dem verständnislosen Blick von ihm musste ich grinsen.

„Du hast gesagt, ich soll dir etwas erzählen, dass du noch nicht weißt und das wusstest du noch nicht.“

Kopfschüttelnd richtete Kasper seinen Blick wieder auf die Straße. „Erzähl mir lieber, was du jetzt eigentlich genau vor hast. Bisher hast du mir nur gesagt, dass du jetzt weißt, wie du deine leibliche Mutter findest und dass du deswegen um elf unbedingt am Bahnhof sein musst.“

„Mehr werde ich dir auch nicht erzählen. Flair, Platz!“

Sofort legte sich das kleine, weiße Unheil in meinen Schoß und blickte erwartend zu mir auf.

„Du willst mir nichts weiter sagen?“

„Nein.“ Davon mal abgesehen, dass ich ihn sowieso nicht in die Geheimnisse der verborgenen Welt einweihen durfte, befürchtete ich auch, dass mein Vater bei ihm einreiten könnte und ihn dazu zwang alles preiszugeben, was er über den Verbleib seiner Tochter wusste, wenn ich heute Abend nicht auftauchte – und das ich nicht auftauchte, war bereits jetzt eine Tatsache.

„Hallo? Ich bin dein bester Freund und wurde jetzt praktisch gezwungen, dich zum Bahnhof zu fahren.“ Er warf mir einen bösen Blick zu. „Da wäre eine kleine Erklärung doch wohl das Mindeste, oder meinst du, dass ich es gleich jedem erzähle?“

„Mach dich nicht lächerlich. Ich weiß, dass du dicht hältst, aber mein Vater könnte auf den Gedanke kommen dich zu fragen, wo ich abgeblieben bin.“ Und der hatte so einige Tricks drauf, die Kasper dazu bringen würden alles zu verraten und mein bester Freund würde sich hinterher nicht einmal daran erinnern. „So ist es einfach besser, glaub mir.“

Er sah zweifelnd aus, ließ das Thema damit aber fallen. So mehr oder weniger. „Und du glaubst nicht, dass dein Vater etwas dagegen hat, wenn du einfach wegbleibst?“

Der Motor gab ein sehr ungesundes Geräusch von sich, das mich an einen starken Raucherhusten erinnerte, arbeitete aber weiter und brachte uns hinein in den Wald, der Koenigshain mit der nächsten Ortschaft verband.

„Natürlich hat er was dagegen, er wird wahrscheinlich an die Decke gehen, doch auch dafür habe ich mir schon etwas überlegt.“

„Na da bin ich aber mal gespannt.“

Ich grinste ihn an, einfach nur ein verziehen des Mundes, schließlich mussten meine Beißerchen im Verborgenen bleiben, um keine unnötigen Fragen aufzuwerfen. „Ich werde einfach behaupten, dass ich Valerie getroffen habe und dass wir einen Mädchenabend machen wollen. Dann habe ich bis morgen Abend Ruhe.“

„Dann hast du aber nur einen Tag gewonnen. Ich glaube nicht, dass du das so schnell schaffst. Und da morgen Sonntag ist, wird er darauf bestehen, dass du wieder nach Hause kommst, weil du Montagmorgen wieder in den Stall musst.“

„Ich habe mir Urlaub genommen.“

Der Wagen ruckelte unter uns und Kasper musste sich sehr anstrengen, ihn auf der Straße zu halten. „Und das hast du ihm gesagt?“

„Natürlich nicht.“ Das wäre ja noch schöner.

„Natürlich.“

Diesen herablassenden Ton überging ich einfach. „Wenn ich es ihm gesagt hätte, hätte er nach dem Grund gefragt.“

„Den du ihm natürlich nicht nennen kannst.“

„Genau.“ Ich strich mir mein Haar hinters Ohr, weil es mich an der Wange kitzelte. „Er wird vielleicht etwas sauer sein, aber bis Morgen Abend wird er nicht nach mir suchen. Bis dahin bin ich hoffentlich schon an meinem Ziel und dann muss er mich erst mal finden.“

„Wenn er dich anruft und fragt wo du bist, wirst du es ihm nicht sagen?“

„Ich weiß noch nicht.“ Würde ich es ihm sagen? „Vielleicht. Aber selbst wenn, dann ist es eh schon zu spät.“

Kasper schüttelte den Kopf über mich. „Wenn das nur mal alles gut geht.“

„Hör mal, er weiß wo sie ist und will mich nicht zu ihr lassen. Das hat er sich selber zuzuschreiben. Außerdem bin ich schon lange alt genug, um meine eigenen Entscheidungen treffen zu wollen und das muss er langsam mal verstehen.“

Wieder ein Seufzen. „Warum ist es dir eigentlich so wichtig die Frau die dich weggegeben hat kennenzulernen? Ich meine du hast doch Tarajika. Reicht dir das nicht?“

Ob es mir reichte? „Ich weiß nicht. Versteh mich nicht falsch, Mama ist toll und ich würde sie um keinen Preis der Welt eintauschen wollen, aber sie ist … naja …“

„Sie ist eben nicht deine leibliche Mutter.“

Das traf den Nagel wohl so ziemlich auf den Kopf. „Ich will sie einfach nur kennenlernen.“ Und verstehen, wie sie das damals hatte tun können.

Flair hob den Kopf und legte ihn schief, als hätte sie etwas Interessantes gehört.

Wir verließen den Wald und folgten weiter der Straße in den nächsten Ort.

„Und wenn du sie kennst, was wirst du dann tun?“

„Ich … ich weiß nicht. Darüber habe ich mir eigentlich noch keine so genauen Gedanken gemacht. Es ist … es wird sich schon irgendwas ergeben.“

„Ich hoffe um deiner Willen, dass du recht behältst.“ Er setzte den Blinker und bog rechts in das kleine Dorf ein. Bis zum Bahnhof war es nicht mehr weit und langsam wurde ich ein wenig nervös. Ich würde es wirklich tun. Ich würde in einen Zug steigen und zu meiner Erzeugerin fahren. Endlich würde ich die Frau kennenlernen, die mich zur Welt gebracht hatte.

Allein diese Worte erfüllten meine Gedanken bis zu unserem Ziel, einem kleine unscheinbaren Bahnhof, an dem es bei Regen nicht einmal einen Platz zum unterstellen gab. Hier schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Nur wenige Seelen verirrten sich an diesen Ort, weswegen wohl auch schon lange im Gespräch war, diese Haltestelle zu schließen. Doch noch war sie offen und würde die erste Station auf meiner Reise zu meiner leiblichen Mutter sein.

Kasper parkte den Wangen am Straßenrand. Der Motor röchelte und starb einen grausigen Tod, noch bevor er ihn abgestellt hatte. Na hoffentlich kam er damit nachher wieder hier weg.

Ich stieg schon auf der Beifahrerseite aus und umrundete den Wangen, als mein bester Freund noch mit seiner Tür kämpfte. Das war ja wieder typisch, erst wollte sie sich nicht schließen lassen und dann klemmte sie beim öffnen.

Auf meinem Arm hampelte Flair aufgeregt herum, als Kasper endlich ausstieg und seinen Sitz umklappte. „Nimm Flair an die Leine“, sagte er, als er meine Tasche vom Rücksitz holte, hielt dann kurz inne und drehte sich halb zu mir herum. „Du hast die Leine doch dabei, oder?“

„Natürlich habe ich das.“ Genau wie mein Tablet, das neben meinem Handy einer der wichtigsten Begleiter in meinem Leben war.

„Guck nicht so pikiert.“ Er hängte sich die Tasche über die Schulter und schmiss die Wagentür zu. Dieses Mal brauchte er nur zwei Versuche, bis das Schloss zuschnappte. „So selten wie du daran denkst, ist diese Frage gerechtfertigt.“

„Flair brauch eben keine Leine.“

„Im Zug brauch sie die, also mach sie ihr auch um.“

Wie sich das anhörte, als wenn ich sie zwar mit mir rumschleppen würde, aber dann zu blöd wäre sie ihr anzulegen. Na dem würde ich es zeigen. Ich setzte Flair auf den Boden – vielleicht keine schlechte Idee, so könnte sie noch mal schnell pinkeln gehen, bevor wir in den Zug stiegen – öffnete den Reißverschluss der Seitentasche und beförderte eine einfache, schwarze Leine samt Halsband zutage. Dann musste ich nur noch darauf warten, dass mein Wutzi die Pflanzenwelt genug bewässert hatte und legte sie in Fesseln. „Zufrieden?“, fragte ich, nachdem ich mich wieder aufgerichtet hatte.

„Nicht wirklich“, erwiderte er und marschierte los. „Zufrieden wäre ich erst, wenn du mir alles erzählen würdest.“

„Wirklich alles?“, stichelte ich. „Auch meine tiefsten und dunkelsten Geheimnisse?“

Er warf mir nur einen genervten Blick zu. „Du weißt genau was ich meine.“

Wie zu erwarten war der Bahnsteig bis auf uns drei völlig verwaist. Der Zug sollte in nicht mal zehn Minuten kommen und langsam machte sich die Nervosität bei mir breit. Immer wieder schob ich die Brille auf der Nase zurecht, oder wechselte die Schlaufe der Leine von einer Hand in die andere, nur um mir dann die Handflächen an meiner ausgebeulten Jeans abzuwischen. Es wurde so schlimm, dass Kasper meine Hand nahm und sie drückte, etwas das er nur selten tat. Dank seiner Vergangenheit vermied er Berührungen nach Möglichkeit.

„Wenn du nicht gleich aufhörst rumzuhampeln, dann fessle ich dir die Hände mit Flairs Leine auf dem Rücken.“

Ich lächelte ihn entschuldigend an. „Tut mir leid. Ich bin halt nur so aufgeregt. Seit zwanzig Jahren warte ich jetzt schon darauf meine Erzeugerin zu treffen und jetzt ist es endlich so weit.“

Kasper zog eine Augenbraue nach oben. „Du hast schon als Windelpupser deine Erzeugerin treffen wollen? Und nur so nebenbei, du bist erst neunzehn.“

Ich kniff die Augen leicht zusammen. Dass er auf dieser einen Woche, die mich noch von meinem zwanzigsten Lebensjahr trennte, herumreiten musste, war ja klar – aber für mich zählte die nicht mehr. „Du weißt genau was ich meine.“

„Ich wollte mich ja nur noch mal vergewissern.“ Er blickte auf, als in der Ferne das Quietschen auf den Gleisen ertönte, das einem einfahrenden Zug immer vorauseilte. „Ich denke deine Mitfahrgelegenheit kommt.“

Auch Flair hob kurz den Kopf, fand das aber wohl nicht so interessant wie den komischen Fleck auf dem Boden, der übelst interessant riechen musste, so wie sie ihre Nase da reinsteckte.

„Hier.“ Kasper hängte mir die Tasche über die Schulter und drückte kurz meine Schulter. Für seine Verhältnisse war schon fast eine überschwängliche Umarmung.

Das Quietschen wurde lauter und dann fuhr der Zug ein und brachte mit seinem Fahrtwind meine Frisur völlig durcheinander.

„Immer doch.“ Als das lange Gefährt mit unangenehmem Bremsquietschen neben uns hielt, drückte ich ihm einen Kuss auf die Wange. Es hatte Jahre gebraucht, bis er mit das hatte erlauben können.

„Und melde dich wenn was ist. Ich komm notfalls auch um dich wieder einzusammeln.“

„Kasper, ich mache keine Weltreise, ich werde das Land nicht mal verlassen.“

„Umso besser, da spare ich Tankgeld, wenn ich dich von weiß ich wo abholen muss.“

Augenverdrehend sammelte ich meinen Hund vom Boden und ließ mir von Kasper die Tür öffnen. Noch ein schnelles Winken, dann stieg ich ein und meine Reise konnte beginnen.

 

°°°

 

Die Zugfahrt war lang und langweilig. Trotzdem schaffte ich es die Augen offen zu halten, was nicht nur daran lag, dass ich es hasste in der Öffentlichkeit zu schlafen. Man stelle sich nur vor, ich würde im Schlaf anfangen zu sabbern. Nein, die Peinlichkeit wollte ich mir dann doch ersparten.

Zwei Mal war ich bisher umgestiegen und nun konnte ich endlich bis nach München durchfahren. Ich wusste zwar weder wo genau dieser Ort Silenda lag, noch hatte ich eine Ahnung wo das Schloss meiner Erzeugerin stand, doch dass es irgendwo in oder an Bayern liegen musste, lag klar auf der Hand, denn das waren die Worte meines Vaters gewesen.

Mein vorrangiges Ziel war also München. Nicht nur dass es die Hauptstadt war und ich von dort aus bequem weiterreisen konnte, sobald ich herausgefunden hatte wo genau ich hin musste, dort lebte auch Gwendolyn, dieses vampirvernarrte Mädchen aus dem Internet.

Sobald ich bei ihr war, wusste ich auch schon ganz genau, wie es weitergehen würde. Ich würde mich von ihr in diesen Club schleifen lassen, von dem sie immer erzählt hatte und in dem es von Vampiren angeblich nur so wimmelte und dort den erstbesten Vampir nach dem Weg nach Silenda fragen. Spätestens morgen würde es dann weitergehen und dann endlich würde ich meine Erzeugerin leibhaftig vor mir haben.

Flair schlief friedlich in meinem Schoß und ließ sich auch von der fremden Umgebung nicht aus der Ruhe bringen. Unter uns ratterten die Rollen des Zuges über die Gleise. Im ganzen Waggon war leises Stimmengemurmel zu hören und irgendwo dort vorne war eine etwas überforderte Mutter mit ihrem weinenden Baby. Die leibliche Mutter, wie ich annahm.

Ich kniff die Lippen zusammen. Wussten andere Kinder eigentlich, was sie an ihren Müttern hatten? Wahrscheinlich die wenigsten. Ich wollte mich ja auch nicht beschweren. Ich liebte meinen Mutter und mir hatte es im Leben auch nie an etwas gefehlt, trotzdem war da immer dieses Sehnen in mir, dem ich einfach nicht entkam.

Mein Vater hatte mir zwar einiges erzählt und mir damit verdeutlicht, warum alles so gekommen war, wie es heute war, aber das reichte mir einfach nicht mehr. Ich hatte noch immer die Antworten im Ohr, die er mir damals auf meine nicht enden wollenden Fragen gegeben hatte.

Der Grund dafür dass meine leibliche Mutter mich weggeben musste, geschah lange vor meiner Geburt. Damals, als sie selbst noch ein kleines, unschuldiges Baby gewesen war und mit der Welt um sich herum kaum etwas anfangen konnte.

Die ganze Geschichte hatte mit einer jungen Frau begonnen, kaum älter als ich heute. Ihr Name war Sonora gewesen, die adelige Tochter von dem russischen Kaufman Markis Jegor Komarow. Diese Sonora hatte sich am Hof der Lykaner in den ältesten Sohn des Königshauses verliebt. Prinz Christopher, mein Urgroßonkel. Und auch er hat Interesse an ihr gezeigt, nur eben nicht so wie sie es sich erhofft hatte.

Mein Vater hatte mir nie genau gesagt, was damals geschehen war, nur das Sonora starb und Prinz Christopher daran die Schuld war. Doch er hatte dieses Tot vertuscht und wohl nur seinen Eltern gestanden, was geschehen war. Das lag nun weit über vierzig zurück.

Kurz zuvor hatte es im Hof der Lykaner einen großen Skandal gegeben. Einer der drei Töchter des Hauses, Prinzessin Celine, meine Großmutter, hatte sich in einen Menschen verliebt. Als Prinzessin war sie jedoch bereits einem Adligen versprochen gewesen. Da sie diese Ehe aber auf keinen Fall annehmen wollte, war sie nicht nur mit ihrem Geliebten verschwunden, sie hatte ihm auch noch offenbart, dass sie sich in einen Wolf verwandeln konnte.

Damit hatte sie gegen das erste und wichtigste Gesetz der verborgenen Welt verstoßen: Das Geheimnis ihrer Existenz mit allen Mitteln vor den Menschen zu verbergen. Für diese Tat gab es nur eine Strafe, die Verbannung aus dem Rudel.

Mein Urgroßvater hatte seiner eigenen Tochter zu dem wohl schlimmsten Schicksal verdammt, das einem Lykaner widerfahren konnte: Er hat sie zu einem einsamen Wolf gemacht.

Lykaner waren auf die Gemeinschaft und den Zusammenhalt angewiesen. Ihre Natur verlange Berührungen, Umarmungen und Nähe zu Ihresgleichen. Wenn sie die nicht bekamen, wurden sie langsam aber sicher verrückt, bis sie jemand von ihrem Elend erlöste.

Bei meiner Großmutter jedoch war die ganze Sache nicht so einfach. Sie war ein Alphawolf, einer der obersten im Rudel. An sich konnte sie trotzdem verbannt werden, nur leider hatte sie, als man sie ein Jahr nach ihrer Flucht wieder eingefangen hatte, ein Kind geboren. Cayenne.

Nun gaben die Alphatiere sehr viel auf Macht, um das Rudel zu sichern und sahen natürlich eine Chance, den Verlust von Celine durch ihr Kind wieder auszugleichen.

Leider konnte sich die Königsfamilie nicht sicher sein, dass dieses Kind einen Wolf in sich trug, oder dieser jemals erwachte. Andererseits konnten sie sie aber auch nicht vergessen, da sie vom Blut her eine Prinzessin war und das sogenannte Odeur in sich trug. Was genau das war hatte ich bis heute nicht herausgefunden, aber es musste wichtig sein. Auf jeden Fall schmiedete man einen Plan, der vorsah, sollte der Wolf der verborgenen Prinzessin jemals erwachen, würde man sie an den Hof der Lykaner holen, um die eigenen Stellung zu stärken.

Markis Jegor Komarow hatte nach dem Tod seiner Tochter Sonora herausgefunden, dass Prinz Christopher dafür verantwortlich war und auf seinem Rachefeldzug gegen die Königsfamilie auch von Cayenne erfahren. Er hatte es geschafft dafür zu sorgen, dass sein eigener Sohn einmal der Gefährte von Cayenne sein würde, sollte der Wolf in ihr jemals erwachen.

Viele Jahre später gab es in einem kleinen Dorf mit Namen Arkan, in dem nur Lykaner und Vampire lebten, einen Überfall der Sklavenhändler. Sie verletzten nicht nur die Bewohner und verbrannten die Häuser, sie nahmen auch ein Dutzend Frauen mit, die sie als Sklaven verkaufen wollten. Eine dieser Frauen war meine Tante Vivien gewesen.

Okay, wenn man es ganz genau nahm, waren weder Vivien noch Amber meine Tanten. Die beiden, genau wie mein Onkel Tristan, waren Lykaner, aber sie waren zusammen mit meinem Vater aufgewachsen und sahen sich alle als Geschwister. Da war es völlig egal, dass ihr Blut anderer Meinung war.

Keiner in der Familie hatte sich mit dem Verschwinden von Vivien abfinden können und so war mein Vater mit seinen Bruder Tristan und dem Verlobten von Vivien, Roger Naue, aufgebrochen und hatte begonnen nach ihr zu suchen.

Die Suche war jedoch nicht von Erfolg gekrönt gewesen und als sie schon langsam zu Verzweifeln begannen, schnappte Roger von einem Fremden in einer Bar das Gerücht der verborgenen Prinzessin auf. Damals hatte noch niemand gewusst, dass es sich bei diesem Fremden um Markis Jegor Komarow gehandelt hatte, dem langsam die Geduld ausging, weil der Wolf in Cayenne einfach nicht erwachen wollte.

Mein Vater und seine beiden Mitstreiter beschlossen, den Wolf der verborgenen Prinzessin zu wecken, damit sie ihnen bei der Suche nach Vivien helfen konnte. Als aktive Prinzessin hätte Cayenne die Macht dazu, also taten sie alles was ihnen möglich war, um aus einem normalen und unwissenden Mädchen einen Alpha der Lykaner zu machen.

Leider war nichts so gelaufen, wie sie sich das vorgestellt hatten. Cayenne auswendig zu machen, war noch am Einfachsten. Ab diesem Punkt jedoch war alles schiefgelaufen. Nicht nur das meine leibliche Mutter und Papa sich ineinander verliebten, meine Erzeugerin war auch alles andere als begeistert gewesen, als sie erfahren hatte, was sie wirklich war. Ein Misto. Ein Mischling, halb Mensch, halb Lykaner und ein Nachkomme der Alphas. Sie hatte meinen Vater zum Teufel gejagt.

Sobald meine leibliche Mutter gewusst hatte, was sie war, hatte König Isaac sie zu sich an den Hof der Lykaner geholt. Da unter den Alphas aber keine Mistos erlaubt waren, war ihre wahre Natur selbst heute noch ein sehr dunkles Geheimnis und da Cayenne unter der tyrannischen Herrschaft des Königs keine Prinzessin sein wollte, widersetzte sich ihm, wann immer sie die Gelegenheit dazu bekam. Ihr einziger Lichtblick in diesen Tagen, war ein Lykaner, den sie dort kennengelernt hatte: Sydney. Aber auch er hatte meine Mutter nicht vor den Alphas schützen können und als Isaac dann auch noch beschloss, dem Fehlverhalten meiner Erzeugern einen Riegel vorzuschieben, indem er sie verheiratete, ließ sie alles hinter sich und lief davon.

Völlig allein und verängstige, ohne eine Ahnung, was sie nun tun sollte, wandte sie sich wieder an meinen Vater und schloss sich seiner Suche nach Tante Vivien an.

Leider meinte das Schicksal es nicht gut mit ihnen und ihrer Liebe. Ein paar Jahre später fiel sie dem Markis zufällig in die Hände. Er entführte sie und zwang sie an den Hof zurückzukehren. Sein Druckmittel war meine Tante Vivien, die sich zusammen mit ihrem Sohn Anouk in seiner Gewalt befand. Wenn sie tat was er verlangte, dürften Vivien und Anouk zurück zu ihrer Familie. Cayenne willigte ein.

Im Hintergrund zog Jegor Komarow weiter die Fäden und durch verschiedene Ereignisse, war sie am Ende gezwungen, nicht nur seinen Sohn Nikolaj zu heiraten, sondern auch den Thron als Königin der Lykaner zu besteigen.

Mein Vater hatte damals geglaubt, ihre Rückkehr an dem Hof hätte etwas mit dem Lykaner Sydney zu tun und hatte sich zurückgezogen, während Cayenne alles tat, was ihr Strippenzieher von ihr verlangte, um meinen Vater und seine Familie zu schützen. Nur in den wenigen unbeobachteten Momenten, verkroch sie sich bei in ihrer einzigen Zuflucht: Sydney.

Erst Jahre später war mein Vater ihr durch Zufall wieder begegnet. In der Zwischenzeit hatte Cayenne einen Sohn geboren. Offiziell war er – ja sogar heute noch – der Sohn von Nikolaj, nur die wenigsten wussten, dass in Wirklichkeit Sydney der Vater war.

Da auch in ihrer Amtszeit die Gefahr der Sklavenhändler nicht zurückgegangen war, beschloss meine Erzeugerin etwas dagegen zu tun. Sie rief eine Elitegruppe ins Leben, die sich mit diesem Problem befassen sollte und lud auch meinen Vater ein, ihr dabei zu helfen. Ich wusste bis heute nicht, was genau er für sie gemacht hatte, aber durch die Arbeit mit ihr, waren die beiden sich kurze Zeit wieder näher gekommen.

Und dann, in dem Frühjahr darauf, eskalierte plötzlich alles. Diese Elitegruppe war in ein Haus eingedrungen, bei dem sich kurz darauf herausstelle, dass es Markis Jegor Komarow gehörte. Aus Rache hatte er meine Tante Vivien ein weiteres Mal entführt.

Ab dieser Stelle waren die Erzählungen von Papa sehr allgemein geworden. Ich wusste nur, dass sie Vivien irgendwie wieder befreit hatten. Dabei war König Nikolaj gestorben, genauso wie der Markis und meine Erzeugerin hatte sich endgültig für den Vater meines Halbbruders Aric, entschieden.

Die Welt meines Vaters war ein weiteres Mal zusammengebrochen, doch er hatte keine Gelegenheit gehabt, in seinem Kummer zu versinken, denn da war meine Mutter in sein Leben getreten – also Tarajika, nicht Cayenne.

Noch heute musste ich lächeln, wenn ich an sein verträumtes Gesicht dachte, als er mir erzählte, wie die beiden sich näher gekommen waren. Sie hatte sich einfach ein seine Fersen geheftet und wollte sich nicht mehr abschütteln lassen.

Eigentlich hatte er die ganze Welt zum Teufel zu jagen wollen, doch das hatte sie mit ihrer sonnigen und unschuldigen Art nicht erlaubt. Jeden Tag aufs Neue hatte sie ihn mit ihrem Schabernack und seltsamen Verhalten auf Trab gehalten und nebenbei seine geschundene Seele geheilt, ohne dass er es überhaupt gemerkt hatte.

Monatelang war alles gut gegangen, doch dann waren ich und meine zweieiige Zwillingsschwester Kiara geboren worden. Bis zu meiner Geburt hatten alle – einschließlich aller Elternteile und deren Partner – angenommen, dass sie von ihrem Galan Sydney schwanger sei, doch meine Schwester und ich waren keine Lykaner gewesen, sondern Mistos. Zum Teil Mensch, zum Teil Wolf, zum Teil Vampir.

Kiara war nach Cayenne gekommen. Nicht nur was das Aussehen anging, auch hatte sie nie gezeigt, dass in ihr mehr als nur ein Lykaner steckte. Ich dagegen hatte in dieser Lotterie die Niete gezogen. Ich sah aus wie ein Vampir und konnte mich in einen Wolf verwandeln. Das bedeutete, jeder der nur einen Blick auf mich erhaschte, wusste sofort, dass ich kein Lykaner war. Da im Adel, besonders unter den Alphas, keine Mistos geduldet wurden und meine Mutter von ihrer Königswürde nicht zurücktreten konnte, ohne ihre Kinder und sich selber in Lebensgefahr zu bringen und den dritten Weltkrieg auszulösen, hatte sie mich in die Obhut meines Vaters gegeben.

In diesem Moment war mein Vater mit mir und meiner Mutter untergetaucht, um mich vor der verborgenen Welt zu verstecken. Ein Misto, halb Mensch, halb Wolf, hatte es bereits schwer im Rudel, doch jemand wie ich, der dazu noch zu einem Teil Vampir war, würden sie sofort töten, denn in ihren Augen war ich etwas Widernatürliches. Das hatte mir mein Vater schon beigebracht, als ich noch ganz klein gewesen war. Darum gab es auch außerhalb meiner Familie niemanden, der wusste, dass ich existierte und wer ich wirklich war.

Mir war bewusst, dass das Aufsuchen meiner leiblichen Mutter eine Gefahr für mich war, aber wenn ich nicht wollte, dass jemand in mir mehr sah als einen Vampir sah, dann würde er das auch nicht, denn weder mein Aussehen, noch mein Geruch verriet, dass in mit auch noch ein Wolf steckte. Das Risiko das ich einging, war also sehr gering. Das jedenfalls redete ich mir ein.

Die Durchsage der Lautsprecher riss mich aus meinen Gedanken. In vier Minuten würden wir im Münchener Hauptbahnhof einfahren. Wo war nur die Zeit geblieben?

Langsam aber sicher kam im Wagon reges Treiben auf. Auch ich erhob mich von meinen Platz und holte mit der unter den Arm geklemmten Flair meine Reisetasche aus dem Fach über mir. Dann begab ich mich durch das Gedränge zu der nächsten Tür.

Jetzt wurde es langsam ernst. Ich war im Begriff das erste Mal ein Wesen der verborgenen Welt außerhalb meiner Familie zu treffen – nun ja, nachdem ich diesem Mädchen, diese Gwendolyn in diesen Vampirschuppen geschleppt hatte. Irgendwie war das schon traurig. Außerhalb meiner Familie kannte ich wirklich nur Menschen und innerhalb nur den Zweig meines Vaters. Doch bis auf Tante Amber, Onkel Tristan, Tante Lucy und ihre Adoptivtochter, meiner jüngeren Cousine Alina, hatte ich mit allen nur sporadisch Kontakt.

Von der Seite meiner Erzeugerin dagegen kannte ich niemanden – naja, abgesehen aus den Geschichten meines Vaters, oder von Bildern und Zeitungsausschnitten. Jup, die verborgene Welt hatte ihre eigene Nachrichtenwelt. Zeitung und auch Websites. Leider hatte ich keinen Zugriff auf die Internetpräsenz oder Zeitschriften. Ich bekam nur ausgesuchte Artikel und Bilder, zu denen mein Vater sein Okay gegeben hatte.

Einmal hatte meine Cousine Alina mir heimlich etwas über die verborgene Welt erzählen wollen. Damals waren wir zehn und zwölf Jahre gewesen und leider waren wir nicht so unauffällig gewesen, wie wir uns das eingebildet hatten. Mein Vater hatte es mitbekommen und infolge dessen, waren wir nicht nur umgezogen, ich hatte außer meinen Eltern über zwei Jahre, niemanden mehr aus meiner Familie gesehen.

Danach hatte mein Vater neuen Treffen auch nur zugestimmt, wenn ihm jeder aus der Familie schwor, niemals wieder etwas von der verborgenen Welt an mich heranzutragen und leider hatte sich bis heute auch jeder daran gehalten. Er wollte, dass ich ein sicheres Leben als Mensch führen konnte. Darum wusste ich im Grunde gar nichts von der Welt, in der ich geboren worden war.

Neben mir quiekte ein kleines Mädchen entzückt auf, als sie Flair in ihrem gestreiften Pulli sah. Langsam wurde das Gedränge ganz schön stark und ich war heilfroh, als wir endlich in den Bahnhof einfuhren und mich mit der Masse nach draußen schwemmen lassen konnte.

Dann kam der knifflige Teil. Ganz ehrlich, mein Orientierungssinn war schon immer das Allerletzte gewesen und so irrte ich erst mal zwanzig Minuten auf diesem riesigen Bahnhof herum, bis ich einen Ausgang fand. Natürlich den Falschen – das war hier aber auch mies beschildert. Gut, es konnte auch daran liegen, dass ich meine Augen überall hatte, nur nicht auf dem Weg, aber hey, ich war das erste Mal in meinem Leben in einer Großstadt und hier war alles so … hektisch. Laut und voll, so ganz anders als auf dem Dorf. Da durfte man doch wohl mal gucken.

Doch als Flair in meinen Armen langsam unruhig wurde, weil sie das alles nicht gewohnt war – vielleicht musste sie aber auch nur mal wieder pinkeln – machte ich mich ernsthaft auf die Suche nach dem richtigen Ausgang. Außerdem wurde die Tasche mit der Zeit ziemlich schwer.

Nach weiteren zehn Minuten Suche stand ich endlich am richtigen Ort – hoffte ich zumindest – und ließ Flair erst mal runter, damit sie das gefrorene Grasbüschel am Straßenrand wässern konnte.

Gwendolyn hatte mir eine genaue Wegbeschreibung zu der Wohngemeinschaft gegeben, in der sie lebte, doch da ich kaum Erfahrungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln hatte und mich garantiert verirren würde, zog ich es doch vor mir mit Flair ein Taxi zu teilen. Da war die Wahrscheinlichkeit, dass ich auch wirklich an meinem Ziel ankam, einfach größer. Geld dafür trug ich genug bei mir. Für diesen kleinen Ausflug hatte ich all meine Ersparnisse zusammengekratzt. Wenn mein Vater das herausfand, würde er mir den Kopf abreißen, denn eigentlich war das Geld für meinen Führerschein gedacht gewesen.

Einmal Winken am Straßenrand reichte schon aus, da fuhr bereits eines dieser gelben Vehikel an den Bordstein und ich konnte mich mit Sack und Pack auf die Rückbank verfrachten.

„Wo soll es hingehen?“, fragte eine etwas dickliche Blondine mit einem vom Leben gezeichneten Gesicht und betrachtete mich aus braunen Augen durch den Rückspiegel.

„Äh .. einen Moment, ich hab mir die Adresse auf einen Zettel geschrieben. Ich muss ihn nur finden.“ Umständlich durchforstete ich meine Jacken- und Hosentaschen nach dem kleinen Schnipsel und musste zum Schluss sogar meiner Reisetasche durchwühlen, bis ich ihn endlich in meinem Portemonnaie fand. Mit einem entschuldigenden Lächeln reichte ich ihn ihr Vorne. „Da möchte ich hin. Kennen sie das?“

„Ja, kein Problem.“ Sie lenkte den Wagen vom Bürgersteig weg und fädelte sich in den Nachmittagsverkehr der Stadt ein.

„Wie lange fahren wir?“

„So zwanzig Minuten, wenn wir gut durchkommen.“

„Okay, danke.“ Nur zwanzig Minuten, dann wäre ich meinem Ziel wieder ein kleines Stückchen näher. Heute Abend würde ich dann in diesem Club gehen und wenn ich Glück hatte, konnte ich bereits morgen in Silenda sein. Das einzige was ich mir noch überlegen musste, war, wie ich mich meiner Erzeugerin nährte. Sollte ich einfach an die Tür klopfen und sagen: „Hallo, hier bin ich“, und darauf hoffen, dass sie mich erkannte, oder sollte ich sie lieber erst mal aus der Ferne beobachten? Am besten ließ ich es einfach auf mich zukommen und entschied mich dann kurzfristig aus dem Bauch heraus, was ich tun würde. Das war doch mal ein Plan.

Aber jetzt hatte ich erst mal nur Augen für meine Umgebung. Wow. So eine Großstadt war wirklich etwas ganz anderes, als das Leben in so einem kleinen Dorf, das man so gut wie nie verlassen durfte. Überall gab es etwas zu sehen. Sei es die Vielzahl an Geschäften, die sich dicht an dicht reihten, oder die Masse an Menschen, die sich durch die verschneiten Straßen drängten. Hier tobte das Leben und ich war wirklich kurz am überlegen, meine Abwesenheit aus Koenigshain um ein paar Tage zu verlängern, nur um das Stadtleben ein wenig kennenzulernen.

Okay, als ich klein war, hatte ich eine Zeitlang in Kerpen gelebt, aber daran konnte ich mich kaum noch erinnern. Ansonsten war ich mit meinen Eltern höchstens mal zum Einkaufen oder zur Jagd in eine größere Stadt gefahren.

Da zum Teil auch ein Vampir in mir steckte, brauchte ich hin und wieder Blut. Sobald man das Teenageralter erreichte und damit auch begann, das betäubende Sekret zu produzieren, dass einen Menschen für den Biss empfänglich und auch irgendwie High machte, trank man nicht mehr bei den Eltern. Es war einfach seltsam, wenn man das Blut seiner Mutter nahm und sie sich anschließend blöde kichernd und breit grinsend neben einem auf der Couch räkelte.

Ich war dreizehn gewesen, als mein Vater mich zum ersten Mal zur Jagd mitgenommen hatte. Als ich älter wurde, hätte ich das natürlich auch alleine tun können, doch ich hatte da zwei kleine Problemchen, die ich meinem Dasein als Misto zu verdanken hatte.

Ein Vampir hatte die Fähigkeit einen Menschen mit seinem Blick zu hypnotisieren. Wir nannten das Repression, oder umgangssprachlich, Joch und es funktionierte ausschließlich bei Menschen und Mistos. Theoretisch konnte ich das, nur leider funktionierte das bei mir nur sehr sporadisch. In neun von zehn Fällen schaute mich mein Wirt einfach nur bedröppelt an und fragte sich, ob ich noch ganz dicht war, wenn ich ihm einen Befehl gab, mir in eine ungestörte Gasse zu folgen.

Das zweite Problem war mein Bluthunger. Ein reinrassiger Vampir musste ungefähr alle zwei Wochen trinken. Ich konnte teilweise bis zu einem Monat ohne Blut auskommen, wenn er nicht von irgendwas ganz plötzlich ausgelöst wurde.

Ich konnte vor drei Tagen erst getrunken haben und sah dann ein Film, in dem sich jemand an einem Stück Papier schnitt und prompt überkam es mich. Da meine Reißzähne dann manchmal einfach ausfuhren und sich nicht mehr zurückziehen wollten, bis sie bekommen hatten, was sie wollten, war ich in solchen Momenten auf die Hilfe meines Vaters angewiesen.

Drei Mal war sowas im Beisein meiner Freunde passiert. Zwei Mal bei Kasper und einmal auf einem Kindergeburtstag einer Freundin, als ich gerade mal fünf war. Mein Vater hatte es jedes Mal mit seinem Joch wieder in Ordnung gebracht, bei dem Kindergeburtstag war das jedoch eine Heidenarbeit gewesen.

Dadurch, dass ich ein Misto war, funktionierte bei mir nichts wie es sollte. Zusätzlich zu meinem Bluthungerproblem musste ich mich auch mindestens einmal am Tag in einen Wolf verwandeln, wenn ich nicht wollte, dass mir Plötzlich in der Öffentlichkeit ein Fell wuchs, nur weil ich mich über irgendeine Kleinigkeit ärgerte. Ja, meine Metamorphose war genauso unkontrolliert wie auch alles andere an mir. Ein weiterer Grund für meinen Vater, mich so in der Abgeschiedenheit zu halten, wo er mein Umfeld unter Kontrolle hatte und notfalls eingreifen konnte.

Flair kläffte am Fenster, als sie draußen auf der Straße einen Hund sah, der es wagte sein Bein an einem kahlen Bäumchen zu heben, um den Schnee gelb zu färben – war ja auch frech von ihm.

„Zum ersten Mal in München, wie?“

Ich sah nach vorne und lächelte leicht, so wie mein Vater es mir schon als kleines Kind beigebracht hatte: Ohne die verräterischen Beißerchen zu zeigen. „Woran haben sie das erkannt?“ Sah ich etwa aus wie der typische Tourist? Eigentlich ja nicht. Das Hawaiihemd fehlte, genauso wie die schrecklichen Latschen, die selbst für mich an völlige Geschmacksverirrung grenzten. Obwohl sie ja doch recht bequem waren – nicht dass ich da aus eigener Erfahrung sprach.

„Ihre Augen sind groß wie Teller“, schmunzelte sie und hielt an einer roten Ampel. „Sie müssten die Stadt im Frühling sehen, ohne diesen ganzen ekligen Schneematsch. Dann ist sie wunderschön.“

„Also ich mag den Winter eigentlich sehr gerne“, gab ich zu. „Da wirkt irgendwie alles so unschuldig und rein.“

„Ja, aber es ist saumäßig kalt.“ Die Ampel schaltete auf grün und das Taxi setzte sich wieder in Bewegung, um zwei Kreuzungen weiter nach rechts in eine kleine Seitenstraße mit Hochhäusern abzubiegen.

„Man muss sich nur warm genug anziehen“, erklärte ich. „Wie sagt meine Mutter immer? Es gibt kein falsches Wetter, nur falsche Kleidung.“

Sie schnaubte belustigt. „Ihre Mutter ist eine weise Frau.“

Ja, meine Mutter, aber nicht meine Erzeugerin. Doch wie die tickte, würde ich schon sehr bald rausbekommen.

Das Taxi fuhr in eine weitere Seitenstraße mit Pflastersteinen, die das ganze Auto ordentlich durchschüttelten. Auch hier gab es nichts als Hochhäuser und zwischendurch mal ein kahles Bäumchen, mit einer weißen Schneekrone. Diese Straße war mein Ziel und zwei Minuten später hielt die Fahrerin auch vor der richtigen Hausnummer.

Ich bezahlte, legte noch ein Trinkgeld von fünf Euro oben drauf und verabschiedete mich dann mit einem Gruß, bevor ich die Wagentür öffnete. Flair war die Erste die ausstieg und dabei einen großen Bogen um eine nasskalte Pfütze machte. Wäre sie ein großer Hund gewesen, hätte ich wahrscheinlich mit der Nase voran eine etwas zu vertraute Bekanntschaft mit dieser Pfütze gemacht, aber so lief sie nur in die Leine, während ich noch damit beschäftigt war, meine Tasche vom Rücksitz zu sammeln. Noch eine kleine Pinkelpause und ein Häufchen und dann standen wir endlich vor der Tür. Nach dem klingeln musste ich nur einen kurzen Moment warten, bis der Summer ertönte und mich ins Haus einlud.

Flair landete wieder in meinen Armen, als ich die Treppe in die zweite Etage in Angriff nahm. Nicht dass sie nicht alleine laufen konnte, doch sie war so klein und von zu vielem Treppensteigen würden ihre Knochen zu sehr belastet werden, daher hatte ich ihr beigebracht an jeder Treppe artig auf mich zu warten, wenn sie mehr als drei Stufen hatte.

Oben wurde ich bereits von einer etwas blassen Blondine in einfachen Jeans und Shirt in der Wohnungstür erwartet. Wie auf dem Profilbild, dass ich von der Vampirfanseite von ihr kannte, lächelte sie mir breit entgegen und zeigte dabei ein paar goldige Grübchen. „Du bist dann wohl Hybrid Canis null eins“, begrüßte sie mich.

„Ja, aber du kannst mich auch einfach Zaira nennen.“ Obwohl ich offiziell ja eigentlich Sarah Müller hieß. Ja, ich lebte unter einer falschen Identität. Zwar nannte mich jeder Zaira, aber alle glaubten, dass das nur ein Spitzname war. Die Pseudonyme meiner Eltern waren Roman und Theresa Müller. Allerweltsnamen, die es zu tausenden gab. So wollte mein Vater verhindern, dass jemand zufällig auf uns aufmerksam werden konnte.

Lächelnd reichte ich Gwendolyn zur Begrüßung die Hand, doch sie hatte etwas ganz anders im Sinn. Ohne jede Scheu, zog sie mich in ihre Arme und drückte mich so fest an sich, dass mir fast die Luft wegblieb – hm, irgendwie roch sie seltsam. Nicht unangenehm, nur … naja, seltsam halt.

Erst als Flair in meinem Arm anfing zu zappeln, ließ sie wieder von mir ab.

„Oh, der ist aber süß. Darf ich ihn mal nehmen?“ Und schwupp, schon hatte sie mir meinen Hund abgenommen.

Warum fragte sie eigentlich, wenn sie doch scheinbar gar keine Antwort haben wollte?

„Wie heißt er?“

„Sie ist ein Mädchen und sie heißt Flair.“ Ich schob die Brille zurück auf meine Nase.

„Flair, wie süß.“ Sie knuddelte meine kleine Fußhupe noch ein wenig und forderte mich dann dazu auf, endlich reinzukommen. „Und wie alt ist sie?“

„Im Sommer wird sie vier Jahre.“ Vor mir öffnete sich ein ziemlich heller Flur. Zwar ein bisschen chaotisch, aber sauber und freundlich.

„Tut mir leid, wegen der Unordnung“, entschuldigte sich Gwendolyn und schloss die Wohnungstür. „Aber ich wohne hier mit drei Kerlen und meiner Freundin Izzy zusammen und die sind alle Schweine.“ Sie winke mich hinter sich her und steuerte den hintersten Raum an, aus dem laute Musik dröhnte. Nicht so laut, dass man sich nicht mehr unterhalten könnte, aber doch schon so, dass manch einer sich belästigt fühlen konnte. „Und ich sehe gar nicht ein ihnen ständig alles hintererzuräumen.“

Ich musste schmunzeln. „Kann ich verstehen.“

Der Raum in den sie mich führte, musste der Gemeinschaftsraum der Studenten WG sein. Eine große Sitzgruppe, vor einem fast genauso großen Fernseher. Zwei Kerle in meinem Alter hatten es sich darauf bequem gemacht und zockten an einer Spielekonsole ein Piratenspiel. Neben der Konsole lag noch ein weiterer Haufen Spiele, von denen mir nur die wenigsten unbekannt waren.

Die große Schrankwand war vollgestopft mit allerlei Krimskrams und ein freistehender Tresen trennte die Küchenzeile vom Rest des Raumes. Ein Mädchen in einem Bademantel und mit einem Handtuch auf dem Kopf verkündete lautstark, dass der nächste der eine leere Packung Milch zurück in den Kühlschrank stellte von ihr in der Toilette ersäuft würde – leider schien niemand in diesem Raum ihr auch nur den Hauch von Interesse zu schenken.

Am Tresen selber saß wohl das letzte Mitglied dieser Wohngemeinschaft, ein dürrer Kerl mit blonden Haaren, der den Blick in ein Buch gesenkt hatte – wie konnte er bei dem Lärm nur lesen?

„So, deine Tasche kannst erst mal hier parken.“ Gwendolyn setzte Flair auf den Boden und sah entzückt dabei zu, wie sie gleich zu dem anderen Mädchen in die Küche flitzte – tja, dieser Hund wusste halt immer wo es etwas zu essen gab. „Hey Leute“, rief sie dann laut. „Das ist Zaira, sagt alle brav hallo.“

Ein mehrstimmiges „Hallo“ ertönte, nur der Kerl mit dem Buch blieb stumm und musterte mich misstrauisch über den Rand seines Buches hinweg. Seine Augen konnte ich nicht richtig sehen, da sie halb von seinen Haaren verdeckt wurden.

„Hi“, erwiderte ich und zog auf Gwendolyns Befehl hin meine Jacke aus, die sie einfach über den nächsten erreichbaren Stuhl warf. Jup, auch in diesem Raum herrschte das Chaos.

„Also, ich stell dir mal alle vor.“ Sie schnappte sich meine Hand und zerrte mich zu den beiden Couchpotatos. „Das sind Luca und Paul.“

Die beiden Herren schienen Gwendolyn nicht zu hören. Kein Wunder, so wie sie sich gegenseitig zubrüllten.

Meine Gastgeberin verdrehte nur genervt die Augen, bevor sie mich in die Abteilung Küche zog, in der Flair gerade mit einem Stück Wurst gefüttert wurde. „Das ist Elisabeth, aber du kannst sie ruhig Izzy nennen und unser großer Schweiger hier drüben hört auf den Namen Liam.“ Grinsend klatschte sie in die Hände. „Das wird toll heute Abend. Endlich mal jemand, der mich nicht für verrückt hält und mitkommt.“

„Ich halte dich nicht für verrückt.“ Elisabeth richtete sich auf und lehnte sich mit den Unterarmen auf den Tresen. „Nur deine Geschichten, die sind ein bisschen verrückt.“

„Haarspalterei.“

„Hey!“, kam es da von einem der Jungs – ich glaubte es war Paul. „Wollten wir nicht gerade Pizza bestellen, als es geklingelt hat? Ich sterbe hier vor Hunger.“

„Dann stirb leise“, kommentierte Elisabeth und bekam daraufhin von diesem Paul eine Kusshand zugeschmissen, die sie breit grinsend auffing.

„Oh, ja, Pizza. Du isst doch mit, oder?“ Gwendolyn wartete gar nicht auf meine Antwort, sondern wuselte gleich aus dem Raum, um kurz darauf mit einem ganzen Batzen Bestellkarten wiederzukommen.

„Wow“, sagte ich. „Man, die Läden in der Gegend müssen mit euch ja eine Menge Geld verdienen.“

„Das liegt an den Jungs“, erklärte Elisabeth. „Die würden am liebsten drei Mal am Tag Pizza futtern. Nur leider machen die Läden erst gegen Mittag auf, daher gibt es zum Frühstück dann leider doch nur Cornflakes.“

„Du bist mal wieder zu liebenswürdig, Betty!“

„Nenn mich nicht so, Pauline.“

Ich konnte nicht anders, ich musste einfach kichern. Wie die hier alle miteinander umgingen, trotz dem Geblökte und dem Gepöbel, das war Harmonie.

Die Nächste halbe Stunde verbrachten wir damit uns darauf zu einigen, was jeder essen wollte. Natürlich erst nachdem man sich entschieden hatte, bei welchem Laden bestellt wurde. Luca entschied sich dreimal um. Paul verlor das Spiel, weil er sich so auf die Speisekarte konzentrierte, dass er gar nicht merkte, wie Luca sein Chance beim Schopfe griff. Elisabeth brauchte ewig, weil sie versuchte etwas mit wenigen Kalorien zu finden und Gwendolyn konnte sich einfach nicht entscheiden, weil es zu viel Auswahl gab. Nur dieser Liam wusste sofort was er wollte. Er brummte: „Die zweiundsiebzig“ und fertig war er.

Ich entschied mich für eine einfache Spinatpizza mit viel Käse – ich liebte das Zeug, fast so sehr wie Gummibärchen.

Gwendolyn erledigte die Bestellung und rutschte dann mit einem „Halbe Stunde, dann ist das Essen da“ neben mir am Tresen auf den Stuhl. „Hey, wisst ihr was, ich habe eine Idee.“ Sie strahlte alle der Reihe nach an. „Wie wäre es, wenn wir heute Abend alle zusammen ins Trash gehen?“

Es folgte großes Gemurre, aus dem ein eindeutiges „bloß nicht“ heraus klang.

„Ach kommt schon, Leute“, bettelte sie. „Wir könnten als Pärchen gehen, drei Mädels, drei Kerle.“

„Dann krieg ich aber Liam“, sagte Elisabeth sofort.

„Den wollte ich aber haben!“, protestierte Gwendolyn.

Ich grinste und verabschiedete mich kurz mit den Worten mal schnell das Klo aufsuchen zu müssen.

Im Flur hörte ich Paul noch schimpfen: „Hey, Luca und ich sind auch noch da, vergesst uns nicht.“

„Dann könnte ihr beide ja zusammen hingehen“, kam es völlig ungerührt von Elisabeth.

Flair tapste mir frisch fröhlich hinterher. Da es scheinbar nichts mehr zu essen gab, konnte sie sich auch genauso gut an meine Fersen hängen und die Wohnung ein bisschen erkunden.

Das Bad war leicht zu finden, war es doch mit einem großen Schild versehen, auf dem „Bad“ stand. Das konnte selbst ein Halbblinder wie ich nicht übersehen.

Auch in diesem kleinen Raum hatte das Chaos Einzug erhalten. Über der Duschstange hin ein roter BH, das Ablagebrett über dem Waschbecken war mit Kosmetiker, Zahnputzzeug, Cremes, Rasierer und Salben so überladen, dass sie die Hälfte davon schon daneben auf dem Boden lagerten und neben der Badewanne lag eine Boxershorts, die einen seltsamen grünen Fleck hatte.

Ich erledigte weswegen ich in diesen Raum gekommen war, pfiff Flair vier Mal von der suspekten Shorts weg und wusch mir die Hände. Nur mit der Suche nach einem Handtuch scheiterte ich, weswegen ich mir die Hände kurzerhand an meiner Jeans abwischte. „Komm, Flair, sonst verpassen wir noch die Pizza.“

Bei dem Wort „Pizza“ stellten sich ihre Ohren sofort auf.

Ich schloss die Tür auf und wollte gerade raustreten, als ich direkt vor mir diesen Liam erblickte. Ohne zu zögern drängte er mich zurück ins Badezimmer, kam selber hinter und verriegelte die Tür hinter uns. „Du verschwindest sofort, sonst kannst du was erleben!“, fuhr er mich an und drehte sich zu mir herum. „Das sind meine Wirte und ich reiße dir den Kopf ab, wenn du sie anrührst!“ Seine grünen Augen funkelten mich wütend an. Vampiraugen.

 

°°°°°

Das Ziel vor Augen

 

„Du … du bist ein Vampir“, hauchte ich fast ehrfurchtsvoll. Der erste Vampir, den außer meinem Vaters zu Gesicht bekam. Das war … das war fantastisch!

„Als wenn dir das noch nicht aufgefallen wäre“, spottete er mit grimmiger Mine. „Genau wie sie Tatsache, dass diese vier Menschen dort draußen meinen Geruch tragen und damit für jeden anderen Vampir verboten sind!“

„Nein, es ist …“ Seinen Geruch? Ach deswegen hatte Gwendolyn vorhin für mich so seltsam gerochen. „Ich meine … das ist einfach super!“ Begeistert schlug ich meine Hände zusammen. Am liebsten wäre ich ihm um den Hals gefallen. Ein Vampir. Vor mir stand wirklich und wahrhaftig ein echter Vampir! Ich konnte mein Glück kaum fassen – auch wenn er nicht ganz so eindrucksvoll war, wie ich mir das vorgestellt hatte. Die Aura eines gereiften Vampirs, wie mein Vater sie besaß, hatte er jedenfalls noch nicht.

„Das ist toll“, plapperte ich weiter, ohne sein Stirnrunzeln zu beachten. „Das heißt ich muss gar nicht erst in diesen Club, weil du ja ein Vampir bist. Folglich kannst du mir auch sagen wie ich nach Silenda komme. Als Vampir musst du das einfach wissen und dann kann ich vielleicht noch heute hinfahren. Besser könnte es gar nicht laufen!“

Während ich Liam anstrahlte bellte Flair, als wollte sie mir ihre Zustimmung geben.

„Sag mal, bist du auf Drogen?“ Er musterte mich äußerst kritisch. „Und was soll eigentlich diese alberne Brille?“

Mein Hochgefühl schwand bei den Worten ein wenig. Was sollte das denn jetzt? Gefiel ihm wohl nicht was er sah. „Ich habe eine Sehschwäche.“

„Ein Vampir mit einer Sehschwäche?“

„Hast du was dagegen?“ Gab es sonst keine Vampire, die eine Brille trugen? Er tat ja gerade so, als sei ich das achte Weltwunder.

„Nein, es ist nur … nimm einfach deine Sachen und verschwinde hier. Ich will dich nie wieder in der Nähe dieser Menschen sehen, verstanden?“

„Was? Nein, du kannst mich doch nicht einfach wegschicken.“ Das ging doch nicht. Noch nicht. „Erst musst du mir sagen wie ich nach Silenda komme.“

„Silenda?“ Er runzelte die Stirn. „Die Stadt der Königin?“

Ich nickte eifrig. „Ja, deswegen bin ich hier. Gwendolyn hat gesagt, sie geht regelmäßig in so einen Club wo es Vampire gibt. Ich muss unbedingt nach Silenda, weiß aber nicht wie ich da hinkomme und diese Vampire hätten es mir sicher sagen können.“

„Und das hast du ihr geglaubt?“ Er schnaubte. „Dieser Club in den sie so gerne geht, da gibt es nur Menschen die sich als Vampire ausgeben. Sie verkleiden sich nur und tun so als würden sie gegenseitig ihr Blut trinken, weil sie das cool finden. “

„Aber …“ Das konnte doch nicht sein. Sie hatte doch … nein, aber … verdammt! „Sie hat doch aber von ihren Augen gesprochen, Augen wie deinen!“ Anklagend zeigte ich auf das Objekt der Gegenwart. „Deswegen bin ich doch erst auf sie Aufmerksam geworden. Und … und … warum reg ich mich eigentlich so auf? Du bist doch ein Vampir!“ Okay, jetzt hatte ich es geschafft, jetzt hatte ich mich selber verwirrt.

„Sie hat von Vampiraugen gesprochen?“, fragte er skeptisch.

„Das habe ich ja wohl gerade gesagt.“ Hielt der mich für doof, oder was? Müßige Frage.

„Mist, wahrscheinlich ahnt sie etwas.“ Nachdenklich legte er seinen Finger an die Lippen. „Ich muss bei der Verschleierung einen Fehler gemacht haben.“

„Verschleierung?“

Er verdrehte die Augen, als sei ich hier die Dumme. „Ich nehme ihnen nach einen Biss das Gedächtnis, oder meinst du sie würden hier freiwillig mit mir wohnen, wenn sie wüssten, dass ich regelmäßig ihre Blutbahn anzapfe?“

„Das sind also wirklich deine Wirte? Alle Vier?“ Das war ja … wie eine private Blutbank. So saß der werte Herr nie auf dem Trockenen. Eigentlich gar kein schlechter Einfall.

„Natürlich, hast du das nicht gerochen?“ Er konnte es wohl nicht glauben, was hier für ein unfähiger Vampir vor ihm stand. „So muss ich nicht auf die Jagd gehen und mich an irgendwelche Leute halten, die nicht mal wissen wie eine Dusche von innen aussieht.“

Bei dem Gedanken … igitt, da schüttelte es mich doch gleich am ganzen Körper. So einen Wirt hatte ich mir auch mal herausgepickt. Danach hatte ich das Gefühl gehabt, dass nicht mal ein Bad in kochendem Wasser mich wieder sauber kriegen würde. Das war echt ekelhaft gewesen und bedurfte gewiss keiner Wiederholung. „Ja, das stimmt, aber … das ist jetzt egal. Kannst du mir nun sagen wie ich nach Silenda komme? Bitte? Es ist wirklich wichtig.“

„Du bist echt nur deswegen hier? Und nicht weil du bei Gwenny Blut zapfen willst?“ Irgendwie schien er das nicht glauben zu können.

Flair kläffte ihren Senf dazu.

„Ich habe erst vor … äh … kurzem Blut getrunken.“ Das wäre ja jetzt beinahe schief gegangen. Nur nicht aus der Rolle fallen. „Ich will wirklich nur wissen, wie ich nach Silenda komme. Ehrlich.“

Er seufzte. „Na wenn das alles ist, dann hättest du mich auch einfach gleich fragen können.“

„Hätte ich gewusst dass du ein Vampir bist, hätte ich auch gefragt, aber du hast dich ja hinter diesem Buch versteckt. Ich konnte deine Augen nicht sehen.“

Seine Stirn schlug keine Falten. „Gesehen? Hast du es denn nicht gespürt?“

„Ich … äh …“ Was sollte ich darauf nur erwidern? Nein, ich hatte es nicht gespürt, sonst würden wir ja jetzt nicht in diesem Badezimmer stehen und dieses absurde Gespräch führen. „Ich war wohl ein wenig abgelenkt.“ Schwache Ausrede, Zaira, wirklich schwache Ausrede.

Liam schloss nur kopfschüttelnd die Tür zum Bad auf, trat in den Flur und steuerte das geschlossene Zimmer gegenüber an. Das Schild an der Tür kündete davon, dass jeder der diesen Raum betrat, einen qualvollen und sehr grausamen Tod sterben würde – da hatte wohl einer ein paar Psychothriller zu viel gesehen. „Du bist ziemlich seltsam, wenn ich dir das mal sagen darf.“

„Warum?“ Ich lief ihm hinterher und fiel dabei fast noch über Flair, die auch aus dem Bad eilte.

„Na hör mal, du weißt nicht mal wo die Stadt der Königin liegt. Und du trägst eine Brille.“

Der zweite Punkt schien ihn mehr zu verwirren, als der erste. Das fand ich äußerst interessant. Waren Vampire mit Brillen wirklich so seltsam? Das war etwas, dass mir mein Vater nie gesagt hatte. Vielleicht war ich auf diese Welt doch nicht so gut vorbereitet, wie ich geglaubt hatte. Aber jetzt war es dafür zu spät. Ich würde mich von nichts aufhalten lassen und mich schon irgendwie durchfriemeln. Hatte doch bis jetzt auch ganz gut geklappt.

Gerade als Liam die Hand auf die Klinke legen wollte …

„Kommt ihr gerade gemeinsam aus dem Bad?“

Unisono drehten wir unsere Köpfe – ja, sogar Flair.

Dahinten lugte Paul aus dem Gemeinschaftsraum und grinste uns beide breit an, nur um dann zu rufen: „Ey, keiner von euch beiden bekommt Liam, die Neue hat ihn sich geschnappt! Sie war gerade gemeinsam mit ihm auf dem Klo!“ Damit verschwand er wieder im Gemeinschaftsraum.

Ich spürte wie eine verräterische Röte in meine Wangen kroch. Das hatte er doch jetzt nicht wirklich laut gesagt, oder? Oh Gott, was mussten die Mädels jetzt von mir denken?

„Beachte ihn einfach nicht“, riet Liam mir und betrat das Zimmer. „Und mach die Tür hinter dir zu.“

Nicht beachten? Leichter gesagt als getan. Ich war so glücklich darüber gewesen, einen Vampir vor Augen zu haben, dass ich mir gar keinen Kopf darum gemacht hatte, wie das wirken musste, dass er uns im Bad eingeschlossen hatte. Und jetzt hatten die anderen das auch noch mitbekommen! Ganz große Klasse. Das Glück schien mir wohl doch nicht ganz so holt zu sein, wie ich geglaubt hatte.

Grummelnd wartete ich darauf, dass mein kleines Hundchen sich zu uns in Zimmer bequemte und schloss dann wie verlangt die Tür. Wieder allein mit ihm in einem Zimmer, schoss es mir durch den Kopf. Und gleich darauf: Warum interessiert mich das eigentlich? Gott, mir was doch wirklich nicht mehr zu helfen.

Liams Zimmer war … steril. Anders konnte ich es nun wirklich nicht bezeichnen. Wenn man es mit dem Rest der Wohnung verglich, traute man sich kaum einen Fuß hier reinzusetzen, aus Angst etwas zu beschmutzen. Dieses Zimmer war nicht nur aufgeräumt, es war porentief rein. Wenn ich mir einem weißen Handschuh über die Möbel glitt, würde sich wahrscheinlich nicht mal ein Stäubchen finden lassen.

„Du kannst dich da auf den Stuhl in der Ecke setzten, während ich dir schnell den Weg ausdrucke.“

Das tat ich nicht – als wenn ich mich einfach in irgendeine Ecke verbannen ließe – ich lief ihm hinterher zum Computer und schaute ihm über die Schulter, als er ihn einschaltete, was er mit einem genervten Blick quittierte. „Warst du schon mal in Silenda?“, fragte ich neugierig.

„Ja.“

„Und, wie ist es da so?“

Flair huschte zum Bett und steckte den Kopf darunter, bis sie fast völlig darunter verschwand. Na was sie da wohl interessantes sah?

„Wie in jeder anderen Stadt auch. Laut.“

Na das war doch mal eine genaue Aussage.

Der Desktop lud und Liam klickte gleich auf den Browser. Die Startseite die sich öffnete kannte ich nicht. Irgendwas mit Büchern und einer Eule. „Und da gibt es jede Menge Vampire und Werwölfe, nicht?“

Liam seufzte genervt. „Willst du mir jetzt ein Loch in Bauch fragen?“

„Ja?“ Ich nickte eifrig und grinste ihn an, weil ich es wieder als Frage herausgebracht hatte. „Ich war noch nie da. Bis jetzt habe ich nur unter Menschen gelebt. Es interessiert mich einfach.“

„Du wirst es ja selber sehen, wenn du hinfährst.“

Spielverderber.

Ohne weiter auf mich zu achten, startete er eine Suchmaschine und gab dort aus dem Kopf heraus einen Code von sechzehn Zahlen ein. Daraufhin öffnete sich eine weitere Suchmaschine. Werwolfs and Vampires World.

Meine Augen wurden ein wenig größer. War das etwa eine Website der verborgenen Welt? Mein Mund öffnete sich schon, um ihn genau das zu fragen, doch dann schloss ich ihn ganz schnell wieder. Wenn ich zu viele Fragen stellte, würde er vielleicht doch noch misstrauisch werden und das musste ich um jeden Preis verhindern. Im Moment hielt er mich einfach nur für einen seltsamen Vampir und dabei sollte ich es besser belassen.

Was er dann öffnete, hatte entfernte Ähnlichkeit mit Google Maps, doch hier schienen zusätzlich die Städte, Dörfer und Ortschaften der verborgenen Welt aufgeführt zu sein.

Es juckte mich in den Fingern, diesen Code an mich zu bringen, doch ich riss mich zusammen. Wenn ich erst in Silenda war, würde sich vielleicht noch mal sowas ergeben, aber nicht hier, nicht solange ich noch nicht an meinem Ziel war.

Liam klickte ein wenig mit der Maus herum, tippte etwas in die Tastatur, klickte noch mehr und dann ratterte der Drucker los. Keine Minute später, nahm er einen Papierbogen heraus und reichte ihn mir.

Hm, ein Routenplaner. Die Strecke war deutlich mit einer dicken, roten Linie markiert. Doch etwas machte mich stutzig. „Das ist der Weg für ein Auto.“

„Sag an.“ Er klickte ein wenig mit seiner Maus herum, schloss alle Fenster und fuhr den Computer dann wieder herunter.

„Aber … ich habe kein Auto.“

„Und das ist mein Problem?“

Wenn ich ihm damit auf den Sack ging, dann ja. „Ich dachte, dass ich da irgendwie mit dem Zug, oder vielleicht mit einem Reisebus hinkomme.“

Er schnaubte und drehte sich auf seinem Stuhl wieder zu mir herum. „Du hast vielleicht Vorstellungen. Am besten noch eine Touristenreisegruppe, oder was?“

Ich funkelte ihn an. Er musste ja nicht gleich so herablassend sein. „Das heißt man kommt da nur mit einem Auto hin?“

„Du kannst auch laufen“, spottete er.

Definitiv nicht witzig. „Aber ich habe kein Auto und ich muss da unbedingt hin.“

„Das ist nicht mein Problem. Ich hab die gezeigt wie du da hinkommst, der Rest liegt bei dir.“

Nein, nein, nein, das konnte doch nicht sein. „Hast du kein Auto? Kannst du mich da hinfahren? Das sind doch nur ein paar Stunden.“

Er schnaubte.

„Ich habe auch Geld, ich kann dich bezahlen. Bitte, ich muss da wirklich hin.“

„Tut mir leid, aber ich habe weder Lust noch Zeit nach Silenda zu fahren.“

„Aber ich muss dahin.“ Ich warf die Hände über den Kopf.

Er blieb stumm.

Das konnte doch nicht sein. Ich war jetzt so weit gekommen und jetzt sollte es an einer einfachen Autofahrt scheitern? Das konnte mir das Schicksal doch nicht antun. „Bitte“, flehte ich. „Es ist wirklich wichtig für mich, ich muss nach Silenda und ich hab nicht so viel Zeit. Spätestens morgen muss ich da sein, sonst … scheiße!“ Es war doch bisher alles so gut gelaufen, es konnte doch nicht sein, dass ich jetzt scheiterte. Das durfte einfach nicht sein.

Ich hatte mich so darauf gefreut, hatte so große Hoffnungen darauf gesetzt. Vielleicht könnte ich ein Taxi nehmen. Mit genug Geld würde sich sicher eines finden lassen, das mich an mein Ziel brachte, aber der Fahrer durfte kein Mensch sein. Es war verboten Menschen in solche Orte zu bringen. In der Stadt der Königin wahrscheinlich noch mehr als in anderen.

„Scheiße“, wiederholte ich und ließ mich auf das ordentliche Bett fallen. Eine Träne rollte über meine Wange. Hastig wischte ich sie mit dem Handrücken weg. Heulen würde jetzt sicher nicht helfen.

Flair kam zu mir getappert und stellte sich mit den Vorderpfoten an meinem Bein auf. Ein leises Fiepen kam von ihr. Sie spürte instinktiv, dass etwas nicht stimmte.

„Es ist dir wohl wirklich wichtig dort hinzukommen“, sagte Liam leise.

„Ha!“, da konnte ich doch nur lachen. „Du hast keine Ahnung wie wichtig. Das ist meine einzige Chance. So schnell werde ich keine Zweite bekommen.“ Denn wenn mein Vater erst mal dahinterkam, was ich hier trieb, würde er mich nach meiner Rückkehr mit Argusaugen bewachen. Er würde mir die nächsten hundert Jahre keine Gelegenheit geben erneut aufzubrechen. Aber vielleicht könnte ich ja zurückfahren und Kasper bitten mich dahin zu bringen, dann … nein, Kasper war ein Mensch. Und außerdem bezweifelte ich, dass seine Schrottmühle diesen Weg schaffen würde. Der ächzte ja schon nach ein paar Metern schlimmer als ein alter Opa.

„Warum ist es dir so wichtig da noch dieses Wochenende hinzukommen?“

Warum es mir so wichtig war? „Ich suche jemanden“, sagte ich leise und starrte auf den Zettel in meiner Hand. Natürlich, Liam hatte recht, ich konnte auch laufen, doch dann wäre ich sicher zwei drei Tage unterwegs. Außer ich ließ mich zwischendurch per Anhalter mitnehmen. Mein Vater würde mich auf der Stelle umbringen, wenn er wüsste, was ich gerade überlegte.

Liam seufzte und strich sich das blonde Haar aus dem Gesicht. „Du hast wirklich genug Geld, um so eine Fahrt zu bezahlen? Also Tank und so? Und vielleicht noch etwas obendrauf zu legen?“

Ich riskierte einen zögernden Blick. Könnte er das meinen was ich glaubte? Leise Hoffnung keimte in mir auf, als ich vorsichtig mit „Ja“ antwortete.

„Und bist du auch bereit unterwegs ein Essen springen zu lassen?“

„Natürlich, das ist kein Problem.“ Ich richtete mich etwas auf. „Heißt das du fährst mich doch?“

„Ich?“ Er schnaubte. „Auf keinen Fall. Ich hab dir doch gesagt, ich habe keine Zeit dafür. Ich muss noch die Semesterarbeit fertig machen.“

„Aber warum fragst …“

„Ich kenne da jemanden, der dich vielleicht bringen würde.“

„Wirklich?“

Er nickte. „Ich verspreche nichts, aber ich kann ihn ja mal fragen.“

„Ja, frag ihn.“ Ich rutschte nach vorne an die Bettkante. Vielleicht war ich ja doch noch nicht am Ende des Weges angelangt. „Bitte.“

„Moment.“ Kopfschüttelnd zog er sein Handy aus seiner Hosentasche und murmelte dabei, dass er einfach zu gut für diese Welt sei. Eine schnelle Suche im Adressbuch, dann hatte er das Handy am Ohr und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.

Einen Moment noch blieb es still. Und dann: „Ja, hey, Jaden, ich bin´s, Liam. Du, sag mal, fährst du heute Abend wieder hoch zu deinen Eltern?“

Er schwieg kurz, Sekunden in denen ich sag bitte ja, sag bitte ja, sag bitte ja, flehte.

„Emma? Kannst du ihr nicht absagen?“

Sag ihr ab, sag ihr ab, sag ihr ab.

„Ja, ich weiß wie sie aussieht, aber du hast bei ihr doch sowieso keine Chance. Die spielt in einer anderen Liga.“

Ja, genau, andere Liga, also sag ihr ab, dann kannst du mich fahren.

Liam lachte spöttisch. „Diese Möglichkeit ist aber wirklich sehr gering und … nein … pass auf, weswegen ich anrufe. Hier bei mir im Zimmer sitzt eine kleine Vampirin, die ganz dringend nach Silenda muss, am besten noch heute und …“ Er lauschte kurz. „Nein, sie hat kein Auto, aber sie hat Geld. Sie würde dir die hin und Rückfahrt bezahlen und noch eine Kleinigkeit obendrauf legen.“

Wieder lauschte er der anderen Seite.

Oh man, diese Spannung war zum Haareraufen. Konnte dieser Jaden nicht einfach Ja sagen?

„Sie würde zwischendurch auch noch ein Essen springen lassen und …“ Er lauschte, grummelte dann etwas unverständliches und sagte laut. „Sie ist okay … ja, ist sie.“

Was war wer? Man Leute, macht es doch nicht so spannend!

„Mann, Kumpel, gib´s auf, Emma lässt dich niemals ran.“

Sein Gesprächspartner erwiderte etwas, woraufhin Liam mir einen kurzen Blick zuwarf.

„Wenn du dir Mühe gibst, vielleicht.“

Wieder Pause.

„Man, was fragst du mich, woher … ja … ja, ist ja gut.“ Er nahm das Handy vom Ohr und verdeckte den Lautsprecher mit der Hand. „Ich soll dich fragen, ob du einen Freund hast?“

„Einen …“ Etwas perplex riss ich die Augen auf. „Nein, hab ich nicht.“

Er nahm das Handy wieder ans Ohr. „Nein, hat sie nicht.“ Er lauschte wieder. „Ja … ja … frag sie das doch selber!“ Er seufzte genervt und verdrehte übertrieben die Augen. „Jaden, sieh es doch mal von dieser Seite, wenn du sie fährst, hast du für dieses Wochenende den Pflichtbesuch bei deinen Eltern hinter dir und verdienst dabei sogar noch Geld. Außerdem hast du zumindest auf der Hinfahrt eine Begleitung und langweilst dich nicht. Meinst du nicht das wären genug Gründe um das Vielleicht-Treffen mit Emma abzusagen?“

Wieder eine Pause.

„Siehst du. Ja … ja.“ Ein kurzer Blick auf die Uhr an der Wand. „Okay, sag ich ihr … okay. Ja … bye.“ Er legte auf und steckte das Handy zurück in seine Tasche.

„Und?“, fragte ich.

„Er fährt dich. So um sechs kommt er dich hier abholen.“

Das war noch eine knappe Stunde. „Wirklich?“

Draußen im Flur schrille es an der Tür und einem Moment später war lautstark zu vernehmen, dass Gwendolyn sich darum kümmerte.

„Wenn ich es doch sage.“

Freudig kreischend sprang ich auf die Beine und fiel ihm erst mal um den Hals. Zumindest bis ich bemerkte was ich da trieb und peinlich berührt einen Schritt zurück wich – tja, das Verhalten meiner Mutter hatte wohl doch mehr auf mich abgefärbt, als ich geglaubt hatte. „Tut mir leid“, nuschelte ich, konnte aber nicht aufhören wie blöde zu grinsen. Ich würde nach Silenda fahren. Ich würde wirklich nach Silenda fahren! Das konnte ich kaum glauben. Wirklich, ich würde es tun!

„Schon okay. Aber mach das nicht noch einmal!“

Grinsend nickte ich.

„Pizza ist da!“, rief da Gwendolyn so laut, dass es wahrscheinlich noch die Nachbarn ein Block weiter gehört hatten.

Einen Moment später ging Liams Zimmertür auf und die blasse Blondine mit einem Stapel Pizzakartons in der Hand strahlte uns an. „Kommt schon, essen fassen, bevor es kalt wird.“ Sie grinste mich an. „Und dann geht’s ab in den Klamottenwahn. Wir müssen für heute Abend die perfekten Outfits zusammenstellen, damit wir alle vom Hocker reißen!“

Ach ja, da war ja noch was. Mist, dass hatte ich in der ganzen Aufregen völlig verdrängt. „Ähm … ich glaube das mit heute Abend wird doch nichts“, sagte ich vorsichtig. Schließlich bestand für mich jetzt kein Grund mehr diesen Club aufzusuchen.

Gwendolyns Lächeln sackte in sich zusammen. „Was? Warum nicht?“

„Naja, weil ich … weil …“ Ja, warum nicht? Jemand sollte wirklich mal einen Ausreden-Generator-für-alle-Gelegenheiten erfinden. „Also, ich kann nicht, weil …“ Hilfesuchend sah ich zu Liam, der uns mit hinter dem Kopf verschränkten Armen beobachtete.

Er seufzte. Nervte ihn wohl, dass es jetzt an ihm hängen blieb. „Zaira kann nicht mit, weil sie gegen sechs abgeholt wird. Ihre Mutter hat gerade angerufen. Die muss ganz dringen irgendwo hin und Zaira muss deswegen nach Hause um das Haus zu hüten.“

Na auf die Ausrede hätte ich eigentlich auch alleine kommen könne. Entschuldigen sah ich zu Gwendolyn rüber. „Tut mir echt leid.“

„Na toll.“ Sie sah echt enttäuscht aus. „Und ich hatte mich schon so darauf gefreut.“

Wollte sie mir ein schlechtes Gewissen machen? Dann hatte sie das hiermit geschafft.

Seufzend erhob sich Liam von seinem Stuhl, ging zu ihr herüber und drückte ihr einen freundschaftlichen Kuss auf die Schläfe. „Komm, vergiss Zaira, ich geh mit dir nachher da hin.“

„Wirklich?“ Fast ungläubig sah sie ihn an. „Aber du magst diesen Club doch nicht mal. Du hast selbst gesagt, du würdest nur über deine Leiche ein Fuß in diesen Laden setzten, weil da nur Möchtegern-Vampire und Idioten hingehen. Und ich.“

Na wenigstens hatte er für sie eine eigene Kategorie geschaffen.

„Und ich stehe zu meinem Wort. Trotzdem geh ich mit dir da hin. Für dich mach ich eine Ausnahme.“

So wie Gwendolyn grinste, schien sie nichts dagegen einwenden zu wollen.

Tja, damit war ich wohl nicht nur abgeschrieben, sondern auch gleich noch gut ersetzt.

„Hey!“, rief es da aus den Tiefen der Wohnung. „Wo bleib die verdammte Pizza?“

Das konnte nur Paul gewesen sein.

„Ich komm ja schon.“ Augenverdrehend verließ Gwendolyn das Zimmer. „Sei nicht immer so ungeduldig.“

„Ich hab Hunger!“

„Ich glaub da liegt vom Frühstück noch ein angebissenes Brot im Müllei … au!“

„Halt die Klappe, Luca!“

Elisabeth kicherte.

Ich lauschte dem Geplänkel dort draußen und beobachtete dabei, wie Liam Gwendolyn hinterher sah. „Du magst sie“, stellte ich lauernd fest.

„Natürlich mag ich sie“, sagte er frei heraus und wandte sich zu mir um. „Die Vier sind für mich nicht nur eine einfache Mahlzeit, sie sind meine Freunde und da sie mir als Wirte dienen, ist es meine Pflicht sie vor solch aufdringlichen Vampiren wie dir zu beschützen.“

Befürchtete er etwas immer noch, dass ich es auf mehr als einen Clubbesuch abgesehen hatte? „Nicht sie wie in Menschen, sondern sie wie in Gwendolyn.“ Ich schob die Brille auf meinem Nasenrücken hinauf. „Was ich meine, du magst sie, so als Mädchen. Du hast was für sie übrig.“

Eine leichte Röte breitete sich auf seinen Wangen aus, die den finsteren Blick gleich viel harmloser aussehen ließ. Oh, das war süß. „Das ist Quatsch und jetzt raus hier, bevor Paul unsere Pizzen gleich noch mit verdrückt.“

„Du kannst ruhig leugnen.“ Ich schnappte mir Flair vom Boden und klemmte sie mir unter den Arm. „Ich glaube dir trotzdem nicht.“

„Raus jetzt. Normalerweise darf sowieso niemand in mein Zimmer.“

„Außer Gwendolyn, richtig?“ Nein, diese kleine Stichelei konnte ich mir nicht verkneifen, als ich grinsender Weise unter seinem bösen Blick sein Zimmer verließ und den Stimmen in den Gemeinschaftsraum folgte. Die Vorlage die er mir gegeben hatte, war einfach zu gut gewesen, als das ich sie mir hätte entgehen lassen können.

„Nein wirklich, er hat es gerade gesagt“, versicherte Gwendolyn Elisabeth und zeigte auf Liam, als er mit mir den Raum betrat. „Frag ihn doch selber.“

Das tat sie auch. „Du gehst wirklich mit in den Club? Freiwillig?“

„Hab ich doch wohl gesagt, oder?“

„Siehst du, ich hatte recht.“ Gwendolyn streckte ihr die Zunge heraus.

Okay, das Bild das sich mir hier bot, was schon ein wenig … anders. Jeder normale Mensch würde sich mit seiner Pizzalieferung doch an einen Tisch setzten, um sein Essen dort gemütlich auf bequemen Polstern zu verspeisen. Doch hier war sowohl die Couchgarnitur mit dem zugekramten Tisch, als auch der große Tresen vollkommen verwaist. Stattdessen lagen die Pizzakartons alle geöffnet auf dem Boden und die Bewohner dieser Wohnung saßen schwatzend drumherum.

„Dann komm ich auch mit“, beschloss Elisabeth und wickelte sich einen langen Käsefaden von ihrem Pizzastück um den Finger, um ihn anschließend im Mund verschwinden zu lassen.

„Wolltet ihr nicht sowieso mitkommen?“, fragte Gwendolyn überrascht.

Liam ließ sich schweigend neben ihr auf dem Teppich nieder und zog die extra scharfe Pizza zu sich heran.

Ich zögerte, folgte erst, als Luca mich ranwinkte und neben sich auf den Boden klopfte. Flair nahm ich dabei vorsichtshalber auf den Schoß – musste ja nun wirklich nicht sein, dass das haarige Ding zwischen dem Essen herumrannte.

Sobald ich mich neben Luca eingerichtete hatte und mir den Karton mit der Spinatpizza rangezogen hatte, hielt er meinem Miniwutz auch schon ein Stück Schinken unter die Nase. Also, in diesem Haushalt würde die mit Sicherheit nicht verhungern.

„Nein“, antwortete Paul auf Gwendolyns Frage. „Du wolltest das wir mitkommen, wir haben nicht ja gesagt.“

„Das heißt ich bin mit Liam alleine?“ Bei diesen Worten schlich sich die gleiche vertraute Röte in Ihre Wangen, die Liam eben schon gezeigt hatte. Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, nur sich dann ganz ihrer Pizza zu widmen.

„Ei, ei, ei, was seh ich da“, begann Paul. „Ein verliebtes …“

„Halt die Klappe!“, fauchte Gwendolyn ihn an.

„Igitt“, kam es da von Elisabeth. „Luca, du isst echt wie die letzte Drecksau.“

Er grinste breit und zeigte der Runde dabei einen angeschlagenen Schneidezahn. „Ich bin auch in anderen Dingen ziemlich versaut“, kam er mehr als zweideutig über deine Lippen. Und als er mir dann auch noch zuzwinkerte, konnte ich gar nicht anders als kichern. Irgendwie war er schon niedlich. Und da er offenbar Hunde mochte – wovon ich einfach mal ausging, so wie er die ganze Zeit seine Pizza mit Flair teilte – hatte er bei mir sowieso schon einen Stein im Brett.

Elisabeth verdrehte nur die Augen. „Und obendrauf bist du auch noch pervers.“

„Ach echt?“ Paul bekam große Augen. „Woher weißt du das denn?“

Elisabeth öffnete den Mund, nur um dann ein sarkastisches „Ha ha, wirklich witzig“ rauszubringen. Das sorgte natürlich für weitere Lacher.

„Ich denke ja, sie weiß es, weil die Wände hier die Geräuschkulisse nicht sonderlich gut abhält. Wir wissen schon seit einiger Zeit das Luca sich regelmäßig mit einer gewissen Marlen vergnügt.“ Sie biss in ihr Pizzastück und grinse Luca frech an.

„Tja“, sagte Luca völlig ungerührt. „Marlen weiß halt was gut ist. Oder wer.“

„Spinner“; kam es da von Paul.

„Ach, da spricht doch nur der Neid aus dir, weil du schon seit einiger Zeit …“

„Oh nein, bitte sag es nicht!“, unterbrach Gwendolyn die beiden und steckte sich zwei Finger in die Ohren. „La-la-la ich höre nichts und ich will auch nichts hören.“

„Jetzt fängt das wieder an“, seufzte Elisabeth und schlug Paul auf die Finger, als er versuchte ihr ein Stück Pizza zu klauen. „Finger weg, das ist meine.“

„Aber meine ist schon alle und ich hab noch Hunger.“

„Du hast kein Hunger, du bist einfach nur verfressen“, gab sie völlig ungerührt zurück. „Und wenn du so weiter isst, dann wirst du Ende der Woche nicht mal mehr durch diese Tür kommen.“

„Ich werde nicht fett. Das hier“, – er spannte seinen Bauch an und klopfte darauf – „sind alles steinharte Muskeln.“

„Ja, die sich hinter einer Schicht Fett verstecken“, stichelte Luca und wich lachend aus, als Paul nach ihm schlug.

Da ich mir dieses Leid nicht reinziehen konnte, nahm ich mir noch ein Stück aus meiner Schachtel und reichte den Rest dann an Paul weiter.

Paul sah mich mit großen Augen an. „Für mich?“

„Ja, isst ruhig, ich schaffe sowieso keine Ganze.“

„Oh, am liebsten würde ich dich jetzt küssen.“ Er nahm die Schachtel und feixte in Elisabeths Richtung: „Siehst du, sie ist viel netter als du.“

„Ja, aber küssen wird sie dich deswegen noch lange nicht.“

„Er hat ja auch gesagt, er möchte sie küssen“, stand Luca seinem Freund zur Seite – wobei ich mir nicht sicher war, ob das wirklich eine Hilfe war. „Und nicht umgekehrt.“

„Sie, er.“ Elisabeth zuckte mit den Schultern. „Kommt aufs Gleiche raus. Paul wird als alte Jungfer sterben.“

Ich fand das Geplänkel zwischen ihnen irgendwie süß. Und so grinste ich so ziemlich das ganze Essen lang durch. Als Paul dann noch ein paar Anekdoten von seiner Uni zum Besten gab, kugelte ich mich fast vor Lachen auf dem Boden. Ich merkte kaum wie die Zeit verging und war fast enttäuscht, als es dann kurz nach sechs an der Tür klingelte. Gleichzeitig machte sich dann aber auch nervöse Erwartung in mir breit.

„Das wird deine Mitfahrgelegenheit sein.“ Liam erhob sich von seinem Platz. „Komm, ich bring dich noch raus.“

So hastig wie er sich erhob, bekam ich das Gefühl, dass er mich unbedingt loswerden wollte.

Hätte dieses Klingeln nicht bedeutet, dass ich einer Begegnung mit meiner Erzeugerin wieder einen Schritt näher kam, wäre ich vielleicht einfach sitzen geblieben. So aber suchte ich meine sieben Sachen und meinen Hund zusammen, verabschiedete mich von allen und verließ an Liams Seite die Wohnung. Noch heute würde ich nach Silenda kommen, das war wirklich unglaublich. So lange war das ein Wunsch gewesen, der unerreichbar schien, doch jetzt wurde er wahr.

„Danke“, sagte ich, als Liam mir die Haustür aufhielt. „Für alles.“

„Ach, vergiss es. Hauptsache ich bin dich wieder los.“

Ich grinste ihn breit an. „Mir kannst du nichts vormachen, du bist gar nicht so griesgrämig wie du tust.“ Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Du bist sogar ein echt netter Kerl.“

Das quittierte er mit einem mürrischen Brummen.

 

°°°

 

„… also fragt sie mich so, musst du kotzen? Und ich natürlich nein. Und in dem Moment brach sich der Alkohol bahn und zwar voll auf sie rauf.“

Ich wusste nicht ob ich kichern sollte, oder es doch besser war angeekelt zu sein. „Der war sie bestimmt sauer auf dich.“

„Sauer ist gar kein Ausdruck.“ Jaden setzte den Blinker und zog den Wangen nach links auf die Überhohlspur, um so an einem Sonntagsfahrer vorbei zu kommen. „Sie hat mich Wochenlang verflucht und zum Teufel gejagt, egal wie oft ich versucht habe mich bei ihr zu entschuldigen.“

Okay, kichern entschied ich mich. „Du bist aber auch selber schuld. Wer seine Grenzen nicht kennt, sollte die Finger vom Alkohol lassen.“

Dafür bekam ich ein verschmitztes Lächeln.

Schon seit gut zwei Stunden raste ich mit Jaden über die Autobahnen und kam mit jeder Minute meinem Ziel ein Stückchen näher. Der schwarze … äh … Wagen – ja, ich gab es ja zu, ich hatte keine Ahnung von Autos. Es hatte vier Räder, einen Motor und einen Auspuff, mehr musste ich nicht wissen – schnurrte wie ein sanftes Kätzchen unter uns.

Jaden war eigentlich ganz niedlich. Selbst die etwas zu groß geratene Nase tat dem keinen Abbruch. Mit der gebräunten Haut und den blonden Haaren, die ihm in die blassen, grauen Augen fielen, hatte er etwas von einem kleinen Sonnyboy und er schien auch die Sonne im Herzen zu tragen. Genauso wie auf der Zunge. Ganz ehrlich, dieser Junge nahm kein Blatt vor dem Mund. Und neugierig war er. Zum Glück war er in der Zwischenzeit davon abgekommen, mich nach meinem nicht vorhandenen Liebesleben auszufragen.

„Eigentlich kenne ich meine Grenzen, aber das war alles Gratis gewesen und ich wollt den anderen in nichts nachhängen. Nur leider hatte ich dabei nicht bedacht, dass ich auf leerem Magen trank.“

„Und dafür umgehend die Quittung bekommen.“

Er zuckte lässig mit den Schultern. „Kann halt passieren. Und heute redet meine Schwester ja auch wieder mit mir. Auch wenn sie mir die Geschichte immer noch vorhält.“

„Kann ich mir vorstellen.“ Ich fummelte mit den Fingern an einem kleinen Ast herum, der sich in Flairs langem Fell verknotet hatte. Davon ließ sie sich bei ihrem Schläfchen auf meinem Schoß aber nicht stören. Ganz im Gegenteil. Sie drehte sich auf den Rücken und genoss es, dass ich an ihr begluckte. „Ich wäre auch voll angekotzt, wenn du mich … naja, eben angekotzt hättest.“

Das ließ ihn wieder grinsen. „Ach, das war doch noch gar nichts. Ich war mal mit ein paar Freunden zu Halloween in so einer Disco. Auf der Website hatten sie groß und breit für ihre Halloweenshow geworben, also dachten wir, hey, das müssen wir uns auf jeden Fall ansehen und sind da dann natürlich komplett verkleidet aufgeschlagen. Natürlich …“

Das Klingeln meines Handys unterbrach seine Anekdote. Ich pausierte bei dem Versuch diesen blöden Ast aus dem Fell zu bekommen und zog mein Telefon aus der Innentasche meiner übergroßen, braunen Cordjacke. Ein Blick auf mein Display sagte schon alles. Mist, der Zuchtmeister. „Du musst jetzt mal ruhig sein“, wies ich Jaden an, atmete noch einmal tief durch und hielt mir das Handy dann ans Ohr. Jetzt würde sich zeigen, ob meine Ausrede gut war. „Jup, hier bei mir“, sagte ich extra fröhlich und hoffte einfach mal darauf, dass meine Nervosität nicht in meiner Stimme mitschwang.

„Wo zum Teufel steckst du?“

„Hallo, Papa.“

„Es ist schon fast neun und du bist immer noch nicht hier.“

Fast neun? Ich riskierte einen Blick auf die Digitaluhr im Armaturenbrett. Na da übertrieb aber jemand kräftig. „Papa, es ist gerade mal zwanzig nach acht.“

„Das ist völlig irrelevant. Du hast gesagt du bist abends zurück, aber es ist Abend und du bist noch nicht zurück.“

„Davon abgesehen, dass der Abend sich nicht nur auf eine einzige Minute beschränkt, haben wir Wochenende.“

„Werd ja nicht frech, Fräulein.“

Als wenn er mir dazu jäh eine Chance geben würde.

„Und beweg deinen Hintern schnellstens nach Hause, bevor ich ihn holen komme.“

Oh ja, diese Drohung würde er durchaus wahr machen, beziehungsweise, hatte er schon einmal wahr gemacht. Aber da war ich erst fünfzehn gewesen und die Uhr hatte bereits weit nach Mitternacht angezeigt. Noch dazu hatte er mich nicht auf meinem Handy erreichen können, weil der Empfang mal wieder nicht vorhanden gewesen war.

Das war wohl das einzige was meinen Vater an Koenigshain wirklich hasste, der ständig fehlende Handyempfang, ohne den er mich nicht vierundzwanzig Stunden am Tag kontrollieren konnte. Manchmal fragte ich mich, ob er schon sein ganzes Leben so ein Kontrollfreak gewesen war, oder das ein Zeichen von Altersstarrsinn war. „Papa, du brauchst mich nicht holen kommen, ich bin ein großes Mädchen und kenne den Weg schon seit ich zwölf war.“

Er schnaubte nur.

Okay, jetzt würde es ernst werden. „Außerdem komme ich heute nicht mehr nach Hause.“

„WAS?!“

„Schrei mich nicht an.“

„Und wie ich dich anschreie! Du wirst dich sofort auf den Weg nach Hause machen, sonst komme ich dich bei Kasper abholen!“

In Ordnung, das würde wohl doch etwas schwieriger werden, als ich geglaubt hatte. „Du brauchst nicht zu Kasper fahren, ich bin nicht bei ihm. Ich bin bei“, – ich warf Jaden, der mich intensiver musterte als die Straße, einen kurzen Blick zu –„Valerie“, schloss ich. „Wir …“

„Was zum Teufel hast du bei Valerie zu suchen?! Du hast gesagt, dass du mit Kasper unterwegs bist!“

„Wenn du mich nur anschreist, dann gib mir lieber Mama, damit …“

Es knackte bereits in der Leitung, bevor ich geendet hatte.

„Hallo, Donasie. Du bist also bei Valerie?“

Warum nur hatte ich das mit meiner Mutter gesagt? Sie anzulügen fiel mir immer viel schwerer. „Ja, wir haben sie unterwegs getroffen“, begann ich und versuchte meine Stimme locker klingen zu lassen. „Irgendwie hat es sich dann ergeben dass ich zu ihr gegangen bin und jetzt wollen wir einen Mädchenabend machen.“

„Und du bist nicht auf die Idee gekommen anzurufen und Bescheid zu sagen?“

„Tut mir leid, das hab ich einfach vergessen.“ Oder mich eher dafür gefürchtet. Nervös fummelte ich wieder an dem kleinen Ast herum, während wir weiter durch den Winterabend fuhren. „Ist Papa sehr sauer?“

Flair gab ein Geräusch des Genusses von sich und streckte die Beine in die Höhe.

„Nein, er hat sich nur Sorgen gemacht. Du weißt doch wie er ist.“

Natürlich wusste ich das. „Tut mir leid, ich hab wirklich nicht daran gedacht. Und er brauch sich nicht immer Sorgen machen, mir passiert schon nichts.“

„Er ist dein Vater, Donasie, er wird sich nicht aufhören zu Sorgen, nur weil du das sagst.“

„Ich weiß.“ Und eigentlich war das ja auch in Ordnung, nur leider übertrieb er ganz gerne mal. Und nach zwanzig Jahren nervte das langsam.

„Du bleibst also bei Valerie?“, fragte sie mich dann.

„Ja, ich bleib heute Nacht bei ihr. Und morgen wollen wir uns einen faulen Tag machen. Ich denke ich bin dann so aufm Abend zuhause.“ Man, warum bekam ich nur immer so ein schlechtes Gewissen, wenn ich meine Mutter anlog? Nicht dass ich das allzu oft tat. Aber wenn dann doch mal, dann verfolgte mich das Wochenlang.

Sie seufzte. „In Ordnung.“

„Glaubst du, du bekommst Papa bis dahin wieder runter geregelt?“

„Ich denke dass ich da etwas machen kann.“ Sie begann zu schnurren, also so richtig – sie war ja immerhin ein Ailuranthrop, eine Werkatze. „Mir kommt da auch schon etwas in den Sinn.“

Im Hintergrund hörte ich meinen Vater schnauben, aber er klang bei weitem nicht mehr so sauer wie eben.

„Oh Mama, musst du so was sagen? Ich bin deine Tochter!“

„Was denn? Ich habe doch gar nichts gesagt.“

„Brauchtest du auch nicht, deine Stimme war eindeutig. So klingst du immer wenn … oh Gott, jetzt bekomme ich auch noch Kopfkino.“

Am anderen Ende der Leitung wurde herzlich gelacht.

„Warum könnt ihr nicht wie andere Eltern sein? Die würden sich nach so langer Zeit nicht mal mehr mit einer Kneifzange anfassen.“

„Aber küssen macht doch so ein Spaß und dein Vater ist außerordentlich gut bei dem was er …“

„Stopp, sprich nicht weiter!“ Oh Gott, ich hasste das. Wieso waren wir überhaupt auf dieses Thema gekommen?

Flair richtete sich bei meinem Ruf alarmiert auf, sah sich einmal und hechelte mich dann an.

„Kannst du damit nicht einfach …“ Ich wedelte mit meiner Hand ziellos in der Luft herum, um das richtige Wort zu finden. „… aufhören?“

„Du meinst mit Sex?“

„Mama!“ Das machte sie doch nur um mich zu ärgern. „Du solltest so ein Wort nicht in den Mund nehmen, nicht in meiner Gegenwart. Du solltest sowas in deinem Alter nicht mal mehr wissen was das ist. Du bist doch kein Teenager mehr!“

Wieder lachte sie, aber dieses mal anders. Und dann hörte ich dieses Geräusch, wie es nur beim Küssen verursacht wurde – und ich redete hier nicht von einem keuchen Freundschaftskuss.

„Und verdammt leg wenigstens auf, bevor ihr damit anfangt!“

„Gute Nacht, Donasie, wir sehen uns morgen Abend.“ Noch ein Kichern, das absolut nicht jugendfrei war, dann war die Leitung tot.

Kopfschüttelnd machte ich die Tastensperre in mein Handy und steckte es zurück in meine Jacke. „Oh Gott, hast du auch so peinliche Eltern? Die besitzen nicht das geringste Schamgefühl. Ich meine, Hallo? Ich bin ihre Tochter. Da sollten sie sich doch wenigstens ein bisschen zurückhalten können.“

Jaden musterte mich nachdenklich. „Warum lügst du deine Eltern an?“

Was? Mist. Warum musste er ausgerechnet das Fragen? „Das hat seinen Grund.“ Den ich hier nicht näher erläutern würde.

„Deine Eltern wissen also gar nicht, dass ich dich gerade nach Silenda kutschiere?“

„Ähm … nein.“ Wenn sie das wüssten, würden sie wahrscheinlich noch in dieser Sekunde die Kavallerie nach mir losschicken.

Ein weiterer kritischer Blick. „Sag mal, wie alt bist du eigentlich?“

„Zwanzig.“

Er zog die Augenbrauen hoch. Dadurch wirkte er eher erstaunt als skeptisch.

„Okay, ich bin neunzehn, aber nur noch bis nächsten Freitag, da habe ich Geburtstag.“ Und deswegen zählte diese letzte Woche in meinen Augen auch nicht mehr besonders. „Außerdem bin ich schon lange volljährig“

Jaden schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht ob mir das gefällt.“

Überlegte er etwa gerade, ob er mich zurückbringen sollte? Dem musste ich sofort entgegenwirken. „Hör mal, ja es ist richtig, dass meine Eltern nicht wissen wo ich gerade bin, aber ich habe auch nichts schlimmes vor, ich will einfach nur jemanden Besuchen, von dem sie nicht wollen, dass ich ihn sehe.“

„Ich dachte du hast keinen Freund.“

Was bitte hatte das denn jetzt damit zu tun? „Ich hab ja auch keinen Freund.“

Wieder diese hochgezogenen Augenbrauen. „Wenn ein Mädchen von zu Hause abhaut, weil sie jemanden sehen will, von dem die Eltern nicht wollen dass sie ihn sieht, dann hat das meistens etwas mit einem Kerl zu tun.“

Ach echt? „Ich glaubt du guckst zu viele schlechte Filme.“

Dafür bekam ich ein Grinsen. „Da stimme ich dir voll und ganz zu, aber wenn du keinen Freund hast und ich dich nicht gerade zu irgendeinem üblen Kerl fahre, von dem deine Eltern dich fernhalten wollen, dann stellt sich mir doch die Frage, wer dich an deinem Ziel erwartet.“

Dazu schwieg ich, denn wie hieß es so schön? Schweigen war Gold.

„Keine Antwort?“

„Es geht dich nichts an.“

„Da hast du wohl recht.“ Nachdenklich neigte er den Kopf. „Aber ich bin der Fahrer und ich könnte jederzeit umkehren und ich zurück zu Liam bringen.“

Ich verengte die Augen zu schlitzen. „Dann gehen dir aber ein Haufen Kröten flöten.“

„Ja, das ist wohl war.“ Er grinste mich frech an. „Aber ich glaube damit kann ich leben. Also?“

„Das ist Erpressung.“

Er zuckte nur unschuldig mit den Schultern.

„Warum willst du es denn unbedingt wissen?“

„Ich bin halt neugierig.“

Na super. „Ich will eine alte Freundin besuchen.“

Er schnaubte belustigt. „Und jetzt versuchen wir es noch einmal mit der Wahrheit.“

„Das war die Wahrheit“, empörte ich mich. Nun gut, war sie nicht, aber dass er mich bezichtigte zu lügen fand ich schon ziemlich dreist von ihm.

„Eine alte Freundin also?“

„Ja.“

„Okay, ich glaub wir fahren doch besser zurück.“

Ich kniff die Augen zusammen. „Du bluffst.“ Hoffte ich mal. Er würde sich doch das Geld nicht entgehen lassen, oder? Doch dann setzte er plötzlich den Blinker, als die nächste Ausfahrt in Sicht kam. Er zog nach rechts. Er würde doch nicht wirklich, oder? Nein, so blöd konnte er nicht sein.

Und doch kam die Ausfahrt immer näher. Und noch näher. Und dann nahm er sie wirklich!

„Nein, was machst du? Wir müssen nach Silenda!“

„Nein, ich kann mir das aussuchen und du musst zu deinen Eltern zurück.“

„Nein … ich … verdammt, okay, ich sag´s dir ja. Ich will nach Silenda um Erzeugerin zu sehen und meine Eltern wollen nicht dass ich sie treffe. Zufrieden?“

„Deine Erzeugerin?“

„Ja. Ich will meine leibliche Mutter kennenlernen, aber mein Vater will das nicht, deswegen habe ich mich heimlich auf die Socken gemacht. Kannst du jetzt wieder umdrehen?“

„Nein.“

„Was?“

„Ich habe nein gesagt.“ Er grinste in mein fassungsloses Gesicht. „Davon abgesehen dass ich hier nicht einfach wenden kann, musste ich diese Ausfahrt nehmen um nach Silenda zu kommen.“

Und noch einmal. „Was?“

„Hast du wirklich geglaubt dass ich so kurz vor dem Ziel wieder umdrehen würde, um morgen noch mal herfahren zu dürfen?“ Er schnaubte. „So blöd bin ich doch auch nicht.“

Er hatte mich reingelegt! War das zu fassen? Und ich war auch noch voll darauf reingefallen. „Oh, du bist so hinterhältig“, warf ich ihm vor.

„Ich weiß.“ Er hielt am Ende der Ausfahrt an einer roten Ampel und bog dann nach links auf eine breite Straße. Dabei zerschnitten seine Scheinwerfer die Dunkelheit der Nacht. Hier war es gleich viel ruhiger als auf der Autobahn. „Deine leibliche Mutter also. Versteht dein Vater sich nicht mit ihr?“

„Keine Ahnung.“

„Wie kannst du das nicht wissen?“

Ich versuchte wieder Flair von diesem kleinen Ast zu befreien. Der wollte einfach nicht von ihr ablassen. „Ich habe sie nie kennengelernt.“

Er warf mir einen erstaunten Blick zu. „Wie das?“

Seufzend gab ich mich geschlagen. Jetzt war es ja auch egal. „Sie hat mich direkt nach meiner Geburt zu meinem Vater gegeben.“

„Das ist hart.“

Ja, so konnte man das auch ausdrücken.

„Wollen wir dann was essen?“

„Essen?“ Wie kam er denn jetzt darauf?

„Ja, essen. Das tut man wenn man Hunger hat. Liam hat mir versprochen, dass ich ein Gratisessen bekomme und da dort vorne gerade ein Schnellrestaurant ist, dachte ich dass wir da mal kurz ranfahren können. Ich hab heute nämlich noch nichts Warmes zwischen die Zähne bekommen und meine Mutter wird mir um diese Zeit bestimmt nichts mehr zubereiten.“

„Und da glaubst du, dass Fast-Food eine gute Alternative ist?“

Zwar hatte ich noch nicht zugestimmt, aber trotzdem fuhr er bereits den Laden an. „Klar, es gibt nichts besserer einen richtig gut durchgebratenen Burger.“

Ich verzog angewidert das Gesicht. „Igitt.“

„Was, du magst keine Burger?“

„Nein, ich mag kein Fleisch.“

Sein Blick schnellte zu mir. Erst überrascht, dann ungläubig und dann schnaubte er. „Okay, jetzt hättest du mich fast gehabt.“ Er schüttelte den Kopf über sich selber. „Das hast du so gut rübergebracht.“

„Glaub es oder lass es, aber ich esse wirklich kein Fleisch. Ich bin Vegetarier.“

„Ist das dein Ernst?“

Der Wagen rollte auf den kleinen, fast leeren Parkplatz und hielt nahe des Eingangs.

„Warum bitte sollte ich da lügen?“

„Ein vegetarischer Vampir“, sagte er wie zu sich selbst und schaltete den Motor aus. „Hat man sowas schon gehört?“

Wie erstaunt er erst gewesen wäre, wenn er wüsste, dass ich viel mehr als ein Vampir war, dass unter meiner Haut noch ein Wolf lauerte. Und nein, auch als Wolf mochte ich kein Fleisch, da fraß ich lieber ein Büschel Gras.

Er lehnte sich in die Polsterung und musterte mich mit neuen Augen. „Aber du trinkst doch Blut, oder?“

„Ja natürlich.“ Das war mal wirklich eine saublöde Frage gewesen. Jeder Vampir brauchte die Nährstoffe, die wir nur über das Blut unserer Wirte zu uns nehmen konnten. Ich machte da keinen Unterschied.

„Wie kannst du da kein Fleisch mögen?“

„Ich esse Tofu.“

Das brachte mir einen echt schellen Blick ein. „Das ist ja wohl nicht dasselbe.“

„Blut ist kein Fleisch“, verteidigte ich mich.

Wieder schüttelte er den Kopf. „Ein Vampir der kein Fleisch ist und dazu noch eine Brille braucht.“

Was hatten die nur immer alle mit meiner Brille? „Ich bin eben einmalig.“ Ich öffnete die Wangentür und ließ Flair von meinem Schoß springen. Eine Sekunde später flitzte sie bereits über den Parkplatz zu der kleinen Grünfläche in der Mitte – man, diese Hund konnte nicht nur futtern ohne Ende, so viel wie die pinkelte konnte, musste die auch eine Blase eines Mammuts haben.

„Da stimme ich dir voll und ganz zu.“ Auch Jaden stieg aus dem Wagen, streckte sich einmal kräftig und schloss dann den Wagen ab. „Einmalig und auch ein wenig … seltsam.“

„Hey! Nur zur Information, ich kann dich hören.“

Er grinste so breit, dass ich seine Fänge sehen konnte.

Blödmann.

Ich musste noch auf Flair warten. Dann betraten wir das Schnellrestaurant und ich fand heraus, wie viel so ein junger Vampir verdrücken konnte – er stand Flair in nichts nach.

Als wir uns wieder auf den Weg machten war es schon nach neun und es hatte wieder zu schneien angefangen. Dicke Flocken schwebten lautlos zur Erde, bedeckten alles was sie erreichen konnten unter einer dicken Schicht Unschuld und ließen die Welt wie einen verzauberten Juwel wirken.

Die festen Straßen wurden zu abgelegenen Landwegen, auf denen sich selten andere Autos verloren. Weiße Wiesen und Felder, immer wieder abgelöst von kleinen, zwischen Hügel gebetteten Wäldern. Wir fuhren in die Ausläufer der Gebirge, hinein in die Alpen, wo so manches kleine Dörfchen friedlich in dieser weißen Nacht schlummerte.

Die Landschaft zog nur so vorbei an mir. Unbekannte Weiten, die ich niemals gesehen hätte, wenn es nach meinem Vater gegangen wäre und mit jedem Kilometer den wir zurücklegten, kamen wir Silenda ein Stück näher. Ich wurde immer zappeliger und als dann endlich die ersten Häuser von Silenda in Sicht kamen konnte ich nur denken: Hier lebt sie, hier wohn meine Erzeugerin.

„Na, nervös?“

Es gab kein Ortsschild, dass drauf hindeutete, welche Stadtgrenze wir hier gerade überfuhren. Da waren einfach plötzlich die Häuser. Und es wurden immer mehr. Einfamilienhäuser mit weißen Gartenzäunen. Eine kleine Vorstadtsiedlung, umgeben von hohen Wäldern, die zu einer Kleinstadt versteckt in den Alpen wurde. Dass es so etwas geben konnte, war einfach nur erstaunlich.

„Ein bisschen“, gab ich zu. Warum noch lügen? Er wusste doch sowieso schon warum ich hier war. Und ich wurde wirklich langsam ein wenig nervös.

Die Häuser an denen wir vorbeifuhren waren nicht anders als die der Menschen. Manche Fenster waren noch erhellt, in dem Licht der Laternen huschten Gestalten durch die Nacht, tierische Gestalten, Wölfe – oder besser gesagt, Werwölfe.

Den Anblick wie sie dort einfach auf offener Straße vorbeihuschten, fand ich so faszinierend, dass ich meinen Blick nicht abwenden konnte, bis wir an ihnen vorbeigefahren waren. Es waren nicht die ersten Lykaner, die ich in meinem Leben sah. Hin und wieder packte Tante Amber mich in ihren Wagen und fuhr mit mir in den Wald. Auch mit Onkel Tristan und seiner Familie hatte ich schon solche Ausflüge gemacht, doch das war zum einen Familie und zum anderen immer weit ab der Zivilisation gewesen, wo keine andere Seele zu finden war. Das hier war etwas ganz anderes.

„Soll ich dich direkt zu ihr fahren?“, unterbrach Jaden meine Gedanken. „Also, zu deiner Mutter?“

„Was? Nein, auf keinen Fall!“ Ich stockte kurz. Mist, das war wohl etwas zu panisch rausgekommen. „Ich meine, nein, ich … ich werde sie erst morgen aufsuchen.“ Wenn du mit deiner Neugierde weit weg bist und ich nicht Gefahr laufe aufzufliegen. Gott, warum hatte ich ihm nur gesagt, warum ich herkommen wollte? Ach ja, weil er ein mieser Hund mit intriganten Tricks war.

„Okay.“ Er fuhr etwas langsamer. „Wahrscheinlich besser so. Aber dann stellst sich mir die Frage, wo soll ich dich dann absetzen.“

Ja, das war eine ausgezeichnete Frage. Bei all der Freude darüber dass ich heute noch nach Silenda kam, hatte ich ganz vergessen mir Gedanken darüber zu machen, wo ich die Nacht verbringen konnte. Auf einer Bank im Park zu schlafen, fiel aus zwei Gründen aus. Erstens: Es schneite und wahrscheinlich würde mir mit der Zeit selbst unter meinen Fell zu kalt werden, wenn ich mich nicht bewegte. Und zweitens – und viel wichtiger – es musste höllisch unbequem sein. Da ich in Silenda aber auch niemanden kannte, blieb wohl nur noch eine Möglichkeit übrig. „Gibt es hier sowas wie ein Hotel?“

Er warf mir einen Blick zu, der mich eindeutig frage, ob das mein Ernst war. „Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, das hier ist eine ganz normale Kleinstadt.“

„Ja, eine ganz normale Kleinstadt voller Lykaner und Vampire.“ Gut, ich hatte hier zwar noch keine Vampire gesehen – jedenfalls nicht bewusst – aber ich ging jetzt einfach mal davon aus.

„Du hast die Ailuranthropen vergessen.“

„Werkatzen?“ Ich runzelte die Stirn. Hatte meine Mutter mir nicht erzählt, dass die sich von den anderen fernhielten und lieber für sich lebten, oder hatte ich da etwas missverstanden? Ich konnte mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass in irgendeiner Erzählung meiner Eltern um diese verborgenen Orte mal die Rede von Ailuranthropen gewesen war.

„Natürlich, was denn sonst? Oder meinst du die nette Nachbarin von nebenan verwandelt sich mal ganz plötzlich in einen kleinen Stubentiger?“

Wundern würde es mich nicht wirklich. „Ich hatte nur gedacht, dass in diesen Orten nur Vampire und Lykaner leben.“

„Bis vor ein paar Jahren war das auch noch so.“ Jaden setzte den Blinker und fuhr dann nach links in eine kleine Seitenstraße. „Du hast doch sicher schon von der verrücken Königin gehört?“

War das eine Fangfrage? „Ja.“ Und nur so nebenbei, sie war nicht verrückt – auch wenn das alle glaubten. Sie hatte in ihrem Leben halt nur viel durchgemacht und das hatte seine Spuren hinterlassen.

„Naja, irgendwie scheint die ziemlich dicke mit den Ailuranthropen und vor einigen Jahren sind die immer mal wieder hoch zum Schloss gekommen.“

„Das Schloss?“

Ein kurzer Seitenblick, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte. „Ja, Schloss, der Ort wo die Königin lebt.“

„Ha ha, eigentlich war mit der Frage gemeint, wo das Schloss ist.“

Er grinste. „Also eine kleine Touri-Führung?“

„Mich interessiert das Schloss. Ich habe schon eine Menge davon gehört, es aber noch nie gesehen. Es wäre einfach interessant zu wissen, wo es ist.“

„Ich glaube kaum dass die da heute noch jemand reinlassen.“

„Ist mir auch klar. Aber ich werde ja ein paar Tage in Silenda sein, vielleicht komme ich ja dazu es mir anzusehen.“ Ganz bestimmt sogar, schließlich lebte dort meine Erzeugerin.

„Das glaube ich zwar nicht, aber du kannst es ja mal versuchen.“ Er fuhr aus einer Seitenstraße raus, auf eine breite Straße und da gleich wieder nach links vorbei an mehreren kleinen Läden.

„Und?“, fragte ich dann ungeduldig, „wo ist das Schloss nun?“

Er zeigte geradewegs durch die Windschutzscheibe. „Da.“

Und da war es wirklich. Etwas erhöht hinter den Dächern der Häuser ragte seine Silhouette umringt von einem düsteren Wald vor dem fast vollen Mond wie ein riesiges Mahnmal in den Himmel. Von hier aus war nicht viel zu sehen, trotzdem stockte mir der Atem. Das also war der Ort wo meine Erzeugerin lebte, das war der Ort an dem ich geboren wurde.

„Der Anblick scheint dir zu gefallen.“

„Ja, das ist fantastisch.“ Ich beugte mich ein wenig weiter vor um besser sehen zu können. Es war wirklich wunderschön. Wie eine mittelalterliche Ritterbug.

„Und dabei siehst du es nur aus der Ferne bei Nacht. Tagsüber ist es noch viel eindrucksvoller.“ An einem Stoppschild hielt er kurz an, bevor er einen Weg nach rechts einschlug und die Dächer der Stadt diesen unglaublichen Anblick unterbrachen. „Aber um auf deine eigentliche Frage zurückzukommen, die Verrückte Königin ist eben ziemlich enge mit den Ailuranthropen und so haben sich vor ein paar Jahren ein paar von ihnen in der Stadt angesiedelt.“

Eigentlich hatte ich das ja gar nicht gefragt, aber nun gut, ich würde ihn einfach dem glauben lassen und zuhören.

„Es gibt sogar welche die oben bei Königin Cayenne auf dem Schloss wohnen. Botschafter. Manchmal sieht man sie durch die Stadt laufen.“

Vor ein paar Jahren? Das musste dann nach meiner Geburt geschehen sein. Da meine Eltern seit meiner Geburt nicht mehr hier gewesen waren und unter Menschen lebten war es gut möglich dass sie es gar nicht wussten. Das würde auch erklären, warum sie mir nie etwas davon gesagt hatten.

Jaden verließ die Straße und bog auf einem kleinen Marktplatz ein dessen Mitte von einem riesigen Springbrunnen mit zwei bronzenen Wölfen geziert wurde – ein ziemlich makaberer Springbrunnen. Der eine Wolf lag Tot auf dem Boden und der andere regte dahinter triumphierend über seinen Sieg die Schnauze zum Himmel.

Drumherum war ein Kreis von Geschäften und einer Bar mit dem Namen Moonlight.

Jaden schaltete den Motor ab und lehnte sich in seinem Sitz zurück.

„Was machen wir hier?“

„Du hast doch nach einem Hotel gefragt. Da, neben der Eisdiele, siehst du die gelbe Tür?“

Ich nickte.

„Das ist ein kleines Hotel. Ziemlich unscheinbar, aber sauber. Dort bekommst du für die Nacht sicher ein Zimmer.“

„Und dort sind auch Hunde erlaubt?“

Schon wieder bekam ich diesen Blick, unter dem ich mich plötzlich ziemlich dämlich fühlte. „Schätzchen, da checken Lykaner ein. Deine kleine Fußhupe dürfte da wohl kaum ein Problem sein.“

Ich zog eine Augenbraue hoch, „Hast du mich gerade Schätzchen genannt?“

Darauf grinste er nur.

Da konnte man wirklich nur noch den Kopf schütteln. „Okay, dann danke.“ Ich schob Flair ein wenig zur Seite, um an meine Hosentasche zu kommen und zückte meinen Geldbeutel. Jaden sagte nichts, wartete einfach still, als ich drei Fünfziger zückte und sie ihm dann in die Hand drückte. „Hier.“

„Danke.“ Er sah sich das Geld kurz an und ließ es dann in seiner Hosentasche verschwinden. „Wenn du mal wieder einen Fahrer brauchst, kannst du mich gerne anrufen. Hier.“ Er zückte einen Stift, griff nach meiner Hand und schrieb eine Folge von Zahlen rauf. „Das ist meine Telefonnummer.“

„Danke, aber ich glaube nicht dass ich all zu bald wieder jemanden brauche, der mich durch die Gegend kutschiert.“ Vor allen Dingen würde mein Portemonnaie da nicht lange mitspielen.

„Nur für alle Fälle.“ Er grinste. „Und du kannst mich gerne auch mal so anrufen. Ich bin fast jedes Wochenende bei meinen Eltern in Silenda und vielleicht kann man sich ja mal treffen.“

Fragte er mich da gerade unterschwellig nach einer Verabredung? „Ich würde an deiner Stelle nicht damit rechnen. Ich werde nur ein paar Tage hier sein.“

„Ich auch.“

Der gab wohl nicht so schnell auf.

„Du kannst mich auch einfach nur zum quatschen anrufen, ich bin ein echt netter Kerl, weißt du?“

Ich glaubte ja eher, dass er einfach neugierig war und wissen wollte, wie es mit meiner Erzeugerin weiter ging. Als wenn ich ihm das erzählen würde. Nicht mal mein bester Freund würde es erfahren. Und wenn ich ganz viel Glück hatte, dann konnte ich es auch vor meiner Familie verheimlichen. „Ich werde es mir merken, und … danke.“

„Gern geschehen. War eine nette Abwechslung mal nicht alleine fahren zu müssen. Obwohl ich deswegen ja Emma versetzen musste.“ Er sah mich streng an. „Dafür bist du mir übrigens noch was schuldig.“

„Ich hab dir ein Essen spendiert.“ Das sollte als Entschuldigung wohl ausreichend sein. „Außerdem, wenn ich mich recht erinnere, war das nur ein Vielleicht-Treffen.“

„Ja, aber es hätte durchaus die Chance bestanden, heute Abend mit ihr wegzugehen.“

„Und ich bin jetzt daran schuld, dass du diese eventuelle Möglichkeit mit Emma – ich zitiere: die lässt dich sowieso nicht ran, Zitat ende – in den Wind geschlagen hast.“

„Hey, nur weil Liam behauptet sie würde mich nicht ranlassen, heißt das noch lange nicht, dass es auch stimmt.“

Ich hob die Hand und tätschelte ihm übertrieben die Wange. „Du wirst es überleben.“

Mit seinem Grummeln im Ohr stieg ich aus dem Wagen und ließ Flair auf den Boden, während ich meine Tasche vom Rücksitz holte.

Der Schnee war mittlerweile so hoch, das mein armer, kleiner Yorki Schwierigkeiten hatte vorwärts zu kommen und sich zum Brunnen vorkämpfte, wo der Schnee nicht ganz so hoch war.

Ich schwang mir meine Tasche über die Schulter, schlug die Wangentür zu und winke Jaden zum Abschied. Dann konnte ich dabei zusehen, wie er wendete und von dem Marktplatz fuhr.

Nun stand ich alleine in einer verschneiten Winternacht, in einer fremden Stadt. Ich stand in der Stadt, in der meine Erzeugerin wohnte. Und langsam wurde mir kalt.

Hastig schnappte ich mir meinen Wutz und machte mich auf dem Weg zu dieser unscheinbaren, gelben Tür, die so versteckt lag, dass ich alleine niemals darauf gekommen wäre, dort nach einer Übernachtungsmöglichkeit zu suchen. Und das sollte ein Hotel sein? Stand zumindest auf dem Schild, das daran angebracht worden war.

Kurzentschlossen drückte ich die Klinge und musste ein Weilchen warten, bis mir eine etwas ältere Frau die Tür öffnete und mich freundlich ins Haus hinein bat.

Der Eingangsbereich war eher rustikal gehalten und nachdem ich für eine Nacht bezahlt hatte, konnte ich feststellen, dass es bei den Zimmern genauso war. Spärlich und rustikal. Aber sauber. Und es gab ein großes Doppelbett. Da hatte ich viel Platz um mich für die Nacht breit zu machen.

Als erstes zog ich mir meine Jacke aus und schälte Flair dann aus ihrem Pulli. Dabei fiel mein Blick auf die Telefonnummer die mir Jaden aufgeschrieben hatte. Kurz starrte ich darauf. Eigentlich glaubte ich ja nicht, dass ich sie irgendwann mal brauchen könne, aber da man sowas ja nie im Vorfeld wissen konnte, zog ich kurzerhand mein Handy hervor und speicherte sie in meinen Kontakten. Und da ich das Ding schon mal in den Händen hielt, schrieb ich auch gleich noch Kasper eine Nachricht, dass ich gut angekommen war und die Nacht in einem Hotel verbringen würde. Da er nicht sofort zurückschrieb, schlief er entweder schon – wovon ich nicht wirklich ausging – oder – was wahrscheinlicher war – er saß vor seinem Computer und hatte mal wieder sein Headset auf.

Seufzend zog ich mein Ladekabel aus der Tasche und schloss mein Handy an eine Steckdose, damit das Ding auch morgen noch Saft hatte. Dann entledigte mich dann meiner Kleidung, um noch schnell unter die Dusche das kleinen Badezimmers zu springen. Dabei leistete Flair mir Gesellschaft, indem sie vor der Dusche saß und mich mit schiefgelegtem Kopf kritisch beäugte.

Was so ein Hund wohl dachte, wenn er das tägliche Reinigungsritual seines Menschen sah? Wäre doch wirklich mal interessant die Gedanken eines Tieres zu lesen.

Porentiefrein trocknete ich mich dann ab und suchte mir für die Nacht ein weites Shirt aus meiner Tasche heraus. Und wieder saß Flair daneben und beobachtete mich aufmerksam. „Du hast wohl Hunger.“

Dass ich sie direkt ansprach, nahm sie gleich zum Anlass kräftig mit dem Wedel zu rudern.

„Keine Angst, ich hab an alles gedacht.“ An der Seite meiner Tasche hatte ich eine kleine Tüte gesteckt und zauberte daraus ihre Näpfe und das Futter hervor. Das knisternde Geräusch ließ sie gleich ganz aufgeregt werden und so tänzelte sie um mich herum, während ich ihr Abendbrot vorbereitete, nur um sich auf den Napf zu stürzen, sobald er am Boden stand. Wirklich, wenn man diesen Hund so sah, dann konnte man ehrlich auf den Gedanken kommen, er habe seit Jahren nichts mehr gefressen.

„Ja, das schmeckt dir, was meine Süße?“

Sie hatte keine Zeit darauf irgendwie zu reagieren. Tja, Futter war halt doch wichtiger als Frauchen.

Lächelnd verschwand ich noch einmal im Bad, um ihren Wassernapft zu füllen. Bei meiner Rückkehr war ihr Futter bereits verschwunden und mit einem einzigen Blick sagte mir mein Hund sehr genau, dass sie nichts gegen einen großen Nachschlag hätte. Schade nur für sie, dass sie den nicht bekam, aber mit dem Wasser gab sie sich dann auch zufrieden.

Gerade als ich wieder aufstand, um mich ins Bett zu legen, teilte mir mein Handy mit, dass ich wichtig war. Kasper hatte geantwortet. Er schreib, dass mein Vater noch nicht bei ihm aufgetaucht war, um ihn nach seiner verschollenen Tochter auszuquetschen und wünschte mir für die Nacht in einem fremden Bett wenig Bettwanzen.

„Spinner.“

Ich schrieb ihm zurück, dass ich jetzt schlafen ging und wenn mich doch eine Wanze erwischte, dann musste er eben pusten kommen. Dafür bekam ich einen Smiley.

Nachdem ich ihm dann noch eine gute Nacht gewünscht hatte, legte ich mein Handy weg und schlüpfte unter die Decke. Natürlich vergaß ich meinen kleinen Hund dabei nicht, der durfte im Bett nicht fehlen. Ich brauchte nachts ja was zum kuscheln.

Und dann atmete ich zum ersten Mal an diesem Tag richtig durch.

Ich hatte es geschafft. Ich war nicht nur in die Stadt meiner Geburt gekommen, ich hatte auch noch meinen Vater hinters Licht führen können. Eigentlich sollte ich mich ja nicht so sehr darüber freuen, aber … ich musste einfach grinsen. Wenn er jemals herausbekam, was ich hier trieb, würde ich wahrscheinlich bis ans Ende meiner Tage Stubenarrest bekommen. Aber das war es mir wert. Obwohl es doch schon ein wenig seltsam war, in einem fremden Bett zu liegen und zu wissen, dass alles und jeden den man kannte so weit von einem weg war.

Geschafft und müde vom Tag kuschelte ich mich tiefer in die Kissen

Natürlich, ich hatte Koenigshain auch hin und wieder mal verlassen, aber ohne mindestens einen Elternteil, war ich noch nie weiter als bis zum nächsten Ort gegangen. Das war schon ein merkwürdiges Gefühl. Und nahm man noch dazu das Wissen, dass ich heute Nacht in der gleichen Stadt schief, in der auch meine Erzeugerin nächtigte, wurde es gleich noch ein wenig merkwürdiger. Hier hatte alles für mich begonnen.

Wie sie wohl war? Ich meine, natürlich kannte ich sie aus Zeitungsausschnitten und Berichten – sie war immerhin die Königen der Lykaner und damit in dieser Welt ziemlich populär. Außerdem hatte mein Vater es früher als ich noch klein gewesen war zu einem Ritual gemacht, mir jeden Abend Geschichten über sie zu erzählen. Doch es war halt nicht dasselbe, als sie selber zu kennen.

Meine Erzeugerin war für mich immer eine Märchengestalt gewesen, die irgendwo in unerreichbarer Ferne existierte und nun endlich würde ich sie kennenlernen und mir ein eigenes Bild von ihr machen können.

Müde, aber lächelnd schloss ich die Augen und kuschelte Flair näher an mich.

 

°°°°°

Familienporträt

 

Immer wenn ich mein Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte, knirschte der Schnee unter meinen flachen Stiefeln. Die Stelle unter mir war schon völlig plattgetreten. Langsam schlug die Nervosität bei mir richtig durch und das schien auch Flair zu merken, denn obwohl sie ohne Leine lief, wich sie mir keinen Schritt von der Seite.

Es war gerade mal kurz nach zehn, aber ich war schon seit sechs wach. Die Aufregung hatte mich einfach nicht schlafen lassen. Ich hatte mich geradezu dazu zwingen müssen nicht direkt nach dem Aufstehen zum Schloss zu eilen, sondern erst mal in Ruhe den Tag zu beginnen. In Ruhe Frühstücken – ich hatte keinen bissen runtergebracht – was manierliches anziehen – ich konnte mich eine halbe Stunde lang nicht entscheiden und das wo meine Klamotten doch alle glich aussahen – schnell noch mal unter die Dusche springen – ich hatte doch tatsächlich Heiß- und Kaltwasser verwechselt. Mann, das war ein Geschrei gewesen. Jedenfalls hatte ich die Wartezeit die ich mir gesetzt hatte irgendwie rumgekriegt und war dann gegen zehn aus dem Hotel ausgecheckt und ohne weitere Umwege hierher geeilt.

Nun stand ich vor dem Außenwall des Schlosses am Tor in einer Schlange und wartete darauf eingelassen zu werden.

Hinter mir stand eine Frau, die lautstark schimpfte, dass es eine Frechheit sei einem bei dieser Kälte hier draußen so lange warten zu lassen. Davon ließ sich der Mann am Tor nicht weiter beeindrucken. Völlig ruhig ging er seiner Arbeit nach, fragte jeden nach seinem Anliegen, trug das dann ordentlich in eine Liste ein und ließ die Leute ein.

Links und rechts des Durchlasses in dem Steinwall standen je zwei Männer, die mich an eine Mischung aus Soldat und Türsteher erinnerte. Völlig ruhig verharrten sie in ihren schwarzen Militäruniformen und beobachteten jede Bewegung um sich herum. Das waren die Wächter der Königsgarde. Im Gegensatz zu den Wächtern der Stadt, hatten diese hier ein kleines, weißes Emblem am Kragen.

Hinter mir war die breite Straße, die von Silenda hinauf zum Schloss führte. Eine Straße, die zu beiden Seiten mit hohen Bäumen gesäumt war, die hoch über mir ihre Äste miteinander verworren hatten und damit einen Tunnel hinauf zum Hof der Lykaner bildeten. Decken aus Schnee bedeckten jedes Fleckchen auf ihnen und bildeten einen Dämpfer, der alles um mich herum angenehm ruhig erscheinen ließ. Selbst die Autos die hin und wieder hier ankamen, schienen heute mit halber Lautstärke zu funktionieren.

Die Schlange bewegte sich vorwärts. Noch zwei Leute vor mir und ich wusste immer noch nicht was ich sagen sollte. Ich brauchte schließlich eine gute Erklärung, warum ich ins Schloss wollte, doch meine Gehirnzellen schienen alle auf Urlaub zu sein. Vielleicht waren sie aber auch in einen Winterschlaf gefallen.

Der Mann vor mir war ein Vampir, etwa in dem gleichen Alter wie mein Vater – was bedeutete er sah aus wie Ende zwanzig, war aber bestimmt schon Anfang vierzig. Ja, Vampire, Lykaner und auch Ailuranthropen alterten nicht wie Menschen. Ihre Lebensspanne betrug fast das Doppelte. Unser Stoffwechsel arbeite halt anders.

Der Typ am Tor winkte die Lady, mit der er gerade gesprochen hatte, durch und dann war der Vampir an der Reihe.

Langsam wurde die Zeit knapp. Ich sollte mir wirklich schnell einen Grund einfallen lassen, warum ich hier stand. Ich konnte ja wohl schlecht sagen, dass ich meine Erzeugerin kennenlernen wollte. Die würden mich doch glatt für verrückt abstempeln, wenn sie die Story meines Lebens erfahren würden.

Aber mir wollte irgendwie kein Grund einfallen. Bis ich hörte, was der Kerl vor mir sagte. Blitzidee. Ja, so könnte es gehen. War zwar ein wenig umständlich, aber egal. Es würde mir Zeit geben meine Erzeugerin zu finden.

Der Vampir wurde durchgewunken und ich war an der Reihe.

Zwei gelangweilte Augen fielen auf meine Reisetasche, dann auf meinen Hund und blieben schließlich an mir hängen. „Name bitte.“

„Za … äh Sarah.” Mann, jetzt hätte ich doch fast meinen richtigen Namen genannt. „Mit S, nicht mit Z.“

Der Mann schaute mich an, als glaubte er, ich hielte ihn für dumm. „Danke, ich weiß wie man Sarah schreibt. Ich brauchte aber den vollständigen Namen und ihren Ausweis.“

„Natürlich.“ Sich unter seinem eindringlichen Blick nicht zu winden, gelang mir nur, weil ich mich darauf konzentrieren konnte, mein Portemonnaie aus meine Jacke zu kramen. Zwei Handgriffe später hielt ich meinen falschen Ausweis in der Hand. „Hier, bitte.“

Der Typ in der dicken Winterjacke musterte mich kurz, übertrug dann meinen Namen in seine Liste und gab mir meinen Ausweis zurück. „Der Grund für Ihren Besuch?“

„Ich will mich für den Job als Stallhelfer bewerben.“ Genau wie der Typ vor mir.

Er schrieb es auf sein Klemmbrett. „Gehen Sie durch den Vorhof imm gerade aus, direkt in die Menagerie und fragen sie dort nach Gorge Cheval.“

„Danke.“ Ich schnappte mir Flair vom Boden und schritt dann mit wildschlagendem Herzen an ihm vorbei. Die wachsamen Blicke der Wächter entgingen mir dabei nicht, und einen schrecklichen Moment lang befürchtete ich, dass sie meine Lüge durchschaut hatten, doch niemand hielt mich auf.

Und dann stand ich mit einer großen Reisetasche über der Schulter und meinem Hund unterm Arm vor dem Zuhause meiner Erzeugerin und konnte einen Moment nichts anderes tun, als zu staunen. Das sollte der Vorhof sein? Und da hinten, hinter dem zweiten Tor ging es sogar noch weiter. Nur war der Teil mit dem Hauptportal zum Schloss durch ein großen, geschlossenes Fallgitter vom Vorhof getrennt.

Ich konnte dahinter einen großen Springbrunnen erkennen, der wegen dem Wetter nicht nur zugeschneit, sondern auch ausgestellt war. Eine große Freitreppe führte von einer kreisrunden Auffahrt direkt vor die Tür des Schlosses.

Leider war dieser Teil nicht nur durch das Fallgitter abgetrennt, es war auch noch mit doppelt so vielen Wachleuten wie der Vorhof besetzt. Ich sah dahinter eine Menge Leute, aber ohne einen triftigen Grund würde ich dort wohl nicht reinkommen. Dabei würde ich meine Erzeugerin dort wohl eher finden, als in der Menagerie.

Aber das war noch gar nicht zu dem Schloss selber. Wie hatte Jaden gestern so schön gesagt? „Tagsüber ist es noch viel eindrucksvoller“, flüsterte ich und konnte ihm nur zustimmen. Die ganze Ritterburg war großzügig mit Efeu behangen, auf der sich der Schnee wie weißer Puderzucker niedergelegt hatte und im Sonnenlicht wie tausend kleiner Diamanten funkelte. Es gab so viele Fenster, dass ich gar nicht fähig war sie zu Zählen. Türme, Zinnen, Balkonen, Buntglasfenstern, Erker. Ich konnte gar nicht alles aufzählen, so viel gab es zu sehen. Das war wie in einem Märchen. Das verwunschene Schloss, in das die Prinzessin nach langer Zeit zurückkehrte.

Okay, jetzt hatte ich wirklich einen an der Waffel.

Flair begann in meinem Armen zu zappel. Aber ich wusste nicht so recht, ob ich sie hier frei rumlaufen lassen durfte, deswegen behielt ich sie erst mal oben. Auch wusste ich jetzt nicht genau, was ich tun sollte. Einfach an das Portal klopfen und darum zu bitten die Königin zu sprechen wäre wohl nicht sehr unauffällig. Sollte ich vielleicht wirklich in die Menagerie gehen und mich für den Job bewerben? Dann wäre ich immerhin in der Nähe meiner Erzeugerin und es würde sich sicher eine Gelegenheit ergeben, in der ich mit ihr sprechen könnte. Andererseits hatte ich nicht vorgehabt so lange hierzubleiben. Doch wie sollte ich sonst an sie herankommen? Sie war immerhin die Königin der Lykaner und bei der konnte man sicher nicht so einfach unangemeldet auf Kaffee und Kuchen vorbeikommen. „Was soll ich nur tun?“

Flair fiepte auf meinem Arm und sah mich mit großen Augen an.

„Was würdest du an meiner Stelle machen?“

Mit dem Schwaz wedeln. Ganz toll.

Nun gut, da ich mir noch nicht mal sicher war, ob ich mir meine Cayenne nur mal aus der Ferne ansehen wollte, oder mit ihr sprechen, bot dieser Job wohl die beste Gelegenheit für mich. Vorausgesetzt natürlich das ich ihn bekam und das konnte nur klappen, wenn ich mich endlich in Bewegung setzte und nach diesem Gorge Cheval suchte. „Na dann lass uns das mal in Angriff nehmen.“

Flair kläffte zustimmend.

Ich warf noch einen letzten Blick durch das Fallgitter und machte mich dann daran der kläglichen Beschreibung des Einlassers zu folgen. Immer geradeaus zur Menagerie. Da stellte sich mir doch die Frage, was zum Teufel war eine Menagerie? Das hatte doch irgendwas mit Tieren zu tun, oder? Hatte ich das nicht schon mal im Zirkus gehört? Ach nee, da hieß das Manege. Aber was zum Teufel war dann eine Menagerie?

Nun gut erst mal weiter, ich würde es schon finden. Notfalls konnte ich ja immer noch mal jemanden fragen, genug Leute gab es hier ja. Es war wirklich erstaunlich, wie viele Leute hier rumliefen. Dieser Hof schien ein kleines Dorf für sich zu sein. Ich glaubte hier gab es mehr Leute als in ganz Koenigshain. Aber wer wusste schon, ob die hier auch alle Lebten. Vielleicht waren die ja auch wie ich einfach nur zu Besuch.

Der säuberlich gepflasterte Weg wurde sehr schnell zu einem durchgelaufenen Trampelpfad, je weiter ich mich vom Schloss entfernte. Kahle schneebedeckte Bäumchen begleiteten meinen Weg und die ganze Zeit hielt ich nach etwas Ausschau, dass ich mit dem Namen Menagerie bezeichnen konnte. „Was soll das nur sein?“, fragte ich mich und entdecke in der Ferne eine große Pferdekoppel.

Hm, wo es Pferde gab, gab es sicher auch einen Stall und wenn man sich für den Job als Stallhelfer bewerben wollte, war es vielleicht gar nicht so falsch dort mit meiner Suche weiterzumachen. Da würde mir sicher jemand sagen können, wo dieser Gorge Cheval war.

„Da versuchen wir es mal.“

Flair bellte zustimmend.

Guter Hund.

Der Stall war leicht zu finden. Ich musste einfach nur meiner Nase folgen. Pferde hatten einen so eigenen Geruch, da konnte man gar nichts verfehlen und auch wenn ich kein ganzer Wolf war und nach außen ein reiner Vampir, so funktionierte meine Nase doch außergewöhnlich gut. Doch leider war der Stall geschlossen und da ich nicht einfach uneingeladen dort reingehen wollte, entschied ich mich dafür, es erst mal in der kleinen Reitstube daneben zu versuchen, in der gerade ein älterer Kerl mit angegrauten Schläfen verschwand.

Okay, dann mal los. Zwei Stufen zu einer kleinen Holzveranda, dann klopfte ich einmal gegen die Tür und steckte dann meinen Kopf hinein.

Drei paar blasse Augen richteten sich auf mich. Eines davon gehörte dem Vampir von dem ich diese Idee geklaut hatte. Dann war ich hier wohl richtig.

„Ähm … hi. Ich wollte mich für die Stelle als Stallhelfer bewerben.“

Die ältere Frau hinter dem kleinen Schreibtisch nickte freundlich. „Ja, da bist du hier richtig. Komm ruhig rein. Du kannst dich zu meinem Mann setzen.“ Sie zeigte auf den Kerl, der eben kurz vor hier reingekommen war. „Ich bin dann gleich bei dir.“

„Okay.“ Ich schlüpfte hinein und schloss die Tür hinter mir. Einen Moment blieb ich noch unentschlossen stehen und sah mich in dem kleinen Aufenthaltsraum um, setzte mich dann aber wie verlangt an den zerkratzen Holztisch zu dem Mann, der sich gerade einen heißen Tee einschenkte.

Diese Präsenz, die von dem Typen ausging, war so enorm, das sie schon bedrohlich wirkte, obwohl das Lächeln in seinem Gesicht freundlich war. Er besaß die gleiche Ausstrahlung, die ich schon von meinem Vater kannte. Nur war dieser Mann kräftiger gebaut, wie es nur von harter Arbeit kommen konnte. Und was mich noch an meinen Vater erinnerter waren seine Augen. Ein blasses eisblau.

Ich ließ meine Tasche auf den Boden sinken und reichte ihm dann die Hand. „Hi, ich bin Sarah Müller.“

Lächelnd musterte er meine Brille, nahm dann aber wortlos meine Hand in seine riesige Pranke und schüttelte sie. „Gorge Cheval, aber nenn mich ruhig Gorge.“

„Ach Sie sind das? Der Mann am Tor hat gesagt, dass ich mich an sie wenden soll.“

„Aber erst nachdem du mit meiner Frau gesprochen hast.“ Er zeigte auf die Dame hinter dem Schreibtisch, die den Worten des Vampirs lauschte. „Sie mach die Vorauswahl, weil ich mich einfach nie entscheiden kann. Ich bin bei sowas immer völlig hilflos.“

„Wie viele Stellen sind den frei?“

„Drei.“ Er nippte an seinem Tee und ließ den Blick in meinen Schoß gleiten, von wo Flair den Fremden aufmerksam beobachtete. „Und wer ist die junge Dame?“

Woher wusste er dass sie ein Mädchen war? „Flair.“ Ich strich ihr einmal über den Rücken. „Sie ist sowas wie mein kleiner Schutzengel.“ Da kam mir ein Gedanke. „Es stört doch nicht das sie hier ist, oder?“ Das wäre nicht gut. Zuhause konnte ich sie auch immer mit in den Stall nehmen. Da sie aufs Wort gehorchte und keinen Blödsinn machte, wenn ich mal nicht in der Nähe war, hatte meine Chefin Sonja damit überhaupt kein Problem.

„Solange sie mir die Pferde nicht scheu macht, ist es mir eigentlich egal.“

„Nein, das macht sie nicht. Sie kennt Pferde schon seit sie ein Welpe war.“

Gorge stellte seinen Becher ab und schaute zu seiner Frau rüber, die sich gerade von ihrem Platz erhob und meinem Konkurrenten die Hand reichte. „Ich denke dann bist du jetzt dran.“

Dem war dann auch so. Ich setzte mich der Frau gegenüber und Gorge verließ mit dem anderen Vampir die Reitstube. Dann begann für mich die Vorstellungsrunde bei Eleonore Cheval, die hier im Hof als Hufschmieden arbeitete. Damit dass ich bereits sehr viel Erfahrung mit Pferden hatte und nicht nur gut reiten konnte, sondern auch noch eine fast abgeschlossene Ausbildung Pferdewirtin hatte, konnte ich sofort bei ihr punkten. Nur bei der Erklärung, warum ich meine Ausbildung nicht beendet hatte, geriet ich ein wenig ins Straucheln. Am Ende erklärte ich einfach, dass der Betrieb in dem ich ausgebildet wurde pleite gemacht hatte und hoffte gleichzeitig, dass ich für diese Lüge nicht vom Blitz erschlagen wurde. Doch die Wolken blieben friedlich. Zeus machte wohl gerade eine Pause.

Danach gab sie mir noch ein paar andere Informationen. Der Job wurde auf Zeit vergeben, nur bis zum Sommer. Sie erklärte mir was ich verdienen würde, worin genau meine Arbeit bestand und zu welchen Zeiten ich im Stall zu sein hatte. Alles nichts neues für mich, dass kannte ich schon von Sonja. Aber der Hammer war, als sie mir erklärte, dass ich für die Zeit hier im Hof ein Zimmer bekommen würde. Zwar musste ich mir das dann mit zwei anderen Teilen und meine Essen selber besorgen, aber hey, besser als gar nichts.

Zum Ende hin schickte sie mich mit den Worten „Wir probieren es mal mit dir“ zu ihrem Mann hinaus in den Stall. Meine Tasche ließ ich so lange in der Reitstube stehen. Nur leider fand ich den Stallmeister Gorge Cheval nicht im Stall und musste mich erst ein wenig durchfragen, bis man mich dann auf die Reithalle in der Nähe der Gärten aufmerksam machte. Ein großes Gebäude mit vielen Oberlichtern, damit genug Licht hineinkam. Entgegen der Hallen die ich sonst kannte, gab es hier sogar ein paar Tribünen für Zuschauer, die nun aber leer waren.

Kaum dass ich die Reithalle betreten hatte, sah ich den Stallmeister auch schon. Er ließ diesen anderen Typen gerade ein Haflinger longieren. Ich setzte Flair an der Wand ab und befahl ihr mit ihrem kleinen Hintern genau auf diesem Fleck sitzen zu bleiben. Dann gesellte ich mich zu dem Stallmeister, aber der bat mich noch um einen Moment Geduld, bis er mit dem anderen Kerl fertig war.

An dieser Stelle fragte ich mich, warum ein Stallhelfer longieren musste. Nun ja, ich würde es wohl einfach auf mich zulassen kommen müssen.

Derweil ich warten musste, sah ich mich ein wenig in der Halle um und bekam fast Stielaugen, als ich das blonde Mädchen bemerkte, das auf der anderen Seite der Halle unter der Aufsicht einer weiteren Person ihren Lipizzaner im Kreis ritt. Ich kannte sie. Naja, von Bildern aus Zeitschriften, die meine Familie mir hin und wieder mitbrachte.

Für die Lykaner im Rudel war sie das Goldkind. Nicht nur weil sie ein Alpha und eine Prinzessin war, sie verdankte diesen Spitznamen ihrem langem, gewellten Haar. Es war blond mit einem Stich ins Kupferne, wodurch es golden wirkte.

Das Mädchen war meine Zwillingsschwester Kiara. Wir sahen zwar völlig verschieden aus, doch sie war es, mit der ich mir fast neun Monate eine Gebärmutter geteilt hatte.

Ich hatte Bilder von ihr gelesen, alles was ich finden konnte. Ihr größtes Hobby war das Dressurreiten. Gerüchten zufolge hatte sie sogar damit begonnen das Voltigieren zu erlernen.

Immer wieder hatte ich Berichte über Turniere gefunden, an denen sie teilgenommen hatte. Ja, auch Turniere der Menschen. Auf meinem Tablet hatte ich praktisch ihr ganzes Leben aufgeführt. Auf Fotos hatte ich sie aufwachsen sehen. Kannte sie vom Aussehen her genauso gut wie mein eigenes Spiegelbild. Das lange Haar, die grauen Augen und der schlanke, durchtrainierte Körper. Ein herzförmiges Gesicht, das ihre aristokratischen Züge nicht ganz so streng wirken ließ.

Sie war das genaue Gegenteil von mir. Wir unterschieden uns wie Tag und Nacht. Sie war hell, ich war dunkel. Sie waren schlank, ich hatte eindeutig ein paar Kilos zu viel auf den Hüften. Sie waren hübsch und ich … ich war es nicht. Und sie hatte das bekommen, was mir immer verwehrt gewesen war, sie war Prinzessin und hatten bei unserer Erzeugerin aufwachsen können. Genau wie mein Halbbruder Aric. Ich dagegen hatte mich mein Leben lang im Verborgenen aufhalten müssen.

Sie nun plötzlich und ohne jede Vorwarnung direkt vor mir zu haben, obwohl ich eigentlich nur hatte meine Erzeugerin sehen wollen, rief so viele Gefühle in mir auf, dass ich einen kurzen Moment am liebsten einfach davongelaufen wäre. Zum ersten Mal kamen mir Zweifel an meinem Vorhaben. Vielleicht hätte ich ja doch nicht herkommen sollen. Ich meine, was hatte ich im Gegensatz zu meinen Geschwistern zu bieten? Ich war das schwarze Schaf, die von der niemand etwas wissen durfte.

Der Stallmeister rief etwas, doch erst beim dritten Mal wurde mir klar, dass es mein Name war. Mist. Hastig beeilte ich mich zu ihm zu kommen. „Entschuldigen sie bitte, ich habe nicht aufgepasst.“

„Das ist mir aufgefallen.“ Sein Blick glitt zum Goldkind des Adels. In ihrer sauberen Reituniform, sah sie einfach nur umwerfend aus. Und dann auch noch dieses Talent, mit dem sie ihr Pferd führte. „Du hast wohl unser Juwel entdeckt.“ Sein Gesicht nahm einen sehr weichen Zug an. „Siehst du wie gut sie sich auf ihr Pferd abstimmt? Wie perfekt sie zusammenarbeiten? Ich habe noch nie jemanden besser reiten sehen, als dieses Mädchen.“

„Ja, sie ist wirklich perfekt“, sagte ich etwas bitter und ignorierte den verwunderten Blick. Okay, ich gab es ja zu, da sprach der Neid. Aber ich war eben nicht so perfekt und hatte nicht dieses Leben geführt.

„Nun denn, dann zeig mir mal wie du mit den Pferden umgehst.“

Und damit war ich die nächste, die das Pferd longierte, während mein Konkurrent an der Seite des Stallmeisters zusah. Also gehörte diese Arbeit doch nicht zur Jobbeschreibung als Stallhelfer, Gorge wollte einfach nur sehen, wie wir mit den Tieren umgingen. Und wenn ich etwas konnte, dann war es das Arbeiten mit Pferden. Gorge war so begeistert von mir, dass er mich zum Ende hin allein mit dem Pferd arbeiten ließ, weil er noch ein bisschen zu tun hätte. Er stellte mir noch Strigel und Bürsten hin und meinte, ich solle das Pferd fertig machen, wenn ich meine Arbeit beendet hatte. Er würde mich dann später abholen und mir den Stall zeigen. Dann verschwand er mit dem anderen Vampir.

Ich ließ den Haflinger noch gute zehn Minuten laufen, bevor ich ihn mit leisen Worten an den Rand führte und dort an einen Ring band. Dabei versuchte ich nicht auf Kiara zu achten. Trotzdem warf ich ihr immer wieder heimliche Seitenblicke zu. Halb Neugierde, halb Neid. Erst als der Wallach mir fast auf den Fuß trat, weil ich nicht aufpasste, konzentrierte ich mich auf richtig auf meine Tätigkeit und bekam so nicht mit, wie die Reithalle von zwei weiten Personen betreten wurde.

Erst als der eine Flair entdecke, die es sich an der Seite bequem gemacht hatte und mit einem „put, put, put“ auf sie zuging, sah ich auf.

„Dir ist schon klar, dass sie ein Hund und kein Hühnchen ist?“, fragte ich ihn und legte die Bürste zur Seite.

Lächelnd drehte er sich zu mir herum und präsentierte mir einen angeschlagenen Schneidezahn.

Er war jung, ungefähr in meinem Alter. Die kleine Narbe an seiner Schläfe wurde von den braunen Haaren und der schwarzen Wollmütze halb verdeckt. Als er sich aufrichtete, überragte er mich um ein paar Zentimeter. Vom Hauttyp wirke er südländisch. Das Gesicht war ein wenig kantig, aber er hatte wunderschöne, braune Augen, in denen der Schalk wohnte. Und dann diese spöttischen Lippen. Er war es auf jeden Fall wert auch mal einen zweiten Blick zu riskieren.

„Dich hab ich hier noch nie gesehen“, erklärte er mir mit einer weichen und melodiösen Stimme.

„Was wohl daran liegen könnte, dass ich gerade erst …“ Ich stockte mitten im Satz, als ich den zweiten Kerl bemerkte. Er war etwas größer alse der andere, hatte blondes Haar und gelbe Augen. Wolfsaugen, so wild wie das Tier das er war. Augen die mir nicht unbekannt waren. Das war Aric, mein großer Halbbruder, der nur etwa ein Jahr vor mir und Kiara das Licht der Welt erblickt hatte. Prinz Aric, der amtierende Thronfolger.

Der braunhaarige Typ verdrehte die Augen. „Schockstarre im Angesicht des Prinzen. Die Weiber lassen sich aber auch nie etwas Neues einfallen.“

Arics Lippen verzogen sich zu einen herablassenden Lächeln.

Das löste mich aus meiner Erstarrung. Hastig schloss ich den Mund, riss ich mich zusammen und griff fahrig nach der Bürste, die ich gerade weggelegt hatte. „Lasst die Finger von meinem Hund“, nuschelte ich noch verlegen. Gott, das mir das passieren musste. Erst Kiara und jetzt auch noch mein Bruder.

„Das ist ein Hund?“, fragte Aric skeptisch. Der Ton seiner Stimme war ein wenig arrogant.

„Ich denke eher dass es eine überdimensionale Wollmaus ist, die mal zu einem Hund werden wollte, irgendwo aber falsch abgebogen ist“, überlegte der Braunhaarige.

Darauf reagierte ich gar nicht. Solche blöden Sprüche gingen bei mir ins eine Ohr rein und kamen direkt zum anderen wieder heraus. Außerdem war dieser Spruch nicht mal besonders originell, da hatte ich schon viel bessere gehört.

Der Braunhaarige stellte sich neben mich und beäugte meine Arbeit kritisch. „Da.“ Er zeigte auf die Flanke des Pferdes. „Da hast du eine Stelle vergessen.“

Sehr langsam wandte ich ihm das Gesicht zu. „Hast du Langweile, oder warum gehst du mir auf den Keks?“

Diese Worte wurden rigoros ignoriert. Stattdessen musterte er mit einem Stirnrunzeln meine Brille. „Warum trägst du die?“

Der Haflinger zuckte mit dem Schweif und schlug damit Mister Witzbold.

„Weil ich Kontaktlinsen nicht leiden kann und jetzt husch, ich muss da ran.“ Ich scheuchte ihn zur Seite und machte mich daran die andere Seite von dem Pferd zu bearbeiten. Dabei behielt ich Aric im Visier, der sich zu Flair gehockt hatte und sie an seiner Hand schnüffeln lassen wollte. Doch sie stand einfach auf, ging zwei Meter weiter und legte sich da wieder hin.

Ein Kichern konnte ich mir nicht verkneifen. „Tja“, sagte ich. „Sie hat gehört dass du sie beleidigt hast.“

„Es spricht mit dem Prinzen.“ Der Braunhaarige griff sich ungläubig an die Brust. „Die Schockstarre ist gelöst.“

Sag mal war der Kerl immer so nervend, oder hatte er gerade nur nichts anders zu tun? „Wer bist du eigentlich und was willst du hier?“

„Die Frage sollte ich wohl eher dir stellen, denn du bist hier schließlich die Neue.“

Die Neue, wie sich das anhörte. „Ich bin Za … äh …“ Mist, jetzt hätte ich fast meinen richtigen Namen gesagt. Das durfte ich hier auf gar keinen Fall tun. Auch wenn meine Existenz ein Geheimnis war, so gab es hier am Hof doch den einen oder anderen, der wusste wer ich war, sollte ihm mein Name zu Ohren kommen. „Mein Name ist Sarah und ich striegle hier ein Pferd.“

Aric richtete sich wieder auf. „Lass uns gehen, Iesha wartet sicher schon.“

Der Kerl lächelte nur, umrundete dann das Pferd, um sich wieder neben mich zu stellen. „Da“, sagte er dann wieder. „Da hast du eine Stelle übersehen.“

Ich glaubte, in dem Moment schaute ich genauso wie das Pferd. „Sag mal bist du heute Morgen aus dem Bett auf den Kopf gefallen?“

Er hielt mir die Hand hin. „Cio.“

„Was?“

„Das ist mein Name. Cio. Naja, eigentlich Elicio, aber alle nennen mich nur Cio.“

„Ähm … okay.“ Das war ja mal ein seltsamer Name.

Da ich seine Hand nicht nahm, ließ er sie schulterzuckend wieder an seine Seite fallen. „Ich wurde nach einem römischen Gott benannt.“

„Und warum erzählst du mir das?“

„Damit du auch vor mir in Schockstarre fällst. Du hast es hier nicht nur mit einem Prinzen, sondern auch noch mit einem Gott zu tun.“

Ich schnaube. Aber sicher doch. „Ich habe es hier mit mindestens einem Idioten zu tun. Wer von euch beiden damit gemeint ist, könnt ihr euch selber aussuchen.“

„Hast du das gehört, Aric?“ Theatralisch riss er die Augen weit auf. „Willst du zulassen, dass sie so mit uns spricht?“

Aric schnaubte nur und lehnte sich mit verschränken Armen an die Wand. Das hier konnte wohl noch ein wenig dauern. „Du bist ein Idiot.“

„Bingo“, sagte ich.

Plötzlich lachte Cio neben mir auf und streckte mir die Hand erneut entgegen. „Okay, noch mal von vorne. Ich bin Cio und das ist Aric.“

Was sollte das denn jetzt? Misstrauisch beäugte ich die Hand. Man konnte ja nie wissen, was da so alles drin versteckt war.

„Ach nun komm schon. Das eben war doch nur Spaß gewesen, so eine Art Willkommensgruß.“ Er hielt mir die Hand nachdrücklicher vors Gesicht. „Eigentlich sind wir beide ganz nett und auch fast handzahm.“

„Fast?“

Sein Grinsen wurde nur breiter.

„Na gut.“ Ich schüttelte ihm kurz die Hand. „Aber jetzt stör mich nicht mehr. Ich will das hier fertig kriegen, bevor Gorge wiederkommt.“

„Das kann noch dauern, der ist gerade dabei irgendwas am Zaun zu reparieren.“

„Trotzdem.“ Ich schob ihn ein Stück weg, um auch noch an die Flanke des Haflingers zu kommen. „Das Pferd musste Arbeiten und jetzt muss es versorgt werden und du stehst mir im Weg. Wenn du also bitte …“

„Aric!“, rief da eine weibliche Stimme quer durch die Halle. Nein, sie gehörte nicht Kiara, sondern von einer hübschen Brünetten mit kurzgeschorenen Haaren, die mit energischen Schritten durch die Halle auf uns zuhielt.

„Mist“, murmelte Cio und rückte unauffällig ein Stück von mir ab.

Die Brünette hatte nur einen kurzen und äußerst abfälligen Blick für mich übrig, bevor wie sich vorbeugte und Cio einen Kuss auf den Mund gab. Danach sah sich mich noch einmal warnend an und wandte sich dann an Aric. „Deine Mutter sucht dich.“

Was bitte sollte das denn eben? Versuchte die ihr Revier zu markieren, oder … Moment, was hatte sie gerade gesagt? „Sprichst du von der Königin?“

Noch so ein Blick. „Na von wem denn sonst?“

„Ich … ich hab ja nur gefragt.“ Hastig wandte ich mich wieder meiner Arbeit zu. Natürlich hätte ich gerne noch ein oder zwei weitere Fragen gestellt, vielleicht sogar hundert, doch davon mal abgesehen, dass das ein wenig auffällig sein könnte, wirkte diese Wölfin ziemlich aggressiv. Mir der wollte ich mich nicht anlegen.

Aric seufzte. „Ich kann mir schon vorstellen, was sie wieder will.“

„Der Rat hat wieder ein paar Bewerberinnen geschickt und sie will dass du wenigstens ein Blick auf sie wirfst, bevor sie sie vom Hof jagt.“ Ihr Mundwinkel zuckte, „Das waren ihre genauen Worte gewesen.“

„Natürlich, was auch sonst.“ Er stieß sich von der Wand ab. „Cio, kommst du?“

„Gleich, ihr könnt schon mal vorgehen. Ich will mich noch bei dem Hund entschuldigen.“

Er wollte sich noch bei Flair entschuldigen? So wie die anderen beiden ihn ansahen, glaubten sie wohl auch, dass das die dümmste Ausrede seit Menschengedenken war.

„Nun geht schon, ich bin gleich bei euch.“

„Okay, komm Iesha.“

„Moment.“ Wieder trat sie zu Cio um ihn zu küssen, dieses Mal jedoch wesentlich ausgiebiger. Ihre Hand glitt sogar kurz unter seine Jacke, was er mir einem leisen Lachen kommentierte. Ihm gefiel was sie da tat. „Bis gleich, Schatz.“ Und noch ein kurzer Kuss. Eindeutiges Revierverhalten.

Nur fragte ich mich, als sie und den Rücken kehrte und an Arics Seite die Halle verließ, was das sollte? Naja, vielleicht mochte sie es ja auch einfach nur sich und ihrem Märchenprinzen zur Schau zu stellen.

Cio seufzte, strich sich dann die Haare aus der Stirn und grinste mich breit an. „Mach dir nichts aus Iesha. Sie ist ein wenig schroff und mag es einfach nicht, wenn ich mich mit anderen Mädchen unterhalte.“

„Das habe ich gemerkt.“

Er legte den Kopf schief und musterte mich. „Du darfst dir das wirklich nicht zu Herzen nehmen.“

„Tu ich schon nicht.“ Ich warf ihm einen kurzen Blick zu und konzentrierter mich dann wieder darauf, das Pferd gleichmäßig zu striegeln. „Darf ich dich mal was fragen?“

„Tut mir leid, ich weiß dass ich ein toller Hecht bin, aber ich bin glücklich vergeben.“

Oh man, da hatte aber jemand ein ziemlich aufgeblasenes Ego. „Wie schade und ich dachte schon, ich kann dich nachher auf ein kleines Beiß-mich-ein entführen.“

In seinen Augen blitzte der Schalk. „Das würde mir zwar gefallen, aber ich muss trotzdem ablehnen.“

Ich schnaubte. „Aber jetzt mal im Ernst, ich …“

„Das war mein Ernst.“

Was blieb einem da noch anderes übrig als die Augen zu verdrehen. „Können wir mal kurz den Spaß beiseiteschieben?“

„Okay, das krieg ich hin.“ Er atmete einmal tief durch, stellte sich dann breitbeinig mit verschränken Armen hin und setzte eine übertrieben ernste Maske auf. „In Ordnung, ich bin so weit. Stell deine Frage.“

Irgendwie war das ja süß und nicht zu grinsen kam an dieser Stelle einfach nicht in Frage. „Du hast echt einen an der Klatsche.“

„Das war jetzt aber keine Frage.“

Nein, das war es wohl nicht. „Ich würde gerne wissen … also die Königin … ich … naja, ich bin irgendwie neugierig.“

„Du willst ihre dunkelsten Geheimnisse erfahren.“

Oh man. „Nein, will ich nicht.“ Davon mal abgesehen, dass ich ihr wahrscheinlich dunkelstes Geheimnis war. „Ich will wissen … naja, ich würde sie gerne mal kennenlernen … also, ich meine mal ansehen.“ Ich versuchte ruhig weiter zu arbeiten und nicht zu zeigen, wie nervös mich diese Fragerei machte. „Wie mache ich das am besten?“

„Du willst wieder in eine Schockstarre verfallen.“

Der Haflinger schnaubte. Ich konnte ihm nur zustimmen. „Kannst du mal ernst bleiben?“

„Okay, ich versuch es.“ Übertrieben nachdenklich tippte er sich mit den Fingern gegen die Lippen – okay, er konnte nicht ernst bleiben. „Wo triff man Cayenne am besten. Also ich treffe sie meistens nachts in der Küche, wenn wir uns einen Mitternachtssnack genehmigen. Da klaut sie mir immer mein Essen und behauptet es sei ihres.“

„Hatte ich nicht gesagt, Scherz beiseite?“ Das konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen, wir sprachen hier immerhin von der Königin der Lykaner. Dass die sich nachts in die Küche schleichen sollte, um etwas aus dem Kühlschrank zu stibitzen, das war einfach abwegig.

Er grinste. „Jup, hast du und das war kein Scherz. Sie macht das wirklich und sagt dann immer ihr Schloss, ihr Kühlschrank, bevor sie mein Essen klaut und damit abzieht.“ Er verzog den Mund. „Aber in die Küche kannst du nicht gehen, Vampire dürfen das Schloss nicht betreten.“

Ich runzelte die Stirn. „Warum nicht?“

Ein Schulterzucken sollte mir wohl Antwort genug sein. „Keine Ahnung, ist einfach so. Vampire dürfen nur in die Menagerie. Sie werden eingestellt, um sich um die Tiere zu kümmern, das liegt ihnen nämlich wesentlich mehr, als uns raubeinigen Lykanern.“

Da war wohl etwas dran. Solange es sich nicht um Hunde handelte, machten Tiere nach Möglichkeit einen großen Bogen um Werwölfe. Tja, sie waren eben doch Raubtiere und das spürte das Viehzeug.

„Aber vielleicht hast du ja in den Gärten Glück“, überlegte er weiter.

„In den Gärten?“

Das Pferd scharrte mit den Hufen in den Sägespänen.

Cio nickte. „Jup, da hält sie sich oft und gerne auf und die kann man auch von der Menagerie aus sehen.“ Er Grinste schelmisch. „Dann hast du wieder einen Grund in Schockstarre zu verfallen.“

Gott, das würde mir jetzt wohl ewig nachhängen. „Das war keine Schockstarre, ich war nur überrascht Aric zu sehen.“

„Ja“, sagte er lässig und schnalzte mit der Zunge. „So ein echter Prinz steht halt nicht jeden Tag plötzlich vor einem.“

Nein, der große Halbbruder stand nicht jeden Tag so plötzlich vor einem. Natürlich sagte ich ihm das nicht. „Ich war einfach nur überrascht“, wiederholte ich.

„Wie du meinst.“

Hinter uns wurde einer der Lipizzaner laut. Der Trainer rief etwas und schimpfte.

Gleichzeitig drehten Cio und ich uns um. Kiara schien Probleme mit ihrem Pferd zu haben. Es tänzelte auf der Stelle, aber das wollte sie wohl nicht, so wie sie schimpfte und fluchte.

„Da hat der Gaul wohl die Schnauze voll von unserer Nudel.“

„Nudel?“

„Insiderwitz.“ Er grinste. „Oh, kannst du mir einen Gefallen tun?“ Aus der Innentasche seiner Jacke zog er eine CD und drückte sie mir in die Hand. „Kannst du die Kiara geben? Sie hat mich danach gefragt.“

„Ähm … okay.“ War ich noch zu retten?

„Danke. Und ich muss dann jetzt auch los, bevor Iesha wieder hier auftaucht und mich am Ohr hier raus zieht.“ Er tätschelte den Haflinger noch einmal. „Sei gut zu dem Pferdchen.“

Eine Erwiderung war nicht nötig. Er wandte sich bereits ab und verließ mit wiegenden Schritten die Reithalle, in der noch immer ordentlich geflucht wurde.

Mein Blick senkte sich auf die CD in meiner Hand. Bonfire Heart von James Blund. Dann sah ich zu Flair. „Kannst du mir erklären, was hier gerade passiert ist?“

Sie stellte nur die Ohren auf, hielt es ansonsten aber nicht für nötig, irgendwie auf meine Frage zu reagieren.

Okay, fassten wir zusammen. Da war Aric mit irgend so einem Cio aufgetaucht, der mich mindestens die Hälfte meiner Nerven gekostet hatte und jetzt stand ich hier, um für ihn den Laufburschen zu spielen. Hm, irgendwas war da doch kräftig schief gelaufen. Besonders wenn ich daran dachte, wem ich die CD geben sollte.

Wer war dieser Cio überhaupt?

Kopfschüttelnd machte ich mich daran den Haflinger fertig zu kriegen. Er war die ganze Zeit so geduldig gewesen, dass ich nun meine ganze Aufmerksamkeit auf ihn richtete. Naja, fast die ganze. Mit halbem Ohr lauschte ich immer auf meine Schwester, bis sie mit ihrem Training fertig war. Viel zu früh nach meinem Geschmack. Ich hatte mich gar nicht richtig darauf vorbereiten können, was ich gleich tun sollte.

Nun hab dich mal nicht so, ist doch bloß eine blöde CD die du übergeben sollst und nicht der Pulitzerpreis.

Auch wieder war. Aber mich ihr zu nähren, fand ich schwieriger, als den Weg nach Silenda zu finden.

Mit schweißfeuchten Händen beobachtete ich, wie sie von ihren Pferd stieg und noch mit dem Trainer redete – lange. Und trotzdem kniff ich fast bei der Aufgabe sie anzusprechen.

„Jetzt reiß dich zusammen“, wies ich mich selber an, als sie mit ihrem Pferd an den Zügeln bereits auf den Weg zum Tor war. Sag es! Okay. „Ähm … Kiara?“

Sie reagierte nicht, lief einfach weiter auf den Ausgang zu.

Sag es lauter, so dass sie dich auch hören kann! „Prinzessin Kiara?“

Dieses Mal hatten sie es gehört. Sie blieb stehen und sah mir mit einer distanzierten Neugierde entgegen, als ich langsam auf sie zutrat. Meine Beine fühlten sich dabei steif an, so als müsste ich das Laufen neu erlernen. „Ähm … hi, ich … Cio war eben da und hat mich gebeten dir die zu geben.“ Ich hielt die CD hoch.

Der abweisende Ausdruck in ihrem Gesicht verschwand nicht, als sie sie entgegen nahm. „Danke.“

„Ähm … kein Problem.“ Ich schaffte es nicht den Blick von ihr abzuwenden. Ich wusste nicht genau worauf ich wartete, aber … naja, wir waren immerhin Zwillinge und hatten uns monatelang in der gleichen Gebärmutter aneinander gekuschelt, sollten wir da nicht irgendein Band oder sowas spüren?

Ich jedoch fühlte gar nichts. Hätte man mir nicht schon von klein auf beigebracht, wer sie für mich war, so wäre sie in diesem Augenblick nichts anderes, als das was sie war: Eine Fremde.

Als ich keine Anstalten machte, noch etwas zu sagen, oder wegzugehen, sanken ihre Augenlider auf eine sehr herablassende Art ein wenig hinunter. „Willst du ihn mir nicht abnehmen?“, fragte sie ein wenig spitz.

Von ihrer Stimme aufgesteckt, wusste ich einen Moment lang nicht, was sie von mir wollte.

Sie seufzte, als hätte sie es mit besonders inkompetenten Personal zu tun und hielt mir die Zügel ihres Pferdes sehr nachdrücklich entgegen. „Hier.“

„Oh, ähm, ja, natürlich.“ Hastig griff ich nach der Leine. „Tut mir leid, das ist mein erster Tag hier.“

Dazu sagte sie nichts. Da war nur noch dieser abschätzige Blick, dann wandte sie sich ohne ein weiteres Wort von mir ab und verließ mit einer anmutigen Eleganz die Reithalle, um die ich sie sofort wieder beneidete.

Ich stand da mit einem schnaufenden Lipizzaner und guckte ein bisschen blöd aus der Wäsche. Okay, in Ordnung, dass kannte ich so nicht.

Auch der Trainer verließ die Halle, aber nicht ohne mich noch schnell anzuweisen, das Pferd gut trocken zu reiben, damit es nicht krank wurde.

Das machte mich echt sprachlos. Hallo? Das waren fühlende Wesen und nicht irgendwelche Gegenstände, die man in der Ecke verstauben lassen konnte, wenn man sie eine Zeitlang nicht brauchte. Eigentlich wäre es die Aufgabe dieser Leute gewesen sich um die Pferde zu kümmern, schließlich hatte das Tier für sie gearbeitet. Da war es doch wirklich nicht zu viel verlangt, es anschließend ein wenig zu pflegen. Also wirklich.

Kopfschütteln führte ich den Lipizzaner zu dem Haflinger und überlegte was ich jetzt tun sollte. Ich hatte gar nicht das nötige Material hier, um das Pferd richtig zu versorgen. Das Zeug würde ich vermutlich im Stall finden.

Nun gut, wie hieß es so schön? Selbst war die Frau. Also schnappte ich mir die beiden Pferde, pfiff nach Flair damit sie mir folgte und führte die Tiere hinaus. Dabei hoffte ich insgeheim das Gorge schon wieder auf dem Weg zu mir war und mich anwies, wohin ich die beiden bringen sollte. Leider war dem nicht so, also ging ich mit ihnen hinüber in den Stall, wo ich auf meinen Konkurrenten – oder Kollegen? – traf, der gerade dabei war eine Box auszumisten. „Ähm … hey, weißt du wo ich Gorge finden kann?“

Der Kerl unterbrach seine Arbeit nur solange, wie er brauchte, um mit dem Finger durch das offene Stalltor zu zeigen. Das hieß dann wohl so viel wie draußen. Aber da ich die Pferde bei dem Wetter ja nun schlecht einfach irgendwo hinstellen und sich selbst überlassen konnte, band ich sie hinten bei den Strohballen an einen dafür vorgesehenen Pfahl und sah mich selber ein wenig im Stall um, bis ich alles was ich brauchte beisammen hatte.

Flair dackelte mir dabei die ganze Zeit hinterher, bis ich ihr befahl sich in die Ecke zu legen und dort zu bleiben. Dann waren die Pferde an der Reihe. Und sie zu pflegen, ließ mich fast glauben Zuhause im Stall von Sonja zu sein. Die Gerüche, die Geräusche, die vertrauten Bewegungen. Alles vom Absatteln, bis zum Striegeln, drängte den Grund eines Aufenthalts hier ein wenig in den Hintergrund.

„Ah, da bist du ja. Ich wollte dich gerade holen kommen, aber wie ich sehe, hast du deinen Weg schon alleine gefunden.“

Ich sah über das Pferd hinweg zu Gorge, der gerade durch die Stallgasse trat. „Ja, ich wollte die Tiere nicht warten lassen.“

„Verstehe. Na dann lass mich mal gucken.“

Gorge überprüfte meine Arbeit sehr genau und schien zufrieden. Danach zeigte er mir wo ich die Pferde unterbringen konnte und wo ich alles fand. Es gab eine kleine Führung durch die Stallanlagen – bei der Flair mich natürlich begleitete – die Reitplätze und die weitläufige Koppel, bei der er mir noch einmal das gleiche erklärte wie seine Frau. Auch klärte er mich über die Pferde auf. Über ihre Macken und Vorzüge. Es waren ziemlich viele Informationen und leider musste ich zugeben, dass ich am Ende die Hälfte bereits wieder vergessen hatte. Doch Gorge nahm das auf die leichte Schulter.

„Mit der Zeit wirst du dir das schon alles merken“, sagte er, als wir nach der Führung wieder aus dem Stall traten. „So, und jetzt hast du dir eine kleine Pause verdient. Die kannst du in der Reitstube verbringen.“ Er sah auf seine Uhr. „In einer Stunde werde ich Eleonore dann zu dir schicken, damit sie dir dein Zimmer zeigen kann.“ Er tätschelte mir die Schulter und verschwand wieder im Stall.

Okay, eine Stunde Pause. Pausen waren dazu gedacht, sich ein wenig zu erholen und eine Kleinigkeit zu essen. Das Problem dabei war nur, dass ich bis auf zwei Tüten Gummibärchen nichts bei mir hatte – naja, und Hundefutter, aber bevor ich das essen würde, müsste ich wirklich schon am verhungern sein. Außerdem war ich nicht wirklich hungrig. Essen würde mir jetzt sicher nur auf den Magen schlagen.

Ich sah zu Flair runter. „Was machen wir den jetzt bloß?“

Sie antwortete mir mit einem bellen und ruderte mit ihrem Wedel.

Vielleicht konnte ich die Zeit ja nutzen um mal einen Blick auf meine Erzeugerin zu werfen. Das war schließlich der Grund warum ich hier war. Was hatte Cio noch gleich gesagt? Mit ein wenig Glück, konnte ich in den Gärten einen Blick auf sie erhaschen.

Die Gärten also. Ich hatte zwar immer noch keine Ahnung was die Menagerie war, aber wo normalerweise ein Garten lag, das war mir wohl bewusst, der lag meistens hinter den Häusern – oder in diesem Fall hinter dem Schloss.

„Na dann wollen wir doch mal sehen ob ich mit meiner Vermutung recht behalte. Komm, Flair.“

Ich wusste das die Gärten irgendwo in der Nähe der Reithalle sein mussten, also führte mich mein Weg als erstes dort hin. Von dort aus würde ich einfach um das Schloss herumlaufen, was notgedrungen zur Folge hatte, dass ich irgendwann auf den Garten stoßen würde. Doch das erste was ich feststellte war, dass je weiter ich ging, desto mehr Bäume begleiteten meinen Weg. Irgendwann kam ich mir fast vor wie im Wald. War das etwas schon der Garten? Nein, das konnte ich mir nicht vorstellen. Das Schloss schien einfach von dem Wald umgeben zu sein.

Plötzlich blieb Flair direkt vor meinen Füßen stehen, so dass ich fast auf sie drauf trat und drehte den Kopf in die Richtung, aus der wir gerade gekommen waren. Ihre Ohren stellten sich auf, als sie aufmerksam in die Ferne lauschte.

„Was hast du?“

Sie sah zu mir hoch und fiepte leise.

Vorsichtshalber nahm ich sie auf den Arm und folgte mit den Augen dann angestrengt der Richtung, die ihre Aufmerksamkeit geweckt hatte. Durch die Bäume war es schwer mehr als ein paar Meter weit zu sehen, doch dann hörte ich in einiger Entfernung Schritte und ein sehr vertrauter Geruch schlug mir entgegen. „Scheiße!“, zischte ich und machte eilig das ich hier wegkam.

Der nächste Busch war meiner.

Hastig duckte ich mich dahinter und hielt Flair das Schnäuzchen zu, damit sie uns nicht verriet. Und dann sah ich sie schon. Langes, rotes Haar, das sie zu einem Zopf an den Hinterkopf gebunden hatte. Blasse Haut mit ein paar Sommersprossen im Gesicht. Grüne Augen, die immer viel zu viel sahen. Sie trug eine einfache Jeans, mit einer dicken Winterjacke.

So eine verdammte Kacke, das war Tante Lucy!

Bei ihrem Anblick erinnerte ich mich an das, was Amber vor drei Tagen gesagt hatte. Onkel Tristan war mit meiner Tante dieses Wochenende am Hof. Mist verdammter, wie hatte ich das nur vergessen können? Mist, Mist, Mist! Wenn einer von den beiden mich hier entdeckte, dann wäre mein Vater die nächste Adresse, die es erfuhr. Das war scheiße, um es mal deutlich zu sagen.

Ich duckte mich etwas tiefer, als sie den Weg raufkam und direkt an mir vorbeilief. Durch das karge Gebüsch konnte ich sie deutlich sehen. Aber sie lief einfach an mir vorbei.

Flair zappelte in meinen Händen. Sie wollte Lucy begrüßen, doch das ging jetzt nicht.

Erst als meine Tante ein paar Meter weiter war, wagte ich es aufzuatmen. Doch auf einmal blieb sie stehen, sah zurück in die Richtung aus der sie gerade gekommen war und runzelte die Stirn. Hatte sie mich doch bemerkt.

Nein, nein, bitte nicht.

Tante Lucy ging einen Schritt zurück. Ihre Nasenflügel blähten sich, als sie die Gerüche in der Luft witterte.

Oh nein, mein Geruch!

Die folgenden Sekunden kamen mir wie eine kleine Ewigkeit vor. Sie würde mich riechen. Mein Geruch hing in der Luft. Tante Lucy würde mich riechen und mich dann sofort zurück nach Hause karren, bevor ich die Chance hatte meiner Erzeugerin zu begegnen. Doch Wiedererwarten zuckte sie dann mit den Schultern, wandte sich um und lief einfach weiter. Ohne Hast, ganz normal.

Sie hatte mich nicht bemerkt, ich war noch einmal davongekommen. Oh mein Gott, ich konnte es kaum fassen. Vielleicht hatte sie meinen Geruch wirklich erkannt, aber wie sollte der hier her kommen? Sie konnte sich sicher nicht vorstellen, dass ich im Hof war und das war wohl mein einziger Vorteil.

Als sie sich immer weiter von mir entfernte, ließ ich mich kraftlos auf meinen Hintern sinken. „Das war verdammt knapp gewesen“, erklärte ich Flair.

Die sah mich nur stumm an.

Oh Gott, meiner Nerven. Das würden die nicht mehr lange mitmachen. Erst die Kiara, dann Aric und jetzt auch noch Tante Lucy. Nur die eine wegen der ich hier war, die hatte ich noch nicht gesehen. „Aber das werden wir jetzt ändern. Komm Flair, suchen wir meine Erzeugerin.“

 

°°°

 

Letzten Endes fand ich den dann Garten doch. Von meiner Pause war zwar nicht mehr viel übrig, aber das würde mich nicht daran hindern, mich hier in der gepflegten Winterwunderlandschaft noch ein wenig umzusehen. Zum Glück war um diese Zeit hier nicht viel los. Den meisten war es wohl einfach zu kalt für einen Spaziergang im Garten, doch mich störte das nicht. Ich mochte den Winter.

Die Herrlichkeit der gepflegten Anlage war unter dem Schnee nur zu erahnen, trotzdem war es hier wunderschön. So friedlich und still.

Doch bei der wunderschönen Aussicht, den systematisch angelegten Wegen, den Bäumen, Büschen und abgedeckten Beeten, der friedlichen Ruhe fand ich eines nicht, meine Erzeugerin. Entweder war sie irgendwo tiefer im Garten, oder eben überhaupt nicht hier draußen. Jedenfalls entdeckte ich sie nicht, egal wie sehr ich den Hals regte, um einen besseren Überblick zu bekommen.

„Okay, lass und mal da hinten gucken.“

Flair, die gerade ausgiebig an einem verschneiten Busch geschnüffelt hatte, sah zu mir auf und wedelte mit der Rute. Ja, dem Hund reichte es völlig, wenn ich sie ansprach, damit konnte ich sie überglücklich machen.

„Komm“, ich winkte sie weiter, immer den Weg entlang, bis ich zu einer Abzweigung kam. Ich war gerade noch am überlegen, welchen Weg ich nehmen sollte, als ich weiter Vorne ein Gestalt entdeckte, die in einem grauen Rollkragenpullover und einer schwarzen Hose gedankenversunken durch den Garten streifte.

Im ersten Moment schlug mein Herz schneller, doch sehr bald musste ich erkennen, dass es sich bei dieser Person nicht um meine Erzeugerin handelte. Es war nicht mal eine Frau, sondern ein Mann mit sandfarbenem Haar, das ihm etwas länger ins Gesicht fiel.

Ich runzelte die Stirn. Irgendwas war komisch an diesem Kerl. Ich hatte ihn schon mal gesehen, aber wo? Vielleicht war er mit ja heute schon einmal begegnet. Doch als er den Kopf leicht drehte und ich die vielen Narben in seinem Gesicht sah, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ja, ich kannte den Mann. Ich hatte ihn ein einziges Mal zusammen mit meiner Erzeugerin auf einem Bild aus einer Zeitschrift gesehen, sonst war er immer in der Gestalt eines Wolfes unterwegs. Das war Sydney Sander, der Galan meiner leiblichen Mutter.

Hastig ging ich hinter dem nächsten Baum in Deckung – schon wieder – obwohl ich nicht genau wusste warum. In dem Moment schien es mir einfach das Klügste. Leider vergaß ich dabei meinen kleinen Mini-Yorki, der den Kerl aufmerksam musterte.

„Flair“, zischte ich, „komm her!“

Sie sah nur einen kurz zu mir rüber und dann flitzte sie einfach los.

„Nein, Flair, warte, bleib hier!“ Mist! Ich spähte an dem Baum vorbei und musste mit Schrecken dabei zusehen, wie das kleine Miststück direkt auf diesen Sydney zurannte. An der Abzweigung, an der ich eben noch gestanden hatte, erreichte sie ihn und brachte ihn mit einem aufgeregten Kläffen zum Stehen. Schwanzwedelnd parkte sie ihren Hintern direkt vor ihm und wirbelte dabei mit ihrer Rute ein wenig Schnee auf.

Dieser Sydney richtete seine Aufmerksamkeit auf sie, was sie dazu veranlasste, gespannt die Ohren aufzurichten. Langsam ließ er die Hände aus den Hosentaschen gleiten und hockte sich vor sie, damit sie an seinen Fingern schnüffeln konnte. „Was machst du hier?“

Redete er da etwa mit Flair? Naja, so seltsam war das auch nicht, ich machte das auch ständig. So war das eben, wenn man gerade keinen anderen Gesprächspartner zur Hand hatte. Aber dann richtete er seinen Blick zielgenau auf den Baum, hinter dem ich mich verbarg.

„Ich weiß dass du dich da versteckst.“

Mist. Also redete er wohl doch nicht mit meinem Hund. Super, Mission Impossible gescheitert. Na dann konnte ich mich auch genauso gut zeigen und mir eine schnelle Ausrede einfallen lassen, warum ich mich hier versteckte. Noch einmal tief durchatmen, dann trat ich dem Mann entgegen, der dafür verantwortlich war, dass meine Erzeugerin meinen Vater verlassen hatte. „Hi“, sagte ich etwas nervös und schob die Brille auf meiner Nase wieder zurecht.

Er erwiderte nichts, sah mich nur starr an und diese Augen, da war nichts Menschliches. Was ich hier vor mir hatte, waren die wilden Augen eines Wolfes in einem menschlichen Gesicht. Genau wie bei Aric.

Um seinen Hals baumelte an einem Lederband ein kleiner Anhänger – war das ein Kätzchen? Doch was wirklich auffallend war, waren die vielen Narben, die sich von seinem Gesicht unter den Rollkragenpullover zogen. Auch auf dem Kopf schien er welche zu haben und ein paar feine Linien konnte ich auch auf seinen Händen entdecken.

„Ähm …“, sagte ich, und begann mich unter seinem eindringlichen Blick zu winden. Konnte der nicht mal woanders hinsehen? Das war irgendwie irritierend. „Also … ich … ich bin neu hier, in den Ställen.“ Unnötigerweise deutete ich irgendwo hinter mich und hoffte einfach mal darauf, dass es die richtige Richtung war. „Ich arbeite seit heute hier.“

Endlich senkte dieser Sydney seinen Blick und beobachtete Flair, die freudig an seinen Fingern leckte. „Vampire dürfen den Garten nicht betreten.“

„Oh.“ Wirklich nicht? Hätte Cio mir das nicht sagen können? Idiot. „Tut mir leid, das wusste ich nicht.“

„Aber du riechst nicht wie ein Vampir“, sagte er, als hätte er mich gar nicht gehört.

Einen Moment stand ich einfach nur völlig erstarrt da. Konnte er etwa den Wolf in mir riechen? Das war nicht möglich, das war noch nie jemanden gelungen. Ich sah wie ein Vampir aus und roch auch genauso. Selbst wenn ich mich verwandelt hatte, konnte man den Vampir in mir noch riechen. Steh hier nicht so blöd herum, sondern tu etwas! Und ich tat etwas, ich fing aus voller Kehle an zu lachen. „Toller Scherz, ha ha, voll witzig, ha ha ha, Sie sind voll der Komiker, ha ha.“ Oh bitte, konnte mich mal jemand erschießen? „Ähm, aber … ich sollte wohl besser wieder an die Arbeit gehen.“ Wieder zeigte ich unbestimmt hinter mich, dieses Mal jedoch mit beiden Händen. „Denn ich wollte ja nur mal gucken, weil ich neugierig war und Cio gesagt hat, dass die Königin sich hier aufhält, aber sie ist ja nicht hier, sondern nur Sie und …“ Hastig klappte ich den Mund zu. Oh Gott, was faselte ich da eigentlich für einem Müll zusammen? „Ich geh dann besser mal. Flair, komm.“

Mein Mini-Yorki – diese kleine Verräterin – sah einmal zu mir, dann noch mal zu dem Typ und dann wieder zu mir, bewegte sich aber kein Stück vom Fleck.

„Flair, komm jetzt“, sagte ich etwas nachdrücklicher und vermied es das Stirnrunzeln in dem vernarbten Gesicht zu beachten.

Nur langsam erhob sich die kleine Lady, als wollte sie sagen: Ich will aber noch nicht gehen.

Kurzerhand trat ich ein paar Schritte vor, schnappte sie einfach und klemmte sie mir unter den Arm. „Gut, dann … vielleicht sieht man sich mal wieder.“ Hastig drehte ich mich um und trat die Flucht an. Gott, das war so peinlich gewesen. Und erschreckend. Mein Herz schlug mir noch immer bis zum Hals. Vielleicht hatte er aber auch gar nicht den Wolf an mir gerochen, sondern die Pferde. Wenn man in einem Stall arbeitete, dann roch man eben danach, das war ganz normal. Ja, genau, das musste es sein. Es gab also keinen Grund sich unnötig verrückt zu machen.

Ich war schon ein ganzes Stück entfernt, als Sydney plötzlich sagte: „Abends.“

Überrascht blieb ich stehen und drehte mich mich noch einmal zu ihm um. „Was?“

Langsam erhob er sich wieder auf die Beine und bedachte mich wieder mit diesem eindringlichen Blick. „Cayenne ist meistens abends im Garten, aber sie geht dann ins Labyrinth. Sie liebt das Labyrinth.“

„Oh … äh, okay.“ Warum erzählte er mir das? Dieser Kerl war irgendwie seltsam. Absolut nicht so wie ich ihn mir nach Papas Erzählungen vorgestellt hatte, aber doch irgendwie verschroben. „Dann … äh … danke?“

„Nichts zu danken“, sagte er noch mit einem nachdenklichen Blick auf mir und wandte sich dann ab.

Wirklich merkwürdig dieser Typ.

Da die Zeit drängte, hielt ich mich nicht lange mit meinen Gedanken auf, sondern sah zu, dass ich in die Reitstube kam. Eleonore war noch nicht da und bis sie kam hatte ich noch genug Zeit zusammen mit Flair eine halbe Tüte Gummibärchen zu verputzen.

Als sie dann auftauchte, schnappte ich mir meine Tasche und ließ mir die Unterkünfte der Vampire zeigen. Da das Schloss nur von Lykanern betreten werden durfte, standen uns ein paar eigene Gebäude zur Verfügung. Sie lagen ein wenig abseits von den Ställen, fast hinter der Koppel, als wollte man die Vampire möglichst weit vom Schloss weg haben, ohne sie gänzlich vom Hof zu verbannen.

Die meisten Wohnräume dort waren richtige Wohnungen, doch es gab auch einen Trakt, wo den Vampiren nur einzelne Zimmer zur Verfügung standen. In ein solches Zimmer wurde ich einquartiert. Ich sollte noch eine Mitbewohnerinnen haben, mit der ich mir diesen doch recht großzügig geschnittenen Raum teilen sollte, doch die war, wie es sich für artige Vampire gehörte, noch bei der Arbeit.

Eleonore zeigte mir die Gemeinschaftsduschen, die große Küche und vor allen Dingen die Kühlschränke – ja, Mehrzahl – in denen jeder Bewohner sein eigenes Fach hatte. Zum Ende des Rundgangs wies sie mich noch darauf hin, dass es im Keller einen Hobbyraum gab, in dem die Angestellten gerne ihre Freizeit verbrachten und teilte mir mit, dass er nicht dazu gedacht war Partys zu veranstalten.

„Okay, verstanden, keine Partys.“

„Gut.“ Sie schielte auf die Küchenuhr an der Wand. „Ich muss dann auch wieder zurück an die Arbeit und du wirst sicher schon von meinem Mann im Stall erwartet.“

„Ähm …“, sagte ich. Wo wir schon in der Küche waren, fiel mir noch etwas ein. „Ich hab nicht gewusst, dass ich hier ein Zimmer bekommen würde und habe deswegen nur eine Tüte Gummibärchen bei und … naja, habe ich heute noch Zeit, etwas einkaufen zu gehen?“ Gummibärchen waren zwar lecker, aber leben wollte ich davon nicht.

Sie lächelte. „Natürlich. Um sechs hast du Feierabend, dann kannst du noch mal schnell runter nach Silenda laufen und dich mit Essen eindecken.“

„Okay, danke.“

Und dann ging es wieder zurück in den Stall. Für Flair nahm ich extra noch ihre Hundedecke mit, damit sie nicht die ganze Zeit auf dem kalten Steinboden liegen musste.

Beim Arbeiten bemerkte ich gar nicht, wie schnell die Zeit verging. Das war auch bei Sonja im Stall immer so. Doch im Gegensatz zu dem Gestüt der Königin war ihres ziemlich klein. Der Hof der Lykaner nannte knapp fünfzig Pferde sein eigen, da war es kein Wunder, dass sie gleich drei Jobs zu vergeben hatten. Die Pflege großer Tiere bedurfte halt einiges mehr an Aufwand. Und die Arbeit gab mir auch ein wenig Zeit über den bisherigen Tag ein wenig nachzudenken.

Kiara war genauso wie ich sie mir immer vorgestellt hatte. Wunderschön, anmutig und ein wenig … naja, sie wirkte etwas eingebildet. Und egoistisch. Ich musste nur daran denken, wie sie ihr Pferd einfach stehen gelassen hatte. Andererseits war ihr in ihrem Leben wahrscheinlich auch jegliche Arbeit abgenommen worden. Sie war immerhin nicht nur die Prinzessin des Rudels, sie war auch noch das Goldkind – dagegen kam ich mir fast wie Pechmarie vor. Nicht das ich es im Leben schlecht getroffen hatte, wirklich nicht. Trotz der Paranoia meines Vaters war ich glücklich mit dem was ich hatte, nur … ich hatte eben nur keine Prinzessin sein dürfen. Kiara dagegen schon.

Sie war in allem frei, zu tun, was sie nur wollte, nur in einem nicht: Das was sie symbolisierte. Eine Prinzessin verkörpert die Unschuld in ihrer reinsten Form. Sie musste in Geist, Körper und Blut unberührt sein. Ihr Geist durfte nicht von schlechten Einflüssen getrübt werden. Ihr Körper war ein Tempel, der weder von Tätowierungen noch Schmuck entstellt werden durfte. Und ihr Blut gehörte ihr allein und durfte nicht gezeichnet werden.

Das waren auch Gründe, warum ich niemals eine Prinzessin sein konnte. Ich hatte nicht nur Ohrlöcher, sondern auch ein Piercing in der Augenbraue. Naja, ich hatte zumindest ein Loch in der Augenbraue. Das Pircing selber lag im Moment in meiner Schmuckschatulle in meinem Zimmer. Mein Vater hatte fast einen Herzinfarkt erlitten, als er es das erste Mal gesehen hatte. Zum Glück wusste er bis heute nicht, dass ich es mir von Kasper mit einer Nadel hatte stechen lassen. Es hatte fürchterlich wehgetan und ohne Ende geblutet. Wüsste mein Vater davon, hätte ich Kasper nach diesem Tag vermutlich nie wiedersehen dürfen.

Wie immer wenn ich an diese seltsame Regelung dachte, stellte sich mir eine Frage. Es hieß ja, dass Prinzessinnen unberührt bleiben mussten. Hieß das auch, sie durften auch keinen Sex haben? Aber wie kamen dann die kleinen Lykaner zustande?

Ich schüttelte den Kopf über diese unsinnigen Gedanken. Es war ja auch völlig egal. Es wäre jedenfalls noch ein weiterer Punkt auf meiner Liste, der ausschloss, dass ich jemals eine Prinzessin sein würde, nur weil meine Erzeugerin die Königin war. Ich hatte meine Unschuld schon vor Jahren verloren. Ein großer Fehler wie ich hinterher hatte feststellen müssen.

Ich lief durch die Stallgasse in den hinteren Teil wo die Geräte standen und schnappte mir eine Mistforke samt Schubkarre, um die Boxen auszumisten. Dabei musste ich an Aric denken.

Bei Prinzen war es anders, sie mussten nicht unschuldig bleiben, was nur heißen konnte, dass dieses Gesetz von einem Mann gemacht sein konnte. Und ganz ehrlich, Aric sah auch nicht wirklich unschuldig aus. Ein wenig hart, ein bisschen überheblich und ein Quäntchen selbstverliebt, aber nicht unschuldig. Und er schien auch kein großes Interesse daran zu haben, sich mit dem niederen Volk abzugeben, wenn ich so an seinen Blick dachte. So ganz anders als dieser Cio. Ich meine, mal ehrlich, was war los mit dem Kerl? War der bekifft gewesen? Und dann erst seine Freundin. Nee, von den beiden sollte ich mich tunlichst fernhalten.

Aber was mir wirklich Kopfzerbrechen bereitete, war meine liebe Verwandtschaft. Das mit Tante Lucy, das war haarscharf gewesen. Wie hatte ich nur so dämlich sein können zu vergessen, dass sie auch hier war? Ich konnte nur hoffen, dass weder sie noch Onkel Tristan bemerkte, dass ich hier war, solange ich meine Erzeugerin noch nicht getroffen hatte. Denn dann würde nicht nur ein riesiges Donnerwetter auf mich warten, ich hätte mich auch völlig umsonst auf den Weg gemacht. Ja, klar, ich war schon zwanzig, aber manchmal behandelte mich meine Familie als wäre ich fünf. Dass ich vom Gesetz her eigentlich schon volljährig war, interessierte hierbei nicht. Ich war und blieb das Kind, das unter allen Umständen vor der großen, bösen Welt geschützt werden musste. Und das würde ich in ihren Augen wohl auch immer sein.

Ein letztes Mal belud ich die Mistforke und schnappte mir dann die Schubkarre, um den Dreck rauszuschaffen. Doch kaum hatte ich die Box verlassen, stutzte ich. Da hockte ein junges Mädchen bei Flair und kraulte sie vorsichtig unterm Kinn, was mein Mikrowutz gleich zum Anlass nahm sich auf den Rücken zu drehen, um sich dort die gleiche Behandlung zukommen zu lassen. Aber das war nicht irgendein Mädchen. Dunkle Haut und von Rosetten durchsetztes Haar. Das war ein Ailuranthrop. Ein junger Ailuranthrop. Vielleicht zwölf Jahre.

„Am Bauch ist sie kitzlig, da zuckt sie immer mit dem Bein.“

Erschrocken fuhr das Mädchen hoch und sah mich mit schreckgeweiteten Augen an.

O-kay, so unheimlich war mein Auftauchen ja nun auch nicht. „Und wenn du ihr auf die Vorderpfote tippst, dann tippt sie zurück.“

Sie blinzelte einmal, guckte zum Stalltor und dann wieder zu mir.

Ich runzelte die Stirn. Wollte sie die Flucht ergreifen? Hatte sie Angst vor mir? „Und sie kann auch ein Kunststück. Soll ich es dir zeigen?“

Wieder ein Blinzeln und dann ganz langsam nickte sie.

„Okay, pass auf.“ Ich ließ die Schubkarre stehen und hockte mich auf den Boden. „Flair, komm her.“

Sie stellte die Ohren auf, erhob sich dann freudig und flitzte Schwanzwedelnd zu mir.

„Okay, Flair, zeig mir, wo der Floh sitzt.“

Sie stellte die Ohren auf. „Wo ist der Floh, Flair, wo ist der Floh?“

Prompt setzte sie sich auf ihren Hintern und begann sich hinterm Ohr zu kratzen.

Ich grinste zu dem Mädchen hinüber. „Das hat ihr mein bester Freund beigebracht. Sie kann auch high five. Willst du es mal probieren?“

Sie zögerte, als glaubte sie dass ich einen Scherz mache, nickte dann aber. „O-okay.“ Sie hockte sich zu mir um Flair. „W-was muss i-ich machen?“

Ihr Stottern brachte mich einen Moment aus dem Konzept. War sie nervös, oder hatte sie einen Sprachfehler? Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. „Pass auf, das ist ganz einfach. Du hebst einfach deine Hand, so hier.“ Ich machte es ihr vor. „Und dann sagst du, Flair, high five!“

Mein supercooler Miniyorki stellte sich auf die Hinterbeine und schlug dann mit der Vorderpfote in meine Hand ein.

„Tolles Mädchen.“

Vor Freude kläffte Flair einmal und drehte sich dann um sich selbst um Kreis, nur um mich am Ende anzustrahlen.

„Hast du gesehen? Ist ganz einfach. So.“ Ich schob Flair zu ihr rüber. „Dann versuch du es einmal.“

„O-okay.“ Sie hob ihre Hand. „High f-five.“

Nicht passierte. Flair sah das Mädchen nur kurz an und dann zu mir. Das schien die Kleine irgendwie zu kränken. Entmutigt ließ sie die Hand sinken.

„Du musst sie vorher mit ihrem Namen ansprechen, damit sie weiß dass sie gemeint ist. Versuchs noch mal.“

Sie sah etwas zweifelnd drein, hob aber erneut ihre Hand. „F-flair“, sagte sie und wartete bis mein Miniwutz seine Aufmerksamkeit auf sie richtete. „H-high five!“

Flair blinzelte, stellte sich dann auf die Hinterbeine und schlug mit ihrer Vorderpfote in ihre Hand ein.

„Na siehst du, hat doch geklappt“, lächelte ich und erhob mich wieder auf die Beine. „So, jetzt muss ich aber noch ein bisschen Arbeiten, aber wenn du möchtest, kannst du dich ja ein bisschen mit ihr Beschäftigen. Hier rumzuligen ist immer so langweilig für sie.“

Sie lächelte schüchtern. „O-okay.“ Kurz zögerte sie, dann öffnete sie den Mund noch einmal. „D-darf ich a-auch mit ihr r-r-rausgehen?“

Die Kleine hatte eindeutig ein Sprachfehler. „Du meinst einen Spaziergang? Klar, da freut sie sich. Aber vorher musst du mir noch eines sagen.“

Wieder trat Misstrauen in ihre Augen. Was hatte sie nur? „W-was?“

„Ich würde gerne deinen Namen wissen, damit ich weiß mit wem mein Hund sich so rumtreibt.“

Ihre Züge wurden weicher und zum ersten Mal sah ich etwas wie ein Lächeln in ihrem Gesicht. „Ich h-heiße F-fujo.“

„Okay, Fujo, dann wünsche ich euch beiden viel Spaß.“ Ich ging um die Schubkarre herum und fasste nach den Griffen. „Aber bring sie mir bis sechs wieder.“

„In O-ordnung.“ Auch sie erhob sich. „K-komm Flair.“

Meine Fußhupe stellte die Ohren auf. Sah zu ihr und dann wieder zu mir, bewegte sich aber nicht.

„Na los.“ Ich wedelte mit der Hand. „Geh schon.“ Als sie noch immer zögerte, riet ich Fujo sie noch einmal zu rufen und dieses Mal folgte Flair ihr. Gemeinsam verschwanden sie aus dem Stall und ich hoffte nur, dass ich jetzt keinen Fehler gemacht hatte. Nicht dass ich glaubte, dass meinem Hund in ihrer Obhut etwas Schlimmes widerfahren würde. Es war eher die Tatsache, dass meine Tante und mein Onkel hier irgendwo waren. Dass Lucy glaubte, sich getäuscht zu haben, wenn sie meinen Geruch wahrnahmen, war die eine Sache, aber wenn sie plötzlich einen kleinen, weißen Mini-Yorki hier rummrennen sah, der dann auch noch auf den Namen Flair hörte, dann würde sie ohne Zweifel wissen, dass auch ich hier war. Und das wäre definitiv schlecht für mich.

Ich konnte mich nur wiederholen, hoffentlich hatte ich keinen Fehler gemacht.

„Das war nett von dir gewesen.“

Überrascht wandte ich mich zur Seite und sah Cio mir seiner Wollmütze lässig an einer Pferdebox lehnen.

„Also das mit der Kleinen. Sie ist ein bisschen komisch und hat keine Freunde.“ Nachdenklich neigte er den Kopf zur Seite. „Jedenfalls nicht das ich wüsste und ich weiß eine Menge.“

„Sag mal, stalkst du mich?“

Er zuckte unbestimmt mit den Schultern. „Wer weiß, vielleicht.“

Was bitte sollte man dazu noch sagen? Bei dem Kerl stimmte doch irgendwas nicht. „Wo kommst du plötzlich her?“

„Durch die Seitentür.“

Tatsächlich, die Seitentür zwischen den Boxen war offen. Trotzdem war es seltsam, dass ich ihn nicht hatte kommen hören. „Dann verschwinde dadurch wieder, es gibt nämlich Leute die arbeiten müssen und du störst mich dabei.“ Ich hob demonstrativ die Schubkarre an und schob sie durch die Stallgasse. Als Cio sich dann an meine Seite gesellte, ignorierte ich ihn einfach.

„Ob du es glaubst oder nicht, ich arbeite auch“, erklärte er mir und öffnete dann das große Stalltor, um mich rauszulassen.

„Mich zu belästigen, würde ich nicht gerade als Arbeit bezeichnen.“

Das überging er einfach. „Weißt du, irgendwie bist du seltsam.“

„Warum? Weil ich nicht sofort deinem unglaublichen Charme erliege und mich vor dich in den Staub werfe?“ Ich schob die Karre nach rechts. Hier draußen war sie nicht ganz so einfach zu bewegen. Der Weg war matschig und vom Schnee aufgeweicht.

„Ja, das auch.“ Er grinste mich frech an und präsentierte mir wieder den angeschlagenen Vorderzahn. „Und hast du dich schon eingelebt?“

Okay, jetzt war ich mir sicher, mit dem Typ stimmte definitiv etwas nicht und da konnte er noch so niedlich sein. „Ich will dich ja nicht enttäuschen, aber mich nach meinem Befinden zu fragen, ist in jedem Fall keine Arbeit.“

„Doch, in meinem Fall schon.“ Er zwinkerte mir zu, als ich um das Gebäude herumfuhr, um zu dem Misthaufen zu kommen. „Ich bin nämlich ein Umbra. Naja, ein Umbra in Ausbildung, aber schon im fortgeschrittenen Stadium.“ Wie zum Beweis zog er unter seinem Kragen eine Kette hervor und zeigte mir einen mondförmigen Anhänger in Silber, auf dem ein heulender Wolfskopf eingraviert war. „Ich habe schon einen Posten zugeteilt bekommen und da sich mein Schützling mit dir abgibt, muss ich dich überprüfen.“

Ich runzelte die Stirn. „Was ist ein Umbra?“

Nun war es an ihm, die Stirn Falten zu schlagen. „Du weißt nicht was ein Umbra ist?“

„Hätte ich sonst gefragt?“ Der Kerl schien den IQ von Plankton zu besitzen. Ich schob die Karre über ein paar Bretter, die über den aufgeweichten Boden gelegt worden waren und leerte sie zu dem anderen Mist. Kaum das ich mich auf dem Rückweg befand, war Cio wieder an meiner Seite.

„Also ein Umbra ist ein speziell ausgebildeter Leibwächter, der in der Rangordnung der Rudels nur unter der Königin steht.“

„Soll mich das jetzt beeindrucken, oder warum erzählst du mir das?“

„Also ein bisschen beeindruckt könntest du schon sein.“ Er wich einer aufgeweichten Stelle aus. „Jedenfalls bin ich so ein Leibwächter. Ich bin wie ein Schatten. Wenn ich nicht will dass du mich siehst, dann siehst du mich auch nicht.“

„Könntest du mir diese Fähigkeit bitte gleich mal Vorführen?“

Er ignorierte mich. „Ich bewege mich fast so schnell wie ein Vampir …“

„Dann lauf bitte ganz schnell weg.“

„… und beherrsche sieben verschiedene Kampftechniken, mit denen ich meine Gegner besiegen kann. Natürlich darf ich die nur anwenden, wenn mein Schützling sich in Gefahr befindet.“

„Dann geh gucken, vielleicht ist dein Schützling gerade in Gefahr.“

Als wir den Stall umrundeten, sah Cio mich von der Seite an. „Also langsam glaube ich, dass du mich loswerden willst.“

„Wie kommst du nur auf den glorreichen Gedanken?“ Ich zog das Stalltor ein wenig weiter auf, um die Schubkarre durchzuschieben.

Cio kniff die Augen leicht zusammen. „Und wenn du mich so unbedingt loswerden willst, dann stellt sich mir natürlich die Frage, warum.“ Er stellte sich direkt vor die Schubkarre und blockierte somit meinen Weg. „Hast du vielleicht etwas zu verbergen, kleiner Blutsauger?“

Vor Schreck ließ ich fast die Schubkarre fallen. Verdammt, jetzt krieg dich ein, der will dich doch nur ärgern! Okay, ganz tief durchatmen. Der wusste einfach nur nicht besseres mit seiner Zeit anzufangen. Er konnte nicht wissen, warum ich hier war, wer ich war und vor allen Dingen nicht was ich war.

Seine Augen musterten meine Reaktion ganz genau. „Du sagst ja gar nichts.“

„Was wohl daran liegt, dass ich auf blöde Fragen nicht antworte und jetzt geh mir aus dem Weg, wenn du nicht willst, dass ich dich einfach überfahre.“

Natürlich ging er nicht zur Seite, er neigte nur nachdenklich den Kopf. „Soll ich dir mal verraten wer mein Schützling ist?“

„Lässt du mich dann in Ruhe?“

Das wurde ignoriert. „Soll ich?“

Gott, gab der denn niemals auf? „Ja, meinetwegen, wer ich dein Schützling?“

„Aric.“

„Gut, freut mich für dich. Kann ich jetzt weiterarbeiten?“

Die Falte zwischen seinen Augen wurde ein kleinen wenig tiefer. Das war wohl nicht die Reaktion gewesen, die er erwartet hatte. „Weißt du, Sarah, vielleicht sieht man es mir nicht an, aber ich nehme meine Job sehr ernst und so wie du Aric vorhin angesehen hast … sagen wir einfach mal, die Reaktion war anders, als sie sonst von Mädchen in deinem Alter kommt.“

Mist. Jetzt nur keine Panik bekommen. „Ja, vielleicht weil ich ihn nicht gleich heiraten wollte, nur weil er ein Prinz ist. Ich steh nämlich nicht so auf den adligen, förmlichen Typ, ich mag die Kerle eher frech und ein bisschen verrückt. Und jetzt geh mir endlich aus dem Weg.“ Dieses Mal zögerte ich nicht, sondern stieß die Schubkarre nach vorne – direkt gegen sein Schienbein.

Fluchend sprang er zur Seite und machte mir endlich die Bahn frei. „Das wäre doch wohl ein bisschen netter gegangen, oder?“

Ich blieb stehen und wandte ihm mein Gesicht zu. „Ich habe dich mehr als einmal nett gebeten mir aus dem Weg zu gehen, doch du fandest es ja besser an deinen Verschwörungstheorien festzuhalten und mich mit dummen Fragen zu löchern. Du glaubst ich habe ein Geheimnis? Wer hat die nicht? Aber du bist irgendein fremder Kerl, der sich vor mir aufpupen will. Du kannst doch nicht wirklich glauben, dass ich dir irgendetwas über mich erzähle, so wie du dich verhältst. Du willst etwas über mich herausfinden? Meine finsteren Geheimnisse ergründen? Bitte, versuch es nur, mal sehen ob du das schaffst.“

Ruhig hatte er mir zugehört, doch jetzt breitete sich ganz langsam ein Lächeln auf seinen Lippen aus. „Weißt du was? Ich glaube ich nehme deine Herausforderung an.“

Ich klappte den Mund auf, aber kein Ton kam heraus. Scheiße, was hatte ich da gerade angerichtet? Das war … Mist. Das war ganz eindeutig riesengroßer Mist!

„Wir sehen uns Sarah.“ Er zwinkerte mir noch einmal zu, drehte sich herum und verließ dann den Stall, gerade als Fujo hereinkam. Flair trug sie auf dem Arm.

Eilig ging sie ihm aus dem Weg, ja drückte sich praktisch an die Wand, um von ihm nicht bemerkt, oder gar berührt zu werden.

Und ich? Ich stand nur mit offenem Mund da und konnte gar nicht glauben, in was für eine Scheiße ich mich da gerade selber hineingeritten hatte. Das sollte gar keine Herausforderung werden. Ich hatte einfach nur gewollt, dass er mich in Ruhe ließ und mich dabei um Kopf und Kragen geredet. Fantastisch. Einfach nur fantastisch.

Sobald Cio außer Sichtweite war, stieß Fujo sich von der Wand ab und kam auf mich zu. „I-ich glaube Flair m-mag keinen Sch-sch-schnee, sie wollte n-nicht laufen.“

„Was? Oh ja, tut mir leid, dass hatte ich vergessen. Flair ist ein Schönwetterhund.“ Ich seufzte und rieb mir über die Augen, was zur Folge hatte, dass ich anschließend meine Brille wieder richten musste. „Alles was nass und kalt ist, ist ihr zuwider.“

„Oh.“ Sie sah enttäuscht aus.

„Aber wenn du möchtest kannst du dich ja hier noch ein wenig mit ihr beschäftigen.“

Da war es wieder, dieses Zögern, aber dann nickte sie. „Das w-würde ich gerne.“

„Na dann, tu dir keinen Zwang an. Ich muss noch ein bisschen arbeiten.“

„O-okay.“

Ich zückte aus meiner Jackentasche noch ein Handvoll Leckerlies und drückte sie ihr mit den Worten „aber nicht alle auf einmal“ in die Hand. Dann machte ich mich daran die Box fertig zu säubern. Drei andere hatte ich noch vor mir und Cio hatte mich aus dem Zeitplan gebracht.

Ich war mir immer noch nicht ganz sicher, was ich von der ganzen Sache halten sollte. Hatte ich mich Aric gegenüber wirklich so verdächtig verhalten? Eigentlich war ich doch nur überrascht gewesen ihn so plötzlich vor mir zu sehen, oder? Auf jeden Fall war ich nicht sehr begeistert davon, dass der Kerl sich auf meine Geheimnisse stürzen wollte. Davon abgesehen dass sie ihn nichts angingen, war es auch gefährlich sie zu lüften. Andererseits, wie wollte er sie denn herausbekommen? Ich würde einfach vorsichtig sein müssen, wenn er in der Nähe war. Eigentlich war meine Sorge völlig unbegründet, die Wahrheit würde er schließlich nicht erraten, das war völlig abwegig. Kein Mensch, Lykaner, Vampir, oder Ailuranthrop würde einfach so darauf kommen, dass ich die Tochter von Königin Cayenne und einem Vampir war. Das war ausgeschlossen.

Langsam wurde es draußen dunkel. Der Abend brach heran und ließ dunkle Wolken am Horizont aufziehen. Mutter Natur versprach uns weiteren Schnee.

Mit meiner Arbeit kam ich gut voran. Zweimal sah Gorge noch nach mir und schien mit meiner Leistung sehr zufrieden. Davon ging ich einfach mal aus, als er mir erklärte, wenn ich in der Probezeit die nächsten drei Wochen genauso hart ackerte, würden sie mich bis zum Sommer auf keinen Fall mehr gehen lassen.

Immer wenn ich eine Box verließ, warf ich einen kurzen Blick zu Fujo. Sie ließ Flair immer wieder Kunststückchen machen, die bei Erfolg mit einem Leckerli belohnt wurden. Sie versuchte sogar ihr Männchen beizubringen. Na dabei wünschte ich ihr viel Erfolg.

Ich war gerade dabei die letzte Pferdebox für diesen Tag sauber zu machen, als Fujo einen schüchternen Blick in die Box riskierte. Auf dem Arm trug sie Flair, die es sichtlich genoss nicht laufen zu müssen.

Ich lächelte sie an. „Hast du was auf dem Herzen?“

Hastig schüttelte sie den Kopf.

Hm, war wohl ein bisschen schüchtern die Kleine. Ich stellte die Mistforke ab und stützte mich darauf mit dem Arm ab. „Ich glaube du hast eine neue Freundin. Wie es aussieht kann Flair dich gut leiden.“

Ein kleines, zögerndes Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Ich mag s-sie auch. S-sie ist ein t-t-toller Hund.“

„Da stimme ich dir voll und ganz zu. Aber so wie sie sich an dich rankuschelt, muss ich wohl aufpassen, dass du sie mir nicht streitig machst.“

Allein bei dem Gedanken riss die Kleine erschrocken die Augen auf. „N-n-nein, d-das m-mach ich n-nicht.“

„Hey, ganz ruhig, das war doch nur ein kleiner Spaß.“

Hinter ihr in einer Box schnaubte ein Schecke und steckte den Kopf über das Gatter.

„Ich finde es toll wenn du dich ein bisschen um sie kümmerst“, fuhr ich fort. „Wenn ich arbeite, hab ich immer kaum Zeit für sie.“

Wieder dieses zögernde Lächeln. „D-danke.“

„Ich hab zu danken, ich …“

„Fujo!“

Die Kleine zuckte zusammen und drehte hastig den Kopf herum.

„Was du tun hier? Wir warten dich.“

„V-vergifnis, G-grootv-vader.“

Hm, wenn die Kleine nervös war, wurde ihr Stottern eindeutig schlimmer.

„Sprechen sollst deutsch, du wissen sollst.“

„T-tut mir l-leid, G-g-großvater.“

Neugierig steckte ich den Kopf aus der Box. Ein etwas gedrungener, aber kräftiger Kerl mit kleinen Augen stand am Ende der Stallgasse. Dunkle, fast schwarze Haut und Glatze. Meine Nase sagte mir, dass es sich auch bei ihm um einen Ailuranthropen handelte. Sollte mich eigentlich nicht wundern, schließlich hatte Jaden doch gesagt dass hier mehrere Ailuranthropen lebten.

Für mich hatte er nur einen kurzen Blick übrig. „Du kommen jetzt.“ Er zeigte vor sich, als würde er einen Hund bei Fuß nehmen. „Kommen jetzt mit mir.“

Etwas fahrig ließ die Kleine Flair auf den Boden und machte sich dann hastig daran zu ihm zu kommen. Irgendwie wirkte sie noch eingeschüchterter als vorher. War er der Grund für ihre verschreckte Art? Das konnte ich wohl schlecht in seinem Beisein fragen. Aber ich konnte etwas anderes tun. „Hey, Fujo.“

Kurz vor dem Ausgang schaute sie noch mal über ihre Schulter zu mir zurück.

„Wenn du Lust hast, kannst du morgen ja noch mal reinschauen. Ich würde mich freuen und Flair sicher auch.“

Wie um mir zuzustimmen bellte Flair einmal und wackelte dann aufgeregt mit dem ganzen Hintern. Wahrscheinlich war, dass sie nur auf ihren Namen reagiert hatte. Fujo jedoch schien das anders aufzufassen, denn es trat wieder dieses vorsichtige Lächeln in ihr Gesicht. „Das w-würde ich g-g-gerne m-machen.“

„Na dann ist ja alles klar.“ Ich zwinkerte ihr zu. „Wir sehen uns dann morgen.“ Dann würde ich ihrer verschreckten Art mal ein wenig auf dem Zahn fühlen.

Fujo strahlte und schlüpfte dann an ihrem Großvater vorbei aus dem Stall.

Er jedoch warf mir noch einen langen, undefinierbaren Blick zu, den ich trotzig erwiderte. Davon würde ich mich nicht einschüchtern lassen, nicht solange ich meine Kampfarmeise bei mir hatte. Worte jedoch gab es nicht mehr. Irgendwann wandte er sich einfach um und folgte seiner Enkelin.

„Ich mag ihm nicht“, erklärte ich Flair, die sofort ihre Ohren aufstellte. „Frag mich nicht warum, aber mit dem Kerl stimmt was nicht.“

Sie kläffte.

„Du stimmst mir also zu?“

Noch ein Kläffen.

„Ich wusste, dass wir mal wieder auf einer Wellenlänge sind. Aber jetzt lass uns erst mal fertig machen, damit wir noch mal runter nach Silenda kommen, um etwas zu essen zu besorgen.“

Wieder bekam ich ein zustimmendes Kläffen, dieses Mal nachdrücklicher, mit mehr Begeisterung. Sie hatte das Wort Essen wohl verstanden. Kleines verfressenes Biest.

Die letzte Box war sehr schnell fertig gemacht. Ich überlegte noch, ob ich den Pferden noch mal Heu und Wasser nachlegen sollte, entschied mich dann aber dafür es nicht zu tun, weil Gorge mir das nicht aufgetragen hatte. Außerdem hatte ich gleich Feierabend und mittlerweile verlangte mein Magen sehr nachdrücklich nach Zuwendung. Die paar Gummibärchen aufm Mittag hatten ihm wohl nicht gereicht.

Ich machte mich daran, die Gerätschaften wieder ordentlich zu verstauen, wusch mir dann die Hände in einem Eimer mit kaltem Wasser, damit sie nicht ganz so stark nach Pferd rochen und ging dann durch die Seitentür kurz nach draußen, um ihn auszuleeren. Jetzt musste ich ihn nur noch wegstellen und dann hatte ich für heute endlich …

„Warum bist du hier?“

Vor Schreck rutschte mir der Eimer aus der Hand und fiel fast auf Flair. Nur mit einem Hechtsprung zur Seite rettete sie sich aus der Gefahrenzone und fand Zuflucht zwischen meinen Beinen. Dort wurde erst mal gekläfft was das Zeug hielt, während ich versuchte meinen Herzschlag wieder zu beruhigen.

An der Stalltür lehnte Sydney. Und wieder hatte er diesen eindringlichen Blick auf mich gerichtet.

„Gott, sie sind voll unheimlich, wissen sie das eigentlich?“ Und damit hatte ich nicht sein Aussehen gemeint, obwohl das in diesem schummrigen Licht schon ziemlich seltsam wirkte. Mann, hatte ich mich erschrocken.

Seine Mimik verhärtete sich kaum merklich. „Hast du wirklich gedacht, ich würde diese Augen nicht wiedererkennen?“, fragte er ohne auf mich einzugehen. „Oder diese Haare? In jedem Zug deines Gesichts sehe ich meine Gefährtin. Die Linie deines Kinns, die Form deiner Nase, der Schwung deiner Augenbrauen. Du bist ihr so ähnlich und darüber kann auch diese groteske Brille nicht hinwegtäuschen.“

Was hatten die nur alle immer mit meiner Brille? „Nur zu ihrer Information, diese Brille brauche ich wirklich, ich bin kurzsichtig. Und sie ist nicht grotesk.“ Dem ging es ja wohl zu gut.

Das schien ihn dann doch zu überraschen. Aber auch das überging er einfach. „Ich weiß genau wer du bist und deswegen frage ich noch einmal, warum bist du hier?“

War das ein Scherz? Natürlich war das ein Scherz. Er konnte es nicht wissen. Aber warum machte er dann diese Andeutungen? Es war doch nicht möglich dass er es wusste, nein, ganz sicher nicht. Aber warum schlug mein Herz dann plötzlich wie wild? Verdammt! „Ich hab keine Ahnung, von was sie da reden.“ Genau, so ist es richtig, alles abstreiten und dumm stellen. „Flair, ruhig.“

Sofort verstummte mein kleiner Satansbraten.

„Ich bin hier, um im Stall zu arbeiten.“ Wie zum Beweis hob ich den Eimer wieder auf. Zum Glück war der jetzt leer gewesen, sonst hätte ich die Sauerei jetzt auch noch beseitigen dürfen.

„Zaira.“ Samtweich, wie Seide floss dieser Name von seinen Lippen und ließ mich mitten in der Bewegung erstarren. „Warum bist du hier, Zaira?“

 

°°°°°

Dunkle Geheimnisse

 

Er wusste es. Er wusste wirklich wer ich war. Woher nur? Die Ähnlichkeit mit meiner Erzeugerin war so gering, dass es doch auch kein anderer gemerkt hatte.

„Warum bist du hier?“, fragte er ein weiteres Mal. Seine Stimme war dabei ganz sanft, kein Vorwurf schwang darin mit, was wohl auch der Grund dafür war, dass die Worte plötzlich und ohne jegliches Zutun meinerseits aus meinem Mund purzelten. Er hatte einfach etwas an sich, dass einen zwang zu antworten.

„Ich … ich weiß das ich eigentlich nicht hier sein darf, dass es ein Risiko ist, aber sie ist doch meine Erzeugerin und ich … ich …“ Nervös spielte ich mit dem Eimer in meinen Händen, sah kurz zu ihm auf, nur um meinen Blick gleich wieder auf das verbeulte Metall zu richten. „Ich wollte sie doch einfach nur mal sehen. Also so richtig, nicht nur auf einem Foto. Ich wollte sie kennenlernen und vielleicht ein paar Worte mit ihr wechseln. Sie muss ja auch nicht wissen wer ich bin. Ich wollte …“ Ich wollte einfach wissen, wer die Frau war, die mich zur Welt gebracht hatte. Doch diese Worte behielt ich für mich und wartete darauf was jetzt geschah, nachdem mein Geheimnis gelüftet wurde.

Doch während er nur dastand und mich durchleuchtete, wurde mir auf einmal noch etwas anderes bewusst. Wenn er wusste wer ich war, dann wusste er sicher auch was ich war. Plötzlich waren all die Warnungen meines Vaters wieder in meinem Kopf. Reinrassige Lykaner konnten Mistos wie mich nicht ausstehen. Reinrassige Lykaner töteten Leute wie mich, weil wir in ihren Augen etwas Abnormales waren.

Aber er würde das sicher nicht tun, oder? Ich war immerhin Cayennes leibliche Tochter und er liebte sie. Und Kiara war sogar bei ihm aufgewachsen. Jedenfalls machte er keine Anstalten sich auf mich zu stürzen. Er stand einfach nur da und beobachtete mich. Trotzdem nahm ich den Eimer ein wenig höher. Das war zwar nicht wirklich eine Waffe, aber es würde sicher wehtun, wenn ich ihm damit gegen den Kopf schlug.

„Wer weiß alles dass du hier bist?“, fragte er dann schließlich.

Nervös leckte ich mir über die Lippen. „Niemand.“

„Niemand?“

„Naja, sie wissen es jetzt und mein bester Freund auch. Er hat mich zum Bahnhof gefahren, aber er ist nur ein Mensch, er weiß nur, dass ich meine Erzeugerin besuchen wollte, mehr nicht.“

Sydney schwieg einen Moment. Einen langen Moment, in dem mich einfach nur anschaute. Es war immer noch seltsam den Wolf in ihnen zu erblicken, obwohl er doch in seiner menschlichen Gestalt war. „Und dein Vater?“

Ich zögerte. „Ähm … der würde mich vermutlich umbringen, wenn er wüsste dass ich hier bin.“

Damit schien ich ihn ein zweites Mal zu überraschen.

Flair fiepte mich an und stellte sich mit den Vorderpfoten an meinem Bein auf.

„Raphael weiß nicht dass du hier bist?“

Den Namen meines Vaters aus dem Mund dieses Mannes zu hören war irgendwie … surreal. „Er sagt immer es sei zu gefährlich herzukommen. Deswegen habe ich mir hier den Job gesucht und einen falschen Namen genannt. Ich will niemanden unnötig auf mich aufmerksam machen. Ich … ich wollte sie doch nur mal sehen.“ War das denn so schwer zu verstehen?

Sydney drückte sich seufzend von der Stallwand ab und brachte mich damit dazu, reflexartig einen Schritt vor ihm zurück zu weichen. „Sieh zu dass du hier fertig wirst und geh dann etwas essen.“ Damit wandte er sich von mir ab.

Was? Das war alles? Nicht dass ich nicht froh darüber war, so glimpflich davon zu kommen. Ich hing an meinem Leben. „Werden sie mich verraten?“

Er hielt an und sprach ohne sich umzudrehen. „Nein.“

„Sie werden meinen Vater nicht anrufen?“

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich werde auch Cayenne nichts sagen, denn das ist deine Aufgabe.“ Mit diesen letzten Worten verschwand er aus dem Stall und ließ mich etwas verdutzt zurück.

Was bitte war das gerade gewesen? Hatte er mich wirklich erkannt, weil ich meiner Erzeugerin ähnelte? Das konnte ich nicht glauben. Alle sagten immer, dass ich nach meinem Vater käme, nie hatte einer von den wenigen Leuten die die Wahrheit kannten einen Vergleich zu meiner Erzeugerin gezogen. Warum auch? Ich war so ganz anders als sie.

Kiara ähnelte ihr. Ja selbst bei Aric konnte man von Ähnlichkeit sprechen, aber doch nicht bei mir. Davon mal abgesehen, dass ich eine andere Haarfarbe hatte, war ich auch kleiner. Meine Brust war größer und ich war bei weitem nicht so schlank wie sie. Meine Erzeugerin konnte wahrscheinlich Größe sechsunddreißig tragen und hatte dann noch Luft zum atmen. Ich dagegen war froh wenn ich in eine Vierzig hinein passte, weswegen der Großteil meiner Kleidung auch aus weiten Männerhemden und ausgebeulten Hosen bestand. Und dann erst das Gesicht. Ihres war viel feiner geschnitten als meines, viel …

Das Klingeln meines Handys erschreckte mich so sehr, dass ich den Eimer ein zweites Mal fallen ließ.

„Mist.“ Hastig fischte ich es aus der Jackentasche und wie befürchtet las ich auf dem Display das Wort Papa. Na dass hatte mir gerade noch gefehlt. „Okay, beruhige dich jetzt und atme einmal tief durch.“ Fast zögernd drückte ich auf annehmen und hielt mir mein Telefon ans Ohr. „Hi, Papa.“

„Hallo mein Schatz. Ich wollte nur mal nachfragen, wann du gedenkst nach Hause zu kommen.“

„Ich … äh …“ Mist, daran hatte ich ja gar nicht mehr gedacht.

„Du kommst doch nach Hause, oder?“ Das klang weniger wie eine Frage, als viel mehr wie eine Drohung, die implementierte, dass ich besser nichts falsches sagen sollte, weil mir die Konsequenzen sonst nicht gefallen würden. „Du musst morgen schließlich wieder früh aus dem Haus.“

Oh man, wann lernte er eigentlich endlich, dass ich volljährig war und niemanden mehr brauchte, der jeden meiner Schritte kontrollierte?

Hinter mir wieherte ein Pferd. Na toll, das hatte mir gerade noch gefehlt.

In der Leitung herrschte für einen Moment stille. „Bist du im Stall?“

„Ähm …“ Ja was Ähm? Nun lass die aber mal etwas Gutes einfallen. „Ja. Ja, ich bin im Stall. Die eine Stute fohlt gerade. Ich hab dir doch von ihr erzählt und ich wollte dabei sein, also hat Sonja mich angerufen und mir Bescheid gesagt.“ Na hoffentlich kam ich für diese Lüge nicht in die Hölle.

„Das heißt du kommst heute nicht mehr nach Hause?“

„Nein“, sagte ich vorsichtig. „Ich denke nicht.“

„Und du bist nicht von alleine auf die Idee gekommen, mich darüber zu Infomieren?“

Das war eine Fangfrage. Bloß nicht drauf antworten! „Tut mir leid, aber das muss mir in der Aufregung irgendwie entfallen sein.“

„Dir entfällt in den letzten Tagen eine ganze Menge.“

Einmal hatte ich was vergessen. Das würde er mir wahrscheinlich noch in zehn Jahren vorhalten. „Tut mir leid, ich bin im Moment halt irgendwie ein bisschen zerstreut.“

Wieder blieb es ruhig. „Ist alles okay bei dir? Du hörst dich irgendwie seltsam an.“

Oh nein, Alarmstufe Rot! „Seltsam?“, fragte ich etwas schrill, fehlte nur noch dass ich in hysterisches lachen ausbrach.

„Zaira, ist bei dir wirklich alles in Ordnung?“ Das Stirnrunzeln in seiner Stimme war geradezu zu hören.

„Was sollte denn bitte nicht in Ordnung sein?“ Genau, Gegenfragen waren immer besser als Antworten.

Nur leider schien er das anders zu sehen. „Das versuche ich ja gerade herauszufinden.“

Und das war gar nicht gut – zumindest nicht für mich. „Mir geht es gut, Papa.“ Das war die Wahrheit. „Ich bin nur wegen der Stute ein wenig nervös.“ Das hingegen war eine dicke, fette Lüge.

„Und da bist du dir sicher? Du bist doch nicht in irgendwelchen Schwierigkeiten, oder?“

In Schwierigkeiten? Was bitte sollte den diese Frage jetzt? „Nein, Papa, mit mir ist alles in bester Ordnung.“

„Okay.“ Er seufzte. „Ich hohle dich dann ab, wenn du da fertig bist. Wie lange glaubst du dauert das?“

Wie lange? Mist, warum musste mein Vater nur immer alles so genau wissen wollen? „Keine Ahnung. Kann aber noch ein bisschen dauern.“

„Und wie lange ist ein bisschen?“

„Vielleicht bis spät in die Nacht? Oder in die frühen Morgenstunden hinein?“ Mist, diese Lügerei wurde immer Schwieriger. „Pass auf, Papa. Mach dir keine Sorgen. Wenn es zu lange dauert, dann haue ich mich einfach in Sonjas Gästezimmer aufs Ohr, okay?“ Ich wusste dass ihm das absolut nicht in den Kram passen würde und bereitete mich schon auf eine ausgewachsene Diskussion vor. Daher war ich auch völlig überrascht, als er mit einem einfachen „In Ordnung“ antwortete.

„Aber ruf mich an, falls etwas sein sollte, oder ich dich doch abholen soll. Ich will nicht dass du nachts alleine draußen rumläufst.“

Oh man, dass war wieder so typisch väterlich. „Papa, Koenigshain ist ein kleines Kaff, was soll mir da denn bitte schon passieren?“

„Kleines Kaff oder nicht, einem jungen Mädchen kann nachts auf der Straße immer etwas passieren. Es gibt genug Idioten da draußen.“

Da hatte er leider recht.

„Versprich mir einfach, dass du anrufst, damit ich dich abholen kann, wenn du aus welchen Gründen auch immer doch nach Hause willst.“

„Okay, mach ich.“ Da es diese Stute nicht gab, war das auch keine direkte Lüge. Zumindest versuchte ich mir das einzureden, um mein schlechtes Gewissen ein wenig zu beruhigen. Oh Gott, ich hatte meine Eltern noch nie so extrem angelogen. Dafür würde ich sicher in den tiefsten Abgründen der Hölle schmoren. „Aber rechne nicht damit. So wie das hier aussieht, kann es noch eine Weile dauern.“

„Und wann kommst du dann nach Hause?“

„Morgen nach Arbeit.“ Mist, warum hatte ich das jetzt gesagt?

„Gut, dann sehen wir uns morgen Abend.“

„Ja, morgen Abend. Und grüß Mama von mir.“

Er lachte. „Ich glaube deine Mutter ist die einzige, die glücklich darüber ist, dass du mal ein paar Tage weg bist.“

Ja, ich konnte mir auch gut vorstellen warum. So gut kannte ich meine Mutter. „Bis Morgen.“

„Bis Morgen, mein Schatz.“

Bevor er noch weiter reden konnte und mich mit seiner Fragerei noch nervöser machte, legte ich schnell auf. Dann atmete ich tief durch und ließ meinen Kopf hängen. „Wenn ich da morgen nicht auftauche, dann reißt er mir den Kopf ab.“

Flair stellte die Ohren auf.

„Meinst du dass ich das schaffen kann? Also meine Mutter treffen und morgen rechtzeitig zurück in Koenigshain sein, bevor er merkt was los ist?“

Sie winselte.

„Wenn nämlich nicht, dann muss ich mir eine verdammt gute Ausrede einfallen lassen, warum ich wieder nicht nach Hause komme. Hast du vielleicht eine Idee, weil mir will nichts mehr einfallen.“

Flair setzte sich hin und kläffte.

Na wenigstens einer von uns musste sich keine Sorgen machen, von dem Vater bis ans Lebensende weggesperrt zu werden. Ich meine, ich hatte keine Angst vor meinem Vater, oder so. Um Gottes Willen, er würde sich wahrscheinlich eher selbst etwas antun, bevor er mir ein Haar krümmte, aber ich wollte halt auch nicht, dass er merkte, dass ich ihn belog. Er meinte es ja immer nur gut mit mir, auch wenn er häufig übers Ziel hinaus schoss.

„Schluss jetzt“, sagte ich mir laut, richtete mich auf und steckte das Handy weg. Darüber konnte ich mir später noch Gedanken machen. Jetzt musste ich erstmal nach Silenda, um etwas zwischen die Kauleisten zu bekommen. Und dann konnte ich mich ja vielleicht noch mal in die Gärten schleichen. Sydney hatte doch gesagt, dass meine Erzeugerin sich meist abends dort aufhielt.

„Komm, Flair, wir gehen jetzt erst mal einkaufen.“

Ich sagte noch schnell Gorge in der Reitstube Bescheid, dass ich jetzt weg war und dann machte ich mich auf den langen Spaziergang hinunter nach Silenda. Obwohl es kalt war, freute Flair sich einen Kullerkeks. Der Schnee war schon so platt getreten, dass sie keine Probleme hatte darüber zulaufen. Doch so dicht wie der Himmel behangen war, würde da heute sicher noch einiges runterkommen.

Flair ließ ich vor dem Laden sitzen, als ich Proviant für mehrere Tage einholte. Dann waren wir auch schon wieder auf dem Rückweg. Doch bis ich alles verstaut hatte und in mein Zimmer konnte, war es schon nach acht und ich hundemüde, sodass ich mich nur noch bei meiner Zimmergenossinnen vorstellte, schnell unter die Dusche hüpfte und mich dann mit Flair unter meine Decke kuschelte. Und obwohl die Erlebnisse das Tages noch in meinen Gedanken kreisten, schief ich sehr rasch ein und träumte irgendwelchen Blödsinn über Flair, die eine Prinzessin war und meinen Vater. Er stand in einem leuchtenden Kreis, der Schutzkreis, den er um mich errichtet hatte. Er stand da drin und wandte sich von mir ab. Er wollte mich nicht mehr hinein lassen, er war enttäuscht von mir.

Ich schlug die Augen auf. Ich lag im Dunkeln. Alles um mich herum war ruhig, nur mein Herzschlag schien in der Nacht zu dröhnen.

Nacht.

Ich sah auf die Uhr. Es war wirklich noch Nacht, gerade mal halb vier Uhr. Was war das nur für ein seltsamer Traum gewesen? Ich erinnerte mich noch an alles und es fühlte sich nicht gut an. „Das kommt bestimmt von meinem schlechten Gewissen“, murmelte ich.

Neben mir regte sich Flair, steckte ihren Kopf unter der Decke hervor und gähnte mich geräuschvoll an, nur um dann wieder gänzlich unter meiner Decke zu verschwinden. Sie war wohl noch nicht bereit den Tag zu beginnen und auch ich versuchte noch einmal die Augen zu schließen, doch leider wollte der Schlaf sich nicht mehr einstellen. Unruhig wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, bis ich es gegen fünf dann ganz aufgab. Außerdem musste ich ums sechs sowieso im Stall sein.

Auch meine Mitbewohnerin begannen sich zu regen. So begann der Tag. Nur noch eine schnelle Dusche zum wachwerden, dann machte ich mich in ausgebeulten Jeans und einem blauen Karohemd auf den Weg in die Küche, wo erst mal ausgiebig gefrühstückt wurde. Um kurz vor sechs war ich im Stall, wo ich einer Vampirin namens Gisel an die Seite gestellt wurde.

Draußen brach mit der Zeit die Dämmerung an und plötzlich war es schon Mittag und ich wurde von Gisel weggeschickt um eine Pause zu machen. Es war wirklich immer wieder erstaunlich, wie sehr die Zeit während der Arbeit vergehen konnte. So setzte ich mich mit meinem kleinen Mittagsmahl zu den anderen Vampiren in die Reitstube und genoss mit ihnen zusammen meine Pause.

Für Flair fiel immer mal wieder ein Happen von meinem Brot ab – und nicht nur von meinem, auch die anderen fütterten sie kräftig. Wenn das so weiterging, würde ich sie in eine paar Tagen durch die Gegend rollen.

Nach und nach leerte sich die Reitstube und irgendwann saß ich mit Flair auf meinem Schoß alleine am Tisch und grübelte darüber nach, wie ich es am besten deichseln könnte, endlich meiner Erzeugerin über den Weg zu laufen. Ich war immerhin schon seit gestern hier und war bereits der ganze nähere Verwandtschaft begegnet, nur sie war einfach nicht aufzutreiben.

„Vielleicht hätte ich gestern Abend ja doch noch in die Gärten gehen sollen“, überlegte ich laut und schob meine Brille zurecht.

Flair stellte die Ohren auf, doch ihr Blick galt nicht mir, sondern dem letzten Brot auf dem Tisch, nach dem ich die Hand ausstreckte.

„Aber ich war so müde gewesen.“ Auch jetzt steckte mir wieder ein Gähnen in der Kehle. Die ganze Aufregung der letzten Tage hatte mich mehr geschafft, als ich es für möglich gehalten hätte.

Draußen auf der Veranda wurden schwere Schritte laut. Einen Moment später ging die alte Holztür auf und ein grinsender Cio steckte seinen Kopf in den Raum. „Ach hier finde ich dich, ich habe dich schon überall gesucht.“

Oh nein, bitte nicht.

Er trat in den Raum, schloss die Tür sorgfältig hinter sich und setzte sich dann neben mich an den Tisch. „Was isst du da?“

„Na wonach sieht es den aus?“

Er blähte die Nasenflügel, um zu riechen, was ich auf meinem Brot hatte und verzog dann das Gesicht. „Du riechst nach Pferd.“

Na das war doch mal ein Kompliment. „Hast du nichts Besseres zu tun, als mich schon wieder mit deiner Anwesenheit zu belästigen?“

„Nein, im Moment nicht.“ Er grinste mich an.

Gut sah er heute aus, noch besser als gestern. In Jeans und einem einfachen, blauen Rollkragenpullover. Und wieder hatte er diese schwarze Wollmütze auf seinem Kopf. Doch das würde ich ihm sicher nicht sagen. Davon mal abgesehen dass ich hier keine falschen Eindrücke entstehen lassen wollte, war sein Ego schon aufgebläht genug. Noch ein bisschen mehr und es würde vermutlich platzen.

„Gibst du mir was ab?“

Oh Mann. Seufzend teilte ich mein Brot und reichte ihm die größere Hälfte.

Flair stellte sich auf die Hinterbeine, in der Hoffnung, dass das halbe Brot für sie war und war dann sichtlich enttäuscht, als Cio es nahm.

„Danke.“ Er biss rein und kaute genüsslich. „Hm, Käse, du hast Geschmack. Aber morgen hätte ich doch lieber ein Truthahnsandwiches.“

Und noch einmal: Oh Mann. „Warum bist du eigentlich hier?“

„Keine Ahnung, mir war langweilig.“

„Und da hast du in diesem riesigen Schloss niemand anderes gefunden, dem du deine wertvolle Zeit opfern kannst?“

„Nope, nur dich.“ Mit einem zweiten Bissen war das restliche Brot verschwunden. „Außerdem muss ich dir ja noch deine dunklen Geheimnisse entlocken.“

Oh nein, das hatte ich ja ganz vergessen. Oder vielleicht auch verdrängt? „Ich hoffe du brichst dir bei dem Versuch das Genick, damit ich endlich meine Ruhe habe.“

„He, nun mal nicht so unfreundlich.“ Er beugte sich ein wenig vor. „Aber wenn du mich wirklich so dringend loswerden willst, dann sag mir doch einfach was ich wissen will und du mich los.“

Okay, er wollte es ja nicht anders. „Na gut, wenn es nicht anders geht. Vorher gibst du ja doch keine Ruhe.“

„Wirklich?“

Aber na sicher doch. Als wenn ich so saublöd wäre, ihm irgendwas zu verraten. „Wirklich. Also pass auf.“ Sorgfältig legte ich mein Brot zurück auf den Tisch und sah ihm in die Augen. „Ich wurde von meinem Arbeitgeber auf geheimer Mission hier her geschickt und den Leibwächter von Aric zu ermorden, damit man leichter an den Prinzen herankommt und ihn entführen kann. Deswegen habe ich dir gerade auch den vergifteten Teil meines Brotes gereicht.“ Ganz ernst sagte ich das, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

Cio seufzte. „Und wieder wird mir mein gutes Aussehen zum Verhängnis.“

„Bitte?“ Hatte ich gerade irgendwas verpasst? Ich erzählte ihm, er sei vergiftet und er schwärmt von seinem Aussehen?

„Ach, tu doch nicht so. Ich weiß ganz genau dass du mich anlügst und auch nur weil du willst, dass ich in deiner Nähre bleibe.“

Und noch mal: „Bitte?“

„Dabei ist das völlig unnötig. Ich kann mich auch noch mit dir abgeben, wenn du mir alles gestanden hast.“

Okay, an dieser Stelle möchte ich meine vorherige Aussage korrigieren. Sein Ego war bereits geplatzt und hatte ihm dabei das Hirn aus den Ohren gepustet.

„Du brauchst wirklich nicht schüchtern sein.“ Ohne die geringste Scheu, nahm er sich das letzte Stück meines Brotes,und ließ es in seinem Mund verschwinden.

„He, das war mein Mittagessen!“

Er grinste frech. „War ist das richtige Wort.“

Ich ließ meine Stirn nach vorne auf den Tisch fallen.

„Uhhh“, machte er. „Das sah schmerzhaft aus.“

War es auch, aber das würde ich sicher nicht zugeben. „Wirst du mich jetzt jeden Tag bei der Arbeit belästigen?“ Langsam ließ ich meinen Kopf auf die Seite rollen, um ihn ansehen zu können.

Er tat gespielt überlegend. „Ich denke ja. Aber nicht nur bei der Arbeit. Ich werde dir auch so überall auflauern.“

Na das waren doch mal tolle Aussichten.

„Außer Mittwochabend, da habe ich keine Zeit.“

„Wieso?“ Wieso?! Verdammt, warum fragte ich das? War ich noch zu retten? Ich sollte froh sein, dass er mich da nicht nervte, anstatt auch noch nach dem Grund zu fragen.

„Weil da die große Vollmondjagd ist.“

„Vollmondjagd?“ Ich richtete mich wieder auf und rückte meine Brille zurecht. „Was ist das?“

Er sah mich mit einem äußerst skeptischen Blick an. „Du weißt aber auch gar nichts, oder?“

Auf diese Frage würde ich im Leben nicht antworten.

„Also, eine Vollmondjagd ist genau das, was der Name schon aussagt. Man jagt unterm Vollmond. Dazu strömen Lykaner aus der ganzen Welt ins Schloss und jagen an der Seite der Königin durch die Wälder der Könige.“

Ich wurde hellhörig. „An der Seite der Königin?“ In meinem Kopf reifte ein Plan heran. Am Mittwoch hatte er gesagt, das war in zwei Tagen. Wenn ich mich in einen Wolf verwandelte, dann würde ich an sie rankommen und niemand würde mich erkennen. Flair würde ich einfach in meinem Zimmer lassen, oder vielleicht auch in Fujos Obhut geben und dann könnte ich endlich meine Erzeugerin sehen. Das war perfekt!

Cio ließ wieder sein Lächeln aufblitzen. „Jup. Die Königin und ihre Kinder.“

„Aric und Kiara interessieren mich nicht“, murmelte ich gedankenverloren. Das stimmte so nicht, aber vorrangig war ich wegen Cayenne hier. Und die viel wichtigere Frage an dieser Stelle war, könnte ich meinen Vater noch so lange täuschen? Es waren doch nur zwei Tage. Vielleicht würde ich sie ja schon vorher treffen, aber wenn nicht, dann war das meine Gelegenheit. Selbst wenn mein Vater spitz bekäme, dass ich ihn die ganze Zeit angelogen hatte, er wüsste ja nicht wo er nach mir suchen sollte. Das würde zwar ein ausgewaschenes Donnerwetter bei meiner Rückkehr geben, aber dem würde ich mich dann auch stellen. Dann war es eh schon zu spät.

Als ich aufsah, merkte ich, dass Cio mich ganz komisch ansah. „Waaas?“, fragte ich gedehnt und kniff die Augen leicht zusammen.

„Das hast du schon gestern gemacht.“

Meine Stimme sank deutlich eine Oktave tiefer. „Was?“

„Sie nur mit ihren Namen angesprochen.“

Musste er in so kryptischen Worten sprechen? Ich verstand hier nämlich gerade gar nichts. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du redest.“

„Aric und Kiara.“

„Und das ist falsch, weil?“

Um seine Lippen zuckte ein belustigter Zug. „Weil sie adlig sind, weil sie der Alphafamilie angehören und du nichts weiter als ein kleiner, vorlauter Vampir bist.“

Autsch. Nur ein Vampir, dass tat weh. Wenn er das schon so herablassend sagte, wie würde er sich dann erst verhalten, wenn er herausbekäme, was wirklich alles in mir steckte? Ich musste bei ihm wirklich auf der Hut bleiben. „Hat dir schon mal jemand etwas über rhetorische Fragen erzählt?“ Ich ließ Flair auf den Boden, schob meinen Stuhl zurück und stand auf.

„Wo gehst du hin?“

„Arbeiten.“

„Oh, da komm ich mit.“

Warum nur hatte ich das befürchtet? „Ist dir schon mal in den Sinn gekommen, dass du dir das alles nur einbildest und es gar kein Geheimnis gibt, dass du ergründen könntest?“ Ich griff nach meiner Jacke, aber er war schneller und zog sie mir weg. Doch bevor ich protestieren konnte, hielt er sie mir mit einem Lächeln so hin, dass ich reinschlüpfen konnte. O-kay.

„Um genau zu sein, ja.“ Er umrundete mich um meinen Kragen zu richten.

„Und warum bist du dann noch hier?“ Bevor er dann auch noch auf die Idee kommen konnte, den Reißverschluss zu schließen, brachte ich mit einem Schritt etwas Abstand zwischen uns. Das war mir dann doch ein wenig zu vertraulich. Außerdem war ich schon ein großes Mädchen. Ich hatte schon vor langer Zeit gelernt, mich ohne fremde Hilfe anzuziehen.

„Weil mein Instinkt mich selten trügt.“

Ich pfiff nach Flair und öffnete die Tür. Sofort war der kleine Speedy Gonzales raus gerannt, zögerte einen Moment auf der Veranda, weil da ja überall kalter, nasser Schnee lag, überwand sich dann aber doch die Treppe runterzurasen und pinkelte auf das erste, halbwegs trockene Fleckchen, dass sie finden konnte – nun war es auch nass.

„Und du meinst nicht, dass es bei mir einer dieser selten Fälle sein kein, bei denen du dich täuschst?“ Ich wartete bis Cio die Reiterstube verlassen hatte, zog dann die Tür zu und folgte meinem kleinen Wildfang.

„Auch darüber habe ich bereit nachgedacht“, gab er zu. „Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass du etwas verbirgst. Es ist einfach wie du sprichst, und so.“

„Und so?“ Meine Augenbrauen rutschten skeptisch eine Etage höher. „Mir scheint eher, dass du äußerste Langeweile hast und nicht recht weißt was du mit deiner freien Zeit anfangen sollst.“ War ich eigentlich noch zu retten, dass ich so locker mit ihm darüber sprach, dass ich vielleicht ein Geheimnis hatte? Aber er machte es einem auch so einfach. Er war witzig und ja, er war auch süß.

Dieser Kerl ist gefährlich, warnte ich mich selber. Wenn ich einfach so mit ihm plauderte, könnte es wirklich sein, dass mir ausversehen noch etwas rausrutschte, was nicht für seine Ohren bestimmt war. Er schien intelligenter, als man seinem hübschen Äußeren ansehen konnte.

„Warum guckst du mich so misstrauisch an?“, wollte er wissen und schlug den Weg zum Stall ein.

Flair sauste ein paar Meter vor, hielt dann abrupt an und lief ein paar Schritte zurück, um an einer verfärbten Stelle im Schnee zu schnüffeln.

„Weil mir gerade klar wird, dass dein hübsches Äußeres nur eine List ist, die von deinem Hirnschmalz ablenken soll.“

Cio strahlte mich mit so einer kindlichen Unschuld an, dass auch ich mir ein kleines Lächeln nicht verkneifen konnte. „Du findest mich hübsch?“ Er tat so, als würde er seine Haare übertrieben in den Nacken werfen. „Ich muss sagen, du hast ein sehr gutes Auge.“

Okay, jetzt musste ich mehr als nur ein bisschen Grinsen. „Blödmann.“ Aber wenigstens hatte ich ihn vom eigentlichen Thema abgelenkt. Und damit das auch so blieb, würde ich gleich eine Frage hinterher schieben. „Sag mal, was jagt man denn bei der Vollmondjagt eigentlich?“ Ich stand nämlich nicht so darauf wehrlose Tiere durch die Gegend zu hetzten.

„Meistens jagen wir uns gegenseitig. Es ist wie ein großes Spiel. Die eine Gruppe ist die Beute, die andere die Jäger. Mit einem Biss in den Nacken hat man seine Beute dann erlegt und kann sich auf die nächste stürzen. Aber manche gehen auch mit, um sich den Wanst vollzuschlagen.“

Ich verzog das Gesicht. „Ist ja widerlich.“

Und wieder war da dieses spitzbübische Grinsen. „Rohes Fleisch ist halt nicht jedermanns Sache.“

Zwischen den Bäumen vor uns blitzte schon hin und wieder die Umrisse des Stalls auf. Wir waren fast da. Ob er dann wieder verschwinden würde? Irgendwie war mir das im Augenblick gar nicht so recht, auch wenn er mir auf die Nerven ging – ja ja, ich wusste schon, Frauenlogik. Er war einfach witzig und es machte Spaß sich mit ihm zu unterhalten.

„Fleisch an sich ist widerlich. Ich finde es grausam Tiere zu töten, wo es doch so viel alternative Nahrungsquellen gibt.“

Seine Augen weiteten sich ungläubig. „Sag mir jetzt bloß nicht, dass du Vegetarier bist.“

„Doch, genau das bin ich. Ein vegetarischer Vampir der Blut trinkt und wegen einer Sehschwäche eine Brille tragen muss.“ Besagte schob ich auf meiner Nase hoch und lächelte in das ungläubige Gesicht. „Und außerdem habe ich eine Schwäche für Gummibärchen, wie man mir leider ansieht.“

Sein Unglaube wird zu einem Stirnrunzeln. „Wo sieht man dir das an?“

„Na hier.“ Ich zeigte auf meine Hüften, die Gott sei Dank von meiner Jacke verdeckt waren.

Er neigte den Kopf zur Seite. „Also ich sehe nichts. Zeig mir mal dein Bauch.“

Das einzige was ich ihm zeigte, war ein Vogel. „Du spinnst wohl. Als wenn ich hier für dich stippen würde.“

„Nee, hast recht, dafür ist es zu kalt.“

Genau, als wenn die Kälte das Problem wäre und nicht meine überflüssigen Pfunde, oder die Tatsache dass er ein Fremder war, oder auch, dass ich sowas einfach nicht machte.

„Aber vielleicht können wir uns ja nachher auf deine Zimmer treffen“, schlug er vor. „Und dann holen wir das nach.“

„Aber sicher doch, nichts könnte mir besser gefallen.“

Flair flitzte wieder an uns vorbei, wässerte eine weitere Stelle und gesellte sich dann an meine Seite, von wo sie mich aufmerksam betrachtete, als erwartete sie ein Lob.

„Das freut mich zu hören. Ich bin dann gegen halb acht auf deinem Zimmer.“

Von der Seite her traf ihn mein Blick. „Ich hoffe dir ist klar, dass das ironisch gemeint war.“

„Ich bin immun gegen Ironie.“

Ich schnaubte. „Aber trotzdem wird es für dich nachher keinen Strip geben.“

„Damit kann ich leben“, sagte er leichthin und steuerte das Stalltor an. „Wir können uns auch einfach so hinsetzten und ein wenig quatschen. Wir essen was schönen und dabei kannst du dann über deine Geheimnisse plaudern.“

Mist, warum musste er jetzt wieder drauf zu sprechen kommen? Ich hatte ihn doch so schön abgelenkt. „Ich sage dir noch mal das selbe wie gestern: Du bist ein Fremder für mich. Mit dir werde ich sicher keine tiefsinnigeren Gespräche führen.“

„Aber deswegen will ich mich ja mit dir treffen. Wir plaudern ein wenig, dann sind wir uns nicht mehr fremd und dann kannst du dich mir anvertrauen.“ Er legte mir vertrauensvoll einen Arm um die Schulter, was ihm einen skeptischen Blick einbrachte, auch wenn das Gewicht auf meinen Schultern sich gar nicht so schlecht anfühlte. Und irgendwie roch er auch ganz gut und die Wärme die er abstrahlte …

„… unzertrennlichen und besten Freunde.“

„Was?“

Er grinste ein wenig selbstgefällig. „Na, lenkt dich meine Nähe so sehr ab, dass du nicht mehr klar denken kannst?“

Zu einer Antwort kam ich gar nicht mehr, weil Flair in dem Moment die Ohren aufstellte und dann einfach Gas gab.

„Flair!“, rief ich noch, aber da war sie schon weg. „Scheiße!“ Der Fluch kam schon über meine Lippen, als ich mich noch von Cio freimachte und meinem Hund dann hinterher rannte. Hoffentlich hatte sie nicht Onkel Tristan, oder Tante Lucy gerochen und wollte sie begrüßen, weil, dann wäre ich – um es mal deutlich zu sagen – voll am Arsch! Doch als ich am Stall vorbeirannte, zur Koppel hin, bot sich mir ein Bild, das mich zum abrupten Halt zwang.

Cio lief mir auch noch von hinten voll rein und ich fiel nur nicht mit der Nase voran in den Schnee, weil er mich hastig an der Taille packte und festhielt.

„Hoppla, wo willst du denn hin? Schön stehen bleiben.“

Ich registrierte es nur am Rande, genau wie die Tatsache, dass er mich länger festhielt, als es nötig gewesen wäre. Ich war voll und ganz von dem Bild gefangen, das sich vor mir abspielte. Da stand Sydney, die Hand verschränkt mit meiner Erzeugerin und Flair hatte ihren Hintern direkt vor ihm geparkt – genau wie gestern. Und genau wie gestern, ließ er sich wieder in die Hocke sinken, damit sie an seiner Hand schnüffeln konnte.

Doch ich hatte nur Augen für meine Erzeugerin. Für die blonden Haare, das sanfte Abbild ihres Gesichtes, die grauen Augen, die meinen Mikrowutz kritisch musterten. Sie trug ein langes, blaues Wollkleid, das bis zum Boden reichte. Darüber hatte sie einen langen Wintermantel gezogen. Ihr graziler, schlanker Hals wurde von einer eleganten, feingliedrigen Halskette geschmückt, an der silberner Skorpion baumelte. Sie sah genauso schön aus wie ich es mir vorgestellt hatte. Ästhetisch, anmutig, königlich. Vollkommen in ihrem Aussehen und Charakter.

Das war also die Frau, die mich vor knapp zwanzig Jahren zum Wohle der Allgemeinheit weggegeben hatte, die Frau die ich schon meinen Leben lang kennenlernen wollte. Doch jetzt wo sie nur ein paar Meter von mir entfernt stand, war ich wie erstarrt. Ich wusste nicht mal, ob ich noch atmete. Allein sie zu sehen ließ meinen Gefühlshaushalt wie einen Vulkan explodieren. Wut, Angst, Misstrauen, Neugierde. Ich wusste nicht mal was ich denken sollte.

Sydney sagte etwas zu ihr, was sie lächeln ließ. Aber ich konnte es nicht hören. In meinen Ohren herrschte ein einziges Rauschen.

„Schockstarre“, sagte da eine belustigte Stimme direkt in mein Ohr.

Ich zuckte vor Schreck und sah hastig in ein grinsendes Gesicht.

„Wolltest du sie nicht kennenlernen?“

„Ich …“

„Komm, ich stell dich ihr vor.“ Cio nahm einfach meine Hand und zog mich hinter sich her. Selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich mich dagegen nicht wehren können. Meine Beine folgten ihm einfach, als liefen sie auf Autopilot.

Mit jedem Schritt den wir näher kamen, schlug mein Herz höher. Sydney hatte uns bereits bemerkt und sah mir entgegen, doch meine Erzeugerin hatte nur Augen für ihren Gefährten. Liebevoll strich sie ihm übers Haar. „Soll ich dir auch so eine kleine Stolperfalle kaufen?“

Um Sydneys Mund glitt ein sanftes Lächeln.

„Hey, Cayenne!“, rief Cio und rückte uns damit in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Er zog mich noch ein paar Schritte weiter und schob mich dann genau vor sie. „Das ist Sarah. Sie arbeitet seit gestern in den Ställen und sie wollte dich unbedingt einmal kennenlernen, hat sich bei deinem umwerfendem Antlitz aber nicht getraut näher zu treten.“

Meine Erzeugerin kniff die Augen zusammen. „Du kannst so viel schleimen wie du willst, Cio, ich bin trotzdem sauer, dass du den letzten Muffin gegessen hast.“

„Dafür hast du mir vorgestern meine Schokoriegel geklaut“, konterte er.

„Ich hab dir schon mal gesagt, mein Schloss …“

„Mein Kühlschrank. Ja, ja, schon klar.“

Schokoriegel? Muffins? Schleimen? Ähm …

„Cio“, sagte da Sydney und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Solltest du nicht beim Training mit deinem Vater sein?“

Er winkte ab. „Das haben wir auf später verschoben.“

„Weiß Diego auch, dass ihr es auf später verschoben habt?“

Diego? Diego?! Er meinte doch wohl nicht den Diego, oder?! Und … Cio war der Sohn von Diego? Das war … ich wusste nicht wie das war, aber damit hätte ich im Leben nicht gerechnet, nicht nach den Geschichten die mir Papa erzählt hatte.

„Natürlich weiß er das“, gab Cio etwas beleidigt zurück. „Ich bleib doch nicht einfach unentschuldigt von Training weg.“

Das entlockte meiner Erzeugerin ein glockenhelles Lachen.

„Dann solltest du vielleicht Iesha bei ihrem Training unterstützen.“ In Sydneys Stimme lag ein eindeutiger Unterton, doch irgendwie konnte ich den im Augenblick nicht richtig zuordnen. Mein Hirn funktionierte nur auf Sparbetrieb. Das plötzliche Auftauchen meiner Erzeugerin hatte mich so aus der Bahn geworfen, dass ich schon froh war, hier nicht mit offenem Mund vor ihr zu stehen und wie eine Geisteskranke vor mich hinzusabbern.

Cio kniff die Augen leicht zusammen. „Wie du das so sagst, bekomme ich fast das Gefühl, dass du mich nicht hier haben möchtest.“

Sydney blieb stumm, sah ihn nur mit diesem Eindringlichen Blick an, der einen zu durchleuchten schien. Solange bis Cio sich seufzend über die Mütze strich.

„Ist ja gut, ich geh ja schon.“ Grinsend drehte er sich zu mir und drückte mir einfach einen Kuss auf die Wange.

Fast schon entsetzt sah ich ihn an. „Spinnst du?!“

„Ich wollte nur dafür sorgen, dass du endlich aus deiner Schockstarre erwachst. Hat funktioniert.“ Grinsend machte er sich mit einem Winken davon. „Wir sehen uns später, Sarah.“

Ich stand da und konnte nichts anderes tun, als ihm fassungslos hinterher zu sehen, wie er sich mit wiegenden Schritten von uns entfernte. Was fiel dem eigentlich ein? Der Kerl war ja wohl mehr als nur dreist!

„Hey, ich bin Cayenne.“

Langsam drehte ich mich zu meiner Erzeugerin zurück, die mir eine Hand entgegenhielt. Aber im Augenblick wusste ich gar nicht so recht, was ich damit anfangen sollte.

„Cio hat doch gesagt, dass du mich kennenlernen wolltest.“ Sie nickte mir zu, aber erst als Sydney mit dem Kopf eine kleine Bewegung machte, hob ich langsam meinen Arm und nahm ihre Hand. Sie war recht rau für eine Frau, so ganz anders als ich es mir vorgestellt hatte. Und erst als ich ihre Hand wieder losließ, wurde mir klar, dass Sydney das hier arrangiert haben musste. Er hatte dafür sorgen wollen, dass ich sie traf.

„Und du arbeitest jetzt hier in den Ställen?“

Ich öffnete den Mund, aber kein Ton kam heraus. Sie lächelte mich an, freundlich, aber doch distanziert, als sei ich eine Fremde. Sie erkannte mich nicht, sie wusste nicht, dass hier ihre Tochter vor ihr stand. Vielleicht hatte sie ja auch schon längst vergessen, dass ich existierte. Sydney hatte mich erkannt, aber warum sie nicht? Ich war immerhin aus ihrem Leib geboren worden, sollte es da dann nicht irgendein Band zwischen uns geben, das sie sofort erkennen ließ, wer hier vor ihr stand?

„Hm, du scheinst nicht sehr gesprächig, wie mir scheint“, überlegte sie.

Sollte ich ihr vielleicht doch sagen, wer ich war? Ich warf einen Blick zu Sydney. Er hatte gesagt, es wäre meine Aufgabe es ihr zu sagen.

Wie würde sie reagieren? Was würde sie tun? Was würde ich tun? Warum erkannt sie denn nicht wer ich war? Ich war doch ihre Tochter, ihr eigen Fleisch und Blut! Es war ein verfluchtest Gesetz, dass sie mich erkannte!

„Findest du es den schön hier am Hof?“, startete sie einen weiteren Versuch mir ein Wort zu entlocken.

„Ich … ich …“ Sag es, sag ihr wer du bist, na los! „Ich bin …“ Meine zögernden Worte brachen sofort ab, als sich in meiner Jackentasche mein Handy bemerkbar machte. Ich starrte sie an, als wüsste ich nicht was das Klingeln bedeutet.

„Ich an deiner Stelle würde rangehen“, bemerkte sie in einem etwas herablassenden Ton. Wahrscheinlich gingen ihr Leute wie ich einfach nur auf den Sack, Leute die den Mund nicht aufbekamen.

„Ich … ja … entschuldigt mich bitte.“ Ging es eigentlich noch peinlicher? Über mich selbst den Kopf schüttelnd lief ich hastig ein paar Schritte zur Koppel und zog dabei mein Handy aus der Jacke. Ich achtete gar nicht darauf, wer mich da belästigte, sondern hielt es mir direkt ans Ohr. „Du störst!“, fauchte ich in das kleine Gerät. Da fiel es mir schon so schwer mit ihr zu reden und als ich dann endlich etwas zu sagen hatte, unterbrach irgendein Penner unser fast-Gespräch auch noch.

„Ich störe also“, hörte ich eine ruhige Stimme am anderen Ende der Leitung. „Wobei störe ich denn, wenn ich fragen darf.“

Scheiße, dieser Penner war mein Vater! Mist, Mist, Mist! Das hatte mir jetzt gerade noch gefehlt. „Bei gar nichts“, sagte ich kleinlaut. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht so anfahren, aber ich dachte das ist schon wieder Valerie, die mich nerven will. Sie ruft schon den ganzen Tag bei mir an.“ Oh Gott, hoffentlich würde mir für die Lüge keine lange Nase wachsen.

In der Leitung blieb es einen Moment ruhig.

„Zaira?“

„Ja?“ Ich warf einen Blick zu meiner Erzeugerin und Sydney. Sie lächelte über irgendwas was er sagte und hockte sich dann zu Flair runter, die sich begeistert von ihr den Rücken kraulen ließ – ja, die hatte natürlich keine Probleme damit meine Erzeugerin kennenzulernen.

„Rate mal wo ich gerade bin.“

„Wo du gerade bist?“

„Ja.“

„Keine Ahnung.“ Woher sollte ich wissen wo er sich den lieben langen Tag rumtrieb? Wenn ich nach der Uhrzeit ging, müsste er eigentlich gerade von der Arbeit kommen.

„Ich verlasse gerade Sonjas Hof.“ Seine Stimme war gefährlich ruhig.

Oh scheiße. Plötzlich war meine Erzeugerin vergessen. „Ähm … Sonjas Hof?“

„Ja. Ich dachte mir, da du die Nacht nicht nach Hause gekommen bist, bringe ich dir wenigstens ein paar frische Sachen und fahr dich anschließend dann vielleicht auch gleich nach Hause, damit du nicht den Bus nehmen musst, aber stell dir meine Überraschung vor, als ich dort ankam und du nicht aufzufinden warst.“

„Oh … ähm …“ Mist, warum konnte mein Vater nicht einer von diesen Typen sein, dem es am Arsch vorbeiging, was seine Brut so trieb?

„Ja. Und stell dir vor, als ich nachgefragt habe, hat Sonja mir erzählt, dass es gar keine Stute gibt, die letzte Nacht gefohlt hat.“

„Nicht?“ Scheiße, scheiße, scheiße! Jetzt war ich richtig am Arsch.

„Nein, gab es nicht. Und nicht nur das.“ Durch die Leitung drang ein Geräusch, wie von einer sich öffnenden Autotür. „Sie hat mir auch gesagt, dass sie dich bereits seit Tagen nicht mehr gesehen hat.“

Ich schwieg. Was sollte ich dazu auch noch sagen?

„Und sie hat mir auch erzählt, dass du dir für die ganze Woche hast Urlaub geben lassen.“

„So, hat sie das.“ Mist, jetzt brauchte ich ganz schnell eine sehr gute Ausrede. Mehr als nur das, ich brauchte ein verfluchtes Wunder!

„Zaira, du bist jetzt seit Samstagmittag nicht mehr nach Hause gekommen.“ Die Autotür schlug zu. „Und hast mich scheinbar auch noch über deinen Aufenthaltsort angelogen. Du warst nicht bei Sonja und langsam frage ich mich, ob du überhaupt bei Kasper und Valerie gewesen bist. Deswegen frage ich dich jetzt nur ein einziges Mal: Wo zum Teufel steckst du!“

Ich drückte die Lippen fest zusammen.

„Zaira, antworte mir! Wo bist du?!“

Er war wütend. Er war verdammt wütend, aber das konnte ich ihm nur schwerlich verübeln. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht anlügen, aber … es tut mir leid.“

„Bist du in Schwierigkeiten? Brauchst du Hilfe?“

„Nein.“

„Verdammt dann rede mit mir!“

Scheiße. „Hör zu Papa, es tut mir leid das ich dich angelogen habe, aber ich habe hier etwas zu erledigen. Wenn ich fertig bin, dann komme ich wieder nach Hause, dann kannst du mich meinetwegen anschreien, aber jetzt habe ich keine Zeit.“

„Zaira, wage es ja nicht mich so einfach abzuspeisen! Ich will auf der Stelle wissen wo du dich befindest und warum zum Teufel du mich angelogen hast!“

„Ich werde in ein paar Tagen nach Hause kommen. Mach dir keine Sorgen.“

„Wage es ja nicht jetzt einfach aufzulegen. Zaira, ich warne dich, das ist kein Spaß!“

„Tschüss Papa, ich hab dich lieb, bis dann.“

„Zaira, ich werde echt sauer, wenn …“

Hastig unterbrach ich die Leitung und schaltete das Handy aus. Mist, das war … scheiße! Warum hatte er jetzt anrufen müssen, warum hatte er das rausbekommen müssen? Jetzt machte er sich doch erst recht Sorgen. Dass er aber auch immer so ein Kontrollfreak sein musste! Und zu allem Überfluss musste er auch noch genau in dem Moment anrufen, in dem ich endlich meine Erzeugerin traf.

Verdammt, die stand ja immer noch dahinten. Hastig drehte ich mich um und steckte dabei mein Telefon zurück in die Jacke. Doch dann blieb ich wieder wie angewurzelt stehen. Meine Erzeugerin erhob sich gerade und hakte sich bei ihrem Galan ein. Ein kurzer Wink in meine Richtung war ihr Abschiedsgruß. Und dann ging sie. Einfach so, ohne ein Wort des Abschieds.

Ich war versucht ihr hinterher zu rufen, aber mir blieben die Worte in der Kehle stecken. Sie ging einfach, sie hatte mich wirklich nicht erkannt. Diese Frau hatte mich in die Welt gesetzt, mich weggegeben und jetzt kehrte sie mir einfach den Rücken!

In meinen Augen brannten Tränen des Zorns. Wenn mein Vater doch nur nicht ausgerechnet in diesem Moment angerufen hätte, dann wäre es vielleicht anders gelaufen. Aber jetzt war sie weg und ich stand hier mit geballten Fäusten und könnte mir selbst in den Hintern treten, dass ich mein Chance ungenutzt hatte verstreichen lassen.

„Scheiße!“, fluchte ich laut und schlug mit einer Faust auf den Koppelzaun. Meine Finger kribbelten, meine Haut juckte, aber ich war im Moment zu aufgewühlt, um zu verstehen, was das bedeutete.

Ein Stück von mir entfernt fiepte Flair.

War es normal, dass ich glaubte, mein Hund hatte Mitleid mit mir? Wie erbärmlich. Ich biss die Zähne fest zusammen. „Okay, jetzt beruhige dich mal, hier völlig auszurasten bringt die auch nichts.“ Ich schloss die Augen, um tief durchzuatmen. Das wird nicht meine letzte Chance gewesen sein, sagte ich mir. Sie lebt hier, ich muss ihr zwangsläufig wieder über den Weg laufen und wenn nicht, habe ich immer noch die Vollmondjagd. „Die Vollmondjagd“, sagte ich laut und schlug die Augen wieder auf. „Spätestens dort kann ich nochmal mit ihr reden.“ Trotzdem war die Enttäuschung groß.

Das Kribbeln an meinem Arm wurde schlimmer und … oh nein! „Nein, nein, nein, nein.“ Ich verwandelte mich. Ich war gerade dabei meine andere Gestalt anzunehmen. „Nein!“ Mist, das hatte ich ganz vergessen. Ich hatte mich seit zwei Tagen nicht mehr verwandelt und jetzt wollte der Wolf raus. Ich musste mich jeden Tag wandeln, um die Metamorphose unter Kontrollen zu behalten, sonst würde sie irgendwann einfach über mich kommen, ohne dass ich etwas dagegen unternehmen konnte – das Los eines Mistos.

„Okay, tief durchatmen, beruhige dich.“ Das waren erst zwei Tage gewesen, noch konnte ich es kontrollieren, ich musste nur ruhig werden. „Heute Abend“, sagte ich mir, „heute Abend kann ich mich verwandeln.“ Aber nicht jetzt und auch nicht hier, wo jederzeit jemand vorbeikommen konnte. „Ruhig, ganz ruhig.“

Kontrolliert atmen, Gefühle beruhigen. Ich konnte das, das war nicht das erste Mal das ich das tun musste. Langsam ließ das Kribbeln nach und meine krallenartigen Nägel wurden wieder normal. So ist es gut, redete ich mir selber gut zu.

„Hey, Sarah!“

Erschrocken riss ich die Augen auf. Da vorne stand Gisel und winkte mich ran. „Kommst du heute noch wieder zurück zur Arbeit?“

„Ja, tut mir leid.“ Eilig setzte ich mich in Bewegung, Flair gleich hinter mir. Hoffentlich hatte ich mich in der Zwischenzeit soweit runter geregelt, dass ich die Verwandlung wirklich bis heute Abend aufschieben konnte. Vor Gisel kam ich zum stehen. „Sorry wegen der Verspätung.“

Sie sah mich leicht abschätzend an. „Ich hoffe das kommt nicht noch mal vor.“

„Nein, natürlich nicht.“

„Dann rein mit dir.“ Sie hielt mir die Stalltür auf. „Es wartet noch jede Menge Arbeit auf uns.“

Ich murmelte noch eine Entschuldigung und schlüpfte dann an ihr vorbei in den Stall, nur um dort Fujo vorzufindenden, die an einer der Boxen lehnte und mich vorsichtig anlächelte. „Hey“, sagte ich. „Da bist du ja wieder.“ Ich schnappte mir Flair vom Boden und drückte ihr meinen Hund einfach in die Hand. „Kannst du wieder auf sie aufpassen? Ich hab jetzt nämlich überhaupt keine Zeit.“

„Ich w-w-würde sehr gerne w-wieder auf sie aufpassen.“

„Super, ich danke dir.“ Ich tätschelte ihr die Schulter und machte dann, dass ich an die Arbeit kam. Heute Abend, versprach ich mir, heute Abend sobald es dunkel war würde ich den Wolf rauslassen.

 

°°°

 

„Hier scheint ein gutes Plätzchen zu sein, oder was meinst du?“

Flair bellte einmal und wedelte dann mit dem Schwänzchen, dass der ganze Hintern wackelte.

„Freut mich dass du meiner Meinung bist.“ Ich hockte mich zu ihr, um ihr den Spezialanzug mit den Lederhenkeln anzuziehen. Vier Beine durch vier Löcher, Reißverschluss auf dem Rücken zu, die beiden Lederschlaufen auf dem Rücken zurechtrücken, fertig. Okay, sah vielleicht ein bisschen albern aus, aber es war nützlich.

Noch einmal ließ ich meinen wachsamen Blick durch das Stückchen Wald gleiten, in dem ich mich gerade befand, um auch sicher zu gehen, dass ich wirklich allein in dieser Nacht war, dann zog ich mir den dicken Pulli über den Kopf. Sofort spürte ich die winterliche Frische auf meiner nackten Haut. „Scheiße ist das kalt.“

Wieder ein zustimmendes Bellen von Flair.

Auch meiner Hose entledigte ich mich schnell und stand dann Nackt im Dunkeln mitten im Wald.

Nach der Arbeit war ich nur noch mal schnell in mein Zimmer verschwunden, um zu duschen – ich liebte Pferde zwar, aber deswegen wollte ich nicht die ganze Zeit nach ihnen riechen – und hatte mir dann eine lockere, graue Jogginghose und einen dicken Pullover übergestreift. Dann war ich mit Flair unter dem Arm heimlich in die Tiefen des Waldes hinter der Koppel verschwunden.

Hastig rollte ich meine Kleidung zusammen und schob sie mit meinen Stiefeln und der Brille unters Gebüsch. Ich brauchte die Sachen später noch und hier würde sie so schnell keiner finden.

Zittern ließ ich mich auf alle Viere in den Schnee sinken und dann ließ ich die Verwandlung einfach über mich kommen.

Das Lied des Mondes hallte mit jedem Herzschlag in meinem Inneren wieder, lockte mich der Versuchung nachzugeben. Meine Haut kribbelte. Es fühlte sich an, als würde ich in einem warmen Schein schmelzen und mich neu formen. Knochen bogen sich in einem sanften Rausch. Meine Sicht veränderte sich, als mein Gesicht sich zu verformen begann. Ich bekam eine Schnauze, spürte wie meine Ohren sich in die Länge zogen, an meinen Kopf hochwanderten. Mein Rückgrat verlängerte sich zu einer Rute. Überall aus meiner Haut spross schwarzes Haar. Dicht, glänzend, ein wenig borstig, bis mein ganzer Körper von einem Pelz bedeckt war, der mich vor der schneidenden Kälte des Winters bewahrte.

Mit einem Seufzen spürte ich die Veränderung meiner Gliedmaßen und genoss das Gefühl der Befreiung, dass sich in mir breit machte. Andere Mistos, spürten Schmerzen durch ihr Halbwesen. Manche brauchten Jahrzehnte, bis sie ihre erste Verwandlung erfolgreich hinter sich bringen konnten, doch mir war es schon als kleines Kind ohne Probleme gelungen. Nie Schmerzen, nie Qualen, oder Folter, nur Wonne die mein ganzes Sein erfüllte.

Das Lied des Mondes spielte um mich herum, sang zu meiner Verwandlung, bis ich kein Mädchen mehr war, sondern ein Wolf, schwärzer als die dunkelste Nacht.

Einen Moment blieb ich einfach liegen, genoss den Nachhall meiner Metamorphose und das Lied der Nacht, das so kurz vor dem Vollmond so stark war.

Neben mir bellte Flair. Ihr gefiel er wohl nicht, dass ich hier immer noch so faul rumlag. Seufzend öffnete ich meine Augen. „Ist ja gut, ich steh ja schon auf“, sprach ich in Gedanken, die einzige Art für Lykaner, sich in ihrer tierischen Gestalt zu verständigen – von der Körpersprache mal abgesehen. Nicht dass Flair mich verstand, aber ich führte ja auch in meiner menschlichen Gestalt immer mal wieder gerne Gespräche mit ihr.

Als Flair wieder bellte, erhob ich mich und schüttelte mein Fell erst mal kräftig aus. Dieses Gefühl der Freiheit, ich liebte es und als ich mich dann einen Schritt bewegte, rastete Flair vor Freude völlig aus. Wie ein kleiner Road Runner raste sie einmal hin, dann wieder zurück, legte sich auf die Lauer, nur um im nächsten Moment durchzustarten, unter mir durchzurennen und dann im Wald zu verschwinden. Sie forderte mich zum Spielen auf.

Nun gut, das konnte sie haben. Ich rieb mich noch an einem Baum, um meinen Geruch zu hinterlassen – schließlich musste ich diese Stelle später wiederfinden – dann jagte ich ihr auch schon hinterher. Natürlich konnte sie mir nicht lange davonlaufen, ihre Beine waren kaum länger als mein Zeigefinger, doch das störte sie nicht. Ganz im Gegenteil. Kaum dass ich die eingeholt hatte, freute sie sich einen Kullerkeks und hüpfte wie ein Flummi begeistert um mich herum. Ihr Bellen schalte dabei durch den ganzen Wald.

Ich zeigte ihr die Zähne, damit die ruhig war – ein überraschender Besucher der mich so sah, war wirklich das letzte was ich wollte – und plumps, schon lag sie auf dem Rücken, und unterwarf sich. Oh Mann.

Ich hob den Kopf, um auf die Geräusche der Nacht zu lauschen. Steckte die Nase in die Höhe, um die fremden Gerüche zu wittern. Natürlich, das hier war ein Wald, einer wie ich schon gefühlte hundert kannte, aber in jedem Wald gab es etwas Neues, etwas besonders, dass ihn einmalig machte und jedes Mal machte ich es mir zur Aufgabe, dieses Neue zu entdecken. Ein Spiel, das ich schon als kleines Kind mit Tante Amber gespielt hatte, wenn sie mit mir hinaus in die Wildnis gefahren war.

Ich stupste Flair an, damit sie sich in Bewegung setzte und begann dann gemächlich durch die nächtliche Dunkelheit zu traben. Meine Augen waren hier nicht zu gebrauchen. Als Wolf sah ich noch schlechter denn als Mensch, doch ein Wolf mit Brille? Nee, das wäre dann doch etwas zu seltsam. Außerdem hatte ich in dieser Gestalt andere Sinne, mit denen ich mich orientieren konnte. Ich nahm Gerüche tausend Mal besser wahr, hörte noch eine Maus in hundert Meter Entfernung durchs Unterholz huschen. Und auch wenn ich trotzdem manchmal einen Baum streifte, oder dagegen rannte, weil ich ihn halt nicht sah, gefiel es mir so umherzuwandern.

Als Wolf durch die Natur zu streifen, berauschte meine Sinne und genau diesem Rausch setzte ich mich nun aus. Meter um Meter, Minute um Minute. Frei, wild, ungezügelt. Irgendwann packte mich die Lust zu rennen, mein Glieder zu strecken und dem Wind um die Nase zu spüren. Aber Flair wäre zu langsam, um mit mir mithalten zu können. Genau für solche Momente hatte ich ihr diesen Spezialanzug besorgt. Er funktionierte eigentlich nicht anders als eine kleine Tasche, in der vier Löcher waren, in die ihre Beine mussten. So konnte sie alleine laufen, oder eben auch von mir getragen werden, ohne dass ich sie ausversehen mit meinen Zähnen verletzen konnte.

Vorsichtig schloss ich meine Schnauze um die ledernen Riemen und hob sie hoch. Dann gab ich einfach Gas und ließ meinem wilden Wesen freien Lauf. Ich rannte, achtete nicht wohin mein Weg mich führte. Ich rannte bis ich meine Lungen protestierten, rannte bis mein Herz in ein wildes Galopp verfiel, rannte immer weiter, ohne ein Ziel vor Augen zu haben. Wenn ich auf vier Beinen lief, liebte ich es einfach zu rennen.

Die Zeit verlor an Bedeutung. Ich wusste nicht wie lange ich schon unterwegs war, als ich Flair schließlich irgendwo im Wald in den Schnee setzte und mit ihr an der Seite langsam den Rückweg antrat. Dieser Freiheit, diese unendlichen Weiten, sie waren wie ein Fest für die Sinne. Ich liebte die Natur und ich liebte es mich als ein Teil von ihr in ihr zu bewegen. Dieser Einklang, diese Ruhe, diese Stille. Nie in meinem Leben fühlte ich mich wohler, als wenn ich das erlebte.

Natürlich brauchte ich für den Rückweg fiel länger, da ich mich jetzt auch mehr auf meine Umgebung konzentrierte. Immerhin musste ich noch etwas Neues entdecken, was es in keinem anderen Wald bisher gefunden hatte. Doch hier, in den Wäldern der Königin musste ich lange laufen. Bis ich einen solchen Ort fand, war fast wieder zurück. Eine Lichtung, immer wieder durchsetzt mit einzelnen Bäumen. Steinkreise bargen Asche vergangener Lagerfeuer. Der Schnee darin war geschmolzen. Umgefallene Baumstämme sorgten für Sitzgelegenheiten. Auch hier war der Schnee entfernt worden. Es konnte noch nicht lange her sein, dass sich hier jemand befunden hatte. Der Geruch nach Alkohol hing genauso in der Luft, wie der nach kalter Asche. Ein versteckter Platz mitten im Wald um ungestört feiern zu können.

Ich lächelte.

So einen hatte ich auch Zuhause in Koenigshain mit meinen Freunden. Da hatte ich auch den Cousin von Kasper kennengelernt, den Kerl von dem ich geglaubt hatte, er wäre meine große Liebe. Bis ich dann mit ihm geschlafen hatte, danach hatte ich es besser gewusst.

Naja, damals war ich noch naive siebzehn gewesen. Jetzt mit reifen zwanzig würde mir so ein Fehler kein zweites Mal passieren. Warum musste ich bei diesen Worten eigentlich an Cio denken? Irgendwas stimmte doch nicht mit mir.

Natürlich, er war witzig und sah bei weitem auch nicht schlecht aus, aber er hatte eine Freundin und was noch viel schlimmer war, er war ein reinblütiger Werwolf. Der würde einen Misto wie mich doch sowieso nur verachten. Oder Schlimmeres. Ich sollte mich wirklich besser an einen netten Menschen halten. Trotzdem konnte ich das kleine Glücksgefühl in meinem Inneren nicht verdrängen, als ich daran dachte, wie er mich auf die Wange geküsst hatte. Natürlich, er hatte es nur getan um mich zu ärgern – was ihm auch gelungen war – doch irgendwie war es auch niedlich gewesen.

Über mich selbst den Kopf schüttelnd bellte ich nach Flair, um den Rückweg zu meinen Klamotten in Angriff zu nehmen. Sofort sauste der kleine Wirbelwind an mir vorbei. Doch anstatt die Richtung zum Schloss einzuschlagen, rannte sie nach rechts, als sei der Teufel selber hinter ihr her. Dabei kläffte sie so laut, dass es wahrscheinlich noch in Koenigshain zu hören war.

Verdammt, Flair, bist du wohl ruhig!“ Natürlich hörte sie mich nicht. Wie den auch? Also blieb mir gar nichts anderes übrig, als ihr hinterher zu rennen, um sie wieder ruhig zu bekommen. Doch, mein Gott, war die Kleine heute flink. Noch dazu hatte sie einen kleinen Vorsprung. Natürlich wäre es für mich nicht weiter schwer gewesen, sie einzuholen, wenn da nicht plötzlich aus dem Nichts dieser Baum gestanden hätte, in den ich voll reindonnerte und damit eine Lawine Schnee auslöste, die von Den Ästen auf mich niedersauste.

Scheiße!“ Das hatte echt wehgetan. Vermutlich würde ich mehr als eine dicke Beule davontragen.

Leicht benommen erhob ich mich wieder auf meine Beine und schüttelte den Schnee aus meinem Fell. Flairs Kläffen war verstummt und weit und breit keine Spur von diesem kleinen Ungeheuer. Na super. Da blieb mir wohl nichts anders übrig, als mein Riechorgan zu benutzten. Aber langsam. Auf eine erneute Kollision konnte ich danken verzichten.

Mit der Nase nahe am Boden folgte ich ihrer Witterung durch den dicht bewachsenen Wald. Hier war kaum Schnee bis auf die Erde vorgedrungen, was es um einiges leichter machte, ihre Fährte zu verfolgen.

Um mich herum waren die Geräusche der Nach nur gedämpft zu vernehmen. Immer weiter lief ich und stieß schon nach kurzer Zeit auf einen kleinen, zugewucherten Trampelpfad, der scheinbar schon lange nicht mehr genutzt worden war. Und Flairs Spur lief genau darauf entlang.

Nun war ich neugierig. Was die kleine Kröte da wohl gefunden hatte? Die einzige Möglichkeit das herauszufinden war, dem kurzen Trampelpfad bis ans Ende zu folgen. Das was mich dort erwartete … wow, plötzlich öffnete der Wald sich vor mir zu einer kleinen Lichtung. Aber sowas hatte ich noch nicht gesehen. Ein kleiner Weiher in der Mitte, über dem die Krone einer leicht schrägen Trauerweide aufragte. Bis auf eine kleine Spur im Schnee war alles unberührt und strahlte so eine Ruhe aus, dass man sich kaum traute sie zu unterbrechen. Dieser Ort hatte etwas Magisches. Wie die Mondstrahlen in dem Schnee reflektierten, dieser Anblick war einfach mystisch. Eine Oase der Ruhe und das Friedens.

Ich traute mich kaum einen Schritt darauf und hätte diese Stille auch nicht gestört, wenn Flair nicht dort hinten vor dem seltsamen Stein gesessen hätte. So blieb mir gar nichts anderes übrig, als zu ihr zu schleichen, möglichst leise, um diesen Frieden zu erhalten.

Der Schnee knirschte unter meinen Pfoten und jeder weitere Schritt von mir zerstörte diese Unberührtheit, aber Flair sah nicht so aus, als würde sie sich in nächster Zeit von ihrem Platz erheben. Sie saß einfach im Schnee und sah auf diesen Stein, als würde er die Geheimnisse ihres Lebens bergen.

Hm, irgendwie war der Stein ja schon seltsam und erst als ich praktisch davor stand, wurde mir auch klar warum. Das war ein Grabstein. Mitten im Wald, auf dieser Oase der Ruhe. Was hatte hier ein Grabstein zu suchen?

Vorsichtig schob ich Flair mit der Pfote zur Seite und befreite den Stein notdürftig vom Schnee, bis ich die eingravierte Schrift darauf lesen konnte.

Elvis the King, der beste Kater der Welt.

Moment, hatte mein Vater mir nicht mal erzählt, dass meine Erzeugerin in ihrer Jugend einen schwarzen, langhaarigen Kater mit Namen Elvis besessen hatte? Das hier musste sein Grabmal sein.

Langsam ließ ich mich im Schnee davor nieder. Mein Vater hatte mir erzählt, dass sie diesen Kater abgöttisch geliebt hatte und auch dass er etwas ganz besonderes gewesen war. Er hatte meine Erzeugerin vor allem beschützt und niemanden außer sie an sich rangelassen. Einmal hatte dieser Elvis meinen Vater wohl die Krallen durchs Gesicht gezogen, als er versuchte meine Mutter zu küssen. Er hatte nicht gewollt, dass sie von jemanden angefasst wurde. Nein, dieser Kater hatte sein Frauchen mit niemanden teilen wollen. Er war etwas ganz besonders gewesen.

Und nun war er tot.

Ich habe gleich gewusst, dass mit dir etwas nicht stimmt.“

Erschrocken von der Stimme in meinem Kopf wirbelte ich herum und sah mich Auge in Auge einem Schokobraunen Wolf gegenüber. An der Schläfe hatte er eine kleine Narbe, aber die brauchte ich nicht um zu wissen, wer da vor mir stand, sein Geruch reichte völlig aus. Cio.

Sein Blick lag auf Flair, die kläffte was das Zeug hielt – auch sie hatte sich erschrocken. Scheiße. Flair war einmalig, sie war das eindeutige Zeichen dafür, wer ich war.

Ich hätte es früher erkannt, aber der Geruch nach Pferd hat es im Verborgenen gehalten.“ Er machte einen Schritt nach vorne, was mich sofort zurückweichen ließ. „Du bist ein Misto, aber nicht nur ein einfaches Halbblut, nein, du bist Vampir und Lykaner.“

Nein, nein, nein, nein, nein! All die Warnungen meines Vaters schossen mir durch den Kopf. Ein Misto wie ich würde niemals Akzeptanz finden, weil ich einfach zu anders war. Sie würden auf mich herabsehen, sie würden mich davon jagen, sie würden niemals einsehen, dass ich zu ihnen gehörte, weil ich ihn ihren Augen ein Nichts war. Eine Kuriosität, ein Fehler der Natur, etwas das es nicht geben durfte. Und die Sitten der Lykaner waren hart. Dort galt das Gesetz des Stärkeren. Sie waren Tiere und genauso würden sie auch handeln.

Mein Herz schlug wie wild in meiner Brust und trotzdem war ich nicht in der Lage mich zu bewegen. Ich bin ein Fehler und Fehler müssen korrigiert werden, schoss es mir durch den Kopf. Das war das was mein Vater mir beigebracht hatte, dass war es, wie sowohl die Vampire, als auch die Werwölfe reagieren würden, wenn sie jemals herausfänden, was ich wirklich war.

Cio neigte den Kopf zur Seite. „Hat es dir die Sprache verschlagen, oder warum sagst du nichts?“

Ich wich einen weiteren Schritt vor ihm zurück. Wenn ich nur genug Abstand wahrte, würde ich abhauen können.

Cio runzelte die Stirn. „Geht es dir gut?“

Geh weg!“, knurrte ich und schnappte nach ihm. Sofort machte er einen Satz rückwärts. Ich zögerte nicht lange, packte Flair bei den Henkeln und rannte in den Wald.

He, nein, Sarah, warte doch mal!“

Das tat ich natürlich nicht und als ich hörte, wie er mir folgte, erhöhte ich mein Tempo sogar noch. Ich hatte keine Ahnung was er jetzt mit mir vorhatte, aber ich würde sicher nicht stehen bleiben, um es zu erfahren. Ich würde zurück zu meinen Sachen rennen, mich verwandeln und dann schnellstens das Weite suchen. Ohne meine Erzeugerin noch einmal zu treffen.

Sarah!“

Darüber durfte ich jetzt nicht nachdenken. Ich hatte keine Ahnung was mit mir passieren würde, wenn die Wahrheit meiner Natur ans Licht käme und ich wollte es auch nicht erfahren, nicht wenn ich an die Worte dachte, die mein Vater mir immer und immer wieder in meinen Kopf gehämmert hatte.

War es Angst die ich verspürte? Ja, verdammt! Wie sollte ich in diesem Moment keine Angst verspüren?

Die Schritte hinter mir kamen näher und im nächsten Moment wurde ich so hart in die Seite gerammt, dass ich mit der Nase im Schnee landete. Ich war wenigstens noch geistesgegenwärtig genug, um Flair rechtzeitig loszulassen, damit ich sie nicht unter meinem Gewicht begrub.

Scheiße“, hechelte Cio neben mir und humpelte einen Schritt. „Ich glaub ich hab mir einen Dorn in die Pfote eingetreten.“ Er richtete seinen Blick vorwurfsvoll auf mich. „Warum zum Teufel bist du weggelaufen? Und warum wolltest du mich beißen?“

Weil Angriff die beste Verteidigung ist!“ Knurrend rappelte ich mich auf die Beine, ließ ihn dabei aber keinen Moment aus den Augen.

Flair war schon längst auf den Beinen, schaute aber etwas verwirrt drein. Ich konnte nur hoffen, dass die Landung nicht zu hart gewesen war.

Nun war Cio etwas verwirrt. „Warum glaubst du dich verteidigen zu müssen?“

Tu doch nicht so!“ Ich bleckte die Zähne. „Mein Vater hat mir ganz genau erklärt was jemand wir du von jemand wie mir hält!“

Cio ging einen Schritt zurück. „Jemand wie dir? Du meinst weil ich jetzt dein dunkles Geheimnis kenne?“ Es schien fast, als würde er grinsen. „Was glaubst du denn bitte, was ich jetzt tun werde?“

Diese Frage ließ meine Lefzen leicht heruntersinken. „Woher bitte soll ich das wissen? Ich bin hier schließlich nicht der überhebliche Reinblüter!“

Du hast wirklich Angst vor mir“, hörte ich seine erstaunte Stimme in meinem Kopf. Dann Seufzte er. „Sarah, ich werde dir sicher nichts tun, nur weil du ein Misto bist. Ich weiß ja nicht was dein Vater dir erzählt hat, aber ich werde dich nicht anrühren. Warum auch?“

Er wollte mir nichts tun? Irgendwie konnte ich ihm das nicht ganz glauben.

Sarah.“ Er machte einen vorsichtigen Schritt auf mich zu, was mich gleich wieder warnend die Zähne blecken ließ. „Jetzt hör doch mal auf mit dem Scheiß.“

Nur wenn du verschwindest!“

Ich soll gehen?“

Das habe ich ja wohl gerade gesagt!“

Still sah er in den Wald, sah die Dunkelheit um uns und seufzte dann. „Okay, ich gehe.“ Er warf mir noch einen letzten Blick zu und verschwand dann mit langen Sätzen zwischen den Bäumen.

Ich traute dem Braten nicht, das war zu einfach gewesen. Geduldig blieb ich wo ich war, lauschte auf die Geräusche die er in der Ferne machte und selbst als ich ihn nicht mehr hören konnte, bewegte ich mich noch nicht vom Fleck. Erst nach einer Ewigkeit, als Flair neben mir fiepte und mir über die Schnauze leckte, gab ich meine Haltung auf.

Scheiße!“, fluchte ich. Jetzt wusste er was ich war und ich musste den Hof verlassen. „Dieser dumme Cio! Warum konnte er sich nicht um seinen eigenen Dreck kümmern?!“ Es half alles nichts. Geschehen war geschehen und das Ergebnis lag nun vor mir. Ich musste gehen und zwar noch in dieser Stunde.

Niedergeschlagen nahm ich Flair an den Riemen hoch und schlich vorsichtig durch den Wald. Zwar hatte ich gehört wie Cio sich entfernt hatte, trotzdem war ich misstrauisch. Wer wusste schon, ob er nicht doch noch irgendwo in der Nähe lauerte. Doch ich konnte den Wald unbehelligt durchqueren, das hieß, bis ich an meinem Ziel ankam, den Strauch unter dem meine Sachen versteckt waren.

Cio stand daneben im Schnee und zog sich hastig einen dicken Pulli über den Oberkörper. „Ist das Kalt.“ Er zwinkerte mir zu. „Ich dachte schon du kommst gar nicht mehr.“ Grinsend ließ er sich in den Schnee plumpsen und begann seine Schuhe zu schnüren.

Und ich? Ich stand da wie hinbestellt und nicht abgeholt und wusste nicht was ich denken sollte. Ich konnte nichts anderes tun als zuzusehen, wie er seine Schuhe band, sich dann wieder aufrichtete und nach seiner Jacke griff, nachdem er sich den Schnee von der Kleidung geklopft hatte. Nur noch die Wollmütze auf den Kopf und er sah aus wie immer. „Der Winter gehört echt verboten, findest du nicht?“ Er grinste mich an und neigte dann nachdenklich den Kopf, als er meine starre Körperhaltung bemerkte. „Willst du dich nicht verwandeln?“ Als ich immer noch nichts sagte, tat er so, als hätte er einen Geistesblitz gehabt. „Oh, verstehe, du willst nicht dass ich dir zusehe. Kein Problem. Ich warte einfach da drüben hinter den Bäumen, aber dann müssen wir uns unterhalten.“ Und schwupp, schon verschwand er hinter den besagten Bäumen.

Und ich stand immer noch dumm in der Gegend herum. Es wollte einfach nicht in meinen Schädel, was hier gerade geschah. Mein Vater hatte mich immer davor gewarnt, hatte immer darauf gepocht aufzupassen, damit niemand erfuhr wer ich wirklich war und ich hatte mir Horrorszenarien ausgedacht, was geschehen könnte, aber das? Nein, das passte einfach nicht ins Bild.

Vielleicht lag es aber auch einfach nur daran, dass er Cio war, vielleicht war er gar nicht so wie die anderen. „Zweifelhaft“, sagte ich mir. „Nichts als Wunschdenken.“

„Was ist Wunschdenken?“

Mist, hatte ich das etwas laut gesagt? Ich sollte dringend damit aufhören Selbstgespräche zu führen.

„Sarah?“

Nichts.“

„Na dann beeil dich mal ein wenig, bevor ich mir noch was Wichtiges abfriere.“

Seufzend ließ ich Flair auf den Boden, die sofort Richtung Cio abzischte. So wirklich gefallen wollte mir das nicht, aber ich zweifelte daran, dass der Lykaner meinem armen, kleinen Hündchen ein Haar krümmen würde. Trotzdem lauschte ich bei meiner Rückwandlung auf jedes noch so kleine Geräusch, aber das hörte sich nicht nach Mord und Totschlag an, sondern eher als würde Flair gerade einen neuen Freund finden.

Sobald ich mein warmes Fell los war, zitterte ich wie Espenlaub. Hastig zog ich meine Kleidung aus dem Gebüsch und streifte sie mir in Rekordgeschwindigkeit über. Leider half es nicht sehr viel. Um diese Zeit war es hier kälter, als ich geglaubt hatte und da brachte ein einfacher Pulli nicht viel – besonders nicht, weil ich ihn die ganze Zeit in dieser Eiseskälte gelagert hatte. Meine Füße landeten noch in meinen Stiefeln, bevor ich die Brille auf der Nase hatte und dann … stand ich wieder einfach nur da. Okay, ich gab es zu, es ängstigte mich ein wenig Cio gegenüber zu treten. Aber ich konnte hier ja auch nicht ewig stehen und Wurzeln schlagen.

Los, gib dir einen Ruck! Für den Notfall hatte Papa mir auch noch Selbstverteidigung beigebracht. Es war nicht viel, aber es könnte reichen. Okay, noch einmal tief durchatmen. „In Ordnung, ich bin dann so weit.“

Er linste hinterm Baum hervor und grinste. „Schicke Hosen.“

Okay, das hätte jetzt nicht sein müssen. Aber war ja irgendwie klar, dass er sofort das Loch an meinem Schenkel bemerken musste. Hastig legte ich eine Hand darauf und funkelt ihn böse an. „Du wolltest reden, dann rede.“

Grinsend trat er hinterm Baum hervor, Flair auf dem Arm.

„Und gib mir gefälligst meinen Hund!“

Er schüttelte den Kopf. „Erst wenn du mit mir geredet hast und …“ Er stockte und zog die Augenbrauen zusammen. „Was hast du da an der Stirn?“

Um das herauszufinden, musste ich nur einmal gegentippen. Zischend ließ ich die Hand wieder sinken. „Eine dicke Beule“, sagte ich dann.

„Das sehe ich auch. Eigentlich wollte ich wissen, woher du die hast, weil heute Mittag hattest du die noch nicht.“

Als wenn ich ihm sagen würde, dass ich wegen meiner Sehschwäche frontal einen Baum geknutscht hatte. „Das geht dich nichts an.“

„Okay.“ Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Aber jetzt komm, ich will aus diesem Wald heraus und reden können wir auch unterwegs.“

„Du willst mit mir jetzt wirklich einen Spaziergang durch den Wald machen?“

„Wenn ich damit ins Warme komme, auf jeden Fall.“ Er winkte mich mit dem Arm heran. „Und jetzt beweg dich endlich. Ich beiße schon nicht.“

„Da bin ich mir im Augenblick gar nicht so sicher“, murmelte ich und ignorierte sein Lachen.

Mit einigem Abstand lief ich neben ihm her und überlegte, ob ich es schaffen könnte, ihm Flair einfach wegzunehmen und wegzurennen, ohne dabei auszurutschen und mit dem Hintern im Schnee zu landen – zweifelhaft, wie ich mir eingestehen musste.

„Du hattest eben wirklich Angst vor mir, kann das sein?“ Er beobachtete mich von der Seite, aber ich sagte kein Wort. „Hast du wirklich geglaubt, ich könnte dich verletzten, nur weil du ein Misto bist?“

Ich drückte die Lippen fest zusammen. Mein Vater hatte es mir so beigebracht, was also hätte ich sonst denken sollen? Und noch immer schwebten da Zweifel in meinem Kopf, ob es wirklich richtig war, hier neben ihm zu laufen. Ich konnte schließlich nicht genau wissen, was er vorhatte und musste auf sein Wort vertrauen. Aber Vertrauen war im Moment etwas, dass ich nur schwer aufbringen konnte.

„Sarah, wie kannst du nur auf so einen Schwachsinn kommen? Ich meine, habe ich mich irgendwie aggressiv aufgeführt, ohne dass ich es bemerkt habe?“

„Du hast dich von hinten angeschlichen.“

„Ich hab mich nicht angeschlichen. Du warst nur so in Gedanken vertieft gewesen, dass du mich hast nicht kommen gehört.“

„Flair hat dich auch nicht gehört.“

„Was? Natürlich hat sie mich gehört“, protestierte er sofort. „Sie ist mir sogar entgegen gelaufen. Erst als du so ausgerastet bist, ist sie das auch.“

Was?

„Wirklich“, beteuerte er.

Konnte das Stimmen? Hatte ich vielleicht wirklich überreagiert?

„Sarah, es ist nicht schlimm, dass du ein Misto bist, auch wenn ich nicht ganz verstehe, wie du Wolf und Vampir sein kannst. Und ja, es ist schon wahr, dass wir nicht alle so gut mit deinesgleichen können, aber das ist meisten nur im Hochadel so. Der kleine Mann von heute sieht das ganz anders.“

Meinesgleichen, wie sich das anhörte. Als wäre ich irgendwas Abscheuliches, das versteckt gehörte. So wie mein Vater es die ganzen Jahre über getan hatte. Ich biss die Zähne zusammen.

„Ich hab keine Probleme damit, ganz im Gegenteil, ich finde dich ausgesprochen interessant.“

Das brachte ihm einen äußerst misstrauischen Blick ein.

„Jetzt ergibt auch deine Unwissenheit und dein ganzes Verhalten ein Sinn. Du lebst unter Menschen, hab ich recht?“

„Wie kommst du denn bitte darauf?“

„Wie du heute Mittag schon so schön gesagt hast, mein hübsches Äußeres soll nur über mein Hirnschmalz hinwegtäuschen. Schon ein einfacher Misto würde es nicht ganz leicht haben unter uns zu leben, doch du gehörst nirgends dazu. Werder Fisch noch Vogel, so sagt man doch so schön. Wo sonst könntest du leben, als unter den Menschen?“

„Schön dass du meine Situation so gut erläutern kannst.“

„Mann, das sollte kein Angriff sein. Ich fasse einfach nur Fakten zusammen.“ Er grinste mich wieder spitzbübisch an. „Und ich muss an dieser Stelle noch anbringen, mein Instinkt hat mich nicht getäuscht, du hattest ein Geheimnis. Und ich habe es gelüftet.“

„Ja, freu dir ´nen Kullerkeks und beiß die Ecken ab.“

Sein Lächeln erstarb und machte einem tiefen Seufzer Platz.

Die nächsten Minuten liefen wir schweigen nebeneinander. Der Wald wurde langsam lichter und schon bald tauchte die Koppel des Schlosses vor uns auf. Wenn wir dem Zaun folgten, würde es nicht mehr lange dauern, bis wir zurück am Schloss waren.

Als ein eisiger Wind aufzog, schlang ich frösteln die Arme um den Oberkörper. Cio hatte schon recht, es war wirklich kalt.

„Frierst du?“

„Nein, ich laufe immer so herum, weil mir das so gut gefällt.“ Tja, blöde Fragen und so.

„Warte mal kurz.“ Cio steckte sich Flairs Riemen zwischen die Zähne und zog sich seine Jacke aus. Ich wollte schon protestieren, aber da hatte er sie mir bereits um die Schultern gehangen und war lächelnd einen Schritt zurück gegangen. Und dann klemmte er Flair wieder unter seinen Arm. „So ist es besser.“

Was sollte ich da noch sagen, außer einem schüchternen: „Danke.“

„Kein Problem.“ Er lief jetzt etwas näher neben mir. Vor uns ragte bereits das Schloss in der Dunkelheit auf. „Würdest du mir jetzt ein paar Fragen beantworten? Ich meine, ich kenne dein kleines Geheimnis ja jetzt, also brauchst du dich vor mir nicht zu verstellen.“

Zum Glück kannte er nur einen kleinen Teil meines Geheimnisses. Ich wollte gar nicht wissen, was sonst los wäre.

„Ach komm schon, wir sind doch jetzt Freunde. Ich verspreche auch, dass ich nichts weitersagen werde. Ehrenwort.“

Wie ernst er das sagte. Aber ich konnte ihm trotzdem nicht so recht glauben. „Was willst du denn wissen?“

„Hauptsächlich, wie es möglich ist, dass du sowohl Vampir, als auch Wolf sein kannst? Davon habe ich noch nie gehört. Von Halbwölfen und Halbvampiren ja, aber ansonsten?“ Er zuckte unbestimmt mit den Schultern.

Sollte ich es ihm sagen? Eigentlich war es doch egal, solange ich keine Namen nannte. „Und du wirst es wirklich für dich behalten?“

„Klar, ich bin doch keine Tratschtante. Deine Geheimnisse sind auch meine Geheimnisse.“

„Wie kann ich mir sicher sein?“

„Hm, schwere Frage.“ Er dachte übertrieben gespielt darüber nach, bevor ihm wohl ein Licht aufging. Seine Gestik dazu, einfach süß. „Ich hab es. Ich erzähl dir ein Geheimnis von mir und dann bist du dran, in Ordnung?“

Na ob seine Geheimnisse so viel wert waren, wie meine? Das bezweifelte ich ja schon stark. Trotzdem interessierte es mich irgendwie, was er zu erzählen hatte. „Aber nicht so ein Geheimnis, von wegen, mit fünf habe ich heimlich die Kekse aus der Küche geklaut.“

„Nicht?“ Er kratzte sich übertrieben am Hinterkopf. „Dabei wollte ich genau das erzählen. Meine Mutter glaubt bis heute, dass es mein Vater war und ich möchte eigentlich nicht, dass sich daran etwas ändert.“

Eltern und Kekse, davon konnte ich ein Lied singen. „Nein, es muss ein richtig großes Geheimnis sein, so wie meins. Sonst sage ich kein weiteres Wort zu diesem Thema.“

„Okay, überzeugt.“ Er blieb stehen und zum ersten Mal seit ich ihn getroffen hatte, war jeglicher Spaß aus seinen Zügen verschwunden. „Aber du musst mir versprechen es wirklich für dich zu behalten, weil … naja, ich könnte in ernsthafte Schwierigkeiten kommen, wenn das jemand erfährt.“

Es schien ihm wirklich sehr ernst zu sein. „Okay“, sagte ich vorsichtig, „ich verspreche zu schweigen.“

Ein leichtes Lächeln erschien um seinen Mund. „Kann ich dir wirklich nicht von den Keksen erzählen?“

Darauf reagierte ich erst gar nicht.

„Na gut, du hast gewonnen.“

Eine Weile liefen wir schweigend an der Koppel entlang. Der Schnee knirschte bei jedem unserer Schritte. Ich kuschelte mich tiefer in Cios Jacke und genoss den angenehmen Geruch. Es dauert eine Weile, bis er den Mund öffnete.

„Wusstest du, dass Aric als Zwilling geboren wurde?“, fragte er dann.

Ich nickte. „Ja, das ist mir bekannt.“ Das war zwar etwas, das mir mein Vater nicht erzählt hatte, doch da ich seine Lebensgeschichte genau wie die von Cayenne und Kaira verfolgte, war ich schon vor Jahren darauf aufmerksam geworden. Aric war durch einen Angriff auf Cayenne fast zwei Monate zu früh auf die Welt gekommen. Er hatte es überlebt, das Mädchen, das mit ihm im Mutterleib gewesen war, nicht.

Er ließ eine Hand in seiner Hosentasche verschwinden. „Das Grabmal von Arics Schwester, steht auf der Begräbnisstätte der Alphas. Es ist eine drei Meter hohe Statur eines kleinen Wolfs mit Flügeln, der über einem Sockel fliegt. Der Künstler, der diese Skulptur angefertigt hat, hat es irgendwie fertig gebracht, dass es wirklich aussieht, als würde dieser kleine Wolf über dem Sockel schweben.“

Das hörte sich schon an. Und traurig.

Einen Moment blieb er still. „Auf der Stirn von diesem Wolf ist ein kleiner Saphir eingearbeitet. Er symbolisierte die Seele von Leukos.“

„Wer ist Leukos?“

Das brachte mir wieder einen dieser Blicke ein, unter denen ich mir sehr dumm vorkam. „Kennst du dich gar nicht mit der Geschichte der Lykaner aus? Also mit ihrem Ursprung?“

„Kaum“, musste ich zugeben. „Ich weiß nur das, was meine Cousine mir einmal erzählt hat. Angeblich war der Mond einsam und hat deswegen bitterlich geweint. Seine Tränen fielen auf die Erde und aus ihnen entstanden die ersten Lykaner. Beziehungsweise, es waren keine Tränen, die auf die Erde fielen, sondern Meteoriten.“ Und sollte das wirklich stimmen, wären die Lykaner eigentlich Aliens. Der Gedanke war ziemlich schräg.

Er nickte. „Genau. Und Leukos entstieg diesem Meteoriten. Er ist der Urvater der Lykaner, sowas wie der Adam der Menschen. Angeblich stammt jeder Lykaner ursprünglich von ihm ab.“

Wie bereits erwähnt: Schräg.

„Als Leukos starb, blieb seine Seele in einem blauen Topas zurück. Er existiert noch heute, Cayenne besitzt ihn, ich habe ihn einmal gesehen.“

Und so wie es sich anhörte, war er ziemlich stolz darauf. „Und was hat das mit dem Grabmal zu tun?“

„Im Grunde nichts“, räumte er ein. „Der Saphir in dem Grabmal, war einfach nur ein Symbol. Er sollte nichts anderes bedeuten, als dass dieser kleine Lykaner sich nun in der Obhut unseres Urvaters befindet.“

Zwischen meinen Augenbrauen erschien eine kleine Falte. „Was meinst du mit war?“

Der Zug um seinen Mund bekam etwas gequältes. „Der Saphir wurde wurde vor sechs Jahren gestohlen.“

Was? „Jemand hat das Grabmal eines toten Babys geschändet?“

Die Qual in seinem Gesicht nahm noch eine Spur zu. „Nicht jemand.“ Er zögerte und sagte dann. „Ich. Ich hab den Saphir geklaut.“

Mein Mund ging auf, aber es kam nichts raus. Dazu fiel mir wirklich nichts mehr ein. Was war er denn für ein kranker Kerl?

„Bitte schau mich nicht so an. Ich habe es schon bereut, kaum dass ich es getan hatte.“

„Warum hast du es denn getan?“

Flair kläffte einmal, als wollte sie ihm genau die gleiche Frage stellen.

„Es war eine Mutprobe zwischen mir und Aric. Ich war damals elf Jahre gewesen und wir hatten uns gegenseitig immer wieder Aufgaben gestellt, eine dümmer als die anderen. Das war das was ich tun musste, wenn ich da Spiel nicht verlieren wollte.“

Wieder liefen wir schweigend nebeneinander her. In der Ferne konnte ich schon den Stall erkennen. Nicht mehr lange, dann waren wir wieder da.

„Und, hat es sich wenigstens gelohnt?“

Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Im ersten Moment hat es sich gut angefühlt. Ich hatte meine Aufgabe bestanden, aber das fehlen des Saphirs ist natürlich schnell aufgefallen. Das ganze Rudel war deswegen unheimlich wütend und Cayenne … ich habe sie kaum wiedererkannt. Sie war so verzweifelt gewesen. Erst danach wurde mir klar, was ich da angestellt hatte. Ich hatte die Erinnerung an ihr Baby geschändet und entweiht.“

Und dazu noch einen sehr wertvollen Stein geklaut. „Was hast du mit dem Saphir gemacht?“

„Ich hab ihn zurückgebracht, sobald ein wenig Gras über die Sache gewachsen war.“ Er schüttelte den Kopf, als könnte er noch immer nicht glauben, dass er damals so töricht gewesen war. „Ich habe ihn in Bleiche gelegt, damit mein Geruch von ihm verschwand und ihn dann auf ihr Grab gelegt. Heute ist er wieder da, wo er hingehört.“

Das erklärte, warum niemand wusste, dass Aric und Cio dahinter steckten. „Du hast deinen Fehler eingesehen, das muss man dir zu Gute halten.“

Er verzog das Gesicht. „Ich hab deswegen aber immer noch ein schlechtes Gewissen.“

„Das Gewissen hindert uns nicht, Sünden zu begehen, aber es hindert uns, sie zu genießen.“

Er schenkte mir ein kleines Lächeln. „Ich glaub das waren die weisesten Worte, die ich jemals gehört habe.“

„Ja, manchmal habe ich solche Momente. Meist nachdem ich chinesische Glückskekse gegessen habe.“ Nicht, dass ich diese Weisheit aus einem Glückskeks hatte, sie stammte von dem spanischen Diplomat und Schriftsteller, Salvador de Madariaga.

„Glückskekse, hm? Und ich dachte, hinter dieser Brille versteckt sich ein schlaues Köpfchen.“

„He, um sich diese ganzen Weisheiten merken zu können, muss man schon ein bisschen was Grips der Birne haben.“

Er lachte leise. „Da ist wohl was dran. Und apropos dran, jetzt bist du dran.“

„Ja, deine Frage, ich erinnere mich.“ Auch wenn es mir nicht besonders gefiel. „ Schieß los.“

„Eigentlich gibt es da nur eine Sache, die mich an deinem Geheimnis brennend interessiert. Wie kann so ein süßer, kleiner Vampir auch ein Lykaner sein.“

Ich zog eine Augenbraue hoch. „Süßer Vampir?“

„Ich mag Vampire.“ Er zwinkerte mir zu. „Manchmal lasse ich mich sogar ganz gerne von ihnen Beißen. Das ist ein tolles Gefühl, aber das weißt du ja sicher.“

„Nein“, musste ich einräumen und schüttelte den Kopf. „Ich lebe unter Menschen. Du weißt schon, weder Fisch noch Fleisch.“ Damit waren wir wohl wieder beim eigentlichen Thema angekommen. Ich seufzte, zögerte noch einen Moment. Aber dann dachte ich, dass er mir auch sein Vertrauen geschenkt hatte. Außerdem, was sollte schon groß passieren? Viel schlimmer konnte es ja kaum noch werden. „Meine Erzeugerin ist ein Misto, halb Lykaner. Ihr menschlicher Anteil hatte es ihr erlaubt, sich in einen Vampir zu verlieben. Tja, das Erlebnis dieser gescheiterten Liebe siehst du hier vor dir.“

„Deine Eltern sind also nicht mehr zusammen?“

„Nein, meine Erzeugerin hat mich kurz nach meiner Geburt an meinen Vater übergeben.“

„Du bist also ohne Mutter aufgewachsen?“

„Oh nein, ich habe eine Mutter. Nur ist sie nicht die gleiche Frau, die mich zur Welt gebracht hat.“

„Verstehe.“

Wir liefen am Stall vorbei. Das Gebäude in dem ich ein Zimmer bezogen hatte, war nur noch fünf Minuten entfernt. Langsam sollte ich mir Gedanken darüber machen, was ich zu tun gedachte, wenn ich dort angekommen war. Konnte ich auf Cios Wort vertrauen und bleiben, oder war es doch sicherer, sich sofort aus dem Staub zu machen?

Plötzlich blieb Cio stehen, und runzelte die Stirn. „Hörst du das?“

„Was?“

„Na diese Stimmen.“

Ich lauschte angestrengt und tatsächlich, da waren ein paar aufgebrachte Stimmen.

„Das kommt aus dem Vorhof.“ Er sah kurz zu mir. „Da muss was passiert sein.“ Und schon lief er los.

„Hey, gib mir gefälligst meinen Hund, bevor du einfach abhaust!“ Mist, jetzt musste ich dem auch noch hinterher rennen. Aber ich würde ihm sicher nicht meine arme, kleine Flair überlassen. Doch ich kam gar nicht so weit ihn einzuholen, denn kaum war ich um die Ecke gerannt, traf mich der Schlag. Ich hielt so abrupt an, als sei ich gegen eine Wand gelaufen.

Cio stand nur einen halben Meter neben mir, doch das bemerkte ich kaum. Meine Augen waren ungläubig auf die fünf Personen vor mir gerichtet, die im Vorhof vor dem offenen Fallgitter standen und heftig miteinander stritten. Vor einem mir nur allzu bekannten Wagen stand ein großgewachsener Mann, den mein Vater mir auf Bildern als Diego vorgestellt hatte, der nicht nur der Leibwächter, sondern auch der beste Freund meiner Erzeugerin war. Die linke Hälfte seines Gesichts war von drei langen Narben verunstaltet, so als hätte ihm jemand seine Krallen durchs Gesicht gezogen. Doch er stand nur im Hintergrund und beteiligte sich nicht an dem Streit, der zwischen Sydney, meiner Erzeugerin und meinen Eltern ausgebrochen war.

Ja, dort vorne stand mein Vater, leibhaftig in Person. Und zornig, beschrieb ihn nicht mal annähernd.

„… Kasper, er hat gesagt, dass er sie zum Bahnhof gefahren hat“, schleuderte er meiner Erzeugerin wütend entgegen. „Sie wollte hier her!“

„Ich hab sie gesehen“, kam es da von Sydney.

„Was?“ Die Anspannung im Körper meines Vaters wuchs deutlich an.

Meine Erzeugerin schlug fassungslos die Hände vor dem Mund. Trotzdem waren ihre nächsten Worte sehr deutlich zu verstehen. „Zaira ist … sie ist hier?“

 

°°°°°

Erzeugerfraktion

 

„Du widerliche Narbenfratze! Du weißt das sie hier ist und hast kein Ton gesagt?!“

„Ys-oog!“

Weder der Ausbruch meines Vaters, noch der abfällige Spitzname, mit dem er ihn bedachte, schien Sydney zu beunruhigen. Er blieb völlig entspannt, als er erwiderte: „Sie schien nicht zu wünschen, dass du über ihren Aufenthalt hier Bescheid weißt. Ihre genauen Worte waren: der würde mich vermutlich umbringen, wenn er wüsste dass ich hier bin. Also hielt ich es für angebrachter zu schweigen.“

„Du hässliches Scarface!”

„Ryder!“, rief meine Erzeugerin entsetzt.

„Glaubst du ich würde meiner Tochter etwas antun?! Du wusstest dass sie hier ist und hast es nicht für nötig gehalten es jemanden zu sagen? Das ist meine Tochter, du verdammtes Arschloch! Machst du dir eigentlich eine Vorstellung davon was ich mir für Sorgen gemacht habe?!“

Mein Vater erhob den Anschein, als würde er sich gleich auf Sydney stürzen wollen. Das sah dieser Diego wohl auch so, denn er stand plötzlich zwischen Fronten – ehrlich, einfach so. Ich hatte gar nicht gesehen, wie er sich bewegt hatte – und legte meinem Vater die Hand auf die Brust, um ihn zurückzuhalten.

Sofort schlug Papa seinen Arm weg. „Fass mich nicht an, Diego! Dafür bin ich im Moment echt nicht in Stimmung!“

„Dann beruhige dich mal ein bisschen“, erwiderte Diego ruhig. „Deine Tochter muss hier ja irgendwo sein, wir müssen sie nur suchen.“

Die Sekunde der Stille die folgte, nutzte Flair um einmal laut zu kläffen. Sofort waren Cio und ich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, ohne etwas dagegen tun zu können.

„Donasie!“, quietschte meine Mutter. Im nächsten Moment merkte ich nur noch wie mich ihr Körper rammte und sie mich fest in ihre Arme zog. Ehrlich, sie war zwar einen ganzen Kopf kürzer als ich, brachte mich damit aber trotzdem ganz schön ins straucheln. Und dann begann sie auch noch damit alles an mir systematisch abzutasten, als befürchtete sie, Teile von mir könnten irgendwie abhandengekommen sein. Kopf, Gesicht, Arme, Beine. Ihre Hände flogen hektisch über meinen ganzen Körper. Einmal schlug sie mir in ihrer Hast auch noch fast die Brille von der Nase. Und die Beule berührte sie besorgt mehr als einmal – Au-a!

„Mama, lass das … Mama.“ Als sie dann mit ihrer Untersuchung von Vorne beginnen wollte, hielt ich ihre Hände fest. „Mama, mir geht es gut, alles noch dran.“

„Aber, Donasie, wir haben uns Sorgen gemacht. Keine wusste wo du bist!“, warf sie mir vor. Sie drückte meine Hände ganz fest, doch mein Blick ging über ihre Schulter hinweg zu meinem Vater, der uns mit verkrampftem Kiefer beobachtete. Und sein Blick, so verletzt und voller Enttäuschung. Ich würde wohl niemals vergessen, wie er mich in diesem Moment ansah. „Papa, ich …“

„Steig einfach in den Wagen.“

Ich drückte die Lippen zusammen. „Aber ich …“

„Sofort!“

Mama drückte meine Hand. „Er hat sich nur Sorgen gemacht, Donasie.“

Tat er das nicht immer? Ich meine, ich verstand ihn ja, aber das hier … ich warf einen kurzen Blick zu meiner Erzeugerin, die mich mit geweiteten Augen anstarrte, als könnte sie es nicht fassen, dass ich das kleine Baby von damals sein sollte und wirklich hier war.

„Darf ich wenigstens noch meine Sachen holen?“, fragte ich leise.

„Nein, du steigst auf direktem Wege in den verdammten Wagen!“ Er ging auf Cio zu, der das alles verwirrt beobachtete und nahm ihm Flair aus der Hand, um sie mir in den Arm zu drücken. „Du machst keine weiteren Umwege mehr. Du hast mich heute schon genug enttäuscht.“

Das saß. Ich drückte die Lippen fest aufeinander und ließ mich am Arm von meinem Vater mitziehen.

„Nein!“, rief da meine Erzeugerin. „Nein, nein, nein, nein, nein!“ Sie rannte uns hinterher, hielt meinen Vater mit den Händen auf der Brust auf. „Du kannst sie nicht einfach mitnehmen. Tu mir das nicht an.“ Sie warf mir einen kurzen Blick zu. „Ich … ich hab so lange darauf gewartet. Bitte, nimm sie noch nicht mit.“

„Und was soll das bringen?“, fragte er leise. „Ob wir jetzt gleich gehen, oder erst in ein paar Tagen, du wirst sie so oder so nicht wiedersehen.“

„Bitte.“ In ihren Augen sammelten sich Tränen. „Nur ein paar Tage, ich will sie doch nur kennenlernen und … und … ich weiß das ich damals einen Fehler gemacht habe. Ich hätte nicht mit den Ailuranthropen reden dürfen, aber ich kann es nicht mehr rückgängig machen.“

„Das kann wohl niemand, Cayenne und jetzt müssen wir damit leben. Es bleibt dabei, wir gehen.“

„Nein!“ Ihrem Ruf lag eine Macht inne, die mich zusammenzucken ließ. Es war wie ein Geruch in der Luft, der meine Instinkte ansprach und den Wunsch in mir weckte, zu gehorchen und in Deckung zu gehen. Und nicht nur mir ging es so. Alle Anwesenden zogen plötzlich die Köpfe ein – selbst Flair. Nur nicht mein Vater und meine Mutter.

„Bitte“, fleht meine Erzeugerin ihn an. „Gib mir nur ein paar Tage um sie kennen zu lernen, nur bis … Freitag! Freitag hat sie Geburtstag. Lass mich nur einen Geburtstag mit ihr verbringen, nur einmal. Bitte.“

„Cayenne“, seufzte mein Vater. „Das …“

„Bitte.“

Er kniff die Lippen zusammen und sah zu meiner Mutter.

„Bitte“, flehte meine Erzeugerin erneut. „Ich tu alles was du willst, aber bitte gib mir ein paar Tage mit ihr. Nur bis zu ihrem Geburtstag.“

„Ys-oog, lass uns bleiben.“

Nach den Worten meiner Mutter, sah meinen Vater sie ungläubig an und begann mit dem Kiefer zu mahlen.

Ich wagte es einen Blick zu meiner Erzeugerin zu werfen. Sie bangte genauso um die Entscheidung meines Vaters wie ich. Würde er uns die Tage geben? Würde er mich bleiben lassen, um meine Erzeugerin ein wenig kennen zu lernen?

Sein Blick traf mich. Nur einen Moment konnte ich ihm standhalten, dann senkte ich den Kopf. Ich wollte nicht sehen, was mir seine Augen zeigten, wollte nicht sehen, was ich ihm angetan hatte. Mit meinen Lügen hatte ich ihn nicht nur verletzt, sondern auch hintergangen.

„Ys-oog, sie wünscht sich das schon so lange.“

„Gnocchi, ich …“

„Du siehst doch wohin es geführt hat, dass du es ihr verboten hast. Los“, forderte sie ihn auf, „lass uns bleiben. Nur ein paar Tage.“

„Hast du vergessen was Tyrone erzählt hat?“, fragte er sie. „Sie sind hier. Am Hof.“

Was auch immer er damit meinte, es sorgte dafür, der der Schatten der Angst über das Gesicht meiner Mutter huschte und sie einen Moment zögern ließ. „Dann sollten sie wohl besser nicht erfahren, dass ich es auch bin.“ Für einen Moment fixierte sie Cayenne mit einem sehr eindringlichen Blick, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf meinen Vater richtete. „Es sind doch nur ein paar Tage.“

Seine Kinnlinie verhärte sich. Er wollte das nicht. Er wollte uns nur in den Wagen bugsieren und uns dann so schnell wie möglich von hier fort schaffen.

„Es wird nichts passieren“, versicherte sie ihm. Sie sah ihm so lange in die Augen, bis seine angespannten Schultern ein wenig herabsanken. Als er dann auch noch seufzte, erkannte ich, dass er sich geschlagen gab. Er hatte meiner Mutter noch nie einen Wunsch verwehren können. „In Ordnung, wir bleiben. Aber gleich Samstagmorgen reisen wir ab.“

„Oh danke.“ Meine Erzeugerin fiel ihm um den Hals, wurde von ihm aber sofort wieder weggeschoben.

„Lass das, Cayenne. Ich tu das sicher nicht für dich.“

„Nein“, sagte sie. „Natürlich nicht.“ Diese Worte schienen sie verletzt zu haben. Sie presste kurz die Lippen aufeinander. „Ich werde euch dann ein Zimmer herrichten lassen, damit ihr …“

„Nein.“ Mein Vater schüttelte den Kopf. „Wir gehen ins HQ und suchen uns dort ein Zimmer. Wie du sicher noch weißt, sind Vampire im Schloss nicht erwünscht.“

Sie funkelte ihn an. „Willst du so wieder anfangen, ja? Ich habe dir bereits gesagt, dass es mir leid tut und ja, ich gebe gerne zu, dass ich mich nicht hätte einmischen sollen, aber …“

„Vergiss es einfach, Cayenne. Es ist Vergangenheit und hat nichts mehr zu bedeuten. Sorge einfach dafür, dass sie vom HQ wegbleiben, sonst sind wir nämlich ganz schnell wieder weg.“

„Keine Sorge, sie dürfen das HQ sowieso nicht betreten.“

Ich runzelte die Stirn. Was ging hier vor?

Mein Vater schien noch etwas sagen zu wollen, schüttelte dann aber den Kopf, als wollte er den Gedanken ganz schnell wieder loswerden. „Gut“, sagte er dann nur. „Und wenn du uns jetzt entschuldigst, es ist schön spät und ich würde gerne noch ein wenig Schlaf bekommen.“ Er warf mir noch einen Blick zu und setzte sich dann ohne ein weiteres Wort in Bewegung.

Ich zögerte, sah zu meiner Erzeugerin die meinem Vater mit einem ernüchterten Blick hinter schaute.

„Komm, Donasie.“ Meine Mutter nahm meine Hand und zog mich mit sich, als sie Papa folgte, sodass ich mich langsam in Bewegung setzte. Doch ich konnte meine Augen einfach nicht von meiner Erzeugerin wenden und als sie mich vorsichtig anlächelte, lächelte ich genauso vorsichtig zurück. Sie hatte gewollt, dass ich blieb. Sie wollte meinen Geburtstag mit mir feiern. Ich konnte es immer noch nicht richtig glauben. Sie wusste, dass ich am Freitag Geburtstag hatte. Und … und … sie wollte mich kennenlernen.

„Ähm … Sarah“, rief da plötzlich Cio hinter mir. Der war ja auch noch da.

Ich drehte mich halb zu ihm um.

„Denk dran, was du mir versprochen hast.“ Er zwinkerte mir zu. „Wir sehen uns dann morgen.“

Ich nickte, obwohl ich nicht ganz wusste, was das jetzt wieder von ihm sollte.

„Wer ist das?“, fragte meine Mutter, als wir unter dem offenen Fallgitter hindurch traten und dann direkt an dem Schlossportal vorbei gingen. Keiner von uns achtete auf die Wachleute.

„Cio. Ich glaube er ist der Sohn von Diego. Und er hat gesagt, er sei Arics Umbra. Das ist so eine Art spezieller Leibwächter. Naja, er ist noch in der Ausbildung, sagt er.“

„Halt dich von ihm fern“, kam es von meinem Vater.

Ich runzelte die Stirn. „Warum?“

Ohne anzuhalten, oder sich umzudrehen, stellte er eine Gegenfrage. „Wo warst du gerade mit ihm gewesen?“

„Ys-oog“, tadelte meine Mutter. „Das geht dich nun wirklich nichts an. Wenn sie auch endlich jemand zum Küssen hat, solltest du dich für sie freuen, denn das ist etwas Gutes.“

Oh Mann, konnte mich bitte wer erschießen? Oder meine Mutter ein bisschen weniger euphorisch werden lassen? Ihre Begeisterung trieb einem ja fast die Schamesröte ins Gesicht.

„Er ist ein Reinblüter“, erwiderte mein Vater schlicht. „Außerdem sind wir in fünf Tagen eh wieder weg.“

Ein „Und deswegen darf ich hier niemanden küssen?“ konnte ich einfach nicht runterschlucken. Ich meine, was bildete er sich eigentlich ein? Klar, er war mein Vater, aber irgendwo musste doch mal eine Grenze gezogen werden. Wahrscheinlich dachte er, ich sei immer noch Jungfrau – und aus diesem Glauben würde ich ihn sicher nicht rausreißen.

„Halt dich einfach von ihm fern“, wiederholte er.

Ich biss die Zähne zusammen und reagierte auch nicht auf den tröstenden Druck von Mamas Hand. Das war wieder so typisch für ihn. Natürlich, ich freute mich dass er mir endlich erlaubte meine Erzeugerin kennen zu lernen, aber deswegen musste er doch nicht gleich wieder den Drillmaster raushängen lassen. Das war wieder so … ahrrr!

Schweigend liefen wir durch die ganze Winterlandschaft des Vorhofs und erst als Flair sich in meinem Arm bewegte, bemerkte ich, dass ich noch immer Cios Jacke hatte. Die würde ich ihm zurückgeben müssen, es war schließlich seine.

Als wir vom Weg nach rechts zwischen dem Schloss und der Außenmauer abbogen, fragte ich mich zum ersten Mal, wo wir hier eigentlich waren. Diesen Teil des Geländes hatte ich mir noch nicht angesehen. Er sah viel gepflegter aus, als der mit den Ställen. Dort vorne war ein großes Nebengebäude, in dem trotz dieser späten Stunde noch mehrere Fenster hell erleuchtet waren. Ich sah sogar ein paar Leute davor stehen und eine rauchen. Ein anderer rieb sich die Arme und verschwand dann nach drin.

Mein Vater hielt genau auf dieses Gebäude zu. Über dem Türsturz war ein Schild angebracht. „Fiat iustitia!“ stand darauf. Wenn mich nicht alles täuschte, dann war das Lateinisch, aber was genau das hieß, konnte ich beim besten Willen nicht sagen.

„Wo gehen wir eigentlich hin?“

„Ins HQ“, sagte meine Mutter. „Das Hauptquartier der Themis.“

„Themis?“ War das nicht das, wo Onkel Roger, Onkel Tristan und Tante Lucy arbeiteten?

Sie nickte. „Ja, Themis. Die Themis sind spezielle Soldaten mit Sondergenehmigung in der Verborgenen Welt. Cayenne hat sie ein paar Jahre vor deiner Geburt ins Leben gerufen, um ihr Rudel besser schützen zu können. Diese Leute sind …“

„Schluss jetzt“, unterbrach mein Vater sie. „Das muss Zaira nicht wissen. Alles was für sie interessant ist, habe ich ihr bereits erzählt, der Rest ist egal.“

Egal?

„Vergiss es einfach ganz schnell wieder. Nach diesen fünf Tagen wird das alles für dich sowieso keine Bedeutung mehr haben.“

Ja, aber auch nur weil du mich dazu zwingst, nicht weil ich das s möchte!, hätte ich ihm am liebsten an den Kopf geknallt. Doch ich presste ein weiteres Mal die Lippen aufeinander und schwieg.

Zielsicher peilte mein Vater die Eingangstür des HQs an, nickte den beiden Rauchern einmal kurz zu und hielt uns dann die Tür auf. Sofort wurde ich von Wärme umschmeichelt und konnte mich freuen, dass meine halb gefrorenen Finger langsam wieder auftauten. Obwohl das stechende Kribbeln nicht unbedingt eine Verbesserung war.

„Da lang“, sagte mein Vater und zeigte den doch ziemlich sterilen Flur hinunter, um dann nach ein paar Schritten in einem offenen Raum zu verschwinden.

Als ich hinter ihm eintrat, fiel mir erst mal die Kinnlade bis auf dem Boden. Wo zum Teufel war ich hier gelandet? Bei Mission Impossible? Echt, der ganze Raum war voller Computer und Server. Aktenschränke, Pinnwände mit Karten. Ein Telefon klingelte, woraufhin ein Mann auf einem Bürostuhl vor seinem Computer gleich reagierte. Schreibtische, Regale und alles war hochmodern.

Über einen Plan auf einem Tisch beugten sich zwei Leute. Die Frau war wirklich hübsch, schlank und hatte lange, weiße Haare. Dabei konnte sie kaum älter als meine Eltern sein. Der Mann daneben war dagegen ein bisschen rauer, kantiger. Kurzes Braunes Haar, eine schiefe Nase, die wohl schon mal gebrochen war.

Die Frau zeigte auf etwas, woraufhin er ihr Kinn in die Hand nahm und ihr Gesicht zu seinem zog …

„Murphy!“, rief meine Mutter begeistert, ließ mich einfach stehen und fiel dem Mann nicht nur um den Hals, sondern sprang ihn förmlich an und klammerte sich mit Händen und Beinen an ihm, um ihm einen Kuss auf die Nasenspitze zu geben. Dabei störte sie sich auch nicht daran, dass er gerade im Begriff gewesen war, die weihaarige Frau neben sich zu küssen, die meine Mutter nun böse anfunkelte.

Dieser Murphy blinzelte sie einmal perplex an, bevor er ungläubig „Tarajika?“ fragte. Dann lachte er und umarmte sie freudig. „Mensch, Mädel, was machst du denn hier?“

„Ich suche ein Zimmer.“ Sie ließ von ihm ab, flitzte zu meinem Vater und zog ihn an der Hand zu diesem Kerl. „Guck mal, Ys-oog, da ist Murphy.“

„Wäre mir nicht aufgefallen, wenn du es mir nicht gesagt hättest“, erklärte er trocken, grinste den Kerl dann aber an.

„Mensch, Ryder!“ Die beiden schlugen sich in die Hände und klopften sich dann auf die Schultern – ein typisch männliches Ritual der Begrüßung. „Was machst du denn hier? Ich hätte ja nicht geglaubt, dich noch mal wiederzusehen.“

Ryder? So hatte Cayenne ihn vorhin doch auch genannt, nur … was hatte das zu bedeuten?

„Die Umstände haben mich hergelockt“, sagte er etwas kryptisch.

Mich schienen sie völlig vergessen zu haben. Oder – und wahrscheinlicher – sie ignorierten meine Anwesenheit einfach.

„Kennst du noch Alexia?“, fragte dieser Murphy und drehte sich etwas, um die weißhaarige Frau ranzuziehen. Dabei bemerkte ich das kleine Tattoo auf seinem Oberarm. Eine Omega, dass über einem waagerechten Strich schwebte.

Moment mal, mein Vater hatte genau das gleiche Tattoo, nur saß es bei ihm hinterm Ohr. Als ich mir diese Alexia genau ansah, bemerkte ich, dass sie auch eines hatte, an der gleichen Stelle wie Murphy. War das sowas wie ein Abzeichen der Themis? Mein Vater hatte früher schließlich auch einmal zu ihnen gehört.

„Ah“, machte mein Papa, „unsere kleine Sklavin.“

Sie schnaubte. „Erinnere mich bloß nicht daran. All diese widerlichen Typen.“ Bei der Erinnerung schüttelte sie sich angewidert. „Das habe ich aufgegeben, jetzt dürfen andere die Sklaven mimen. Ich bin jetzt Miguels rechte Hand.“

„Ja.“ Mein Vater nickte sehr ernst. „Das habe ich bereits von Tyrone gehört. Die beste Sekretärin der Welt. Er hat wohl noch nie so guten Kaffee getrunken.“

Alexia kniff die Augen zusammen. „Du willst Schläge, oder?“

Er grinste. „Später vielleicht. Aber jetzt wollte ich erst mal ein Zimmer für ein paar Tage. Am besten eines mit dicken Wänden.“

„Dicke Wände?“ Murphy grinste. „Da bist du hier an der falschen Adresse.“

„Ich hab an einen Raum unten bei der Trainingshalle gedacht“, sagte mein Vater weiter, als hätte Murphy nichts gesagt. „Ist da noch was frei?“

„Da unten?“ Der Kerl kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Romy ist da unten und, naja, du weißt ja wie sie ist.“

„Romy?“ Papa grinste. „Sie wird entzückt sein mich zu sehen.“

„Romy und entzückt?“ Murphy gab ein bellendes Lachen von sich. „Ich hab Romy noch nie anders als ernst und mürrisch erlebt. Aber eine entzückte Romy hat auch etwas.“

„Und es ist etwas das du nie erleben wirst.“ Alle drehten sich zu der großgewachsenen, dunklen Frau um, die in diesem Moment den Raum betrat. Eine Vampirin. Und mit dunkel war nicht ihre Hautfarbe gemeint, sondern eine Düsternis die sie wie eine Aura hinter sich herzog. Auch sie hatte diese kleine Omega-Tätowierung, nur war es bei ihr an der Schläfe, sichtbar für jeden, der sie ansah. Sie war so das genaue Gegenteil von der Werwölfin Alexia.

Sie nickte Raphael einmal zu, trat dann an den Aktenschrank und suchte konzentriert einige Blätter heraus, bis sie ohne ein weiteres Wort wieder aus dem Raum verschwand.

„Ich glaube ich bin von ihr noch nie so überschwänglich begrüßt worden“, überlegte mein Vater laut.

Murphy lachte. „Ja, sie hat deine Anwesenheit bemerkt und nicht nur stur an dir vorbeigesehen.“ Er klopfte meinem Vater auf die Schulter. „Na dann kommt mal, ich guck mal welches Zimmer ich euch geben kann.“

Die beiden Männer verschwanden mit meiner Mutter in der Mitte aus dem Raum. Keiner achtete auf mich. Sie schienen mich wirklich vergessen zu haben. Oder mein Vater war noch wütender, als ich angenommen hatte.

Ich presste die Lippen zusammen, warf der weißen Wölfin noch einen Blick zu – doch die hatte sich bereits wieder abgewandt und dem Studium der Pläne gewidmet – und folgte meinen Eltern. Zurück in den sterilen Korridor, bis ganz nach hinten durch, eine metallene Treppe hinunter in den Keller.

Hier sah es nicht mehr ganz so antiseptisch aus, eher so nach Schulflur. Nur die Neonröhren über uns waren genauso lästig. So helles Licht hatte ich noch nie ausstehen können. Viel zu aufdringlich.

„Du bist Cayennes Tochter, oder? Zaira wenn ich mich richtig erinnere. Zumindest hatte dein Vater das genuschelt, als ich ihn aus der Kneipe geholt habe.“ Dieser Murphy lächelte mich an. „Na, überrascht?“

Das traf es nicht mal annähernd.

„Aber keine Sorge, ich schweige wie ein Grab, von mir …“

„Lass sie in Ruhe, Murphy“, kam es da eindeutig warnend von meinem Vater. „Rede nicht mit ihr.“

Er warf ihm einen skeptischen Blick zu. „Und warum nicht, wenn ich fragen darf?“

„Was früher einmal war, geht sie nichts an.“

Oder mit anderen Worten, es hatte mich nichts anzugehen, weil das sowieso bald alles der Vergangenheit angehörte. „Komisch“, sagte ich. „Ich darf mir nicht mal die Nase schnäuzen, ohne dir bis ins kleinste Detail zu erläutern, wie ich das anstelle, doch wenn es um dich geht, geht es mich nichts an. Was daran ist falsch?“

Murphy lachte. „Sie hat die gleiche scharfe Zunge wie Cayenne.“

Mein Vater funkelte mich an. „Treib es nicht zu weit, Fräulein, du hast dir die letzten Tage mehr als genug geleistet.“

„Doch nur weil du mich nicht hast gehen lassen wollten!“, warf ich ihm vor. Er sollte ja nicht die ganze Schuld auf mich schieben, er hatte sich genauso falsch verhalten.

„Aus gutem Grund.“

Ich wollte den Mund erneut öffnen, doch meine Mutter legte mir eine Hand auf den Arm und schüttelte den Kopf. So blieb mir nichts anderes übrig, als die Worte auf meine Zunge runterzuschlucken und mich einfach still und heimlich vor mich hinzuärgern, bis wir fast am Ende des Ganges waren. Dort schloss Murphy eine unscheinbare Tür auf, wie es hier ungefähr Zweidutzend gab, schaltete das Licht an und trat in dem Raum. „Hm, ich dachte hier würden drei Betten drin stehen.“

„Zwei Betten reichen“, sagte mein Vater und trat an ihm vorbei in das Zimmer. „Gnocchi schläft sowieso immer halb auf mir drauf, ob ich nun Luft bekomme, oder nicht.“ Mit einem kurzen, prüfenden Blick sah er sich einmal im Raum um, als Mama und ich hinter ihm eintraten. Zwei Einzelbetten an den Gegenüberliegenden Wänden. Zwei Holzschränke, zwei Schreibtische, einfacher, blauer Teppich, aber keine Fenster – für einen Keller wohl normal. Hm, erinnerte irgendwie an ein Zimmer, wie ich es aus den Internaten in den Filmen kannte. „Das wird reichen.“

„Wie lange wollt ihr bleiben?“, fragte Murphy und machte den nächsten Schrank auf. „Hier liegt auch frische Bettwäsche.“

„Samstag früh reisen wir wieder ab.“

Er nickte und schloss den Schrank wieder. „Wo die Gemeinschaftsduschen sind, wisst ihr ja. Braucht ihr sonst noch irgendwas?“

„Nur ein wenig Ruhe.“

Murphy verstand den Wink mit dem Zaunpfahl, verabschiedete sich und ließ uns drei alleine. Kaum war die Tür geschlossen, verschwand die gespielte gute Laune meines Vaters und sein Blick durchbohrte mich. Jetzt kam das Donnerwetter.

„Papa, ich …“

Er hob die Hand, und brachte mich damit sofort zum Schweigen. Seine Lippen waren zu deinem dünnen Strich zusammengepresst und seine Augen sprühten vor Wut. Er machte den Mund auf, schloss ihn dann wieder, startete dann noch einen zweiten Versuch, der wieder misslang. Dann wandte er sich einfach mit einem Schnauben von mir ab und verschwand mit knallender Tür aus dem Zimmer.

Meine Mutter seufzte.

„Es tut mir leid, dass ich einfach abgehauen bin“, sagte ich leise und ließ mich auf das linke Bett sinken. Flair fiepte in meinem Schoß und sah mit großen, treuen Augen zu mir auf.

„Das sollte es auch“, erwiderte sie schlicht. „Papa hat sich furchtbare Sorgen gemacht.“

„Es tut mir leid.“ Was sollte ich auch sonst sagen? Und es stimmte ja auch. „Wenn er nur nicht immer so stur wäre.“

„Du meinst so stur wie du?“ Ein kurzes Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Er hat einfach Angst dass etwas passieren könnte und er nicht rechtzeitig da ist, um eingreifen zu können.“ Sie setzte sich neben mich und nahm meine Hand, die unruhig an den Lederschlaufen von Flairs Anzug rumspielte. „Weißt du, es gibt einen guten Grund, warum wir so abgeschieden Leben, fern von der Verborgenen Welt.“

„Ja, damit niemand plötzlich über mich stolpert.“

Meine Mutter sagte dazu nichts, aber irgendwas veränderte sich in ihrem Blick. Unwohlsein? „Es ist so einfach das Beste. Das musst du uns glauben.“

Eine andere Möglichkeit blieb mir ja wohl auch nicht. Selbst wenn ich es nicht glauben würde, machte es keinen Unterschied. Ich würde sowieso nichts erfahren, was mein Vater mir nicht sagen wollte. So war es schon immer gewesen.

Schweigen breitete sich zwischen uns aus, doch irgendwie hatte ich das Bedürfnis, es zu füllen.

„Wie habt ihr mich eigentlich gefunden?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Das war gar nicht so schwer. Nachdem dein Vater dich nicht bei Sonja gefunden hat, ist er zu Valerie gefahren und hat seinen magischen Blick benutzt.“

„Mama, ich hab dir schon tausend mal gesagt, dass dieser Blick nichts magisches an sich hat.“

Sie lächelte nur. „Er hat sie mit seinem Joch dazu gezwungen, ihr alles über euren gemeinsamen Abend zu erzählen.“

O-oh.

„Nur wie er leider feststellen musste, hat dieser Abend nie stattgefunden. Genaugenommen hatte sie dich seit Freitag nicht mehr gesehen.“

Ich konzentrierte meinen Blick auf Flair und der Aufgabe sie aus ihrem Anzug zu schälen. So entging ich wenigstens dem vorwurfsvollem Blick meiner Mutter.

„Also ist er dann zu Kasper gefahren und hat ihn unter sein Joch genommen. Kasper hat ihm erzählt, dass er dich schon Samstagmittag zum Bahnhof gebracht hat, weil du endlich weiß, wo deine Erzeugerin ist.“ Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. „Woher wusstest du es denn eigentlich?“

Oh oh. „Ähm … von Tante Amber?“ Ich lächelte vorsichtig, was wohl eher in einer Grimasse endete. „Als sie letztes Wochenende zu Besuch war, hab ich euer Gespräch belauscht und … naja, da sind halt so einige Sachen gefallen, die mich haben hellhörig werden lassen.“

Der Mundwinkel meiner Mutter zuckte. „Wundert mich, dass du das noch nicht früher getan hast.“

Jup, das war meine Mutter. Ich drehte mich halb herum. „Hör zu, es tut mir leid, dass ich gelauscht habe und dann einfach verschwunden bin, aber egal wie oft ich euch gefragt habe, ihr wolltet mich ja nie gehen lassen, dabei …“

Sie legte mir einen Finger auf die Lippen. „Nicht ich bin es, bei der du dich entschuldigen musst, Donasie, sondern Papa. Natürlich bin ich auch nicht begeistert, dass du uns angelogen hast, auch wenn ich es verstehe.“ Sie legte ihre Hand an meine Wange. „Ich hoffe nur für dich, dass es das alles wert war.“

Das hoffte ich auch.

„Und nun geh schlafen. Ich werde mal nachschauen, wo dein Vater abgeblieben ist.“ Sie stand auf und ging zur Tür.

„Glaubst du dass er mir verzeiht?“

Mit der Hand auf der Klinke hielt sie inne und sah zu mir zurück. „Er ist dein Vater, Donasie, natürlich wird er dir verzeihen. Doch du hast sein Vertrauen ausgenutzt und darüber kann er nicht so schnell hinwegsehen. Er ist verletzt. Gib ihm ein wenig Zeit.“

„Aber ich wollte sie doch nur kennenlernen“, sagte ich leise.

„Und hast dich dafür aus dem Schutz geschlichen, den er so mühsam um uns errichtet hat.“ Sie seufzte. „Mach dir nicht zu viele Gedanken, Donasie, es wird sich alles finden.“ Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer und ließ mich allein mit meinen Gedanken.

Das war alles so richtig schön beschissen gelaufen. Warum musste mein Vater aber auch immer so … so … na so eben sein? Mein Gott, ich war volljährig und nicht mehr sein kleines Mädchen, dass er vor der großen, bösen Welt beschützen musste! Warum verstand er das denn nicht? „Ich hab das doch alles nur machen müssen, weil er mich am liebsten wegsperren würde.“

Flair stellte die Ohren auf.

„Ich meine, ich wollte ihn doch nicht hintergehen, aber er hat mir doch keine Wahl gelassen, oder?“

Ihr Kläffen nahm ich als Zustimmung.

Oh Mann und was sollte ich jetzt machen? Nach der ganzen Aufregung war ich nicht wirklich müde, aber ich würde den Teufel tun und dieses Zimmer heute noch einmal verlassen. Wenn ich bei der Rückkehr von meinem Vater nicht mehr hier wäre, würde er mich vermutlich wirklich in unserem Keller in Koenigshain einsperren, sobald er mich fand. Und Natürlich wäre die Zustimmung hierzubleiben und meine Erzeugerin kennen zu lernen, dann auch hinfällig.

Bei dem Gedanken an sie, schlich sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen. Sie hatte wirklich gewollt, dass ich blieb. Sie wollte mich unbedingt kennenlernen. Und sie wollte meinen Geburtstag mit mir feiern. „Sie weiß wann ich Geburtstag habe“, sagte ich leise lächelnd in den Raum hinein. „Sie hat es nicht vergessen.“ Na gut, das wäre auch ziemlich schwer, da Kiara ja am gleichen Tag Geburtstag hatte, aber … naja, sie hatte mich nicht vergessen.

Flair stellte die Ohren auf und kläffte ein paar Mal, als ich sie an mich drückte und mich dann rücklings mit ihr aufs Bett fallen ließ.

Das Gefühl das mich gerade überkam, war unbeschreiblich. Ich hatte so eine Angst davor gehabt sie anzusprechen, weil ich befürchtete, dass sie mich zurückweisen könnte, dabei war genau das Gegenteil der Fall. Sie wollte mich kennenlernen. Sie hatte meinen Vater geradezu angefleht, dass ich ein paar Tage hier bleiben dürfte. Und dann hatte sie meinen Vater wirklich dazu bekommen, mich noch ein paar Tage hier zu lassen. Keiner den ich kannte, hatte das bis jetzt geschafft.

Das war schon irgendwie seltsam. Ich meine, natürlich, sie waren früher, noch vor meiner Geburt ein Pärchen gewesen, über viele Jahre hinweg immer wieder, aber dass sie noch so einen großen Einfluss auf ihn hatte war schon irgendwie merkwürdig. Andererseits war es ja eigentlich meine Mutter gewesen, die meinem Vater gesagt hatte, er solle sich einen Ruck geben.

„Wie meine Erzeugerin wohl so ist?“, fragte ich laut und brachte Flair damit dazu, heftig mit der kleinen Rute zu wedeln. Ob sie mich mochte? Oder würde sie enttäuscht sein? Schließlich war ich nicht wie Kiara oder Aric. Mist, warum mussten mich jetzt wieder Zweifel beschleichen? „Das gibt es doch gar nicht.“

Seufzend richtete ich mich wieder auf, um sah mich nach einer Beschäftigung um. Nur leider gab es hier nichts. Ich konnte mich nicht mal mein Tablet nutzen, weil das ja noch in meiner Reisetasche in meinem Zimmer lag. Selbst mein Handy hatte ich da liegen gelassen. Ich würde morgen auf jeden Fall meine Sachen holen müssen. Nur leider half mir das im Moment bei meiner Aufgabe mich ein wenig abzulenken nicht weiter.

Aber ich könnte schon mal die Betten beziehen. Das war zwar nicht spaßig, aber vielleicht würde es mich auf andere Gedanken bringen. So hängte ich die Jacke von Cio über den Stuhl, legte Flairs Anzug daneben und begann damit das Bettzeug aus dem Schrank zu räumen. Doch selbst als ich die ganze Sache in die Länge zog, brauchte ich kaum zehn Minuten dafür und wusste dann wieder nichts mit meiner Zeit anzufangen.

Wo Mama und Papa wohl waren? Wann sie zurückkamen?

Nach einigem Überlegen setzte ich mich mit Flair aufs Bett und spielte dort eine Weile mit ihr, aber meine Eltern tauchten einfach nicht auf.

Irgendwann, weit nach Mitternacht schaltete ich dann das Licht aus und legte mich mit äußerstem Widerwillen mit meinen getragenen Klamotten ins Bett. Aber ich hatte ja nichts drunter und konnte ja schlecht nackt schlafen.

Meine Brille packte ich auf den Schreibtisch und dann lag ich wach in der Dunkelheit und konnte immer noch nicht einschlafen. Und so bekam ich dann doch noch mit, wie meine Eltern irgendwann leise ins Zimmer schlichen und sich fürs Bett fertig machten. Bis sie lagen, sagte keiner ein Wort. Ich wusste nicht mal, ob sie gemerkt hatten, dass ich noch wach war.

„Jetzt hör endlich auf dir darüber Gedanken zu machen“, sagte meine Mutter leise, als sie unter der Decke lagen.

Er schnaubte. „Wenn das nur so einfach wäre, ich meine, ich hätte nie gedacht, dass sie uns so hintergehen würde. Sie hat mich einfach enttäuscht.“

Das tat weh und zwar so richtig.

„Sie hat es nicht böse gemeint, Ys-oog, sie ist einfach neugierig auf die Frau die ihr das Leben geschenkt hat.“

„Was meinst du warum ich ihr so viel von Cayenne erzählt hab? Bestimmt nicht weil ich daran solche Freude hatte. Ich hab gehofft, dass ihr das reichen würde. Ich wollte dieser Frau nie wieder in meinem Leben haben und nun bin ich doch wieder hier gelandet.“

„Ich versteh dich ja. Und ich bin auch nicht gerade begeistert sie wieder zu sehen, aber es ist nun mal geschehen und jetzt können wir es nicht mehr ändern. Lass ihr die paar Tage, danach ist ihre Neugierde vielleicht gestillt.“

„Hoffentlich.“

„Denk nicht mehr darüber nach Ys-oog.“

Eine Zeitlang herrschte schweigen, in dem nur ihr atmen zu hören war.

„Ich will sie da einfach nur raushalten. Hier sind … es gibt hier einfach zu viel Schlechtes.“

„Schlechtes?“

Ich konnte das Grinsen in Mamas Stimme geradezu hören.

„War es nicht hier, als wir zum ersten Mal …“

Zum Glück erfuhr ich nicht, was hier zum ersten Mal geschehen war. Dafür hörte ich sie aber knutschen und unter einem unterdrücken Lacher eindeutiges Deckenrascheln. Okay, Zeit einzugreifen. „Ich würde gerne darauf hinweisen, dass ich noch nicht schlafe und wahrscheinlich ein Trauma fürs Leben erleiden werde, wenn ihr jetzt tut, was ihr im Begriff seid zu tun.“

Daraufhin war es erst einmal still, bis meine Mutter völlig ruhig erwiderte: „Das wäre nicht das erste Mal. Als du ein Baby warst …“

„Mama!“ Empört richtete ich mich auf. Das war doch wohl jetzt nicht ihr Ernst!

Mein entsetzter Gesichtsausdruck ließ sie nur lächeln, doch mein Vater sah mich nicht mal an. Er seufzte nur müde, schlang die Arme um meine Mutter, bis sie ihren Kopf auf seiner Brust bettete und schloss dann still die Augen, als könnte er meine Anwesenheit so ausblenden.

Sie hat mich einfach enttäuscht.

Ich biss die Zähne zusammen. Dass ich ihn enttäuscht hatte war doch seine eigene Schuld.

 

°°°

 

Der nächste Morgen begann in Dunkelheit. Nicht weil es noch so früh war, sondern weil ich in einem fensterlosen Raum geschlafen hatte, in dem es keine Nachttischlampe gab. Das machte für mich die Orientierung nicht gerade leicht, besonders nicht, weil mein noch halb schlafendes Hirn sich erst mal daran erinnern musste, wie ich überhaupt hier her gekommen war. Und als es das dann tat, überkam mich gleich wieder das schlechte Gewissen.

Der schmale Lichtstreifen, der unter der Tür hindurch schien, mochte für einen normalen Vampir ausreichen, um in dieser Dunkelheit perfekt sehen zu können, aber nicht für mich. Schon gar nicht ohne Brille.

Vier Versuche brauchte ich, bis ich meine Sehhilfe auf dem Schreibtisch gefunden hatte, ohne das Bett zu verlassen. Leider half das auch nicht sehr viel, ich war immer noch blind wie ein Maulwurf. Also schob ich die Decke zur Seite, schwang die Beine aus dem Bett und tapste barfuß zum Lichtschalter an der Tür – ohne mich auf dem Weg dorthin an irgendwas zu stoßen. Ich war so stolz auf mich. Die Beule am Kopf reichte mir wirklich.

Klick.

Die plötzliche Helligkeit blendete mich einen Moment und so brauchte ich ein paar Sekunden um festzustellen, dass meiner Vater sich nicht mehr im Zimmer befand. Nur noch meine Mutter, die selig vor sich hin träumte und sich auch nicht davon stören ließ, dass ich auf den Beinen war.

Aber das mein Vater bereits weg war, versetzte mir irgendwo doch einen Stich. Nachdem wir das Zimmer betreten hatten, hatte er kein Wort mehr zu mir gesagt. Nur davor und das waren nichts als Befehle gewesen, die er in meine Richtung gebellt hatte.

Klar, nachdem war ich getan hatte, wusste ich natürlich, dass er sauer auf mich war, aber ich hatte halt doch irgendwo die kleine Hoffnung gehegt, dass er mir nach einer Nacht voller schlaf verzeihen könnte – wenigstens ein kleinen bisschen. Aus der Traum, die Realität klopfte an die Tür.

Vielleicht sollte ich ihn suchen gehen und wenigstens den Versuch starten mit ihm zu sprechen? Weit konnte er doch nicht sein, oder? Nein. Er würde mich hier sicher nicht allein lassen und da konnte er noch so sauer auf mich sein. Und auch Mama würde er nicht einfach verlassen. Das Bedeutete, dass er hier irgendwo war, ich musste ihn nur finden. Aber vorher sollte ich vielleicht noch duschen und mir frische Klamotten anziehen. Mein Gott, nicht mal eine Haarbürste hatte ich hier. Ich war ja nicht besonders penibel in solchen Dingen, aber ohne eine morgendliche Wäsche ging bei mir gar nichts.

Okay, ich würde erst zu den Unterkünften der Vampire rüber gehen, mich dort schnell fertig machen und dann meine Sachen herbringen. Danach … oh mein Gott, wie spät war es eigentlich? Ich musste doch in den Stall! „Flair, komm!“

Noch während ich das sagte schnappte ich mir Cios Jacke und stürmte zur Tür. Als ich sie aufriss, knallte ich sie mir fast noch gegen den Kopf.

Flair kläffte über die Aufregung am Morgen begeistert, fegte mit mir zusammen aus der Tür, nur um praktisch in Diego reinzulaufen, der im Korridor an der Wand lehnte und offensichtlich auf etwas wartete.

Ich hielt abrupt an und blinzelte. „Ähm … morgen?“

Er nickte mir zu. „Ich bin hier, um dich zu Cayenne zu bringen.“ Er trug eine seltsame, braune Lederkluft. Aber das sah nicht schwul oder transig aus, es erinnerte mich eher an einen Krieger aus dem frühen Rom, nur dass die Kleidung hier halt nicht nur auf einen Lendenschurz beschränkt war, sondern den ganzen Körper bedeckte – inklusive Hose und Lederjacke.

Moment, was hatte er gerade gesagt? „Jetzt?“

Über das Entsetzen in meiner Stimme, zuckte sein Mundwinkel. „Ja, sie würde gerne mit dir frühstücken, wenn du nichts dagegen hast.“

„Aber …“ Ich fuhr mir mit den Händen durch die ungekämmten Haare. „Ich muss mich noch umziehen und noch duschen meine Sachen sind noch drüben in der anderen Unterkunft und … und … ich muss doch in den Stall, die warten sicher schon auf mich und …“

„Das mit dem Stall werde ich regeln. Und Cayenne wird sicher noch warten, bis du dich fertig gemacht hast. Sie hat fast zwanzig Jahre auf dich gewartet, da schafft sie die halbe Stunde auch noch.“

„Aber … werden Gisel und die anderen sich denn nicht wundern, wenn ich nicht im Stall auftauche? Ich meine, ich soll doch nicht auffallen, es soll doch keiner wissen …“

„Ich werde mir schon etwas einfallen lassen.“ Er neigte den Kopf leicht. „Es sei denn natürlich, du brauchst noch ein wenig Zeit und willst Cayenne jetzt gar nicht sehen.“

„Nein, doch, ich meine, natürlich will ich. Es ist nur … ich …“ Ich verstummte.

„Du bist nervös.“

Das traf den Nagel so ziemlich auf den Kopf. Ich war nicht nur nervös, ich war hyperaufgeregt. Meine Erzeugerin wollte mit mir frühstücken. Jetzt!

„Na komm.“ Diego stieß sich von der Wand ab und winkte mir ihm zu folgen.

Ich zögerte noch. „Ich muss erst meinem Vater Bescheid sagen, bevor ich …“

„Dein Vater weiß schon Bescheid. Er hat heute Morgen bereits mit Cayenne gesprochen und sein Einverständnis zu dem Frühstück gegeben.“

Ach so? Mir geht er aus dem Weg und mit meiner Erzeugerin sprach er? Hätte er nicht auch zu mir kommen können? Ich kniff die Lippen zusammen.

„Na komm, wir gehen jetzt erstmal rüber zu den Unterkünften. Dann bleibt dir noch ein wenig Zeit, dich mental einzustellen.“

Langsam schloss ich die Tür und folgte ihm dann den Korridor hinunter. „Wie spät ist es eigentlich?“

„Kurz nach acht.“

„Es ist schon acht?“

„Wir wollten dich ausschlafen lassen. War eine lange Nacht.“ Sein Blick fiel auf meine Jacke. „Gehört die nicht meinem Sohn?“

„Ähm … mir war gestern kalt, da hat er sie mir gegeben.“

Etwas äußerst merkwürdiges trat in seinen Blick, bevor er ihn nach vorne richten konnte. „Tu mir einen Gefallen und halt dich von ihm fern.“

Super, der nächste der damit anfing. „Warum?“

„Weil Elicio sehr …“ Er wedelte mit der Hand und suchte das richtige Wort. „… unbeständig ist. Er lässt sich zu leicht ablenken, ist immer auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer. So kann er seinen Job nicht richtig machen.“

„Als Arics Leibwächter.“

Wir erreichten die metallene Treppe und folgten ihr in die nächste Etage. Hier war auch gleich viel mehr los.

„Elicio ist viel mehr als nur ein einfacher Leibwächter, besser gesagt, er wird es einmal sein.“

„Ein Umbra.“

Diego nickte. „Und als solcher sollte er sich nur auf seinen Schützling konzentrieren. Aber wie gesagt, er lässt sich zu leicht ablenken. Und nachdem was er gestern gehört hat … ich befürchte einfach, dass ihn das neugierig gemacht hat. Sollte er mit Fragen bei dir auftauchen, weis ihn einfach ab, schick ihn weg. Er muss alle seine Sinne beisammen haben, wenn er seine Aufgabe erfüllen will. Etwas anderes hat ihn nicht zu interessieren.“

Hm, wenn der Mann das so sah, dann sollte ich ihm wohl besser nicht sagen, dass Cio seine Aufmerksamkeit bereits einmal auf mich gerichtet hatte, um mir mein Geheimnis zu entlocken.

Wir kamen bei der Eingangstür an, die Diego mir netterweise aufhielt.

„Danke.“

Die Tür fiel hinter uns ins Schloss und die frühmorgendliche Kälte eines Winters umschloss uns. Sofort kuschelte ich mich tiefer in die Jacke.

Flair dagegen rannte begeistert los, um ihre Morgentoilette zu erledigen.

„Ich habe Elicio auch bereits gesagt, dass er sich aus dieser Angelegenheit raushalten soll“, fügte Diego noch hinzu. „Aber ich kenne meinen Sohn. Er wird es sicher nicht einfach auf sich beruhen lassen.“

„Ich werde ihm nichts erzählen“, versprach ich. Nicht dass ich das vorgehabt hätte. Aber ob ich ihn wegschicken würde, wenn er wieder auftauchte – und das würde er bestimmt, so wie ich ihn einschätzte – wusste ich noch nicht. Dafür war seine Gegenwart einfach viel zu amüsant.

Der Himmel über uns war klar, als wir durch den verschneiten Vorgarten liefen. Unter dem Licht der Sonne glitzerte der Schnee wie ein Diamantenmeer. Die Leute im Schloss waren bereits erwacht. Überall tummelten sich die Bewohner geschäftig. Jeder schien eine Aufgabe zu haben.

„Darf ich sie mal etwas fragen?“

„Natürlich.“ Seine blauen Augen fixierten mich einen Moment. „Und du brauchst mich nicht Siezen, nenn mich einfach Diego, das tut jeder.“

„Ähm … okay.“ Ich sah kurz zu ihm auf, bevor ich meinen Blick senkte und meine Füße beobachtete. Schritt. Schritt. Schritt. „Wie ist sie so? Also … ich meine …“

„Cayenne?“ Er lächelte. „Einmalig. In ihren Ansichten, in ihrem Verhalten. Und meiner Meinung nach ist sie das Beste, was den Lykanern passieren konnte.“ Er überlegte kurz. „Sie ist ein sehr offener Mensch, der kein Blatt vor den Mund nimmt und damit auch schon so manchen ziemlich schockiert hat. Sie hat ihr Herz am rechten Fleck, auch wenn das nicht alle so sehen. Sie ist … naja, es ist schwer sie zu beschreiben, man muss sie erleben. Du wirst schon sehen.“

So ähnlich hatte mein Vater sie auch dargestellt und doch war es immer noch nicht genug, um meinen Wissenshunger nach ihr zu stillen. „Papa … also mein Vater hat gesagt, du kennst sie schon sehr lange.“

„Seit meiner Jugend“, bestätigte er. „Aber nun lass uns ein bisschen beeilen, dann kannst du Cayenne das alles selber fragen.“

Das ist wohl wahr. Die Frage war nur, ob ich es mich auch traute, oder plötzlich wieder Mundtot war, wenn ich ihr gegenüber stand. Trotzdem beeilte ich mich ein wenig.

Diego wartete draußen, als wir den Wohntrakt der Vampire erreicht hatten. Ich flitzte nur schnell in mein Zimmer, um meine Sachen zu holen, flitzte dann mit meiner Tasche zu den Duschen und machte mich dort mit einer solchen Geschwindigkeit fertig, dass es schon rekordverdächtig war. Nur das Haareföhnen ließ sich leider nicht beschleunigen. Und so hüpfte ich vor dem Spiegel ungeduldig auf und ab, sodass ich von den beiden anderen Frauen, die hier waren, ganz komische Blicke bekam. Das war mir aber egal. Flair jedenfalls war von meiner Hektik und Ungeduld begeistert.

Ich brauchte fast zwanzig Minuten, bis ich fix und fertig wieder unten bei Diego stand. Er kommentierte das mit einem Zucken seines Mundwinkels, sagte aber ansonsten nichts, sondern brachte mich nur wieder zurück zum HQ, wo ich meine Tasche im Zimmer meiner Eltern abstellte.

Meine Mutter schlief noch immer. Naja, nicht mehr so ganz. Sie blinzelte mich schon an, als ich das Zimmer stürmte, regte sich aber ansonsten nicht, sondern kuschelte sich tiefer in die Kissen.

Mein Vater dagegen war immer noch nicht da, doch in diesem Moment verbot ich mir, mir weiter darüber den Kopf zu zerbrechen, sondern sah zu, dass ich wieder raus zu Diego kam. Doch das war gar nicht nötig gewesen, denn der unterhielt sich gerade mit einem von diesen Leuten, die sich die Themis nannten, und so wartete ich weitere fünf Minuten ungeduldig, bis wir endlich weiter konnten.

Entgegen meiner Erwartungen brachte er mich nicht zu dem großen Eingangsportal, sondern lief mit mir vom HQ aus ein Stück am dunklen Gemäuer des Schlosses entlang. Hier war es nicht so gepflegt, ein wenig wild, was es Flair fast unmöglich machte in dem hohen Schnee vorwärts zu kommen. Noch dazu war er hier kaum plattgetreten. Kurzerhand nahm ich sie einfach auf den Arm und stapfte dann weiter hinter Diego durch den Schnee.

„Wo gehen wir eigentlich hin?“

„Zum Dienstboteneingang.“

Ich runzelte die Stirn. „Warum?“

„Weil Vampire im Schloss verboten sind.“ Er warf mir über die Schulter einen kurzen Blick zu. „Auf den ersten Blick hast du nichts von einem Lykaner an dir und da es im Schloss genug Leute gibt, die wir nicht unbedingt auf dich Aufmerksam machen wollen, bringe ich dich durch die Hintertür hinein, beziehungsweise, werde dich gleich in die Obhut meiner Gefährtin geben.“

„Deiner Gefährtin?“

„Ginny, Elicios Mutter. Sie und ich sind Cayennes Umbras.“

Beide Eltern von Cio waren Umbras? Dann war das wohl sowas wie ein Familienbetrieb.

Ein leicht versonnenes Lächeln umspielte seine Lippen. „Sie wird dich durch die Dienstbotengänge zu deiner Mutter bringen. Die werden kaum noch genutzt. Auf diesem Weg ist es sicher.“

Ich verkniff es mir, ihm zu erklären, dass meine Mutter noch im Bett lag und schlief – jedenfalls so mehr oder weniger – und dass die Frau, mit der ich im Begriff war zu frühstücken, trotz allem nur meine Erzeugerin war. Genauso verkniff ich es mir mich darüber zu Ärgern, dass ich schon wieder versteckt wurde und man mich heimlich ins Schloss schmuggelte, weil ich ja so ein großes Geheimnis war. Nein, ich ärgerte mich wirklich nicht darüber. Warum auch? War ja nicht wichtig, war ja nur ich.

Und trotz meines Schweigens schien Diego etwas zu merken. „Es tut mir leid, aber anders geht es nicht. Du musst bedenken, Cayenne ist die Königin. Viele Augen sind auf sie gerichtet und würden sich sofort auf den kleinsten Fehler von ihr stürzen. Es gibt halt immer und überall Neider die glauben es besser zu können und so eine Kleinigkeit wie einen Vampir im Schloss zu empfangen nur zu gerne ausnützen würden, um ihr das Leben ein wenig schwerer zu machen.“

„Ist schon gut. Ist sowieso nicht wichtig.“

„Nein, es ist nicht gut, aber leider geht es nicht anders.“ Er blieb kurz stehen und legte mir eine Hand auf die Schulter. Seine blauen Augen ruhten dabei duldsam auf mir. „Cayenne tut es sehr leid. Sie wünschte es wäre anders, glaub mir, ich weiß das.“

„Hat sie das gesagt?“

„Das brauch sie gar nicht. Ich kenne sie gut genug, um das zu wissen. Du glaubst es vielleicht nicht, aber es ist ihr nicht leichtgefallen dich wegzugeben. Danach war sie Monatelang … sie ist …“ Er seufzte. „Sie hat diese Entscheidung damals nur schwer verkraftet und als Raphael dann auch noch mit dir verschwunden war …“ Wieder stockte er.

Ich runzelte die Stirn. Versuchte er da etwas vor mir zu verheimlichen?

„Weißt du, ohne Kiara, hätte sie diese Zeit damals wahrscheinlich nicht überstanden. Jedes Jahr an eurem Geburtstag verschwindet sie eine Zeitlang. Niemand weiß wohin sie geht, oder was sie tut. Ich glaube, dass nicht mal Sydney es weiß, aber ich bin mir sicher, dass sie es wegen dir tut.“ Er schwieg kurz. „Der Tag deiner Geburt, er ist etwas ganz besonderes für sie und ich glaube, nein ich weiß, es bedeutet ihr sehr viel, dass sie ihn dieses Jahr mit dir feiern kann.“

Kiara. Das hatte ich ja ganz vergessen. „Wie will sie meinen Geburtstag denn mit mir feiern, ohne dass es auffällt? Sie wird ihn doch sicher mit Kiara feiern.“

„Kiara wird diesen Jahr an ihrem Geburtstag gar nicht am Hof sein. Sie hat sich bereits vor Monaten dazu entschlossen, dass sie die nächsten vier Wochen bei ihrem Großcousin Graf Samuel verbringen will. Sie reist Freitag Morgen ab. Du wirst Cayenne also ganz für dich alleine haben.“

Kiara würde gar nicht da sein? Ich war mir nicht sicher, ob ich darüber traurig sein, oder mich freuen sollte. Also schwieg ich einfach und drückte Flair ein wenig näher an mich.

„Und jetzt komm, wir wollen sie nicht weiter warten lassen. Sie freut sich so sehr dich endlich kennenzulernen.“

Ich nickte zustimmend und folgte ihm das letzte Stück. Dabei musste ich feststellen, dass dieses Burgschloss größer war als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Echt, das hatte Ausmaße die ich nicht für möglich gehalten hatte. Wie viele Leute lebten in so einem Schloss eigentlich? Hier würde wahrscheinlich ganz Koenogshain reinpassen und dann wäre trotzdem nur die Hälfte der Zimmer belegt.

Meine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als Diego auf einen kleinen Trampelpfad abbog, der zu einer unscheinbaren Tür im Mauerwerk führte. Ganz ehrlich? Ich hätte sie nicht bemerkt, wenn er mich nicht darauf aufmerksam gemacht hätte. Er klopfte einmal gegen die Tür und musste nur einen Moment warten, bis sie von innen von einer schmalen Blondine geöffnet wurde, die ihm einen Kuss und mir ein herzliches Lächeln schenkte.

Die Kleidung die sie trug, glich Diegos, wie ein Ei dem anderen. Dennoch war ihre Erscheinung eine große Überraschung für mich. Sie war klein, kleiner noch als meine Mutter und die war schon nicht besonders groß.

„Darf ich dir vorstellen, dass ich meine Gefährtin Genevièv.“

„Nenn mich Ginny, das tun alle.“ Mit einem Lächeln reichte sie mir ihre Hand. Sie war sehr zierlich und wirkte fast wie ein zerbrechliches Püppchen. Ihre blauen Augen funkelten vergnügt. Und sie sollte wirklich ein Eliteleibwächter sein?

Meine Frage schien mir ins Gesicht geschrieben zu stehen, denn ihre Lippen verzogen sich zu einem breiten Zahnpastalächeln. „Ich habe schon Kerle auf die Matte geschickt, die größer waren als Diego.“

Ihr Mann lachte leise und ich spürte, wie sich meine Wangen vor Verlegenheit leicht röteten. „Tut mir leid, ich wollte nicht …“

„Schon gut“, unterbrach sie mich. „Ich bin diese Reaktion gewohnt. Die Leute sehen mich und denken, dass sie es mit einem harmlosen, kleinen Mädchen zu tun haben. Aber ganz unter uns, das ist einer meiner größten Vorteile.“

Ja, weil niemand vermuten würde, dass ein Chihuahua mit Schleifchen zu einem Rotweiler mit Stachelhalsband werden konnte. Mir fiel es auch schwer, das zu glauben.

„Also noch mal, ich bin Ginny.“

„Za … äh …“ Ich stockte.

„Du kannst ihr ruhig deinen richtigen Namen sagen“, erklärte Diego. „Sie weiß wer du bist. Sie war sogar bei deiner Geburt dabei, Sarah.“ Diesen Namen sagte er so nachdrücklich, dass mir sofort klar war, worauf er damit anspielte.

„Ich wollte niemand unnötig auf mich aufmerksam machen“, rechtfertigte ich mich. Davon abgesehen, dass ich meinen richtigen Namen niemals offiziell angab, war Zaira auch kein sehr alltäglicher Name. Wäre also jemand von den Leuten die mich kannten, zufällig auf ihn gestoßen, hätten sie sofort gewusst was los war. Oder zumindest Verdacht geschöpft.

„Hast du auch nicht“, versicherte er mir. „Ich weiß es nur, weil ich ein bisschen nachgeforscht habe. War nicht wirklich schwer. Zumindest nicht, wenn man wusste, wonach man suchen muss.“

Hm, das klang gleichzeitig nach einem Kompliment und einer Beleidigung.

„Na komm“, sagte Genevièv und hielt mir die Tür ein wenig weiter auf. „Cayenne wartet schon auf dich.“

Okay, noch einmal tief durchatmen, dann Diego zum Abschied winken und Flair fest an mein wild schlagendes Herz drücken, dann war ich bereit meiner Erzeugerin entgegen zu treten. Nur leider wartete die gar nicht hinter der Tür auf mich. Da war nur ein leerer, kahler und sehr langer Durchgang, durch den Genevièv mich mit zügigen Schritten führte. Es war hier sehr schmal, aber wenigstens sauber. Und ohne Spinnen – ich hasste Spinnen. Mit den ganzen Beinen, und den vielen Augen … igitt. Wer so viele Gliedmaßen hatte, mit dem konnte doch etwas nicht stimmen. Da musste man doch gleich misstrauisch werden. Nun gut, in meinem Fall war das sogar eine richtige Phobie.

Die Gänge schienen kein Ende zu nehmen. Genevièv bog mal hier ab, mal dort, aber sie schien genau zu wissen wo es langging. Nicht einmal zögerte sie. Ich dagegen hatte schon nach zwei Minuten die Orientierung verloren. Das sah alles einfach gleich aus. Woran orientierte sie sich hier nur? Und noch viel wichtiger: „Was sind das hier für Gänge?“ Die waren so ausgestorben, dass es schon fast unheimlich war.

Genevièv schenkte mir über die Schulter hinweg ein Lächeln. „Das sind die Dienstbotengänge. Hier können wir uns unbemerkt bewegen und unsere Aufgaben erfüllen, ohne von den Herrschaften und Majestäten gesehen zu werden. Es gibt nämlich Lykaner im Adel die sich daran stören, wenn das Personal nicht unsichtbar ist. Königin Cayenne ist nicht so, aber die vorherigen Herrschaften dieser Gemäuer waren es. Daher kenne ich mich hier auch so gut aus.“

„Das heißt, durch diese Gänge kommt man in jeden Teil des Schlosses?“

Sie nickte. „Manche führen hinaus auf die Korridore, einige wenige sogar in Räume dieses Hauses. Und zu einem solchen Raum sind wir nun unterwegs.“

„Was für ein Raum?“, wollte ich neugierig wissen. Reden war gut, reden lenkte mich von dem ab, was mir bevorstand. So konnte ich nicht noch nervöser werden – oder wenigstens nur minimal.

„Der kleine Salon in der ersten Etage. Deswegen müssen wir jetzt auch die Treppe dort vorne hoch.“

Eine sehr schmale und steile Treppe, wie ich feststellen musste. Aber ich schaffte es unbeschadet oben anzukommen und kurze Zeit später standen wir vor einer schlichten Tür, hinter der laut Genevièv meine Erzeugerin auf mich wartete.

Plötzlich klopfte mein Herz wie wild in meiner Brust, aber ich hatte keine Zeit mehr mich zu beruhigen, weil Genevièv einfach die Tür öffnete und mich in den Raum dahinter schob. Dann war sie auch schon wieder weg und die Tür praktisch verschwunden. Wirklich, von dieser Seite fügte sie sich so nahtlos in die Wand ein, dass man nur wusste, wo man sie fand, wenn man wusste, dass sie da war.

Und dann stand ich in einem hellen Salon mit Kamin, auf dessen Wohnlandschaft meiner Erzeugerin saß und hastig auf die Beine sprang, als sie mich sah. Fahrig fuhr sie mit den Händen über ihr Kleid und versuchte sich an einem vorsichtigen Lächeln, dass ich schüchtern erwiderte.

„Ähm … hey.“ Zögernd hob ich die Hand, ließ sie dann aber auch gleich wieder fallen, weil ich mir albern vorkam.

Das sanfte Lächeln meiner Erzeugerin wurde etwas breiter. „Du bist so hübsch geworden und so erwachsen.“

Pling, und meine Wangen waren feuerrot. Ich und Hübsch? Das hatte mir noch niemand gesagt. „Ähm … danke.“

Etwas Wehmütiges trat in ihren Blick. „Und ich konnte nicht dabei sein, um es mitzuerleben.“

Hm, ja, was sagte man dazu? Nicht so schlimm war ja nicht nur eine Lüge, sonder auch wenig taktvoll.

„Ich weiß es ist keine Entschuldigung, aber …“

„Keine Sorge, Papa hat mir alles erklärt. Ich weiß warum du es getan hast und es ist ja auch nicht so dass ich ohne Mutter aufgewachsen bin, ich hab ja …“ Ich verstummte, als ich den Schmerz in ihren Augen sah. „Tut mir leid.“

„Nein, das muss es nicht. Es freut mich, dass es dir so gut ergangen ist. Wirklich. Nur so wie ich Tarajika kennengelernt habe, kann ich mir einfach nicht vorstellen …“ Sie verstummte. „Ist ja auch nicht so wichtig.“ Sie sah sich etwas fahrig im Raum um und deutete dann auf den Platz neben sich. Sie war wohl nicht weniger nervös als ich. „Komm, setzt dich doch. Dann können wir was essen und uns dabei unterhalten.“

„Okay.“ Flair behielt ich an meine Brust gedrückt. Sie gab mir ein kleinen wenig Sicherheit, etwas Vertrautes, an dem ich mich festhalten konnte, als ich mich zusammen mit meiner Erzeugerin auf die weiße Ledercouch setzte.

Vor uns auf dem Glastisch war ein riesiges Frühstück angerichtet worden und auch wenn ich seit gestern Mittag nichts mehr zwischen die Zähne bekommen hatte und eigentlich Hunger haben müsste, hatte mir meine Nervosität doch auf den Magen geschlagen. Ich würde sicher keinen Bissen runter kriegen. Aber da meine Erzeugerin auch nicht so aussah, als wollte sie sich in diesem Moment den Wanst vollhauen, ging das wohl in Ordnung. Es hatte eher den Anschein, als würde den Anblick von mir in allen Einzelheiten in sich aufsaugen. Und mir ging es genauso.

Um den Hals trug sie wieder diese filigrane Kette mit dem Skorpion. Heute trug sie ein weißes, bodenlanges Kleid mir Halbärmeln, das Schulterfrei an ihrem Körper lag. Mit dem blonden Haar zusammen, ließ es sie wie einen Engel aussehen.

„Ähm …“, begann meine Mutter und lächelte vorsichtig. „Ich würde gerne … stört es dich, wenn ich dich ein wenig ausfrage? Ich möchte so viel über dich wissen. Wie war deine Kindheit? Was sind deine Hobbys? Was machst du jetzt? Gehst du noch in die Schule? Machst du Abitur? Was isst du am liebsten? Was ist deine Lieblingsfarbe? Und … ich weiß nicht, ich will einfach alles über dich wissen.“

Ihre Euphorie ließ mich lächeln. „Okay, ähm … da weiß ich eigentlich gar nicht so genau, wo ich anfangen soll.“

„Wie wäre es dann, wenn du mir erst mal erzählst, was du so gerne machst?“

Okay, das war eine einfache Frage. Warum war ich dann aber so nervös? Klar, ich hatte nicht so ausgefallene Hobbys wie meine Geschwister. Ich konnte weder Bogenschießen, noch machte ich Dressurreiten, aber deswegen war ich doch nicht langweilig, oder?

Ihr Lächeln fiel ein wenig in sich zusammen, als ich nichts sagte. „Wenn du es mir nicht erzählen willst, ist das natürlich auch okay, ich wollte dich nicht bedrängen, oder so, ich …“

„Nein, nein, das ist es nicht. Es ist …“

„Was ist es? Du kannst es mir ruhig erzählen.“

„Naja, ich bin halt nicht so wie deine anderen Kinder.“

Das ließ sie lachen. Aber so richtig aus dem Bauch heraus, was mich schon leicht kränkte. „Oh, Zaira, tut mir leid“, kicherte sie. „Aber ich danke unserem Urvater Leukos dafür, dass du nicht so bist wie deine Geschwister.“

Geschwister, wie sie das sagte, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Es war nur ein einfaches Wort und für viele wahrscheinlich vollkommen unbedeutend, aber mich ließ es lächeln.

„Aric ist … naja, ein Prinz und ich konnte ihm selten etwas abschlagen.“ Sie zuckte mit den eleganten Schultern. „Und Kiara, sie ist das Goldkind des Rudels und das ist ihr sehr bewusst.“

Ja, das Goldkind und ich war … ich.

„Aber lass und nicht von ihnen sprechen. Ich will was über dich erfahren.“

„Hm … naja …“ Ich blickte auf, als mir plötzlich etwas einfiel. „Wie soll ich dich eigentlich nennen?“ Erzeugerin fand ich nicht wirklich passend.

„Naja, ich bin seine Mutter, also …“ Sie lächelte leicht schief. „Aber so nennst du ja schon Tarajika.“

Nein, von diesem Satz würde ich mir keine schlechtes Gewissen machen lassen. Sie war nicht da gewesen, Mama schon. Es war mein gutes Recht meine Ziehmutter so zu nennen.

Meine Erzeugerin, die von meinem inneren Disput nicht mitbekam, lächelte leicht. „Nenn mich doch einfach Cayenne.“

Ja, das konnte ich machen, jedenfalls besser als Erzeugerin. „Cayenne klingt gut.“

„Das freut mich.“ Sie rutschte ein wenig auf der Couch vor. „Und? Erzählst du mir jetzt, was du den lieben langen Tag so treibst?“

„Ähm … naja, ich bin viel mit meinen Freunden unterwegs, wenn Papa mich nicht gerade wieder einkerkert und …“

Cayenne runzelte die Stirn. „Einkerkert?“

Oh Mist, hatte ich das jetzt wirklich gesagt? „Naja, Papa ist immer ein wenig übervorsichtig, wenn es um mich geht. Er würde mich am liebsten in Watte einpacken und nie aus dem Haus lassen, weil die Welt draußen vor den Fenstern groß und böse ist und ich mir ja einen Splitter einfangen könnte. Das hab ich damit gemeint.“ Nervös fummelte ich an Flairs Pulli herum. Aber das störte sie nicht im Geringsten, ihre Aufmerksamkeit galt voll und ganz dem Essen auf dem Tisch. Es hatte den Anschein, als würde sie versuchen es zu hypnotisieren, damit es zu ihr geflogen kam. „Er versucht halt nur, mich immer zu beschützen.“

„Das kenne ich.“ Auf ihrem Lippen lag ein versonnenes Lächeln. „Das hat er früher auch immer bei mir getan. Und wenn ich nicht gemacht hab was er wollte und mich dadurch auch noch in Gefahr gebracht hab, ist er richtig sauer geworden.“

„Jup, das kommt mir sehr bekannt vor.“

Wir lächelten uns an und das war wohl das erste Mal, dass es nicht zögernd kam oder verlegen war.

„Also“, nahm ich den Faden wieder auf und fühlte mich ein kleines bisschen sicherer. „Ich mag Pferde und Hunde wie man sieht.“ Ich streichelte Flair über den Rücken. „Außerdem spiele ich gerne Computerspiele, da bin ich ein richtiges Ass drinnen. Mein Kumpel Kasper spielt nicht mehr gegen mich, weil er immer verliert und, naja, ich weiß nicht. Früher habe ich sehr viele verschiedene Dinge getan, also Kurse und so ein Zeug. Eine Zeitlang habe ich Fußball gespielt, oder auch mal einen Malkurs belegt. Mit vierzehn habe ich mich für Astronomie interessiert, weswegen Papa mir ein wirklich teures Teleskop gekauft hat. Leider fand ich die Sterne dann doch ziemlich langweilig und bin zu einem Fotografiekurs gewechselt, aber auch das hat nicht lange gehalten. Modellbau, Zaubern. Mit sechs bin ich fast ein Jahr in die Tanzschule gegangen, hab dann aber wieder aufgehört, weil ich lieber in eine Schwimmmahnschaft wollte“, zählte ich auf. „Ich war früher ziemlich sprunghaft und konnte mich nie wirklich für etwas entscheiden. Heute mache ich eigentlich gar nichts mehr, außer hin und wieder ins Kino zu gehen, aber das ist ja nicht wirklich ein Hobby, oder?“

Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Nein, ist es nicht, aber das ist egal. Erzähl weiter. Ich möchte noch so viel mehr von ihr hören.“

„Okay.“ Ich schob meine Brille zurecht und überlegte was ich ihr sonst noch so erzählen konnte. Ach genau, Brille. „Ich hab eine Sehschwäche. Ich bin kurzsichtig. Alles was mehr als einen Meter entfernt ist, sehe ich nur noch verschwommen und … ähm … ah ja, ich bin Vegetarier und ich liebe Gummibärchen, hasse aber Pilze. Die sind irgendwie so labberig. Und Spinnen kann ich auch nicht leiden. Aber dafür finde ich Schlangen toll. Die faszinieren mich irgendwie. Ich wollte immer eine haben, aber Papa hat nein gesagt.“

Cayenne neigte den Kopf grinsend zur Seite. „Ich habe Schlangen, sogar eine ganze Menge.“ Sie berührte den Anhänger ihrer Kette. „Wenn du möchtest, kann ich sie dir gerne einmal zeigen.“

„Wirklich?“

Die Begeisterung in meiner Stimme ließ sie lachen. „Aber es sind alles Giftschlangen.“

„Giftschlangen? Hast du dann auch eine schwarze Mamba?“

Sie nickte. „Sogar drei. Ich habe auch einen Inlandtaipan.“

„Echt? Das ist doch die giftigste Schlange der Welt!“

„Ich habe auch Vipern, Giftfrösche und ein paar Vogelspinnen.“

Mein verzogenes Gesicht ließ sie wieder lachen. „Danke, die Spinnen kannst du behalten, die sind unheimlich.“

„Findest du?“ Nachdenklich neigte sie den Kopf zur Seite. „Ich finde sie ja wunderschön. Du musst sie mal beobachten, wenn sie jagen. Das ist faszinierend.“

„Nee, lass mal.“ Schon allein der Gedanke an Spinnen reichte aus, damit ich eine Gänsehaut bekam.

Wieder ließ sie ein perlendes Lachen ertönen. „Da bleibst du dann doch lieber bei deinem kleinen Hund.“

„Klar.“ Ich nickte und reichte Flair etwas von dem Wurstteller, bevor sie noch in ihrer eigenen Sabber ertrank. „Flair ist wie ein Teil von mir. Sie ist immer und überall dabei. Soll ich dir sagen wie ich sie bekommen hab? Das ist eine lustige Geschichte.“

„Natürlich, ich möchte alles wissen.“

So wie sie das sagte … ich begann mich wirklich langsam wohl in ihrer Gegenwart zu fühlen. „Also, naja, ich hatte halt unbedingt ein Haustier haben wollen und Papa wochenlang damit genervt. Ich hab sogar den Hund von einer Bekannten in Pflege gehabt, damit ich ihm zeigen konnte, dass ich die Verantwortung für ein eigenes Haustier übernehmen kann, aber der war groß und haarig und hat immer in Papas Bett geschlafen. Das fand er nicht so witzig und als der dann auch noch seinen halben Schuh gefressen hat, dachte ich schon, aus der Traum. Ich bin nur froh gewesen, dass er nicht an Papas Kekse gegangen ist.“

„Ja“, lachte meine Mutter. „Raphael und seine Kekse. Ich weiß noch, wenn ich gebacken habe. Die waren immer schon alle weg gewesen, bevor ich fertig war, egal wie oft ich ihm mit dem Nudelholz gedroht habe.“ Einen Moment schien sie in ihren Erinnerungen zu versinken, bevor sie sich wieder ganz auf mich konzentrierte. „Also, erzähl weiter.“

„Okay. Naja, ich hab dann den großen Wutz zurückgebracht und dachte schon die ganze Sache hat sich erledigt, den nach diesem Erlebnis wollte meine Vater erst recht keinen Hund im Haus. Zu groß, zu viel Arbeit und seine Sachen waren nicht mehr sicher. Aber meine Mutter hatte da ganz andere Pläne. Sie hat mich ein paar Tage später mit Tante Amber von der Schule abgeholt und dann sind wir zusammen zu einem Züchter nach Plaue gefahren. Wir waren kaum auf dem Gelände, da wurde ich auch schon von einem Haufen schwarzweißer Fellknäule umzingelt.“

Ich grinste meinen Wutz an. „Biewer-Yorkshire-Terrier, so hieß die Rasse. Aber das waren alles erwachsene Tiere. Doch dann hat uns die Züchterin ins Haus gelassen und da liefen drei kleine Welpen herum. Und mit klein meine ich wirklich klein. So winzig.“ Ich hielt die Hände so weit auseinander, dass nicht mal mehr ein Tennisball dazwischen gepasst hätte. „Und alle so süß. Ich konnte mich erst gar nicht entscheiden, welchen ich nehmen soll, also hab ich mich einfach auf den Boden gesetzt. Zwei sind sofort angelaufen gekommen, der dritte Welpe ist seiner Mutter hinterher marschiert, um an die Milchbar zu kommen. Und, naja, dann habe ich mich halt mit den beiden anderen beschäftigt. Die Züchterin hat mir dann ein paar Leckerlis in die Hand gedrückt, die ich unter den Welpen verteilen durfte und kaum hielt ich sie den Kleinen vor die Nase, da war die Milchbar war vergessen und auch Nummer Drei hat sich zu uns gesellt. Der hat sich so schnell auf meine Hand gestürzt, dass ich Angst um meine Finger gehabt hab. Und da hab ich gewusst, dass das mein Welpe wird.“

„Und so bist du zu deinem Hund gekommen.“ Cayenne hielt Flair die Hand zum schnüffeln hin, aber da auf dem Tisch noch Essen stand, war mein Mikrowutz daran nur mäßig interessiert. „Und was hat dein Vater dazu gesagt?“

„Wenn der nur einmal meine Schuhe frisst, dann kommt der sofort wieder weg. Darauf hab ich ihm erklärt, wenn so ein kleiner Welpe seine Schuhe frisst, dann muss er wirklich ein gutes Verdauungssystem haben, um das zu überleben.“

Wir grinsten uns an.

„Und? Halt die Kleine seine Schuhe in Ruhe gelassen?“

„Naja, wie man es nimmt. Sie hat sie zwar nicht gefressen, aber anfangs als sie noch klein war ständig darin geschlafen.“

„Wirklich?“

Ich nickte. „Keine Ahnung warum, aber sie ist immer wieder in seine Schuhe gekrochen. Anfangs musste Papa immer aufpassen, dass da kein Hund drin ist, wenn er sie anziehen wollte.“

Wieder lachte sie.

„Aber Flair ist ziemlich schnell zu groß dafür geworden.“ Ich sah auf meinen Hund hinunter. „Obwohl groß an dieser Stelle ja immer im Auge des Betrachters liegt.“

Auch Cayenne wandte einen kritischen Blick auf Flair. „Groß ist sie nun wirklich nicht.“

„Hey, sie hat sich beim Wachsen reichlich Mühe gegeben und eine stolze Schulterhöhe von achtzehn Zentimetern, bei einem Gewicht von fast drei Pfund erreicht.“ Ich grinste sie an. „Und die kann was verdrücken, da wird jeder Schwergewichtsmeister neidisch.“

Sie lächelte mich versonnen an. „Ich finde es schön wie du die Welt siehst. Es scheint als könntest du an allem etwas Wundervolles finden.“

„Man muss die Augen halt nur offen halten, dass sieht man auch die Dinge, die einem sonst verborgen bleiben.“ Mein Grinsen wurde breiter. „Glückskeksweisheit. Ich steh auf Glückskekse. Und auf chinesisches Essen.“

„Chinesisches Essen.“ Sie seufzte. „Ich kann mich gar nicht daran erinnern, wann ich sowas zum letzten Mal gegessen habe.“

„Ist doch gar nicht so schwer. Bestellkarte, Telefon und dann muss man ungefähr eine Stunde warten. Oder man hat eben meinen Papa als Papa, der geht dann einfach schnell in den Supermarkt und zaubert einem anschießend etwas Tolles.“ Ich verstummte kurz. „Naja, das heißt, wenn er irgendwann einmal nicht mehr sauer auf mich ist.“

„Ryder wird sich schon wieder einkriegen. Aber ich bin ihm auch dankbar, dass er hier aufgetaucht ist, sonst hätte ich vielleicht gar nicht mitbekommen, dass du hier bist.“ Ihr Lächeln bekam etwas Wehmütiges. „Es tut mir leid, dass ich dich an der Koppel nicht erkannt habe.“

Ich zuckte mit den Achseln und tat so, als wäre es mir egal, auch wenn dem nicht so war. „Naja, ist ja nicht so, als würde ich dir irgendwie ähnlich sehen.“

„Nein“, sagte sie leise. „Leider kommst du nach deinem Vater.“ Sie verzog das Gesicht, als sie ihren eigen Worten zuhörte. „Das war nicht so gemeint, wie es geklungen hat.“

„Ich versteh schon. Wäre ich weniger Vampir und mehr Lykaner, dann wäre ich hier aufgewachsen. Aber … naja, auch wenn ich dich gerne früher kennengelernt hätte, ich hatte eine schöne Kindheit und möchte sie auch nicht wissen. Papa ist ein guter Vater und Mama …“ Ich verstummte, als ich wieder den Schmerz in ihren Augen aufflammen sah. „Tut mir leid.“

„Das sollte es aber nicht“, sagte sie sofort. „Ich wusste dass Raphael ein guter Vater sein würde, es war für mich nur … schwer. Ich wollte dich niemals weggeben.“

„Ich weiß, Papa hat es mir erzählt.“

Irgendwie war die Stimmung auf einmal ein wenig gedrückt. Das war halt für uns beide ein sehr heikles Thema.

„Ähm“, machte sie, als sie versuchte das Gespräch wieder in Gang zu setzen. „Am Freitag ist ja schon dein Geburtstag. Weißt du schon wie du den feiern möchtest?“

„Ich …“ Das war eine ausgezeichnete Frage. „Keine Ahnung, ich schätze so wie immer.“

„Und wie hast du ihn immer gefeiert?“

„Naja, früher als ich noch klein war, waren das halt ganz normale Kindergeburtstage mit Freunde und Familie. Jetzt geh ich meist mit Freunden ins Kino, oder in die Disco, oder einfach nur raus in den Wald, wo wir …“ Ich warf ihr einen schnellen Blick zu, „ … feiern.“

„Feiern also“, grinste sie. „Ich kann mich noch sehr gut an solche Feiern erinnern. Brettspiele, Orangensaft, Käsehäppchen und im Hintergrund Mozart.“

Wir sahen uns an und prusteten dann beide gleichzeitig los. Oh Gott, wenn man sich das nur mal vorstellte.

„Das wäre ja dann fast wieder ein Kindergeburtstag“, lachte ich. „Nur das Prinzessinnenkleid würde fehlen.“

„Das Prinzessinnenkleid?“, fragte sie kichernd.

„Ja … ähm … naja.“ Okay, das war dann jetzt doch ein wenig peinlich. „Papa hat mir ja erzählt, dass meine … ähm … das du eine Königin bist und ich deswegen irgendwie eine Prinzessin bin und naja, ich wollte halt wenigstens einen Tag im Jahr wirklich eine Prinzessin sein. Also hab ich jedes Jahr ein neues Prinzessinnenkleid bekommen. Natürlich immer mit passendem Krönchen. Und einmal hatte ich sogar ein Zepter.“

Etwas Wehmütiges trat in Cayennes Augen. „Du möchtest also eine richtige Prinzessin sein?“

Ich zuckte nichtssagend die Schultern. „Naja, war halt mein Kleinmädchentraum. Als ich noch klein war, hat er die Geschichten von dir und ihm immer in Märchen gepackt. Er war Ritter Raphael und ich Prinzessin Zaira. Du warst Königin Cayenne und Sydney …“ Ich verstummte eilig. Sydney hatte in seinen Geschichten immer verschiedene Rollen eingenommen. Mal war er ein zurückgebliebener Hofnarr, mal ein verblödeter Gelehrter, oder auch ein Schleimbolzen von Knecht. Er hatte in den Geschichten jedenfalls nie eine gute Partie bekommen.

Da Cayenne sich sicher denken konnte, warum ich das Ende des Satzes lieber offen ließ, beließ sie es einfach dabei. Stattdessen fragte sie mich. „Möchtest du es den immer noch? Eine Prinzessin sein?“

Hm, schwierige Frage. „Ich weiß nicht. In kleinen, glitzernden Kleidchen rumzulaufen und das Zepter zu schwingen kommt mir heute irgendwie albern vor. Obwohl ich ja schon immer mal einen richtigen Ball besuchen wollte.“ Noch ein Schulterzucken. „Der Abschlussball war eben nicht das, was man sich so für eine richtige Prinzessin vorstellt. Nur eine große Party in ausgefallenen Kleidern.“

„Einen Tanzball also.“ Cayenne bekam etwas Nachdenkliches. „Ist es das was du zum Geburtstag möchtest? Als richtige Prinzessin einen Ball besuchen?“

„Ähm … ja, keine Ahnung, wäre halt schon irgendwie toll“, gab ich etwas unbestimmt von mir.

„Wenn du das wirklich möchtest, dann kann ich das machen.“

„Was?“

„Einen Ball zu Ehren deines Geburtstages am Freitag geben, auf dem du die Prinzessin sein kannst.“

„Ist das dein Ernst?“ Ich konnte förmlich spüren, wie meine Augen bei dieser Aussicht zu glänzen begannen. „Also so wirklich mit allem Drum und Dran?“

Sie lächelte. „Natürlich. Nur …“ Sie dachte einen Moment nach. „Vielleicht wäre ein Maskenball angebrachter. Dann würde dich niemand erkennen.“

„Das würdest du wirklich tun?“

„Ach Zaira, ich würde für dich noch so viel mehr tun. Ein kleiner Ball ist keine große Herausforderung. Sowas tue ich sowieso ständig, weil der Adel das von mir erwartet.“

Mit einem Kreischen fiel ich ihr um den Hals. Das meinte sie wirklich ernst! Ich würde einen richtigen Ball bekommen, einen auf dem ich die Prinzessin war, so eine richtige Prinzessin!

Cayenne lachte über meine überschwängliche Freude und tätschelte mir etwas unbeholfen den Rücken. Nur Flair zwischen und war von der plötzlichen Kuschelrunde nicht so angetan und zappelte herum, bis ich wieder von Cayenne abließ.

„Das wird toll!“, rief ich überschwänglich. „Danke, danke, danke. Das wird sicher fantastisch!“

„Ich werde mir Mühe geben. Aber natürlich müssen wir dir dafür noch ein Kleid schneidern lassen.“ Sie dachte kurz nach. „Das wird ziemlich knapp und Madam Laval wird mir vermutlich den Kopf abreißen. Und ich sollte dich vielleicht auch Fred vorstellen, der kann dir so einiges zeigen, was eine Prinzessin brauch.“

Ich hatte zwar keine Ahnung, wovon sie da genau sprach, aber schon nach den worden Kleid schneidern lassen, hatte ich angefangen begeistert mit dem Kopf zu nicken.

„Und einen Fotographen brauchen wir auch, und … es wäre wahrscheinlich das Beste, wenn ich mir eine Liste machen würde.“ Sie grinste mich an und ich konnte nicht anders, als dümmlich zurück zu grinsen. Das hörte sich alles so toll an. Ich konnte es immer noch nicht richtig fassen, ich und eine richtige Prinzessin mit einem Maskenball.

Aber dann kam mir ein Gedanke, der meine Stimmung gleich wieder etwas senkte. „Was ist mit Kiara?“

„Was soll mit ihr sein?“

„Naja, Diego hat zwar gesagt, dass sie an ihrem Geburtstag nicht hier sein wird, aber … naja, es ist doch eigentlich ihr Geburtstag.“

Auf ihrem Gesicht machte sich Verstehen breit. „Aber wie du bereits gesagt hast, sie ist nicht hier. Und selbst wenn sie es wäre und ich für sie eine Feier ausrichten würde, was spricht denn dagegen, das auch du eine Prinzessin sein könntest?“ Sie legte mir eine Hand auf meine. „Kiara hatte schon so viele Feste, auf denen sie im Mittelpunkt gestanden hat. Dass sie ausgerechnet in diesem Jahr zu Samuel will, ist in meinen Augen eine Fügung des Schicksals. Es wird dabei ganz alleine um dich gehen, das verspreche ich dir.“

Das hörte sich toll an. Darum war es wohl auch nicht verwunderlich, dass sich wieder dieses Lächeln auf meine Lippen schlich. Ein Maskenball, nur für mich.

„Natürlich müssen wir auch …“ Ein klopfen an der Tür unterbrach Cayenne mitten im Satz. „Ja?“, rief sie ziemlich verärgert und sah mit gerunzelter Stirn zu, wie sich die Tür öffnete und Diego den Kopf in den Raum steckte. „Hatte ich nicht gesagt, du sollst mich nicht nerven?“

„Das hast du.“ Er schlüpfte in den Raum und schloss die Tür hinter sich. „Deine genauen Worte waren, selbst wenn das Schloss in Flammen steht, sollen dich alle in Ruhe lassen, oder zur Hölle fahren.“

Ihre Wangen röteten sich leicht verlegen, aber sie blieb still.

„Und normalerweise würde ich lieber zur Hölle fahren, als dich zu stören, aber Botschafter Hisham wünscht dich auf der Stelle zu sprechen.“

„Hisham?“ Sie runzelte die Stirn. „Was will er denn, was nicht warten kann?“

Er warf mir einen kurzen Blick zu. „Ihm ist ein Gerücht zu Ohren gekommen.“

„Mist.“ Cayenne kniff die Lippen zusammen. „Wer hat ihm das gesagt? Den dreh ich durch den Fleischwolf.“

„Er hat wohl ein paar Wächter gehört, wie sie darüber gesprochen hatten.“

Ich runzelte die Stirn. Was ging hier vor?

Sie seufzte. „Okay, geh zum HQ und guck ob da alles in Ordnung ist. Ich will keinen von denen in der Nähe des Gebäudes haben. Die Themis sollen auch aufpassen, dass sie da wegbleiben. Und überprüfe bitte, ob sie noch im Zimmer ist und sag … sag ihrem Mann Bescheid, nicht dass er noch unsere Vereinbarung bricht. Ich werde Hisham jetzt erst mal die Hammelbeine langziehen.“ Der letzte Teil kam ziemlich grimmig heraus. Dann wandte sie sich mit einem bedauernden Blick zu mir. „Es tut mir leid, aber da muss ich kurz hin. Würdest du solange warten? Ich beeil mich auch.“

„Natürlich, kein Problem. Ich vertreib mir die Zeit solange schon irgendwie.“

Sie stand auf. „Danke und … ich beeil mich. Du wirst sehen, ich bin so schnell wieder zurück, dass du gar nicht merkst, dass ich weg war.“ Sie zwinkerte mir zu und verschwand dann zusammen mit Diego aus dem Raum.

Lächelnd sah ich ihr hinterher, bis die Tür wieder ins Schloss gefallen war. Sie war wirklich toll und so ganz anders als ich es mir vorgestellt hatte. Nicht so hochgestochen, wie man sich eine Königin vorstellte, sondern … naja, eher normal. Und dass sie mir zu Ehren einen Ball veranstalten wollte, das war so … das war einfach genial. Es war so toll, dass ich das blöde Grinsen gar nicht mehr aus dem Gesicht bekam. „Sie ist Klasse, oder?“

Flair stellte die Ohren auf.

„Ich mein … hast du sie dir so vorgestellt?“

Sie kläffte.

„Damit hätte ich nie gerechnet.“ Und das meinte ich nicht im negativen Sinne. Ganz im Gegenteil. Den Ärger mit meinem Vater mal beiseite gelassen, das hätte ich schon viel früher machen sollen. Naja, hätte ich wahrscheinlich auch, wenn ich gewusst hätte, wie und wohin. Aber jetzt war es egal, jetzt war ich hier und das war toll, auch wenn ich jetzt in diesem Raum saß und nicht wusste, was ich mit mir anfangen sollte. Obwohl eigentlich könnte ich ja eine Kleinigkeit essen. Meinem Magen jedenfalls ging es schon viel besser als noch vor einer halben Stunde.

Und ich könnte mir auch gleich eine Kleinigkeit für die Mittagspause machen. Cayenne hätte bestimmt nichts dagegen. Apropos Mittagspause, da fiel mir noch was ein, was mich lächeln ließ. Ob er das erst gemeint hatte? Ich würde auf jeden Fall vorsorgen.

Lächelnd griff ich nach dem Brot und belegte mir eines mit Käse, das ich so nebenbei verspeiste, als ich noch weitere Brote nahm. Einen Teil davon belegte ich mit drei verschiedenen Käsesorten und Schnittlauch. Der Rest bekam einen Belag, den ich …

Als die Tür sich öffnete, sah ich lächelnd auf, doch als ich merkte, wer da in den Salon kam, fiel es ein wenig in sich zusammen. Das war nicht Cayenne, das war Aric in Jeans und Pulli. Und in seinem Schlepptau hatte er Cio und Iesha, die beide ähnlich leger gekleidet waren. Nur die schwarze allgegenwärtige Wollmütze auf Cios Kopf unterschied ihn von den anderen.

Aric stutzte, als er mich auf dem Sofa sitzen sah, wie ich gerade nach der Truthahnwurst griff. „Mir wurde gesagt, dass meine Mutter hier ist, aber …“ Er runzelte die Stirn. „Bist du nicht das Mädchen aus der Reithalle?“

„Ähm … ja?“ Jetzt lass dich bloß nicht von seinem Auftauchen aus dem Konzept bringen. Ich hatte jedes recht hier zu sein, ich war eingeladen worden.

Er musterte mich auffallend. „Was tust du hier?“

„Ich rede mit Cayenne.“ Ich sah kurz zu ihm auf. „Also bis eben, aber dann musste sie kurz weg und jetzt warte ich auf sie und mache dabei das Mittagessen.“

Aric verschränkte die Arme vor der Brust und neigte den Kopf leicht. „Was will meine Mutter den von dir?“

Bei der Frage fiel mir fast das Messer aus der Hand. Was bitte sollte ich darauf antworten? Ich warf einen kurzen Blick zu ihm und dann zu Cio, der mich mit gerunzelter Stirn betrachtete. Iesha hatte sich vertraut an seinen Arm geschmiegt und musterte mich sehr herablassend.

„Also?“, bohrte Aric weiter.

Ich senke meinen Blick wieder auf das Brot und versuchte gelassen zu wirken, als ich noch ein Salatblatt zwischen die Truthahnscheiben schob. „Ich glaube, das solltest du sie selber fragen.“

„Ich frage aber dich.“ Als ich nicht reagierte, bewegte er sich durch den Raum auf mich zu und ließ sich lächelnd neben mir aufs Sofa fallen. „Du weißt dass es Vampiren verboten ist das Schloss zu betreten?“

„Rede mit deiner Mutter.“

Flair sah zu Aric an, legte die Ohren nach hinten und verkrümelte sich auf meine andere Seite, von wo aus sie ihn misstrauisch beobachtete. Entweder sie spürte meine Anspannung, oder sie konnte ihn wirklich nicht leiden – was soweit ich mich zurückerinnern konnte, noch nie passiert war. Ehrlich, dieser Hund konnte an jedem etwas Gutes finden.

„Ich könnte die Wächter rufen“, überlegte Aric. „Dann würden sie dich abführen und wegsperren, weil du eines unserer höchsten Gesetze gebrochen hast.“

Ich kniff die Lippen zusammen und griff unbeirrt nach dem nächsten Brot – Hauptsache meine Hände waren beschäftigt. Das würde er doch nicht wirklich tun, oder?

„Natürlich würde ich auch davon absehen, du musst nur etwas entgegenkommend sein.“

Ich schwieg.

„Du musst es mir nur sagen.“

Plötzlich spürte ich seine Hand auf meinem Knie, wie sie auf Tuchfühlung ging.

„Lass das!“, zischte ich und schlug seinen Arm weg. Dabei flog das Messer quer durch den Raum und landete knapp vor Iesha auf dem Boden. Aber das war mir egal. Aric hatte mich gerade angetatscht. Mein Bruder hatte gerade versucht mich zu befummeln! Natürlich, er wusste nicht dass wir Halbgeschwister waren, aber das machte es nicht wirklich besser, denn mir war diese Tatsache sehr wohl bewusst.

Aric kniff die Augen leicht zusammen. „Du hast gerade nach einem Prinzen geschlagen, ist dir das eigentlich klar?“

„Nein, ich habe nach einem Idioten geschlagen der glaubt sich alles rausnehmen zu können, weil er ein Prinz ist!“, fauchte ich ihn an und erhob mich vom Sofa, um einigen Abstand zwischen uns zu bringen. „Und jetzt lass mich in Frieden!“

„Sonst was?“

Für dieses selbstgefällige Grinsen hätte ich ihn am liebsten etwas an den Kopf geworfen. „Sonst sage ich es deiner Mutter und glaub mir, die wird ziemlich sauer werden.“

Das ließ ihn herzlichst auflachen. „Meine Mutter konnte noch nie sauer mit mir sein. Ich bin ihr kleiner Prinz und als Prinz frage ich dich, was du hier zu suchen hast.“

Verdammt, warum musste dieser Blödmann ausgerechnet jetzt auftauchen? Als er dann auch noch aufstand und auf mich zukam, wich ich bis an den Kamin zurück und warf einen hilfesuchenden Blick zu Cio. Klar, ich hätte Aric auch alles erzählen können, aber ich glaubte nicht, dass das Cayenne so recht gewesen wäre. Außerdem waren wir nicht alleine.

Cio fing meinen Blick auf. Es war ihm anzusehen, dass auch er wissen wollte, was ich hier zu suchen hatten und trotzdem öffnete er den Mund. „Komm schon Aric, lass das. Die ist den Ärger doch nicht wert.“

Autsch.

„Genau“, fügte Iesha noch hinzu. „An so einem kleinen Flittchen solltest du dir nicht deine Hände dreckig machen.“

Das brachte ihr einen eigentlich tödlichen Blick ein. Ich war sicher kein Flittchen. Wahrscheinlich war ich mit weniger Typen im Bett gewesen, las sie.

„Also, was ist nun?“, wollte Aric wissen, als hätten die beiden nichts gesagt. Er trat genau vor mich und versuchte mein Gesicht am Kinn einzufangen, doch ich schlug seine Hand ein weiteres Mal weg. Was bildete dieser Kerl sich eigentlich ein? „Sagst du es mir?“

Auf der Couch fing Flair an wie wild zu bellen.

„Komm schon, Aric, lass sie einfach“, sagte Cio da wieder.

„Nein, ich will jetzt wissen, was sie hier macht. Meine Mutter hat noch nie einen Vampir ins Schloss gelassen. Was also ist an dir so besonderes, dass sie dafür sogar das Frühstück mit der Familie ausfallen lässt?“

Das hatte sie ja gar nicht, ich gehörte auch zur Familie. Nur wusste er es nicht. „Ich hab es dir schon einmal gesagt, wenn du etwas wissen willst, dann frag deine Mutter. Meinetwegen auch deinen Vater und jetzt lass mich endlich in Ruhe, bevor ich dir ein paar scheuern muss.“

Plötzlich war das Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden. Als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst, machte er einen Schritt vor mir zurück und funkelte mich wütend an. „Mein Vater ist tot.“

„Was?“ Mein Mund klappte runter, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, aber kein Ton kam raus. Ich konnte ihn nur mit schreckensweiten Augen ansehen. Das konnte doch nicht sein Ernst sein.

Sydney war tot?

 

°°°°°

Süßes Blut

 

„Aber, dein Vater … ich habe ihn doch gestern noch …“ Eilig klappte ich meine vorlaute Klappe zu, als mir ein schier unglaublicher Geistesblitz kam. Konnte es sein, dass Aric gar nicht wusste, wer sein richtiger Papa war? War es möglich, dass Cayenne ihn in dem Glauben aufgezogen hatte, König Nikolaj sei sein leiblicher Vater? Aber das würde sie doch nicht tun, oder? Um das herauszufinden blieb mir eigentlich nichts anderes übrig, als vorsichtig nachzufragen. „Du sprichst von König Nikolaj, oder?“

„Von wem den sonst? Oder glaubst du meine Mutter lässt sich mit irgendeinem dahergekommenen Straßenköter ein?“

„Nein, natürlich nicht“, beeilte ich mich zu sagen. Irgendwie hatten mir verärgerte Leute schon immer ein bisschen Angst gemacht. „Tut mir leid, ich hab nicht darüber nachgedacht was ich sage.“

Aric kniff die Augen zusammen. „Mit dir stimmt doch irgendwas nicht.“

Warum sagten das die Leute nur ständig? „Mit mir ist alles in bester Ordnung und jetzt lasse mich bitte in Ruhe.“ Ich versuchte mich an ihm vorbei zu drängen, doch in dem Moment packte er mich am Oberarm. Verdammt, das tat weh! „Lass mich sofort los!“

„Erst wenn du mir sagst, was der Spruch mit meinem Vater sollte.“ Sein Griff wurde fester, als seine wölfischen Augen versuchten mich zu durchbohren.

„Du tust mir weh.“ Mein Arm pochte schon schmerzhaft.

„Hey, Aric“, mischte sich da Cio ein. „Vielleicht solltest du …“

„Antworte!“, fauchte Aric mir ins Gesicht und diese eine Wort brachte eine Macht mit sich, die mir wie ein Geruch entgegenschlug und mir die Härchen im Nacken aufrichtete. Es war wie bei Cayenne gestern, nur noch stärker.

Auch Cio und Iesha zuckten darunter zusammen.

Wie bei einem Schutzmechanismus fuhren meine Fänge aus und ließen mich die Drohgebärde mit hochgezogenen Lippen und einem warnenden Fauchen erwidern.

Ein kleiner, schwarzweißer Tornado fegte von der Couch und rannte kläffend um Aric herum.

„Aric, lass sie los!“, donnerte eine Stimme von der offenen Tür die eindeutig Cayenne gehörte. Alle Blicke wirbelten zu ihr herum. Der Ausdruck in Cayennes Gesicht ließ keinen Zweifel daran, wie ernst es ihr war. „Sofort!“

Aric verengte die Augen ein wenig und verstärkte seinen Griff einen Moment schmerzhaft, bevor er seine Hand fallen ließ. Sofort stolperte ich von ihm weg, schnappte mir Flair vom Boden und verzog mich ans andere Ende des Raums, wo ich meinen Hund gegen mein wild pochendes Herz drückte. Dabei betete ich darum, dass mein Wolf nicht hervorbrach, wo ich ihn doch schon dicht unter der Haut spürte.

Cayenne ließ den Blick über alle Anwesenden gleiten und blieb schließlich an ihrem Sohn hängen. „Du legst niemals wieder Hand an dieses Mädchen, hast du mich verstanden?“

„Aber …“

„Nie wieder!“

Er presste kurz die Zähne zusammen. „Du hast nicht gehört, was sie gesagt hat. Sie hat über meinen Vater gespottet.“

„Nein, ich hab nicht … ich … ich …“ Wie sollte ich das nur erklären? „Ich hab nicht gewusst, dass … ich hab da was verwechselt“, gab ich letztendlich etwas kleinlaut von mir.

„Wie kann man da etwas verwechseln?“, wollte Aric von mir wissen. „Es gab in letzter Zeit nicht allzu viele Könige, die mein Vater sein konnten.“

Und das war wohl der Moment, in dem Cayenne aufging, was hier wirklich vorging. In dem kurzen Blick den sie mir zuwarf, sah ich das Entsetzen darum, dass es in diesem Raum außer ihr noch jemanden gab, der von Arics wahrer Herkunft wusste. Sie hatte wohl nicht damit gerechnet, dass mein Vater mir wirklich alles erzählt hatte. „Ich denke Zaira hat sich einfach nur falsch ausgedrückt“, versuchte sie zu retten, was noch zu retten war.

Aric warf seiner Mutter einen misstrauischen Blick zu. „Zaira? Ich dachte ihr Name sei Sarah.“

Oh Mist. Konnte es eigentlich noch schlimmer werden? „Das ist mein Spitzname. Also Zaira. Zaira ist mein Spitzname.“

Bevor Aric weiter darauf herumreiten konnte, griff Cayenne ein. „Was tust du eigentlich hier? Solltest du nicht die Papiere für das Gemeindezentrum fertig machen? Ich habe dir den Ordner dafür extra vor dem Frühstück gegeben.“

„Nein, hast du nicht. Du hast mir die falsche Akte gegeben. Deswegen bin ich ja hochgekommen und über sie gestolpert.“ So wie er auf mich zeigte, hatte ihn wohl nie jemand beigebracht, dass man mit einem nackten Finger nicht auf einen angezogenen Menschen deutete. „Und was macht sie überhaupt hier? Sie ist ein Vampir.“

Cayennes warmer Blick sank um ein paar Grad. „Ob du es nun glaubst oder nicht, dass ist mir sehr wohl bewusst. Außerdem bin ich dir keine Rechenschaft schuldig.“

„Aber du hast noch nie ein Vampir mit ins Schloss gebracht“, protestierte er, als sei dies das schrecklichste Verbrechen seit Menschengedenken.

„Das ist nicht richtig“, korrigierte Cayenne ihn. „Du hast es bisher nur nie mitbekommen, wenn ich vampirischen Besuch empfangen habe, weil das nur sehr selten vorkommt.“

Das ließ den Prinzen verblüfft den Mund schließen.

„Und nun geht, ich habe mit Zaira noch ein paar Dinge zu besprechen. Den richtigen Ordner lasse ich dir gleich bringen, damit du ihn noch durcharbeiten kannst, bevor du nachher runter nach Silenda gehst.“

Aric sah kurz so aus, als wollte er noch etwas dazu sagen, brummte dann aber nur ein „Lasst uns abhauen“ in Richtung seiner Freunde und verließ ziemlich verärgert den Raum. Cio warf mir noch einen kurzen, nachdenklichen Blick zu, bevor er die Tür leise hinter sich ins Schloss zog und mich mit Cayenne wieder allein ließ.

„Es tut …“

Sie legte hastig den Finger auf die Lippen, um mir zu zeigen, dass ich still sein sollte. Dann lauschte sie hinaus in den Korridor, bis sie erleichtert seufzte und sich mit der Hand über die Schläfe rieb. „Das war knapp gewesen.“

„Tut mir leid. Ich hab gedacht Aric wüsste dass Sydney sein Vater ist.“

„Nein, das weiß er nicht, wir haben es ihm nie gesagt.“ Schwer ließ sie sich auf die Couch sinken und verschränkte die Hände im Schoß. „Wir wollten es immer, wenn er älter ist, aber irgendwie hatte sich nie der richtige Moment ergeben. Aric akzeptiert Sydney als meinen Gefährte und er liebt ihn auch wie einen Vater, doch dieses Wort hat er nie benutzt. Er glaubt mit Leib und Seele, dass er von Nikolaj abstammt und ich habe es nie über mich gebracht, ihn über die Wahrheit aufzuklären.“

„Das wusste ich nicht.“ Also hatte sie drei Kinder und nur das, das nicht bei ihr lebte, kannte die Wahrheit über ihre Eltern, denn Kiara wusste sicher auch nicht, dass sie in Wirklichkeit die Tochter eines Vampirs war.

Cayenne sah zu mir auf. „Es wundert mich sowieso, dass du Bescheid weißt.“

Ich zuckte die Schultern. „Papa hat es mir erzählt.“

Ihr Seufzen erfüllte die Luft, so schwer war es. „Pass in Zukunft bitte einfach auf, was du sagst. Ich möchte nicht dass Aric es auf diese Art erfährt.“

Das konnte ich nur zu gut verstehen.

„Und leider bin ich auch nicht hergekommen, um unser Gespräch fortzusetzen, sondern um dir zu sagen, dass wir es verschieben müssen.“ Sie grinste leicht schief. „Der Schlossalltag will mich einfach nicht in Ruhe lassen.“

„Tja“, sagte ich und zuckte mit den Schultern. „Da kann man wohl nichts machen.“ Ob sie wohl die Enttäuschung in meiner Stimme hörte?

„Es tut mir leid. Wenn ich könnte, dann würde ich alle zum Teufel schicken, aber irgendwie tun die immer alle so, als würden sie ohne mich keinen Schritt geradeaus gehen können. Und dann kommt alles ins Stocken. Und dann muss ich ja auch noch mit der Belegschaft wegen dem Ball reden und die Betawölfe sitzen mir im Nacken und jetzt auch noch Hisam und …“ Sie unterbrach sich, als sie merkte, wie sie ins Schwafeln geriet. „Ich kann nur wiederholen dass es mir leid tut.“ Sie stand auf, um mir zögernd eine Hand auf die Schulter zu legen. „Und das was gerade passiert ist … nimm es Aric bitte nicht übel, er steht momentan unter großem Druck. Natürlich entschuldigt das nicht, dass er dich so grob angefasst hat, aber er ist ein guter Junge.“

„Ist schon gut, ich versteh schon.“ Auch wenn es mir nicht passte. Mein Arm tat immer noch weh. Das würde sicher einen blauen Fleck geben.

„Nein, es ist nicht gut und es tut mir leid, Zaira.“ Sie kniff kurz die Lippen zusammen. „Pass auf, Ginny wird gleich kommen und dich nach draußen bringen. Gorge weiß Bescheid, dass du in Zukunft einige Aufgaben für mich erledigen sollst. Er wird sich also nicht wundern, wenn du nicht immer da bist.“

„Was denkt er denn, was ich tue?“

Ihr Mundwinkel zuckte. „Diego hat ihm erzählt, dass du so ein großer Fan von mir bist und dass du mich davon überzeugen konntest, dir kleine Botengänge aufs Auge zu drücken, die außerhalb des Schlosses zu erledigen sind.“

„Ich bin dein Laufbursche?“

Sie zuckte hilflos mit den schmalen Schultern. „Etwas Besseres ist uns auf die Schnelle nicht eingefallen.“

Na super.

„Und morgen Vormittag kannst du dich darauf vorbereiten, dass Diego dich wieder abholt und zu mir bringt.“ Sie lächelte mich an. „Wir müssen doch schließlich dafür sorgen, dass du auf deinem Ball wie eine richtige Prinzessin aussiehst und heute schafft Madam Laval es nicht mehr vorbeizukommen.“

Das alles hatte sie in der kurzen Zeit ihrer Abwesenheit geklärt? Ich war beeindruckt. „Okay.“

„Du wirst sowohl meine persönliche Schneiderin, als auch meinen früheren Mentor für Etikette kennenlernen. Und wir müssen üben, damit du wie ein Lykaner herüberkommt. Du riechst zwar nach Vampir, aber …“

„Schon klar, Zähne zeigen verboten. Keine Sorge, das kann ich. Ich lebe unter Menschen, daher bin ich das gewohnt.“

Wieder trat dieser wehmütige Zug in ihr Gesicht. „Zaira, ich …“

Als sie schon wieder von einem Klopfen an der Tür unterbrochen wurde, knurrte sie verärgert. „Was?!“, bellte sie.

Wieder war es Diego, der seinen Kopf zur Tür reinsteckte. „Ginny ist hier und Baroness Bea wird langsam ungeduldig. Sie hat gedroht ihre Stimme zurückzuziehen, wenn du nicht in den nächsten fünf Minuten vor ihr erscheinst.“

Hätte sie mit den Augen Pfeile abschießen können, hätte sie das wohl in diesem Moment gemacht. „Manchmal frage ich mich wirklich, wer hier eigentlich die Königin ist.“ Seufzend wandte sie ihren Blick wieder auf mich. „Es tut mir leid, ich muss gehen.“

„Ich versteh schon“, sagte ich leicht grinsend. „Der Alltag einer Königin.“

„Es tut mir wirklich leid.“

„Tja, manchmal geht es einfach nicht anders.“

„Ich hoffe wirklich dass du mir nicht böse bist.“ Sie drückte meine Schulter leicht. „Wir sehen uns dann morgen, okay?“

„Klar und …“ Da fiel mir noch etwas ein. „Ähm … kann ich dich noch was fragen?“

„Natürlich.“

„Ähm … also ich hab von dieser Vollmondjagd morgen gehört und, naja, ich würde da gerne mitmachen wenn das geht.“

Cayenne zögerte kurz. „Ich weiß nicht, ich …“

„Niemand wird mich erkennen, das verspreche ich. Wenn ich mich verwandelt habe, riecht man den Vampir in mir kaum noch. Ich würde halt nur mal gerne sehen, wie sowas ist und naja, ich würde halt auch gerne mal als Wolf mit dir laufen.“ Klang das jetzt genauso bescheuert, wie es sich in meinen Ohren angehört hatte?

Cayenne jedoch lächelte. „Wir werden das sicher irgendwie einrichten können. Aber jetzt muss ich wirklich los.“

„Okay.“ Ich zögerte einen Moment, überwand mich dann aber und drückte sie einmal kurz an mich, bevor ich doch ein wenig peinlich berührt wieder zurück wich. „Dann bis morgen.“

Ihr Lächeln war das Letzte, was ich von ihr sah, dann trat Ginny an ihre Stelle und brachte mich wieder durch die Gänge der Bediensteten nach draußen. Natürlich vergaß ich dabei nicht die Sandwiches, die ich extra gemacht hatte und fand mich so kurze Zeit später im Stall wieder, wo ich von Gisel mit einem Kopfschütteln begrüß wurde. Sie hatte wohl auch davon gehört, dass ich jetzt Botengänge für die Königin machte, weil ich ein verrückter Fan war, aber das war mir herzlich egal.

Bis auf die Sache mit Aric war dieser Morgen einfach perfekt gewesen und so konnte ich den ganzen Vormittag nichts anders tun als dümmlich vor mich hin zu grinsen. Sowohl als ich die Boxen ausmistete, als auch als ich die Pferde versorgte, oder dazu verdonnert wurde, den Geräteraum aufzuräumen. Irgendwie konnte mir nichts die gute Laune verderben. Als Gisel mir dann sagte, ich könne erst essen gehen, wenn ich mit der Arbeit fertig sei und sich selber aus dem Staub machte, hatte ich nur ein fröhliches „Geht klar“ auf den Lippen.

Zwischendurch meldete sich dann auch noch Kasper und beschwerte sich bei mir darüber, dass ich mich seit Samstagabend nicht mehr gemeldet hatte, aber auch sein Geschimpfe, ließ das Hochgefühl auf dem ich schwebte nicht verschwinden.

Und so ging ich fröhlich pfeifend, als praktisch alle anderen von ihrer Pause schon zurück waren, mit meinem Mittagessen und meinem Hund im Schlepptau hinüber zur Reitstube.

Die Sonne hatte sich heute in den Kopf gesetzt, zum ersten Mal in diesem Jahr ein paar wärmenden Strahlen auf die Erde zu schicken. Das ließ den Schnee zwar nicht schmelzen, aber es war angenehm. Ich hielt mein Gesicht einfach in den sonnigen Tag, schloss die Augen und atmete tief die frische Luft ein, während Flair einen Slalomlauf um den Schneematsch machte – half nicht viel, ihre Pfoten wurden trotzdem nass.

Ein leises Lachen ertönte vor mir und als ich die Augen wieder öffnete, sah ich Cio auf der kleinen Veranda der Reitstube stehen. Er trug nicht mehr die Kleidung, die er vorhin im kleinen Salon anhatte, sondern so einen ledernen Anzug, wie ich ihn heute schon bei seinem Vater gesehen hatte. Die lederne Kriegerkleidung der Neuzeit. Nur die schwarze Wollmütze passte nicht so ganz in Bild. Ansonsten sah er darin ziemlich gut aus, irgendwie männlicher – oh Gott, meine Gedanken sollten echt verboten werden.

„Du scheinst gerade mit der Sonne um die Wette zu strahlen“, grinste er mich an.

Ich lächelte breit zurück, als ich die drei Stufen erklomm. „Dazu habe ich auch allen Grund.“ Noch bevor ich die Tür ganz geöffnet hatte, flitzte Flair bereits an mir vorbei ins Trockene.

„Verrätst du ihn mir?“

„Vielleicht wenn du ganz lieb bitte, bitte sagst.“

„Das lässt sich einrichten.“ Hinter mir trat er in die Reitstube. Er war es auch der die Tür schloss, als ich mich bereits aus meiner Jacke pellte und sie in die Garderobe hängte. Wir waren die Einzigen, die anderen waren alle schon wieder an die Arbeit gegangen. Irgendwie komisch, das war genau wie gestern.

Ein „Schicker Anzug“ konnte ich mir nicht verkneifen.

Cio ließ den Blick einmal an sich herunter gleiten, bevor er mich frech angrinste. „Findest du?“ Wie eine prima Ballerina drehte er eine Pirouette, damit ich ihn von allen Seiten begutachten konnte.

„Wirklich, sehr schickt.“

„Ja, meine Arbeitskleidung bringt meine Schokoladenseite echt gut zum Vorschein.“ Er warf sich in Pose und zwinkerte mir zu.

Breit grinsend holte ich mein Mittagessen aus der Jacke und setzte mich damit an Tisch. Cio setzte sich wieder neben mich und guckte ein wenig fragend, als ich ihn ein Lunchpacket zuschob.

„Was ist das?“, fragte er und packte es bereits aus, ohne auf die Antwort zu warten. Als die Brote mit dem Truthahn zum Vorschein kamen, grinste er mich an. „Du hast mir Mittagessen gemacht?“

„So wie du es bestellt hast.“

„Ich bin zu Tränen gerührt.“ Er wischte sich eine imaginäre Träne aus dem Augenwinkel und schniefte laut.

„Spinner“, sagte ich und biss hungrig in mein Brot.

„Und zwar aus tiefster Überzeugung“, erwiderte er und tat es mir nach. Kauend musterte er mich nachdenklich, solange bis ich mich gezwungen sah, nachzufragen, ob ich da etwas im Gesicht hätte.

„Eine Beule“, erwiderte er schlicht und tippte mir vorsichtig gegen die Stirn. „Die hattest du gestern Abend schon.“

Ich zuckte die Schultern und fragte mich was das angenehme Kribbeln auf meiner Stirn von seiner Berührung zu bedeuten hatte. „Ich bin gegen einen Baum gerannt. Passiert manchmal.“

Gerade wollte er wieder in seine Brot beißen, ließ es dann aber verdutzt sinken. „Du bist gegen einen Baum gerannt? Wie hast du das denn geschafft?“

„Nachts ist es im Wald ziemlich dunkel und als Wolf trage ich keine Brille.“

„Würde ja auch irgendwie albern aussehen.“

„So sehe ich das auch.“ Ich biss ein weiteres Mal in mein Brot und dieses Mal war ich es, die ihn musterte. Wo wir schon mal beim Thema Wald waren, da gab es noch eine Frage, die mich brennend interessierte. Ich schluckte runter und gab das restliche Stück von meinem Brot Flair, die schon erwartungsvoll zu meinen Füßen saß und darauf hoffte, dass mir ausversehen etwas aus der Hand rutschte. „Sag mal, wie hast du mich gestern im Wald eigentlich gefunden? Ich meine, war ja nicht wirklich offensichtlich, dass ich mir an diesem Abend ein Fell wachsen lassen würde, um ein bisschen durch die Gegend zu stromern.“ Ich legte meine Unterarme auf den Tisch und wartete gespannt.

„Das war eigentlich gar nicht so schwer. Ich bin wie verabredet um halb acht in dein Zimmer gegangen, aber rate mal wer nicht da war.“

Ich zog die Augenbrauen hoch. „Ich hab dir bereits gestern erklärt, dass ich für dich nicht strippen werde.“

„Wir waren trotzdem verabredet und du warst nicht da, also hab ich mich auf die Suche nach dir gemacht. Leider hast du ja immer nach Pferd gerochen, also kannte ich deinen Geruch nicht, deswegen bin ich Flairs Fährte gefolgt, den deinen Hund hast du ja immer bei dir und hab mich dann im Wald verwandelt, als ich deine Brille im Gebüsch gefunden habe.“

„Hast du es da etwas schon gewusst?“

Er schüttelte grinsend den Kopf. „Nein. Und ich hab mich auch ziemlich gewundert, aber im Wald läuft es sich auf vier Beinen nun mal leichter und meine Nase funktioniert dann auch besser. Obwohl ich mich ja schon gewundert hab, warum du deine Klamotten unter einem Busch versteckst.“

Ich grinste. „Hast wohl gedacht, ich laufe nackt im Wald herum.“

„Hey, dann wäre ich auf jeden Fall noch zu meinem Strip gekommen.“

Das konnte ich nur mit einem Schnauben kommentieren.

„Auf jeden Fall bin ich dann Flairs Fährte gefolgt und hab mich noch gewundert, warum es noch überall nach Werwolf riecht, mir darüber aber nicht groß den Kopf zerbrochen, weil da jede Menge Wölfe herum laufen. Aber ihre Spur war ziemlich schnell verschwunden.“

Ah, das muss gewesen sein, als ich sie hochgehoben hatte.

„Da bin ich dann halt ein bisschen planlos rumgelaufen und auf der Partylichtung wieder auf ihren Geruch gestoßen. Dem bin ich dann gefolgt und dann irgendwann auf dich gestoßen.“

„Das heißt du hast sofort gewusst, dass ich das da vor dem Grab bin?“

„Erst als ich Flair in dem seltsamen Anzug gesehen habe und darüber nachdachte, wofür diese Henkel an ihrem Anzug gut sein sollten. Naja, da hab ich etwas vermutet, aber wirklich sicher war ich erst, als ich deine Augen gesehen habe.“

„Moment.“ Ich richtete mich ein bisschen gerader auf. „Das heißt, als du mich angesprochen hast, wusstest du noch gar nicht dass ich das bin?“

„Nope“, grinste er. „Aber ich habe es stark vermutet und wie man sieht, hatte ich ja auch recht.“ Damit schob er sich den Rest des ersten Brotes in den Mund und griff nach seinem zweiten.

Ich konnte darüber nur den Kopf schütteln. „Und warum bist du dann hier? Du kennst mein Geheimnis doch schon.“

„Warum hast du mir die Sandwiches gemacht?“, stellte er mir die Gegenfrage.

Ich zuckte nichtssagend mit den Schultern. „Ich kann dich gut leiden und habe auf Gesellschaft gehofft.“

„Oh, das hast du aber schön gesagt.“

„Und darauf dieses Mal mein Mittagessen ganz für mich zu haben“, setzte ich noch hinterher, woraufhin er mir die Zunge rausstreckte.

Das entlockte mir einen Lacher. „Ich hoffe nur wirklich, dass du das für dich behalten kannst.“

„Hey, deine Geheimnisse sind bei mir genauso gut aufgehoben, wie meine bei dir.“

Ich verstand sofort worauf er hinaus wollte. „Das heißt also, wenn ich meinen Mund nicht halte, tust du das auch nicht.“

Kauend grinste er, was schon irgendwie eklig aussah. „Wie du mir, so ich dir.“

„Zum Glück war ich schon immer recht verschwiegen“, gab ich etwas trocken zurück und griff nach meinem zweiten Brot. Dabei dachte ich darüber nach was Cio mir gestern über sein Geheimnis erzählt hatte. Was er da getan hatte, war schon ziemlich übel. Klar, man könnte es damit entschuldigen, dass er erst dreizehn gewesen war, aber eigentlich müsste man in diesem Alter auch schon ein Verständnis für Richtig und Falsch haben. Da blieb nur zu hoffen, dass er heute nicht mehr so war.

„Was?“, fragte Cio, als er bemerkte, dass ich ihn nachdenklich beobachtete.

„Ich … ach nichts.“ Ich biss noch einmal von meinem Brot ab und reichte den Rest dann wieder Flair nach unten.

„Komm schon, sag dem netten Cio, was du auf dem Herzen hast.“ Er stieß mir spielerisch mit der Schulter gegen den Arm. Leider erwischte er dabei die Stelle, die Aric am Morgen so gequetscht hatte, was mir ein Zischen entlockte. Er runzelte die Stirn. „Was ist los?“

„Nichts weiter. Da tut es nur ein bisschen weh.“

Er senkte den Blick auf meinen Arm und dann schien ihm ein Licht aufzugehen. „Ist es sehr schlimm?“

„Nicht wenn man da nicht rankommt.“

„Das tut mir leid, das hätte Aric nicht tun dürfen.“

„Ist aber nun mal passiert, dagegen kann man jetzt auch nichts mehr machen.“

Das schien Cio ein wenig anders zu sehen. Er drehte meinen Stuhl mit einem Ruck zu sich herum, was mich überrascht aufkeuchen ließ und griff dann nach den Knöpfen meines Karohemdes.

„Hey!“ Ich schlug ihm auf die Pfoten. „Hast du sie noch alle?“

„Ach komm schon, du trägst doch sicher noch was darunter und ich will mir nur mal deinen Arm ansehen.“

„Und du meinst nicht, dass es einfacher wäre, da einfach den Ärmel hochzuschieben?“ Oder vorher wenigstens um Erlaubnis zu fragen.

„Einfacher ja, aber es würde sicher mehr wehtun“, gab er pragmatisch zurück.

Ich zog die Augenbrauen nach oben. „Und du glaubst wirklich, deswegen lass ich dich bei mir einfach an die Wäsche gehen?“

„An die Wäsche gehen?“ Er grinste. „Das hört sich gut an.“ Seine Augenbrauen wackelten spielerisch nach oben und unten. „Und jetzt lass mich gucken. Ich weiß wie Mädchen aussehen, ich werde dir bestimmt nichts wegschauen.“

„Aber du weißt nicht wie ich aussehe“, sagte ich stur und wollte meinen Stuhl wieder zurückdrehen, doch er hielt ihn einfach fest. Ich drückte die Lippen aufeinander, spießte ihn mit einem Blick auf und versuchte es noch einmal, doch er hatte einfach zu viel Kraft – war ja auch kein Wunder, schließlich war er ein reinblütiger Lykaner und ich nicht.

„Ach nun komm schon, Sarah, ich will doch nur sehen ob alles okay ist.“

„Danke, aber das kann ich auch selber.“

Er verengte die Augen. „Du bist ein richtig stures Frauenzimmer.“

„Und du ein richtig aufdringlicher Idiot.“

„Und dazu stehe ich!“, gab er überschwänglich wieder. „Nun komm schon, zeig es mir. Du darfst dein Hemd auch alleine aufmachen, wenn du Angst vor meinen flinken Fingern hast.“

„Oh, wie gnädig von dem Herrn.“

Das ließ ihn wieder grinsen.

„Na schön, meinetwegen“, gab ich mich geschlagen und machte mich zögernd daran die oberste Hälfte der Knöpfe zu öffnen. Die untere blieb geschlossen. Ich würde ihm auf Teufel komm raus sicher nicht meine Spiralröllchen zeigen, die sich unter dem Unterhemd abzeichneten. Aber leider war das Unterhemd auch ziemlich tief ausgeschnitten, was ihm einen guten Einblick in mein Dekolleté gab.

„Wow“, entkam es ihm. „Bei den Klamotten die du da trägst, hätte ich niemals gedacht, dass du da sowas versteckst.“

Ich kniff die Augen zusammen. „Ich dachte du wolltest meinen Arm sehen.“

Und da war es wieder, das schelmische Lächeln. „Hey, ich bin auch nur ein Kerl.“

„Einer mit einer festen Freundin“, erinnerte ich ihn.

Vorsichtig streifte ich mein Hemd über die Schulter, bis die gequetschte Stelle zum Vorschein kam. Sie war aufs Übelste blau angelaufen. Man sah genau, wo er jeden einzelnen seiner Finger gehabt hatte.

„Oh“, sagte Cio. „Das sieht übel aus.“

„Morgen Abend schon wird es nichts weiter als eine Erinnerung sein.“

„Ah, ja, die Selbstheilungskräfte eines Vampirs.“ Er grinste und beugte sich weiter vor, um den Fleck genauer begutachten zu können. Seine Finger berührten dabei ganz sanft meinen Arm. Doch das bekam ich kaum mit. Mein Blick war auf seinen Hals gefallen, auf die Stelle an der sein Puls direkt unter der Haut schlug. So verlockend und … scheiße, das war doch jetzt wohl nicht mein Ernst! Warum hatte ich jetzt nur daran denken müssen? Ihn so nahe vor mir zu haben, brachte mich nur auf komische Ideen. Ich hasste es, wenn mein Bluthunger mich so plötzlich packte. Das hieß immer, dass ich dringend auf die Jagd musste. Andererseits saß er doch hier direkt vor mir, so …

„Starrst du mir da etwa auf den Hals?“

Ertappt fuhr ich auf und schmiss dabei auch noch meinen Stuhl um. „Ähm … tut mir leid, das wollte ich nicht, ich …“ Fahrig machte ich mich daran die Knöpfe meines Hemdes zu schließen und wandte ihm dabei den Rücken zu. Gott war mir das peinlich.

„Hey.“ Cio stand auf und umrundete mich, um nach meinen fahrigen Händen zu greifen. „Ist doch nicht schlimm. Du bist ein Vampir und Vampire tun sowas.“

„Ich bin kein Vampir, ich bin ein Misto.“

„Und trotzdem brauchst du hin und wieder Blut.“ Als ich nicht reagierte, ließ er meine rechte Hand los und hob mein Gesicht am Kinn, bis ich ihm in die Augen sehen musste. „Brauchst du Blut?“

„Ja, aber ich … ich muss mir jetzt irgendwo was besorgen.“ Ich rückte von ihm ab, um die restlichen Knöpfe zu schließen. Dabei sah ich ihm nicht an. Mein Blick wäre sowieso nur wieder an seinem Hals hängen geblieben. Ich würde meinen Vater suchen müssen, jetzt gleich, bevor ich wirklich einfach jemanden nahm, der gerade meinen Weg kreuzte. Das war mir schon ein paar Mal passiert.

„Sarah, wenn du Blut brauchst, kannst du es gerne von mir nehmen.“

Beinahe schon entsetzt flog mein Blick zu ihm.

„Jetzt guck mich nicht so an. Ich hab dir bereits gestern gesagt, dass ich mich gerne beißen lasse und so haben wir beide was davon.“ Er kam wieder einem Schritt auf mich zu, den ich sofort zurückwich. Er verzog das Gesicht. „Aber wenn du nicht willst, dann kann ich dir auch nicht helfen.“

„Du hast eine feste Freundin“, wiederholte ich, als wenn er es vergessen hätte. „Die wäre sicher nicht begeistert von deiner Idee.“

„Ich hatte auch nicht vor sie dazu einzuladen.“

Was wollte er denn jetzt damit andeuten?

„Schau nicht so misstrauisch. Ich wollte dir eigentlich nur einen Gefallen tun, weil ich dich gut leiden kann. Andere Lykaner hier im Hof tun das auch, weil halt nicht immer ein Wirt in der Nähe ist. Da ist also nichts Verwerfliches bei.“

„Aber …“

„Wenn du nicht willst, dann lass es.“ Er zuckte ziemlich gleichgültig mit den Schultern. „War nur so eine Idee gewesen. Ich hab das halt schon lange nicht mehr gemacht und irgendwie Lust da drauf.“

Ich biss mir auf die Lippen. Meine Fänge fingen schon allein bei der Vorstellung, sie in seiner Haut zu versenken, an zu pochen. Nur der Gedanke es zu tun war seltsam. Ich hatte noch nie jemanden gebissen, den ich kannte, immer nur Fremde die ich danach nie wiedersehen musste – von meinen Eltern einmal abgesehen. Und außerdem hatte er eine Freundin. Andererseits taten das laut seiner Aussage auch andere Lykaner für die Vampire. Und der Gedanke ihn beißen zu dürfen, einmal im Leben die Erlaubnis zu haben Blut zu trinken, ohne den Wirt vorher durch das Joch unter Kontrolle zu bekommen, ja der Gedanke hatte schon etwas Verlockendes. Und er erwartete ja auch sonst nichts weiter.

„Die Entscheidung liegt bei dir“, sagte er, als er meine Unentschlossenheit bemerkte.

Flairs Blicke flogen neugierig zwischen uns hin und her, als würde sie ahnen, was hier im Argen lag.

„Ich hab noch nie von jemanden getrunken, den ich kenne.“

„Na dann wird es ja höchste Zeit.“ Er ging zur Garderobe und nahm meine Jacke vom Haken, um sie mir hinzuhalten. „Na los, komm.“

Ich zögerte noch immer. Aber wenn ich nicht mit ihm ging, dann würde ich meinen Vater aufsuchen müssen und ich wusste nicht, ob ich schon bereit war, ihm wieder unter die Augen zu treten.

Flair bellte einmal ihr Minibellen, als wollte sie mich auffordern, endlich nachzugeben und diese unnötigen Gedanken zu vergessen – jetzt bildete ich mir auch noch ein, dass mein Hund sowas vermitteln konnte. Mit mir ging es wirklich bergab.

„Ähm … okay“, stimmte ich schließlich doch zögernd zu und ließ mir von Cio in die Jacke helfen.

Er lächelte und hielt mir dann die Tür auf.

Da Flair sich weigerte auch nur einen Schritt hinaus in diesen feuchtkalten Tag zu machen, nahm ich sie kurzerhand auf den Arm, bevor ich an ihm vorbeiging. Dabei sah ich ihn nicht an.

Er schloss die Tür hinter sich und gesellte sich dann an meine Seite.

„Und wo gehen wir jetzt hin?“, fragte ich dann ein wenig nervös.

„Am besten an einen Ort, wo nicht so viele Leute sind.“

Ich verstand ihn sehr gut. So ein Biss konnte einem schon in ein gutes High versetzen. Das war kein Zustand, in dem jeder einen sehen sollte. Sowas war privat. „Okay, ich weiß vielleicht einen Ort.“

 

°°°

 

Ich öffnete die Tür zu dem Gemeinschaftsraum im Trakt der Vampire. Wie erwartet war er um diese Zeit ausgestorben – alle waren noch artig bei der Arbeit. Hier würden wir ungestört sein, gleichzeitig wäre es aber auch nicht zu privat. Das fand ich wichtig.

„Wow“, kam es von Cio, als ich ihn vor mir einließ und etwas nervös die Tür hinter uns schloss. „So lässt es sich leben.“

Da konnte ich ihm nur zustimmen. Der Gemeinschaftsraum hier unten war sehr groß und neben einer riesigen, freistehenden Wohnlandschaft, vor einem großen Fernseher gab es hier noch eine Bar, zwei Billardtische und eine Dartscheibe. Alles war in einem dunklen Braunton gehalten und nur von indirektem Licht beleuchtet, das geschickt an den verschiedensten Stellen angebracht war. Dieser Raum war von der Ausstattung besser als die Zimmer und jetzt verstand ich auch, warum Eleonore das mit den Partys gesagt hatte. Dieser Raum lud geradezu dazu ein.

„Okay, ich würde sagen, wir machen es uns auf der Couch gemütlich.“ Er zwinkerte mir zu und machte sich sofort ans Werk. Jacke aus, in die Poster geworfen und dann grinste er mich an.

Hallte das nur in meinen Ohren so anzüglich geklungen, oder war das Absicht gewesen? Ich würde ihn sicher nicht danach fragen.

Auch ich ging hinüber zur Couch, nur nicht mit ganz so viel Enthusiasmus wie er. Ich legte meine Jacke ordentlich neben seiner über die Lehne und setzte mich mit einigem Abstand zu ihm, während Flair neugierig den Raum erkundete, um sich dann anschließend schwanzwedelnd vor der Couch niederließ.

Meine Zähne pochten bereits und waren auch schon erwartungsvoll ein wenig länger geworden, aber diese Situation machte mich irgendwie nervös. Es war wirklich seltsam jemanden beißen zu müssen, den man kannte – obwohl müssen hier ja das falsche Wort war. Ich wollte es ja. Irgendwie.

„Na, plötzlich schüchtern?“ Er grinste mich an.

„Nein, nur nervös“, sagte ich ganz ehrlich. Das war eine Eigenart, die ich wohl von meiner Mutter hatte. Sie sprach auch immer aus, was sie gerade dachte. Und auch ich konnte nichts dagegen tun, auch wenn ich manchen Leuten damit auf die Füße trat.

Cios Lächeln wurde breiter. „Warum solltest du nervös sein? Ist doch bestimmt nicht das erste Mal, dass du deine Zähne gebrauchst. Also komm.“

Er schien sich richtig darauf zu freuen. Naja, war für ihn ja auch nicht das erste Mal. Oh Gott, wie sich das anhörte. „Okay. Am besten du machst es dir bequem.“

„Danke, aber ich habe es bereits bequem.“

Ja, das sah man. So wie er sich in die Ecke gefläzt hatte und wartete, konnte man glatt glauben, hier einen Pascha vor sich zu haben. „Na gut, dann …“ Ich rutschte etwas näher, schlug ein Bein unter meinen Hintern, um ihn nah zu sein, ohne auf ihn drauf klettern zu müssen.

„Wo willst du mich den beißen? Da?“ Er zeigte auf seinen sehnigen Hals, der schon ziemlich lecker aussah, aber ich schüttelte den Kopf. So nahe würde ich ihm sicher nicht kommen.

„Handgelenk“, sagte ich daher und musste über seine Oberarme staunen. Unter der Jacke trug er nur so eine Art ärmelloses Lederhemd, das die Arme völlig frei ließ. Und die Muskeln die sich mir da präsentierten, die waren nicht von schlechten Eltern. „Wie lange musstest du trainieren, um die zu bekommen?“ Fast zögernd streckte ich die Hand aus und strich mit dem Finger über seinen Arm bis hinunter zu seinem Handgelenk, wo der Puls verlockend unter der Haut schlug. Ich kannte eigentlich reichliche Kerle, aber von denen hatte niemand solche Arme. Dieser Anblick … er gefiel mir ziemlich gut.

„Ich trainiere schon seit ich ein kleiner Junge war. Mein Vater hat mich ausgebildet.“

Als ich etwas näher rückte und seinen Arm anhob, fuhren meine Fänge zu ihrer ganzen Länge aus. Ich konnte schon die ersten Tropfen des Betäubungssekrets auf meiner Zunge schmecken, das Cio für meinen Biss unempfindlich machen würde. Langsam führte ich sein Handgelenk an meine Lippen, schabte mit den Fängen über die dünne Haut, um sie zu betäuben und stellte mit einem Lächeln fest, dass sein Puls sich beschleunigte. Er stand wohl wirklich darauf gebissen zu werden. „Ich muss dich aber warnen, meine Fänge sind dicker als die von normalen Vampiren.“

„Und das ist schlecht?“

„Nein.“ Ich verteilte da Sekret ein wenig auf seiner Haut. „Aber es kann Narben zurücklassen.“

Er grinste. „Soll mich nicht stören.“

„Und wen die jemand sieht und dich danach fragt?“

„Dann werde ich einfach lächeln und schweigen.“

„Wie ein Genaltmann“, sinnierte ich und drückte meine Fänge gegen die Haut. Dabei beobachtete ich sein Gesicht, ob er es spürte, doch es schien ihm nicht wehzutun.

Das Pochen in meinen Fängen wurde stärker und in meinem Magen machte sich dieses vertraute Hungergefühl breit, das mich antrieb endlich zur Sache zu kommen. So fackelte ich nicht mehr lange und schlug meine Fänge ohne ein weiteres Wort in sein Handgelenk. Dabei spürte ich, wie meine Zähne weiter Sekret produzierten und damit die Wunde tränken.

„Oh Fuck!“, zischte Cio und schloss flatternd die Augen. „Das ist es.“ Sein Atem wurde ein wenig schneller und auf seinem Mund breitete sich beinahe sofort ein verzücktes Lächeln aus. Das Sekret raste durch seinen Körper und verteilte in jedem Winkel wohltuende Endorphine.

Ich wartete einen Moment, bevor ich den ersten Zug nahm und sich der kupferartige Geschmack seines Blutes auf meiner Zunge breit machte. Seufzend senkte ich den Blick und genoss das Süßliche Aroma, das ich so noch nie gekostet hatte. Das war das erste Mal, dass ich das Blut eines Lykaners nahm und es schmeckte fantastisch.

„Oh, das ist echt gut“, raunte Cio in einem Meer aus Glücksgefühlen.

Ich spürte das Schlagen seines Herzens durch den Puls, der im gleichen Takt Blut in meinen Mund pumpte. Mein Griff um sein Handgelenk verstärkte sich. Das war so gut, so schnell würde ich das nicht mehr hergeben.

„Sieh mich an“, flüsterte er. „Ich will dabei deine Augen sehen.“

Langsam hob ich den Blick und sah in seinem lächelnden Gesicht, die leicht glasigen Augen, die jeden Zug von mir zu mustern schienen.

Seine Haut war leicht gerötet. Er schien diesen Moment wirklich hin allen Zügen auszukosten. „Gott, das ist echt der Wahn …“

Das plötzliche klingeln meines Handys zerriss die Stille um uns herum wie ein Blitzschlag. Meine Augen zuckten zu meiner Jacke.

„Nein“, sagte Cio. „Lass es einfach klingeln.“

Ich sah ihn wieder an, sah das flehen und sog einmal so kräftig an seinen Adern, dass es ihm ein Stöhnen entlockte. Und wow, ihn so zu hören und so zu sehen, wie er das genoss, wie sehr er sich hier gehen ließ. Es war nicht nur faszinierend, das war echt der Hammer. Einmal in meinem Leben hatte ich Sex gehabt, aber obwohl dabei sogar nackt gewesen war, erschien dieser Moment mir doch viel intimer. Sein verschleierter Blick, das leichte Lächeln um seine Lippen, der schnelle Atem. Ich hatte noch nie einen Wirt gehabt, der einen Biss von mir so sehr genoss. Es war … keine Ahnung, er ließ sich einfach voll und ganz darauf ein.

„Gott, Sarah, hör bloß nicht auf.“ Unter schweren Lidern beobachtete er mich, ließ meinen Blick nicht los und hielt sich mit der freien Hand am Sofakissen fest, als wollte er verhindern, sie für etwas anderes zu benutzen.

Mein Handy verstummte, nur um gleich daraufhin erneut mit dem Dudeln anzufangen.

Ich wollte den Kopf wieder danach drehen, doch Cio ließ das Sofakissen los und legte die Hand an meine Wange, um mich daran zu hindern. „Ignoriere es einfach“, wisperte er.

Aber wenn es etwas wichtige war? Ich meine, das war jetzt schon der zweite Anruf.

Cio schloss die Hand zur Faust, wodurch ein stärkerer Schwall Blut in meinen Mund geriet. Entzückt schmeckte ich die kupferartige Süße, genoss sie auf der Zunge und …

Das Klingeln brach ab, nur um gleich darauf erneut zu ertönen.

Okay, da wollte jemand ganz dringend etwas von mir. Vielleicht mein Vater, der wissen wollte wo ich steckte? Der Gedanke beunruhigte mich leicht und so zog ich trotz Cios Protest mein Reißzähne aus seinem Arm und kontrollierte, ob die Bisswunde sich auch richtig schloss. Dann drehte ich mich zu meiner Jacke herum, wo das Handy mittlerweile schon zum vierten Mal bimmelte und suchte es hektisch heraus. Wenn das mein Vater war, würde es jetzt sicher wieder ein Donnerwetter geben, weil ich ihn so lange hatte warten lassen.

Aber wie ich mit einem Blick auf das Display feststellen musste, waren die Anrufe gar nicht von meinem ihm gekommen. Stirnrunzelnd drückte ich auf Rückruf und hielt mir das Handy ans Ohr. Dabei vermied ich es Cio anzuschauen, der sich leicht enttäuscht zurück in die Kissen hatte sinken lassen und nun den Nachhall der Bisses genoss.

Er wiederum ließ mich nicht aus den Augen.

Zwei Mal klingelte es, dann wurde abgenommen. „Stimmt es wirklich, dass du heimlich abgehauen bist, um zum Schloss zu fahren?!“, schrie eine vertraute Stimme so fassungslos ins Mikro, dass ich mich gezwungen sah, es von meinem Ohr wegzuhalten, wenn ich keinen Hörschaden erleiden wollte. Das hatten die sicher noch unten in Silenda gehört. Cio zumindest hatte es, so interessiert, wie er mich plötzlich ansah.

„Hallo Alina, es freut mich dass du versuchst mich taub zu machen, aber …“

„Stimmt es? Mama und Papa sind vor einer halben Stunde nach Hause gekommen und haben es mir erzählt. Oh ich krieg hier gerade voll die Krise. Ich kann nicht glauben, dass du das wirklich getan hast!“

„Doch, ich habe es getan, aber können wir das bitte ein anderes Mal klären, ich bin gerade nicht allein.“ Und Cios Ohren waren sicher gut genug, um jedes ihrer Worte am anderen Ende der Leitung zu hören.

Einen Moment blieb es still. „So so“, sagte sie dann mit einem neckischen Unterton in der Stimme. „Nicht allein.“ Ihr Grinsen konnte ich praktisch vor mir sehen. „Heißt das du hast deiner Abstinenz endlich abgeschworen und machst dich jetzt an die Männerwelt ran?“

Das hatte Cio natürlich gehört und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Ich verdrehte nur die Augen. Manchmal glaubte ich wirklich, dass es in Alinas Kopf nichts anderes als Kerle gab. „Nein, er ist nur ein Bekannter, der sich bereit erklärt hat mich trinken zu lassen.“

„Ahhh!“, kreischte sie mir freudig ins Ohr und brachte damit mein Trommelfell gefährlich nahe an einen Hörsturz heran. „Du hast er gesagt, das heißt es ist ein Typ!“

„Und was für einer“, fügte Cio lächelnd hinzu.

Ich ignorierte ihn. „Dir ist schon klar, dass das nicht der erste Kerl ist, von dem ich Blut trinke?“

„Ja, aber du hast gesagt es ist ein Bekannter, was heißt, dass du ihn kennst. Wenn man von deinen Eltern einmal absieht, hast du noch nie von jemanden getrunken den du kennst.“

„Glaub es oder lass es, aber das ist mir sehr wohl bewusst“, erwiderte ich trocken.

Das überhörte sie einfach. „Los, erzähl schon. Wie heißt er, wie ist er so, wie sieht er aus? Ist er heiß?“

Typisch Alina.

Cio pikste mit dem Finger gegen mein Bein, als wolle er meine Aufmerksamkeit zurück und als ich ihm auf die Finger hauen wollte, schnappte er sich einfach meine Hand und behielt sie in seiner. Breit grinsend sah er mich an.

„Er ist ein Lykaner, der so heiß ist, dass du dir an ihm die Finger verbrennen würdest.“

Das Grinsen in Cios Gesicht wurde breiter.

„Wirklich?!“, quiekte Alina mir ins Ohr.

„Nein, oder glaubst du wirklich, dass so ein Kerl sich mit mir abgeben …aua!“ Ich funkelte Cio an. Hatte der mir eben wirklich in den Finger gebissen? Ich versuchte meine Hand frei zu machen, aber er hielt sie fest. Da war wohl jemand in Spiellaune.

„Au? Was ist los? Was hat er gemacht?“

„Wie kommst du darauf, dass er was gemacht hat und ich mich nicht gestoßen habe?“ Ich funkelte Cio an, aber das interessierte ihn wohl nicht. Er lächelte einfach weiter selig vor sich hin und spielte dabei mit meinen Fingern herum. Das Kribbeln, das er dabei bei mir auslöste, versuchte ich so gut es ging zu ignorieren.

„Hm“, machte Alina. „Bei deinem Talent ist das natürlich gut möglich, aber … egal. Okay, ich störe euch beiden dann jetzt nicht weiter. Macht was immer ihr gerade machen wolltet und melde dich bei mir, sobald du Zeit hast. Ich will alles wissen.“

„Soll ich dir einen Bericht schreiben?“

„Nee, erzähl es mir einfach, das reicht mir schon. Okay, wir hören uns. Und gib Flair einen Kuss von mir, bye bye!“ Und die Leitung war tot.

Seufzend schaltete ich das Handy aus und legte es auf den Tisch.

„Eine Freundin?“, fragte Cio und fummelte dabei weiter an meinen Fingern herum, als seien sie das faszinierendste, das er jemals gesehen hatte.

„Nein, meine Cousine.“

Er sah wieder zu mir auf, der Blick immer noch ganz glasig von den Endorphinen. Er musste sich im Moment vorkommen, als schwebte er auf Wolken. „Hast du genug getrunken?“

Naja, eigentlich nicht, aber fürs erste sollte es reichen. „Ja, danke. Das war wirklich nett gewesen.“

„Alles nur Eigennutz“, erklärte er mir mit etwas schwerer Zunge und klopfte sich dabei eines der Kissen zurecht. Als er sich dann neben mir auf der Couch völlig ungeniert ausstreckte und seinen Kopf auf dem Kissen bettete, kam er mir dabei so nahe, dass nicht mehr viel Fehlte und er hätte mit dem Kopf praktisch auf meinem Schoß gelegen.

Kurz war ich versucht, von ihm abzurücken, aber dann würde er mich sicher nur wieder aufziehen. Außerdem hatte er mir gerade von seinem Blut gegeben. Wenn er deswegen jetzt ein wenig Nähe suchte, konnte ich sie ihm ja wohl schlecht verwehren. Außerdem tat er ja nichts schlimmes. Er lag einfach nur sehr nahe neben mir.

„Also“, sagte ich ein wenig unbehaglich, weil ich auf einmal nicht so recht wusste, was ich mit ihm anfangen sollte. Oder wohin ich meine Hände legen konnte. „Jetzt kommt normalerweise die Stelle, an der der Wirt angewiesen wird, sich mit Orangensaft und Crackern zu versorgen.“

Sein Lächeln ließ ein Hauch seiner Zähne erahnen. „Wenn man es genau nimmt, müsstest du jetzt eigentlich mich versorgen“, murmelte er und legte mir eine Hand auf mein Bein. Es war eine völlig harmlose Berührung und doch fühlte ich mich mit einem Mal nicht mehr sonderlich wohl in meiner Hand. Was sollte das werden? „Dich hab ich ja schon versorgt.“

Das war meine Chance. „Ja, natürlich, du hast recht. Moment.“ Doch als ich mir erheben wollte, wurde sein Griff ein wenig fester.

„Nein“, bat er leise. „Bitte, bleib sitzen.“

Etwas unentschlossen zögerte ich, lehnte mich dann aber doch ins Polster und beobachtete ihn wie er da mit einem seligen Lächeln neben mir lag, die Hand direkt neben seinem Gesicht. Er sah so friedlich aus, gar nicht so quirlig und durchgeknallt wie sonst. Er wirkte schon fast … unschuldig. „Dir scheint der Biss ja wirklich gefallen zu haben.“

„Ja“, sagte er schlicht und öffnete seine Augen einen Spalt. Darin konnte ich noch immer den Rausch der Endorphine erkennen. „Stimmt es, was deine Cousine gesagt hat? Dass du einfach abgehauen bist?“

Ich öffnete den Mund, aber kein Ton kam heraus.

„Das würde auch erklären, was da gestern Abend mit deinem Vater los war. Zumindest zum Teil.“ Er verstummte kurz. „Erzählst du mir, was da gestern los war?“ Seine Augen schlossen sich wieder, was wohl ein Glück für mich war. So konnte er nicht den entsetzten Ausdruck in meinem Gesicht sehen. Mist, Mist, Mist. Warum musste er ausgerechnet jetzt auf dieses Thema zu sprechen kommen? Da er es bisher nicht erwähnt hatte, war ich schon frohen Mutes, dass er es einfach vergessen hatte. Tja, das war wohl wieder mal nur Wunschdenken gewesen.

„Du willst es mir nicht erzählen“, nuschelte er ermattet und erkannte die Wahrheit damit ganz richtig. „Noch ein Geheimnis.“

Ich drückte die Lippen fest aufeinander. Diego hatte mich ja gewarnt.

„Du bist wohl das geheimnisvollste Mädchen, dass ich jemals kennengelernt habe, Sarah.“

So wie er das sagte … ein wohliger Schauder rann mir über den Rücken. „Nenn mich Zaira“, entgegnete ich. „Das machen alle.“

„Zaira.“ Durch seine schwere Zunge klang es fast so, als wollte er den Klang meines Namens auskosten. Doch dann fiel das Lächeln in seinem Gesicht ein wenig zusammen.

„Geht es dir gut?“, fragte ich.

Anstatt zu antworten, rückte er ein wenig näher und nun lag sein Kopf auf meinem Schoß. Dabei atme er einmal sehr tief ein. Was er mich dann fragte, überraschte mich schon ein wenig. „Warst du schon einmal richtig verliebt?“

„Ähm“, machte ich nicht sehr gescheit und erinnerte mich an den einzigen Jungen, bei dem ich das Wort jemals in den Mund genommen hatte. Samir, Kaspers Cousin. Es hatte nicht schön geendet. Wenn man es genau betrachtete, hatte es sogar niemals wirklich angefangen. „Ein Mal“, sagte ich leise.

„Das klang jetzt aber nicht sehr glücklich.“

„Leider hat nicht jeder so eine tolle Beziehung wie du.“ Es hatte scherzhaft sein sollen, doch sein erwidertes „Ja, tolle Beziehung“ klang niedergeschlagen.

Am besten wäre es wohl gewesen, wenn ich es einfach dabei belassen hätte, doch etwas in seinem Ton brachte mich dazu noch einmal nachzufragen. „Ist sie denn nicht toll?“

Er schwieg.

Ich wartete einen Moment, doch als da nichts mehr kam, sagte ich leichthin: „Geht mich vermutlich nichts an.“

Sein Daumen setzte sich in Bewegung und strich mir übers Knie. Er schien es gar nicht zu bemerken, ich hingegen schon. „Iesha hat mit Aric geschlafen“, sagte er dann leise. „Vor einem Jahr.“

Oh. Ähm … aha. Was bitte sollte ich dazu jetzt sagen?

Das Lächeln in seinem Gesicht bekam einen bitteren Zug. „Meine Freundin fickt meinen bester Freund, weil ich mit dem Training beschäftigt war und sie sich so einsam gefühlt hat.“

Okay, das Gespräch nahm nun eine Richtung an, bei der ich mich definitiv nicht mehr wohl fühlte. „Das tut mir leid.“

„Er war so betrunken, dass er sich nicht mal daran erinnern kann“, murmelte er. „Aber Iesha … sie war nüchtern.“

Was dann wohl bedeutete, dass sie ganz genau gewusst hatte, was sie da tat.

„Das hat mich verletzt und ich hab Schluss gemacht, aber sie konnte nicht loslassen. Sie sagte, sie liebt mich und dass sie es bereut und … keine Ahnung.“ Er verstummte einen Moment. „Ich weiß nicht … wir wollten es trotzdem nochmal miteinander versuchen.“

„Aber … das ist doch gut, oder?“

„Gut?“ Er gab ein bitteres Geräusch von sich. „Ich konnte das nur, weil ich es ihr mit gleicher Münze heimgezahlt habe.“

„Du hast mit deinem besten Freund geschlafen?“, fragte ich ungläubig.

„Was?“ Er drehte seinen Kopf so weit, dass er mir ins Gesicht sehen konnte. „Nein, was geht nur in deinem Kopf vor?“

Ein Lächeln konnte ich mir nicht verkneifen. „Das willst du glaube ich nicht wissen.“

Er drehte sich komplett auf den Rücken. Dabei legte er ein Bein über die Rückenlehne der Couch, damit er genug Platz hatte. „Ich habe mit ihrer besten Freundin geschlafen.“ Er nahm meine Hand in seine. Ich verwehrte sie ihm nicht. „Ich hab gehofft, dass es mir danach besser geht.“

„So wie sich das anhört, war das wohl nicht der Fall.“

„Nein“, gestand er ein. „Und darum tat ich es noch Mal mit einer anderen Freundin. Ich wollte das es klappte und aufhörte weh zu tun.“ Sein Gesicht verzog sich zu einer Maske. „Vier Mal“, murmelte er. „Vier Mal hab ich es getan.“

Da war … heftig.

„Sie weiß es nicht.“

War wahrscheinlich besser so. „Ich hab wahrscheinlich kein Recht mich da einzumischen, aber wenn du so darunter leidest, warum seid ihr dann noch ein Paar?“

Mit der Antwort ließ er lange auf sich warten. Gedankenverloren strich er mir immer wieder über die Finger und war sich dabei selber kaum bewusst, was er da tat. „Sie liebt mich“, sagte er dann leise. „Ich will sie nicht verletzten.“

Na ob das so ein guter Grund war? „Liebst du sie denn auch noch?“

„Ich weiß nicht. Es ist nicht mehr wie früher.“

Verständlich.

„Darum ist sie so eifersüchtig“, murmelte er. „Sie hat Angst mich wieder zu verlieren. Sie sieht in jedem Mädchen eine Konkurrenz. Und da ist es egal, ob sie hübsch oder hässlich sind. Und nur weil du offiziell ein Vampir bist, fällst du nicht aus dieser Sparte raus. Besonders weil ich früher eine kleine Vorliebe für Vampire hatte. Der Rausch eines Bisses.“

Ich erinnerte mich an ihre feindlichen Blicke und wie sie sehr demonstrativ ihr Revier markiert hatte. „Ich befürchte, ihre mordlüsternden Blicke, werden mich bis in den Schlaf verfolgen.“

Da war es wieder, dieses spitzbübische Lächeln. „Ich habe von dir geträumt“, murmelte er und schloss die glasigen Augen. „Letzte Nacht.“

Ähm … okay.

„Du riechst so gut.“ Seine Stimme wurde leiser. „Ich wusste gar nicht, dass Vampire so gut riechen können“, wisperte er noch und dann wurden seine Atemzüge auf einmal tiefer und gleichmäßiger. Die Spannung in seiner Hand ließ nach. Sein Gesicht rollte zur Seite.

Ich wartete einen Moment, aber als da nichts mehr kam, fragte ich vorsichtig: „Cio?“

Er reagierte nicht. Er war war eingeschlafen. Der Biss hatte ihm wohl mehr zugesetzt, als er mich hatte glauben lassen. War er sich überhaupt bewusst, was er mir hier gerade erzählt hatte? Irgendwie bezweifelte ich das. Das war wohl nur durch den Rausch passiert. Der Kuss eines Vampirs sorgte eben dafür, dass der Wirt sich sehr wohl fühlte.

Zögernd hob ich die Hand und strich ihm über die Wange, mit den kuren Bartstoppeln. Klar wusste ich, dass man sowas nicht machte, aber wann bot sich mir denn mal wieder so eine Gelegenheit? Außerdem tat ich damit ja niemanden weh.

Sein Mund zuckte, als versuchte er selbst im Schlaf zu lächeln. Wie hatte Iesha es nur fertig gebracht, so einen tollen Kerl zu betrügen? Klar, Aric sah bei weitem besser aus als Cio und war noch dazu ein Prinz und Cio wirkte trotz seiner verspielten Art zu kantig, um als wirklich anziehend durchzugehen. Er war sicher nicht der hübscheste Kerl, den ich in meinem Leben begegnet war – auch wenn diese Oberarme einfach der Hammer waren – aber bei weitem einer der nettesten und Iesha sollte sich eigentlich mit dem was sie hatte zufrieden geben, besonders da sie ihn ja angeblich liebte.

Dabei war es egal, ob er mehrere Wochen wegen irgendeinem Firlefanz mal nicht ausreichend Zeit für sie hatte. Er war so ein toller Kerl und wenn er mein Freund wäre, dann wüsste ich das alles zu schätzen. Ich würde ihn sicher nie … okay, Schluss jetzt. Ich sollte ganz schnell auf andere Gedanken kommen, das ging jetzt eindeutig in die falsche Richtung. Auch wenn mir dieses Hirngespinst nicht gerade missfiel. Allein schon diese Lippen einmal zu probieren … oh Gott, mutierte ich jetzt zu einer zweiten Alina? Und wo ich schon mal bei ihr war, vielleicht sollte ich sie gleich mal anrufen. Cio würde nicht so schnell wieder aufwachen und sie würde mich sicher von meinen unsinnigen Gedanken abbringen.

Also griff ich leise über ihn hinweg nach meinem Handy und beachteten Flairs wissenden Blick vom Boden aus gar nicht. Sie war nur ein Hund, sie hatte doch keine Ahnung.

Alinas Nummer war schnell gefunden und noch während des ersten Klingelns nahm sie ab. „Also los, erzähl mir alles. Bist du wirklich abgehauen, um Cayenne kennenzulernen? Wie hast du erfahren wie du da hinkommst? Und wer zum Teufel ist der Kerl, der dich dazu bringen konnte, sein Blut zu trinken?“

„Also, erstens: ja, zweitens: ich hab Tante Amber bei einem Gespräch belauscht und drittens: Elicio.“

„Menno“, machte sie. „Erzähl richtig, sonst bin ich beleidigt.“

War sie nicht, aber ich erzählte ihr trotzdem, was in den letzten Tagen so bei mir passiert war. Von der Anreise, von Gwendolyn und Jaden, von meiner Ankunft im Hof der Lykaner und meinen ersten Tagen hier. Alina schaffte es an jeder Stelle das richtige Geräusch, oder den richtigen Kommentar abzugeben und sog scharf die Luft an, als ich ihr berichtete, wie Cio mich vor Elvis Grab im Wald gefunden hatte.

„Waaas?!“, schreie sie direkt in mein Ohr. „Er weiß es?“

„Ja, ich …“

„Oh mein Gott, oh mein Gott. Oh. Mein. GOTT!“

Jup, jetzt war ich taub.

„Aber er weiß ja doch nur das, oder? Weiß er etwa alles?“

„Nein, nur das und er behält es auch für sich, das hat er mir versprochen.“ Wieder strich ich ihm vorsichtig über die Wange. „Sag Papa nichts davon, der hat davon nämlich keine Ahnung und dabei würde ich es gerne belassen.“

„Meine Lippen sind versiegelt. Aber jetzt erzähl mir was sonst noch passiert ist.“

Das tat ich dann auch. Dabei nahm ich mir die Freiheit heraus, Cio weiter zu berühren. Ich wusste auch nicht warum, es fühlte sich einfach gut an das zu tun.

Das nächste Mal unterbrach Alina mich erst, als ich auf meinen Geburtstag zu sprechen kam.

„Du kriegst deinen eigenen Ball?!“ Das schien sie mehr zu faszinieren, als die Tatsache, dass Menschen auf den Mond fliegen konnten.

„Das hat sie mir versprochen. Morgen soll eine Schneiderin kommen, die mir ein Kleid macht und …“

„Auch noch ein Kleid?!“ Die flippte da am anderen Ende der Leitung gerade völlig aus. „Oh, das ist voll genial. Ich will sowas auch haben!“

„Naja, du kannst ja vielleicht auch zu dem Ball kommen und …“

„Das ist eine tolle Idee. Moment, ich frag mal.“ Es knisterte kurz in der Leitung, als wenn sie den Hörer ein Stück vom Ohr weghielt und dann schrie sie durch die ganze Wohnung: „Mama! Zaira bekommt einen Prinzessinnenball, ihr müsst mich also Freitag in den Hof der Lykaner fahren!“

Ja, das war Alinas Art zu fragen. Naja, sie hatte es mit ihren Eltern auch ein wenig einfacher, die waren nicht so kontrollsüchtig wie mein Vater.

„Was?!“, rief da eine männliche Stimme zurück, die nur meinem Onkel Tristan gehören könnte. „Wo müssen wir dich hinfahren?“

„Na zu Zaira.“ Jetzt war ihre Stimme wieder leiser. Ihr Vater war wohl in Zimmer gekommen. Und dann wurden ihre Worte richtig einschmeichelnd. „Du könntest mir natürlich auch einfach den Schlüssel für dein Motorrad geben und mich allein fahren lassen.“

Kurz war ruhe. Dann seufzte er und sagte: „Frag deine Mutter.“

„Yes.“

„Das war keine Einwilligung.“ Keine Ahnung was sie daraufhin tat, aber es entlockte ihrem Vater ein weiteres Seufzend. Wahrscheinlich hatte sie mal wieder ihre Schmollmundtaktik angewandt. „Na schön, ich rede mit deiner Mutter.“

„Danke Papa, du bist der Beste.“

Ich konnte es geradezu vor mir sehen, wie sie strahlte. Alina war schon immer ein Sonnenschein gewesen, seit sie mit drei Jahren von Tante Lucy und Onkel Tristan adoptiert wurde. Und das trotz ihrer schweren Vergangenheit.

„Ich komme“, verkündete sie nun ins Telefon.

„Das hab ich gehört. Ich und wahrscheinlich deine ganze Nachbarschaft.“ Vorsichtig ließ ich meine Finger zu dem kleinen Muttermal in Cios Armbeuge wandern und hielt kurz inne, als er sich plötzlich bewegte. Aber er wachte nicht auf, rutschte nur näher an mich heran. Der hatte wirklich einen gesunden Schlaf.

„Und dann brauche ich auch ein Ballkleid“, fuhr sie fort, als hätte ich nichts gesagt. „Am besten ich komme einen Tag früher, dann können wir noch in Silenda shoppen gehen. Da gibt es diesen Laden, da wollte ich immer schon mal hin. Ja, das ist ein guter Plan.“ Sie hielt das Telefon wieder von ihrem Mund weg. „Papa! Ich muss schon Donnerstag zu Zaira, weil ich noch ein Kleid brauche!“

„Was?“

„Ein Kleid! Für den Ball, du verstehst?! Ansonsten müsste ich da nackt auftauchen, weil ich nichts zum anziehen habe!“

„Du wirst da nicht nackt hingehen, du bekommst ein Kleid!“, donnerte es zurück. Ja, das musste man bei Alina schon betonen. Wenn sie ihren Willen bekam, griff sie auf so manches unfaire Mittel zurück. Ich traute ihr durchaus zu nackt auf meinem Ball aufzutauchen, nur um ihren Eltern eins auszuwischen.

„Okay, ich bekomme mein Kleid“, sagte sie nun wieder ins Telefon. „Aber ich muss jetzt auflegen. Donnerstag ist ja schon in zwei Tagen und da muss ich noch so viel vorbereiten. Welche Schuhe soll ich nur mitnehmen? Oder soll ich mir besser gleich neue Kaufen und … ach du wirst schon sehen. Bis übermorgen.“ Klick und weg war sie.

O-kay, langsam befürchtete ich, einen Fehler mit der Einladung gemacht zu haben. Andererseits liebte ich meine Cousine und auch ihre überdrehte Art. Sie war zwei Jahre jünger als ich und das genaue Gegenteil von mir. Mit ihr zusammen auf einen richtigen Maskenball zu gehen, würde sicher Spaß machen.

Als ich das Handy ausschaltete, fiel mein Blick auf die Uhrzeitanzeige und mich traf fast der Schlag. „Scheiße!“, fluchte ich. Ich hätte seit über eine Stunde zurück im Stall sein müssen. Hastig rüttelte ich Cio an der Schulter und rutschte schon unter ihm weg, da hatte er noch nicht mal richtig die Augen aufgeschlagen.

„Wie? Was los?“, fragte er schläfrig und gähnte herzhaft, bevor er sich blinzelnd auf den Unterarm stützte und beobachtete, wie ich eilig meine Jacke überzog. „Wo gehst du hin?“

„Tut mir leid, aber ich muss zurück in den Stall. Gisel wird mich umbringen.“

„Das kann sie doch auch später noch tun.“ Er ließ seinen Kopf auf das Kissen sinken. „Das war gerade so bequem und ich hab so schön geträumt.“

„Du wirst es überleben.“ Ich tätschelte ihm die Schulter. „Aber ich muss wirklich los.“ Die Möglichkeit für weitere Proteste, gab ich ihm gar nicht erst. Ich schnappte mir Flair vom Boden und schon war ich weg.

 

°°°°°

Im Licht des Mondes

 

„Viel Spaß“, wünschte Genevièv mir am nächsten Vormittag und verschwand mit einem Winken zum Abschied in die Dienstbotengange.

Ich atmete noch einmal tief durch und öffnete die praktisch unsichtbare Tür zum kleinen Salon in der ersten Etage, nur um überrascht festzustellen, dass der Raum völlig verwaist war. Einen Moment überlegte ich, ob Genevièv mich vielleicht vor der falschen Tür abgesetzt hatte, aber das war der gleiche Salon, in dem Cayenne mich auch gestern empfangen hatte. Noch dazu hatte jemand auf dem Tisch Tee und kleine Gurkensandwichs angerichtet. Der Tee in der Kanne dampfte. Dann würde Cayenne wohl einfach ein paar Minuten später kommen.

Zwar fühlte ich mich nicht ganz wohl dabei, einfach hinein zu gehen und mich still auf die weiße Ledercouch zu setzen, aber ich war schließlich eingeladen worden und allein auf dem Dienstbotengang wollte ich noch viel weniger sein. Also ging ich hinein und ließ mich auf das weiche Leder sinken.

Flair hampelte auf meinem Schoß herum, bis ich sie runterließ und sie den Raum nach etwas Essbarem absuchen konnte.

Ein paar Minuten schaute ich ihr dabei zu, aber als mir das zu langweilig wurde, kramte ich mein Handy aus der Tasche und rief bei Kasper an. Es war sowieso an der Zeit, dass ich mich mal wieder bei ihm meldete. Ich hatte mich schließlich seit gestern nicht mehr bei ihm gemeldet und da war es nur ein kurzes Gespräch gewesen.

Es klingelte fünf Mal, bis er mit einem mürrischen „Mja?“ an sein Handy ging.

„Weißt du, es gibt Leute, die sagen hallo oder ja bitte, wenn sie an ihr Telefon gehen.“

„Zaira?“

Ich runzelt die Stirn. „Schläfst du etwa noch?“

„Nein“, murrte er. Im Hintergrund hörte ich Decken rascheln. „Jetzt nicht mehr.“

Mein Blick glitt zur Uhr über dem Kamin. Kurz vor Elf. Innerlich verzog ich das Gesicht. Nicht schon wieder. „Kenne ich ihn?“ Es gab nur einen Grund, warum Kasper um so eine Uhrzeit noch in seinem Bett lag, er hatte in der letzten Nacht mal wieder einen Kerl abgeschleppt.

„Nein. Und du wirst ihn auch nicht kennenlernen, er war scheiße.“ Er gähnte herzhaft in den Hörer.

„Ach Kasper“, seufzte ich.

Wieder raschelte es und dann hörte ich das Knarren seines Lattenrostes. „Nur weil du kein Sexleben hast, heißt das noch lange nicht, dass ich auch keines haben darf.“

Dem konnte ich nicht widersprechen, trotzdem machten mir die fremden Kerle, die er immer mal wieder mit nach Hause nahm, doch Sorgen. Es war jetzt nicht so, dass er jeden Tag einen anderen Typen im Bett hatte, aber ich hatte halt Angst, dass er irgendwann mal an den falschen geriet. Noch dazu kamen seine Berührungsängste. Wenn ihm jemand falsch anfasste, konnte ihm schon mal die Hand ausrutschen.

Mir war sowieso schleierhaft, wie er das überhaupt fertig brachte. Beim Sex fasste man sich schließlich an und … okay, so genau wollte ich es dann eigentlich doch nicht wissen.

Er klapperte mit irgendwas herum und kurz darauf hörte ich wie er die Kaffeemaschine startete. „Deinem Schweigen entnehme ich, dass du das anders siehst.“

„Nein, tue ich nicht, aber du kennst doch meine Meinung.“

„Nicht jeder Fremde ist automatisch ein Serienkiller.“

Und da war sie wieder, die alte und nie enden wollende Diskussion. „Sei einfach vorsichtig.“

„Ich kann mich schon wehren.“ Seine Stimme war ein halbes Knurren. Er mochte es nicht, wenn ich ihn bemutterte. Obwohl, nein, das war falsch. Ich war der einzige Mensch, dem er erlaubte sich um ihn zu kümmern, er mochte es nur nicht, wenn ich es übertrieb. „Gibt es eigentlich einen Grund, warum du mich geweckt hast, oder hast du nur Langeweile?“

„Langeweile.“

Einen Moment blieb er ruhig. „Alles okay bei dir?“, fragte er dann ein wenig sanfter.

„Ja, ich warte nur gerade auf meine Erzeugerin. Wir sind verabredet, aber sie verspätet sich.“

Er schnaubte. „Man sollte doch wohl meinen, dass sie es schafft pünktlich zu sein, wenn sie dich schon so unbedingt kennenlernen will.“

Wäre Cayenne eine normale Frau, hätte ich ihm wohl zugestimmt. „Sie hat eine Menge zu tun.“

„Sie hat deinen Vater angebettelt, damit du noch ein paar Tage bleibst.“

Das war wohl wahr.

„Wobei ich noch immer nicht kapiere, wie er überhaupt herausgefunden hat, wo du bist.“

Du hast es ihm erzählt. Das sagte ich natürlich nicht laut. Papa hatte die Erinnerung an seinen Besuch und das Gespräch aus Kaspers Gedächtnis gelöscht. Leider musste ich einräumen, dass das nicht das erste Mal gewesen war. Und wahrscheinlich auch nicht das letzte. Das passierte halt, wenn man so eng mit mir befreundet war. Ich konnte nur hoffen, dass die regelmäßige Manipulation seines Hirns nicht irgendwann einen dauerhaften Schaden bei ihm verursachte.

Vor gar nicht allzu langer Zeit, hatte er mir erzählt, dass er manchmal komische Träume von Vampiren und Werwölfen hatte. Das war ein klares Anzeichen dafür, dass er sich unterbewusst doch an irgendwas erinnerte. Ich hatte es meinem Vater nicht erzählt. Ich wollte mir den Umgang mit Kasper nicht verbieten lassen. „Vielleicht hat er mich ja verwanzt“, überlegte ich scherzhaft.

Kasper schnaubte. „Das würde ich deinem Vater glatt zutrauen.“ Eine Tasse klapperte. „Redet er wieder mit dir?“

„Er hat mir nach dem Aufstehen einen guten Morgen gewünscht, bevor er das Zimmer verlassen hat.“

„Er wird sich schon wieder einkriegen.“

Das hoffte ich zumindest. „Und bei dir? Kommst du klar?“

„Ich bin erwachsen.“

Ja, aber er war ein Einzelgänger und hatte im Moment niemanden außer mir. Vor zwei Monaten hatte er seinen Job verloren und die wuchsen und Koenigshain und Umgebung leider nicht an den Bäumen. Ohne mich würde sich sein Sozialleben im Augenblick nur auf seinen Fernseher beschränken. Selbst den Kontakt zu seiner Pflegefamilie hatte er mittlerweile komplett aufgegeben. „Ich bin Samstag wieder da. Wollen wir uns dann vielleicht einen schönen Abend machen? Vorausgesetzt natürlich, mein Vater sperrt mich nicht für den Rest meines Lebens in einen Käfig.“

„Hmh“, machte er, was ohne dass ich ihn erst groß dazu überreden musste für ihn schon einer überschwänglichen Zustimmung glich. „Ruf durch, wenn du wieder da bist, dann komme ich rum.“

Ja, weil mein Vater mich nicht so schnell wieder aus dem Haus lassen würde. „Mache ich. Und falls ich doch in einem Käfig sitze, kannst du mir ja eine Feile mitbringen, damit …“

Die Tür zum kleinen Salon öffnete sich und Cayenne trat lächelnd in den Raum. „Tut mir leid“, entschuldigte sie sich sofort. „Ich wurde aufgehalten.“

Im Schlepptau hatte sie eine ziemlich zerzaust wirkende Brünette mit hoher Stirn und kleinen Augen. In dem halb auseinander gefallenen Dutt ihrer Begleitung steckte eine Brille und der Hosenanzug deutete einige Knitterfalten auf. Das Maßband um ihren Hals machte den Anblick wohl perfekt. Oder auch die große Tasche, die sie über die Schulter trug.

„Du, Kasper, sie ist jetzt da“, sagte ich und gab Cayenne ein Zeichen, dass ich gleich fertig war. „Ich melde mich spätestens morgen noch mal.“

„Klar.“ Und schon hatte er aufgelegt.

Ich würde ihn wohl nie dazu bekommen, sich richtig bei mir zu verabschieden.

Als ich mein Handy auf den Tisch legte, geriet Cayennes Begleitung wieder in mein Blickfeld. Sie wartete gar nicht darauf, dass meine Erzeugerin uns vorstellte, sondern stürzte sich gleich wie ein Hai auf mich. „Das ist also unser Modeproblem“, sagte sie mit extrem starken, französischen Akzent. „Non, das ge`t gar nischt. Diese Farben und diese Brille. Isch hab noch nie eine so `ässliche Brille gesehen. Und was soll dieses `emd? Non, so sie`t kein `übsches Mädchen aus.“

Modeproblem? Brille? Was hatte sie den gegen mein Hemd? Hilfesuchend sah ich zu Cayenne, als die Frau mich kurzerhand einfach auf die Beine zog und ihr Maßband vom Hals riss.

Cayenne jedoch schloss nur lächelnd die Tür und setzte sich dann auf das Sofa. „Zaira, das ist Madam Camille Laval, die beste Schneiderin der Welt. Madam Laval, das ist …“

„Keine Zeit für Vorstellungen. Tamps calculé au plus juste. Lasst misch arbeiten. Nimm den Arm `och, Engelchen, damit isch messen kann.“

Dazu kam ich gar nicht erst, weil sie es schon selber machte.

Ich stand nur etwas verdutzt da und sah nur allzu deutlich, wie Cayenne versuchte sich das Lachen zu verkneifen, während Madame Laval an mir herumwerkelte und alle meine Maße in einer Kladde eintrug, die sie auf ihrer riesigen Tasche geholt hatte. Brust, Taille, Hüfte, vom Kopf bis zum Boden und dann noch vom Schlüsselbein bis zum Boden, wobei sie mir befahl, die Schuhe auszuziehen und grade zu stehen. „ça fait bien. Zum Glück bist du nischt so dünn wie Cayenne, da kann isch viel me`r machen.“

„Äh …“, machte ich nicht sehr einfallsreich und konnte dann nur noch zusehen, wie sie von mir abließ und geschäftig in ihrer Tasche herumkramte, um mit einem Stapel Stoffproben in allem Möglich Farben und Sorten wieder aufzutauchen.

„Setz disch, Engelchen, setzt disch“, wies sie mich an und nahm selber neben Cayenne Platz. Dabei hatte sie keinen Blick für Flair, die neugierig an ihren Beinen schnupperte. „Also, isch würde sagen, wir ne`men Chiffon, und Tüll. Vielleicht mit einem Seidenbad? Da kann isch …“ Sie sah zu mir auf. „Warum ste`st du da immer noch? Setzt disch, setzt disch, wir haben keine Zeit. Ne pas avoir le temps, aber noch viel Arbeit. Nur zwei Tage. Isch weiß gar nischt wie isch das schaffen soll.“

„Du schaffst das schon Camille“, besänftigte Cayenne sie. „Du bist die Beste.“

Sie schnaubte. „Natürlich bin isch die Beste. Deswegen bin isch ja auch `ier und nicht einer von diesen Stümpern, die Ihr vorher beschäftigt habt.“

Ich sagte einfach mal gar nichts und setzte mich still zu den beiden Frauen. War in dem Moment wohl sicherer. Aber nur wenn man davon absah, dass mir kaum, dass ich saß, ein Stapel Stoffe in die Hand gedrückt wurden.

„`ier, guck, welche Farbe, welche Stoffe willst du?“

„Ähm … naja, ich mag schwarz.“

„Schwarz? Schwarz?!“ Sie sah mich an, als hätte ich ihr gerade erklärt, dass sie ein Spitzenkleid für meinen Hund schneidern sollte. „Non, à aucun titre. So ein `übsches Engelchen, da gibt es kein Schwarz!“ Sie schüttelte den Kopf, als wäre das die schlimmste Wahl, die ich in ihren Augen hätte treffen können. „Wir nehmen blau, blau wie deine Augen. So `hübsche Augen. `ier.“ Sie hielt mir eine Auswahl von blauen Stoffen unter die Nase. „Davon kannst du dir etwas aussuchen, aber kein schwarz!“

Ich schluckte. Na die war ja drauf.

„Und du brauchst Kontaktlinsen. Isch kann keine Maske fertigen, wenn du eine Brille auf der Nase trägst. Eine `ässliche Brille.“

Okay, jetzt war ich langsam wirklich beleidigt. Meine Brille war nicht hässlich. „Ich mag meine Brille“, sagte ich leicht eingeschnappt und überhörte das Schnalzen einfach, um mich dann dem Studium der einzelnen Stoffe zu widmen, doch in meinen Augen sahen die alle gleich aus. Okay, die Blautöne waren ein wenig unterschiedlich und auch die Stoffarten, aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie daraus ein Kleid werden sollte. „Ich weiß nicht, ich glaube es ist besser, wenn sie die Farben aussuchen.“

„Nur nicht so schüchtern, Engelchen. `ier, dieser Stoff, der passt gut. Du `ast so schöne `aut, wie Alabaster, da passt dieses Blau.“ Sie kramte in den Stoffproben in meinem Schoß herum. „Und `ier, das passt gut. Oh das wird magnifique, einfach très bien. Isch sehe es schon genau vor mir. Nur musst du mir sagen, Engelchen, möchtest du lieber eine Schleppe, oder einen Beinschlitz, ich könnte …“

„Keinen Beinschlitz.“ Das wäre ja noch schöner. Als wenn ich jemanden freiwillig meine Fettpölsterchen zeigen würde.

„In Ordnung.“ Wieder kramte sie geschäftig in ihrer Tasche herum und zog diesem mal einen Skizzenblock heraus – Gott, was hatte die Frau da nur alles drin? So groß war die Tasche doch gar nicht. Obwohl, vielleicht verbarg sich in dem Seitenfach ja ein schwarzes Loch.

Sowohl Cayenne als auch ich lehnten uns neugierig zu ihr rüber, als sie den Block aufschlug und mit schnellen Strichen eine grobe Zeichnung anfertigte.

„An der Taille werde ich es eng schneiden. Und du brauchst ein schönes Dekolleté. Du hast so schöne Brüste, die müssen wir zeigen …“

„Ähm …“

„Und vielleicht eine Schleife? Non, kein überflüssigen Firlefanz. Isch will es schlicht aber gewagt. Oui, das wird trés chic!“ Sie zog ihre Augenbrauen fest zusammen. „`ier werde isch es raffen, und … oui, ich habe eine Idee. Nicht blau, wir nehmen pêche, nur was machen wir mit deinen `aaren?“

Pêche? Was zum Teufel war pêche? Sowas wie Pech? Aber das wäre doch dann auch wieder schwarz, oder? Ich hätte in Französisch wohl besser aufpassen sollen.

„Égale, isch werde mir schon etwas einfallen lassen.“ Sie schlug ihr Skizzenblock zu und verstaute es mit all dem anderen Kram in Rekordgeschwindigkeit wieder in ihrer Tasche. „Aber nun muss ich ge`en. Je n'ai que peu de temps und viel Arbeit. Wir se`en uns in zwei Tagen zur Anprobe. Au revoir, Engelchen. Königin Cayenne.“ Sie machte vor meiner Erzeugerin einen tiefen Knicks, bevor sie all ihre Sachen zusammenraffte und so eilig aus dem Zimmer stürmte, dass sie sogar vergaß die Tür hinter sich zu schließen.

„Sie ist … nett“, schaffte ich es mir von den Lippen abzuringen.

Das entlocke Cayenne ein Lachen. „Camille ist etwas gewöhnungsbedürftig, aber sie ist ein Genie wenn es um Kleidung geht.

„Okay, ich glaub dir einfach mal.“ Ich wandte den Blick von der Tür zu ihr. „Aber eine Frage habe ich trotzdem noch.“

„Welche denn?“

„Was ist pêche?“

Sie blinzelte einmal und zuckte dann die Schulter. „Keine Ahnung.“

Na super.

„Mach dir keine Sorge, Madame Laval wird dir schon …“

„Verschwinde endlich!“

Cayenne und ich wandten uns bei dem lauten Ruf der Tür zu, aber da war niemand. Der Ruf war vom Korridor gekommen. Und er klang sehr ungehalten.

„Nein hab ich gesagt und jetzt geh!“

„Das ist Aric“, sagte Cayenne und stand hastig auf.

Ich zögerte einen Augenblick, bevor ich ihr folgte – Flair direkt hinter mir.

Wie zu erwarten stand da draußen auf dem Korridor Aric, in einem geschniegelten Anzug, Cio in seiner Lederklufft direkt hinter ihm. Ihnen gegenüber stand eine junge Frau, etwa in seinem Alter. Sie trug ein langes, fließendes Winterkleid, das irgendwie etwas von einem Burgfräulein hatte. Fehlte nur noch der spitze Hut. Oder Ütt, wie Madam Laval sagen würde.

„Was ist hier los?“, wünschte Cayenne zu erfahren und durchschritt mir langen Schritten den Abstand zu ihrem Sohn.

„Königin Cayenne.“ Dieser Barbieverschnitt des Mittelalters machte einen tiefen Knicks vor meiner Erzeugerin. „Es freut mich Euch zu sehen.“

Cayenne beachtete sie gar nicht, sondern richtete ihre Aufmerksamkeit auf ihren Sohn. „Aric, warum schreist du hier herum?“

„Weil ich es satt habe, dass diese Mädchen alle wie läufige Hündinnen hinterher rennen. Ich kann keinen Schritt mehr machen, ohne dass eine von denen plötzlich aus dem Nichts …“

„Schon gut“, unterbrach Cayenne ihn. „Geh in den Salon, ich regle das hier.“

Hastig zog ich mich von der Tür zurück, um nicht einfach über den Haufen gerannt zu werden. Aric schien mich nicht mal wahrzunehmen, als er an mir vorbeirauschte und sich schwer auf die Couch fallen ließ. Cio jedoch zwinkerte mir im Vorbeigehen zu und machte sich daran, die Schränke bei seiner Suche nach was-auch-immer systematisch nacheinander zu öffnen.

Es dauerte nur wenige Momente, bis Cayenne wieder den Salon betrat und die Tür vorsorglich hinter sich schloss. „Aric“, begann sie. „Ich weiß es ist schwer, aber …“

„Ich will das nicht mehr!“, unterbrach er sie rüde und funkelte sie an. „Weißt du was heute eine gemacht hat? Sie hat sich in mein Zimmer geschlichen und sich zu mir ins Bett gelegt. Ist das zu fassen?!“

Mit einem triumphierenden Geräusch zog Cio eine Tüte Gummibärchen aus einem Schrank und schmiss sich mit seiner Beute in den nächsten Sessel. Ein Bein über der Lehne, machte er den Eindruck, als sei dies sein Reich.

Ihn hier so völlig normal zu sehen, nachdem was ich gestern getan hatte … irgendwie machte mich das ein wenig unsicher. Und dann musste ich auch noch daran denken, was er mir gestern erzählt hatte. Erinnerte er sich? Sollte ich ihn bei eine günstigen Gelegenheit mal darauf ansprechen, oder einfach so tun, als wüsste ich nichts von allem?

„Aric.“ Cayenne setzte sich zu ihrem Sohn auf die Couch und legte ihm eine Hand aufs Knie. „Es tut mir wirklich leid. Wenn ich nur etwas gegen dieses Gesetz machen könnte, ich würde es sofort absetzten, aber das lässt der Rat nicht zu.“

Von dem knistern der Tüte angelockt, stellte Flair sich an Cios Sessel auf und wedelte erwartungsvoll mit der kleinen Rute, bis er sich ihrer erbarmte und sie sich auf den Bauch setzte. Mit einem Blick auf mich versicherte er sich, dass er ihr eines geben durfte und dann war mein Hund im Gummibärchen-Paradiers.

Aric seufzte. „Das weiß ich doch. Es nervt mich einfach nur. Seit drei Monaten kann ich kaum noch einen Schritt machen, ohne eine von dieses Weibern an meinen Fersen kleben zu haben, die sich nur zu gerne einen Prinzen angeln würden.“

Cio bot mir in der offenen Hand ein paar Gummibärchen dar und weil ich sowieso gerade nichts besseres zu tun hatte – und Gummibärchen meine einzig wahre Liebe waren – ging ich zu ihm rüber und wollte sie mir nehmen. Doch in dem Moment, in dem ich danach griff, zog er sie grinsend aus meiner Reichweite. Zwei Mal. Dann boxte ich ihm in den Bauch und konnte mir durch den Überraschungsmoment die Tüte klauen, mit der ich mich neben sein Bein auf die Lehne setzte und nun meinerseits grinsend ein Gummibärchen in meinen Mund steckte.

„Ich meine“, fuhr Aric fort. „Es muss da draußen doch irgendwo noch ein normales Mädchen geben. Von diesen Barbies werde ich sicher keine zur Gefährtin nehmen. Der Rat kann es sich also sparen, mir wöchentlich neue Mädchen zu schicken.“ Er drückte kurz die Lippen zusammen. „Wo finden die die nur überall? Irgendwann muss der Strom doch mal abreisen.“

Ah, darum ging es hier also, um das Gesetz, dass ein jeder Alpha mir seinem einundzwanzigsten Lebensjahr einen Gefährten nehmen musste, um die Linie zu erhalten. Papa hatte mir davon erzählt und früher war es wohl so gewesen, dass bereits bei der Geburt des Prinzen, oder der Prinzessin ein geeigneter Kandidat versprochen wurde, mit dem er später sein Leben verbringen musste – nein, die betreffenden wurden nicht gefragt. Das war sowas wie eine arrangierte Ehe. Doch Cayenne hatte dieses Gesetz umgeändert. Jetzt konnte der betroffene Alpha sich zu seinem einundzwanzigsten Lebensjahr selber erwählen, mit wem er den Rest seines Lebens verbringen wollte. Theoretisch zumindest.

Das hieß dann wohl, dass dieses Mädchen dort draußen und die anderen von denen Aric gesprochen hatte, alles mögliche Kandidatinnen waren, aus denen er wählen durfte.

„Ich versteh dich ja, Aric“, sagte Cayenne, „aber ich weiß einfach nicht, was ich sonst machen soll. Das ist der einzige Weg den Rat ruhig zu halten. Ansonsten würde ich dir jemanden aussuchen müssen und das will ich nicht.“

„Das weiß ich doch“, seufzte er. „Und ich will das auch nicht, aber … verdammt, die gehen mir einfach auf die Nerven! Gestern hat eine von denen doch wirklich Collette angepflaumt, weil sie es gewagt hat, durch den Korridor zu gehen. Sie hat gesagt, wenn sie erst meine Gefährtin ist, wird sie das unverschämte Personal erst mal gewaltig umkrempeln. Dabei war sie die einzige, die unverschämt war.“

Cio beugte sich vor, um mir die Süßigkeiten zu klauen, aber ich war schneller. Nur leider packte er mich dann einfach an der Taille und riss mich von der Lehne auf sich drauf, um mit mir um die Tüte zu rangeln. Flair blieb nur die Möglichkeit sich mit einem Hechtsprung vom Sessel in Sicherheit zu bringen.

Ich kreischte auf, als er mich festhielt, schaffte es aber, die Gummibärchen aus seiner Reichweite zu halten – vorläufig.

Cayenne warf uns beiden nur einen kurzen Blick zu, bevor sie sich wieder dem eigentlichen Problem widmete. „Na schön, ich werde neue Regeln aufstellen. Das diese Mädchen deine Privatsphäre verletzten, geht einfach nicht.“ Sie überlegte kurz. „Ich werde mit dem Rat sprechen. Jeden Tag ein Mädchen für eine Stunde in einem von dir ausgewählten Rahmen. Und wenn du sie nur mit zum Bogenschießplatz nimmst, wo sie dir zugucken kann.“

Aric nickte.

„Und wenn eines der Mädchen sich dir außerhalb dieser Zeit nährt, wird sie den Hof sofort verlassen und darf ihn nicht wieder betreten.“

Cio schlang einen Arm um meine Schultern und versuchte mit der freien Hand an die Gummibärchen zu kommen, aber seine Arme waren dafür zu kurz. Weg konnte ich aber auch nicht, weil er mich jetzt auch noch mit den Beinen festhielt. Ich war in seinem Klammergriff gefangen. Dass wir deswegen nicht einfach vom Sessel fielen, war wohl ein Wunder das Flair zugutekam, da sie direkt vor dem Sessel saß und uns neugierig beobachtete.

„Natürlich kann ich nicht versprechen, dass der Rat sich darauf einlässt“, fuhr Cayenne fort. „Aber ich werde es auf jeden Fall versuchen.“

„Danke“, kam es von Aric.

„Warum sagst du ihnen nicht einfach, dass sie sich ihre Anmachen sparen können, weil dein Interesse schon von jemand anderem geweckt wurde?“, warf ich einfach mal in den Raum.

Cio nutzte diese Gelegenheit sofort aus, um sich die Gummibärchen zu schnappen und mit einem stummen Siegesschrei in die Luft zu halten.

Arics Blick richtete sich auf mich. „Jemand anderem?“

Ich nickte. „Du sagst einfach, dass du deine potentielle Gefährtin schon in Aussicht hast, sie aber noch nichts von ihrem Glück weiß. Vielleicht lassen sie dich dann in Ruhe.“ Ich wollte mich aufsetzten, aber Cio hielt mir in diesem Moment ein Gummibärchen vor die Nase. Also gut.

„Die werden ihre Bemühungen dann wahrscheinlich nur verdreifachen, in der Hoffnung, dass ich es mir vielleicht noch anders überlege.“ Er beugte sich vor und stützte die Unterarme auf den Knien ab. „Außerdem müsste ich mich dann früher oder später mit einem Mädchen sehen lassen.“

„Na und? Dann mach das doch.“ Ich machte mich von Cio frei und setzte mich wieder auf die Lehne. Aber nicht ohne ihn noch mal in den Bauch zu boxen und mir die Tüte wieder zu schnappen. „Such dir ein Mädchen, und küss sie so, dass andere es sehen. Fertig.“

„Was für ein Mädchen denn bitte, etwa dich?“

Bei meinem angewidertem Gesichtsausdruck, fing Cio schallend an zu lachen.

„Nichts für ungut, Aric, aber nur über meine Leiche.“ Ihn zu küssen, das wäre einfach nur abartig.

Aric verengte die Augen zu Schlitzen und brachte ein „Ditto“ über die Lippen. Ich glaubte, meine Worte hatten ihn in seiner Ehre als Prinz gekränkt. Aber hey, er war mein Bruder – auch wenn er das nicht wusste.

„Die Idee von Zaira ist in Ordnung“, sagte Cayenne – wobei sie das wohl nur sagte, um mich nicht zu kränken. „Aber ich werde trotzdem erst mal versuchen mit dem Rat zu sprechen, bevor du noch auf den Gedanken kommst eines dieser Mädchen zu lynchen.“

Aric grinste ein wenig schief.

„So, aber nun macht das ihr beide rauskommt und Cio, von die bekomme ich neue Gummibärchen.“

Er sah sie fast entsetzt an. „Die Hälfte davon hat aber Zaira gegessen.“

„Gar nicht wahr!“, protestierte ich sofort. „Ich hab gerade mal vier Stück abbekommen.“

„Ach ja? Wer von uns beiden hat den die Tüte in seinen Händen.“

Ich kniff die Augen zusammen, was ihn wieder mal nur breit grinsen ließ.

„Okay, meinetwegen“, gab Cayenne sich geschlagen. „Aber die nächsten Gummibärchen ersetzt du mir. Und nun raus hier, ich hab mit Zaira noch ein paar Sachen zu besprechen.“

Wieder bekam ich diesen misstrauischen Blick von Aric, aber er schwieg einfach, als er sich erhob und zur Tür ging.

Cio brauchte einen Moment länger zum Aufstehen und klaute mir im Vorbeigehen auch noch meine Gummibärchen.

„Hey!“, rief ich noch, aber da war er bereits lachend zum Zimmer hinaus und die Tür hinter den beiden ins Schloss gefallen. Na warte, das würde ich ihm heimzahlen. Niemand klaute mir meine Gummibärchen. Im Geiste schmiedete ich bereits Rachepläne, während ich meine Brille zurecht rückte.

„Du scheinst Cio ziemlich gut zu kennen“, merkte Cayenne an.

Ich sah zu ihr rüber und ließ mich von der Lehne auf den Sitz rutschen. „Nein, nicht wirklich. Wir haben uns nur ein paar Mal getroffen.“

„Es war nicht das erste Mal, dass ich euch zusammen gesehen habe. Und ihr geht ziemlich ungezwungen miteinander um.“

Ich zuckte nur mir den Schultern und nahm Flair auf meinen Schoß. Was sollte ich dazu auch sagen?

„Es freut mich jedenfalls, dass du hier jemanden gefunden hast, mit dem du dich gut verstehst. Und Cio ist ein guter Junge.“

„Er ist nett“, stimmte ich ihr zu.

Damit ließen wir das Thema fallen und unterhielten uns über andere Dinge: Mein Leben. Da kam einiges Zusammen.

An diesem Tag wurden wir von keinen weiteren Unterbrechungen gestört und so saßen wir noch in dem kleinen Salon, als das Mittagessen bereits vorbei war. Wir erzählten uns Geschichten aus der Vergangenheit, lästerten ein bisschen über Papa und ich erfuhr noch so einiges aus dem Leben im Schloss. Es wurde viel gelacht, noch mehr gegackert und Cayenne holte sogar nicht eine Tüte mit Schokoriegen aus dem Schrank, die wir zusammen mit Flair verspeisten.

Als Sydney am späten Nachmittag in den Salon kam, um uns über die Uhrzeit aufzuklären und dass die Vollmondjagd in zwei Stunden beginnen würde, trennten wir uns mit einem Lächeln auf den Lippen.

 

°°°

 

Es war schon fast acht und draußen schon lange dunkel, als es an unserer Zimmertür kratzte und Diego in seiner Wolfsgestalt bei uns auftauchte. Ein brauner Wolf von dunklem Karamell, der geduldig wartete, bis auch ich mich verwandelt hatte und mich ihm anschloss. Ich war richtig aufgeregt und ein kleinen wenig nervös. Schade dass ich Flair nicht hatte mitnehmen dürfen, aber davon abgesehen, dass die wohl nur im Weg sein würde, war sie auch ein kleinen wenig auffällig. Gab hier halt nicht allzu viele Mini-Yorkis.

Ich folgte Diego links am Schloss vorbei. Vom HQ aus führte er mich durch einen parkartigen Garten, der genau dort endete, wo die Wälder der Könige begannen. Viele Hektar Wald, die eine fast unberührte Wildnis bargen. Für die Lykaner war das einfach der perfekte Ort. Weit weg von den Menschen, aber nicht völlig abgeschieden vom Rest der Welt.

Genau wie wir, hatten sich auch viele andere Lykaner an diesem Abend auf dem Weg gemacht, um diesem monatlichen Ereignis beizuwohnen. In Massen strömten sie herbei, um sich bei ihrer Königin zu versammeln. Noch nie in meinem Leben war mir so deutlich bewusst geworden, wie viele Lykaner es eigentlich gab. Und die, die sich hier heute einfanden, waren nur ein Bruchteil von denen, die existierten.

Bleib dicht bei mir, damit du nicht verloren gehst“, mahnte Diego mich, als wir mit einem Pulk aus anderen Wölfen, durch die ersten Ausläufer des Waldes trabten.

Okay.“ Als wenn ich mich in diesem Durcheinander allzu weit von ihm entfernen würde.

Ein heller Wolf neben mir sah mich komisch an, schüttelte dann gen Kopf und trabte eilig weiter. O-kay. Vorsichtshalber lief ich dichter neben Diego. Seltsame Blicke mochte ich einfach nicht.

Du solltest deine Gedanken nicht fächern, sondern lieber kanalisieren“, tadelte er mich.

Kanalisieren?“

Wieder bekam ich komische Blicke.

Diego blieb überrascht stehen und sah mich an. „Du weißt nicht wie du deine Gedanken kanalisieren kannst?“

Ähm … nein, das sagt mir nichts.“

Er musterte mich. „Du sprichst also immer zu allen gleichzeitig?“

Geht das denn auch anders?“

So wie er mich ansah, lautete die Antwort wohl ja. „Pass auf. Wenn du mit mir, oder auch Cayenne sprichst, dann konzentriere dich nur auf diese eine Person. Zwing deine Gedanken in eine grade Linie, damit sie nur der hört, für den sie bestimmt sind.“ Er setzte sich direkt vor mich in den Schnee und beachtete die Wölfe nicht weiter, die deswegen um uns herumlaufen mussten. „Versuch es einmal.“

In Ordnung.“ Ich richtete den Blick stur auf ihn, kniff dabei auch noch die Augen zusammen und sandte den Gedanken: „Ich liebe Gummibärchen.“

Neben mir gab eine junge Wölfin ein bellendes lachen von sich. „Das sieht man dir an.“

Auch ihre beiden Freunde lachten und zogen dann weiter.

Na super. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Blöde Pute, am liebsten würde ich die …

Lass dich nicht ablenken“, unterbrach Diego meine Gedanken. „Konzentriere dich auf mich und versuch es noch mal.“

Warum? Hat eben auch nicht geklappt.“ Und ich würde mich sicher kein zweites Mal zum Affen machen.

Das war nur der erste Versuch gewesen. Lass dich nicht gleich entmutigen.“

Meinetwegen. Ich kniff also wieder die Augen zusammen, strengte mich richtig an – sah dabei wahrscheinlich aus, als hätte ich Verstopfungen – und dachte: „Die Farbe Rot.“

Nicht ganz“, sagte Diego, „aber das war schon besser. Noch einmal.“

Gott, der war ja beinahe schlimmer als mein Papa. „Fischers Fritz fischt frische Fische.“

Dieses Mal bekam ich weder einen seltsamen Blick, noch einen saublöden Kommentar. Hieß das, es war mir gelungen?

Jetzt hast du es raus. Merkst du den Unterschied?“

Es ist leiser.“ Nein, dieses Mal konnten wieder alle um mich herum hören was ich dachte. Ich war ein hoffnungsloser Fall.

Du brauchst nur ein bisschen Übung“, erklärte Diego und erhob sich wieder. „Komm, Cayenne wartete sicher schon auf dich.“

Übung also. Er hatte es nicht anders gewollt. Bis wir den Waldrand erreicht hatten, textete ich ihn mit allem möglichen Blödsinn voll und es wurde mit jedem Satz nicht nur besser, sondern auch einfacher. Eigentlich war das gar nicht so schwer. Wie er schon sagte, alles nur eine Sache der Übung und bis die Menge der Wölfe wirklich so dicht wurde, das man kaum noch vorwärts kam, hatte ich den Bogen raus. Aber meine Gedanken waren Zwischenzeitlich auch woanders.

So viele Wölfe, in so vielen Farben und Varianten. Ich bekam die Schnauze vor Staunen kaum noch zu. Ein ganzes Meer aus Lykanern in ihrer tierischen Gestalt. Anormal große Wölfe, fast so wie eine Deutsche Doggen, oder ein Irisch Wolfhound. Dieser Anblick war einfach nur der reine Wahnsinn! Dabei war es nicht mal laut, wie man es für so eine Menge vermutet hätte. Klar, die sprachen ja auch alle in Gedanken, die sie kanalisierten – jup, ich hatte was gelernt. Nur das Rascheln ihres Fells, oder kleine Bewegungen waren zu hören, als Diego sich langsam durch die Menge schob. Hier und da ein Bellen, oder ein Knurren. Ansonsten war es für so eine große Menge unnatürlich still. Tja wir waren halt alle Tiere, aber eben doch noch ein kleines bisschen mehr.

Blieb direkt hinter mir“, ordnete er an.

Nichts anderes würde mir einfallen. So eng wie das hier war und wirklich sanft gingen die ja auch nicht miteinander um. Da gab es mehr als einen der knurrte, oder Diego die Zähne zeigte, weil er sich einfach an ihm vorbei drängte. Doch meist reichte da ein Blick von Cios Vater und die Sache hatte sich bereits erledigt, bevor sie überhaupt hatte beginnen können. Nur ein Mal war da ein Kerl der Meinung, hier einen auf großen Macker zu machen und versperrte uns den Weg, weil er glaubte sich im Recht zu befinden. Diego schien plötzlich aufs doppelte anzuwachsen und ich dachte schon jetzt knallt´s, aber Typ zog nur die Rute ein und machte sich vom Acker.

Das trug nicht gerade dazu bei, mein Wohlbefinden zu steigern. Außer mit meiner Familie hatte ich noch nie mit anderen Lykanern zu tun gehabt und sie hier so zu erleben, da konnte einem schon so ein bisschen Angst und Bange werden. Außerdem waren da auch immer noch die ganzen Warnungen von meinem Vater in meinem Kopf. Ja, vielleicht hatte Cio recht und es war heute nicht mehr so, wie mein Vater mir hatte weismachen wollen, aber ich war in dem Glauben aufgewachsen, dass Lykaner mich für das was ich war töten könnten. Eine lebenslange Koordinierung ließ sich nicht so einfach abschütteln.

Außerdem hatte Cio ja auch gesagt, dass die normalen Leute nicht mehr so waren. Das bedeutete, dass es hier mit Sicherheit den einen oder anderen gab, der nicht so wie er dachte. Ich jedenfalls war froh, als die Bäume sich vor uns lichteten und wir durch das Nadelöhr des Waldes auf ein lichteres Fleckchen traten. Hier standen die Bäume teilweise so weit auseinander, dass sich die Anwesenden gut verteilen konnten, ohne sich weiterhin gegenseitig auf die Pfoten zu treten. Sie saßen und lagen einzeln oder zur Grüppchen herum und warteten darauf, dass es endlich begann.

Diego führte mich an ihnen allen vorbei, bis sich das Gelände langsam erhöhte. Dann entdeckte ich Cayenne, die mit ihrer Familie ein wenig abseits saß. Eine wunderschöne, goldene Wölfin, die majestätisch auf einem kleinen Hügel thronte und das Schauspiel von dort oben stolz beobachtete.

Neben ihr, nicht minder eindrucksvoll lag der wahrscheinlich größte Wolf, den ich in meinem Leben jemals zu Gesicht bekommen sollte. Das sandfarbene Fell war am ganzen Körper mit Narben durchsetzt, was ihn ein wenig wild, oder auch struppig wirken ließ. Ich musste nicht erst darüber nachdenken, um zu wissen, dass das Sydney war.

Ein Stück weiter lag Aric und gähnte gelangweilt. Dabei präsentierte er sein prächtiges Gebiss und sah aus, als wenn er am liebsten ein kleines Nickerchen gemacht hätte. Das blonde Fell war dem von Sydney so ähnlich, dass ich mich einfach nur darüber wundern konnte, warum ihm die Ähnlichkeit nicht selber auffiel. Okay, Cayenne war auch blond, aber dann war da ja noch die Sache mit den Augen. Das war so offensichtlich, das konnte man doch eigentlich gar nicht übersehen.

Überall um sie herum saßen stumme Wächter, die die Umgebung genaustens im Auge behielten. Es war eine ganz kleine Wölfin dabei. Genevièv? Dann waren die anderen wohl auch Umbras. Acht, elf, fünfzehn. Mit Diego wären es sogar sechzehn. Wow, ein ganz schönes Aufgebot.

Am Fuß des kleinen Hügels balgte Cio sich spielerisch und auch ziemlich grob mit Kiara und wurde dabei misstrauisch von Iesha im Auge behalten. Selbst als Wolf war Kiara wunderschön. Im Licht des Mondes strahlte ihr Fell geradezu.

Nie war mir deutlicher geworden, dass dieser Teil der Familie ganz anders war als ich – ja selbst Kiara. Sie alle waren vom Fell sehr hell, mein Pelz dagegen war schwarz. Licht und Schatten. Welch passender Vergleich. Sie konnten im Hellen sitzen, während ich mich in den Schatten herumdrücken musste.

„… au … nein … Kiara, lass … uff!“, kam es von Cio. Er hatte sichtlich Spaß daran, sich mit der Prinzessin ein wenig zu kloppen. Ich glaubte nicht, dass er wirklich unterliegen würde, wenn er das nicht zuließ. Die beiden waren ein einziges Knäuel aus goldenem und dunkelbraunen Fell. Und sie lachten was das Zeug hielt.

Als ich mich an Diegos Seite nährte, richtete sich Ieshas Blick auf mich. Ich musste schlucken und mich daran erinnern, dass sie mich in dieser Gestalt nicht erkennen würde.

Warte hier“, wies Diego mich an und ging alleine zu Cayenne auf den Hügel – wäre vermutlich zu auffällig, wenn ich mich einfach zu der Alphafamilie dazugesellen würde. Dabei beachtete er seinen Sohn mit einem missfallenden Blick, ließ die beiden aber weiter miteinander spielen.

Ich dagegen war nicht so begeistert allein hier zu stehen und nicht zu wissen, was jetzt kommen würde. Ja, ich war nervös, aber das war nicht alles. Ich fühlte mich hier so allein einfach nicht wohl in meinem Fell und würde am liebsten …

Ein durchdringendes Wolfsheulen vom Hügel unterbrach meine Gedanken. Cayenne hatte den Kopf in den Nacken geschmissen und huldigte dem Mond mit ihrem Gesang. Die Wölfe um mich herum verstummten nicht nur, sie richteten auch alle ihre Aufmerksamkeit auf ihre Königin, die ihren Blick nun wieder über all die Wölfe schweifen ließ. Auch das Wolfsknäuel aus Cio und Kiara löste sich und sah erwartungsvoll den Hügel hinauf. Beide sahen ein wenig zerzaust aus. Aber zufrieden.

Willkommen zur Nacht der Nächte“, sprach Cayenne zu ihren Wölfen. „Willkommen unterm Vollmond und willkommen zur Jagd.“ Ihr Blick blieb kurz an mir hängen. „Wir alle kennen die Regeln dieses Spiels, doch heute möchte ich sie ein wenig verändern und so jagen, wie wir es schon lange nicht mehr getan haben.“

Ich könnte schwören, dass ihre Augen vor Vergnügen funkelten.

Wir alle, kennen aus unserer jüngsten Kindheit sicher noch das Spiel Jungen gegen Mädchen und genau das ist es, nach dem mir heute der Sinn steht. Nur zwei Gruppen. Die erste, die Frauen werden mit mir in den Wald laufen, ihre Spur verwischen und die Männer schön an der Nase herumführen.“

Zustimmendes Jaulen erklang von Seiten der Frauen.

Cayenne sah mir genau in die Augen und da wusste ich, dass sie das wegen mir tat. So konnte sie es unauffällig bewerkstelligen, dass ich mit ihr zusammen laufen konnte, ohne dass es jemanden auffallen würde.

Die Männer werden uns einen Vorsprung von zwanzig Minuten lassen, dann müssen sie uns finden, jagen und auch fangen.“

Dieses Mal gab es von der männlichen Seite zustimmendes Heulen.

Cayenne erhob sich zu ihrer ganzen Pracht. „Ein Biss an der Kehle bedeutet gefangen. Wer die meisten Frauen erbeutet, wird morgen Abend zusammen mit mir und meiner Familie zu Abend speisen – inklusive der Frauen, die er gefangen hat. Aber denk dran Mädels, hier geht es um die Ehre, also macht es den Herren nicht zu einfach.“

Um mich herum wurde erwartungsvoll gewinselt. Die Anspannung in der Luft war deutlich gestiegen, das Jagdfieber war ausgebrochen.

Und was bekommen wir, wenn wir Euch fangen?“, kam es da nicht ganz unerwartet von Cio.

Sein Vater warf ihm einen mahnenden Blick zu.

Cayenne zog eine Augenbraue nach oben. „Du glaubst dass du mich kriegst?“

Ich werde mir Mühe geben.“

Sie schmunzelte. „In Ordnung, solltest du mich kriegen, bekommst du von mir gratis Gummibärchen bis an dein Lebensende. Falls jedoch nicht, musst du mir die Tüte, die du mir vorhin geklaut hast, ersetzten.“

Er grinste ein dickes Wolfsgrinsen. „Einverstanden.“

Cayenne hob wieder den Kopf. „Und für jeden anderen. Wer mich fangen sollte, dem erfülle ich einen Wunsch.“ Ihre Augen funkelten. „Aber dazu müsst ihr mich erst mal kriegen und das ist gar nicht so einfach, wie ihr wisst.“

An einigen Stellen wurde gelacht. Hatte ich was verpasst?

Sie warf erneut den Kopf in den Nacken und heulte wieder zum Mond hinauf. Das war der Startschuss. Plötzlich brachen von allen Seiten Wölfe aus und rannten in den Wald hinein. Kiara warf Cio fast um, so eilig hatte sie es wegzukommen und Iesha zögerte nur kurz, um Cio einen eindeutigen Blick zuzuwerfen. Sie wollte von ihm gefangen werden – nur von ihm.

Cayenne wartete, bis sich die Masse gelichtete hatte und der Platz fast nur noch von Männern eingenommen wurde. Dann warf sie mir einen eindeutigen Blick zu, wirbelte herum und verschwand mit ihrem Wolfsgesang im Wald. Diego und Genevièv folgten ihr auf dem Fuße. Aber … war das nicht gegen die Regeln? Die Männer sollten doch zwanzig Minuten warten, oder?

Zaira!“

Erschrocken zuckte ich zusammen und sah dann zu Cio.

Worauf wartest du noch? Los, lauf!“

Ach ja, laufen, natürlich. Hoffentlich schaffte ich es noch Cayenne einzuholen. Nur zögernd setzte ich mich in Bewegung, wurde dann aber schneller und tauchte selber im nächtlichen Wald ab.

Um mich herum waren überall Geräusche von sich entfernenden Wölfen, doch wo sollte ich nach meiner Erzeugerin suchen? Sie konnte doch in jede Richtung gelaufen sein. Und hier lagen so viele verschiedene Witterungen von Wölfen in der Luft, dass es mir nicht möglich war, ihre Fährte darunter auswendig zu machen. Meine Nase war nun mal nicht so gut wie die von anderen Lykanern.

Ich machte einen zögernden Schritt nach vorne und da tauchte sie plötzlich hinter einem Baum auf.

Los, komm, hier entlang.“ Und schon war sie wieder weg.

Dieses Mal zögerte ich nicht lange, sondern nahm die Beine in die Hand und machte dass ich ihr hinterherkam. Dabei fiel mein Blick auf Diego, der immer wieder links zwischen den Bäumen auftauchte.

Beachte ihn gar nicht“, sagte sie, sobald ich an ihrer Seite war und drängte mich im schnellen Tempo tiefer in den Wald. Sie war extrem schnell und es war gar nicht so einfach mit ihr mitzuhalten. „Meine Umbras müssen mich überall hinbegleiten, wenn ich das Schloss verlasse. Egal ob ich will oder nicht.“

Ich hörte sowohl Diego als auch Genevièv lachen.

Ist das nicht irgendwann nervig?“ Ich jedenfalls würde nicht gerne auf Schritt und Tritt verfolgt werden.

Du machst dir keine Vorstellung.“ Sie grinste mich an und machte dann eine abrupte Wendung nach rechts. „Los komm, bevor die Männer sich auf die Suche machen.“

Das sagte sie so einfach. Ich war nicht annähernd so schnell wie sie und das fiel ihr wohl auch ziemlich bald auf. Und auch wenn es mich irgendwo kränkte, war ich ihr doch dankbar, als sie das Tempo etwas drosselte.

Je tiefer wir in den Wald liefen, desto weniger Geräusche drangen von den anderen Wölfinnen zu uns. Es mussten hunderte von ihrem hier rumlaufen, doch dieser Wald war so groß, dass ich schon nach kurzer Zeit das Gefühl hatte, mit Cayenne alleine durch diese Wälder zu streifen. Und es war ein tolles Gefühl. Den Lauf in der Natur hatte ich schon immer geliebt und mir ihr an der Seite machte es gleich noch mehr Spaß.

Cayenne hielt sich nun ein Stück weit nach Osten und blieb dann langsam stehen. „Hier“, sagte sie und grinste. „Das ist eine gute Stelle.“

Vor uns zwischen den Bäumen, war der Schnee fast unberührt. Da waren nur ein paar Fußabdrücke von einem Vogel. „Gute Stelle?“

Du wirst schon sehen. Bleib hier.“ Cayenne lief mitten durch den Schnee und hinterließ eine deutliche Spur. Dabei streifte sie noch wie zufällig den Baum und sobald sie auf der anderen Seit war, legte sie den Rückwärtsgang ein. Als hätte sie das schon tausend Mal gemacht, trat sie genau in ihre Pfotenabdrücke und als sie dann wieder neben mir stand, hatte es den Anschein, als wäre wie weiter geradeaus gelaufen.

So, und jetzt du.“

Ich?!“

Natürlich.“

Das war wohl keine so gute Idee. „Ich sollte dich vielleicht darüber aufklären, dass ich in dieser Form fast blind bin. Ich werde meine Fußspuren auf keinen Fall ein zweites Mal treffen.“

Na wenn du es nicht wenigstens versuchst, wird es dir auf keinen Fall gelingen. Los komm.“ Sie stieß mich mit der Schulter an. „Ist doch nur ein Spiel.“

Da hatte sie auch wieder recht. „Aber ich hab dich gewarnt“, sagte ich noch, dann machte ich es genauso wie sie. Auf dem Hinweg klappte alles Problemlos, aber wie ich es vorausgesehen hatte, funktionierte der Rückweg nicht. Als ich wieder neben ihr stand, sah es aus, als hätten drei Wölfe diesen Weg genommen.

Das schien sie nicht zu stören, sie forderte mich einfach auf, ihr zu folgen und wir rannten genau den Weg zurück, den wir gekommen waren. Und das war der Moment, in dem aus weiter Ferne ein mehrstimmiges Wolfsheulen durch den Wald schallte.

Cayenne blieb stehen und horchte. Dann grinste sie mich an. „Die Männer sind unterwegs. Jetzt wird es lustig. Komm!“ Und schon rannte sie weiter.

Wir legten ungefähr ein Drittel unseres Weges zurück, bevor sie wieder anhielt. „So, und jetzt zeig ich dir mal einen Trick, der deinen Verfolger fast immer abhängt. Pass auf.“ Sie nahm Maß, spannte die Muskeln an und dann sprang sie. Ihre Pfoten berührten die Rinde eines Baumes, von dem sie sich anstieß und zwei Meter weiter sicher auf dem Boden landete. „So, und jetzt du.“

Was?!“ Das war doch wohl nicht ihr Ernst. Bei so einer Aktion würde ich mir sicher alle Knochen brechen, und …

Plötzlich kam aus dem Gebüsch ein sandfarbender Wolf geschossen, der sich auf Cayenne stürzte und mit ihr in den Schnee fiel, wo sie sich eine ziemlich heftige Balgerei leisteten.

Zuerst war ich ziemlich erschrocken darüber, aber dann erkannte ich, dass es nur Sydney war und dass Cayenne lachte.

Zaira, lauf!“, rief sie mir zu. „Los, schnell.“

Laufen. Ich musste abhauen, damit ich nicht die nächste Beute war. Okay, das Spiel ging nun wirklich los. Hastig machte ich kehrt und rannte so schnell meine Beine mich trugen. Die Dunkelheit gereichte mir dabei nicht gerade zum Vorteil, sie machte mich fast Blind und schnell wurde ich wieder langsamer, um nicht noch eine Beule zu riskieren. Aber so würde ich nicht lange entkommen, wurde mir klar und als ich dann auch noch ein Rascheln hörte, schlug mein Herz gleich viel schneller. Aber da war keine Witterung in der Luft. Alles schien friedlich. Hatte ich mir das nur eingebildet?

Ich entschloss mich dazu, vorsichtig weiter zu schleichen und nach einem Versteckt Ausschau zu halten. Das wäre vermutlich das Klügste.

Nach ein paar Schritten hörte ich wieder dieses Rascheln und blieb angespannt stehen. Die Beute sein zu müssen, gefiel mir auf einmal gar nicht mehr. Besonders nicht bei der raune Art der Lykaner. Ich hatte ja gerade bei Cayenne gesehen, wir rücksichtslos die waren.

Hm, war das vielleicht Sydney, der hier irgendwo im Gebüsch lauerte und auf seine Gelegenheit wartete? Ich würde nicht stehen bleiben, um das herauszufinden, sondern schlich eilig weiter. Mein Geruch konnte ich vielleicht nicht verschwinden lassen, aber ich konnte versuchen mich leise zu bewegen, um niemanden unnötig auf mich aufmerksam zu machen.

Eine ganze Weile ging das gut und irgendwann entdeckte ich sogar eine tiefe Mulde unter einem Dornenstrauch, in die ich mich quetschen konnte, doch sobald ich da drinnen lag und nichts weiter tun konnte, als auf meine Umgebung zu lauschen, war der Wald plötzlich erfüllt mit Geräuschen. In jedem Schatten und hinter jedem Baum schien etwas zu lauern, das es auf mich abgesehen hatte.

Ich konnte gar nichts dagegen tun, dass man Herz wie verrückt in meiner Brust schlug und mein Atem viel zu schnell ging. Gott, das war ja schlimmer als ein Horrortrip. Dass ich so gut wie nichts sah und einfach nicht wusste, was da auf mich zukam, ließ mein Adrenalinpegel in die Höhe schießen, aber ich konnte nichts weiter tun, als zu warten und zu hoffen, dass mich niemand fand. Ich wollte nicht so angefallen werden wie Cayenne, das hatte echt schmerzhaft ausgesehen.

Beruhig dich“, redete ich mir gut zu. „Das ist nur ein Spiel, nix weiter.“ Und ich war ganz allein. Nicht mal Flair war bei mir und … was war das für ein Geräusch? Angespannt stellte ich die Ohren auf, aber da war nichts als die Nacht und die Natur. Hatte ich mir das wieder nur eingebildet? Langsam wurde das echt gruselig. Vielleicht sollte ich das Spiel einfach abbrechen und …

Etwas packte mich am Hinterlauf. Ich schrie auf, als ich unter dem Gebüsch hervorgezogen wurde und sich ein schwerer Körper auf mich warf, um mir die Zähne an die Kehle zu setzten. Panik machte sich in mir breit, als ich auch durch wildes Rumzappel nicht frei kam. Mein Denken setzte völlig aus. Ich erkannte über mir nur den Schemen eines Wolfes und der hatte seine Zähne an meiner Kehle.

Nein!“, schrie ich. „Nein!“

Die Worte meines Vaters rasten plötzlich wieder durch meinen Kopf. Es gibt hier einfach zu viel Schlechtes. Hatten sie herausgefunden, dass ich ein Misto war?

Nein, bitte, nein“, winselte ich.

Die Zähne ließen von meiner Kehle ab und ich rutschte so schnell es ging von diesem Wolf weg, hörte dass er etwas zu mir sagte, aber ich verstand die Worte nicht. Die Panik hatte mich voll in ihren Klauen. Und als der Wolf dann auch noch vorsichtig einen Schritt auf mich zu machte, kauerte ich mich zu einem ängstlichen Bündel zusammen. „Bitte nicht“, flüsterte ich und nah langsam wie aus weiter Ferne die Worte wahr.

„… nur ich, Cio, hörst du? Ich bin es, Cio.“

Cio?

Was hast du mit ihr gemacht?!“, schimpfte da eine weibliche Stimme und ein weiterer Schemen tauchen neben dem Wolf auf.

Ich habe gar nichts gemacht“, verteidigte er sich sofort, ließ sich auf den Bauch sinken und kroch langsam auf mich zu. „Hey, beruhige dich mal, ich tu dir nicht, weißt du noch? Ich hab keinen Grund dir etwas zu tun.“

Ja, das war Cio. Er hatte keinen Grund mir etwas zu tun, auch wenn ich ein Misto war. Er störte sich nicht an Mistos. „Cio“, flüsterte ich.

Genau, ich bin es.“ Er stupste mir mit der Nase gegen die Schnauze. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht so erschrecken. Ich habe extra Geräusche gemacht, damit du mich hörst.“

Das hatte es eigentlich nur noch unheimlicher gemacht. Als die Panik ein wenig nachließ, begann mein ganzer Körper zu zittern. Plötzlich froh ich tief bis ins Mark.

Hey“, sagte Cio. „Was machst du denn?“

Hast du neuerdings etwas auf den Augen?“, fragte die weibliche Stimme leicht arrogant und mit einem Mal wurde mir bewusst, dass sie Kiara gehörte. „Sie verwandelt sich.“

Das sehe ich auch“, fuhr er sie an. „Ich wollte wissen, warum sie sich verwandelt.“

Was? Ich verwandelte mich? „Nein, nein, nein.“ Das durfte doch alles nicht wahr sein. „Scheiße!“ Der Wolf zog sich zurück, um dem Gefühlschaos in mir zu entkommen. Das genaue Gegenteil von dem was passierte, wenn ich mich zu selten verwandelte und ich konnte nichts dagegen tun. Manchmal glaubte ich, dass das die Strafe dafür war, dass mir die Verwandlung auch als Misto so einfach fiel. Es ging bei mir zu leicht, in beide Richtungen, auch gegen meinen Willen.

Ich spürte schon wie mein Körper sich verformte, spürte wie das Fell zurück unter meine haut kroch. „Gott, verdammt, das darf doch nicht wahr sein!“, fluchte ich ziemlich guttural. Mist, ich konnte schon wieder sprechen. Aber das Schlimmste, ich würde nackt sein! Hastig zog ich alle Gliedmaßen an meinen Körper und versteckte mein Gesicht. Ich würde gleich nackt in einem Wald sitzen, wo es von hunderten von Lykanern wimmelte. Konnte es noch schlimmer kommen?

Ähm .. glaubst du wirklich, dass das jetzt der richtige Moment für eine Verwandlung ist?“

Ja, es konnte noch schlimmer kommen. Cio würde mich jeden Moment nackt sehen. „Geh weg!“, fauchte ich ihn an.

Warum soll …“

Seit wann bist du so schwer von Begriff?“, fuhr Kiara ihn da an. „Sie will nicht das du sie nackt siehst, also verschwinde, bis sie sich wieder verwandelt hat.“ Sie versetzte ihm einen sehr nachdrücklichen Schubs.

Aber Cio ging nicht. Er stand nur etwas unentschlossen neben mir.

Langsam näherte Kiara sich mir und stupste mir vorsichtig mit der Nase gegen meine Schulter. Verdammt, ich hatte schon wieder eine Schulter, eine menschliche Schulter! „Beruhige dich“, sagte sie sanft.

Beruhigen, der war gut. Noch dazu wenn sie direkt neben mir stand. Nicht lange und sie würde den Vampir an mir riechen können. Hoffentlich erkannte sie in mir nicht das Mädchen aus der Reithalle.

Das kommt nur vom Schreck“, erklärte sie mir, als wenn ich das nicht wüsste. „Du musst deine Gefühle unter Kontrolle bekommen.“

Fast hätte ich sie angeknurrt. Das war mir durchaus bewusst, schließlich war das hier mein Körper, aber stattdessen drehte ich nur den Kopf ein wenig und sah Cio an. Wenn ich mich nicht schnell unter Kontrolle bekam, wäre ich nicht nur kein Wolf mehr, ich wäre ein Vampir inmitten eines Rituals der Lykaner. Manchmal hasste ich es einfach nur ein Misto zu sein.

Cio starrte mich an. Er wusste sehr genau was ich war und die Unruhe in meinem Blick ließ ihn wohl die richtigen Schlüsse ziehen, ohne dass ich auch nur ein Wort sagen musste. „Ich bin gleich wieder da“, erklärte er und verschwand im nächtlichen Wald.

Kiara schaute ihm nur kurz hinter und setzte sich dann neben mich. „Keine Sorge, er ist jetzt weg, du brauchst also keine Angst mehr haben, dass er dich sieht.“

„Dann bleibt also nur noch das Problem, dass ich nackt mitten im Wald sitze und ich mich nicht verwandeln kann.“ Von der Kälte wollte ich erst gar nicht anfangen. Verdammt, warum musste mein Körper nur ständig so verrückt spielen?

Sie ließ ein glockenhelles Lachen erklingen. „Es gibt weitaus Schlimmeres“, schmunzelte sie. „Mir selber ist das als kleines Kind auch immer passiert. Du weißt ja sicher, dass ich bis zu meinem achten Lebensjahr sehr große Probleme mit meiner Verwandlung hatte.“

Nein, das hatte ich nicht gewusst, denn auch wenn ich so roch, ich war niemals wirklich Teil dieses Rudels gewesen, oder hatte auf irgendeine andere Weise Anteil an ihrem Leben gehabt. Aber ich konnte mir sehr gut vorstellen, woran das lag. Auch wenn sie das glaubte, sie war kein reinrassiger Lykaner.

Sie beugte sich mir entgegen, als wollte sie mir ein Geheimnis anvertrauen. „Mein Vater hat fast jeden Tag mit mir üben müssen, damit ich meine Gestalt halten kann“, verriet sie mir.

Nein, nicht dein Vater, dachte ich. Obwohl Sydney für sie wahrscheinlich genauso ein Vater war, wie Tarajika für mich eine Mutter.

Ich bin halt nicht so ein toller Alpha, wie Aric.“ Es hatte wohl scherzhaft klingen sollen, doch da war eindeutig ein bitterer Unterton in ihrer Stimme. „Egal“, wiegelte sie ab. „Versuch einfach ruhig zu werden, dann kannst du dich sicher wieder verwandeln.“

So wild wie mein Herz noch schlug, konnte das noch ein Weilchen dauern. Und die Situation sorgte auch nicht gerade dafür, dass ich im nächsten Moment in den Wohlfühlmodus wechseln könnte. Die Kälte und der Schnee trugen dann auch noch ihren Teil dazu bei. Ich schaffte es einfach nicht mich so weit runterzuregeln, um mich verwandeln zu können. Der Wolf hatte sich verkrochen und wollte sich auch durch gutes Zureden nicht wieder herauslocken lassen. Und als dann aus der Ferne auch noch die Geräusche von näherkommenden Schritten zu hören waren, war es mit der bisher erreichten Ruhe gleich wieder aus.

Ich mach das schon“, sagte Kiara und lief den Störenfrieden entgegen, nur um mit einem überraschten „Mama“ gleich wieder stehen zu bleiben.

Oh Gott, jetzt war auch noch Cayenne hier. Ging es eigentlich noch peinlicher? Ich wollte im Erdboden versinken.

Sie trabte auf mich zu und rieb ihre Schnauze kurz an meinem Gesicht. „Ganz ruhig.“

Cio hat sie halb zu Tode erschreckt“, erwähnte Kiara ein wenig beiläufig. „Ich hab mich dann um sie gekümmert.“

Ich weiß, Cio hat mich geholt und es mir gesagt.“

Ich spürte ein seltsames ziehen in der Brust und dann Wärme um mich herum, bevor mich eine weibliche Hand an der Schulter berührte. Vorsichtig blickte ich auf, direkt in Cayennes Gesicht. Auch sie hatte sich verwandelt und hockte nun nackt vor mir. Nur schien es ihr weitaus weniger auszumachen.

Ein Stück hinter ihr standen Sydney und Cio.

„Ich möchte das ihr jetzt geht, alle.“

Aber …“, wollte Kiara sofort protestieren, verstummte aber, als sie den Blick ihrer Mutter sah. „Dann halt nicht.“ Als sie sich abwandte und davon trottete, wirkte sie mit einem Mal ein wenig verstimmt.

„Du auch, Cio“, bestimmte Cayenne und ließ keine Wiederworte zu.

Er warf mir noch einen entschuldigenden Blick zu, bevor er der Prinzessin folgte.

„Und nun zu dir. Gib mir deine Hand.“

Ich zögerte, traute mich nicht ganz, sie von meinen Beinen zu lösen. Da war immer noch Sydney der mich sehen konnte, doch er hatte uns netterweise den Rücken zugewandt und starte stur in den dunklen Wald.

Sie hielt mir ihre offene Handfläche hin. „Gib mir deine Hand, Zaira, ich kann dir helfen.“

„Helfen?“ Ich lachte spöttisch. „Wie willst du mir denn dabei helfen?“

„Das kann ich dir zeigen, wenn du mir deine Hand gibst. Also los, komm.“

Na schön schaden konnte es ja nicht und peinlicher ging es sowieso kaum noch. Also reichte ich ihr die Hand. Sie nahm sie zwischen ihre, fixierte meinen Blick und auf einmal war da wieder dieser Geruch in der Luft. Dieses Mal jedoch hatte ich nicht das Bedürfnis, mich darunter zu ducken. Es war eher wie eine Berührung meiner Sinne, der sanft und beruhigend über meinen Geist strich.

Meine Augen wurden ein wenig größer. „Was ist das?“, fragte ich leise.

„Odeur, die Gabe der Alphas.“

Und der Grund, warum die Alphas jeden anderen Lykaner kontrollieren konnten. Alina hatte es mir einmal erklärt. So konnte Cayenne andere Werwölfe nicht nur beruhigen, sonder auch kontrollieren. Es sprach ihre Sinne an und sorgte dafür, dass sie ihr gehorchten.

Ich hatte mir nie vorstellen können, wie das sein würde. Eine Macht, die mich einhüllte, um mein Herz zu trösten. Ich spürte wie es langsamer schlug und auch meiner Schulter begannen sich zu entspannen.

„So ist es gut“, sagte sie und strich mir eine Strähne hinter mein Ohr. „Und jetzt versuch dich wieder zu verwandeln.“

Okay. Ich atmete noch einmal tief durch, schloss die Augen und dann ließ ich die Metamorphose einfach über mich kommen. Es ging genauso leicht wie immer und schon in der nächsten Minute wurde ich wieder durch meinen dichten, schwarzen Pelz vor der schneidenden Kälte geschützt.

Als ich die Augen öffnete, war ich wieder ein Wolf und Cayenne hielt nicht länger meine Hand, sondern meine Pfote fest.

Sie lächelte mich an, ließ meine Pfote sinken und gab sich dann selber dem Lied des Mondes hin. Bei ihr dauerte es ein wenig länger, aber dann war auch sie wieder ein Wolf. „Alles in Ordnung bei dir?“

Ja, ich hab mich nur erschrocken“, gab ich etwas beschämt von mir.

Okay.“ Sie schwieg kurz. „Zaira, ich weiß du wolltest unbedingt an der Jagd teilnehmen, aber …“

Schon verstanden. Es ist Zeit für mich zu gehen.“ Hier hatte ich nichts zu suchen. Ich war eben kein Lykaner. Ja, ich war nicht mal ein halber Lykaner. Ich war etwas, das versteckt gehörte.

Ich werde Diego sagen, er soll dich zurück zu deinem Vater bringen.“ Sie stupste mich an. „Und sei nicht traurig. Vielleicht schaffen wir es ja noch mal vor deiner Abreise zusammen laufen zu gehen. Ohne die ganzen anderen Wölfe.“

Klar“, sagte ich leichthin, wusste aber noch im gleichen Moment, dass es nicht passieren würde. Dieser Peinlichkeit wollte ich mich kein zweites Mal aussetzen.

 

°°°°°

Verlorene Seele

 

Gegen die Regel der Etikette betrat der Diener das Büro der Gräfin ohne auf die Einladung zu warten. Die Neuigkeiten die er brachte musste er ihr sofort mitteilen. Es war nicht zu glauben.

„Was hat das zu bedeuten?!“ Die Gräfin saß hinter ihrem Schreibtisch und funkelte den Diener verärgert an. „Ich hatte gesagt, ich möchte bei der Unterredung mit meinem Sohn nicht gestört werden!“

Der Sohn der Gräfin, Graf Cerberus, lag auf der cremefarbenen Chaiselongue unter dem Fenster, in dem sich die Dunkelheit der Nacht zeigte und sah dem Diener kalt entgegen. Er war das Sinnbild eines großgewachsenen Mannes, der jede Frau verführen konnte, doch sein Herz war aus Eis.

Der Diener beugte sein Haupt tief und hoffte die Gräfin so zu besänftigen. „Ich entschuldige mich tausend Mal für dieses unverzeihliche Eindringen, aber ich bringe euch wichtige Neuigkeiten, die keinen Aufschub gewähren.“

„Was für Neuigkeiten?“

„Einem Eurer Männer ist es gelungen jemanden zu finden, der Euch bei Eurem Unterfangen unterstützen kann. Ihr müsst sie nur noch ein wenig … überzeugen.“

Die Gräfin erhob sich hab von ihrem Stuhl, in ihrem Gesicht ein überraschter, aber auch freudiger Ausdruck. „Habt ihr Celine aufgespürt?“

Bedauernd schüttelte der Diener den Kopf. „Nein, wir wissen noch immer nicht, wo sie ist, aber ich versichere Euch, dass Ihr sie nun nicht mehr brauchen werdet. Die Frau die wir gefunden haben … wir stießen auf sie, als wir ein Nest der Skhän ausräucherten und … Ihr müsst es selber sehen, ich kann es noch immer nicht glauben.“

„Wer bei Leukos könnte besser geeignet sein als Celine?“

„Eine Tote“, erklärte der Diener rätselhaft. „Soll ich sie hinein führen?“

Die Gräfin wirkte nun sehr interessiert. „Ja, für die Tote hinein.“

„Wie Ihr wünscht.“ Er verbeugte sich noch einmal etwas tiefer, drehte sich dann zur Tür und klatschte einmal laut mit den Händen. „Bringt sie hinein, die Gräfin möchte sie sprechen.“

Eine Frau wurde von einem Wächter hineingeführt. Sie war dürr, abgemagert und kaum mehr als Haut und Knochen. Ihre Wangen waren eingefallen, die Haut zeigte ein kränkliches Grau und unter den Augen hatte sie tiefe Ringe. Das einst so schöne, blonde Haar war nur noch ein ungepflegtes Filznest, das ihr strähnig und fettig ins Gesicht hing. Ihr ganzes Äußeres war gezeichnet von der schweren Zeit die sie hatte durchleiden müssen und blieb den Blicken der Anwesenden nur durch einen dreckigen Fetzen und der Decke die man ihr gegeben hatte, verborgen.

Nur für einen Moment war der Gräfin die Überraschung anzusehen, dann hatte sie sich wieder komplett im Griff. „Prinzessin Sadrija.“

Der unstete und gehetzte Blick richtete sich auf die Gräfin. „Das war einmal“, sagte sie leise mit rauer Stimme. „Das ist schon viele Jahre her.“ Der Schmerz der in diesen Worten mitschwang, war für jeden in diesem Raum spürbar.

„Es tut mir leid“, sagte die Gräfin voller Mitgefühl. „Es tut mir so leid, dass ich so lange gebraucht habe um Euch zu finden, aber ich habe nie aufgegeben, auch wenn die Königin Euch schon kurz nach Eurem verschwinden für Tot erklärt hat.“

Der Blick der einstigen Prinzessin kletterte an der Gräfin hinauf, bis es an ihrem Gesicht hängen blieb, an der Narbe, die sie ihr selber zugefügt hatte. „Cayenne“, hauchte sie und dann ganz langsam, breitete sich auf ihren spröden Lippen ein verachtendes Lächeln aus. „Du lügst, das hätte sie niemals getan. Du warst schon immer ein Miststück und ich weiß nicht, was du damit bezweckst, aber meine Schwester hätte mich niemals im Stich gelassen.“

„Es ist traurig, dass Ihr das glaubt und an diesem Wunschdenken festhaltet, denn nicht sie sondern ich war es die Euch fand und befreite. Sie hat noch vor dem Tod König Nikolajs aller Welt verkündet, dass Ihr von Markis Jegor Komarow entführt und getötet wurdet, zusammen mit dem Mann, der an diesem Tag an Eurer Seite weilte.“

Sadrijas Mund teilte sich ganz langsam, als ich der Name dieses Mannes über die Lippen kam. „Danilo.“ Eine Träne sammelte sich in ihrem Augenwinkel und rollte ihr langsam über die Wange.

Die Gräfin nickte, als wisse sie genau, worüber Sadrija da sprach. „Und während Ihr in der Gefangenschaft der Skähn vor Euch dahinvegetieren durftet, hat Eure Schwester sich ein schönes Leben gemacht und eine große Familie in die Welt gesetzt. Prinz Aric steht sogar schon kurz davor eine Gefährtin zu nehmen, um die Macht weiter zu vergrößern.“ Sie durchbohrte das Wrack vor sich geradezu mit ihrem Blick. „Während sie sich in Glück und Reichtum gewälzt hat, ohne einen Gedanken an Euch zu verschwenden, hab Ihr Euch den Skähn unterwerfen müssen. Sie durfte ein sorgloses Leben führen, während Ihr in Leid gebadet habt. Sie hat sich nach Eurem verschwinden keinen weiteren Gedanken mehr um Euch gemacht.“ In ihren Augen blitze eine Idee. „Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass sie es war, die dies alles arrangiert hat, um Euch aus dem Weg zu haben. Es war doch schließlich ihr Schwiegervater, der Euch entführt und den Skhän ausgeliefert hat, oder täusche ich mich da?“

Sadrijas Augen waren mit jedem Wort größer geworden. „Aber … nein, warum sollte sie das tun? Sie hatte dafür kein Grund.“

„Sie hat Euch noch nie gemocht, vom ersten Tag an nicht und das wisst Ihr sicher noch besser als ich.“

„Aber … sie würde doch nicht … sie hat doch nicht …“

Die Gräfin trat vor sie und legte ihr vertrauensvoll die Hand auf die Schulter. Sie musste die aufkommenden Zweifel weiter schüren, um ihr Ziel zu erreichen. „Sie hat alles getan, um alleine an die Macht zu kommen. Ihr erinnert Euch sicher an das schreckliche Unglück, bei dem Eure Familie ums Leben kam.“

Sadrija schwieg. Der Schmerz in ihren Augen nahm zu. Wie konnte sie auch diesen Tag vergessen, an dem ein Großteil ihrer Familie gestorben war? Nie würde sie den Anblick ihres Vaters vergessen, der sie aus den Trümmern gezogen hatte und dafür selber sterben musste. Oder ihres Bruders Kai, der samt Kind und schwangerer Frau von der Explosion unter einem Trümmerberg verschüttet wurde.

„Königin Cayenne hat diese Geschichte so gedreht, dass nun alle Welt glaubt, es sei Markis Jegor Komarow gewesen, der diesen Anschlag verübt hat, dabei bin ich davon überzeugt, dass sie es selber gewesen war, weil sie die Macht für sich allein wollte. Und damit ihr Sündenbock nicht die Wahrheit ausplaudern konnte, hat sie ihn getötet.“

Sadrija wandte den Blick ab, als könnte sie den Worten damit entkommen, aber die Gräfin war rücksichtslos. Hier vor ihr stand die Lösung all ihrer Probleme, sie musste sie überzeugen ihr zu helfen.

„Diese Frau ist nicht nur eine Egomanin, die für ihre Ziele über Leichen geht, sie lässt die Lykaner auch eine Lüge glauben. Sie ist es nicht wert den Titel der Königin zu tragen.“

Sadrija schnaubte. „Ach darum geht es hier. Du denkst immer noch, dass sie ein Misto ist.“

„Ich glaube es nicht nur, ich weiß es.“ Sie schwieg einen Moment und gab dann das Geheimnis um ihre Quelle preis. „Graf Alessandro selber war es gewesen. Der mir einst davon berichtete.“

Sadrijas Kopf wirbelte überrascht herum. Ihre Augen waren weit aufgerissen und wirkten in diesem toten Gesicht noch größer. „Mein … mein Onkel hat …“

Die Gräfin nickte. „Er hatte mir bereits von ihr erzählt, da war noch nicht einmal die Sprache davon, dass sie jemals ins Schloss kommen würde.“ Sie blickte ihr fest in die Augen. „Als Königin Cayenne dann auf der Bildfläche erschien, hab ich Nachforschungen angestellt. Es war schwer gewesen, da die Alphas alle Hebeln in Bewegung gesetzt hatten, um das Geheimnis zu wahren, aber ich habe alles über ihre Herkunft erfahren, doch nützt mir dieses Wissen nicht, wenn ich keinen glaubhaften Zeugen habe. Graf Alessandro ist von seiner Aussage natürlich abgerückt. Er musste ja auch nicht durchstehen, was euch widerfahren ist. Deswegen bitte ich Euch, helft mir, damit ich die Wahrheit an Licht bringen kann.“

„Und damit du Königen werden kannst?“ Sie lachte spöttisch, doch lag da eine Unsicherheit in ihrer Stimme, derer sie sich nicht erwehren konnte. Die Zweifel die sie an Cayenne hatte, wuchsen mit jedem weiteren Wort der Gräfin. „Du bist doch genauso machthungrig.“

Das Kopfschütteln der Gräfin schien sie zu überraschen. „Nicht ich werde es dann sein, die den Thron besteigt, sondern mein Sohn Cerberus.“ Sie trat einen Schritt zur Seite, um der früheren Prinzessin einen Blick auf den jungen Mann zu gewähren, der sich nun von der Chaiselongue erhob und sich ehrerbietig vor Sadrija verbeugte. „Ich habe ihn und seine Gefährtin seit ihrer Geburt auf dieses Amt vorbereitet. Ihr werdet niemanden finden, der besser dafür geeignet ist, die Lykaner anzuführen.“ Sie wandte sich wieder der geschändeten Frau zu, die die Decke fester um ihre Schultern zog. „Aber damit es soweit kommen kann, brauche ich Eure Hilfe. Ich brauche jemanden der meine Worte bestätigt und diese Frau als das enttarnt, was sie ist: Eine Lügnerin, die ein ganzes Volk täuscht.“

Sadrija schüttelte den Kopf. „Ich … ich kann nicht, ich …“

„Warum wollt ihr die Frau schützen, die Euch dies angetan und dann vergessen hat?“

„Nein, sei ruhig!“ Sadrija drückte sich die Hände auf die Ohren, sie wollte das nicht mehr hören, doch die Gräfin drang weiter in sie. Sadrijas Geist war schwach, ihre Seele gebrochen und diese Chance wollte die Gräfin sich nicht entgehen lassen.

„Durch Euer Schweigen schützt Ihr nicht nur die Mörderin Eurer Familie, Ihr hintergeht auch das Volk.“

„Nein, nein, nein.“

„Ihr lasst sie für ihre Taten ungeschoren davonkommen.“ Sie zwang Sadrija ihr in die Augen zu sehen. „Sie wird niemals dafür büßen, was sie getan hat. Sie wird niemals dafür büßen, dass sie Euch Danilo genommen hat.“

„Danilo“, hauchte Sadrija und ließ langsam die Arme sinken. Die Decke rutschte ihr langsam von den Schultern und es blieb nichts als eine gebrochene Frau zurück, die alles in ihrem Leben verloren hatte und nun einen Schuldigen dafür gefunden hatte. „Sie hat mir Danilo genommen.“

Die Gräfin schwieg und wartete genauso gespannt, wie alle anderen Im Raum.

„Sie ist … Cayenne ist nicht meine Schwester, sie ist … sie ist die Tochter von Celine und ihrem menschlichen Gefährten. Der Mann ist tot, ich weiß nicht wo Celine ist.“

Der Triumph blitze in den Augen der Gräfin auf, doch sie ließ sich nichts anmerken. „Ich danke Euch, dass Ihr mir helft, aber das können wir alles noch später besprechen, wenn ihr Euch ein wenig erholt habt.“ Und wenn sich die Zweifel so tief in den Resten ihrer Seele gegraben hatten, dass sie alles glauben würde, was die Gräfin ihr sagte. „Nun den.“ Sie klatschte in die Hand. „Gebt ihr mein bestes Zimmer und bringt ihr etwas zu Essen, damit sie sich stärken kann. Und holt auch einen Arzt, der sie versorgen kann. Es sollen immer zwei Diener in ihrer Nähe sein, falls sie etwas brauch, Frauen, keine Männer.“

Der Diener verbeugte sich. „Ich werde sofort alles in die Wege leiten.“

Auch der Wachmann verbeugte sich und führte die gebrochene Frau dann hinter dem Diener aus dem Büro. Keiner von ihnen sah mehr das Lächeln im Gesicht der Gräfin, niemand hörte ihre Gedanken, doch jeder wusste, dass nun die Zeit der Veränderung gekommen war und ein neues Zeitalter anbrechen würde. Ihnen allen war klar, dass es nun aus war mit Königin Cayenne Amarok, dem Oberhaupt der Lykaner.

 

°°°°°

Schatten der Vergangenheit

 

„Pass auf, ich zeig es dir.“

Er würde doch nicht wirklich … oh doch. Er würde nicht nur, er tat es auch. Fred, besser bekannt unter dem Namen Frederick zu Obach, der frühere Mentor von Cayenne für Etikette und Anstand des Adels, schnappte sich die mörderischen, roten Pumps aus dem Schuhkarton, ließ sich auf den Sessel fallen und tauschte seine schwarzen Slipper gegen diese Beinbrecher ein. Dann stand er auf und lief damit durch den kleinen Salon, als würde er nie etwas anderes tun. „Siehst du? Es ist ganz einfach.“

Cayenne hatte nachdenklich den Finger ans Kinn gelegt und runzelte leicht die Stirn. „Sag mal Fred, machst du das öfter?“

Hm, ähnliche Geister dachten wohl wirklich in gleichen Bahnen.

„Nur wenn ich alleine bin.“ Er bedachte sie mit einem einnehmenden Lächeln.

Und ich saß einfach nur da und versuchte mir das Grinsen zu verkneifen. Das sah wirklich albern aus, wie Fred da vor uns rumstolzierte. Und dabei zeigte er auch überhaupt keine Scheu. Wie selbstverständlich brachte er hier einen Catwork, von dem sich so manches Model noch eine Scheibe abschneiden konnte. Zeige Drehungen, Bewegungen und sein Hüftschwung war auch nicht von schlechten Eltern. Doch ich bezweifelte sehr stark, dass ich es fertig brachte, so elegant auf diesen Tretern zu laufen. Ich bezweifelte sogar, dass ich mich ohne diese Schuhe so elegant bewegen könnte.

„Du musst aber ziemlich oft alleine sein, so gut wie du das machst“, überlegte Cayenne.

„Alles nur eine Sache der Übung.“

Um so laufen zu können, bräuchte ich wirklich eine Menge Übung. Wie bekam er das nur mit dem Hüftschwung so gut hin? Das war an einen Mann ja richtige Verschwendung, sowas sollte allein der Frauenwelt vorbehalten sein.

Grinsend lehnte ich mich zurück. Meine Gedanken waren wirklich albern.

Der Vormittag war bereits mit viel Witz und Humor an uns vorbeigezogen und seit gut drei Stunden gab Fred, ein langer, dünner Mann, mit langem, dünnen Gesicht, und einem langen, dünnen Grübchen im Kinn, mir einen Schnellkurs in Etikette und Anstand, damit ich morgen auf meinem Ball als Prinzessin durchgehen konnte.

Naja, zumindest so halbwegs.

Gerade versuchte er mir zu versichern, dass ich keinen Gips nach der Benutzung dieser Mördertreter brauchen würde. Ich glaubte ihm nicht.

„Kann ich nicht einfach Ballerinas tragen?“, wollte ich verzweifelt wissen.

„Aber du bist doch so kein“, protestierte er.

Ich ignorierte meine Erzeugerin, die sich bei dem Versuch nicht loszulachen fast die Zunge abbiss und verengte die Augen zu schlitzen. „Ich bin eins neunundsechzig und liege damit vier Zentimeter über dem Durchschnitt.“

Flair nährte sich dem seltsamen Mann von der Seite und schnupperte an den Pumps. Ihr niesen sagte mir alles was ich wissen musste: Sie mochte die Dinger auch nicht.

„Aber die anderen Damen des Abends werden auch solche Schuhe tragen und dich damit alle überragen. Doch das darf nicht so sein. Königin Cayenne ernennt dich zur Prinzessin für einen Abend, daher musst du es sein, die die anderen überragt.“

„Ja, aber wenn ich mir jetzt die Beine breche, dann muss ich morgen mit einem Rollstuhl da auftauchen und dann bin ich noch kleiner als die anderen“, argumentierte ich.

Fred schlug die Hände über den Kopf zusammen. „Oh Gott, schenk mir Geduld, du bist ja noch schlimmer als die Königin. Das sind doch nur drei Zentimeter Absätze!“

Nur um das mal klarzustellen, das waren mindesten fünf Zentimeter. Oder ich hatte einen kräftigen Knick in der Optik.

Meine Erzeugerin wandte sich lächelnd ihrem früheren Mentor zu. „Hast du etwa gedacht, ich würde dir einen leichten Fall geben?“, fragte sie spöttisch.

„Die Hoffnung stirbt zuletzt, Königin“, murmelte er niedergeschlagen. „Die Hoffnung bleibt bestehen.“ Er sah mich flehentlich an.

„Na gut“, gab ich mich dann geschlagen. Dieses Elend konnte ja keiner mit ansehen und er gab sich auch wirklich Mühe mit mir. „Ich probiere es mal, aber wenn ich mich verletzte, dann sind Sie schuld.“

Sofort erhellte ein Strahlen sein Gesicht. „Oh, du wirst das schon schaffen, ich bin da sehr zuversichtlich.“

Na wenigstens war das einer von uns. Ich ließ mir von ihm die Pumps reichen, tauschte sie gegen meine Schuhe aus und machte dann den ersten wackligen Versuch darauf zu stehen. Ich hatte noch nie Schuhe getragen, die nicht glatt auf dem Boden klebten und so zu stehen war schon ein sehr ungewohntes Gefühl. Aber ich schaffte es und grinste in die anderen beiden Gesichter.

„Das sieht gut aus. Und nun versuch ein paar Schritte damit zu laufen“, forderte Fred mich auf. „Wenn du das gemeistert hast, dann zeige ich dir, wie man elegant und kokett mit einem Fächer umgeht und die Männerwelt dadurch verrückt macht.“

Ich und die Männer verrückt machen? Das waren irgendwie zwei Gedanken, die sich in meinem Universum nicht miteinander vereinen ließen.

„Oder wie man ihnen damit auf die Finger haut“, fügte Cayenne noch hinzu.

Fred verzog das Gesicht. „Erinnert mich bloß nicht daran. Ich bin vor Scham fast gestorben, als ich gehört habe, was Ihr mit dem armen Fürsten tatet. Und dann auch noch so unverfroren behaupten, ich hätte Euch das beigebracht.“ Er schüttelte fassungslos den Kopf.

„Du hast mir das beigebracht!“, empörte Cayenne sich.

„Einen kleinen, spielerischen Klaps, den hab ich Euch gezeigt, aber Ihr habt dem Mann fast den Finger gebrochen!“ Das schien ihn richtig aufzuregen.

Okay, das war eine Geschichte, die ich unbedingt in allen Einzelheiten erfahren wollte, doch gerade als ich den Mund aufmachte, klopfte es an der Tür. Hm, irgendwie war das jeden Tag dasselbe. Konnte den Leuten nicht mal etwas Neues einfallen? Wie uns zum Beispiel, sie für ein paar Stunden in Ruhe zu lassen? Nur einen Tag lang?

Wie es schien nicht, denn als Cayenne die Tür nur mit einem bösen Blick strafte, anstatt irgendwie darauf zu reagieren, klopfte es noch einmal.

Sie seufzte genervt. „Fred, könntest du bitte gehen und dem, der dort draußen steht, meine Morddrohung übermitteln?“

„Nein, das werde ich nicht, das wäre unhöflich.“

Damit meinte er wohl den zweiten Teil, den er ging zur Tür und öffnete sie ein Spalt. Ein paar Worte wurden gewechselt, während denen ich mich wieder auf das Sofa setzte – ich wollte eben nicht riskieren, mir doch noch den Fuß zu verknacksen – und Flair auf meinen Schoß nahm. Dann öffnete Fred die Tür so weit, dass der Mann dort draußen Cayenne sehen konnte. Es war einer von ihren Wächtern in dieser schwarzen Kleidung. Dieser hier hatte ein großes Tribialtattoo auf dem rechten Oberarm.

„Wächter Hardy“, begrüßte Cayenne ihn förmlich.

„Eure Majestät.“ Er verbeugte sich tief und ehrerbietig, um ihr zu huldigen. „Graf Samuel ist soeben im Hof eingetroffen.“

„Samuel?“ Cayenne runzelte verständnislos die Stirn. „Was macht er denn schon hier? Er wollte doch erst morgen kommen.“

Der Mann stand nur abwartend da. Entweder weil er nicht wusste, was er sagen sollte, oder weil er nicht glaubte, Das Cayenne wirklich eine Antwort von ihm erwartete.

„Wo ist er jetzt?“, wollte meine Erzeugerin wissen.

„Prinzessin Kiara hat ihn in Empfang genommen, weil ihr angeordnet habt, dass man Euch nicht stören soll.“

Unentschlossen biss sie sich auf ihre Unterlippe und schaute zu mir. „Also wenn du möchtest, würde ich ihn dir gerne vorstellen. Samuel ist toll.“

Hm, nachdem was ich gehört hatte, sollte dieser Samuel ein wenig seltsam sein. „Und was ist mit der Einweisung?“

„Die können wir auch noch morgen Vormittag beenden. Und er würde sich sicher freuen, dich kennen zu lernen. Genaugenommen darf ich mir von ihm wahrscheinlich einen nicht enden wollenden Vortrag anhören, wenn er erst später erfährt, dass du hier bist.“

Das klang so, als wüsste ihr Cousin von mir. Und auch, als wäre es ihr wichtig, dass ich ihn kennenlernte. „Ähm … okay, wenn du möchtest.“

„Schön.“ Sie schien sich wirklich zu freuen. „Wächter Hardy, seien sie doch bitte so freundlich und holen sie Samuel.“

„Natürlich, wie Ihr wünscht.“ Er verbeugte sich wieder, machte dann auf dem Absatz kehrt und verschwand.

„Das ist dann wohl das Stichwort für mich zu gehen“, erkannte Fred ganz richtig.

Cayenne lächelte ihn entschuldigend an. „Samuel reist morgen mit Kiara wieder ab, also hat er nur heute die Möglichkeit sie kennenzulernen.“

„Wir haben ja morgen noch ein wenig Zeit“, räumte er ein und begann dann seine Sachen zusammen zu packen. Als er alles ordentlich verstaut hatte, verbeugte er sich vor uns und verabschiedete sich bei mir sogar mit einem Handkuss. „Es war mir eine Freude, deine Bekanntschaft gemacht zu haben.“

Er brachte das so glaubhaft rüber, dass ich gar nicht anders konnte, als zu lächeln. „Die Freude war ganz auf meiner Seite“, erklärte ich und brachte auch ihn damit zum schmunzel.

„Dann sehen wir uns morgen.“ Er nickte Cayenne noch einmal zu und verschwand zur Tür hinaus.

Ich schaute ihm noch einen Moment nachdenklich hinterher. „Kennst du jeden deiner Angestellten beim Namen? Ich meine, das sind doch eine ganze Menge Leute. Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie viele genau. Aber … naja, sie alle beim Namen zu kennen …“ Ich ließ den Satz unbeendet ausklingen. Es wunderte mich wirklich.

Cayenne lächelte leicht. „Nein, nicht alle, aber Hardy strebt den Posten des Großwächters an, er ringt schon seit Jahren mit Victoria darum. Daher kenne ich ihn eigentlich ganz gut.“

„Victoria?“

„Die Mutter von Iesha. Iesha kennst du doch schon, oder?“

Ich nickte.

„Naja, Victoria war früher im Haus meiner Mutter sowas wie ein heimlicher Schutzengel für mich und nach ihrer Rückkehr in den Hof ist sie wieder den Wächtern beigetreten, um ihrem Vater nachzueifern. Ihr Vater, Edward Walker ist Momentan noch mein Großwächter, das ist so etwas wie … wie …“ Sie wedelte mit der Hand in der Luft, während sie den passenden Vergleicht suchte. „Naja, man kann es wahrscheinlich mit einem General vergleichen. Der erste Mann der Königsgarde, wenn du so willst. Aber Eddy ist alt geworden und ist kurz davor seine Pension zu genießen. Seit dem das öffentlich ist, konkurrieren Victoria und Hardy wild um diesen Posten, was eigentlich sehr schade ist.“

„Warum?“ Mit den Füßen steifte ich mir die Pumps ab. Ja, das war gleich viel besser.

„Weil Hardy und Victoria die Eltern von Iesha sind und die bekommt das natürlich alles mit. Zwar waren die beiden nie Gefährten und hatten nur eine kurzzeitige Liebschaft miteinander, aber daraus ist eben ein Kind entstanden, für das sie beide die Verantwortung tragen.“ Cayenne legte die Hände in den Schoß, sah kurz zur Tür und dann wieder zu mir. „Und wie sie sich vor den Augen ihrer Tochter immer bekriegen, kann nicht gut für das Mädchen sein.“

Ich staunte nicht schlecht. „Was du alles weißt.“ Das überraschte mich wirklich. Sie hatte auch schon Geschichten von anderen Bewohnern hier am Hof erzählt. Das hier war wie fast wie ein kleines Dorf.

Sie lächelte schief. „Das Leben im Schloss ist halt wie auf einer einsamen Insel. Jeder lebt hier sein eigenes Leben, aber alle anderen bekommen …“ Als es an der Tür klopfte, unterbrach sie sich. „Herein.“

Ein hochgewachsener Mann mit schlohweißem Haar, trat in den kleinen Salon. Aber er war nicht alt, er wirkte höchstens wie Mitte zwanzig. Sein athletischer Körper steckte in einem dreiteiligen Anzug in einem sehr dunklen blau, der ihn ein wenig blass wirken ließ. Er trat jedoch mit einem Selbstbewusstsein auf, dass einen glauben ließ, dieses Schloss gehörte ihm. Und das lag nicht nur an dem aufmerksamen Blick seiner hellbraunen Augen. Es war sein ganzes Auftreten.

Bei seinem Anblick begann Cayenne breit zu grinsen, doch es fiel gleich wieder ein wenig in sich zusammen, als sie bemerkte, dass ihr Cousin nicht alleine war. An seinem Arm, eingehüllt in ein grauschwarzes Kleid, dass wie Wasser an ihr hinabfloss, hing Kiara.

„Nudel“, sagte Cayenne und versuchte ihr Lächeln beizubehalten. Klar, wenn Kiara hier war, konnten wir nicht offen sprechen. „Müsstest du dich nicht eigentlich um die Petitionen kümmern?“

Sie winkte ab. „Das meiste habe ich schon durchgearbeitet, den Rest kann ich heute Abend machen.“

„Und sonst hast du nichts zu tun?“

Samuel bedachte seine Cousine mit einem aufmerksamen Blick. Ob ihm wohl klar war, dass sie versuchte ihre Tochter unauffällig aus dem Raum zu bekommen?

Kiara jedenfalls bemerkte es nicht. „Nein. Ich habe nachher noch Training, aber bis dahin hab ich nichts …“ Ihr Blick fiel auf mich. „Kenne ich dich nicht?“

Oh nein. „Ähm … ich arbeite im Stall.“ Ich lächelte so, dass sie meine Reißzähne sehen konnte und betete darum, dass es gestern Abend dunkel genug gewesen war, dass sie nicht die Ähnlichkeit zu dem Mädchen erkannte, dem sie gestern im Wald geholfen hatte.

Zwischen ihren Augenbrauen erschien ein kleine Falte. Sie hob den Kopf ein wenig höher, als wollte sie meine Witterung aufnehmen. Mein Herz begann etwas schneller zu schlagen. Ich war mir nicht sicher, ob es gut wäre, wenn sie erführe, wer ich war, doch als sie dann Flair neben mir auf der Couch entdeckte, war ich mit einem Schlag uninteressant für sie.

„Oh mein Gott“, sagte sie und begann zu strahlen. „Bist du niedlich.“ Sie ließ Samuel los, kniete sich so anmutig auf den Boden, dass man glauben könnte, sie würde es täglich üben und klopfte dann vor sich auf den Boden. „Komm her, kleines Hundchen, komm.“

Ihre Stimme war dabei so zuckersüß, dass Flair sofort aufhorchte. Einen Moment tänzelte sie aufgeregt an der Sofakante herum und noch bevor ich reagieren konnte, sprang sie herunter und rannte freudig auf meine Schwester zu.

„Awww“, machte die und griff sich meine kleine Extremsportlerin, sobald sie in Reichweite war. „Du bist echt süß“, gurrte sie und drückte sich Flair an die Brust, woraufhin mein Hund damit begann, ihr begeistert das Kinn abzulecken.

Cayenne und ich tauschten einen nervösen Blick aus, sie jedoch schaffte es weitaus besser, ihre Unruhe zu verbergen. „Samuel“, sagte sie und schenkte ihrem Cousin ein Lächeln. „Darf ich dir vorstellen? Das ist Zaira.“

Einen kurzen Moment flackerte Überraschung über sein Gesicht. „Zaira.“ Er hatte eine tiefe und wohlklingende Stimme. „Kein sehr alltäglicher Name.“ Aufmerksam musterte er mich und richtete sein Blick dann auf Cayenne. „Genaugenommen habe ich diesen Namen erst einmal gehört.“

„Ja“, sagte Cayenne und schaute ihn sehr eindringlich an. „Genau. Du kennst diesen Namen.“

Noch deutlicher konnte sie in diesem Moment nicht sagen, dass ich das kleine Mädchen war, dass sie damals meinem Vater anvertraut hatte.

„Das ist ja höchst interessant“, bemerkte Samuel und besah mich noch ein wenig genauer. „Meinen Information zu folge, sollte ein Treffen wie dieses eigentlich nicht möglich sein.“

„Naja, mein Vater hat es mir auch nicht gerade einfach gemacht herzukommen.“

Er beobachtete mich noch einen Augenblick und setzte sich dann neben Cayenne auf die Couch. „Ich denke, das ist ein Thema, dem ich demnächst noch ein wenig Aufmerksamkeit schenken sollte.“

Wenn ich das richtig verstand, wollte er wohl später noch mal mit Cayenne darüber sprechen. Ungestört.

„Wie lange wirst du am Hof bleiben?“

„Nur bis …“

„Du bist das Mädchen, für das Mama den Ball organisiert“, bemerkte Kiara, ohne auf das eigentliche Thema einzugehen. Sie knuddelte Flair noch immer, doch mein Hund schien langem genug davon zu haben. Sie wehrte sich nicht gegen die Prinzessin, aber wirklich begeistert wirkte sie auch nicht mehr. „Die Tochter, von ihren Jugendfreunden.“

Auf meinen etwas ratlosen Blick hin erklärte Cayenne: „Ich habe ihr erzählt, dass deine Eltern und ich früher befreundet waren.“

Naja, sie hatte wohl einen Grund gebraucht, um das alles zu erklären. „Das ist …“

„Ich habe ja schon viele Bälle gehabt“, sagte Kiara weiter. „Dieses Jahr wollte ich mal etwas anderes machen, darum reise ich mit Samuel morgen nach Marokko. Von dort aus fahren wir eine Wochen mit seiner Yacht hinaus aufs Meer. Anschließend werde ich noch zwei Wochen bei ihm auf seinem Anwesen in Frankreich bleiben. Das wird wie Urlaub sein und das habe ich mir auch redlich verdient.“

O-kay. Ich wüsste zwar nicht, wovon eine Prinzessin Urlaub braucht, aber ich würde mich hüten ihr zu widersprechen. „Das hört sich toll an.“

„Ich weiß.“ Sie setzte sich Flair in den Schoß, hielt sie aber fest, damit sie nicht abhauen konnte. „Du hast also wirklich Glück. Würde ich hier bleiben, wäre das natürlich mein Ball. Aber wie gesagt, ich habe schon sehr viele Bälle gehabt.“

Ich war mir nicht ganz sicher, warum sie mir das erzählte und auch noch so betonte. Versuchte sie mich zu beeindrucken? Oder wollte sie mich neidisch machen?

„Der Ball zu meinem achtzehnten Geburtstag war riesig. Ganz Silenda hat mit mir gefeiert und Straßenfeste zu meinen Ehren ausgerichtet, aber das weißt du ja sicher.“

Nein, das hatte ich nicht gewusst. „Ich war zu meinem achtzehnten Geburtstag mit zwei Freunden im Kino.“

„Oh“, machte sie und sah mich ein wenig mitleidig an. „Naja, sowas kann man ja auch machen. Obwohl ich sowas ja eher in meiner Freizeit mache, wenn ich nicht gerade mit meinem Training beschäftigt bin. Ich mache Dressurreiten, wie dir sicher bekannt ist.“

„Ja, das weiß ich.“

Das quittierte sie mit einem zufriedenen Lächeln.

„Und du?“, fragte Samuel mich. „Womit beschäftigst du dich in deiner Freizeit?“

Ich öffnete den Mund, doch bevor auch nur ein Wort über meine Lippen kam, sagte Kiara: „Also ich spiele neben dem Dressurreiten noch sehr gerne Polo. Ich bin sogar Captain in meiner Mannschaft. Das ist eine große Verantwortung.“

„Damit kenne ich mich nicht so gut aus, aber ich …“

„Naja, ich bin halt sehr vielschichtig.“ Als sie ihre Hand hob, um eine Falte aus ihrem Rock zu streichen, nutzte Flair die Gunst der Stunde und machte das sie davon kam. Sie rannte zu mir und setzte sich direkt zwischen meine Beine. Kiara schaute ihr stirnrunzelnd hinterher. „Ich kann auch Harfe spielen. Auf Mamas Geburtstag letzte Woche, habe ich ein kleines Konzert an meiner keltischen Harfe gegeben. Alle haben wie gebannt zugehört und waren von meinem Geschick begeistert gewesen.“

Also langsam bekam ich das Gefühl, dass sie es nicht guthieß, wenn das Gespräch sich nicht um sie drehte. „Also ich kann ein bisschen Gitarre spielen, aber …“

„Gitarre finde ich langweilig“, erklärte sie mir. „Das hat sowas …“

„Kiara“, unterbrach Cayenne ihre Tochter. „Wie wäre es, wenn du Zaira auch mal zu Wort kommen lassen würdest?“

„Das tue ich doch“, sagte sie schon beinahe verschnupft, über den tadelnden Tonfall. „Ich trage nur meinen Teil zu dieser Unterhaltung bei.“

„Es stört mich nicht“, warf ich ein. Solange Kiara hier war, konnten wir sowieso nicht offen sprechen. Und auch wenn sie ein wenig ichbezogen rüberkam, so interessierte es mich doch, was sie zu sagen hatte. Das hier war schließlich meine einzige Gelegenheit diesen Teil der Familie ein wenig besser kennenzulernen. Heute war schon Donnerstag. Noch zwei Tage, dann würde ich nach Koenigshain zurück müssen. Der Gedanke machte mich ein wenig melancholisch. „Wirklich“, fügte ich noch auf Cayennes zweifelnden Blick zu.

„Warum sollte es dich auch stören?“, überlegte Kiara laut. „Nicht viele Leute bekommen die Gelegenheit sich mit den Alphas so ungezwungen zu unterhalten. Besonders keine Vampire.“

Das hatte jetzt sehr abwertend geklungen. Trotzdem lächelte ich tapfer weiter und hörte einfach zu, als sie weiter aus ihrem Leben erzählte. So erfuhr ich, dass sie als Kind ein paar Wellensittiche besessen hatte, die mittlerweile aber schon alt und tot waren und auch, warum sie immer wieder Nudel genannt wurde.

Als sie klein war, hatte sie wohl eine unheimliche Vorliebe für Nudel aller Art gehabt. Fast eineinhalb Jahre hatte sie nichts anderes gegessenen und zwar zu allen Mahlzeiten. Wenn keine Nudeln auf dem Tisch gestanden haben, hatte sie sich geweigert, an der Mahlzeit teilzunehmen. Sie war einfach aufgestanden und hatte den Speisesaal verlassen. Man konnte sie dann auch nur noch an den Tisch zurücklocken, wenn man laut „Nudel“ gerufen hatte und ihr damit versichert hatte, dass nun Nudeln auf dem Tisch stehen würden.

Diese Phase war irgendwann vorbeigegangen, doch der Name war ihr erhalten geblieben.

Erst gegen Mittag, als unsere Mägen anfingen lautstark nach Nahrung zu verlangen und Flair allmählich unruhig wurde, weil sie mal dringend nach draußen musste, trennen sich unsere Wege für diesen Tag. Samuel verschwand mit Kiara zum Essen, Cayenne zu … naja, was Königinnen eben den ganzen Tag so trieben und ich wartete artig, bis Genevièv auftauchte und mich heimlich nach draußen schleuste.

Draußen wurde ich von ein paar Sonnenstrahlen in Empfang genommen. Einen Augenblick streckte ich ihnen das Gesicht entgegen, bevor ich mich auf den Weg in den Stall machte. Ja, hin und wieder kam ich auch noch meiner Arbeit nach, auch wenn ich sie nur noch für ein paar Tage hatte.

Ohne Eile lief ich durch winterlichen Tag. Gerade überlegte ich, was Mama und Papa im Moment wohl gerade trieben, da klingelte das Handy in meiner Tasche. Ich zog es heraus, bemerkte mit einem Blick auf das Display, dass es Alina war und hielt es mir lächelnd ans Ohr. „Na, was gibt es? Schon auf dem Weg?“

„Nein, du wirst es nicht glauben, aber ich darf wirklich erst morgen in den Hof fahren. Ist das zu fassen?!“

In ihrer Welt wahrscheinlich nicht.

„Und als ich dann mit dem Protest kam dass ich heute kommen müsste, wegen dem Kleid, sagte Mama, wir werden auf dem Weg zum Hof schnell einfach eines besorgen. Kannst du das glauben?! Als würde sie von einer Tafel Schokolade reden, die wir schnell mal an der Tanke holen können!“

Ich verzog das Gesicht. „Ich hasse Schokolade.“

„DAS IST NICHT WITZIG!“, schrie sie mir ins Ohr und ja, dieses Mal war ich mir sicher einen Hörsturz erlitten zu haben.

„Ach komm schon, Alina, der Ball ist doch erst morgen Abend und bis hier her braucht ihr vielleicht sechs Stunden.“

„Aber ich brauche ja schon mindestens sechs Stunden, um mir ein gutes Kleid auszusuchen. Und dann auch noch Schuhe und Make-up und …“

„Dann fahrt einfach um acht los. Mit viel Glück schaffst du es noch rechtzeitig zum Ende des Balls.“ Ich lief an dem offenen Portal vorbei, in dem jede Menge Leute ein und ausgingen. Eine Gruppe von jungen Frauen entdeckte Flair und versuchte sie zu sich heranzulocken, weil sie – nach ihren Worten – ja so absolut niedlich war.

Flair jedoch intonierte die kleine Schar, die nichts zu fressen versprach und schnupperte lieber an der Abdeckung der Beete.

„Du hast wohl heute zum Frühstück einen Clown verspeist“, murrte meine Lieblingscousine.

„Nee, ein Buch mit schlechten Witzen. Und zum Nachtisch gab es dann Kichererbsen.“

Sie schnaubte. „Warte nur bis ich morgen da bin, dann bekommst du das alles zurück.“

Leere Drohungen. „Ich freue mich schon drauf.“

„Und wenn … Moment.“ Sie hielt den Hörer vom Ohr weg. „Was?!“

Uh, da wollte wohl ein Elternpart etwas von ihr.

„Wirklich?“, quiekte sie plötzlich aufgeregt und dann war sie wieder am Hörer. „Du, ich muss Schluss machen. Papa will jetzt mit mir das Kleid holen gehen!“

Na ob Onkel Tristan wusste, auf was er sich da einlassen wollte?

„Ah, geil. Wir sehen uns morgen!“ Und damit legte sie einfach auf.

Hm, ich sollte mir unbedingt einen neuen Bekanntenkreis zulegen, überlegte ich, als ich meine Handy wieder wegsteckte und mich langsam dem Stall nährte. Kasper hielt es auch nie für nötig, ich richtig bei mir zu verabschieden. Oder lag das etwa an mir? Über diese Frage sinnierte ich immer noch, als ich mit Flair im Schlepptau den Stall betrat und von Gisel gleich den Auftrag bekam, Kiaras Lipizzaner fertig zu machen, da sie in einer halben Stunde Training hatte. Danach hatte ich die hinteren Boxen komplett auszumisten und neues Stroh vom Heuboden zu holen. Und da heute die Sonne schien, beschloss ich ein paar Schritte weiter zu gehen und band den Lipizzaner draußen vor dem Stall an einen Pfahl.

So waren das Pferd an der frischen Luft und ich entging Gisels ständig kontrollierendem Blick. Außerdem mochte ich es draußen zu arbeiten, die Tiere zu bürsten, zu striegeln und sie zu loben. Zwischendurch gab es dann auch mal ein kleines Leckerli.

Ich war von meiner Arbeit so abgelenkt, dass ich auf den Neuankömmling erst aufmerksam wurde, als Flair kläffend aufsprang und ihm freudig entgegen lief.

Der Lipizzaner scharte unruhig mit dem Huf in der Erde, als ich ihm über dem Rücken sah und fast zeitgleich knallrot anlief.

Mist, das war Cio. Was sollte ich den jetzt tun? Ich konnte ja schlecht einfach wegrennen, aber nach gestern Nacht wollte ich ihm auch nicht begegnen. Okay, aber ich konnte ihn ignorieren, oder wegschicken.

Weil das ja in der Vergangenheit auch so gut geklappt hatte.

Auch wieder wahr. In dieser Hinsicht war Cio wie ein Pittbull. Wenn der sich einmal festgebissen hatte, dann ließ der nicht mehr so schnell locker. Andererseits, er wusste doch schon alles, was er glaubte, dass es zu wissen gab, oder?

In meinem Kopf ratterten immer noch die Rädchen, als er mit einem Lächeln auf mich zukam und dabei versuchte nicht auf Flair zu treten, die wild um seine Beine herumhampelte. „Hey, Eva, was machst du gerade?“

Bei dieser Anspielung kroch mir nicht nur eine verräterische Röte in die Wangen, er bekam auch einen echt bösen Blick, der mich eigentlich zum Killer hätte machen müssen. Evakostüm, nackt, verstanden. Voll witzig, ha ha. „Ich bereite das Pferd für Kiara vor, das sieht man doch wohl“, kam es mir etwas schärfer über die Lippen, als ich beabsichtigt hatte. Hastig senkte ich den Blick auf den Strigel, mit dem ich gerade gleichmäßig über das weiße Fell strich.

Cio stutzte. „Bist du sauer auf mich?“

„Nein.“ Okay, das war jetzt vielleicht ein kleinen wenig zu schnell gekommen. „Ich habe jetzt gerade nur einfach keine Zeit für dich, also ist es vermutlich das Beste, wenn du einfach wieder gehst.“ Bevor es für ich noch peinlicher werden konnte.

„Keine Zeit?“Er wirkte fast schockiert. „Aber was ist mit Mittagessen?“

Darauf ging ich gar nicht erst ein. Ich bückte mich und bearbeitete das Tier weiter unten, so dass er keine Chance hatte mein Gesicht zu sehen. „Bitte, Cio, geh einfach.“

Seine Beine bewegten sich. Doch leider nicht von mir weg, sondern um mich herum. „Was ist los?“, fragte er sehr ernst.

„Nichts“, log mich und wollte nun auch die Seite des Pferdes wechseln, doch er hielt mich an der Schulter fest.

„Sieh mich an.“

Meinetwegen. Ich drehte mich zu ihm herum. „Zufrieden? Kann ich jetzt weiter arbeiten?“

„Erst wenn du mir erzählst, was plötzlich los ist?“ Seine Augen forschten in meinem Gesicht nach der Antwort. „Gestern war zwischen uns doch noch alles in Ordnung, oder? Hat es etwas damit zu tun, dass ich dich so erschreckt habe, denn wenn ja, das …“

„Mann, Cio, ist doch egal“, wich ich schwach aus. „Geh einfach.“

„Es ist also deswegen.“ Er seufzte. „Zaira, ich hab echt nicht gewusst, dass sowas passieren wird, wenn ich dich da unter dem Gebüsch vorziehe und …“

„Darum geht es doch gar nicht“, fuhr ich ihn an und machte mich von ihm los.

„Nicht?“ Er runzelte die Stirn. „Aber …“

„Du hast mich nackt gesehen, okay? Ich saß da nackt mitten im Wald und du hast es gesehen und das ist mir einfach peinlich. Kannst du jetzt bitte verschwinden und mich in meiner Scham allein lassen?“ Ohne ihm ins Gesicht zu sehen, umrundete ich den Lipizzaner und nahm mir seine andere Seite vor.

„Warum sollte dir das peinlich sein?“

Verstand er es denn wirklich nicht? Ich biss die Zähne zusammen. „Wenn du mich zwingst das auszusprechen, dann werde ich dich hassen.“

Nein, so wie er mich ansah, verstand er wirklich nicht, wo mein Problem lag. „Hör zu, keine Ahnung was du dir da für einen Film in deinem Köpfchen zusammengebastelt hast, ich habe gar nichts gesehen.“

„Ja klar.“ Das würde ich an seiner Stelle vermutlich auch behaupten. Wer wollte mich schließlich schon nackt sehen?

„Nein wirklich.“ Er lehnte sich über das Pferd herüber, um mein Gesicht zu sehen. „Die Nudel hat mich doch weggeschubst und bevor du dich wieder ein Vampir warst, hattest du dich bereits ganz klein zusammengekauert. Außerdem war es dunkel. Ich war viel zu weit weg gewesen, um etwas Interessantes sehen zu können.“

Ich hielt mit dem Striegeln inne und forschte in seinen Augen nach der Wahrheit. Konnte es stimmen was er da sagte? Konnte es sein, dass er wirklich nichts gesehen hatte. Die Chancen dafür waren wohl sehr gering. Zu gering, als dass ich ihm glauben konnte.

„Aber selbst wenn ich dich gesehen hätte, wäre doch auch nicht weiter schlimm. Ich weiß wie nackte Mädchen aussehen.“ Er zuckte mir den Schultern, als sei nichts weiter dabei. Dann grinste er mich frech an. „Oder bist du etwa prüde? Vielleicht sogar noch eine Jungfrau?“

Okay, dafür kassierte er einen echt finsteren Blick. „Nein, stell dir vor, es gibt wirklich Idioten, die sowas wie mich vögeln wollen und es auch schon getan haben. Nur weil du so ein arroganter Arsch bist, der auf solche Bohnenstangen wie Iesha seht, heißt das noch lange nicht, das auch alle anderen Typen so sind!“ Ich schmiss den Strigel in die grüne Box zu den anderen Bürsten und marschierte mit erhobenem Kopf an ihm vorbei in den Stall, um den Sattel zu holen.

Was bildete der Idiot sich eigentlich ein? Nur weil ich nicht wollte, dass er mich nackt sah, hieß das noch lange nicht, dass ich prüde war. Wie kam der überhaupt darauf solche Fragen zu stellen? Das ging ihn doch gar nichts an. Genau! Es ging ihn nichts an und deswegen sollte er mich einfach in Ruhe lassen und zum Teufel scheren. Prüde, darüber kam ich nicht hinweg.

Leider stand er immer noch da draußen, als ich mit dem Sattel zurück kam und ihm dem Lipizzaner auflegte.

„Bist du jetzt sauer auf mich?“, fragte er, als ich mich bereits wieder umdrehte, um den Rest der Ausrüstung zu holen. „Mann Zaira, das war doch nur ein Spaß gewesen. Meinetwegen kannst du sowas auch zu mir sagen, das stört mich nicht. Echt nicht.“

Ich beachtete ihn nicht, verschwand wieder im Stall und holte die restlichen Sachen. Nur leider ließ er mich bei meiner Rückkehr noch immer nicht in Ruhe. Kaum dass ich mich dem Pferd zuwandte, pikte er mich mit dem Finger in die Seite. Da war ich so kitzlig, dass ich heftig zusammenzuckte, nur um ihn dann anzufunkeln. „Verdammt, was soll das?“

„Sei nicht sauer. Okay, ich gebe es zu, das war ein dummer Spruch gewesen, aber ich spreche eben manchmal ohne nachzudenken.“

Ich drehte mich ohne Kommentar wieder weg, nur um wieder in die Seite gepikt zu werden. „Hey!“, fuhr ich herum. „Hör auf damit.“

„Ich mach das jetzt solange, bis du wieder normal bist.“

„Ich bin normal. Du bist es, mit dem hier etwas nicht stimmt.“

Sein Gesicht hellte sich auf. „Dir ist es also auch schon aufgefallen.“ Gespielt nachdenklich legte er einen Finger ans Kinn. „Weißt du auch was ich dagegen tun kann? Mir sind nämlich die Ideen ausgegangen.“

Nein, der Witz zog nicht, nicht dieses Mal. „Dann hast du wohl Pech gehabt.“ Gerade wollte ich mich wegdrehen, da stach er mir mit dem Finger schon wieder in die Seite. Okay, was genug war, war genug. Ich fuhr herum und schlug nach ihm. Leider riss er einfach die Arme hoch, weswegen ich ihn nur am Ellbogen traf, anstatt auf der Brust, wie es mein Ziel gewesen war.

„Holla, ich wusste ja gar nicht, dass du gewalttätig bist.“

Das war ich auch nicht. Konfrontationen ging ich am Liebsten aus dem Weg, aber dieser Kerl trieb mich gerade echt zur Weißglut.

„Wenn du mich schon bluten sehen willst, dann wenigstens auf die richtige Art. Da.“ Er hielt mir sein Handgelenk unter die Nase. Direkt da wo die blauen Adern unter der Haut durchschimmerten, waren zwei kleine Narben, nur winzige Punkte, die man nur fand, wenn man nach ihnen suchte. Das war die Stelle, an der ich ihn gebissen hatte. Mein erster Wirt, der mir freiwillig sein Blut gegeben hatte – von meinen Eltern einmal abgesehen.

Ich griff nach seinem Handgelenk, fuhr mit dem Finger über die kleinen Male und spürte deutlich, wie sein Puls sich unter dieser Berührung beschleunigte. „Erinnerst du dich, was du mir erzählt hast?“

Sein Lächeln verblasste ein wenig. „Ich fürchte, du spielst damit nicht auf das Grab an.“

„Nein.“ Ich strich noch ein letztes Mal über die kleinen Punkte und ließ dann meine Hand sinken, um mich wieder dem Pferd zuzuwenden. „Ich rede von dir und Iesha.“

Eine halbe Minute lang blieb er still, dann atmete er einmal tief ein. „Ich hab keine Ahnung, warum ich dir das erzählt habe, aber bitte, behalte es für dich.“

„Ich hatte auch nicht vor damit hausieren zu gehen. Es ist schließlich deine Sache und geht mich nichts an.“

Er schnaubte. „Wow, ich muss ja einen tollen Eindruck bei dir hinterlassen haben. Erst das mit Iesha und jetzt glaubst du auch noch, dass ich ein Lügner bin.“

Verwundert hob ich den Blick. „Ich habe nie behauptet, dass du ein Lügner bist.“

„Aber du glaubst mir nicht.“ Er erwiderte meinen Blick und zum ersten Mal bemerkte ich, dass sie nicht ganz braun waren. Kleine, grüne Sprenkel blitzten daraus hervor. „Ich habe wirklich nichts gesehen“, versicherte er mir noch einmal. „Und selbst wenn, es sollte dir egal sein, was andere von deinen Körper halten, solange du selber damit zufrieden bist.“

Wann hatte ich je behauptet mit mir zufrieden zu sein?

„Freunde?“ Er lächelte hoffnungsvoll.

Am liebsten hätte ich nein gesagt und ihn noch mal weggeschickt. Genauso gerne wollte ich aber auch ja sagen, weil ich ihn gern hatte. Am Ende fragte ich mich, ob es für meine Zustand Medikamente gab und seufzte einfach. „Nur wenn du nie wieder dieses Abend im Wald erwähnst.“

„Das kann ich einrichten.“

Als ich mich dieses Mal dem Pferd zuwandte, ließ er mich gewähren und grinste nur schelmisch.

„So, du bist also keine Jungfrau mehr, nein?“

Na super. Jetzt hatte ich ihm neuen Stoff gegeben. Ich zurrte die Gurte fest und ignorierte ihn einfach.

„Ach komm schon, erzähl es dem lieben Cio.“ Er lehnte sich lässig an den Anbindepfahl und grinste mich an. „Ich verspreche auch, dass ich es niemanden weitersagen werde.“

„Daran zweifle ich nicht, aber es geht dich nichts an.“

„Na gut“, seufzte er wie ein kleines trotziges Kind. Das war irgendwie niedlich. „Sagst du mir dann wenigstens seinen Namen?“ Er wartete, aber da kam nichts. „Wie alt du da warst?“ Wieder eine Pause. „Wie alt er war?“

Oh Mann. „Warum interessiert dich das?“ Ich zog den letzten Gurt fest und sah zu ihm rüber.

„Keine Ahnung, ich bin einfach ziemlich neugierig. Und wenn ich dich nicht das fragen würde, dann würde ich wohl fragen, warum du plötzlich so dicke mit Cayenne bist und das willst du sicher nicht.“

Nein, das wollte ich nicht. Und das war auch ein ganz mieser Trick von ihm. „Es war der Cousin von meinem besten Freund. Ich war sechzehn und dachte, dass er mich wirklich mag, doch es hat sich herausgestellt, dass er einfach nur auf große Titten steht und nachdem er meine ausgiebig überprüft hatte, ging er zum nächsten Objekt über.“

„Oh. Das tut mir leid.“

Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern, auch wenn diese Erinnerung immer noch ziemlich niederschmetternd für mich war. Ich meine, ich hatte den Kerl echt gemocht und hatte geglaubt, dass es ihm genauso ging. Tja, hinterher war man immer schlauer. „Ist passiert, lässt sich nicht mehr ändern. Ich zerbreche mir nicht mehr groß den Kopf darüber.“

„Ich finde das von dem Typen echt mies. Ich meine, es war dein erstes Mal. Wenn er nur jemanden zum flachlegen gesucht hat, dann hätte er sich doch gleich irgendein billiges Flittchen suchen können, die nichts anderes von dem Kerl erwartet.“

Irgendwie war seine Empörung ja süß. „Ich habe daraus gelernt. Auf solche Typen lasse ich mich kein zweites Mal ein.“

„Das ist eine gute Einstellung.“ Er hob den Daumen. „Immer positiv denken.“

„Ich weiß zwar nicht was daran positiv ist, aber …“

Hinter uns knisterte es.

Als ich mich umdrehte sah ich Fujo, die sich zu Flair hintergebeugt hatte und ihr etwas aus ihrer Brottüte gab. „Hey“, lächelte ich. „Da bist du ja mal wieder. Ich hab dich schon vermisst. Und Flair auch.“

Nur zögernd erwiderte sie das lächeln und warf einen vorsichtigen Blick auf Cio. Er schien ihr nicht geheuer zu sein.

„Beachte ihn einfach nicht.“

Cio gab ein empörtes Geräusch von sich. „Ja, weil die Stotterlise ja auch viel interessanter ist, als ich.“ Erst nachdem er es ausgesprochen hatte, schien ihm aufzugehen, was er da gesagt hatte. Doch da war es bereits zu spät. Fujo hatte es deutlich gehört. Sie ließ ihre Papiertüte einfach los, sprang auf die Beine und rannte davon.

„Cio, du bist echt ein Idiot.“ Ohne ihn weiter zu beachten, folgte ich der Kleinen.

 

°°°

 

Hinter einem welken Rosenbusch fand ich sie. Nicht weil sie laut weinte, oder ich gesehen hatte, wie sie darin verschwunden war. Auch nicht weil ich sie roch, nein, es war Flair der ich folgte und die geradewegs in diesen Busch an der Außenmauer rein rannte. Und da saß Fujo. Die Beine fest an die Brust gezogen und die Arme darum geschlungen. Der Blick ging ins Leere und ich konnte Cio nur ein weiteres Mal dafür verfluchen, dass er so ein vorlautes Mundwerk hatte. Es war doch wirklich nicht so schwer nachzudenken, bevor mein den Mund aufmachte, oder?

„Hey“, sagte ich und kroch zu ihr hinter den Busch, um mich gleich neben ihr auf den Boden zu setzten. Der Schnee war kalt und drang sofort durch meine Jeans durch, doch sie sah nicht mal auf. Nicht mal Flair beachtete sie. Der blöde Spruch von Cio hatte sie wohl ziemlich getroffen. Idiot.

Okay, das würde ich wieder hinbekommen, ich musste sie nur zum Reden bekommen. Hm … da fiel mir doch sicher etwas Gescheites ein. „Weißt du, früher haben mich die anderen Kinder immer wegen meiner Brille gehänselt. Das hat mich verletzt. Ich meine, ich habe mir meine Sehschwäche ja nicht ausgesucht, oder? Aber meine Cousine hatte da einen tollen Rat für mich. Scher dich nicht darum, was irgendwer sagt, den die Leute die dich wirklich lieb haben, denen ist es egal.“ Ich lehnte meinen Kopf gegen die Mauer und sah die schmächtige Gestalt neben mir an. „Weißt du, meine Cousine hatte es auch nicht immer einfach. Sie hat … ähm …“ Wie beschrieb ich das jetzt am besten? „Alina hat eine körperliche Behinderung, auch wenn man es ihr nicht immer anmerkt. Damit hat sie es auch nie einfach gehabt.“ Ich wartete, aber da kam immer noch nichts. Mist. „Und sie hat mir beigebracht, dass es unwichtig ist, was irgendwelche Idioten sagen, die mit ihrem eigenen Leben nicht klar kommen. Wichtig ist nur …“

„A-a-aber sie h-haben mich weg-weggegeben.“ Sie kniff die Lippen zusammen. „M-m-meine Eltern haben m-mich weg-g-g-gegeben.“

Was?

Sie drehte mir das Gesicht zu. In ihren Augen glitzerten Tränen und feine Spuren auf ihren Wangen zeigten mir, dass es nicht die ersten waren. „Sie finden m-m-mein Sp-sp-sp …“ Sie kniff die Lippen zusammen. „Ich s-soll richtig sp-sp-sp…“

„Sprechen?“, half ich ihr weiter.

Sie nickte. „D-deswegen haben sie mich h-hierher ge-ge-geschickt.“

„Nein, das glaub ich nicht. Sie haben dich bestimmt nur hier her geschickt, weil …“

„W-weil ich ihnen p-p-peinlich bin!“

Ich klappte den Mund schnell wieder zu. Was sollte ich darauf auch erwidern? Es war ja nun nicht so, dass ich Fujo und ihre Familie gut kannte. Sie war ein nettes Mädchen, aber mehr wusste ich auch nicht. Ich wusste ja nicht mal ihren Nachnamen und ob sie wirklich zwölf war, wie ich vermutete. Aber so stehen lassen konnte ich das auch nicht. „Weißt du“, begann ich langsam. „Wirklich peinlich sind nicht die Kinder, sondern die Eltern. Nehmen wir nur mal meine. Ich komme aus so einem kleinen Kaff und dort ist meine Familie bekannt wie ein bunter Hund. Eben weil sie so peinlich sind.“

Flair kratzte an Fujos Hose, wollte auf den Arm genommen werden, doch die Kleine reagierte immer noch nicht.

„Mein Vater ist ein solcher Kontrollfreak, der über jeden meiner Schritte Bescheid wissen muss, dass meine Freunde sich darüber schon lustig machen. Oder meine Tante Amber, die ist so richtig gothicmäßig und das fällt in so einem kleinen Ort wie Koenigshain natürlich besonders auf. Alle halten sie für seltsam, nur weil sie nicht der Norm entspricht. Aber die beiden sind nichts gegen meine Mutter. Weißt du, sie ist ein Ailuranthrop, genau wie du.“

Ihre Augen wurden riesig. „W-w-wirklich?“

Lächelnd nickte ich. „Und, naja, sie ist … besonders, drücken wir es mal so aus. Ziemlich kindisch und oberpeinlich. Einmal auf dem Geburtstag einer Freundin – da waren wir gerade mal acht – gab es ein Reitpony und sie wollte es essen! Kannst du dir das vorstellen? Ein Rudel kleiner Kinder kuschelt mit dem Pony und sie fragt, wann sie es endlich essen darf, weil es so lecker aussieht und Pferdefleisch so gut schmeckt – und zwar so, dass die Kinder es hören konnten. Aber viel Schlimmer fand ich, als wir in einem Café saßen und meine Mutter für mich einen Typen ausgespäht hat und als ich ihre sagte, dass ich kein Interesse daran habe, hat sie mich doch allen ernsten gefragt, ob ich lesbisch bin und dann nach einem Mädchen Ausschau gehalten. Leider hat sie das so laut gesagt, dass es das ganze Café mitbekommen hat. Das ist peinlich, sag ich dir.“ Oh ja, das war es wirklich gewesen. Diese Blicke werde ich wohl niemals vergessen können.

Fujo klappte den Mund auf, wusste aber anscheinend nicht, was sie dazu sagen sollte und klappte ihn wieder zu.

Ich grinste schief. „Aber was ich viel schlimmer fand, war der Tag, an dem sie mir meinen ersten BH kaufen wollte.“ Ich hob den Finger. „Merke, hier bei liegt die Betonung auf dem Wort wollte.“ Meine Hand sank wieder in meinen Schoß. „Eigentlich hatte ich mir von ihr Geld geben lassen wollen, um mir selber einen zu besorgen, aber sie wollte unbedingt mitkommen, sie hat sich von nichts davon abbringen lassen. Und dann sind wir in die nächste Stadt zu einem richtig teuren Dessouladen gefahren. Weil sie durch meine Klamotten nicht schätzen konnte, welche Größe ich brauchte, wollte sie mir das Hemd mitten im Laden aufknöpfen. Und das war noch das harmloseste.“ Ja, an diesen Tag konnte ich mich nur zu gut zurückerinnern. Geendet hatte er damit, dass meine Mutter vier neue BH´s hatte und ich am nächsten Tag noch mal mit meinem Vater hin musste, in der Hoffnung, dass ich bei ihm nicht vor Scham im Boden versank. Aber mit einem männlichen Elternteil in dieser Situation als zwölfjährige Unterwäsche einkaufen zu gehen … naja, sagen wir so: Sowohl mein Vater als auch ich waren froh, als wie nach Hause fahren konnten und haben die nächsten Tage schlichtweg aneinander vorbei gesehen. Mein Vater war wohl einfach geschockt, dass sein kleines Mädchen langsam erwachsen wurde und ich, naja, ich fand es einfach nur peinlich, dass er wusste, was ich für Unterwäsche trug. Sowas hatte ein Vater einfach nicht zu wissen.

„Was ich eigentlich damit sagen will“, fuhr ich fort und drehte mich dabei zu ihr herum, „klar sind Kinder manchmal peinlich, aber Eltern sind meistens viel Schlimmer. Auch wenn ich im Nachhinein manches von den Dingen selber witzig finde, anfangs fand ich sie alle einfach nur beschämend.“ Ich legte ihr die Hand aufs Knie. „Du darfst dir solche Sachen einfach nicht so zu Herzen nehmen, auch wenn sie im ersten Moment wehtun. Natürlich, du hast einen Sprachfehler, na und? Ich hab eine Sehschwäche und Cio, naja, ich glaub der vergisst sein Hirn hin und wieder in seinem Zimmer.“

Das ließ sie kichern.

„Du musst einfach darüber stehen.“ Ich drückte ihr Knie. „So, und wenn du meinen Hund jetzt nicht auf den Arm nimmst und ihn einmal kräftig knuddelst, dann bin ich echt beleidigt. Und sie sicher auch.“

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Flair landete in ihrem Armen und war für die nächste Stunde im Kuschelparadies. Aber da ich mich ja praktisch noch in meiner Arbeitszeit befand, musste ich wieder zurück in den Stall. Noch mehr wollte ich es mir mit Gisel nicht verscherzen und Gorge fragte sich mittlerweile sicher schon, warum er mich eigentlich eingestellt hatte.

Aber auch meine Arbeitszeit ging vorbei und so kam ich nach Stall riechend in unser Zimmer im HQ, um mir Duschzeug und Wechselwäsche zu holen.

Mein Vater und meine Mutter saßen auf dem Bett, wo sie eine Runde Dame spielten und zum ersten Mal fiel mir auf, dass Mama diesen Raum nicht einmal verlassen hatte, seit sie im Hof war. Oder täuschte ich mich da? War auf jeden Fall gut möglich, da ich ja nicht die ganze Zeit hier war.

Ich schob den Gedanken beiseite und machte mich über meine Reisetasche her. Hm, meine sauberen Klamotten gingen langsam zur Neige. Ob die hier wohl eine Waschmaschine hatten?

„Sei ruhig, ich weiß schon was ich tue“, murrte mein Vater.

Über die Schulter warf ich ihm einen Blick zu und an dem Ausdruck in seinem Gesicht erkannte ich, dass er keine Selbstgespräche führte, sonder sich mit meiner Tante unterhielt. Genau gesagt dem Geist meiner verstorbenen Tante Lalamika.

„Nein, das mache ich nicht … sei still.“

Meine Mutter grinste leise vor sich hin, als sich das Gesicht meines Vaters immer mehr verfinsterte.

„Nein, ich hab gesagt … na gut, hier, bitte!“ Er bewegte einen Stein und schaute ihn dann finster an. „Bist du nun zufrieden?!“

Ich wandte schnell wieder den Blick ab, damit er mein Grinsen nicht sah. Meine Tante hatte es sich nämlich zur Lebensaufgabe – zur Totenaufgabe? – gemacht, meinen Vater systematisch mit ihren Kommentaren in den Wahnsinn zu treiben.

Meine Mutter bewegte einen Stein und wurde dem meines Vaters habhaft, was nicht gerade zu seiner Laune beitrug.

„Hab ihr beide euch jetzt gegen mich verschworen?“

Mama lächelte nur. „Ach Ys-oog, sie will doch nur mitspielen.“

„Aber doch nicht in meinem Kopf und … halt dich da raus, Mika!“

„Sie will dir doch nur helfen“, tadelte meine Mutter milde.

„Sie ist aber keine Hilfe, sie stört nur meine Konzentration“, murrte er. „Und das macht sie nur um dir zu helfen und … du brauchst das gar nicht abstreiten, Mika, ich kenne dich in der Zwischenzeit gut genug und weiß dass du … was?“ Er fixierte meine Mutter mit einem bösen Blick. „Hol sie da raus, bevor ich auf die Idee komme, mich einem Exorzisten zu unterziehen.“

Meine Mutter grinste ihn mit großen, unschuldigen Augen an. „Das würde nicht helfen, das habe ich dir bereits mehrfach erklärt.“ Trotzdem zog sie unter ihrem Hemd ihr großes Medaillon hervor. Es war eine Sonderanfertigung, die mein Vater ihr schon vor Jahren zur Hochzeit geschenkt hatte. Die ovale Form war Handtellergroß, aus Silber und ließ sich durch einen kleinen Seitenmechanismus öffnen. In der kuppelförmigen Oberfläche aus einfachem Glas war ein filigranes Pentagramm eingearbeitet, so blass, dass man es kaum wahrnahm. Der Innenraum war hohl und leer. Das musste er sein, da er für einen ganz besonderen Zweck gebraucht wurde.

Sie legte das Medaillon neben sich auf das Bett und berührte die glatte Oberfläche fast liebevoll mir ihren Fingern, strich darüber und hatte dabei diesem Lächeln im Gesicht, das sie dabei immer bekam.

Ich klaubte meine Sachen aus der Tasche zusammen und nahm mir mein Duschzeug vom Schreibtisch. Dabei beobachtete ich meine Mutter und musste an die Worte denken, die sie mir vor so lange Zeit gesagt hatte. Ailuranthropen haben als einziges Volk der Welt die Gabe mit den Geistern zu sprechen, weil sie wirklich sehen können. Wir können alles sein was wir wollen, wir müssen nur daran glauben. Wenn wir glauben, dass es Geister gibt, dann sind sie da, weil sie wissen, dass wir glauben. Wir glauben und es passiert und wenn du glaubst, dann kannst auch du sehen. Du musst nur lernen zu glauben.

Ich hatte gelernt zu glauben, wusste dass es Geister gab, aber sehen konnte ich deswegen noch lange nicht, auch wenn Geister, die Schatten der Seelen, immer um uns herum waren, zu jeder Zeit, egal was wir gerade taten. Anderen mag dieser Gedanke vielleicht unangenehm sein, aber ich war damit aufgewachsen und so störte ich mich nicht daran. Ich kannte es einfach nicht anders, doch ich hatte schon früh gelernt, dass ich Geschichten über Geister und ihrer Anwesenheit lieber für mich behielt. Wenn man den Leuten von Gespenstern erzählten, sahen die einen an, als sei man verrückt. Dabei waren sie nur unwissend. Sie glaubten nicht und deswegen konnten sie nicht sehen.

Unter der Kuppel der Medaillons bildete sich ein blässlicher, weißer Nebel, der unruhig unter der Oberfläche wallte, als wehte da ein Lüftchen, das den Nebel durcheinander wirbelte.

Mein Vater schien jetzt endlich Ruhe in seinem Kopf zu haben, wenn ich den konzentrierten Ausdruck in seinem Gesicht richtig interpretierte. Er machte einen – nach seiner Ansicht – geschickten Zug und grinste meine Mutter an, doch die hatte gerade nur Augen für das Medaillon, oder besser gesagt für das was sich darin abspielte.

Der weiße Nebel wurde dichter und während ich nachsah, ob auch alles in meinem Kulturbeutel war, blitzte daraus ein Auge hervor, das seine Umgebung neugierig inspizierte.

„Ich geh dann Duschen“, sagte ich und freute mich über das Brummen meines Vaters. Wenigstens ignorierte er mich nicht mehr.

Meine Mutter fummelte an dem Öffnungsmechanismus des Medaillons herum und schimpfte leise, dass er schon wieder klemmte. So lange, bis mein Vater ihr den großen Anhänger genervt aus der Hand nahm und das Teil selber aufmachte. Sofort entströmte dem Schmuckstück weißer Nebel, formte sich, verfestigte sich und hinterließ das Abbild eines jungen Leoparden, auf vier tapsigen Pfoten. Das war meine Tante Lalamika, die verstorbene Zwillingsschwester meiner Mutter. Sie existierte als Geist in der Form, in der sie gestorben war. Ein neunjähriger Ailuranthrop in seiner Katzengestalt, nur der Schatten einer Seele.

Die Gestalt war fast durchscheinend, wallte wie Nebel. Es gab keine klaren Konturen, sie verliefen sich einfach und waren doch deutlich zu erkennen.

Sie hing erst über dem Pentagramm in der Luft, löste sich dann aber davon und schwebte neben meinem Vater aufs Bett, wo sie sich hinsetzte und ihren Schwanz ordentlich um ihre Pfoten legte. Sie war ein Geist, nur ein Schatten der Vergangenheit, sie konnte nichts berühren. Auch wenn sie für uns Real wirkte, so war sie es doch nicht wirklich und dann wieder doch, einfach weil wir glaubten. Ja, das war ziemlich kompliziert.

„Komm, Flair“, rief ich meinen Hund und ging zur Tür.

Tanta Lalamika beugte sich über das Spielbrett, als Papa meiner Mutter das Medaillon zurück gab. Du musst den Stein hier hin setzten, wenn du noch gewinnen möchtest.

Ihre Stimme war nicht wie die der Lebenden. Sie bewegte ihren Mund nicht und doch konnten wir sie alle hören. Es war, als würde die Stimme in meinem Kopf zu existieren, gleichzeitig aber von überall herzukommen. Sie kam aus ihrem Bauch und aus dem Nichts. Sie war einfach da, überall und nirgends.

Mein Vater seufzte und wedelte dann mit der Hand durch meine Tante hindurch, als wollte er eine lästige Fliege beseitigen. Ihre Nebelgestallt verschwamm an der Stelle, drohte sich aufzulösen, nur um sich wieder zu verfestigen, kam dass Papa den Arm zurückgezogen hatte.

„Lass das, Ys-oog“, sagte meine Mutter.

Genau, stimmte Tante Lalamika ihr zu. Das ist unhöflich.

„Unhöflich ist es auch in anderer Leute Gedanken herumzuspuken“, konterte mein Vater unbeeindruckt und setzte seinen nächsten Stein.

Ich schloss lächelnd die Zimmertür und machte mich mit Flair im Schlepptau auf zu den Duschen in hinteren Teil des Kellers. Ehrlich, ich liebte Pferde, das waren einfach fantastische Wesen, wunderschön, anmutig und stark. Auf einem Pferd zu sitzen und durch die Natur zu reiten, war eines der größten Freiheitsgefühle, die diese Welt zu bieten hatte, aber deswegen wollte ich noch lange nicht die ganze Zeit nach ihren riechen. Besonders nicht, wenn ich ein Dutzend Boxen ausgemistet hatte, weswegen ich am Ende des Korridors die Tür zu den Gemeinschaftsduschen öffnete.

Eigentlich mochte ich Gemeinschaftsduschen nicht besonders, ich zeigte mich halt nicht gerne vor fremden Leuten – und auch nicht vor bekannten – aber hier gab es einzelne Kabinen, die wenigstens den Anschein von ein wenig Privatsphäre erweckten.

Als ich in die Duschen kam, war ich nicht die einzige. Aus dem Duschraum hörte ich mehrere Freuen miteinander reden. Ich entledigte mich meiner Kleidung, schlang ein Handtuch um meinen Körper und befahl Flair auf meinen Sachen Platz zu machen und schön darauf aufzupassen. Nicht dass ich glaubte, man würde mich hier beklauen, aber Flair freute sich immer so, wenn ich die nach getaner Arbeit lobte. Na gut, dieser Hund freute sich auch, wenn ich ihn einfach ansprach. Eigentlich freute dieser Hund sich immer, egal was ich tat. Außer wenn ich sie abduschte, weil sie dreckig war, das gefiel ihr absolut nicht.

Bewaffnet mit meinem Duschzeug betrat ich den gefliesten Raum daneben. Kaum dass ich die Tür geöffnet hatte, schlug mir eine Welle aus Wasserdampf entgegen und brachte mein kurzes Haar dazu, sich leicht zu kräuseln.

Lachen erklang von weiter hinten, als ich mein Handtuch an einen Haken hing und schnell in die Duschkabine schlüpfte. Nur noch die richtige Temperatur eingestellt und dann konnte ich mich in den erfrischenden Strahl stellen. Gott, diesen Moment hatte ich schon immer geliebt. Wenn das Wasser so auf einen niederprasselte, so völlig ungeniert, das war einfach nur genial. Wohlfühlmodus,

„Hör auf zu lachen“, hörte ich da eine wohlbekannte Stimme aus der Kabine gegenüber. Wenn ich mich recht erinnerte, dann war das diese Alexia, diese Lykanerin mit den weißen Haaren.

„Aber wenn er sich nun mal wie ein blutiger Anfänger benimmt“, kam es kichernd von einer anderen Frau. Diese Stimme kannte ich nicht.

„Murphy hat sich nicht wie ein blutiger Anfänger benommen“, knurrte Alexia. „Er hat nur nicht damit gerechnet, dass da noch ein weiterer von diesen Arschlöchern ist.“

„Ja, und deswegen hat er jetzt Kopfschmerzen.“ Und noch ein Kichern. „Ein Glück für ihn, das Sergio nicht so unaufmerksam ist.“

Ich griff nach meinen Shampoo und nahm den herrlichen Yasminduft war, der der Flasche entströmte, bevor ich mir davon einen Klecks auf die Hand drückte und meine Haare damit einschäumte. Ich liebte Yasminduft. Das einzige was besser war, war Flieder, aber den bekam man so selten.

„Hör auf so zu kichern. Das konnte doch nur passieren, weil Sergio den Raum nicht richtig gesichert hatte.“ Sie seufzte. „Das sind so Momente, in denen ich mir Ryder zurück wünsche. Mit ihm ist sowas niemals passiert.“

Ich hielt mitten in der Bewegung inne. Ryder? Sprachen die da etwas von meinem Vater? Cayenne und die Murphy hatten ihn schließlich auch ein paar Mal so genannt.

Etwas zögernder Wusch ich mir die Haare aus und nahm das Duschgel, lauschte dabei auf jedes folgende Wort.

„Aber Ryder ist bereits vor Jahren ausgestiegen, um sich dem erholsamen Familienleben zu widmen.“ Die Fremde kicherte wieder. „Zwar ist er im Moment aus was weiß ich für Gründen im HQ, aber nicht um sich uns wieder anzuschließen und ein paar Skhän ins Jenseits zu schicken.“

Einen Moment blieb es still.

„An so einem Familienleben gibt es nichts auszusetzten“, sagte Alexia etwas ruhiger.

„Das hab ich auch nicht behauptet. Ich sage nur, dass Ryder an Biss verloren hat. Er ist eingerostet.“ Die Dusche wurde abgedreht und gleich darauf quietschte die Tür zu einer Kabine. Frottee raschelte, wurde über Haut gerieben, dann wurde auch die zweite Brause abgedreht. „Du musst nur mal überlegen. Früher hat Ryder niemals gezögert. Egal wo er aufgetaucht ist, es war, als wäre er Gevatter Tod persönlich. Kein Skhän der sich ihm in den Weg gestellte hat, hat jemals wieder das Tageslicht gesehen.“

„Du meinst wohl, er hat überhaupt nie wieder was gesehen, weil Tote selten etwas sehen können“, verbesserte Alexia die andere Frau. Wieder ein quietschen, einer sich öffnenden Kabinentür. Dann patschten zwei paar Füße durch den Raum, während ich langsam die Arme sinken ließ und kaum glauben konnte, was ich da hörte. Das konnte nicht stimmen, da musste eine Verwechslung vorliegen.

„Aber genau das ist es doch, was ich gesagt habe“, erwiderte die unbekannte Frau. „Ryder war der Wahnsinn, er war tödlich und einfach nicht aufzuhalten, aber wenn er jetzt wieder anfangen würde, dann wäre er es, der demnächst tot ist. Ich hab ihn vor zwei Tagen mit Miguel trainieren sehen. Der ist so oft auf der Matte gelandet, dass es schon peinlich war.“

Wieder rieb Frottee über Haut. „Er hat jetzt eben andere Prioritäten als früher“, sagte Alexia. „Tarajika und seine Tochter sind ihm jetzt wichtiger.“

„Dagegen sag ich ja gar nichts. Ich finde es einfach nur eine Verschwendung von Talent. Ich meine, andere haben auch Familie und setzten sich trotzdem für unsere Sache ein, aber Ryder ist von heute auf morgen ausgestiegen und keiner weiß so genau warum. Er ist einfach so mir nichts, dir nichts verschwunden und das obwohl wir ihn und seine Fähigkeiten so gut gebrauchen könnten.“ Sie schwieg einen Moment. „Natürlich nur, wenn er wieder zu alter Form findet.“

„Du kannst ihn ja fragen, ob er wieder mitmachen will.“

Schritte kamen an meiner Kabine vorbei. Die Tür knarrte und dann war ich allein. Zwar hörte ich die Stimmen noch aus dem Nebenraum, aber ich nahm sie nicht mehr so wirklich wahr. Zu laut waren die Gedanken in meinem Kopf.

Das was ich da gerade gehört hatte, konnte nicht wahr sein. Klar, mein Vater war ein wenig paranoid, aber er war doch nicht Gevatter Tod. Das würde ja bedeuten, er hatte … getötet.

Ich wusste nicht warum, aber dieser Gedanke war wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Mein Vater, mein lieber und gutherziger Vater, er sollte Leben ausgelöscht haben? War es das, was er bei seiner Arbeit für die Themis getan hatte? Leute ermorden?

Er war gut in Kampfsport. Das wusste ich so genau, weil er mich selber ein wenig gelehrt hatte, aber das brauchte er doch nur zur Selbstverteidigung, oder?

Natürlich wusste ich, dass die Skhän eine Gefahr für die verborgene Welt waren, aber er hatte mir immer erzählt, dass die Themis sie nur ausschalteten und festsetzten und sie anschließend eine Verhandlung bekamen, wo sie ein gerechtes Urteil erwartete. Die Hauptaufgabe der Themis lag darin, Sklaven zu befreien und sicher wieder nach Hause zu bringen. Aber wenn es stimmte was die Frauen gesagt hatten, dann hatte mein Vater mich nicht nur Jahrelang angelogen, er war auch ein Mörder.

Das konnte nicht wahr sein.

Nur … was wusste ich eigentlich wirklich über seine Vergangenheit? Er erzählte mir doch nie mehr als er für nötig hielt. Bedeutete das jetzt, dass er wirklich jemanden getötet hatte? Oh Gott, das konnte doch nicht sein, oder? Das war doch nicht möglich. Das konnte nicht möglich sein. Aber warum hatten diese Frauen das dann gesagt?

Die Zweifel schlichen sich nicht still und heimlich in meinen Kopf, sie kamen mit einem donnernden Knall und spornten mich an eilig die Dusche zu verlassen. Ich musste Gewissheit haben. Natürlich, es war Vergangenheit, aber ich musste es wissen. Wie sollte ich ihm sonst weiterhin ins Gesicht sehen können, ohne mir darüber Gedanken zu machen, dass er vielleicht ein Mörder war?

Ich stieß die Kabinentür auf und stockte sofort. Und was, wenn diese Frauen wirklich die Wahrheit gesagt hatten? Wenn er wirklich getötet hatte? Wenn mein Vater früher einmal jemand gewesen war, dem das Leben anderer egal war? Wie sollte ich damit umgehen?

Ich drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, als ich mich fragte was schlimmer sei. Ihn darauf anzusprechen und eine Bestätigung für das Gesagt zu bekommen, oder zu schweigen und mich immer fragen zu müssen, ob er wirklich getötet hatte. Natürlich konnte es auch sein, dass er mir wieder ins Gesicht log und behauptete, dass die beiden Frauen jemand ganz anderen gemeint hatten.

Aber sie hatten von Tarajika und seiner Tochter gesprochen. Tarajika war kein alltäglicher Name. Tarajika war meine Mutter.

Oh Gott. Plötzlich war ich mir über gar nichts mehr sicher, was meinen Vater betraf. Wie konnten so wenige Minuten nur so viele Zweifel aufwerfen?

Auf jeden Fall würde ich nichts erfahren, solange ich hier triefend nass herumstand. Entschlossen packte ich meine Sachen zusammen, trocknete mich notdürftig ab und zog mir im Nebenraum eilig meine sauberen Sachen an, nur um dann schnell aus der Dusche zu stürmen. Flair rannte mir natürlich hinterher, doch je näher ich unserer Zimmertür kam, desto unsicherer wurde ich. Wie bitte sollte ich meinen Vater fragen, ob er ein Mörder war? Allein schon, dass ich diesen Gedanken nicht sofort verwarf und als unsinnig abtat, könnte ihn verletzten. Oder was, wenn er mir wieder nur sagte, dass es mich nichts anging? Oder noch schlimmer, wenn er alles zugab?

Meine Hand lag schon auf der Klinke zu unserem Zimmer, als die Unsicherheit immer stärker wurde. Von drinnen konnte ich die Stimmen meiner Eltern und meiner Tante Lalamika hören. Völlig frei, unbefangen, lebhaft.

Plötzlich war ich mir sicher, mein Vater würde es mir nicht sagen. Ganz egal, ob er wirklich ein Handlanger des Todes war, oder nicht. Das war ein Teil seines Lebens, den er hinter sich gelassen und aus dem er mich schon immer ausgeschlossen hatte.

Aber ich musste es wissen. Das war wie ein innerer Zwang, ich musste einfach! Nur, wer würde mir etwas erzählen? Wer wusste über seine Vergangenheit so gut Bescheid, dass ich ihm glauben konnte? Diese Themis waren Fremde, sie würden mir sicher nichts verraten, oder einfach sagen, ich solle meinen Vater fragen, wenn ich es wissen wollte.

Langsam sank meine Hand von der Klinke, als von drinnen Gelächter hörte und meine Mutter sich lautstark darüber beschwerte, dass es unfair sei, wenn beide gegen sie arbeiteten.

„Was mach ich jetzt nur?“, fragte ich flüsterten und richtete dabei meinen Blick auf Flair.

Sie fiepte nur. Natürlich, sie war zwar mein kleiner Liebling, aber trotzdem nichts weiter als ein Hund. Woher sollte sie die Antwort kennen?

Aber es musste doch jemanden geben, der die Wahrheit nicht nur kannte, sondern sie mir auch erzählen würde. Es musste einfach … und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Aber natürlich, Cayenne! Warum war ich da nicht gleich drauf gekommen? Sie war ein Teil seines früheren Lebens gewesen, sie musste einfach Bescheid wissen und sie würde es mir sicher auch sagen.

Ich zögerte noch einen Moment, legte meine Sachen dann vor die Tür und machte mich mit Flair in meinem Windschatten auf dem Weg. Raus aus dem HQ, hinüber zum Schloss, zu der verborgenen Tür, durch die ich immer die Gemäuer betrat, doch die war verschlossen. Sollte mich eigentlich nicht wundern, denn ich wurde ja immer von innen eingelassen, aber wie sollte ich dann jetzt zu Cayenne kommen? Sie war immerhin die Königin und ich nur irgendein Vampir. Außerdem war es auch schon abends und sie wollte sicher irgendwann mal ihre Ruhe haben.

Vielleicht sollte ich mit der Frage einfach bis morgen warten, da würde ich sie ja eh sehen. Doch wie sollte ich mit diesen ganzen Gedanken im Kopf meinem Vater gegenübertreten? Er würde sofort merken, dass etwas los war.

Fröstelnd schlang ich die Arme um mich und sah an der Schlossmauer hinauf. Es war dunkel und kalt und ich hatte keine Jacke mitgenommen. Aber das war im Moment eigentlich nur nebensächlich. Ich konnte meinem Vater nicht gegenübertreten, nicht bevor ich Gewissheit hatte und die würde ich nur bekommen, wenn ich mit Cayenne sprach. Ich musste nur einen Weg zu ihr finden. Vielleicht in den Gärten? Sydney hatte doch gesagt, dass sie da häufig abends unterwegs war. Aber er hatte auch gesagt, dass sie immer im Labyrinth war und ganz ehrlich, ich hatte keine Lust mich darin zu verirren. Noch dazu ohne Jacke.

Vielleicht sollte ich einfach mal an die Haustür klopfen – oder in diesem Fall, an das Schlossportal. Gab er hier sowas wie eine Klingel? Irgendwie musste sie ja schließlich auf Besuch aufmerksam werden.

„Okay, versuchen wir es. Komm Flair.“ Entschlossen ging ich den Weg zurück, den ich gerade erst gekommen war, lief an dem HQ vorbei, vorne um das Schloss herum und nährte mich langsam mit wild schlagendem Herzen der Freitreppe, die hinauf zu dem Eingangsportal führte.

Die große Tür wurde von zwei Wächtern bewacht, die sofort ihr Augenmerk auf mich richteten, als ich die unterste Stufe betrat. Nur langsam, viel zu zögernd lief ich die Treppe hinauf. Würden diese beiden Typen mich überhaupt klingeln lassen? – immer vorausgesetzt, dass es auch eine Klingel gab. Sollte ich einfach an denen vorbeigehen und danach suchen?

Die Antwort wurde mir abgenommen, als ich die letzte Stufe hinter mir ließ und auf das ausladende Podest trat. Der rechte Kerl, ein Blondschopf mit einem echt bösen Blick trat mir in den Weg. „Kann ich dir helfen?“

Wow, diese Stimme, so weich und … nett. Wer hätte das bei diesem Blick erwartet? „Ähm … gibt es hier eine Klingel?“

Der Blondschopf runzelte die Stirn. „Eine Klingel?“

Hinter mir hörte ich das Geräusch einen näherkommenden Wagens, beachtete es aber nicht weiter, weil ich jetzt alle mein Energie in dem Versuch stecken musste, in dieses Schloss zu kommen. Nur dann würde ich die Antworten kriegen, die ich brauchte. „Naja, eine Klingel eben. Da drückt man drauf und dann klingelt es. So weiß der Hausherr, das Besuch an der Tür ist.“

Nun trat auch der zweite Futzzi vor. „Du bist doch ein Vampir.“

Nein, nicht wirklich, aber das würde ich ihm jetzt sicher nicht erklären. „Ja und?“

„Vampire haben im Schloss keinen Zutritt, also verschwinde hier.“

Von wegen, so schnell würde ich mich nicht geschlagen geben. „Das kann ich nicht, ich muss dringend mit Cayenne sprechen.“

Der Blondschopf runzelte die Stirn. „Mit der Königin?“

„Königin Cayenne hat keine Zeit für solches Gesocks wie dich“, kam es da von Mister Unfreundlich. „Also verschwinde hier, du hast hier nichts zu suchen.“

Ob er immer noch so mit mir sprechen würde, wenn er die Wahrheit über mich wüsste? Interessante Frage. „Aber ich muss mit Cayenne sprechen. Es ist wirklich wichtig, sonst würde ich gar nicht fragen.“

Hinter mir knallte eine Wagentür und dann kamen leise Schritte die Treppe hinauf.

Ich ignorierte es, legte all meine Kraft in einen flehentlichen Blick an den Blondschopf. Der schien mir einfach zugänglicher, als der andere. „Bitte, es ist wirklich wichtig.“

„Um was geht es denn?“, wollte der Blondschopf wissen.

Da ich ihm ja schlecht sagen konnte, dass ich hoffte von Cayenne zu erfahren, ob mein Vater ein Mörder war, oder nicht, sagte ich schlicht: „Das möchte ich mit ihr besprechen.“

Bondschopf schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, aber du bist ein Vampir und ich darf dich nicht ins Schloss lassen. Ohne guten Grund störe ich die Königin um diese Zeit auch nicht mehr.“

„Aber … bitte“, bettelte ich. „Es ist wirklich wichtig.“

„Dann geh morgen zu Alexander Cheval, dem Sohn des Stallmeisters. Er spricht hier im Hof für die Vampire zur Königin, er wird dir sicher helfen können.“

Morgen? Sohn des Stallmeisters? Was glaubte der, über wie viele Ecken ich das Regeln wollte? „Das dauert zu lange, ich muss gleich mit Cayenne sprechen. Bitte, können Sie sie nicht anrufen, oder so? Es ist wirklich wichtig.“

„Was willst du den von meiner Mutter?“, fragte da Aric hinter mir.

Erschrocken wirbelte ich herum und sah ihm entgeistert an. In Anzug und Krawatte stand er da und musterte mich misstrauisch.

Cio stand schräg hinter ihm, wieder in dieser braunen Kriegerkluft und zeigte seine unverhohlene Neugierde, als er mir zuzwinkerte. Dann ließ er sich in die Hocke sinken, um Flair zu begrüßen, doch die fand Aric zum ersten Mal in ihrem Leben interessanter, als die anderen.

Das ausgerechnet die beiden jetzt hier auftauchen mussten, das konnte doch nur ein schlechter Scherz des Schicksals sein. Irgendwer da oben hatte etwas gegen mich, da war ich mir sicher.

„Prinz Aric“, schleimte Mister Unfreundlich und verbeugte sich. Dabei warf er Flair einen äußerst pikierten Blick zu. Als sei es unanständig von ihr zu Aric zu gehen, um an seinem Hosenbein zu schnüffeln. Blödmann.

Aric zog eine Augenbraue nach oben. „Antwortest du noch, oder hüllst du dich lieber in Schweigen.“

Nein, ich antwortete nicht. Etwas völlig anderes verließ meinen Mund. „Wo kommst du den plötzlich her?“

„Von da.“ Er zeigte über seine Schulter auf eine Limousine, die gerade wieder wegfuhr. Dort unten standen noch zwei weitere Umbras. Egal wo er gewesen war, er war mit voller Besatzung losgezogen. „Bekomme ich jetzt auch eine Antwort? Was willst du schon wieder von meiner Mutter?“

Ach, ich wollte sie nur fragen, ob mein Vater ein Mörder ist, also nichts Weltbewegendes. „Nicht so wichtig. Tut mir Leid, dass ich gestört habe, ich geh jetzt besser.“ Gesagt, getan. Schnell wandte ich mich ab und nahm die Beine in die Hand, damit ich hier weg kam. Das ausgerechnet Aric hier auftauchen musste. Das Schicksal war schon ein gemeines Biest.

„Zaira?“, rief der Prinz, doch ich blieb nicht stehen. Der war so schon immer viel zu neugierig, wenn es um seine Mutter ging. Ich wollte gar nicht wissen, was jetzt schon wieder für ein Film in seinem Kopf ablief, nur weil ich am Eingangsportal hatte klingeln wollen.

Doch leider war dieses Mal keine Cayenne zugegen, die ihren Sohn zur Räson brachte. Niemand hielt ihn auf, als er mir hinterher lief und sich am Fuß der Treppe meinen Arm schnappte, damit ich nicht abhauen konnte.

„Verflucht, lass mich los!“ Ich schlug auf seine Hand, doch er dachte nicht mal im Traum daran, seinen Griff zu lockern. „Nimm deine Finger weg, Cayenne hat gesagt, du sollst mich nicht mehr anfassen!“ Ich funkelte ihn böse an und hoffte dass es helfen würde. Tat es nicht. War ja irgendwie klar gewesen.

„Dann sag du mir endlich, was hier eigentlich los ist?“, verlangte Aric. „Meine Mutter hatte noch nie Geheimnisse vor mir, doch seit du hier aufgetaucht bist, schweigt sie.“

Etwas wie Mitleid erfasse mich. Er hatte keine Ahnung, dass Cayenne nicht immer so ehrlich zu ihm war, wie er glaubte.

„Antwortest du jetzt?“

Ich drückte die Lippen fest zusammen.

„Zaira, langsam neigt sich meine Geduld dem Ende zu. Was ist hier los?“

Ich warf einen hilfesuchenden Blick zu Cio oben auf der Treppe, doch er bewegte sich nicht, beobachtete uns nur ruhig. Neben ihm stand Flair. Verdammt, ich hatte meinen Hund vergessen.

„Verdammt!“ Aric schüttelte mich leicht, um meine Aufmerksamkeit zurückzubekommen. „Warum antwortest du nicht?“

Ich öffnete den Mund, nur um ihn wieder aufeinander zu drücken, seinem Blick auszuweichen und mich möglichst weit weg zu wünschen. Hätte ich doch nur bis morgen gewartet, aber nein, ich musste es ja unbedingt sofort machen. Mist, Mist, Mist.

Der Griff um meine Am wurde wieder stärker. „Jetzt sag es mir endlich!“

„Ich … rede mit Cayenne.“

„Das habe ich versucht, aber sie will nicht mit mir reden.“ Er verengte die Augen. „Ihr beide habt ein Geheimnis und ich will endlich wissen, was für eines. Du hast meinen Vater erwähnt. Was hat er damit zu tun? Warum holt sie heimlich einen Vampir ins Schloss? Und was ist so wichtig, dass du sogar ans Portal klopfst?“

Keine von diesen Fragen konnte ich beantworten, nicht ohne ein Geheimnis auszuplaudern, von dem er keine Ahnung hatte. Und es war auch nicht meine Aufgabe darüber zu reden. Ich wüsste auch gar nicht so genau, was ich erzählen sollte. Er wusste ja nicht mal, dass sein leiblicher Vater noch lebte. Hatte er überhaupt eine Ahnung von der Natur seiner Mutter? Ich bezweifelte es.

Als ich weiter schweig, wurde er ganz ruhig. „Okay, wenn du es mir nicht sagen willst, dann werde ich jetzt andere Seiten aufziehen.“

Oh Scheiße, was hatte er denn jetzt vor?

 

°°°°°

Rosen sind rot und Veilchen sind blau

 

Der Griff um meinen Arm wurde fester und dann zog Aric mich hinter sich die Freitreppe wieder hinauf. Dass ich dabei fast auf die Nase fiel, interessierte ihn überhaupt nicht.

„Wo willst du hin? Lass mich los!“ Ich wollte nicht mitgehen, aber egal wie sehr ich mich wehrte, er zog mich unerbittlich weiter.

Eine leise Angst beschlich mich. Was hatte er jetzt nur vor? Warum schaute er so grimmig?

„Hör auf damit und komm jetzt!“, ranzte er mich an, als ich versuchte nach ihm zu schlagen.

„Nein, lass mich los!“ Ich wollte nicht. Egal was er jetzt vorhatte, ich wollte absolut nicht.

Oben auf dem Podest erwartete Flair mich schwanzwedelnd und freute sich ihres Lebens, als Aric mich an ihr vorbeizog. Freudig schloss sie sich uns an.

„Verdammt, sag mir was du jetzt vor hast!“, verlangte ich von ihm.

„Das wirst du gleich sehen.“

Oh nein, so aber nicht Freundchen. Ich stemmte die Beine in den Boden und versuchte mich mit der freien Hand aus seinem Griff zu befreien. Er schien meine Bemühungen nicht mal zu bemerken, zog mich einfach weiter zum Portal und befahl den Wächtern, die Tür zu öffnen.

„Aber Eure Hoheit“, sagte Mister Unfreundlich und leckte sich nervös über die Lippen. „Sie ist ein Vampir.“

„Und?“

„Und ich will da nicht rein!“, antwortete ich, auch wenn die Frage nicht an mich gerichtet war. Ich zog an meinem Arm, kniff ihm sogar in den Handrücken, aber dieser Mistkerl gab mich einfach nicht frei. Auch ein flehentlicher Blick zu Cio half mich nicht weiter. Er zuckte nur unschuldig mit den Schultern, als wollte er fragen: „Was soll ich denn machen? Er ist der Prinz.“

Mister Unfreundlich wechselte einen Blick mit seinem Kollegen. „Vampire sind im Schloss verboten und Eure Mutter …“

„Ich werde das mit meiner Mutter schon klären und jetzt öffnet endlich das Portal.“ Obwohl er nicht laut gesprochen hatte, schwang in seiner Stimme eine Macht mit, derer die beiden sich nicht widersetzten. Sie schluckten nur und machten sich dann eilig daran dem Befehl nachzukommen.

„Nein, ich will nicht!“, protestierte ich und wehrte mich stärker gegen seinen Griff, doch er ließ einfach nicht locker und zerrte mich hinter sicher her, durch das Portal, hinein in das Schloss. Langsam tat mir schon das Handgelenk weh. Ob ich nun wollte oder nicht – und im Augenblick wollte ich eindeutig nicht – ich wurde dazu gezwungen. „Nein, lass mich los, nimm die Pfoten von mir. Sonst sage ich es meinem Vater und der reißt dir den Kopf ab!“

„Damit werde ich wohl leben müssen“, sagte er völlig ungerührt.

Flair, diese miese, kleine Verräterin, sauste freudig in die große Eingangshalle und fing an begeistert herumzuschnüffeln.

„Du kannst mich doch nicht einfach zwingen!“ Direkt gegenüber von uns war eine große, verzierte Flügeltür. Sie war geschlossen. Links und rechts von ihr führten zwei schwebende hinauf auf eine große Galerie.

Ich stemmte meine Beine in den Teppich, kratzte Aric am Arm, trat ihm sogar einmal in den Hintern, aber er gab einfach nicht nach! „Nimm endlich eine Pfoten von mir, sonst …“

„Spar dir deine Drohungen, sie beeindrucken mich nicht.“

Oh, dieser Kleine … ahrrr! Langsam machte er mich wirklich sauer. Was bildete er sich eigentlich ein wer er war? Er konnte sich das doch nicht rausnehmen, nur weil er den Titel eines Prinzen trug. Ich hatte auch meine Rechte und was er hier gerade tat, lief ihnen eindeutig zuwider. „Aric, lass mich gehen!“

Von dem Portal aus sahen uns die beiden Wächter neugierig und verwirrt hinterher und auch hier unten in der Halle gab es ein paar Leute, die stehen blieben und diese Show verwundert beobachteten. Keiner kam mir armen, hilflosen Mädchen zu Hilfe, als Aric immer weiter auf die Treppe zugingen und mich hinaufziehen wollte. Doch das konnte er ja mal voll vergessen. Bis hierhin und nicht weiter. Gerade als er mich dir erste Stufe hinaufziehen wollte, packte ich mit meiner freien Hand das Treppengeländer und zog mich mit einem Ruck zurück. Da Aric auf der Treppe nicht so guten Halt hatte und ich den Überraschungsmoment auf meiner Seite hatte, schaffte ich es auch noch ein Bein um das Geländer zu schlingen. Ich wäre ja auch abgehauen, aber er ließ mich ja nicht los. Also musste das erst mal reichen.

Aric schaute sich grimmig das Desaster an und versuchte dann mich am Arm von dem Geländer wegzuziehen, aber ich klammerte mich krampfhaft daran fest. Der würde mich nicht losbekommen. Seufzend ließ er mich los, griff aber sogleich nach meine Taille und versuchte mich so von dem Geländer zu lösen. Doch jetzt hatte ich noch eine Hand, mit der ich mich festklammern konnte.

„Verdammt, lass den Blödsinn“, schimpfte Aric.

„Nur wenn du mich in Ruhe lässt!“

„Das kannst du vergessen.“ Er zog mich mit dem Rücken an seine Brust, schlang die Arme fest um meinen Bauch und versuchte mich so loszubekommen. „Verdammt, lass los!“

„Niemals!“

Hinter uns lachte jemand und dieser jemand war niemand anderes als Cio.

„Verflucht, lach nicht und hilf mir lieber!“, riefen Aric und ich unisono, guckten uns einen Moment verdattert an und dann ging die Rangelei weiter.

Jetzt lachte Cio erstecht und trat auf die andere Seite des Geländers. „Ihr beide seht echt peinlich aus, wisst ihr das eigentlich?“

„Cio“, knurrte Aric und entlockte dem Umbra damit ein Seufzen.

„Tut mir leid“, sagte er dann nur zu mir, beugte sich vor und begann damit meine Hände von dem polierten Holz zu lösen.

„Was? Nein! Was machst du denn da? Lass das!“ Meine eine Hand rutschte ab und bevor ich damit wieder zugreifen konnte, fing Cio sie ein und machte sich daran, auch die verkrampften Finger meiner anderen Hand zu lösen. „Cio!“

Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Sorry, aber er ist der Prinz und Befehl ist Befehl.“

„Aber das kannst du nicht machen! Er wird was weiß ich mit mir anstellen, du musst mir helfen!“

Er schmunzelte nur, dann war meine andere Hand auch ab. Aric nutzte die Gelegenheit sofort, um mich ein Stück von dem Geländer wegzuziehen. Mein Bein zu lösen, war dann nicht mehr weiter schwierig.

Ich zappelte in Arics Armen und erwischte einmal sein Schienbein mit dem Hacken, dass er nur so fluchte – geschah ihm ganz recht – aber gehen ließ er mich deswegen noch lange nicht. „Las mich los, lass mich los, lass mich los!“

„Das kannst du vergessen, du kommst jetzt mit.“ Er stellte mich auf den Boden, doch bevor ich die Chance bekam abzuhauen, packte er mich wieder am Arm. Dieses Mal jedoch, um mich herumzuwirbeln. Ich konnte gar nicht so schnell reagieren, wie er mich hochhob und über die Schulter warf. Dabei verlor ich auch noch fast meine Brille und musste feststellen, dass es sehr unangenehm war, so getragen zu werden. „Lass mich runter! Verdammt, stell mich sofort wieder ab!“ Ich zappelte und schlug ihm auf den Rücken, solange bis er mir einen Schmerzhaften Klaps auf den Hintern gab. „Hey!“, protestierte ich.

Er beachtete das gar nicht.

Okay, dann eben anders. Während Aric Stufe für Stufe die Schwebende Treppe erklomm und mir bei jedem Schritt praktisch die Schulter in den Magen rammte, holte ich tief Luft. „HILFE!“, schrie ich so laut, dass es durch die ganze Halle schallte. „Hilf mir doch jemand, ich werde gegen meinen Willen entführt!“ Hm, konnte man eigentlich auch willentlich entführt werden? Gute Frage.

Aric zuckte unter meinen Schrei zusammen. „Kannst du das mal lassen?“

Ich dachte nicht im Traum daran. Und auch wenn bisher keiner der Anwesenden reagiert hatte, außer blöd zu gucken, ich machte weiter. „Bitte, Hilfe, er will mir was antun! Hilfe, er …“ Und in dem Moment bemerkte ich Flair, die sich damit abmühte, uns die Treppen hinauf zu folgen. „Hey, mein Hund!“ Ich strampelte wieder stärker, aber außer einem genervten Stöhnen kam von Aric keine Reaktion. „Verflucht noch mal, Aric, lass mich los, Flair darf keine Treppen steigen, das ist nicht gut für ihre Gelenke!“

„Cio, nimm den Hund hoch“, sagte er ohne mit der Wimper zu zucken und trug mich einfach weiter. Mittlerweile hatten wir die Galerie erreicht und liefen durch einen breiten Korridor, der edel mit Holz verkleidet war, auf eine weitere Treppe weiter hinten zu.

Ich beobachtete Cio genau, als er Flair grinsend von Boden auflas und sich unter den Arm klemmte. Erst dann begann ich wieder mit meinen bisher völlig zwecklosen Wehrversuchen. Aber es nützte nichts. In der Zwischenzeit liefen wir sogar die Zweite Treppe hoch. „Lass mich sofort runter! Wenn du nicht deine Finger von mir nimmst, dann sage ich es deiner Mutter! Sie hat dir verboten mich anzufassen!“ Nicht das ihn das bisher interessiert hätte.

„Gut, kannst du gerne machen“, erwiderte er völlig gelassen. „Wir sind sowieso gerade auf dem Weg zu ihr. Da kannst du ihr gleich alles erzählen und anschließend klären wir diese Sache.“

„Was? Nein!“ Ich und mein Mundwerk. „Lass mich runter, ich will nicht zu Cayenne! Nimm deine Pfoten von mir! Ich will hier raus!“

„Eben warst du doch noch ganz scharf darauf zu meiner Mutter zu kommen.“

„War ich nicht, da hast du was missverstanden. Ich darf gar nicht zu seiner Mutter, ich bin ein Vampir! Und du pass ja auf meinen Hund auf!“ Ich funkelte Cio an, der die Aufgabe sich um Flair zu kümmern, ein wenig zu leicht nahm – na okay, wirklich schwer war sie ja auch nicht.

„Ein Vampir der in den letzten Tagen einen reichlich guten Kontakt zu meiner Mutter pflegt.“

„Tu ich nicht!“ Genau, bestreiten war eine gute Lösung.

„Sie veranstaltet zu deinen Ehren sogar einen Ball.“

Mist. „Sie hatte nur Mitleid mit mir und wird sicher nicht erfreut sein, wenn ich sie jetzt belästige.“

„Das werden wir ja gleich feststellen.“

Wir hatten das Ende der Treppe erreicht und steuerten die nächste an. Wo wollte der Kerl eigentlich mit mir hin?

„Lass mich jetzt endlich los, du verdammter …“

Als neben uns eine goldverzierte Tür öffnete, verstummte ich. Drei Frauen traten aus einem Musikzimmer, eine von ihnen war Kiara. Verdammt!

„Aric?“, fragte sie verwundert und schaute mir einer hochgezogenen Augenbraue dabei zu, wie ich auf seiner Schulter zappelte. Dann zuckten ihre Lippen. „Ich Tarzan, du Jane“, sagte sie mit einer übertrieben tiefen Stimme. „Ich schleifen dich in meine Höhle.“

Aric hatte nur einen kurzen Blick für sie übrig, bevor er die nächste Treppe in Angriff nahm. „Tarzan hat auf Bäumen gelebt“, erklärte er unbeeindruckt. „Was du meinst, sind Höhlenmenschen.“

„Lass mich runter!“ Ich schlug ihm auf den Rücken.

Einen Moment schaute Kiara unentschlossen zum Musikzimmer, dann eilte sie ihrem großen Bruder hinterher. „Was wird das?“, fragte sie neugierig, kam aber keinesfalls auf die Idee, mir aus meiner misslichen Lagen zu helfen.

„Ich will nur etwas klären“, sagte er so ruhig, als unterhielt er sich über das Wetter.

„Aber ich will hier nichts klären!“, schimpfte ich und schlug ihm wieder auf den Rücken. „Verdammt, wenn du deine Finger nicht von mir nimmst, dann beiße ich dich!“

„Tu dir keinen Zwang an. Aber dann musst du auch mit den Konsequenzen leben.“

Das gab es doch einfach nicht! Nicht nur, dass ich ihm nicht entkam, wie es aussah, wollte jetzt auch noch Kiara unserer illustren Runde beitreten. Zum einen aus Neugierde und zum anderen, weil sie es urkomisch fand, wie ich da schimpfend und zappeln über seiner Schulter hing.

Und so ging es weiter, bis wir die dritte Etage erreichten. Ich versuchte ihn mit allen Mitteln dazu zu bringen mich gehen zu lassen und ihn ließ das völlig kalt. Wir bekamen mehr als einen neugierigen Blick. Erst ganz oben waren wir völlig allein auf dem Korridor.

Natürlich brüllte ich immer noch Zeter und Mordio, einfach weil ich langsam Panik bekam. Klar, ich hatte Cayenne sehen wollen, aber doch nicht so und garantiert ohne Aric und Kiara. Ich bekam langsam echt schiss vor dem was gleich passieren würde, auch wenn ich eigentlich keine Ahnung hatte, was genau das sein würde.

Natürlich würden durch mein Geschrei die Bewohner auf dieser Etage auf uns aufmerksam. Genaugenommen gab es hier nur zwei, Cayenne und Sydney und so hätte es mich nicht weiter verwundern sollten, als eine Tür aufging und meine erstaunte Erzeugerin in einem schwarzen Negligé und einem edlen Morgenrock dabei zusah, wie ihr Sohn mich auf sie zutrug.

„Aric?“, fragte sie verwirrt. „Was ist los?“ Ihr Blick wechselte zwischen ihren Kindern hin und her. „Was machst du da mit Zaira?“

Er antwortet nicht, ging nur an ihr vorbei in den dahinterliegenden Raum.

Cayenne kam uns hinterher. „Aric, lass sie runter.“

Auch Cio betrat den Raum, ließ Flair dort auf den Boden und fläzte sich lässig auf einen der Sessel. Kiara gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange, huschte dann durch den Raum und sprang neben Sydney auf die helle Ledercouch, wo sie sich sofort an den großen Wolf lehnte.

Cayenne trat weiter in den Raum. „Aric, stell sie ab und dann will ich erfahren, was hier los ist.“

„Genau das will ich auch.“ Er stellte mich mitten in den Raum, oder besser mitten in eine riesige Suite, ging zur Tür und machte die von innen zu. Dann lehnte er sich mit verschränkten Armen dagegen, um jedem einen möglichen Fluchtweg abzuscheiden. „So, und jetzt können wir reden. Warum stand dieses Mädchen gerade unten und wollte zu dir? Warum triffst du sich ständig mit ihr? Was sollte die blöde Bemerkung über meinem Vater? Warum opferst du so viel Zeit für sie? Seit Wann hast du so viel für Vampire übrig? Und warum redest du plötzlich nicht mehr mit mir und machst aus allem ein Geheimnis?“

Danach herrschte erst mal eine drückende Stille, in der Cayenne einen unsicheren Blick mit Sydney wechselte. Aric ließ keinen von beiden aus den Augen.

Ich ging vorsichtshalber ein paar Schritte aus dem Weg und hätte mir am liebsten selber einen Tritt in den Hintern verpasst. Das hier geschah gerade nur, weil ich nicht hatte bis morgen warten können. Vielleicht wäre es besser gewesen, einfach eine dumme Ausrede zu erfinden, als mich dazu zu entschließen die Flucht zu ergreifen.

„Also?“, knurrte Aric. „Was ist nun? Und erzähl mir nicht, dass ich mir das nur einbilde. Ich weiß, dass hier irgendwas vorgeht, ich bin nicht blöd. Und jetzt komm ja nicht mit der Ausrede, dass es mich nichts angeht. Sie“, – er zeigte mit dem Finger auf mich – „hat meinen Vater erwähnt.“

Cayenne wich dem Blick ihres Sohnes aus und spielte unruhig an einem Ring an ihrem Finger herum.

„Verdammt, Mama, jetzt sag doch endlich was!“, forderte er sie auf. „Was ist hier los? Eine ganz einfache Frage. Die dürfte doch wohl nicht so schwer zu beantworten sein.“

Oh Aric, hast du eine Ahnung. Ich biss mir auf die Lippen.

In dem betretenden Schweigen das folgte, wich jeder Arics eindringlichen Blick aus. Erst Sydney durchbrach es.

Cio, ich möchte das du uns verlässt und dich in dein Zimmer zurückziehst.“

„Sydney …“, begann Cayenne, wurde aber sofort von seinem Kopfschütteln unterbrochen.

Nein Cayenne. Wir haben lange genug gewartet, um es ihm zu sagen.“ Sein Blick ruhte einen Moment auf Kiara. „Viel zu lange. Es ist an der Zeit, dass sie es erfahren. Sie sind beide alt genug.“

„Erfahren?“ Aric richtete sein Augenmerk auf Sydney. „Was erfahren?“

Nun wurde auch Kiara hellhörig. „Beide?“

Sydney antwortete nicht, richtete seinen Wolfsblick nur auf Cio. „Geh jetzt, bitte. Das hier geht dich nichts an.“

Ja, weil es eine reine Familienangelegenheit war.

Der junge Umbra machte den Mund auf, nur um ihn dann gleich wieder zu schließen. Dann richtete sich sein Blick kurz auf mich, bevor er seufzend aufstand und zur Tür ging. Es passte ihm so gar nicht, dass er jetzt wo es spannend wurde, weggeschickt wurde. Aber ich konnte mir gut vorstellen, dass er darauf vertraute, dass Aric ihm später alles erzählte. Wenn er sich da nur mal nicht täuschte. Das hier war nichts, was man an die große Glocke hing.

Er klopfte Aric zum Abschied – vielleicht auch zur Aufmunterung – noch einmal auf die Schulter und verschwand dann. Jetzt waren wir alleine. Nur die Familie. Und es herrschte betretenes Schweigen, das sich keiner so recht zu durchbrechen wagte. Naja, keiner außer Aric.

„Also was ist nun?“, fragte er auch sofort. „Er ist weg, können wir jetzt reden? Bitte?“

Cayenne drückte die Lippen zusammen, sah noch einmal zu Sydney und ließ sich dann schwer in den anderen Sessel sinken. „Setzt euch, ihr beide.“

„Ich?“

„Ja, Zaira, du auch.“

Nur zögernd kamen wir ihrer Aufforderung nach, Aric genau wie ich. Ich nahm den Sessel ein, den Cio eben noch benutzt hatte und der Prinz setzte sich neben seine Schwester auf die Couch.

Dann war da wieder diese Stille. Zwei Mal machte Cayenne den Mund auf, brachte aber keine Ton heraus.

Soll ich es ihnen sagen?“, fragte Sydney?

„Nein, ich …“ Sie stockte, sah von ihrem Sohn zu Kiara und dann wieder zurück. „Nein, ich muss es sagen.“

Aric wurde sichtlich unruhig. „Was sagen?“

„Das ist nicht so einfach, Aric. Es ist … ihr müsst verstehen, ich habe das nicht verheimlicht, weil ich euch verletzten wollte, ich wusste nur nie wie ich es euch sagen sollte und dann seid ihr immer älter geworden und ich hab nie den passenden Zeitpunkt gefunden.“ Sie drückte die Lippen aufeinander.

„Verheimlicht?“ Aric runzelte die Stirn. „Was hast du verheimlicht?“

Kiara fragte nicht nach, aber sie hörte sehr aufmerksam zu.

Sie wagte nur einen kurzen Blick zu ihrem Sohn, bevor sie zögernd die Worte aussprach, die ihr schon so lange auf der Seele brannten. „Weißt du, das was Zaira da gesagt hat, das mit deinem Vater … das … sie …“

Ich bin dein Vater, Aric, nicht König Nikolaj“, kam es da von Sydney.

„Was?!“, kam es sofort von Kiara.

Hm, das wäre sicher auch ein wenig einfühlsamer gegangen. Nicht nur Cayenne sah nach dieser plötzlichen Eröffnung geschockt aus. Ihr Sohn hatte einen ganz ähnlichen Gesichtsausdruck.

„Soll das ein schlechter Scherz sein?“, fragte er ungläubig und schaute von einem zum anderen. „Ich finde den nämlich nicht besonders witzig.“

„Kein Scherz“, sagte Cayenne. „Die reine Wahrheit.“ Sie rieb sich mit der Hand übers Gesicht, bevor sie ihren Sohn genau in die Augen blickte. „Sydney ist dein Vater, Aric.“ Einen Moment verstummte sie, dann fügte sie leise hinzu: „Es tut mir leid, dass ich es dir nicht früher gesagt habe.“

Aric saß da wie vor den Kopf gestoßen. Er schien nicht zu wissen, was er sagen oder denken sollte. Diese Wahrheit war in seinen Augen so unglaubwürdig, dass er sie am liebsten mit einem Lachen abgetan hätte, doch die ernsten Blicke seiner Erzeugerfraktion hinderten ihn daran. „Aber wie … wie ist das möglich? Ich bin doch der Sohn von König Nikolaj. Alle wissen das. Er ist mein Vater, nicht Sydney.“

Langsam schüttelte Cayenne den Kopf. Der Schmerz und die Verwirrung in den Augen ihres Sohnes tat ihr weh. „Nein Aric, Nikolaj hatte keine Kinder. Und er war auch niemals mein Gefährte gewesen. Das war schon immer Sydney.“

„Aber …“ Er warf einen kurzen Blick zu Sydney. „Wie?“, kam es dann über seine Lippen.

„Das ist nicht einfach zu erklären.“ Sie seufzte schwer. „Damals war so viel los und noch lange bevor ich Nikolaj überhaupt kennenlernte, hatte ich mich schon in Sydney verliebt. Nikolaj habe ich nur zum Gefährten genommen, weil das Gesetz es so verlangte.“

Und weil sie von einem miesen Schwein erpresst wurde. Diesen Kommentar behielt ich vorsorglich für mich. Wenn Cayenne es ihm nicht sagen wollte, würde sie dafür sicher einen Grund haben.

„Ich habe dir bereits in groben Zügen erzählt, was damals alles los war und ich bleibe auch dabei, Nikolaj war nur ein Opfer des Komplotts seines Vaters.“

Aha, sie hatte es ihm also doch erzählt.

„Aber ich habe ihn nie geliebt.“

„Und das soll ich glauben? Warum … warum …“ Er leckte sich über die Lippen und sah zu mir rüber. „Und was hat sie mit der ganzen Sache zu tun?“

Versuchte er sich jetzt etwa auf ein anderes Thema zu konzentrieren, um sich nicht mit dem eigentlichen Problem zu beschäftigen? Verdrängungstaktik.

„Mit diesem speziellen Fall hat Zaira gar nichts zu tun.“

„Und warum hängt sie dir in letzter Zeit dann ständig an deinem Rockzipfel?“

Cayenne zögerte.

Sag es ihnen, Cayenne“, forderte Sydney seine Gefährtin sein. „Sie sind deine Kinder, sie haben die Wahrheit verdient.“

Sie drückte die Lippen aufeinander, bevor sie sehr schnell herausstieß. „Zaira ist eure Schwester.“

Aric sah aus, als hätte ihm jemand ein Brett vor den Kopf gehauen. „Was?“

Kiara blinzelte nur. Auf einmal war ihr Rücken äußerst steif. Ihr Blick richtete sich auf mich.

„Zaira ist eure Schwester“, wiederholte Cayenne nun ein wenig langsamer. „Um genau zu sein, deine Halbschwester“, sagte sie direkt zu ihrem Sohn und dann zu Kiara. „Deine richtige Schwester.“ Sie presste erneut die Lippen aufeinander, zögerte mir den nächsten Worten. „Und nicht nur das. Sie ist auch …“ Ihr Mund öffnete sich, aber es kamen keine Worte heraus. Hilflos schaute sie zu Sydney.

Zaira ist Kiaras Zwillingsschwester. Kiara ist nicht meine Tochter.“ Er schaute das Mädchen an, das bei dieser Eröffnung einfach nur geschockt wirkte. „Jedenfalls nicht, wenn man nach dem Blut geht.“

„Was?“ Aric sah aus, als glaubte er, seine Eltern wollten ihn verarschen. „Dieses Mädchen ist ein Vampir, Kiara ist ein Lykaner.“ Er schaute Cayenne an. „Du kannst nicht die Mutter von einem Vampir sein. Und die beiden können keine Zwillinge sein. Sieh sie dir doch an, die haben nicht geringste Ähnlichkeit miteinander.“

„Ja“, stimmte Kiara ihm zu. „Er hat Recht, das geht nicht.“ Ihre Stimme zitterte ein wenig. Diese Situation schien sie ein wenig zu überfordern.

„Sie sind zweieiige Zwillinge“, erklärte Cayenne. Ihre Finger nesteln nervös am Saum ihres Morgenrocks herum, während sie immer wieder zwischen ihren Kindern hin und her schaute. „Zaira ist kein Vampir, sie ist ein Misto, genau wie Kiara, nur das Zaira nach ihrem Vater kommt und Kiara nach mir.“

Kiara erstarrte einfach. Ihre Finger hatten sich um den Stoff in ihrem Schoß gekrampft. „Was soll das heißen, ich bin ein Misto? Papa ist … er ist mein Vater, du bist meine Mutter. Ich kann kein Misto sein, ich bin ein Alpha, ich bin eine Prinzessin und ich bin ein reinrassiger Lykaner.“

„Nein, Kiara“, widersprach Cayenne ihr sanft. „Es tut mir leid, aber dein leiblicher Vater ist ein Vampir.“

„Nein“, knurrte Kiara. Sie wollte es nicht wahrhaben. Ihr Blick war auf ihre verkrampften Hände gerichtet. „Ich bin ein Lykaner. Mein Vater heißt Sydney.“

Sie schaute sie nur hilflos an.

Aric strich sich nervös über sein Kinn. „Aber … das geht doch gar nicht.“ Er warf mir einen kurzen Blick zu. „Werwölfe und Vampire können keine Kinder bekommen.“

„Ich weiß.“

„Aber … wie soll das dann gehen?“ Nun verstand er gar nichts mehr.

Cayenne wandte mir kurz ihren Blick zu, bevor sie ihn wieder auf ihren Sohn richtete. „In Ordnung, was ich euch jetzt sage, ist das größte Geheimnis, das es in diesen Mauern gibt und ihr dürft es auf keinen Fall jemanden erzählen. Das müsst ihr mir versprechen.“

„Geheimnis?“

„Versprich es.“ Sie fixierte ihren Sohn.

Er zögerte, aber nur für einen kurzen Moment. „Ich verspreche es.“

Ihr Gesicht wandte sich ihrer Tochter zu. „Kiara?“

Kiaras Lippen wurden zu einem dünnen Strich.

„Kiara, du musst es mir versprechen. Es ist wichtig.“

„Ich bin kein Misto“, war ihre leise Erwiderung.

Cayenne wartete.

Es schien Kiara äußerst schwer zu fallen, überhaupt noch irgendwelche Worte zu bilden. Sie wirkte verstört. „Ich werde es für mich behalten.“

Leider schien das Cayenne nicht wirklich zu beruhigen. Sie tauschte noch einen kurzen Blick mit Sydney und atmete dann einmal tief durch, als müsste sie sich innerlich auf das Kommende vorbereiten. „Aric, Kiara, ich bin kein reinblütiger Lykaner, ich bin ein Misto.“

„Was?!“ Der Prinz sah aus, als hätte er gerade einen schweren Unfall beobachtet. Seine Schwester gab überhaupt keine Reaktion von sich.

„Meine Mutter war nicht Prinzessin Alica, sondern Prinzessin Celine, die verstoßene Tochter.“

„Du meinst … du meinst, Prinzessin Celine, die …“ Und dann schien es ihm wie Schuppen von den Augen zu fallen.

Cayenne nickte langsam. „Genau, Prinzessin Celine, die Frau, die fortgelaufen ist, um mit ihrem menschlichen Gefährten zusammen zu sein zu können. Bevor König Isaac sie damals gefunden und zum Hof zurückgebracht hatte, haben er und sie ein Kind bekommen und dieses Kind bin ich.“

„Aber … wie … das ist doch nicht möglich! Du bist … du kannst kein Misto sein. Es gibt keine Halbblüter im Adel.“

„Doch, die gibt es.“ Sie drückte kurz die Lippen zusammen und warf mir einen Blick zu, bevor sie weitersprach. „Damals, ungefähr eineinhalb Jahre nach deiner Geburt war das Leben für mich … schwierig. Ich war mir vieler Dinge nicht mehr sicher und als ich dann meine alte Jugendliebe wiedergesehen habe, bekam ich Zweifel an meinen Gefühlen zu Sydney. Es war damals sehr … schwer. Ich wusste nicht mehr was richtig und was falsch war und habe mich für kurze Zeit wieder auf eine Beziehung mit Ryder eingelassen. Sie war zu Ende, kaum dass sie begonnen hatte und kurze Zeit später stellte ich fest, dass ich wieder schwanger war. Ich und auch Sydney haben geglaubt, dass das Kind von ihm sein würde und waren selber überrascht, als ich dann Zaira und Kiara bekam.“

Doktor Ambrosius hat es uns dann erklärt“, fuhr Sydney fort. Er behielt Kiara sehr genau im Auge. Ihre stille Art schien ihm Sorge zu bereiten. „Ein Lykaner und ein Vampir können keine Kinder bekommen. Ein Vampir und ein Misto dagegen schon. Die menschliche DNA macht es möglich.“

„Aber ich konnte Zaira nicht behalten. Nicht wenn ich nicht wollte, dass das Rudel auseinander bricht. Kiara geht als Lykaner durch. Sie hat nie auch nur das kleinste Merkmal eines Vampirs gezeigt, Zaira jedoch … sie kann sich zwar in einen Wolf verwandeln, aber wenn man das nicht weiß, sieht man nur einen Vampir.“

„Darum hat sie mein Vater angerufen und mich ihm übergeben“, fügte ich noch leise hinzu.

Arics Blick richtete sich auf mich. „Du wusstest es? Die ganze Zeit?“

Ich nickte vorsichtig. „Mein Vater hat es mir schon erklärt, als ich noch ein kleines Mädchen war. Ich weiß eigentlich alles.“

„Im Gegensatz zu mir“, murrte Aric und richtete seinen Blick wieder auf seine Mutter.

Wir haben euch das nicht verheimlicht, um euch zu verletzten“, sagte Sydney leise. „Wir wollten euch schützen, euch beide.“

Aric schwieg daraufhin eine ganze Weile, während er nachdenklich auf seine Mutter starrte, die nervös ihre Hände im Schoß knetete. „Also fassen wir zusammen“, sagte er dann. „Nicht König Nikolaj ist mein Vater, wie ich mein ganzes Leben geglaubt habe und auch jeder Lykaner in diesem Rudel denkt, sondern Sydney. Du bist kein reinblütiger Lykaner, wie jeder gottverdammte Wolf auf diesem Planeten glaubt, sondern ein Misto und Zaira ist meine Halbschwester, ebenfalls ein Misto und die Tochter eines Vampirs, genau wie Kiara, die bisher immer angenommen hat, das mein leiblicher Vater, ihr leiblicher Vater ist. Hab ich noch was vergessen? Oder kommt da noch etwas das ich wissen muss?“

Zögernd schüttete Cayenne den Kopf. „Nein, das war alles.“

„Gut.“ Er erhob sich und ging mit ausladenden Schritten zur Tür.

Cayenne war sofort auf den Beinen. „Wo willst du hin?“

„Weg.“

„Aber …“

Da knallte die Tür schon hinter ihm ins Schloss.

Lass ihn in Ruhe nachdenken“, sagte Sydney leise, als meine Erzeugerin ihm hinterher eilen wollte. „Er brauch ein wenig Zeit, um das alles zu verdauen und zu verstehen. Gib sie ihm.“

„Aber er ist …“

Lass ihn Cayenne. Es bringt nichts, wenn du jetzt versuchst, ihn zu bedrängen.“

Ihr Blick huschte unentschlossen zur Tür. Es war ihr anzusehen, dass sie Aric nicht einfach so gehen lassen wollte, nicht nachdem was er gerade alles erfahren hatte. Diese wenigen Minuten, dieses kurze Gespräch musste seine ganze Welt erschüttert haben. Seine Eltern waren nicht die für die er sie gehalten hatte und jetzt hatte er auch noch zwei halbvampirische Schwestern. Und eine von diesen Schwestern sah aus, als würde sie jeden Moment zerbrechen.

„Kiara?“, fragte Cayenne vorsichtig.

Erst geschah gar nichts, dann hob sie langsam den Kopf und zu unser aller Überraschung, begann sie nicht nur zu lächeln, sondern auch sich zu entspannen. Ihre Schultern sanken herab und sie ließ die Hände in ihrem Schoß locker. Es war richtig unheimlich, ihr dabei zuzusehen und wenn ich ehrlich war, machte es mir auch ein wenig nervös. „Ja?“

Cayenne machte einen vorsichtigen Schritt auf sie zu, blieb dann aber wieder stehen. „Es tut mir leid, wir haben dich nie belügen wollen.“

Die Prinzessin neigte ihren Kopf neugierig zur Seite. Ihr goldenes Haar rutschte ihr dabei von der Schulter. „Was meinst du? Womit hast du mich denn belogen?“

Okay, das war wirklich schaurig. Ich rutschte nervös auf meinem Platz herum.

Sydney und Cayenne tauschten nur einen Blick, sagten aber nichts.

„Nun gut.“ Kiara hüpfte schwungvoll auf die Beine. „Ich mache mir jetzt erstmal eine heiße Schokolade. Mama, Papa, wollt ihr auch eine? Ach, ich mach euch einfach eine.“ Ohne meine Anwesenheit auch nur zu Kenntnis zu nehmen, wandte sie sich um und verschwand mit wiegenden Schritten nach rechts in einen der Räume. Eigentlich fehlte nur noch, dass sie eine fröhliche Melodie pfiff.

Sydney legte die Ohren an. „Ich werde mir ihr reden“, erklärte er, sprang von der Couch und lief ihr hinterher.

Das war nicht nur schräg, das war wirklich unheimlich. Ich hatte das alles wenigstens schon mein ganzes lang Leben gewusst, für sie und auch für Aric war dass alles völlig unerwartet gekommen. Wahrscheinlich konnte ich mir gar nicht vorstellen, wie es den beiden im Augenblick ging. „Es tut mir leid“, sagte ich leise, denn ich wusste, dass ich der Auslöser für dieses Gespräch gewesen bin.

„Nein“, sagte Cayenne schwach. „Du musst dir keine Vorwürfe machen. Ich hätte es ihnen schon längst sagen müssen.“

Da hatte sie wahrscheinlich recht. Trotzdem fühlte ich mich schuldig. Und nach dem eigentlichen Grund zu fragen, warum ich sie hatte sehen wollen, kam mir jetzt auch unpassend vor. Außerdem schien Cayenne im Augenblick keine Kraft für ein solches Gespräch zu haben. Eigentlich gab es für mich hier nichts mehr zu tun. Nicht in diesem Moment. „Ich glaube ich sollte auch besser gehen, Papa wartet sicher schon.“

Cayenne sah zu mir, ein wackliges Lächeln auf den Lippen. Sie versuchte tapfer zu bleiben. „Ich bringe dich noch hinunter“, bot sie mir an.

 

°°°

 

Die Tür glitt fast geräuschlos auf, als ich das Zimmer meiner Eltern betrat. Tante Lalamika war nicht mehr da. Das wunderte mich gar nicht. Sie konnte zwar häufig auftauchen, aber nie länger als eine halbe Stunde. Das hatte irgendwas mit den Energien und Auren der Essen zu tun, die sie war. Ich hatte es nie ganz verstanden.

Mein Vater saß auf dem Bett an die Wand gelehnt und beobachtete lächelnd meine Mutter, wie sie versuchte auf dem Boden die Damesteine zu einem Türmchen zu stapeln. Doch als ich den Raum betrat, richtete sich sein Blick sofort auf mich. „Wo warst du so lange?“

Ich sah zu ihm herüber, in dieses vertraute Gesicht und musste wieder an die Worte der Frauen aus der Dusche denken.

Ich erinnerte mich an den Grund, warum ich hatte Cayenne aufsuchen wollen, warum das alles so eskaliert war. Nur wegen diesem kurzen Gespräch, das wohl nicht für meine Ohren gedacht war. Konnte sich hinter diesen harmlosen, blauen Augen wirklich ein eiskalter Mörder verbergen? Jemand der Leben nahm, ohne ein zweites Mal darüber nachzudenken?

Die feinen Lachfältchen um Papas Augen verstärkten sich, als er die Stirn leicht runzelte. „Alles in Ordnung? Ist was passiert?“

„Nein und Ja.“ Ich trat ins Zimmer, schloss die Tür hinter mir und legte meine dreckigen Sachen und das Duschzeug, das ich wieder vom Boden im Flur aufgeklaubt hatte, auf dem Schreibtisch ab. Dann ließ ich mich mit Flair im Schoß auf die Kante von meinem Bett sinken.

Papa hatte mittlerweile seine Beine auf den Boden gestellt, während meine Mutter mich neugierig beobachtete.

„Zaira, was ist los?“, wollte mein Vater wissen.

Was los war? Viel zu viel.

Nur einen Moment dachte ich darüber nach, die ganze Sache einfach zu vergessen, aber eigentlich war dieser Moment genau richtig um dieses Thema anzusprechen, denn wirklich schlimmer konnte es jetzt nur wirklich nicht mehr kommen. „Papa, du hast doch mal zu den Themis gehört.“

Das Stirnrunzeln vertiefte sich, als fragte er sich, worauf ich hinaus wollte. „Ja“, sagte er vorsichtig, ließ mich dabei aber nicht aus den Augen.

„Was hast du bei den Themis gemacht? Also, ich meine, was war deine Aufgabe?“

„Ich habe Sklaven befreit.“

Das war alles? „Und was hast du gemacht, wenn dir einer von diesen Leuten in die Quere kam, von diesen Sklavenhändlern? Was hast du dann gemacht?“

Er schaute mich mehrere Sekunden an, ohne die kleinste Regung von sich zu geben. Nur seine Augenbrauen zogen sich ein wenig zusammen. „Warum fragst du mich das? Es ist Vergangenheit, es hat nichts mehr zu bedeuten.“

Keine Antwort. Er wich mir aus. Nun gut, dann musste ich ihn wohl ganz direkt fragen. „Hast du diese Leute getötet?“ Ich sah ihm fest in die Augen. „Hast du andere Leute getötet, Papa?“

Seine Gesichtsfarbe wurde eine Nuance blasser. Aber er antwortete nicht.

Tja, in diesem Fall war Schweigen wohl auch eine Antwort. „In der Dusche hat Alexia mit eine Frau gesprochen. Sie haben über dich geredet, über das was du früher einmal getan hast.“

Meine Mutter bekam große Augen. „Die haben unter der Dusche über Ys-oog geredet?“

Papa beachtete sie gar nicht. Stattdessen erhob er sich vom Bett und begann unruhig im Zimmer umherzulaufen. Immer wieder warf er mir einen kurzen Blick zu, nur um ganz schnell wieder wegzugucken und letztendlich vor mir stehen zu bleiben. „Du verstehst das nicht, ich habe getan, was getan werden musste. Diese Leute sind grausam. Sie haben Lykaner und Vampir entführt, sie misshandelt und verkauft. Wir mussten sie aufhalten und wenn ich sie nicht getötet hätte, dann hätten sie mich getötet, oder hätten einfach weitergemacht. Es gab keinen anderen Weg.“

Also hatten die Frauen recht gehabt.

„Es hieß sie oder wir“, versuchte er sich zu rechtfertigen. „Cayenne, Murphy, ich und all die anderen Themis, wir …“

„Cayenne auch?“ War das sein Ernst?

Er klappte den Mund abrupt zu.

„Meine Erzeugerin hat auch getötet?“

Seine Lippen bildeten einen dünnen Strich, als hoffte er das Gesagte damit unschädlich zu machen. „Es war eine andere Zeit, das musst du verstehen.“

Es gab nur eine Sache die ich verstand. Ich hatte mich getäuscht, es hatte doch noch schlimmer kommen können. Nicht nur mein Vater hatte getötet, auch meine Erzeugerin. „Ich bin also die Tochter zweier Mörder“, fasste ich zusammen.

„Nein, Zaira“, sagte mein Vater sofort. „Das siehst du falsch. Diese Leute sind grausam, unmenschlich. Es ging nicht anders. Wir konnten doch nicht …“

„Jedes Leben ist wichtig“, unterbrach ich ihn leise. „Es war nicht richtig was sie getan haben, aber hast nicht du selbst mir beigebracht, das zweimal Unrecht nicht Recht ergibt? Vielleicht sind diese Leute grausam, aber du hast getötet.“

Er drückte die Lippen zusammen, und schüttelte den Kopf. „Nein, Zaira, das siehst du falsch.“

„Vielleicht“, sagte ich und streifte mir die Schuhe von den Füßen. „Ich leg mich schlafen.“ Ich stand auf und streifte mir Hose, Socken und Hemd ab, um anschließend mit Flair unter die Decke zu schlüpfen und meinem Vater den Rücken zuzudrehen. Jetzt gerade wollte ich ihn nicht ansehen. Vielleicht konnte ich das alles dann vergessen.

„Zaira.“ Als ich nicht reagierte, hörte ich ihn zu mir kommen. Die Matratze senkte sich unter seinem Gewicht und dann spürte ich, wie er mir über das Haar streichelte. So wie er es früher immer getan hatte, als ich noch klein war. „Es tut mir leid, Zaira, das hättest du nie erfahren sollen.“

Ja, das konnte ich mir nur zu gut vorstellen. Wer wollte seinen Kindern schon eröffnen, dass er ein eiskalter Killer war?

Mein Vater blieb noch lange bei mir sitzen, streichelte mir die ganze Zeit über mein Haar, doch es wurde kein Wort mehr gesprochen. Irgendwie war es seltsam. Diese väterliche Nähe war mir so vertraut, doch plötzlich völlig fremd. Wer war dieser Mann in meinem Bett? Wer war die Frau, die mich auf die Welt gebracht hatte? Was machten ihre Taten aus mir? Wer war ich?

Ich war nicht fähig, all diese Fragen und Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen und so dauerte es sehr lange, bis ich in einen unruhigen Schlaf fiel, der mitten in der Nacht durch lautstarkes Klopfen an der Tür unterbrochen wurde. Ich erschrak vor dem plötzlichen Lärm so sehr, dass ich sofort aufrecht im Bett saß und mich wunderte, wo meine Brille abgeblieben war. Hatte mein Vater sie mir im Schlaf abgenommen?

„Was zum Teufel …“, knurrte Papa und versuchte sich unter Mama vorzukramen, als es schon wieder an der Tür klopfte. „Ja, Moment!“ Er schob meine Mutter zur Seite, versuchte sie dabei nicht zu wecken und ging dann murrend zu Tür, um den Störenfried … naja, ich hatte keine Ahnung, was er mit ihm machen wollte, aber es war sicher nichts Nettes.

Als er die Tür aufriss, haute er sie sich auch fast noch an den Kopf und starte dann finster in den Flur. „Was?“, fragte er nicht sehr freundlich.

„Hey, ich bin …“

„Ich weiß genau wer du bist.“

Bei der Stimme setzte ich mich ein wenig gerader auf.

„Ähm … okay. Dürfte ich mal kurz mit Zaira sprechen? Es ist wichtig.“

„Nein.“ Und schwupp, die Tür war wieder zu.

„Papa!“, empörte ich mich und schwang eilig die Beine aus dem Bett. „Was soll das?“

„Hast du mal auf die Uhr geguckt?“

Da ich in der Dunkelheit nichts sah, auch nicht mit der Brille, die ich mir nun schnell auf die Nase setzte, erübrigte sich hierbei wohl eine Antwort. Ich lief einfach schnell an meinem Vater vorbei und riss die Tür wieder auf. Und tatsächlich, draußen stand Cio. In einfachen Jeans und T-Shirt lächelte er mich an. Natürlich fehlte auch seine schwarze Wollmütze nicht. „Hey, tut mir leid.“

Cio musterte mich von oben bis unten und erst jetzt ging mir auf, dass ich nichts weiter als einen Slip und ein Unterhemd anhatte.

Hastig stellte ich mich so hinter die Tür, dass er nur noch meinen Kopf sehen konnte. „Was gibt es denn?“

Er warf einen vorsichtigen Blick auf meinen Vater, der versuchte ihn mit einem Blick zu meucheln und lächelte mich dann an. „Ich weiß dass es schon kurz nach zwei ist, aber ich brauche mal ganz dringend deine Hilfe.“

Er brauchte meine Hilfe? Um diese Zeit? „Wobei?“

„Naja, Aric tickt da drüben gerade völlig aus. Ich hab keine Ahnung, was ihr da besprochen habt, er will es mir nicht sagen, aber es ist ganz schön fertig deswegen. Also, ich gehe zumindest davon aus, dass es deswegen ist.“

Ja, ich an seiner Stelle wäre wohl ganz schön fertig. Ich biss mir auf die Unterlippe.

„Er hat nur ein paar Mal deinen Namen erwähnt, mehr nicht und deswegen dachte ich, ich hol dich mal.“

„Ich weiß nicht ob das so eine gute Idee ist.“ Schließlich war ich dafür verantwortlich, dass seine ganze Welt plötzlich Kopf stand.

„Bitte.“ Er setzte einen Blick auf, den ich von Flair kannte, wenn sie etwas zu fressen haben wollte. „Aric brauch jemanden zum reden, aber mir sagt er kein Wort.“

„Dann frag doch Cayenne, sie ist glaub ich …“

„Er will nicht.“ Cio strich sich seufzend über die Mütze. „Als ich seine Mutter erwähnt habe, ist er völlig ausgetickt und hat mich angeschrien, dass sie im Moment die letzte Person ist, mit der er reden will. Und jetzt sitzt er auf meinem Bett und sagt kein Wort mehr. Ich weiß wirklich nicht was ich noch machen soll.“

Ja, wenn er das nicht wusste, obwohl er ihn viele Jahre länger kannte und sich seinen Freund schimpfte, woher sollte ich das denn wissen? Ich war hier nur der Auslöser für das ganze Drama, mehr hatte ich dazu nicht beizutragen. „Es tut mir leid, aber ich weiß wirklich nicht was ich da machen soll. Es ist glaub ich besser, wenn du dir …“

„Du warst doch dabei, als Cayenne mit ihm geredet hat, oder?“, unterbrach er mich.

Ich zögerte. „Ja.“

„Dann weißt du doch sicher auch was mit ihm los ist.“

Ja super, reib es mir doch auch noch unter die Nase. „Ja, ich weiß es. Aber ich bin mir sicher, dass er mich jetzt gerade nicht sehen möchte.“ Ich sah kurz zu meinem Vater, der jedes unserer Worte misstrauisch verfolgte. „Vielleicht …“

„Bitte, Zaira, ich weiß echt nicht weiter, so hat er sich noch nie benommen.“

Gott, wie sollte ich diesem Blick nur widerstehen? Das war so eine Mischung aus Welpe und Unschuld, mit einem flehentlichen Hauch und einem Touch von bitte-bitte darin. Seufzend strich ich mein zerzaustes Haar aus dem Gesicht. „Okay, warte einen Moment, ich ziehe mir nur kurz was an.“ Ich hatte zwar keine Ahnung wie ich helfen sollte, aber diesem Blick konnte ich mich nicht entziehen.

Leise schloss ich die Tür, knipste dann das Licht an und lief zu meinen Anziehsachen.

„Du wirst ganz sicher nicht mitten in der Nacht mit diesem Kerl verschwinden“, tönte es da hinter mir von meinem Vater.

Oh bitte, nicht jetzt. „Ich bin zwanzig, Papa, volljährig. Ich darf in der Zwischenzeit selber entscheiden, wann ich wo hingehe“, sagte ich völlig ruhig und schlüpfte in meine Hose.

Vom Bett her blinzelte meine Mutter zu mir rüber, schwieg aber.

„Es ist mir egal wie alt du bist. Ich bin dein Vater und als dieser ist es meine Pflicht aufzupassen, mit wem du dich abgibst.“

„So wie es deine Pflicht war Leute umzubringen?“ Ja, ich weiß, das war ziemlich unter der Gürtellinie, aber ich hatte im Moment wirklich keinen Nerv dafür mit ihm zu diskutieren. Ich zog mein Hemd über und knöpfte es zu. Dann schlüpfte ich noch schnell ohne Socken in meine Schuhe und sah in sein verkniffenes Gesicht. „Du hast mir gesagt, du hast getan, was getan werden musste. Jetzt tu ich, was ich tun muss. Komm Flair.“

Mein Hund lugte einmal unter meiner Bettdecke hervor, gähnte herzhaft und verschwand dann wieder darunter.

Dann eben nicht. Ich würde es schon überleben, einmal ohne sie unterwegs zu sein. „Ich weiß nicht wann ich wieder zurück bin, du brauchst nicht warten.“ Beim Verlassen des Zimmers strich ich durch mein zerzaustes Haar, um ein wenig Ordnung reinzubringen, aber so wie Cio mich angrinste, brachte es wohl nicht viel.

„Na? Salonfähig?“ Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Obwohl du mir ja ohne Hose auch gefallen hast.“

Das würde ich nicht auch noch würdigen, indem ich darauf reagierte. Ich hob einfach den Kopf und marschierte an ihm vorbei zur Treppe.

„Hey, warte doch mal.“ Hastig eilte er an meine Seite und grinste mich wieder an. „Dein Vater kann ganz schön böse gucken.“

„Tu mir einen Gefallen und erwähne ihn nicht.“ Dann musste ich nämlich immer daran denken, was ich erfahren hatte und das versuchte ich gerade zu verdrängen.

Cio zog die Augenbrauen zusammen, gab dann aber ein schlichtes „Okay“ von sich. „Erzählst du mir dann, was mit Aric los ist?“

Wahrscheinlich das gleiche wie mit Kiara. Ich warf ihm einen kurzen Blick zu, bevor ich die erste Stufe der Treppe betrat und langsam hinaufging. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm das erzählen sollte. Ich war mir auch nicht sicher, ob es überhaupt richtig war mit ihm zu Aric zu gehen. Was konnte ich schließlich schon ausrichten? Wahrscheinlich würde er sofort auf mich losgehen, wenn er mich nur sah. Zum Glück hatte Cio so breite Schultern, hinter denen konnte sogar ich in Deckung gehen.

„Zaira?“

„Lass uns einfach abwarten, was passiert“, erwiderte ich schlich und verließ dann an seiner Seite das HQ.

Natürlich musste Cio mich unbemerkt hineinschmuggeln. Ich hatte nach wie vor keine Berechtigung, dass Schloss zu betreten. Er nutzte dazu die Gänge, durch die auch seine Mutter mich immer führte. Zutritt bekamen wir mit seinem ganz eigenen Schlüssel.

„Meine Mutter hat mir diese Wege schon als kleines Kind gezeigt“, erklärte er schlicht. „Ich kenne mich hier besser aus, als in meinem Kleiderschrank.“

Wenn das so war, wollte ich nicht wissen, wie sein Kleiderschrank aussah.

Cio brachte mich hinauf in die erste Etage, in den Westflügel, wie er mir erklärte. Der Teil des Schlosses, in dem die letzten Nachkommen untergebracht waren. Er als Umbra des Prinzen hatte hier natürlich auch ein Zimmer, um immer in der Nähe seines Schützlings sein zu können. Nur war das bei weitem nicht so luxuriös wie das von Aric, schließlich war er ja nur ein kleiner Angestellter.

Trotzdem verbrachten sie mehr Zeit in seinem, als in Arics Zimmer. Vielleicht aber auch deswegen, weil die Angestellten den Prinzen dort in Ruhe ließen.

Als Cio so davon erzählte, fragte ich mich mal wieder, wie er, nachdem was Iesha und Aric getan hatten, immer noch mit dem Prinzen befreundet sein konnte. War das Band zwischen ihnen wirklich so stark, oder war es einfach die Pflicht, die die beiden zusammentrieb? Ich wusste nur, dass ich über eine solche Tat nicht so einfach hätte hinwegsehen können.

„Okay, hier ist es“, sagte Cio und hielt vor einer schlichten Tür, die sich in keinster Weise von den anderen Türen unterschied, an denen wir vorbeigekommen waren. „Warte kurz.“ Er spähte aus dem Bedienstetengang hinaus in den Korridor, legte den einen Finger auf die Lippen und winkte mir ihm zu folgen – aber leise.

Gemeinsam huschten wir auf Zehenspitzen hinaus, ein kurzes Stück den Flur hinunter, vorbei an Türen mit meisterhaften Holzschnitten von Wölfen bei Nacht und Vollmond im Wald, zu einer eher schlichten Tür. Er drückte die Klinke, schob mich schnell hinein, schob sich dann selber hastig hinterher und schloss sie wieder.

Dann stand ich in Cios Zimmer.

Ein einfacher, rechteckiger Raum, mit Bett, Schrank, Regal und Schreibtisch. An den Fenstern hingen ein paar vergilbte Gardinen und auf dem Boden war ein äußerst hässlicher Teppich, den man unter den ganzen Klamotten aber zum Glück kaum erkannte. Die Wände waren bedeckt mit Postern von Fernsehserien und Kinoplakaten – da war wohl jemand ein Filmfan. Der Kleiderschrank stand offen und die Klamotten daraus verteilten sich im ganzen Raum. Auch über den Schreibtischstuhl und der Fernsehanlage darauf. Das ganze Zimmer sah aus, als hätte hier ein Tornado gewütet. Nur das Regal mit den Hunderten von Filmen war sauber und ordentlich.

Am Kopfende des Bettes, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, saß Aric mit angezogenen Knien und starte mich finster an. Sein Jackett war verschwunden – wahrscheinlich von diesem Chaos aufgesaugt. Das war hier wahrscheinlich sowas wie das Bermudadreieck. Ich hätte vorher noch mein Testament schreiben sollen – und die Krawatte gelockert. Er trug nur weiße Socken an den Füßen und das kleine Loch am Zeh brachte mich beinahe zum Schmunzeln. Ein Prinz mit einem Loch in der Socke. Also wirklich, Dinge gab es.

Arics Blick richtete sich auf Cio. „Hast du nicht gesagt, du wolltest dir etwas zu Essen aus der Küche holen?“

„Das hatte ich auch vor, aber dann hab ich etwas viel besseres gefunden.“ Er zeigte auf mich, als wollte er ein Meisterstück präsentieren. „Und da dachte ich mir, ich bring sie einfach mal mit, damit du jemanden zum Reden hast.“

So wie Aric ihn ansah, hatte er aber keine Lust zu reden. Weder mit mir, noch mit jemand anderem. Davon ließ Cio sich aber nicht stören. Er streifte sich seine Schuhe ab, ließ sie an Ort und Stelle stehen und hüpfte dann mit einem Satz in sein unordentliches Bett, wo er sich mit den Füßen zu Aric auf dem Rücken lang machte und mit hinter dem Kopf verschränken Armen sein Haupt auf dem Kissen bettete. Dann grinste er mich an. „Na komm schon, such dir einen Platz.“

Einen Platz suchen? Gute Idee. Ich ließ meinen Blick durch das Zimmer schweifen. Vielleicht sollte ich mich auf den Stuhl setzten, aber der war so vollgepackt, dass ich glatt Angst bekam, da hineinzugreifen. Wer wusste schon so genau, was mich daraus angreifen würde, weil es glaubte, ich wolle in sein Nest eindringen? „Wo denn?“, fragte ich dann schlussendlich hilflos.

„Na hier.“ Er klopfte neben sich aufs Bett.

Ihm war wohl nicht bewusst, dass es eigentlich nur für eine Person ausgelegt war und mit ihm und Aric bereits mehr als voll war. Obwohl, da auf der Kante würde ich vielleicht noch ein Stückchen für mich ergattern können, ohne Aric dabei zu nahe kommen zu müssen.

Achtsam bahnte ich mir einen Weg durch dieses Chaos und ließ mich dann vorsichtig auf die Bettkante sinken, nur um Aric durch meine Brille einen schüchternen Blick zuzuwerfen.

„Nicht so“, sagte Cio. Im nächsten Moment packte er mich einfach und zog mich auf Höhe seines Bauchs über sich rüber an die Wand, so dass meine Beine über ihn lagen. „So ist doch viel bequemer.“

Ich blinzelte. Er hatte recht, aber irgendwie war das alles viel zu eng und zu nahe. Was sollte ich davon halten?

„Hier.“ Er hielt mir noch ein Kissen unter die Nase. „Das kannst du dir hinter den Rücken stopfen.“

Und dann saßen wir drei da – oder in Cios Fall, lagen – und schwiegen.

Ich hatte keine Ahnung was ich sagen sollte. Aric sah nicht so aus, als wenn er etwas sagen wollte und Cio hatte überhaupt keine Ahnung, was hier los war und sagte deswegen nichts. Naja, zumindest für fünf Sekunden. „Na los, redet. Tut einfach so, als wäre ich nicht da. Ihr könnt völlig ungeniert miteinander quatschen.“

Arics Blick richtete sich für eine volle Minute auf Cio, bevor er auf mich schweifte. „Erzähl es mir.“

„Erzählen?“, fragte ich etwas unsicher.

Cio spielte plötzlich an meinen Füßen rum. Genaugenommen zog er mir die Schuhe aus, als wäre ihm jetzt erst aufgefallen, dass ich sie noch trug. Ich ließ ihn machen, schließlich hatten Schuhe im Bett ja wirklich nichts zu suchen. Außerdem lag meine Aufmerksamkeit gerade auf Aric. Nur dass er seine Hände anschließend nicht wegnahm, sondern mir den Fingern immer wieder sanft über meine Fußknöchel strich, fand ich dann doch seltsam. Also stellte ich die Füße ein wenig zur Seite, damit er damit aufhörte.

„Alles. Du wusstest das mit meinem Vater und Kiara, du hast sicher auch das andere gewusst. Du hast gesagt, dein Vater hat dir alles erzählt und ich habe keine Lust auf weitere Überraschungen.“

Ich warf einen Blick auf Cio, der unseren Worten aufmerksam, wenn auch still, lauschte.

„Er wird nichts sagen. Cio kann Geheimnisse für sich bewahren.“

„Ich weiß.“ Ich drückte die Lippen kurz zusammen. „Aber Cayenne hat gesagt …“

„Bitte, Zaira, erzähl es einfach.“

Verdammt, warum nur hatte ich herkommen müssen? Ich wollte nicht schon wieder der Auslöser für eine weitere Eskalation sein. „Vielleicht solltest du lieber mit deiner Mutter darüber sprechen.“

„Du meinst wohl, unserer Mutter.“

Mein Blick flog zu Cio, der mich mit einem verwirrten Ausdruck ansah, aber er sagte immer noch nichts.

„Sag mir einfach was ich wissen will“, bat er erschöpft. Der Abend musste ihn geschafft haben, wenn auch nur vom Kopf her.

Mist. „Die ganze Geschichte?“

„Alles.“

Und noch mal: Mist. „Na schön.“ Ich seufzte und entsann mich dem, was mein Vater mir mein Leben lang Stück für Stück erzählt hatte, bis die ganze Geschichte für mich ein Bild ergeben hatte. „Alles begann noch vor Cayennes Geburt, als ihre Mutter sich in einen Menschen verliebte“, begann ich meine Geschichte und erzählte ihm dann wirklich alles. Von Cayenne, von Sonora, der Tochter des Markis, wie mein Vater zum ersten Mal meiner Erzeugerin begegnet war und auch warum.

Keiner der beiden Jungs unterbrach mich auch nur einmal. Aric hörte einfach still zu, während Cios Augen mit jedem Satz größer zu werden schienen. Es war ihm anzusehen, dass ihm mehr als eine Frage auf der Zunge lag, doch er hielt den Mund – schon ziemlich ungewöhnlich für ihn.

Ich erzählte ihnen, wie Cayenne ins Schloss gekommen und wie sie zu ersten Mal Sydney getroffen hatte. Wie sie aufgrund der Grausamkeit der damaligen Regenten hatte abhauen müssen und wieder mit meinem Vater zusammengekommen war. Ich erzählte von den nächsten gemeinsamen Jahren, bevor das Schicksal so grauenhaft zugeschlagen hatte und was in der die Folgen waren.

Die Schandtaten von Markis Jegor Komarow, von König Nikolaj, von Sydney, meinem Vater, von allen erzählte ich ihnen und war gerade an dem Punkt angekommen, als mein Vater mit dem Wohnwagen an den Hof der Lykaner gezogen war, als plötzlich die Tür zu Cios Zimmer aufging. Ohne anklopfen, wohl bemerkt.

Mein Kopf wirbelte herum, Cios Blick war nur mäßig interessiert und Aric wirkte einfach nur verärgert über die Unterbrechung.

Da stand Iesha im Türrahmen und das Erstaunen in ihrem Gesicht wich sehr schnell wütender Verärgerung, als sie mich im Bett ihres Freundes bemerkte, wie ich hier die Beine über ihn gelegt hatte.

„Was gibt es?“, wollte Cio völlig unbeeindruckt von ihrem Auftauchen wissen.

„Was es gibt?“, knurrte Iesha und knallte die Tür lautstark zu, während sie mich mit einem mörderischen Blick bedachte. „Das sollte ich wohl lieber dich fragen. Was hat diese verdammte Flittchen in deinem Bett zu suchen?!“

Hey! Ich war kein Flittchen. Ich hatte in meinem Leben garantiert weniger Sex gehabt als sie. Und auch weniger Sexualpartner. Allein in diesem Raum waren zwei von ihr und wer wusste schon, wie viele sie sonst noch hatte. Selber Flittchen.

„Ich weiß nicht von wem du redest“, gab Cio ganz ruhig zurück. „Ich sehe hier kein Flittchen in meinem Bett. Und glaub mir, wäre da eines, wäre es mir sicher aufgefallen.“

Das waren definitiv die falschen Worte gewesen. Iesha sah aus, als wollte sie gleich in die Luft gehen. „Ich rede von dieser Vampirschampe da, die sich schon fast an dir reibt. Diese fette, hässliche Schnalle, mit der fetten Brille, in der hässlichen Visage!“

Okay, das tat weh. Ich wusste dass ich nicht so dünn wie sie war und auch dass es viele, weitaus hübschere Mädchen als mich gab, aber deswegen musste man doch noch lange nicht so ausfallend werden.

„Ich weiß immer noch nicht von dem du redest, Iesha“, erwiderte Cio. „Ich sehe in diesem Zimmer weder ein fettes, noch ein hässliches Mädchen. Ich weiß nicht mal, ob es sowas wie ein hässliches Mädchen überhaupt gib. Was meinst du Aric?“

Doch Aric ließ sich auf dieses Spielchen gar nicht erst ein. „Iesha, du störst. Kannst du bitte wieder verschwinden?“

„Ich störe?!“, fragte sie beinahe fassungslos. „Wobei störe ich denn? Wolltet ihr dieses eklige Ding da etwa gerade Nageln,?! Seit wann steht ihr auf fette Monster?!“

Ich drückte die Lippen aufeinander und versuchte ihr Worte zu ignorieren. Doch es waren Dinge, die ich in meinem Leben schon viel zu oft gehört hatte. Sie taten einfach weh. In solchen Momenten hasste ich es, dass ich mir hatte die Haare kurz geschnitten. So konnte ich mich nicht hinter ihnen verbergen und jeder in diesem Raum konnte sehen, wie sehr mich ihre verbalen Angriffe trafen.

Cios Blick verfinsterte sich. „Iesha, das reicht jetzt. Zaira ist hier, weil wir etwas Wichtiges mit ihr zu besprechen haben und du führst dich gerade auf wie eine eifersüchtige Zicke.“

„Das ist mein gutes Recht, wenn diese widerliche Schlampe sich so an meinen Freund ranschmeißt und der noch nicht mal etwas dagegen zu haben scheint!“

„Iesha“, knurrte Aric, doch das schlanke Mädchen, mit den raspelkurzen braunen Haaren und der lodernden Wut in den Augen ignorierte ihn einfach.

„Stehst du neuerdings auf fette Quallen? Muss ich jetzt auch hundert Kilo zunehmen?“

Okay, das musste ich mir nicht anhören. Nicht von einer kleinen Hexe, die es mit dem besten Kumpel ihres Freundes getrieben hatte. „Ich glaube ich gehe jetzt besser.“

„Du bleibst!“, kam es unisono von Cio und Aric, als ich mich gerade hochstemmen wollte. Cio hob nur meine Beine an und stand auf. „Und du hör auf mit deinen Eifersuchtsnummer“, fuhr er Iesha an.

„Ich hab allen Grund zur Eifersucht, so wie die ständig an dir dran klebt! Die ist schlimmer als eine läufige Hündin!“

„Jetzt reicht es.“ Er packt sie beim Arm und zog sie zur Tür.

„Was? Willst du jetzt eine eigene Freundin rausschmeißen, damit du das hässliche Walross bumsen kannst?!“

„Nein, wir werden jetzt rausgehen und ein kleines Gespräch unter vier Augen führen.“ Er schob sie raus und dann war ich mit Aric allein.

Die blöde Träne, die mir über die Wange rollte, wischte ich wütend weg.

Aric hatte den Kopf an die Wand gelehnt und beobachtete mich. „Hör nicht auf das was Iesha sagt. Sie ist etwas … speziell.“

„Ist doch egal. Es interessiert mich nicht, was sie sagt.“

Wir beide wussten dass ich log, aber er war wenigstens so Taktvoll, das unerwähnt zu lassen. Und so warteten wir schweigend auf Cios Rückkehr.

Mehr als einmal war ich versucht einfach aufzustehen und zu gehen, um diesem mitleidigen Blick von Aric zu entkommen. Ja, ich wusste wie ich aussah, und dass ich sicher niemals einen Schönheitswettbewerb gewinnen würde, aber deswegen brauchte ich noch lange kein Mitleid von einem Schönling wie ihm.

Das einzige was mich am gehen hinderte, war die Ungewissheit, was sich dort draußen vor der Tür abspielte. Ich wollte sicher nicht in einen handfesten Beziehungsstreit platzen und zwischen die Fronten geraten. Das hätte mir als Abschluss für diesen Tag gerade noch gefehlt.

Es dauerte fast zwanzig endlose Minuten, die durch das drückende Schweigen nur noch länger erschienen, bis die Tür aufging und ein grinsender Cio zurück in das Zimmer kam. An seinem Hals prangte ein Knutschfleck, der eben noch nicht da gewesen war, da war ich mir sicher. Das Gespräch schien ein voller Erfolg gewesen zu sein. „Sie hat sich wieder beruhigt“, erzählte er und machte sich wieder in der gleichen Position wie vorhin breit. „Und keine Sorge, sie wird dich ab jetzt in Ruhe lassen, das hat sie mir versprochen.“

„Okay“, sagte ich nur tonlos und zog mein Bein weg, als er mich wieder am Fuß berührte. „Aber ich sollte trotzdem langsam gehen. Ich bin müde.“ Und ich wollte hier weg, einfach weil es mir mittlerweile unangenehm war hier zu sitzen.

„Erzählt bitte erst noch zu Ende“, bat Aric mich.

Ich wollte nicht. Das einzige was ich noch wollte, war, zurück in meinen Bett, in das Zimmer zu meinen Eltern, wo ich für mein Aussehen nicht verurteilt und beleidigt wurde. „Können wir das nicht ein anderes Mal machen? Es ist wirklich nicht mehr viel.“

„Dann kannst du es doch auch gleich erzählen“, warf Cio nicht sehr hilfreich ein. „Dann bring ich dich auch zurück zum HQ. Okay?“

„Aber …“

„Bitte, Zaira.“ Aric sah mich fest an.

Verdammt. Warum nur ließ ich sowas immer zu? „Okay, meinetwegen. Wo war ich stehen geblieben?“

„Als dein Vater an den Hof kam“, erinnerte Aric mich.

Ach ja, stimmt ja. „Also gut. Mein Vater kam in den Hof“, nahm ich den Faden wieder auf, und erzählte ihnen alles was ich noch wusste. Die Unsicherheit, der Zwiespalt und die folgenden Ereignisse, die die ganze Scharade ans Tageslicht gebracht hatten. Ich erzählte ihnen von der Jagd nach Markis Jegor Komarow und wie es dazu kam, dass Cayenne sich für Sydney entschieden hatte.

Die Aktionen, die meine Mutter gebracht hatte, als sie sich an meinen Vater gehängt hatte, brachten die beiden mehr als einmal zum Schmunzeln, doch als ich ihnen erzählte, wie meine Erzeugerin Papa ins Schloss bestellte hatte, um mich ihm zu übergeben und auch warum, waren da nur noch ernste Gesichter. Als ich dann zu dem Teil mit Kiara kam, wurden Cios Augen riesig und er konnte sich nicht länger zurückhalten.

„Kiara ist deine Zwillingsschwester?“, fragte er ungläubig und richtete sich auf den Unterarmen auf. „Aber wie …“ Er ließ den Satz offen, scheinbar wusste er nicht, wie er die Frage beenden sollte.

Ich zuckte nur hilflos mit den Achseln. „Wir sind zweieiige Zwillinge.“

„Das heißt …“ Als ihm die Bedeutung meiner Worte aufging, wurden seine Augen eine Spur größer. „Dein Vater, der Kerl mit dem finsteren Blick, ist auch Kiaras Vater?“

„Biologisch gesehen, ja.“

„Weiß sie es?“

„Sie war dabei, als Cayenne Aric alles erzählt hat, aber … ich glaube, sie versucht es zu verdrängen.“

Er hob die Hand und strich sich über den Kopf, als wollte er sich die Haare raufen. Dabei verschob er seine Mütze leicht und die kleine Narbe an seiner Schläfe kam wieder zum Vorschein. „Oh Mann“, sagte er. „Das ist scheiße.“

„Naja“, sagte ich mit einem bitteren Lächeln. „Man sieht ihr den Vampir nicht an. Sie konnte als das Golfkind im Rudel aufwachsen, wohingegen ich mich mein Leben lang verstecken musste. So schlecht hat sie es also gar nicht getroffen. Und Sydney ist für sie wie ein Vater, so wie meine Mama für mich eine Mutter; also Tarajika. Ihr hat es im Leben gewiss an nichts gefehlt.“

„Außer an der Wahrheit“, fügte Aric ein wenig grimmig hinzu.

Was sollte ich dazu noch sagen?

Cio seufzte. „Ich denke, diese Geschichte sollte diese vier Wände besser nicht verlassen.“

Dem würde ich sicher nicht widersprechen. „In zwei Tagen hat das sowieso keine Bedeutung mehr. Dann bin ich wieder weg und alles ist wieder beim Alten.“

Das kommentierte Aric mit einem verächtlichen Schnauben. „Klar, weil mit deinem Verschwinden auch die ganze andere Scheiße verschwindet“, sagte er bitter.

Ich senkte betroffen den Blick. „Es tut mir leid. Ich hatte nie vorgehabt, euer Leben ins Chaos zu stürzen. Ich wollte Cayenne nur mal kennenlernen.“

Aric hob den Blick zu mir. „So habe ich das nicht gemeint“, erklärte er so sanft, wie ich ihn noch nie hatte reden hören. „Du kannst dafür genauso wenig wie ich. Es war meine … unsere Mutter, die daraus ein großes Geheimnis gemacht hat.“

„Aber doch nur, weil sie dich und Kiara beschützten wollte“, traute ich mich zu sagen. „Sie wollte euch nicht verletzten.“

Er sah mich schweigend an und seufzte dann. „Vielleicht“, war alles, was er dann noch zu diesem Thema beizutragen hatte, bevor er seine Beine auf den Boden stellte. „Komm, ich bringe dich zurück zu deinen Eltern.“

„Ich mach das schon.“ Cio sprang so schnell aus dem Bett, dass Aric gar nicht die Gelegenheit bekam, aufzustehen. Er reichte mir meine Schuhe, schlüpfte in seine eigenen und stand dann erwartungsvoll an der Tür. „Kommst du nun, oder willst du hier pennen.“ Er wackelte mit den Augenbrauen. „Pyjamaparty. Dann können wir es uns so richtig gemütlich machen.“

Aber sicher doch. Am besten noch mit seiner wütenden Freundin, die uns morgen früh Frühstück ans Bett brachte.

Wortlos schlüpfte ich in meine Schuhe und folgte Cio aus dem Zimmer, durch die Bedienstetengänge hinaus aus dem Schloss. Mehr als einmal bekam ich neugierige Blicke von ihm und ich wusste genau, dass ihm hunderte von Fragen auf der Zunge brannten, doch ausnahmsweise schwieg er, verabschiedete mich draußen nur noch mit einem Kuss auf der Wange, den ich kaum zur Kenntnis nahm und verschwand wieder in dem alten Gemäuer. Wahrscheinlich würde er jetzt Aric mit fragen über den Wahrheitsgehalt meiner Geschichte löchern. Mir sollte das nur recht sein, ich hatte genug für einen Tag. Ich wollte nur noch ins Bett.

Mittlerweile war es hier draußen ganz schön kalt geworden. Ich fröstelte bis in die Zehenspitzen. Die Nacht war trotz des sternenklaren Himmels dunkel. Hier gab es keine Laternen und so bemerkte ich die Person, die sich im Schutz der Bäume verborgen gehalten hatte erst, als sie mir mitten in den Weg trat.

Zuerst zuckte ich vor Schreck zusammen, weil das einfach unerwartete gekommen war, doch als ich sah, wer da stand, bekam ich wirklich schiss. Diesen mordlüsternen Blick hätte ich überall wiedererkannt.

„So, du glaubst also, dass du dich einfach so ungestraft an meinem Freund ranmachen kannst, ja?“

Ich schluckte und trat einen Schritt von Iesha zurück. Sie folgte sofort, weswegen ich gleich noch weiter zurück wich.

„Glaubst du hässliche Qualle wirklich, dass Cio sich für deine Speckschwarten interessieren würde? Oder überhaupt irgendein Kerl? Mit so einem Flittchen wie dir gibt sich doch kein Kerl freiwillig ab. Also was hast du gemacht, dass die beiden sich mit dir rumhängen? Hast du sie bestochen?“

Verdammt, warum rückte die mir so auf die Pelle? Ich wich weiter zurück, aber plötzlich war da eine Wand in meinem Rücken. Scheiße.

„Hast du ihnen Geld gegeben?“ Sie verengte die Augen. „Ich rede mit dir, Schlampe, also antworte gefälligst!“

Ich sah nach links und rechts, hoffte auf Hilfe, aber da war keiner. Verdammt, dieses Weib machte mir langsam richtig Angst. Wie sie mich anfunkelte. Bei der war im Kopf doch irgendwas kaputt.

„Oder was hast du gemacht? Die beiden würden sich doch niemals freiwillig mit dir abgeben.“

„Du bist doch psychisch gestört“, rutschte es mir über die Lippen. Großer Fehler. In ihren Augen loderte der Hass auf und im nächsten Moment packte sie mich in den Haaren, um meinen Kopf mit dem Gesicht voran gegen die Mauer zu klatschen. Das Glas der Brille brach, ein Splitter bohrte sich in meine Wange und ein Schrei des Schmerzes kam über meine Lippen.

Sie riss meinen Kopf zurück, wobei meine Brille zu Boden fiel und rammte mein Gesicht ein weiteres Mal gegen die Steinwand. Meine Haut riss auf und ich spürte, wie warmes Blut aus der Platzwunde an meinem Auge sickerte. Tränen sammelten sich in meinen Augen und liefen über meine Wangen. Die salzige Flüssigkeit brannte auf der Haut, als sie sie dort aufgeschürft. Der Schmerz war extrem, sowas hatte ich noch nie gefühlt und als ich versuchte meine Haare aus ihrem Griff zu befreien, packte sich mich im Nacken und drückte mich mit dem Gesicht voran in die dreckige Erde.

„Halt dich von meinem Freund fern, Schlampe“, zischte sie mir ins Ohr. „Sonst wirst du mich mal von einer anderen Seite kennenlernen. Hast du mich verstanden?“

„Ja“, wimmerte ich. Nein, ich war nicht stark, nicht bei sowas. Das war ich noch nie gewesen. Ich ging Konfrontationen lieber aus dem Weg, anstatt mich ihnen zu stellen, um solche Situationen zu vermeiden. Ich war einfach nicht fähig, mich zu wehren, aus Angst vor weiteren Schmerzen. Und so fest wie Iesha ihren Griff um meinen Nacken klammerte, bekam ich wirklich Angst, dass sie mir gleich das Genick brechen wollte.

„Und du wirst auch niemanden etwas von unserer kleinen Unterredungen hier erzählen, richtig?“ Sie bohrte die Fingernägel in meinen Hals und ich begann zu wimmern.

„Richtig?“

„Ich sage nicht“, versprach ich. „Ich verspreche es.“

„Das will ich für dich hoffen, du jämmerlicher Fleischberg.“ Sie drückte meinen Kopf noch fester in die Erde, bis mir die Luft klapp wurde. „Sonst lernst du mich von einer anderen Seite kennen.“

Der Tritt in den Bauch hätte mich eigentlich nicht wundern sollen und doch hatte ich nicht damit gerechnet. Vor Schmerz krümmte ich mich zusammen und hoffte, dass sie einfach verschwinden würde. Das tat sie auch, nachdem sie noch einmal auf mich gespuckt hatte. Erst dann ließ sie mich mit meinen Schmerzen alleine.

Ich weinte still in der Nacht, spürte wie Blut über mein Gesicht sickerte. Meine Wange fühlte sich ganz heiß an und der Schmerz in meinem Bauch wollte nicht so schnell verschwinden, wie ich es mir wünschte. Eigentlich wünschte ich in diesem Moment nur eines, nämlich dass ich auf meinen Vater gehört hätte und nicht mit Cio zu Aric gegangen wäre. Dann würde ich nun nicht hier liegen und mich damit bemühen müssen, langsam wieder auf die Beine zu kommen.

Wie zufällig streifte ich dabei mit der Hand meine Brille, oder das was davon übrig geblieben war. Ein kaputtes Gestell, mit einem zerbrochenen Glas. Das andere war ganz weg.

Sehr langsam arbeitete ich mich auf die Beine, hielt dabei meinen schmerzenden Bauch, wischte mir notdürftig Tränen und Blut aus dem Gesicht, um wenigstens ein bisschen zu sehen und fand noch langsamer meinen Weg ins HQ. Wie immer brannte hier noch überall Licht, auch wenn niemand zu sehen war. Keiner begegnete mir auf meinem Weg in den Keller, niemand war da der mich fragen konnte, warum ich weinte, oder warum da Blut war. Niemand, bis ich in das Zimmer meiner Eltern kam und dann einfach nur dastand.

Mein Vater schlief noch nicht. Natürlich nicht und als er mich so sah, bekam er wohl den Schreck seines Lebens. „Zaira.“ Er war sofort bei mir, nahm mein Gesicht vorsichtig in die Hände. „Scheiße, was ist mit dir passiert?“

Auch meine Mutter hatte sich im Bett aufgesetzt. „Oh nein, Donasie.“

„Ich … ich … ich bin gefallen. Auf meine Brille.“ Wie zum Beweis hielt ich das kaputte Gestell hoch.

„Willst du mich verarschen? Solche Verletzungen kommen nicht von einem Sturz! Du hast eine Platzwunde am Auge und deine Wange ist komplett aufgeschürft!“ Er wischte mir vorsichtig eine Träne von der Wange. „Das war dieser Junge, oder? Dieser Cio.“

„Nein, ich … ich bin wirklich gefallen. Cio hat damit nichts zu tun.“

Er glaubte mir nicht, ich sah es an seinem Blick, doch die Wahrheit würde er mir nicht entlocken können. Noch einmal wollte ich nicht Opfer von Ieshas Wut werden. „Gnocchi? Kannst du mal bitte Wasser und einen Lappen besorgen? Ich muss das hier erst sauber machen, bevor ich es heile.“

„Natürlich.“

„Und du setzt dich aufs Bett, bevor du mir noch umfällst.“ Die Worte waren streng ausgesprochen, doch während meine Mutter aus dem Raum flitzte, half mein Vater mir vorsichtig auf meinem Bett Platz zu nehmen. Flair kam sofort unter der Decke hervorgekrochen und winselte um Aufmerksamkeit, schließlich war ich ja so lange weg gewesen.

Papa hockte sich vor mich und drehte mein Gesicht vorsichtig ins Licht, damit er es besser sehen konnte. „Die Schrammen und die Platzwunde kann ich wegmachen, aber du wirst ein blaues Auge bekommen.“

„Das wird mir eine Lehre sein, in Zukunft besser darauf aufzupassen, wohin ich trete.“ Oder wem ich auf die Füße trat.

Mein Vater entdeckte den kleinen Glassplitter in meiner Wange und zog ihn vorsichtig heraus. Trotzdem zuckte ich zusammen. „Ich weiß dass du lügst“, teilte er mir mit. „Ich verstehe nur nicht warum.“

„Ich lüge nicht, ich bin wirklich gefallen.“

Er presste die Lippen zusammen, fixierte mich. „Na schön, in Ordnung, wenn du mir nicht die Wahrheit sagen willst, ich werde dich nicht zwingen. Aber glaub ja nicht, dass ich das einfach auf sich beruhen lassen werde.“ Mit dem Daumen wischte er mir noch eine Träne von der Wange und erhob sich dann. „Ich werde mal eben gucken, ob die hier irgendwo Schmerzmittel haben, dann kümmere ich mich um dein Gesicht. Du bleibst hier sitzen.“

Als wenn ich ein Interesse daran hätte, so irgendwo hinzugehen.

Mein Vater seufzte einmal und verließ dann das Zimmer. Dabei murmelte er etwas wie: „Ich wusste, dass sowas passieren würde.“

Ich nahm nur still Flair auf meinen Schoß und drückte sie vorsichtig an meinen schmerzenden Bauch.

Halt dich von meinem Freund fern, Schlampe, sonst wirst du mich mal von einer anderen Seite kennenlernen.

Das war wohl das erste Mal in meinem Leben, dass ich wirklich Angst vor einer anderen Person hatte und mir war nur eines zu deutlich bewusst: Iesha war gefährlich.

 

°°°°°

Der letzte Schliff

 

„Vielleicht ist sie ja wirklich nur gefallen“, überlegte meine Mutter leise, um mich nicht zu wecken. Weder ihr noch meinem Vater war bewusst, dass ich bereits seit zehn Minuten wach war und jedem ihrer Worte still und heimlich lauschte.

„Nein, sie lügt“, beharrte mein Vater auf seiner Meinung. Mit Zeigefinger und Daumen strich er sich nachdenklich über den gestutzten Bart. „Das mit dem Gesicht, okay, es ist unwahrscheinlich, liegt aber im Bereich des Möglichen. Aber was ist mit ihrem Bauch?“ Er ließ seine Hand sinken. „Sie hatte eindeutig Schmerzen, auch wenn sie es abgestritten hat.“

„Naja“, überlegte meine Mutter zögernd. „Vielleicht ist die ja …“

„Versuch mir jetzt nicht weiß zu machen, dass sie gleichzeitig aufs Gesicht und auf den Bauch gefallen ist. Sie verheimlicht uns etwas und ich werde den Grund dafür herausfinden.“

Mama seufzte. „Ach Ys-oog, vertrau deiner Tochter doch einfach. Sie ist fast erwachsen, sie wird wissen, was sie tut.“

Leider hatte meine Mutter damit unrecht. Ich wusste nicht, was ich hier tat. Ich wollte bloß nicht noch einmal von Iesha attackiert werden. Da war es doch besser einfach zu schweigen. Morgen um diese Zeit würde ich diesen Hof sowieso verlassen, dann brauchte ich mir um diese Wölfin auch keinen Kopf mehr zu machen. Ich müsste mich nur noch bis morgen von Cio fernhalten, dann würde alles wieder in Ordnung kommen.

Okay, vielleicht war das feige, aber ich war eben noch nie gut darin gewesen, mich Konfrontationen zu stellen. Zwar hatte mein Vater mir einige Abwehrtricks gezeigt, mit denen ich mich im Notfall verteidigen könnte, doch wie ich gestern feststellen musste, brachten sie mir in der Not nichts, einfach weil ich viel zu ängstlich war, um sie anzuwenden. Ich mochte Schmerzen eben nicht und ich mochte es auch nicht anderen Schmerzen zuzufügen.

Mein Vater seufzte. „Wenn ich doch nur wüsste …“

Der laute Knall, der aufschlagende Tür, ließ nicht nur mich und Flair zusammen zucken, sondern auch meinen Vater verstummen.

„Haaallooo Leute! Hier bin ich!“, kam es von dem achten Weltwunder dieses Planeten. „Hab ihr schon auf mich gewartet?“

Aller Augen im Raum – ja, auch die von Flair – richteten sich auf die eben noch geschlossene Tür, in der nun meine etwas schräge Cousine Alina stand und uns der Reihe nach aus violetten Augen anstrahlte – nein, das waren keine farbigen Kontaktlinsen, das war ihre echte Augenfarbe.

„Wo ist das Geburtstagskind?“ In knallig grünen Leggins und einem rot-blau gestreiftem Pullover, der so groß war, das er ihr bei jeder Bewegung von den Schultern zu rutschen drohte, ließ sie ihren Blick auf mich schweifen und runzelte leicht die Stirn. „Warum liegst du noch im Bett?“

„Weil ich gerade nichts besseres zu tun habe?“

„Aber natürlich hast du. Heute ist dein Geburtstag, es gibt jede Menge zu tun, also hopp, hopp, raus aus den Federn.“ Sie grinste mich unter ihren langen türkisen Haaren frech an – ja, wirklich, sie hatte türkisfarbene Haare. Zur Abwechslung von den langweiligen Grünen, die sie vorher hatte. „Oder ich komme kuscheln.“

„Na dann komm halt kuscheln.“

Das hätte ich wohl besser nicht gesagt. Samt Springerstiefel nahm sie Anlauf und warf sich mit einem Schrei halb auf mich, um mich dann lachend in eine atemnotbringende Umarmung zu ziehen.

Flair nahm hastig Reißaus und brachte sich am Fußende des Bettes in Sicherheit, während Onkel Tristan mit einem großen Kleiderbeutel über der Schulter zu uns rein schlenderte. Er hatte nur einen kurzen Blick für seine überdrehte Tochter übrig, legte dann den Kleiderbeutel über den nächsten Stuhl und begrüßte meine Eltern.

„A-li-na! Du erstickst mich gerade!“, protestierte ich kläglich.

„Ja, toll nicht?“

Nein, das war definitiv nicht toll. Ich schob sie so gut es ging von mir runter, rutschte dann so schnell wie möglich aus dem Bett, bevor sie noch mal auf so eine Idee kam.

Sie grinste mich an, stützte dabei ihren Kopf auf den linken Armstumpf – ja, Armstumpf. Alina hatte nur noch eine Hand. Niemand wusste was mit der anderen passiert war, sie war so schon zu Onkel Tristan und Tante Lucy gekommen. „Schön, wo du jetzt schon mal aufgestanden bist, lass uns loslegen.“

„Loslegen?“, fragte ich vorsichtig.

„Natürlich. Als erstes zeige ich dir mein Kleid, dann du mir deines. Und du musst mir Cayenne vorstellen und den Hof zeigen. Natürlich darfst du auch diesen Typen nicht vergessen.“ Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu. „Du weißt schon welchen.“

Na das war doch jetzt mal unauffällig gewesen. Zum Glück war mein Vater gerade in ein Gespräch mit Onkel Tristan verwickelt. Da konnte ich wenigstens hoffen, dass er das nicht mitbekommen hatte. „Darf ich vorher noch duschen gehen, oder muss ich stinkend den Tag bestreiten?“

„Okay, Duschen ist in Ordnung. Ich gehe derweilen mit Flair eine Runde raus.“ Sie schnappte sich meinen überraschten Hund, bevor der auch nur die Gelegenheit bekam, wegzurennen und schlenderte mit wippendem Haar zur Tür. „Und mach dir die blaue Farbe aus dem Gesicht. Das sie sieht ja aus, als wenn du ein blaues Auge hast.“

„Vielleicht weil das eines ist?“

Sie wirbelte herum. „Das ist ein blaues Auge? Aber wie … nein, warte, erzähl mir das nachher. Jetzt gehst du erst mal duschen.“ Und schon war sie weg.

Jup, das war meine etwas durchgeknallte Cousine Alina in ihrer ganzen Pracht.

Von hinten legte mein Vater mir ein Arm um meine Schultern und gab mir einen Kuss auf die Wange. „Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz.“

Auch von Mama und Onkel Tristan gab es Glückwünsche. Und sogar ein kleines Geschenk. Die neuste Vision von WoW. Ich sprang fast an die Decke vor Freude und am liebsten hätte ich es gleich ausprobiert, doch ich wusste genau, dass Alina nicht lange warten würde. Und da ich keine Lust hatte von ihr aus der Dusche gezerrt zu werden, kramte ich meine Ersatzbrille aus meine Reisetasche und machte mich eilig auf den Weg. Dabei versuchte ich alles was gestern geschehen war aus meinem Kopf zu verdrängen. Ein kleines Liedchen auf den Lippen half dabei ganz gut und so machte ich mich schon bald frisch geduscht auf den Rückweg ins Zimmer.

Doch als ich dort ankam, blieb ich sofort vor Schreck stehen. Das war ein Anblick, mit dem ich absolut niemals nicht in meinem Leben gerechnet hätte.

Da auf meinem Bett saß Cio und grinste mir entgegen. Aric lehnte neben ihm an der Wand und auch von ihm bekam ich ein Lächeln, wenn auch weitaus vorsichtiger und zurückhaltender. Er wusste wohl noch nicht recht, was er mit der neuen Schwester anfangen sollte. Oder was diese ganze Geschichte für ihn bedeutete. Es war schließlich gerade mal einen halben Tag her, dass er die größten Geheimnisse dieses Hofes erfahren hatte, damit musste er jetzt erst mal zurechtkommen.

„Was macht ihr den hier?“, kam es überrascht über meine Lippen. Ein Geburtstagsständchen wollten sie mir sicher nicht bringen.

„Meine Mutter schickt uns dich zu holen.“

„Dein ganz persönlicher Abholservice, sozu…“ Cio stockte und runzelte die Stirn. „Ist das ein blaues Auge in deinem Gesicht?“

„Ähm …“ Ich warf einen vorsichtigen Blick zu meinem Vater, der die Szene ganz genau beobachtete. Er glaubte wohl immer noch nicht daran, der der junge Umbra unschuldig war.

„Das hattest du aber gestern noch nicht, als du gegangen bist“, musste Aric seinen Senf auch noch dazu geben.

„Ähm … nein. Das ist auf dem Rückweg passiert. Es war so dunkel und da bin ich gestolpert und hingefallen.“

„Aufs Auge?“ Cio klang genauso ungläubig wie mein Vater.

„Ich hatte eine Brille auf“, sagte ich leichthin und zuckte die Schultern. „Ist halt passiert.“

Dieser Blick. Die beiden glaubten mir genauso wenig wie jeder andere, dem ich diese Geschichte auftischte. Irgendwie war das frustrierend. So schlecht war die Story ja nun auch wieder nicht.

Aric zog seine Brauen leicht zusammen, sagte aber nichts weiter zu diesem Thema. Stattdessen drückte er sich einfach von der Wand ab. „Gut, dann lass uns gehen.“

„Okay.“ Ich packte noch meine Sachen auf den Tisch – langsam sah es hier aus wie in meinem Zimmer Zuhause, aber bei weitem noch nicht so schlimm wie bei Cio – gab meinen Eltern zum Abschied noch einen Kuss auf die Wange und verschwand mit den beiden Jungs nach draußen auf den Korridor.

Cio lief vor mir die metallene Treppe hinauf und grinste zu mir runter. „Wusstest du eigentlich dass ein Mädchen mit verschimmelten Haaren deinen Hund hat?“

Verschimmelte Haare? O-kay. „Das ist meine Cousine Alina.“

„Ah, das neugierige Quietscheentchen vom Telefon. Ich erinnere mich.“ Er erreichte das Erdgeschoss. „Ich hätte sie mir nicht so … so … naja, so vorgestellt.“

„Du meinst so schrill?“ Ich schmunzelte. „Hast sie wohl eher für eine Barbie gehalten, die nichts als heiße Kerle im Kopf hat.“

„Also wenn ich ehrlich bin, ja!“

„Ich finde sie seltsam“, kam es von Aric, als wir den Korridor zum Ausgang runterschlenderten.

Cio grinste. „Aber auch nur, weil sie dir gesagt hat, dass deine Frisur komisch aussieht.“

Sofort strich Aric sich über sein Haar und machte ein finsteres Gesicht. „Nein, ich finde sie einfach nur seltsam.“

„Aber sicher doch“, spottete Cio.

Aric richtete seinen Blick auf mich. „Sie ist deine Cousine, das heißt, dass ich … also, bin ich mit ihr verwand?“

„Du meinst, ob sie auch deine Cousine ist?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Sie ist nur vom Sagen her meine Cousine. Mein Onkel und meine Tante haben sie Adoptiert als sie noch klein war. Und, naja, sie sind auch nicht wirklich mein Onkel und meine Tante. Das ist ein bisschen kompliziert.“

Weder Cio noch Aric schien das zu verstehen, aber ich hatte jetzt auch keine Lust das näher zu erklären. Den Kern der Frage hatte ich beantwortet, Alina war weder mit mir noch mit ihm Blutsverwandt.

Ein paar Themis kamen uns geschäftig entgegen und verschwanden gleich darauf in der Hauptzentrale. Um diese Zeit war hier immer viel los. Es schien, als gäbe es immer reichlich zu tun.

Mitten beim Laufen drehte Cio sich zu mir um und legte den Rückwärtsgang ein – na hoffentlich knallte er nicht mir jemand zusammen. „Wie alt bist du heute eigentlich geworden?“

„Zwanzig.“

„Zwanzig?“ Er pfiff durch die Zähne. „Dann bist du ja älter als ich.“

Ach ja? „Wieso? Wie alt bist du denn?“

„Ich bin seit zwei Monaten stolze neunzehn, also noch jung und knackig, wohingegen du jetzt schon zur Antike gehörst.“

Das brachte ihm einen giftigen Blick ein.

„Aber hey, alt sein ist nicht schlimm, da kann man mit seiner Erfahrung aufwarten.“ Er zwinkerte mir zu. „Erfahrende Frauen haben auch was für sich.“

Was konnte ich an der Stelle noch anderes tun als die Augen zu verdrehen? Genau, gar nichts.

„Als wenn du da mitreden könntest“, kam es da von Aric.

„Das hab ich nie behauptet. Ich rede hier aus deinem Erfahrungsschatz.“ Cio ging ein paar Schritte vor, um mir die Tür aufzuhalten.

Ich nuschelte nur ein „Danke“ und huschte dann eilig an ihm vorbei. Dabei konnte ich nichts dagegen tun, dass mein Blick in die Richtung schnellte, in der ich in der Nacht auf Iesha getroffen war und mein Wangenknochen bei der Erinnerung wieder anfing unangenehm zu prickeln.

Als Cio dann vor Aric aus dem HQ trat, machte ich eilig ein paar Schritte zur Seite, weg von ihm. Es war mir klar, dass es sehr unwahrscheinlich war, dass Iesha genau in diesem Moment hier auftauchen würde, aber ich wollte nichts riskieren. Lieber hielt ich Abstand, als noch mal so etwas zu erleben.

„Zaaaiiiraaa!“, rief mich ein zartes Stimmchen quer durch den Vorgarten, sodass es wahrscheinlich noch unten in Silenda zu hören gewesen war.

Ich war nur eine von ungefähr hundert Leuten in diesem Hof, die sich nach meiner Cousine umdrehten, die wild winkend auf sich aufmerksam machte. Und ich war auch nicht die einzige, die sich seufzend auf den Weg zu ihr machte. Ehrlich, ich liebte meine Cousine über alles, aber manchmal wünschte ich mir, dass sie ein kleinen wenig Zurückhaltung zeigen würde. Nur manchmal, aber es kam vor.

Aus einer kleinen Gruppe vor dem Portal, unter denen ich auch Sydney, Graf Samuel und Kiara erkannte, löste sich meine rothaarige Tante Lucy und nahm Kurs auf ihre Tochter. Cayenne war nicht unter ihnen.

Flair kam freudig auf mich zugerannt, als ich mich ihnen näherte. Immer näher, nur um im letzten Moment dann an mir vorbei zu sausen und Aric lautstark zu verbellen. Ich grinste. Sie mochte ihn wohl immer noch nicht. „Sie nimmt es dir noch übel, dass du sie am ersten Tag verspottet hast.“

Aric grummelte etwas Unverständliches, als ich zu meiner Tante und meiner Cousine trat. Sofort richtete Lucys Blick sich auf mich. „Ich hab mich doch nicht geirrt, oder?“, begann sie ohne große Vorreden, oder gar einer Begrüßung. „Vor ein paar Tagen, als ich auf dem Weg zum Gifthaus war. Ich hätte schwören können, deinen Geruch wahrgenommen zu haben.“ Ihre Augen funkelten amüsiert.

„Ich saß im Gebüsch“, gab ich etwas verlegen zu.

Ihr Mundwinkel zuckte. „Dann funktioniert meine Nase also doch noch. Und ich habe schon an mir gezweifelt. Egal. Alles Gute zum Geburtstag, jedenfalls.“ Sie drückte mir die Schulter und sah dann ihre Tochter streng an. „Und du benimm dich, solange wir hier sind.“

Alina sah beleidigt aus. „Warum nur sagst du mir das ständig? Ich benehme mich doch immer, oder?“

Das wurde von Lucy nicht weiter kommentiert. Sie warf ihr nur noch einen mahnenden Blick zu, nickte dem Prinzen kurz zu und gesellte sich dann wieder mit wehenden Haaren zu der kleinen Gruppe vor dem Portal.

Ich war nicht die einzige, die ihr hinterher sah. Auch Cio und Aric schauten zum Portal. Aber nicht wegen meiner Tante, sondern wegen Kiara, die fröhlich lachend neben Sydney hockte und einen Arm um seinen pelzigen Hals schlag, um ihn an sich zu drücken. Sie machte den Eindruck, als wäre der gestrige Abend niemals geschehen.

Sydney erwiderte unsere Blicke und wirkte ziemlich bekümmert, als Aric sich demonstrativ abwandte und stattdessen in die andere Richtung schaute. Da lag noch so einiges im Argen.

Lange konnten mich diese Gedanken nicht ablenken, denn Alina forderte sofort meine Aufmerksamkeit zurück. „Also los, erzähl, woher hast du das blaue Auge?“

„Ich bin gestern auf die Nase gefallen.“

Meine Cousine verdrehte genervt die Augen. „Hallo? Könntest du mir mal die Wahrheit sagen? Oder glaubst du, ich renne gleich zu deinem Vater und erzähle ihm alles?“

Natürlich würde sie das nicht machen. Ich hielt es trotzdem für sicherer zu schweigen.

Ihr Blick fiel auf Aric und Cio. „Hallo? Tom und Jerry? Könntet ihr euch mal verziehen?“ Sie wedelte vor ihnen mit der Hand herum, als versuchte sie eine lästige Fliege zu verscheuchen. „Das hier ist ein Frauengespräch, Katzen und Mäuse sind nicht zulässig.“

„Katzen und Mäuse?“, fragte ich etwas irritiert.

Cio grinste. „Sie hat uns mit den überaus einfallsreichen Namen Tom und Jerry bedacht. Ich bin Jerry.“

Und das schien ihn auch noch zu freuen.

„Ja, genau, Jerry mit der Glatze unter der Mütze und Tom mit der seltsamen Frisur.“

„Und das von einem Mädchen, dessen Haare aussehen, als läge da etwas Totes und halb verwestes auf ihrem Kopf“, konterte Cio mit einem Grinsen.

„Wenigstens habe ich noch Haare und jetzt. Kusch, ab mit euch.“

„Geht nicht“, erwiderte Aric ruhig. „Wir sind gerade dabei Zaira zu meiner Mutter zu bringen.“

„Zur Königin?!“ Alina quietschte richtig vor Freude und hakte sich dann sofort bei mir ein. „Na, dann, worauf wartet ihr noch? Bringt uns zur Königin.“

War ja klar gewesen. Hätte mich auch gewundert, wenn es anders gewesen wäre.

„Ich glaube nicht …“, begann Aric.

„Ich komme mit.“ Sie durchbohrte ihn mit einem strengen Blick.

Oh Mann. „Gib es gleich auf, Alina lässt sich nicht mehr abschütteln. Außerdem weiß sie sowieso über alles Bescheid.“

Alinas freches Grinsen wurde von Aric mit einem misstrauischen Blick kommentiert, so als wollte er fragen: „Sie wusste das also auch vor mir?“

Und Cio schien es entweder nicht zu peilen, oder er überging es einfach. „Na dann kommt mal in die Gänge. Wenn wir vor Cayenne im Salon sind, dann kann ich mich wieder über ihre Süßigkeiten her machen.“

Und schon waren wir auf dem Weg.

„Wir gehen aber gar nicht in den kleinen Salon“, merkte Aric an, und schaute noch mal zu Kiara rüber, die Sydney noch immer mit einer Umarmung verabschiedete. Sie schien sich auf die Wochen mit ihrem Großcousin zu freuen.

„Stimmt ja.“ Cio schlug sich gegen die Stirn. „Sie will dich ja dieses Mal im Ballsaal sehen.“

„Ballsaal?“ Alina horchte auf, ließ mich einfach stehen und huschte eilig nach vorne an Cios Seite. „Wir gehen in einen Ballsaal? Also in so einen richtig echten?“

Eilig hastete Flair an uns vorbei und übernahm die Spitze unserer kleinen Gruppe. Sie kannte den Weg gut genug, waren wir ihn in den letzten Tagen schließlich oft genug gegangen.

Als wir der Schlossecke näher kamen, bemerkte ich meinen Vater. Erst glaubte ich, dass er mir hinterher gekommen war, weil ich etwas vergessen hatte, doch dann bemerkte ich, dass sein Blick nicht auf mich gerichtet war, sondern auf die kleine Gruppe vor dem Portal.

Zum ersten Mal fragte ich mich, wie es wohl für ihn war, eine Tochter zu haben, die nicht einmal wusste, dass er existierte. Mein Vater war ein Familienmensch. Es war sicher nicht leicht für ihn, Kiara dort zu sehen, wie sie Sydney an sich drückte.

Ich schenkte ihm im Vorbeigehen ein Lächeln und hoffte, dass es ihn ein kleinen bisschen aufmuntern würde, doch als wir abbogen und langsam auf die Stelle zugingen, an der Iesha mir aufgelauert hatte, machte sich ein mulmiges Gefühl in meinem Magen breit.

Es war albern, das wusste ich. Natürlich würde Iesha da nicht warten, um mir erneut ihren Standpunkt klarzumachen, trotzdem konnte ich nichts dagegen tun, das meine Schritte langsamer und mein Herzschlag ein wenig schneller wurden. Auch nicht, dass ich meinen Blick wachsam über die Umgebung wandern ließ und mich so darauf konzentrierte, dass ich weder hörte, was Alina und Cio da besprachen, noch merkte, wie Aric sich an meine Seite zurückfallen ließ. Erst seine Berührung an meinem Arm ließ mich aufmerken. Naja, besser gesagt, sie ließ mich heftig zusammenzucken und ihn dann mit großen Augen anstarren.

„Es war Iesha, oder?“, fragte er leise, ohne dass die anderen ihn hörten und bedachte mich dabei durchdringend mit seinen Wolfsaugen. „Iesha hat dir das blaue Auge verpasst.“

„Was?!“ Okay, das war eindeutig etwas zu schrill gewesen und jetzt auch noch in nervöses ichern auszubrechen, war auch nicht unbedingt von Vorteil – toll, Zaira, das ist wirklich unauffällig. „Wie kommst du den darauf? Ich bin hingefallen, das hab ich doch schon gesagt.“

Sein Blick wurde so bohrend und durchdringend, dass ich mich darunter am liebsten gewunden hätte. Hoffentlich hörte er mein schnell schlagendes Herz nicht.

Aric seufzte. „Ich glaub dir nicht“, ließ er mich wissen. „Ich kenne Iesha und weiß wie sie tickt.“

Mist, ich musste ihn unbedingt von diesem Gedanken abbringen. „Ich hab doch schon gesagt, dass sie mich nicht …“

„Versprich mir einfach, dass du dich von ihr fernhältst“, fiel er mir in Wort. „Geh ihr möglichst aus dem Weg.“

An mir sollte es sicher nicht liegen, denn auf eine erneute Begegnung mit ihr hatte ich definitiv keinerlei Interesse. „Ich wüsste zwar nicht was das bringen sollte, aber bitte, ich verspreche es. Und wenn …“

„Zaira!“

Alarmiert sah ich zu Alina. „Was?!“

„Er ist das?!“ Anklagend zeigte sie auf Cio.

„Er ist was?“, fragte ich etwas verwirrt.

„Na das!“ Sie packte sein Handgelenk und hielt es hoch. Und ich wusste sofort, worauf Alina hinaus wollte.

Ich kniff die Augen leicht zusammen. „Wie war das mit, ein Gentleman lächelt und schweigt?“

„Ich hab nur gesagt, ich lächle und schweige, wenn sie jemand sieht. Aber wenn deine Cousine hier von einem hammerharten Typen schwärmt, der dich …“

Ich machte einen Satz nach vorne und klatschte ihm die Hand vor den Mund. „Lächeln und schweigen, Cio, lächeln und schweigen.“

Lächeln tat er, aber das war nicht das einzige. Er streckte auch die Zunge raus und leckte mir äußerst feucht über die Handfläche.

„I-gitt!“ Hastig riss ich den Arm zurück und wischte die Hand angeekelt an meiner Hose ab. „Manchmal bist du echt widerlich.“

Er grinste nur.

Aric lief kopfschüttelnd an uns vorbei und öffnete mit einem Schlüssel die Tür zum Seiteneingang. „Kommt schon, meine Mutter wartet sicher bereits. Und ich hab auch noch einiges zu tun, da Mama ja damit beschäftigt ist den Ball für heute Abend vorzubereiten.“

Der Ball, genau. Mein Maskenball, mein Geburtstagsgeschenk. Ich grinste wie ein Smiley, als ich mich eilig an ihm vorbei schob, nur um nach ein paar Metern stehen zu bleiben, weil ich keine Ahnung hatte, wo lang ich eigentlich gehen musste. Zum Glück erlöste Cio mich sogleich aus meiner Unwissenheit und führte uns unbeirrt ans Ziel.

 

°°°

 

Cio öffnete die Tür vor uns mit einer übertriebenen Verbeugung und entließ uns mitten ins Chaos. Nein, das war in keinster Weise übertrieben. Überall wuselten Leute geschäftig hin und her, dekorierten Decken und Wände mit Girlanden, stellten auf der erhöhten Ebene, die über drei Seiten des riesigen Saal verlief, Tische und Stühle auf, um sie anschließend mit feinstem Porzellan und Kristall zu bestücken. Natürlich durften dabei auch nicht die Kerze und das kleine Blumenbukett fehlen.

Es wurde gewienert, gebohnert, gewischt und gefegt, um auch das letzte unerwünschte Staubkörnchen zu beseitigen.

Ein fülliger Mann, mit kleinen Schweinsäuglein stand mit einem dicken Klemmbrett mitten auf der Tanzfläche und koordinierte dieses durchorganisierte Chaos bis ins kleinste Detail. Er rief Befehle und Anweisungen und schien kurz vor einem Herzinfarkt zu stehen, als einer der Helfer einen der Lampignons fallen ließ.

Zu meiner Rechten, die einzige Seite, die nicht von der äußeren, erhöhten Ebene eingenommen wurde, führten drei säulenartige Marmorbögen in einen weiteren Saal, den ich von meinem Standpunkt aus nicht richtig einsehen konnte.

Links war die Außenwand von einer gläsernen Front eingenommen, die einen prächtigen Blick hinaus in den Garten gewährte. Wenn er in voller Blüte stand, dann musste er wunderschön aussehen.

„Das ist ja der reine Wahnsinn!“, quietschte mir Alina begeistert ins Ohr. „Und das ist wirklich alles für dich?!“

Sofort wurde sie von allen Seiten angezischt ruhig zu sein und Aric klatschte ihr zur Sicherheit sogar die Hand auf den Mund. „Ist die der Begriff Geheimnis geläufig?“

„´tschuldigung“, nuschtelte sie zwischen seinen Fingern hindurch, machte sich dann aber von ihm frei, als wie die kristallenen Kronleuchter unter der Decke entdeckte. „Oh, Zaira, guck dir die an, wie schön die funkeln.“

„Mädchen und Glitzerzeig“, schmunzelte Cio und griff nach meiner Hand. „Komm, Cayenne ist im Thronsaal.“ Und schon zog er mich die sieben Stufen von der erhöhten Ebene herunter, auf die Marmorbögen zu.

Cayenne entdeckte ich sofort vor dem Podest mit dem Thron. Und auch die Wächter, mit denen sie gerade sprach. Fast im gleichen Moment rutschte mir das Herz in die Hose. Unter ihnen befand sich zu meinem Schrecken auch Iesha in der gleichen schwarzen Uniform. Sofort, noch bevor sie mich entdecken konnte, hatte ich mich von Cio losgerissen und tat so, als müsste ich ganz schnell Flair auf den Arm nehmen, weil es sehr unanständig von ihr war, an den Stufen zu schnüffeln. Zwar bekam ich von Cio und Alina einen freagenden, und von Aric einen wissenden Blick, aber ich tat einfach so, als würde ich es nicht bemerken, während ich Flair an mein wild schlagendes Herz presste. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, als wir auf Cayenne und ihre Leutchen zuliefen, zwang mich dazu Ieshas Anwesenheit zu ignorieren. Nur nicht zu ihr sehen und Abstand halten, dann würde alles gut werden.

Cayenne lachte grade über etwas, dass ein älterer Mann mit weißen Haaren gesagt hatte und entdeckte mich dann. „Ah, da ist sie ja. Zaira komm her, ich möchte dir jemanden vorstellen.“ Sobald ich in ihrer Reichweite war, legte sie mir einen Arm um die Schultern und zog mich zu sich ran. „Zaira, das sind Edward Walker, Victoria Walker und Hardy Geisler, die Elite meiner Wächter. Eddy, das ist Zaira, die Tochter von meinem Bekannten, die sich zu ihrem Geburtstag gewünscht hat, eine Prinzessin sein zu dürfen.“ Lächelnd drückte sie mich an sich. „Und heute erfüllt sich dieser Wunsch.“

Ich ergriff die mir angebotene Hand von diesem Edward und lächelte, wie es mir schon von klein auf beigebracht wurde: ohne die Beißerchen zu zeigen. Dabei versuchte ich den Blick von Iesha, der sich mit in die Seite brannte, zu ignorieren, genau wie die Tatsache, dass Cio direkt zu ihr schlenderte. Hoffentlich interpretierte sie es nicht wieder falsch, dass ich mit ihrem Freund unterwegs gewesen war.

„Sie geht wirklich als Lykaner durch“, überlegte Eddy. „Zumindest vom Sehen. Ihr Geruch aber verrät sie.“

Nanu, die wussten dass ich ein Vampir war? O-kay. Hätte man mich darüber nicht vorher aufklären können?

„Ihre Augen nicht“, fügte dieser Hardy hinzu. „Ich hab noch nie einen Vampir mit so normalen Augen gesehen.“

Was vielleicht daran liegen konnte, dass ich gar kein Vampir war. „Gendefekt“, murmelte ich.

Hardy runzelte die Stirn. „Ein Gendefekt, der nicht von den Heilkräften eines Vampirs kuriert werden kann?“

Ich zuckte die Schultern. Was hätte ich auch sonst tun sollen?

„Auf jeden Fall wird sie die Betawölfe täuschen können“, kommentierte Edward. „Zumindest solange, bis jemand ihre Witterung aufnimmt.“

„Wir werden mit Parfum arbeiten, das wird ihren natürlichen Duft gut genug überdecken“, erklärte Cayenne.

„Dann könnte es klappen“, überlegte Victoria. „Und solange sie ihre Fänge verborgen hält, wird kein Lykaner merken, dass sich unter ihnen ein Vampir befindet.“

„Hab ich doch gesagt“, erklärte Cayenne fast stolz und sah mich dann zum ersten Mal heute richtig an. Natürlich fiel ihr sofort auf, dass ich heute eine andere Brille auf meiner Nase zu sitzen hatte. Ach ja und auch dass ich ein blaues Auge hatte. „Ist das ein Veilchen?!“, fragte sie entsetzt.

„Ähm … ja“, druckste ich herum. Langsam wurde diese Fragerei echt unangenehm. Besonders, wenn Iesha daneben stand und jedes Wort mithören konnte. „Ich bin gestolpert und ungünstig gefallen. Meine andere Brille hat sich dabei irgendwie nicht mit meinem Gesicht vertragen.“ Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern und bekam fast Muskelkater bei dem verkrampften Versuch nicht zu Iesha zu spähen. Hoffentlich verriet mein überlauter Herzschlag mich nicht.

„Du musst aber sehr ungünstig gefallen sein“, bemerkte diese Victoria mit weicher Stimme. Sie musste mich für ziemlich tollpatschig halten.

In Cayennes Blick blieben Zweifel, aber sie sprach sie nicht aus und kehrte zum eigentlichen Thema zurück. „Ja, also, als richtige Prinzessin der Lykaner, brauchst du natürlich auch einen Umbra, der deinen Leib im Notfall schützt. Da ich aber alle verfügbaren Leute mit Samuel mitgeschickt habe und die Wächter heute Abend alle wegen dem Maskenball Dienst haben werden, hab ich mich entschieden …“

„Ich mach das“, warf Cio da von der Seite ein und sowohl Iesha, als auch ich, starrten ihn äußerst entsetzt an – wenn auch aus verschiedenen Gründen.

Aric verdrehte die Augen. „Cio, du bist mein Umbra.“

„Ach ja.“ Er kratzte sich übertrieben nachdenklich am Kopf, als müsste er dieses Problem gründlich von einer Seite auf die andere wälzen. „Kann ich tauschen?“

Von Iesha gab es ein Schlag auf dem Hinterkopf.

„Au-a!“, beschwerte er sich bei seiner Freundin und rieb sich die schmerzende Stelle.

„Danke Iesha“, kam es da von Cayenne. „Ich hätte es nicht besser machen können.“

Hinter mir lachte Alina und nahm dann den großen, goldenen Thron mit den Edelsteinen hinter uns genauer unter der Lupe. Sie würde doch nicht etwa … doch sie würde. Nach einem kurzen Blick zu Cayenne und den andren, grinste sie mich frech an und nahm auf dem Thron der Königin Platz, um dann in die Runde zu strahlen.

Aric seufzte genervt und versuchte sie wieder runterziehen, doch Alina wollte nicht und klammerte sich mit ihrer einen Hand fest.

Die Wächterfutzzis sahen es. Manchen guckten entsetzt, andere schmunzelten, nur Cayenne, die bekam davon nichts mit, weil sich das Drama in ihrem Rücken abspielte. Und ich tat so, als wüsste ich nicht, wer dieses überdrehte Mädchen war.

„Was ich eben hatte sagen wollen“, begann Cayenne von Neuem, „jede Prinzessin – auch eine für nur einen Tag – braucht einen Umbra, aber da ich zurzeit dafür keine Leute freistellen kann, habe ich mich entschlossen, dir einen der Rekruten der Wächter an die Seite zu stellen. Erst hatte ich ja überlegt Iesha zu nehmen, weil ihr beide euch schon kennt …“

Was? Iesha gehörte zu den Wächtern? Oh bitte nein. Wenn sie mich vor imaginären Feinden schützen sollte, wer schützte mich dann vor ihr?

„… aber Iesha möchte heute mit ihrem Hardy auf der Mauer Streife laufen, deswegen wird Ren-Shi heute Abend auf dem Maskenball dein Umbra sein.“ Sie deutete auf einen leeren Platz neben Hardy und runzelte die Stirn. „Wo ist er denn jetzt hin?“

Auch die anderen sahen wild umher.

Ich riskierte in der Zeit einen Blick über meine Schulter zum Thron, in der Annahme, dass Alina sich immer noch dagegen sträubte ihren Platz zu verlassen und sah stattdessen einen Jungen mit olivfarbener Haut, vor mir stehen, der mich aus warmen, braunen Augen anlächelte.

„Ah, da ist er ja“, sagte Cayenne. „Zaira, das ist Ren-Shi, dein Umbra für heute Abend.“

„Hey, freut mich dich kennen zu lernen.“ Seine Stimme hatte einen melodischen Klang, die gut zu ihm passte. Die schwarzen Haare fielen ihm keck um den Kopf und er hatte ein paar ansehnliche Muskeln vorzuweisen. Ich fand ihn ganz süß.

Ich setzte gerade zu einer Begrüßung an, als Cayenne verwirrt die Augenbrauen zusammen zog. „Was macht ihr denn da?“

Aha, jetzt hatte sie Alina und Aric also doch entdeckt, wie sie beide an ihrem Thron rumhampelten.

„Ich wollte nur mal gucken, wie bequem so ein Thron ist“, sagte Alina frei heraus. „Und er versucht mir deswegen meine noch verbleibende Hand abzureißen.“

„Tu ich gar nicht!“, protestierte Aric sofort. „Du hast da drauf nur nichts zu suchen.“

„Und das hättest du mir nicht einfach sagen können?“ Sie pustete sich eine türkisen Strähne aus den Augen und stand dann äußerst würdevoll auf.

Nicht lachen, nicht lachen, auf keinen Fall lachen! Gott, wie schaffte dieses Mädel es nur immer Blödsinn zu machen und dann andere dumm dastehen zu lassen? Das musste ein Talent sein.

Aric stand da und wusste scheinbar nicht, was er von so viel Dreistigkeit halten sollte. Nein, er war nicht der erste, den sie sprachlos bekommen hatte.

„Cayenne, darf ich vorstellen, das ist meine Cousine Alina.“

Alina strahlte meine Erzeugerin begeistert an und schüttelte ihr dann die Hand. „Tachchen, freut mich Sie kennen zu lernen. Ich hab schon so viel über Sie gehört, aber mal ehrlich, Sie sehen gar nicht so hochnäsig aus, wie die Leute immer behaupten.“

Oh Gott, bitte mach dass der Boden sich auftut und mich einfach verschluckt.

„Ähm … danke. Das ist …“

Seitlich von uns klickten Wolfskrallen. „Cayenne?“ Dem Wort folgte die riesige Wolfsgestalt von Sydney. Er war gerade aus der Eingangshalle gekommen. Die Tür zum Thronsaal stand weit offen. „Frederik und Madam Laval warten im roten Raum. Madam Laval ist sehr ungehalten. Ne pas avoir le temps." 

Hörte ich da etwa eine Spur von Spott aus seiner Stimme?

„Ja, ich komme gleich, ich …“

„Cayenne?!“, wurde meine Erzeugerin da aus einer anderen Richtung gerufen. Diesem mal von Diego, der mit langen Schritten zu unserer kleinen Gruppe stieß. „Lord und Lady Baldowers sind gerade eingetroffen und wünschen von dir persönlich begrüßt zu werden. Und dann wünschen sie ein Zimmer, in dem sie sich bis zu den Feierlichkeiten ausruhen können.“

„Und ich wünschte, Gäste würden sich an die Einladung halten.“ Sie seufzte. „Okay, Sydney, könntest du dich bitte in meinem Namen Lord und Lady Baldowers kümmern und ihnen mitteilen, wohin sie sich ihre Wünsche stecken können, wenn sie schon nicht die Uhr lesen können?“

Er senkte leicht den Kopf. „Dein Wunsch ist mir wie immer Befehl.“ Seine Stimme klang überaus amüsiert. Dann trottete er auch schon davon.

„Gut, dann, Diego, kannst du mit Eddy und den anderen bitte die Dienstpläne und Organisation der Wächter heute Abend durchgehen? Höchste offene Sicherheitsstufe, ich will auf der Feier keine Zwischenfälle. Wer ärger macht, fliegt sofort vom Gelände. Auf pöbelnde Betawölfe, habe ich heute überhaupt keine Lust.“

Diego nickte.

„Okay, danke und Cio?“

„Ja?“

„Bitte setzt dich mit Ren-Shi zusammen und erklär ihm wie ein Umbra sich in Anwesenheit so vieler hoher Wölfe zu verhalten hat. Sag ihm was seine Aufgaben sind, was er zu tun und zu lassen hat und … gib ihm einfach einen Umbra Crashkurs.“

„Ich darf Mentor spielen?“ In seinen Augen blitzte der Schalk. Fehlte nur noch, dass er sich in freudiger Erwartung die Hände rieb. „Das wird sicher lustig.“

„Das ist eine ernste Angelegenheit, Cio“, ermahnte Cayenne ihn. „Wenn er einen Fehler macht, dann fällt das auf dich zurück, verstanden?“

Cio schlug die Hacken zusammen und salutierte übertrieben vor seiner Königin. „Verstanden Sir, General Drill Instructor Sir!“

Das Seufzen, das Cayenne von sich gab, konnte ich ihr nachfühlen. „Gut, na dann, komm Zaira, eine Madam Laval lässt man nicht warten, nicht wenn wir ne pas avoir temps."

„Du kannst französisch?“, staunte ich.

„Ein wenig“, gab sie zu und schob mich an den andren vorbei, in den linken Ballsaal. Genau wie der rechte, war er durch drei bogenförmige Säulen mit dem Thronsaal verbunden und wenn es möglich war, herrschte dort noch größerer Betrieb, als im Rechten. „Als Königin muss man sowas können.“

„Hey wartet auf mich!“ Von hinten stürmte Alina heran und hakte sich grinsend bei mir ein.

„Und was heißt jetzt ne pas avoi-i-irgendwas?“

Cayenne schmunzelte und führte uns die wenigen Stufen zu der erhöhten Ebene hinauf. „Es bedeutet, dass wir keine Zeit haben. Das ist Camilles Lieblingsspruch. Nur deswegen kenne ich ihn.“ Sie zwinkerte mir zu, brachte uns zu einer unscheinbaren Tür an der Seite und ließ uns zuerst in den Raum dahinter. O-ha, jetzt verstand ich auch, warum Sydney das als den „Roten Raum“ bezeichnet hatte. Hier sah es aus wie in einem kleinen gemütlichen Wohnzimmer, nur das die Fernseher fehlten. Und die Stereoanlage. Und ein Regal. Okay, außer einer gemütlichen, roten Sitzecke mit passendem Tisch gab es hier gar nichts. Außer dem roten Teppich und den roten Wänden und der roten Decke. Gott, Cayenne sollte sich dringend einen neuen Innenarchitekten besorgen.

„Das ist ja geil“, kam es von Alina. „Ich glaube das mache ich auch mit meinem Zimmer.“

Und Alina sollte sich dringend etwas gegen ihre Geschmacksverirrung besorgen.

In der Ecke hing ein mannshoher Spiegel, neben einer weiteren Tür. Mitten im Raum stand ein verlorener Stuhl und der Tisch war überlaufen mit Kosmetikern und Pflegeprodukten. Direkt daneben stand eine verhüllte Schneiderpuppe, von der ich mir schon sehr genau denken konnte, was sie verbarg.

„Da seid ihr ja endlich!“ Von der Seite wurde ich plötzlich am Arm gepackt und ohne Rücksicht auf Verluste weiter in den Raum gezogen. Zwei flinke Hände drapierten mich genau vor dem Tisch, nahmen mir Flair aus dem Arm und dann wurde ich ausgiebig gemustert. „´ast du nur ´ässliche Brillen?“ Madam Laval schnipste mit den Fingern und aus der Ecke kam eine kleine Blondine mit blauer Strähne angerannt. „Sie´ Veronique, die ´aare, und … parbleu! Ist das etwa ein blaues Auge? Mon Dieu, warum nur ´eute? Ce n`est pas possible. Königin Cayenne!“ Sie wirbelte zu meiner Erzeugerin herum. „Warum tut Ihr mir sowas an? was ´ab isch Euch getan?“

Diese Veronique winkte ab. „Halb so schlimm, Camille, das bekomme ich hin, und was die Haare angeht, hm …“ Sie umrundete mich einmal, zupfte hier an einer Strähne und dort an einem Haar. „Was hältst du von Extensions?“

„Ähm … gehen die Haare davon nicht kaputt?“

„Ach-i wo. Du musst sie nur ein bisschen anders pflegen, als bisher. Ich kann dir natürlich auch ein Haarteil geben, aber …“

„Sowas wie ein Toupet?!“, kam es entsetzt von Alina. „Oh nein, da machen wir nicht mit. Zaira will die Extensions.“

„Ach, will ich das?“

„Aber sowas von“, behauptete Alina und Flair kläffte in dem Moment auch noch. „Siehst du, dein Hund stimmt mit zu.“

Der Meinung war ich zwar nicht, aber okay, ich sagte nichts. „Gut, dann Extensions und … ach macht einfach mit mir was ihr wollt, schlimmer kann es nicht werden.“

Ganz langsam breitete sich auf Veroniques Gesicht ein Lächeln aus. „Genau das wollte ich hören.“ Sie rieb sich die Hände. „Komm, wir machen aus dir jetzt eine richtige Prinzessin.“

„Aber der Unterricht, sie kann noch immer nicht in den Schuhen laufen“, kam es da vom Sofa.

Ach Fred war ja auch hier und Veroniques Beschluss schien ihn nervös zu machen.

„Non“, sagte Camille da sofort. „Erst sind wir dran. Die ´aare, das Make-up, das Kleid. Veronique, hast du an die Kontaktlinsen gedacht?“

„Aber natürlich. Die liegen schon auf dem Tisch.“

„Aber ich muss ihr noch zeigen, wie sie sich bewegen muss“, protestierte Fred. „Und tanzen und …“

„Tanzen!“, kam es da entsetzt von Cayenne. „Scheiße, ich wusste das ich was vergessen hatte. Der Tanzunterricht!“

Scheiße? Nicht schlecht für eine Königin. „Keine Sorge, ich kann Tanzen, ich habe Unterricht gehabt“, versuchte ich sie zu beruhigen.

„Wirklich?“, fragte sie hoffnungsvoll. Sie hatte ja irgendwo recht. Auf einen Ball zu gehen, ohne tanzen zu können, wäre wirklich … nun ja, scheiße.

„Ja, das hab ich dir doch erzählt. Ich hab getanzt, sogar über ein Jahr lang.“ Ich ließ allerdings unerwähnt, dass es schon ein Weilchen zurück lag. „Gleich nachdem ich es mit Gymnastik versucht hatte und bevor ich in den Töpferunterricht gegangen bin.“

Cayenne runzelte die Stirn. „Töpferunterricht?“

„Klar“, grinste ich. „Ich hab alle halbe Jahre etwas Neues angefangen. Papa ist fast wahnsinnig geworden, weil ich ständig etwas anderes machen wollte. Ich kann ein bisschen Karate, Origami, Schlittschuhlaufen …“

„Vergiss das Tennis nicht“, warf Alina da ein.

Ich grinste sie an. „Ich hab geschauspielert und sogar eine kleine Rolle in einem Theaterstück gehabt, hab zwei Tage Fußball gespielt und, naja, noch ein paar andere Dinge.“ Ich zuckte mit den Schultern.

Alina schnaubte. „Nur noch ein paar? Das war doch gerade mal ein Bruchteil von dem was du gemacht hast.“

Cayenne sah mich zweifelnd an. „Und du kannst jetzt tanzen? Also richtig tanzen?“

„Walzer, Wiener Walzer, Disco Fox, Foxtrott.“ Ich zuckte mir den Schultern. „Standard und Gesellschaftstänze eben. Und das kann ich eigentlich auch ziemlich gut, weil das etwas war, dass ich mal länger als ein paar Wochen gemacht habe.“

Cayenne sah nicht überzeugt aus, aber jetzt konnte sie es sowieso nicht mehr ändern, dafür reichte die Zeit bei weitem nicht mehr aus.

„Gut, wo wir das jetzt geklärt haben, setzt dich jetzt hier hin, damit ich anfangen kann“, forderte Veronique mich auf. „Ich mache aus dir jetzt eine echte Prinzessin.“

Und das war es dann auch, was in den nächsten Stunden geschah. Ich bekam wirklich Extensions. Schwarz, und bis runter zum Hintern mit Highlights darin. Dann noch eine Maniküre, gezupfte Augenbrauen, Parfüm, ein dezentes Make-up, dass mein Veilchen verschwinden ließ, nur bei dem Glitzer, dass sie mir noch ins Gesicht schmieren wollte, streikte ich. Hallo? Ich war doch keine Discokugel.

Zur Mittagszeit ließ Cayenne uns etwas aus der Küche bringen, verschwand dann aber selber für einige Zeit. Tja, so ein Maskenball organisierte sich halt nicht von alleine.

Die ganze Zeit über redete Fred mit mir über Regel der Etikette, zeigte mir wie ich zu sitzen, mich zu bewegen, zu essen, zu lächeln, zu lachen und eine Fächer zu benutzen hatte – ohne dabei jemanden einen Finger zu brechen.

„Fast“, verteidigte Cayenne nach ihrer Rückkehr. „Ich habe ihn ihm nur fast gebrochen!“

Alina dagegen war begeistert von allem und machte fleißig mit. Sie hatte richtig Spaß daran, sich von Fred in alles Einweisen zu lassen und freute sich wie ein Honigkuchenpferd, als Veronique ihr nach meiner Fertigstellung anbot, sie auch ein wenig zu stylen.

In der Zwischenzeit war es schon Nachmittag. Cayenne saß auf der Couch und aß das, was vom Mittagessen übrig geblieben war, während Fred davon schwärmte, wie entzückend Alina war und dass sie nach Veroniques Behandlung einfach phantastisch aussehen würde.

Mir dagegen wurde endlich mein Kleid enthüllt. Mit einem „Le voile se lève!“ zog Madam Laval die Abdeckung mit einem Ruck fort. „Was sagst du, Engelchen?“

Alina zischte durch die Zähne. „Wow.“

Ich sagte gar nichts. Das war mir einfach nicht möglich. Was sie mir da zeigte, ich konnte es einfach nicht glauben. Ich stand einfach nur da und starrte es mit offenem Mund an. Jetzt wusste ich endlich was pêche bedeutete. Pfirsich. Das Kleid war pfirsichfarbend und einfach nur ein Traum.

Es besaß nur einen Glockenärmel – extra lang – aus einem durchscheinenden Stoff. Der Halsausschnitt war von rechts Oben bis unter den linken Arm geschnitten und das Dekolleté würde auch dort nur von einem durchscheinenden Stoff verborgen werden. Bis zur Taille war es sehr eng geschnitten, wie ein Korsett, nur um von dort aus fließend zu Boden zu fallen und in einer kurzen Schleppe zu enden. Das Überkleid war vorne am Schritt gerafft und klaffte zu den Seiten hin auf, um den seidenen Soff darunter zu enthüllen. Das musste der Traum eines jeden Mädchens sein. So ein schönes Kleid hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.

Vorsichtig, fast zögern, ging ich darauf zu und berührte den zarten Stoff. Es war so schön. „Das ist wirklich für mich?“

„Bien sûr, für wen denn sonst?“

„Es ist so wunderschön. Sowas schönes habe ich noch nie besessen.“

Cayenne lächelte. „Alles Gute zum Geburtstag, Zaira.“

Ich lächelte sie kurz an und ließ meine Finger dann vorsichtig über das Kleid wandern. Hoffentlich machte ich es nicht schmutzig. Es war fast zu schade, um es zu tragen, so schön war es.

Madam Laval trat an meine Seite. „Der Ärmel und der durchscheinende Teil, der ein wenig das Dekolleté verbirgt, sind aus Tüll, genau wie die Überrock und die obere Schicht der Schleppe, comprise? Den Rest habe ich hauptsächlich aus Chiffon gefertigt und die Säume mit Seidenbändern vernäht, damit es beim Tragen nischt kratzt.“ Sie hob den Finger. „Aber das ist noch lange nischt alles.“ Geschäftig wuselte sie zu ihrer Tasche und zauberte zwei Samtkästchen hervor. Ein langes, das ohne Ecken gut als Röhre durchgegangen wäre und ein schmales flaches. Beide legte sie sauber nebeneinander auf den Tisch.

Cayenne beugte sich vor. „Sind sie das?“

„Natürlich, oder ´abt Ihr geglaubt, isch würde es vergessen?“

„Nein.“ Sie lächelte mich an. „Komm, Zaira, mach sie auf. Sie sind für dich.“

„Noch mehr Geschenke?“

„Du bist doch eine Prinzessin, also musst du auch wie eine ausgestattet werden.“

„Aber ist das alles nicht unheimlich … teuer?“

„Sie ist die Königin, sie hat genug Geld.“ Alina sprang von dem Stuhl und stellte sich an meine Seite. „Und jetzt mach auf, ich will sehen, was da drin ist.“

Na gut. Fast zögern griff ich als erstes nach der flachen, schmalen Samtschatulle. Der Deckel gab dem leichten Druck sofort nach und als ich auch das Seidenpapier weggestrichen hatte, wurde mir eine Maske, wie ich sie noch nie gesehen hatte, offenbart.

Sie war aus dünnen Drähten und Diamanten gefertigt und erinnerte damit an eine Mischung aus Diadem und Halbmaske. Der mittlere Teil ging bis hinunter auf die Nasenspitze. Mehrere goldene Kettchen führten unter dem Auge entlang bis zum Ohr. Dieses Teil war so filigran und zart gearbeitet, dass es fast schon unsichtbar war und mein Gesicht doch vor aller Augen verbergen würde.

Vorsichtig nahm ich sie aus der Schachtel und sah mit diese wundervolle Arbeit von allen Seiten an.

„Das ist der Wahnsinn“, staunte Alina.

Cayenne lächelte mich an. „Ich hoffe es gefällt dir.“

„Es ist wunderschön.“

„Sind das da echte Diamanten?!“, kreischte Alina mir plötzlich ins Ohr.

Mein Blick fiel auf den mittleren Teil des Gebildes. Er war gespickt mit kleinen, lupenreinen Kristallen. Ich schluckte. „Sind das wirklich …“

„Zerbrich dir darüber nicht den Kopf“, lächelte Cayenne. „Mach einfach das nächste auf.“

„Aber wenn das wirklich …“

„Zaira, du bist eine Prinzessin. Du bist mir so viel mehr wert, als diese paar Steine. Bitte lehne es nicht ab.“ Sie sah mich eindringlich an. „Nimm es einfach, ja? Tu mir diesen Gefallen.“

Verdammt, sie konnte mir doch nicht einfach Diamanten schenken! Okay, klar, sie konnte es sich leisten, aber verflucht noch mal das waren echte Diamanten!

Als ich den Mund erneut öffnen wollte, schlug Alina mir mit ihrem Armstumpf gegen die Schulter. „Fang jetzt nicht an zu diskutieren, sondern nimm es einfach, wenn auch nur für heute Abend, denn sie passt einfach perfekt zum Kleid.“

Dem konnte ich nicht widersprechen. Okay, vorläufig würde ich meine Klappe halten. Aber ob ich es wirklich annahm? Darüber musste ich noch einmal gründlich nachdenken.

„Jetzt mach schon das nächste auf“, forderte Alina und zeigte auf die längliche Schachtel. „Da.“

Okay, vorsichtig legte ich die Maske zurück in ihre Schatulle und machte mich dann über das nächste her. Ein Armüberzug kam zum Vorschein. Genauso gearbeitet wie die Maske. Feine Drähte die immer wieder mit kleinen Diamanten gespickt waren, nur war dieser Draht viel weicher und elastischer und würde sich jeder meiner Bewegungen anpassen. „Das ist wunderschön.“

„Natürlisch ist es das“, kam unwirsch von Madam Laval. „Isch ´abe eben ein gutes Auge. Einfach magnifique und zum Kleid wird es fabel´aft ausse´en. “

Ja, das würde es.

Eine Träne lief mir über die Wange. Ich war so gerührt, dass ich gar nichts dagegen tun konnte.

„Ah!“, machte Madam Laval. „Non chialer, dein Make-up!“ Hastig zupfte sie ein Kinex aus der Box auf dem Tisch und tupfte in meinem Gesicht herum. „Nicht fondre en larmes, das ist doch dein Geburtstag.“

Es half nichts, da kamen trotzdem noch ein paar Tränen und Veronique musste mein Make-up wieder ein wenig auffrischen. Aber nicht bevor ich Cayenne ausgiebig gedrückt hatte.

Dann kam Madam Laval aber wieder mit ihrem „ne pas avoir le temps“, weswegen wir uns dann alle ranhalten mussten.

Alina schnappte sich Flair und zischte mir ihr rüber ins HQ, um sich selber fertig zu machen. Auch Cayenne verabschiedet sich. Die Gäste würden jeden Moment eintreffen und vorher musste sie noch kontrollieren, ob alles vorbereitete war und sich selber für den Ball zurecht machen.

Dass es wirklich schon so spät sein sollte, konnte ich gar nicht richtig glauben, doch Madam Laval machte mir sehr deutlich, dass wir es jetzt eilig hatten.

Fred wurde weggeschickt, weil jetzt Frauenkram kam, wie Veronique es bezeichnete. Ich wurde in niegel-nagel-neue Unterwäsche gesteckt, da ich zu diesem Kleid einen trägerlosen BH brauchte und da ja alles passen musste, bekam ich den Slip gleich mit dazu. Die Schuhe die ich anschließend anziehen musste, hatten zu meinem Leidwesen einen ziemlich hohen Absatz, doch keiner der beiden Frauen wollte mich sich reden lassen, als ich um Ballerinas bat. Und mein Argument, dass ich heute Geburtstag hatte, zog auch nicht.

Anschließend wurde ich in das Kleid gesteckt, bekam den Armschmuck umgelegt, Kontaktlinsen verpasst – ich hasste die Dinger, die juckten immer so – und zu guter Letzt noch die bezaubernde Maske aufgesetzt. Dann zupfte und frisierte Veronique noch ein wenig an meinen Haaren herum und dann fand ich mich plötzlich vor dem Spiegel in der Ecke wieder.

Dieser Anblick, ich erkannte mich nicht wieder. Nicht nur das ich erwachsener aussah, ich war auch so schön, wie ich es nie für möglich gehalten hatte.

Ich war eine Prinzessin.

 

°°°°°

Tochter der Nacht

 

Okay, dieses Kleid war wunderschön, aber wie ich gerade am eigenen Leib feststellen musste, war es absolut nicht für einen Aufenthalt im Freien gedacht – schon gar nicht im Winter. Mir war so kalt, dass ich zitterte und mir immer wieder über die Arme rieb. Hoffentlich kamen die da drinnen langsam mal zu Potte kamen, bevor mir hier noch etwas wichtiges abfror.

In Ordnung, der Reihe nach. Nachdem Madam Laval und Veronique mich für fertig befunden hatten, wurde ich durch die Seitentür neben dem Spiegel in den Garten gebracht, wo bereits Ren-Shi und Sydney auf mich warteten. Nun stand ich draußen vor der gläsernen Front, um auf meinen großen Auftritt zu warten. Draußen in der Kälte. Nach Sonnenuntergang. Während überall um mich herum Schnee lag und sich weiße Atemwölkchen vor meinem Mund bildeten. Ihr fror wirklich.

Vor mir präsentierte sich der Ballsaal mit hunderten von maskierten Lykanern in Menschengestalt, in seiner ganzen Pracht, aber keiner von ihnen wusste, dass ich hier stand und wartete. Sie sahen mich nicht, das verhinderte die Spieglung von Licht und Schatten in der Scheibe. Natürlich konnte es auch daran liegen, dass sie alle in gespannter Erwartung der Königin entgegen sahen, die mit Aric an ihrer Seite gerade hoheitsvoll durch den geschmückten Ballsaal genau auf die Ebene vor der Glasfront zuschritt. Dabei präsentierte sie sich in einem Traum aus blau und weiß. Das Kleid war wirklich wunderschön und harmonierte mit der federverzieren Maske, als seien sie aus einem Stück geschaffen.

Aric dagegen trug einen einfachen, schwarzen Anzug, mit einer schwarzen Halbmaske, die mich ein wenig an das Phantom der Oper erinnerte. Besonders mit diesen Wolfsaugen umgab ihn damit etwas Düsteres.

Gemeinsam durchschritten sie erhobenen Haupts den ganzen Saal, hinauf auf die Ebene, vor die Glasfront und das Raunen, das beim Anblick der beiden durch den Saal ging, konnte ich sogar hier draußen vernehmen.

„Viel Glück“, wünschte mir Ren-Shi und trat so weit in die Schatten vom Fenster weg, dass selbst ich Schwierigkeiten hatte ihn zu sehen. Auch Sydney verschwand leise in die Dunkelheit. Nun war ich allein.

Langsam wurde ich doch ein wenig nervös. Was würden die Leute von mir halten? Was würden sie denken? Ich sah noch wie Cayenne vor der Glasscheibe hielt und mir zuversichtlich zuzwinkerte, bevor sie sich den Gästen des Tanzballs zuwandte und mir damit den Rücken kehrte. Alle ihre Schäfchen – oder auch Wölfchen – unter ihr versammelt. „Ein Tanzball“, begann sie, „was ist das eigentlich genau? Eine gehobene Tanzveranstaltung, auf der wir unsere Gesellschaft pflegen, die Gemeinschaft stärken und in Freude und Wohlsein einen Abend zusammen verbringen. Einen Abend voller Tanz, Speiß` und Freud`. Doch heute Abend habe ich ein Anliegen an euch alle vorzubringen.“

Sie machte eine bedeutungsschwere Pause, in der sich ihr auch der letzte im Saal voller Neugierde zuwandte. „Heute haben wir einen ganz besonderen Geburtstagsgast unter uns, die Tochter eines alten Bekannten und sie hatte nur einen Wusch. Sie wollte für einen Abend in ihrem Leben eine echte Prinzessin sein und da ihr Geburtstag ist, habe ich ihr diesen Wunsch gewährt. Meine Wölfe“, sprach sie mit lauter, klarer Stimme. „Heute Abend schlägt im Kreis der Alphas ein weiteres Herz. Ein Kind des Mondes, eine Tochter der Nacht, so rein und unberührt wie die Unschuld selber. Prinzessin Zaira!“

Mit ihrem letzten Wort traten sie und Aric nach links und rechts zur Seite. Zeitgleich glitten die Glastüren der Fensterfront wie von Zauberhand auf und das plötzliche Licht äußerer Scheinwerfer ließ mich in meiner ganzen halbgefrorenen Pracht erstrahlen. Es war wirklich nicht ganz einfach das Zittern zu unterdrücken.

Ein kollektives Luftschnappen erfüllte den Saal und ich hörte ihr Flüstern, ihre Fragen, das Raunen das durch die Menge glitt, während ich ihnen äußerst nervös entgegen sah und mich dazu zwingen musste meine Hände still zu halten.

„Wer ist sie?“

„Woher kommt sie?“

„Sie ist wunderschön.“

„Wie Schneewittchen.“

„Das Kleid ist ein Traum.“

Hunderte von kostümierten Gestalten sahen mir neugierig entgegen. Bunte Kleider, schlicht und gewagt, protzig, in allen Farben die ich mir nur vorstellen konnte. Fracks und Smokings. Und ein jeder von ihnen trug eine Maske im Gesicht, die verbarg, wer sie wirklich waren. Aufwändige, filigrane, reichverzierte und einfache Masken.

Okay, ganz ruhig. Vorsichtig lächelte ich in den Saal traute mich aber irgendwie nicht, ihn zu betreten. Meine Beine schienen festgefroren. Zum Glück kam Aric auf mich zu, um mir über die ersten Schritte hinwegzuhelfen. „Prinzessin Zaira.“ Galant machte er eine Verbeugung und griff dabei meine Hand, um einen hauchzarten Kuss draufzuhauchen. Das fand ich irgendwie seltsam und ich musste mich zwingen, mein Handrücken nicht am Kleid abzuwischen. „Ihr seht wunderschön aus.“

„Ähm … danke. Du siehst auch schön aus … ich meine gut … ich meine, Ihr seht gut aus.“ Oh bitte, konnte mir mal jemand eine runterhauen? Das war doch mal ein echt peinlicher Auftritt.

Arics Mundwinkel zuckten zwar, aber er überging diesen Fauxpas einfach, indem er mich auf die Ebene in den Saal führte. „Prinzessin Zaira!“, rief er laut. „Alpha für eine Nacht, Erwählte des Leukos!“ Wieder machte er eine leichte Verbeugung in meiner Richtung, genau wie Cayenne und das war auch der Moment, in den alle anwesenden im Ballsaal mir ihre Eher erwiesen. Frauen gingen hinunter in einen eleganten Knicks und Männer beugten ihr Haupt, um ihre Prinzessin zu würdigen.

Ich war so gerührt, dass ich ein paar Mal blinzeln musste, um die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen – konnte aber auch an den Kontaktlinsen liegen, ganz sicher war ich mir da nicht.

„Prinzessin Zaira“, sprach Aric mich an. „Gebt Ihr mir die Ehre, des ersten Tanzes heute Abend?“

Davon abgesehen, dass es sicherlich unhöflich wäre, ihn hier vor versammelter Mannschaft abblitzen zu lassen, könnte mich nichts auf der Welt davon abhalten, in diesem wunderbaren Kleid auf meinem eigenen Maskenball über das Parkett zu schweben. „Ich würde mich geehrt fühlen“, lächelte ich und legte meine Hand in die seine, um mich von ihm auf die Tanzfläche führen zu lassen.

Sobald er sich mir gegenüber positionierte und seine Hand auf meine Taille legte, wusste ich wieder automatisch, was ich machen sollte. Die Musik des Streichquartetts auf der Empore setzte ein und der erste Schritt kam ganz von alleine. Und noch einer und ein weiterer.

Ich tanzte mit Aric über den polierten Marmorboden und kam dabei gar nicht mehr aus dem Lächeln raus. Die „Ah´s“ und „Oh´s“ aus den Zuschauerreihen gingen runter wie Öl. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich nicht Zaira, der anormale Misto, der sich aufgrund seiner außergewöhnlichen Natur in einem kleinen Dorf verstecken musste, damit er nicht getötet wurde, ich war eine Prinzessin. Ich war Prinzessin Zaira, ein Kind des Mondes, eine Tochter der Nacht, so rein und unberührt wie die Unschuld selber. So hatte Cayenne mich genannt und während ich über die Tanzfläche schwebte, konnte ich glauben, dass es der Wahrheit entsprach. Wenigstens für diesen einen Abend in meinem Leben.

Heute drehte sich alles um mich, um Zaira, die mysteriöse Prinzessin, die aus dem Nichts aufgetaucht war und genauso wieder verschwinden würde.

Aric beugte sich ein wenig zu mir vor. „Weißt du was schön wäre?“

Hm, wenn er mich so fragte, da würden mir eine Menge Dinge einfallen, doch ich glaubte nicht, dass er eines davon gemeint hatte. Außer er war genauso verrückt wie ich und würde liebend gerne mal in Gummibärchen baden. „Nein, was wäre denn schön?“

„Wenn du mich zur Abwechslung mal führen lassen würdest. Immerhin bin ich hier der Mann.“

„Ich …“ Mist. Hatte ich wirklich die Führung an mich gerissen? „`tschuldigung“, murmelte ich. Das war mir früher schon ständig passiert. Das machte ich ganz automatisch.

Aric lachte leise, beließ es aber dabei und ließ mich in all meiner Pracht erstrahlen. Den ganzen Tanz über. Ich hatte teilweise wirklich das Gefühl, er stellte mich zur Schau, weil nur ich in diesem Moment zählte. Das wunderte mich schon ein bisschen. Bis gestern noch hatte er mir gegenüber immer eine leicht arrogante Ader gezeigt, doch heute war es irgendwie anders. Lag es daran, dass er nun wusste, wer ich war? Oder einfach daran, dass er aus diesem Wissen heraus nicht genau wusste, wie er mit mir umgehen sollte? Vielleicht war das aber auch nur Teil der Aufführung.

Mit Kiara zusammen, hatte ich ihn, soweit ich mich erinnern konnte, noch nie gesehen. Naja, von dem gestrigen Abend einmal abgesehen. Ich hatte keine Ahnung, wie er sich ihr gegenüber verhielt, aber ich bezweifelte sehr stark, dass er demnächst anfangen würde, mich genauso zu behandeln. Ich meine, ich wusste schon mein ganzes Leben lang, wer er war und was er für mich war, aber das was wir hier hatten, war sicher kein Bruder-Schwester-Verhältnis. Eher so etwas wie eine vorsichtige Annäherung auf freundschaftlicher Ebene. Genau, vielleicht konnten wir das irgendwann sein, Freunde.

Ich Lächelte über diesen Gedanken, während Aric mich einmal im Kreis drehte, nur um mir im nächsten Moment darüber klar zu werden, dass wir niemals Freunde sein konnten. Das hier war mein letzter Abend im Hof der Lykaner. Schon morgen um diese Zeit würde ich wieder zu Hause in Koenigshain sitzen und das alles hier, mein Besuch bei meiner Erzeugerin, mein Halbruder, Kiara, Cio und dieser Abend würden nichts weiter als eine schöne Erinnerung sein.

Mit diesen etwas wehmütigen Gedanken ließen wir den Tanz ausklingen. Aric machte einen großen Schritt von mir zurück, um sich mit einer Verbeugung für den Tanz bei mir zu bedanken, nur um dann wieder meiner Hand zu nehmen und mich mit einem Lächeln all diesen Fremden zu präsentierten und sich vor ihnen noch einmal zu verbeugen. Da ich nicht ganz sicher war, was ich sonst tun sollte, machte ich es ihm nach und grinste dabei so glücklich, dass wohl niemanden auffallen würde, dass meine Gedanken nicht in die gleiche Richtung gingen.

Schon morgen wieder würde das alles vorbei sein. Für immer.

Aric drehte mich wieder zu sich und führte mich dann in die Mitte des Saals. Zuerst glaubte ich, dass er erneut das Tanzbein schwingen wollte, aber dann raunte er mir zu: „Bleib genau hier stehen“ und trat zur Seite. Er ließ mich einfach so im Niemandsland stehen. O-kay. Das machte mich doch ein wenig nervös.

Im ganzen Saal breitete sich gespannte Erwartung aus. Es schien, dass sie alle wüssten, was jetzt geschehen würde, nur ich stand auf dem Schlauch.

Ich runzelte die Stirn und war noch damit beschäftigt mir zu überlegen, was das hier sollte, als durch die noch offenen Türen der Glasfront ein durchdringendes Wolfsheulen aus dem Garten zu uns hinein drang. Ihm folgte weiter Wolfsgesang, so viele Stimmen, dass ich sie gar nicht zählen konnte und dann war abrupt ruhe, als hätte jemand ganz laut „Cut!“ gerufen. Und nicht nur da draußen, auch hier drinnen hätte man eine Grille husten hören – wenn es hier denn eine erkältete Grille gegeben hätte. Alle Blicke waren gespannt auf den Garten gerichtet, einschließlich meinem eigenen. Und dann, aus tiefster Nacht tauchte ein einzelner Wolf auf. Langsam, gefährlich. Sydney.

Unter seinem Fell spielten die Muskeln und ich wusste nicht ob es an der geheimnisvollen Art war, wie er auftauchte, oder an dem durchdringenden Blick den er auf mich gerichtet hatte, aber in diesem Moment war er wohl der schönste Wolf, den ich jemals gesehen hatte. Zum ersten Mal seit ich ihn kennengelernt hatte, verstand ich, was Cayenne an diesem Mann fand.

Er verließ die Ebene nicht, schaute nur zu mir herunter. „Tanzt mit uns, Prinzessin“, raunte er in meinen Gedanken und warf den Kopf in den Nacken. Sein Heulen, das von den Wänden des Saals widerhallte, war so durchdringend, dass ich davon eine Gänsehaut bekam. Und dann strömten zu beiden Seiten von ihm Wölfe in allen möglichen Farben in den Saal.

Ihre Krallen klickten auf dem Marmorboden, als sie sich um mich herum in einem Kreis aufbauten und gerade als Sydney sein Heulen beendete, begannen diese Wölfe mit ihrem Mondgesang. Töne, die mich bis in mein Innerstes erreichten und den Wolf in mir kitzelten.

Das Streichorchester begann wieder zu spielen, eine wilde, unbändige Melodie zum Heulen der Wölfe und in diesem Moment begannen die Wölfe zu tanzen. Synchron drehten und sprangen sie um mich herum. Schwenkten die Köpfe von einer Seite auf die andere, nur um sich dann um die eigene Achse zu drehen und Laute passend zu der Musik auszustoßen.

Das zu sehen, wie sie hier um mich herum sprangen, das berührte etwas in mir. Es war wie ein Drang, dem ich mich nicht erwehren konnte, als ich meinen Kopf in den Nacken legte und in den Gesang mit einstieg.

Der Tanz wurde wilder, ungezügelter. Die Wölfe sprangen übereinander, rollten sich über den Boden, aber nie verschwand diese Symmetrie aus ihren Bewegungen. Sie waren eine Einheit, bewegten sich wie ein einziges rohes Wesen. Immer und immer wieder. Die Bewegungen wurden schneller, bis sie abrupt anhielten und erneut ihren durchdringenden Gesang hören ließen.

Meine Haut kribbelte und ich spürte, wie sich die Zähne in meinem Mund veränderten, wie meine Fingernägel dicker und dunkler wurden. Mein Wolf – ich – wollte teilhaben an diesem Fest. Ihr Lied, ihre Bewegungen drängten mich zur Verwandlung. Nein, nicht jetzt, nicht hier. Verdammt! Seit der Vollmondjagd hatte ich mich nicht mehr verwandelt. Das waren nur zwei Tage gewesen, nur zwei, aber für mich war es zu viel Zeit. Die Reizüberflutung die hier über mich erging war zu viel. Ich konnte es nicht stoppen, ich würde mich vor aller Augen verwandeln …

„Still!“, brandete da eine machtvolle Stimme durch den Saal und sofort verstummten die Wölfe – und auch die Musik. Das war Cayenne gewesen. Sie hatte an einem Tisch am Rande der Fensterfront Platz genommen, wo auch Alina und ihre Eltern saßen. Sie hatte offenbar erkannt, was mit mir los war, doch es half nicht viel. Der Wolf lauerte bereits dicht unter der Haut.

Ich atmete hektisch, spürte meinen Herzschlag gegen mein Brustkorb hämmern und war mir der vielen Leute um mich herum nur allzu bewusst.

Prinzessin Zaira?“

Ich sah auf, sah in diese urtümlichen Wolfsaugen von Sydney.

Kommt zu mir, Prinzessin. Bleib ganz ruhig und atmet tief ein. Dann kommt zu mir.“

Okay, ruhig bleiben, tief durchatmen und dabei auf ihn zugehen. Sollte doch eigentlich nicht so schwer sein, oder? Ich bemühte mich, bemühte mich redlich. Ganz ruhig, sagte ich mir, ich kontrolliere den Wolf, nicht er mich. Ich kann das, das hab ich schon oft getan.

Einatmen, ausatmen.

Das Kribbeln auf meiner Haut schwächte ab und so trat ich den ersten Schritt auf Sydney zu. Meine Zähne schrumpften – ein zweiter Schritt. Vor mir öffnete sich der Kreis der Wölfe. Die Krallen wurden wieder kürzer – ein dritter Schritt.

Mit jedem Schritt den ich auf ihn zumachte, wurde meine Kontrolle etwas besser, bis ich schließlich vor ihm stand und wieder eine normale Prinzessin war – naja, so normal wie es in meinem Fall eben ging.

Sydney senkte sein Haupt ein wenig, ließ mich dabei aber nicht aus den Augen. „Ich danke Euch für diesen Tanz, Prinzessin Zaira.“

Tanz? Mein Mundwinkel zuckte. Um ein Haar wäre das hier ein völliges Desaster geworden. „Nicht du musst dich bedanken, sondern ich. Danke.“ Ich drehte mich zu den anderen Wölfen um, die mir mit aufgestellten Ohren entgegen blickten. „Ich danke euch allen, für diesen wunderbaren Tanz.“

Und damit begann nicht nur der Applaus aus den Reihen der Maskierten, sie begannen auch alle zu jaulen. Die Gäste wie die Wölfe. Es war berauschend. Dann verschwanden die tanzenden Wölfe genauso schnell wie sie erschien waren. Sie flitzten an mir und Sydney vorbei, hinaus in den Garten und mit ihrem Abgang schlossen sich auch die Glastüren.

In der Ecke an ihrem Tisch erhob sich Cayenne, während Aric auf mich zukam und mich an den Tisch führte.

„Meine lieben Gäste. Tanz, amüsiert euch und vor allen Dingen, esst, die Küche war heute fleißig. Das Bankett ist hiermit eröffnet.“

Damit wurde es im Saal wieder lauter. Die Leute begannen zu plaudern, während von allen Seiten die Dienerschaft mit Tabletts angerückt kam und die Speisen unter den Gästen verteilten. Ein paar standen wirklich auf und tanzen, als das Streichquartett auf der Empore wieder zu spielen begann, um für etwas Unterhaltung zu sorgen. Aber die meisten bleiben erst mal an ihren Tischen, um die Leckereien aus der Küche zu probieren.

Bankett? „Ich dachte das ist nur ein Maskenball“, sagte ich zu Aric.

Vornehm führte er mich zum Tisch in der Ecke,und rückte mir einen Stuhl zwischen Cayenne und Alina zurecht, damit ich mich setzten konnte. „Danke.“

„Ein Maskenball mit Geburtstagsbankett.“ Er rückte mich samt Stuhl an den Tisch und nahm dann auf der anderen Seite Platz. Zwischen ihm und Cayenne blieb noch ein Stuhl frei, auf den Sydney raufsprang – als Wolf.

Neben Alina saßen noch Tante Lucy und Onkel Tristan, wohl die beiden einzigen in diesem ganzen Raum, die sich nicht verkleidet hatten, sondern in einfacher Abendgarderobe erschien waren. Der achte und letzte Stuhl neben Aric blieb leer.

Meine Eltern nahmen an diesem Abend leider nicht teil. Das machte mich ein wenig traurig, aber sie hatten mir versprochen, dass wir das nachholen würden, sobald wir wieder Zuhause waren.

„Und natürlich darf auch die Torte nicht fehlen“, lächelte Cayenne und klatschte zweimal in die Hände. Sofort kamen zwei Kellner angerannt, in ihrer Mitte einen Geburtstagskuchen auf einem silbernen Tablett – ich wettete meinen Lohn fürs nächste halbe Jahr, dass das echtes Silber war. Ein riesiges Teil, auf dem mit Zuckerguss ein kunstvoller, schwarzer Wolf mit Zuckerguss geschaffen worden war. Und er trug ein Diadem.

„Wow“, entkam es mir, als die Diener ihn zwischen uns auf den Tisch stellten und sich dann schnell wieder in Luft auflösten.

„Boah, ist ja der Wahnsinn.“ Alina neben mit beugte sich so weit vor, dass die Federn ihrer blauen Maske fast im Kuchen hingen. „Okay, damit steht es fest. Ich will auch einen eigenen Maskenball. Nur wegen diesem Kuchen.“

Tante Lucy zog eine Augenbraue hoch. Ihre langen roten Wellen hatte sie halb hochgesteckt, was ihr einen äußerst eleganten Eindruck gab. „Sonst noch wünsche?“

„Wenn du mich schon so fragst, ja!“ Und dann begann sie eine Liste von Dingen herunterzurattern, die sie doch bitte-danke haben möchte. Hauptsächlich handelte es sich dabei um Schuhe und Kleidungsstücke.

Schmunzelnd lauschte ich ihnen, bis die Diener ein zweites Mal zu uns kamen und jedem eine kleine Vorspeise in Form einer Minestrone Calabrese aus frischem Gemüse vor die Nase stellten – der Kuchen musste erst mal warten. Danach folgte der Hauptgang. Zarte, gebratene Perlhuhnbrust, auf Paprika-Tagelierini und Rucolabett. Da ich aber mit einem Perlhuhn wenig anfangen konnte – ich war nun mal Vegetarier und daran würde sich auch sicher nichts ändern – bekam ich frische Ravioli mit einer Füllung aus Ricotta, Grand Padano und frischen Trüffeln. Diese Speisen klangen so exquisit, dass ich mich kaum traute, sie zu essen. Und was das für Portionen waren. Damit würde sie wohl jeden Werwolf satt bekommen.

Cayenne nickte zufrieden, als der Diener ihr die Speisekarte erklärte und winkte ihn dann davon. Dann konnte das große Schlemmen beginnen. Und oh Gott, das schmeckte einfach himmlisch. Es kam zwar nicht an die Kochkünste meines Vaters heran, aber das hatte bisher sowieso noch keiner geschafft.

Wir plauderten ein bisschen, oder besser gesagt, lästerten über die anderen Gäste. Cayenne deutete immer auf jemanden und erklärte mir dann wer das war. Da hätten wir zum Beispiel Ministerial Barco von Are. Der Kerl hatte ziemlich beeindruckende Arme und sah auch ansonsten sehr gut aus. Nur seine Stimme … es war wohl besser, wenn er schwieg und einfach nur gut aussah. Laut Cayenne hatte man das Gefühl, wenn man mit ihm sprach, er sei nie in den Stimmenbruch gekommen.

Und dann war da noch Lady Sophia of Kendal. Sie hatte fünf Kinder, aber es war zweifelhaft, dass sie alle vom selben Mann stammten. Ein echter Skandal. Und Fürst Randow zu Styrk. Mann hatte ihn vor drei Jahren im besoffenen Zustand einen Baum anpinkeln sehen. Leider soll er hinterher wohl vergessen haben, alles wieder ordnungsgemäß zu verstauen. Erst als er schwankend neben seiner Gefährtin aufgetaucht war – mitten in der Eingangshalle – konnte bei diesem Problem Abhilfe geleistet werden. Schande und Anstoß an die Etikette der Betawölfe. Einfach nur skandalös. Die beiden hatten sich über einem Jahr bei keinem Fest mehr sehen lassen.

Cayenne ließ ihren Blick weiter wandern, während ich grinsend Ravioli in meinem Mund verschwinden ließ und blieb an einer betuchten Frau hängen, die so viele olivgrüne Federn auf dem Kopf hatte, dass man darunter kaum noch die Maske erkannte. „Baroness Arabella Bea“, erklärte sie uns. „Dumm wie Stroh, hat aber zu allem und jedem eine Meinung, die sie einem mitteilt, ob man sie nun hören möchte oder nicht. Sie ist äußerst penetrant und riecht aus dem Mund immer nach Zitronenbonbons. Außerdem ist sie … oh nein.“

Alle am Tisch wandten sich in die Richtung der Baroness, die Cayennes Interesse an ihr offensichtlich bemerkt hatte und sich nun mit einem riesigen Ungetüm von Rüschenmonster – Kleid konnte man diese giftgrüne Hässlichkeit nun wirklich nicht nennen – von ihrem Platz erhob und auf den Weg zu uns machte.

„Mist“, machte Cayenne und sah dann schon fast panisch zu dem freien Stuhl zwischen Aric und Onkel Tristan. „Aric, lass den Stuhl verschwinden.“

Aric, der gerade seine gabel an den Mund heben wollte, ließ sie wieder sinken. „Und wie soll ich das bitte machen? Soll ich ihn durchs Fenster werfen, oder was?“

„Wenn das verhindert, dass sie sich zu uns setzt!“

Sydney lachte leise in unseren Köpfen. „Dafür dürfte es jetzt wohl ein wenig zu spät sein.“

Gerade als die Baroness schwer schnaufend die Ebene erklomm, legte Onkel Tristan sein Besteck auf den Tisch und erhob sich. „Wenn ihr uns entschuldigt.“ Er nahm Tante Lucy bei der Hand und zog sie auf die Beine. „Ich würde gerne mit meiner Gefährtin tanzen.“

Cayenne kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. „Feigling.“

„Nicht feige, einfach nur intelligent genug, sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen.“ Er grinste meine Erzeugerin an und verließ dann mit Tante Lucy eilig die Ebene. Dabei nickte er der Baroness noch freundlich im Vorbeigehen zu.

„Königin Cayenne.“ Baroness Bea deutete einen leichten Knicks an. „Ihr gestattet doch dass ich mich zu Euch setzte?“ Eine Antwort wartete sie gar nicht erst ab, schon saß sie auf Onkel Tristans Platz. „Ich muss Euch ein großes Lob für diesen Ball aussprechen. Das Essen war exquisit und das Ambiente ist wie immer sehr geschmackvoll. Ich möchte mich bei Euch für die Einladung bedanken.“

Alina musterte die Frau von der Seite, unterbrach sich dabei aber nicht beim essen. Ich hoffte nur, sie behielt den Mund lange voll, damit sie nichts sagen konnte.

Cayenne lächelte gezwungen. „Aber dafür hättet Ihr doch nicht extra herkommen müssen, ein Brief mit der Post hätte es auch getan.“

Ich verschluckte mich beinahe an meinen Ravioli, doch die Baroness schien die Anspielung in diesem Satz nicht zu bemerken. Sie lachte einfach und lobte Cayenne für den Witz den sie in jedes Gespräch einfließen ließ.

„Und diese wundervolle Überraschung mit Prinzessin Zaira ist Euch wohl gelungen.“ Sie musterte mich unverhohlen von oben bis unten. „Wo nur hattet ihr sie die ganze Zeit versteckt? Sie ist ein Augenschmaus.“

Meine Wangen wurden so heiß, dass es sicher jeder sehen konnte.

„Schade nur, dass sie keine echte Prinzessin ist. Es würde dem Königshaus sicher gut tun ein weiteres schlagendes Herz zu haben, das die Alphas des Rudels stärken kann.“ Sie drehte sich zu Aric herum. „Und wo wir schon einmal dabei sind, würde ich Euch …“

„Oh mein Gott, ist das Elvis Presley?!“, rief Alina plötzlich begeistert und zeigte auf eine Frau mit blonden Haaren und gelben Kleid, die nicht mal mit sehr viel Phantasie der King of Rock sein könnte. „Oh nein, doch nicht. Hab mich wohl geirrt.“ Sie lächelte die Baroness an. „Ich bin übrigens Alina, sowas wie die Co-Prinzessin hier.“

„Ähm … oh … ja, natürlich.“ Sie runzelte die Stirn. „Was ist eine Co-Prinzessin?“

Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass Aric versuchte sich das grinsen zu verkneifen – vergeblich. Aber es war schwer zu sagen, da er sein Gesicht hinter einem Glas versteckte.

Alina grinste. „Ich bin Zairas Cousine. Angenehm.“ Sie streckte ihr den Arm entgegen, denn ohne Hand – das machte sie gerne, um die Leute zu schocken. „Oh, Verzeihung, mein Fehler.“ Sie hielt ihr den anderen Arm hin, aber die Baroness brauchte einen Moment, um sich von dem Schreck zu erholen. Sie traf wohl nicht oft Leute, denen Körperteile abhanden gekommen waren.

„Oh, ähm … ja. Freut mich auch Euch, ich meine Sie … äh … dich …“

„Königin Cayenne?!“, erklang da plötzlich eine Stimme neben mir.

Ich machte vor Schreck fast einen Satz in die Luft. Erst Sekundenbruchteile später wurde mir klar, dass es Diego gewesen war, der da aus dem Nichts aufgetaucht war.

„Wo kommen Sie den plötzlich her?“, wollte Alina wissen und sprach mir damit aus der Seele.

Diegos Mundwinkel zuckten. „Ich war die ganze Zeit in der Nähe.“

„Wo? Ich hab Sie nicht gesehen.“

„Dann hab ich meinen Job ja richtig gemacht.“ Er wandte sich Cayenne zu. „Sie sind da.“

Meine Erzeugerin bekam große Augen. „Jetzt schon?“ Sie strahlte richtig. „Okay, dann lass die Nacht über uns kommen.“

„Ich werde Master Jaques Bescheid geben.“ Und schon war er wieder verschwunden. Wirklich, einfach so, als hätte er sich in Luft aufgelöst.

„Krasse Houdini-Nummer“, kommentierte Alina.

Cayenne lächelte nur, erhob sich von ihrem Platz und klatschte zweimal laut in die Hände. Sofort war jeder Wolf im Saal, egal in welcher Gestalt, mit der Aufmerksamkeit bei ihr. „Heute“, sagte sie mit kräftiger Stimme, „ist ein einmaliger Tag für ein junges Mädchen, für Prinzessin Zaira und um diesen Tag gebührend zu ehren, habe ich etwas besonderes geplant. Dafür möchte ich jeden von Ihnen bitten, sich von der Tanzfläche zu entfernen und einen Platz einzunehmen.“

Aus dem Hintergrund eilten Diener herbei, die eilig die Glasfront durch dicke, schwarze Samtvorhänge verdunkelten.

„Wir werden gleich das Licht ausschalten und ich möchte jeden von Ihnen bitte, die Show nicht zu stören. Seien sie ruhig und genießen sie einfach die Darbietung.“

Auf der anderen Seite des Saals wurden auch dunkle Vorhänge vor die Marmorbögen gezogen. Im Thronsaal war das Licht bereits ausgeschaltet. Sie machten den ganzen Raum dich, um eine eigene, kleine Welt zu schaffen. Was sollte das bloß?

„Ich wünsche Ihnen allen viel Spaß beim Lichtertanz.“ Cayenne setzte sich wieder und drückte meine Hand kurz lächelnd. „Ich hoffe es gefällt dir.“

„Was den?“

„Lass dich überraschen.“

„Sagen sie es mir?“, fragte Alina neugierig.

Sie schmunzelte und griff nach ihrem Sektglas. „Nein, dir sage ich es auch nicht.“

Die Leute bewegten sich durch den Saal, nahmen ihre Plätze wieder ein und tuschelten aufgeregt miteinander. Alinas Eltern aber kamen nicht zurück. Die ließen sich am Rand der Ebene nieder. Sie wollten wohl auf keinen Fall in den Umkreis von Baroness Arabella Bea geraten.

Und dann ging Plötzlich das Licht aus und wir saßen in völliger Finsternis. Man könnte wirklich nichts sehen, absolute Dunkelheit. Wie hatte Cayenne das nur geschafft? Das musste sie eine Menge Vorarbeit gekostet haben.

Das Tuscheln im Raum nahm weiter zu, bis zu dem Moment, als die leise Musik einsetzte. Dann war es plötzlich Still. Alle saßen gebannt im Dunkeln und warteten darauf, was geschehen würde.

Zuerst passierte gar nichts. Nur die Musik spielte. Erst leise, dann langsam lauter. Jemand lief durch die Halle, Krallen klickten auf dem Boden, aber wer da rumlief war nicht auszumachen. Und dann tauchten Plötzlich die leuchteten Umrisse eines Wolfes auf. Nur ganz kurz, wie ein Geist, dann war er wieder verschwunden. Nur um am anderen Ende des Saals für einen weiteren Moment aufzuleuchten. Oder waren es zwei? Da, wieder, ein Wolf der den Kopf in den Nacken gelegt hatte und so tat, als würde er zum Mond hinauf heulen. Und da war noch ein Wolf. Er lag auf dem Boden, und schien zu schlafen. Nur einen Moment, dann war er wieder in der Dunkelheit verschwunden. Ein sitzender Wolf, ein rennender Wolf. Alle immer nur für kurze Augenblicke sichtbar.

Die Musik wurde schneller, lauter. Plötzlich blitzen überall Wölfe auf, drei, vier gleichzeitig. Die Lichter wechselten zwischen ihnen hin und her, wie bei einer Lightshow. Das mussten beleuchtete Anzüge sein, die sie da trugen. Immer schneller wechselten die Lichter zwischen den Wölfen, bis plötzlich alle leuchteten, nur eine Sekunde. Dann wurde es wieder dunkel und die Melodie verstummte.

Nur langsam begann die Musik wieder, sanfter, fast verträumt. Bedächtig, fast wie ein Geist materialisierte sich eine Frau in der Dunkelheit. Erst war sie nur schwer zu erkennen, aber das Leuchten um sie herum wurde stärker. Das Kleid und das Haar selbst schienen das Licht abzustrahlen. Es war wahnsinnig schön, irgendwie mystisch.

Mit sinnlichen Schritten lief sie durch den Saal, als träumte sie so vor sich hin. Die Klänge der Musik wurden lieblicher und dann, aus dem Laufen heraus machte sie eine Drehung und begann einen Tanz. Es war wunderschön anzusehen, wie sie sich dort über die Tanzfläche bewegte, aber irgendwie auch traurig. So allein in der Dunkelheit. Und auch ihre Bewegungen, sie hatten etwas Bekümmertes und gleichzeitig Wunderschönes an sich.

Sie drehte sich, sah hinauf zum Himmel und sank dann in sich zusammen.

Am äußersten Rand der Dunkelheit tauchte ein einsamer Wolf auf. Er sah die Frau, zögerte, ging mit langsamen Schritten auf sie zu, als wäre er neugierig, würde sich aber gleichzeitig fürchten. Sie streckte die Hand nach ihm aus, eine bittende Geste, der er folgte. Ein zweiter Wolf materialisierte sich aus der Finsternis und folgte dem Beispiel des ersten. Dann noch einer und noch einer. Ein halbes Dutzend blauleuchtender Wölfe, die sich um sie herum versammelten und stumm hinauf zum Mond heulten. Und dann begannen sie mit ihr zu tanzen. Fröhlich, glücklich, frei.

Plötzlich veränderte sich die Musik, wurde düster, unheimlich und aus dem Nichts in ihrer Mitte tauchte ein rotglühender Wolf auf. Die anderen sprangen zur Seite, nur nicht der erste Wolf, der stellte sich schützend vor die Frau.

Eine leichte Berührung am Arm ließ mich äußerst widerwillig den Kopf drehen, aber außer Dunkelheit konnte ich nichts erkennen. Doch der Geruch der mir in die Nase stieg, der war mir wohl bekannt. „Cio?“, flüsterte ich leise.

Ich hörte sein leises Lachen dicht an meinem Ohr und spürte dort seinen warmen Atem, der mir eine Gänsehaut über den Rücken trieb. „Ich dachte“, flüsterte er mir fast tonlos ins Ohr, sodass seine Stimme über der Musik nicht zu hören war, „ich nutzte die Dunkelheit und die Ablenkung der anderen mal schnell aus, um dir zu sagen, dass du wohl die schönste Prinzessin bist, die ich jemals gesehen habe.“

Was? Machte er sich etwa gerade lustig über mich, oder meinte er das ernst?

Sein Atem wurde wärmer, als käme er ein Stück näher und ich konnte seine Lippen praktisch an meinem Ohr spüren, als er sich weiter zu mir beugte. So nah. Irgendetwas komisches passierte in dem Moment in meinem Magen und der viel zu schnelle Herzschlag war sicher auch nicht normal.

„Aber meine Zaira hat mir besser gefallen. Ich steh auf diese Karohemden.“

Okay, jetzt war ich sicher, dass er mich veräppelte.

Etwas landete in meinem Schoß, etwas Großes, Eckiges, doch bevor ich mich näher damit befassen konnte, hauchte er mir einen Schmetterlingskuss auf die Wange, der all meine Sinne erwachen ließ und mein Herz zum trommeln brachte.

„Happy Birthday.“ Und dann war er auch schon wieder weg und ließ mich äußerst verwirrt hier sitzen.

Was bitte war das gerade gewesen? Ersten, wie hatte er mich in dieser Dunkelheit gefunden und zweitens, warum hatte ich solches Herzklopfen? Das war doch nur Cio, der wieder eines seiner Spielchen spielte, die ich nicht durchschauen konnte. Und dann die Schachtel in meinem Schoß. Was da wohl drinnen war? Ein Geburtstagsgeschenk? Warum schenkte Cio mir etwas? Gott, der Kerl verwirrte mich und das gefiel mir nicht.

Als die Musik wieder lauter wurde, zwang ich meinen Blick zurück auf die Tanzfläche. Der rote Wolf war verschwunden. Genaugenommen war nur noch ein Wolf zurückgeblieben und der lag tot auf der Tanzfläche. Die Frau hatte sich trauernd über ihn geworfen. Ihre Schultern bebten, doch langsam aber sicher verschwand das helle leuchten um sie herum und wurde zu einem roten Glühen.

Wieder fragte ich mich, wie sie das machten.

Die Geschichte schritt weiter voran. Es war ein Tanz, den sie dort vorführten und der einen Kampf um Macht und Rache zeigte. Der rote Wolf, wollte seine Schäfchen nicht an die Frau verlieren und die Frau wollte Rache für den toten Wolf. Es endete in einem bitterlichen Kampf, in dem der Wolf einem Dolch erlag und langsam verglühte und die Frau kraftlos in sich zusammensackte. Das rote Glühen wurde wieder zu dem weichen Leuchten. Sie hatte ihre Rache bekommen, aber den Wolf brachte sie ihr nicht zurück.

Im Kreis um sie herum setzten die anderen Wölfe sich, legten die Köpfe in den Nacken und jaulten Stumm zum Himmel. Und dann gingen einfach die Lichter aus und die Musik verstumme.

Noch einen Moment verharrten wir alle in der Dunkelheit, doch sobald das Licht anging, ertönte im ganzen Saal donnernder Applaus und mehr als nur einer heulte Beifall. Die Darsteller verbeugten sich, tanzen noch ein paar Schritte zum Abschied und verschwanden dann durch die Vorhänge zum Thronsaal.

Das war wunderschön gewesen. Ein wenig makaber, aber nichts desto weniger wunderschön.

„Wow“, sagte Alina. „Jetzt weiß ich, was ich mal machen werde. Ich werde Lichttänzerin.“ Sie strahlte mich an, aber dafür hatte ich jetzt gerade keine Zeit. Die Schachtel auf meinen Beinen brannte mir ein Loch in den Schoß, so dringend wollte sie geöffnet werden.

Ich schob die Eindrücke von dem Tanz in den Hintergrund und beachtetet Baroness Bea nicht weiter, die sofort wieder damit angefangen hatte Cayenne zuzutexten, kaum dass sie sie sehen konnte. Mein Interesse lag im Moment ganz woanders.

Rechteckig und flach lag die Schachtel in meinem Schoß. Was da wohl drin war?

Natürlich bemerkte Alina das Geschenk sofort und beugte sich zu mir rüber. „Was ist das?“

„Ein Geschenk?“ Ich grinste sie an.

„Ha ha, das sehe ich auch. Ich wollte wissen was da drin ist und woher es so plötzlich kommt.“

„Ein Freund hat es mir gegeben.“ Ich stellte die einfache, helle Pappschachtel vor mir auf den Teller und löste vorsichtig den Deckel. Eine Geburtstagskarte mit einer tanzenden Eule darauf kam zum Vorschein. Ob mir der Scherz so gut gefiel, wusste ich nicht so recht, denn nur weil ich eine Brille trug, war ich noch lange keine Eule. Aber als ich sie aufklappte, um sie zu lesen, musste ich lächeln.

 

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„Nun sag schon, von wem ist das“, forderte Alina mich erneut auf.

Hastig, bevor sie einen Blick in die Karte werfen konnte, klappe ich sie zu und ließ sie auf meinen Schoß verschwinden. „Von einem Freund, das hab ich doch schon gesagt.“ Keine Ahnung, warum ich es ihr nicht einfach sagte, aber irgendwie wollte ich es für mich behalten und machte mich zur Ablenkung eilig über das her, was noch in der Schachtel lag. Etwas Stoffiges mit einem roten Karomuster. Es musste ein Kleidungsstück sein.

Vorsichtig nahm ich es aus der Schachtel und breitete es vor mir aus. Es war ein rotes Karohemd. Aber nicht so ein Männerhemd, wie ich es sonst trug, sondern eines für Frauen. Wesentlich enger geschnitten, als ich sie sonst trug und es besaß auch einen recht tiefen Ausschnitt.

Er hatte mich also doch nicht auf den Arm genommen, ihm gefielen meine Karohemden also wirklich und auch wenn ich lächeln musste und es eine nette Geste war, so war ich mir nicht sicher, ob ich dieses Hemd jemals tragen würde. Ich meine, es gefiel mir, keine Frage, nur war ich mir nicht sicher, wie gut es mir stehen würde. Eine Verpackung konnte noch so schön sein, wenn der Inhalt nicht mitspielte, sah es einfach scheiße aus.

„Oh, aber so etwas Scheußliches würdet Ihr doch nicht anziehen, oder?“, kam es da von der Baroness. Doch wie üblich wartete sie gar nicht auf die Antwort. Dafür hörte sie sich wohl viel zu gerne selber reden. „Sie ist eine wahre Augenweide. Wo nur habt Ihr sie die ganze Zeit versteckt?“, wollte sie dann von Cayenne wissen.

Ich lächelte nichtssagend und legte sowohl Hemd, als auch Karte zurück in die Schachtel, um sie unterm Tisch verschwinden zu lassen.

Nachdenklich sah Baroness Arabella Bea zwischen mir und Aric hin und her. „Ist es möglich, dass dieses Mädchen die eine ist, die ihr Euch zur Gefährtin erwählt habt?“

Aric verschluckte sich vor Schreck an seinem Sekt und hustete ihn dabei fast quer über den Tisch.

„Iiih“, machte Alina und verzog angewidert das Gesicht. Nur ein Stück weiter und er hätte sie sie erwischt.

Cayenne lächelte gequält und Sydney saß ein Stirnrunzeln über den Augen.

„Aber, aber, nicht doch, Ihr braucht nicht gleich so zu erschrecken“, beschwichtige die betuchte Frau mal wieder als Alleinunterhalter. „Ich finde es war eine wunderbare Idee, Eure zukünftige Gefährtin dem Rudel auf diese Art vorzustellen. Als Prinzessin für eine Nacht zu präsentieren, ist eine phantastische Idee, um sie in die Gemeinschaft einzuführen. Der Rat wird höchst erfreut sein davon zu hören. Ihr beide gebt ein wunderschönes Paar ab und ich kann es kaum erwarten …“

„Moment“, unterbrach ich sie, bevor sie noch damit begann, unsere Hochzeit in allen Einzelheiten zu planen und Namen für unsere ungeborenen Kinder auszusuchen. „Wir sind keine Gefährten. Ich meine, wir werden auch keine Gefährten sein.“

Sie winkte ab. „Ach Kindchen, mir müsst Ihr doch nicht vormachen. Ich kann ein Geheimnis für mich bewahren. Aber ich hoffe doch sehr, dass ihr nicht mehr zu lange damit wartet, bis ihr es offiziell macht. Der Rat wird nur ungeduldig werden und ich …“

„Nein, Sie verstehen nicht“, versuchte ich ihr eilig klar zu machen. „Ich kann nicht Aric Gefährtin werden.“

„Ach. Und warum nicht, wenn ich fragen darf?“

„Weil …“ Ja super, jetzt musste ich mir auch noch ein Ausrede einfallen lassen und zwar ganz schnell. Ich konnte ihr ja wohl schlecht sagen, dass er mein Bruder war und Inzest bei Strafe verboten war. „Weil ich schon einen Gefährten habe“, sagte ich ohne großartig darüber nachzudenken.

„Einen Gefährten?“ Selbst unter der voluminösen Maske war ihr Stirnrunzeln zu erkennen. „Und wo ist er wenn ich fragen darf? Ich habe Euch heute Abend mit noch keinem Mann gesehen, der mir nicht bekannt war. Heißt das, ich kenne Euren Gefährten?“

„Nein“, gab ich zögernd zu. „Sie kennen ihn nicht und sie können ihn auch nicht gesehen haben, weil er gar nicht hier ist.“

„Und wo ist er dann? Warum ist er nicht auf diesem bezaubernden Ball, auf dem seine Gefährtin der Ehrengast ist. Also mein Gefährte hätte mir so etwas nie angetan.“

Verdammt, jetzt musste ich mir auch noch eine Ausrede dafür einfallen lassen, warum mein imaginärer Gefährte durch Abwesenheit glänzte. „Er konnte nicht kommen, weil er krank ist, aber keine Sorge, so schlimm geht es ihm nicht, er ist nur – Au!“ Ich funkelte Cayenne an. Hatte sie mich gerade wirklich getreten? Ich konnte es kaum fassen.

„Was Prinzessin Zaira damit sagen möchte“, begann sie. „Ihr Gefährte musste aus beruflichen Gründen zurückbleiben. Er ist Arzt, und hat einen Patienten in einem kritischen Zustand, den er nicht allein lassen wollte. Natürlich tut es ihm leid, bei diesem Ereignis nicht dabei sein zu können, aber dieser Patient liegt ihm sehr am Herzen.“

„Oh, Arzt. Das entschuldigt ihn natürlich.“ Sie sah zu Aric, der damit beschäftigt war, mit der Serviette die Sektreste vom Tisch zu wischen. „Seht Ihr, Prinz Aric, dieses Mädchen ist jünger als Ihr, doch auch sie hat sich schon einen Gefährten erwählt.“

„Sie muss ja auch nur einen Gefährten für sich und nicht für das ganze Rudel nehmen und wenn sie sich wieder von ihm trennen will, ist das auch kein Problem.“

Hörte ich da etwas unterschwellige Verärgerung aus seiner Stimme, weil wir auf dieses leidliche Thema gekommen waren?

„Aber seht doch nur, was ihr durch Euer Zögern erreicht“, fuhr die Baroness ohne Erbarmen fort. „Dieses junge Mädchen ist bereits weg und andere werden ihrem Beispiel folgen. Irgendwann wird es keine Heiratskandidaten mehr geben und was macht Ihr dann?“

„Ich bin sicher, dass der Rat auch dafür eine Lösung finden wird.“

Oh, oh, das klang ja fast schon nach einer Herausforderung. Hm, da sollte ganz schnell jemand eingreifen, bevor er blutig wurde.

„Aber …“

„Oh mein Gott!“, unterbrach Alina die Baroness bereits im Ansatz und griff nach ihrer Hand. „Ist das da ein echter Rubin auf ihrem Finger?“

Der Stolz im Gesicht der Baroness, sprühte bis zu mir. „Oh ja. Ein altes Familienerbstück. Er hat einst meiner Großmutter gehört, der Baroness of Winterfield. Habt Ihr von ihr gehört?“

„Nein, leider nicht“, musste Alina zugeben.

Jeder am Tisch schien Alinas Spielchen sofort durchschaut zu haben, nur nicht die Baroness. Das war von ihr ein einfaches Manöver, um diese penetrante Frau – wie Cayenne sie genannt hatte – vom eigentlichen Thema anzubringen. Gut gemacht, Alina.

„Prinzessin Zaira“, wurde ich da von der Seite angesprochen.

Ein hochgewachsener, junger Mann machte eine leichte Verbeugung vor mir und lächelte mich dann mit niedlichen Grübchen an. „Ich bin Fürst Artjom Belikov, der Sohn von Fürstin Inka Belikov.“

Schüchtern lächelte ich ihn an. Er war zwar keine Augenweide, so wie manch anderer hier, aber irgendwie doch niedlich. „Freut mich ihre Bekanntschaft zu machen.“

„Die Freude ist ganz auf meiner Seite.“ Er reichte mir äußerst galant die Hand. „Dürfte ich so unverfroren sein und um einen Tanz mit Euch bitten?“

„Und ob!“ Ups, das war wohl etwas zu begeistert herausgekommen. Aber mal ehrlich, wann wurde man schon mal so formgewandt zu einem Tanz aufgefordert? „Ich meine, sehr gerne. Ich würde sehr gerne mit Ihnen tanzen.“ Ich legte meine Hand in seine, schaute noch einmal zu Cayenne, die mir zuversichtlich zulächelte und ließ mich dann von diesem Artjom auf die Tanzfläche führen. Und er war auch nicht der einzige, mit dem ich an diesem Abend tanzte. Immer wieder wurde ich abgeklatscht und schwebte so stundenlang über die Tanzfläche.

 

°°°

 

Erst nach Stunden, die mir wie gefühlte Minuten vorkamen, entschloss ich, dass es an der Zeit war, mich einmal hinzusetzten. Mit einem Knicks, wie ich es bei den anderen Frauen gesehen hatte, verabschiedete ich mich von meinem Tanzpartner, einfach weil ich mal eine Pause brauchte. Ich meine, es war herrlich, von so vielen eleganten Männern über die Tanzfläche geführt zu werden, doch meine Schuhe waren mörderisch und wenn ich nicht ganz dringend eine Rast einlegte, müsste ich mir die Füße abhacken.

Doch als ich zurück an unseren Tisch kam, waren alle Vöglein ausgeflogen. Keiner mehr da. Aber dieser leckere Kuchen wartete da noch an seinem Platz. Vorhin war ich ja nicht mehr dazu gekommen, ihn zu essen, aber das würde ich jetzt sowas von nachholen – schließlich war das mein Geburtstagskuchen, also hatte ich auch jedes recht dazu, mir ein Stück davon abzuschneiden und auf den Teller zu legen. Gott, zum Glück war es kein Schokoladenkuchen.

Mit der Kuchengabel trennte ich ein kleines Stück ab, um es in meinem Mund zu führen. Und dann war ich im Himmel. Hmmm … das war so köstlich, dass ich sogar die Augen schloss, um den Geschmack noch intensiver zu genießen. So lecker. Dem Konditor sollte ein Orden verliehen werden. Das war wirklich preisverdächtig.

Als ich die Augen wieder aufschlug, fiel mir die Kinnlade runter bis zum Boden – nicht sehr ansehnlich.

Vor mir stand ein Gott von einem Mann. Und er lächelte mich an. MICH! War das zu glauben? Ich war schließlich auch als Prinzessin nicht gerade das non-plus-Ultra. Na gut, ich hatte heute einige Komplimente bekommen, aber das … mir fehlten echt die Worte.

„Prinzessin Zaira.“ Er deutete eine leichte Verbeugung an, bevor er mir seine strahlend weißen Zähne präsentierte. „Leider hatten wir heute Abend noch nicht das Vergnügen uns miteinander bekannt zu machen, aber wenn ich das nun nachholen dürfte, ich bin Graf Cerberus Amarok.“

Oh, diese Stimme, das war Gänsehaut pur.

„Darf ich mich zu Euch setzen?“

Aber natürlich, setzen, sofort!, das, oder etwas ähnliches hätte ich am liebsten gesagt, doch ich konnte nichts anderes tun, als ihn weiter anzustarren.

Wenn du schon das Sprechen verlernt hast, dann klapp wenigstens den Mund zu und nicke mit dem Kopf, bevor er dich noch für völlig unterbelichtet hallt! Falls das nicht schon zu spät war.

Ich klappte den Mund zu und nickte eifrig, nur um mir im nächsten Moment selber gegen den Schädel schlagen zu wollen. Gott, sah ich so dämlich aus wie ich mich fühlte?

Er ließ sich jedenfalls nichts anmerken, als er sich auf den freien Stuhl neben mich setzte. Wahrscheinlich war er es gewohnt, ständig so angestarrt zu werden. Doch bei dem Aussehen, war das gar nicht anders möglich. Bei dem dunklen, fast schwarzen Haar, das ihm verwegen um den Kopf fiel, den Schlafzimmerblick und diesem Wahnsinnskörper. Und dieser Mund. Da konnte Mädchen schon auf so manchen verruchten Gedanken kommen.

Oh Gott, ich sollte schnellstens meine Libido unter Kontrolle bekommen. Sowas war mir noch nie passiert. NOCH NIE! Dabei meinte ich nicht, dass sich so ein heißer Typ zu mir setzte – nein, das war mir auch noch nie passiert – sondern die Dinge, die mir bei seinem Anblick plötzlich durch den Kopf schossen. Das sollte verboten werden.

Als ich merkte, dass ich ihn schon wieder anstarrte, senkte ich eilig den Blick und sah, dass ich noch immer die Kuchengabel in der Hand hielt. Hm, an Essen war jetzt wohl nicht mehr zu denken. Ich legte sie behutsam auf den Tisch, wagte es aber nicht den Blick wieder zu heben, um ein weiteres Mal in diesen Augen grauen zu versinken.

„Lasst Euch von mir bitte nicht stören, esst ruhig weiter. Ich finde es erfrischend ein Mädchen in Eurem alter zu sehen, das nicht jeden Bissen überdenkt, wie es sonst unter den Betawölfen üblich ist.“

Wollte er mir damit sagen, ich war dick und deswegen war es eh egal? Jetzt hatte ich erst recht keine Lust mehr etwas zu essen und schob den Teller von mir weg.

„Aber Ihr seid nicht von Adel, oder?“

Nur einen kurzen Blick traute ich mich ihm zuzuwerfen, bevor ich nervös über meine trocknenden Lippen fuhr.

„Von heute Abend einmal abgesehen.“ Er schmunzelte über seinen eigenen Witz. „Aus der Nacht aufgetaucht, geheimnisvoll wie die Nacht selber. Werdet Ihr auch genauso wieder verschwinden?“

Okay, eine direkte Frage. Komm schon, die kannst du beantworten, ist ganz einfach, nur die Lippen bewegen. Also los, du schaffst das! „Nein, ich fahre mit dem Auto.“ Oh bitte, wie sich das anhörte. „Ich meine, mein Vater fährt ein Auto.“ Dein Vater fährt ein Auto? Wirklich?! „Ich meine, mein Vater fährt mich morgen früh mit dem Auto nach Hause.“ Nein, das klang auch nicht besser. Ich schlug die Hände vors Gesicht, um auch noch den Teil zu verdecken, der nicht von der Maske verborgen wurde. „Ich mach mich hier gerade voll zum Affen, oder?“

„Es ist auf jeden Fall sehr interessant Euren Worten zu lauschen.“

Mit anderen Worten, ja, ich machte mich zum Affen. „Okay“, sagte ich und ließ die Hände sinken. „Können wir vielleicht noch mal von vorne anfangen und den Teil mit dem Starren und Sabbern vergessen?“

Diese Worte entlockten ihm ein weiteres Lächeln, doch irgendwie wirkte es … unecht, falsch. Es reichte nicht hinauf zu seinem Augen. Das bildete ich mir doch sicher nur ein, oder? „Sehr gerne.“ Er reichte mir die Hand. „Graf Cerberus Amarok.“

Ich ergriff die Hand. „Cerberus? So wie der Höllenhund, der … Moment, Amarok. Bist du … ähm … seid ihr mit Cayenne … ich meine Königin Cayenne verwandt?“ Oh bitte sag nein, sonst wären mein Gedanken nämlich ein wenig abartig gewesen.

„Meine Mutter ist eine entfernte Cousine der Königin. Sie haben den gleichen Urgroßvater.“

Den gleichen Urgroßvater. Das hieß dieser Isaac, oder? Nee, das war der Großvater. Also noch eine Generation davor. Also war er mit mir verwandt. Na super. Wie sollte ich meinem Vater nur erklären, dass ich jetzt dringend einen Therapeuten brauchte? Hallo Papa, ich hatte unanständige Gedanken über einen Kerl, bei dem sich herausgestellt hat, dass er irgendwie mit mir verwandt ist. Na das Gespräch wäre sicher witzig.

„Ich bin also zwangsläufig aus familiären Gründen hier. Aber bei Euch scheint das nicht so zu sein. Wenn ich so frei sein darf zu fragen, woher ihr die Königin kennt?“

Diese Frage hatte jetzt irgendwie seltsam geklungen. „Mein Vater ist mit ihr von früher bekannt.“

„Ein einfacher Bekannter? Mehr nicht?“ Er schnalzte ungläubig mit der Zunge. „Das nehme ich Euch nicht ab.“

„Ist aber so“, sagte ich etwas schwach. „Sie kennen sich von früher und als ich erwähnt habe, dass ich schon immer mal eine Prinzessin sein wollte …“

Als plötzlich Aric mit Alina im Schlepptau zu uns an den Tisch stieß, unterbrach ich mich und sah zu ihm auf.

„Wow, siehst du geil aus!“, kam es auch prompt über Alinas Lippen.

Oh lieber Gott, was hab ich dir getan, dass du mir das antun musst? Bitte, sag es mir, was?

Der junge Graf lächelte, während Aric sie leicht pikiert ansah.

„Dir ist schon klar, dass ein hübsches Äußeres nicht über ein hässliches Inneres hinwegtäuschen kann?“, fragte der Prinz auch sogleich ziemlich spitz.

„Das habe ich auch nicht gesagt“, verteidigte sie sich sofort. Sie hatte ihre Maske abgenommen und hielt sie nun in der Hand. „Ich habe nur gesagt, dass er geil aussieht. Und er hat auch nicht so eine komische Frisur wie du.“

Sofort strich Aric sich etwas eitel wieder durch die Haare und setzte ein finsteres Gesicht auf.

Bitte, könnte sich unter mir nicht ein Loch auftun, in dem ich versinken dürfte? Nur ein kleines, in das ich mich reinzwängen konnte? Das würde mir schon ausreichen.

„Seit wann so feindselig, lieber Cousin“, fragte Graf Cerberus. „Wie ich höre, lässt du auch nichts anbrennen.“

Aric kniff die Augen leicht zusammen, als er sich Graf Cerberus zuwandte. „Wartet deine Gefährtin hier nicht irgendwo auf dich? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie es so toll finden würde, wenn sie dich hier sehen würde. Außerdem hat Zaira jetzt keine Zeit mehr für dich.“

„Ach nein? Hab ich nicht?“ Gut zu wissen.

„Nein hast du nicht.“ Aric griff nach meiner Hand und zog mich auf die Beine. Mit der anderen schnappte er sich Alinas Hand. „Komm.“

„Wohin?“ Im weggehen winkte ich Cerberus noch habherzig zu. Aber nur kurz, da ich aufpassen musste, wohin ich mit meinen Mörderlatschen trat, als er mich von Tisch weg, hinunter von der Ebene in die tanzende Menge zog.

Mit der anderen Hand hatte er Alina gepackt, damit sie nicht auf dumme Gedanken kam, wie sich zu dem Grafen zu setzen, um ihn noch mal ausführlich zu erklären, was den genau an ihm so geil war. Meine Cousine war wirklich einmalig.

„Halt dich von ihm fern“, kam es da von Aric an meine Adresse, als wir durch den linken Marmorbogen in den Thronsaal marschierten. Hier war wesentlich weniger los, aber auch hier hatten sich ein paar Leutchen versammelt, die uns neugierig hinterher sahen.

Halt, Moment, was hatte er da eben gesagt? „Meinst zu Graf Cerberus? Warum?“

„Cerberus ist ein verschlagenes Ass, genau wie seine Mutter.“ Über die Schulter hinweg warf er mir einen kurzen Blick zu und führte uns dann durch die offene Flügeltür hinaus in die Eingangshalle. „Die beiden machen nichts ohne Hintergedanken.“

Okay, jetzt war ich beleidigt. „Du meinst also, dass so ein Kerl sich niemals für mich interessieren würde, geschweige denn, gar zu mir setzten würde, wenn da nicht irgendein heimtückischer Plan dahinter steckte?“

„Nein, ich meine, dass Cerberus sich für niemanden außer sich selbst interessiert.“

Wir traten zum Fuß der schwebenden Treppe.

Aric ließ meine Hand los – nur meine – und drehte sich zu mir herum. „Du könntest das schönste Mädchen der Welt sein, intelligent, witzig, charmant, aufopfernd und kreativ, er würde sich trotzdem nur mit dir abgeben, weil er etwas Bestimmtes von dir möchte.“

„Wie zum Beispiel meine Bekanntschaft machen, einfach weil er mich für ein nettes Mädchen hält?“

„Nein“, kam es sofort wie aus der Pistole geschossen. „Du verstehst nicht. Das Leben am Hof, besonders unter dem Adel, ist ein ständiger Machtkampf. Kleine Intrigen, mit denen man dem anderen eins auswischen kann, sind hier an der Tagesordnung. Lästern, üble Nachrede, das volle Programm. Aber weder Cerberus, noch seine Mutter halten sich mit solchen Kleinigkeiten auf, sie gehen …“

„Jetzt weiß ich warum mir der Kerl so bekannt vorkam“, quatschte Alina einfach mal dazwischen. „Ist seine Mutter die nicht diese Tussi mit der langen Narbe an der Schläfe, die immer versucht Cayenne den Thron streitig zu machen?“

„Genau die“, stimmte Aric ihr zu. „Und Cerberus unterstützt sie bei allem.“ Er wandte sich wieder mir zu. „Darum ist es wichtig, dass du dich von ihm fernhältst. Besonders du.“

„Ja, weil ich eines der größte Geheimnis dieser Hallen bin“, sagte ich ein wenig bitter. „Welch Schande wenn alle erfahren würden, wer, oder besser was, ich wirklich bin.“

Der Ausdruck in Arics Gesicht verhärtete sich ein wenig.

Verdammt, für ihn war diese ganze Sache sicher auch nicht ganz einfach. „Egal, vergiss es.“ Ich winkte ab. „Wolltest du mir nicht irgendwas zeigen, oder hast du mich nur da weggeholt, um … ähm …“ War wohl nicht das Beste, gleich wieder zu dem Thema zurückzukehren. „Wolltest du mir nicht was zeigen?“

„Ja. Cio hat vor ein paar Jahren eine kleine Tradition ins Leben gerufen. Um Mitternacht verziehen wir uns und feiern ohne den Adel.“

Mitternacht? War es wirklich schon so spät?

„Wir treffen uns oben in meinem Zimmer, komm.“

Eine Party mit Cio? Warum flatterte mein Herz bei diesem Gedanken nur plötzlich so aufgeregt? Aber … „Und was ist mit meinem Ball?“

„Mama weiß Bescheid. Und jetzt sitzen die Leute sowieso nur alle herum und beglückwünschen sich dazu, wie großartig sie doch sind. Getanzt wird kaum noch.“

„Los, Zaira“, forderte nun auch Alina mich noch auf. „Komm schon, das wird bestimmt lustig!“

Wie konnte ich da noch nein sagen? Besonders bei einer Party mit Cio. Aber was war mit Iesha? Ich wollte sicher nicht … ah Cio! „Mist, ich hab was vergessen. Ich muss noch mal zurück.“ Mein Geschenk lag noch unter dem Tisch. „Geht ihr schon mal vor, ich komme dann gleich nach.“

„Aber in mein Zimmer, nicht in Cios“, rief Aric mir noch hinterher, als ich schon auf dem Weg zurück in den Thronsaal war. Ich hob die Hand zum Zeichen dass ich verstanden hatte und eilte zurück an unseren Tisch. Aric hatte recht gehabt, auf der Tanzfläche war es wirklich ruhiger geworden und ein paar Tische waren auch schon leer. Hm, da hatten sich wohl ein paar Leute aus dem Staub gemacht, ohne sich bei der Prinzessin zu verabschieden. Wie unverschämt.

Ich eilte zu unserem Tisch und bückte mich nach dem Päckchen. Cerberus war nicht mehr da, dafür aber dieser leckere Kuchen, der mir zuzuzwinkern schien. Hm, wäre doch eine Schande, den hier vergammeln zu lassen, wo der Koch sich solche Mühe gegeben hatte. Außerdem schmeckte er wirklich gut und die anderen konnten sicher noch einen Moment länger warten.

Kurzentschlossen setzte ich mich mit der Schachtel im Schoß wieder auf meinen Platz und genoss, was mein gutes Recht war. Ich konnte mich nur wiederholen, dieser Kuchen war einfach nur himmlisch.

Ich hatte ungefähr die Hälfte von meinem Stück aufgegessen, als Sydney neben mir auftauchte und mich mit einem leichten Schmunzeln bedachte. „Gefällt dir dein Ball?“

Beim grinsen hoffte ich, dass mir keine Kuchenreste zwischen den Zähnen hingen. Das wäre voll eklig. „Er ist einer Prinzessin würdig“, schäkerte ich.

Das freut mich zu hören. Und Cayenne wird es sicher auch freuen.“ Mit dem Kopf schob er den Stuhl ein wenig zurecht und hüpfte dann darauf. Es sah irgendwie lächerlich aus, wie er da als Wolf auf dem Stuhl mit den Zahnstocherbeinchen quetschte.

Die nächste Frage kam über meine Lippen, ohne dass ich näher darüber nachdachte. „Warum verwandelst du dich nicht in einen Menschen und wirfst dich auch in so einen schicken Smoking?“

Etwas in seinem Gesicht veränderte sich. Nur ein kleines bisschen, aber ich bemerkte es. „Mir fehlt die Ästhetik, die der Adel zu pflegen wünscht.“

Oh Mist, Fettnäpfchen. „Deine Narben“, sagte ich leise.

Er nickte leicht. „Ich bin nicht nur der Mann, den sie als die Konkubine der Königin ansehen, mein Äußeres schreckt sie ab. Daher bevorzuge ich es, möglichst Wenige mit meiner menschlichen Gestalt zu belästigen.“

Wie zum Beispiel einem einsamen Spaziergang im Garten, oder Händchenhaltend allein mit Cayenne. Das war traurig, trotzdem konnte ich das Zucken meines Mundwinkels nicht verstecken. „Konkubine?“

Geliebter. Der Wolf der ihren Gefährten ersetzt.“ Er seufzte. „Jeder in Rudel weiß das ich an Cayennes Seite gehöre und auch immer dort verweilen werde, aber da jeder Wolf in seinem Leben nur einen Gefährten wählt und alle glauben, dass dies König Nikolaj gewesen war, werde ich für das Rudel nie mehr als Cayennes Galan sein.“

„Aber das ist doch Blödsinn“, empörte ich mich und legte meine Kuchengabel auf den fast leeren Teller. „Du bist Cayennes Gefährte und du warst es auch immer.“

Ja. Und wir wissen das, doch die anderen Wölfe würden es nicht verstehen, nicht ohne ihnen die ganze Wahrheit zu erzählen. Und das können wir nicht.“

Weil das das Todesurteil für das Rudel wäre. „Aber wenn die Leute so reden, warum gehst du dann überhaupt zu solchen Anlässen? Versteh mich nicht falsch, das ist toll, ich meine nur, naja, ich würde mich vor solchen Blicken und Getuschel vermutlich verstecken.“

Manchmal ist es auch nicht einfach, aber Cayenne braucht mich. Sie ist nicht so stark, wie es den Anschein erweckt. Sie ist … ihr Nervenkostüm ist sehr dünn.“

Hä? Was sollte das den jetzt heißen? „Aha“, machte ich nur, weil ich nicht wusste, was ich sonst darauf antworten sollte. „Dann ist es wahrscheinlich … äh, wichtig dass du bei ihr bist.“

Er sah mir genau an, dass ich es nicht verstanden hatte, beließ es aber dabei.

„Nun gut, Aric und die anderen warten auf mich. Ich wollte nur mein Geschenk holen.“ Ich erhob mich von meinem Stuhl. „Dann bis später oder so.“

Zaira?“

„Ja?“

Wie geht es Aric? Nachdem was er gestern erfahren hat … er spricht nicht mehr mit mir und mit Cayenne nur das Nötigste.“

Oh. Warum musste er diese Frage ausgerechnet mir stellen? Woher sollte ich das schließlich wissen? „Hm … ja, keine Ahnung. Ich glaube er versucht mit der Situation klar zu kommen und … naja, ich kenne ihn ja nicht so gut. Ich denke, er brauch einfach nur ein bisschen Zeit.“ Ich zuckte ratlos mit den Schultern. „Vielleicht solltest du mal mit Cio sprechen, der kann dir da sicher eher weiterhelfen.“

Ja, das wäre vermutlich sinnvoller.“ Er senkte seinen Kopf leicht. „Ich danke dir.“

„Nichts zu danken und … ähm.“ Ich zögerte. „Ist mit Kiara alles okay?“

Er schwieg einen kurzen Moment. „Nein, ich fürchte nicht.“

Oh. War ja auch eigentlich eine blöde Frage.

Sie ist weder wütend noch traurig. Sie tut so, als wäre alles wie immer und als hätte das Gespräch gestern Abend niemals stattgefunden.“ Er verfiel in kurzes Schweigen. „Wenn ich ehrlich bin, macht mir das größere Sorgen, als Arics Verhalten.“

„Sie verdrängt es.“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, es ist weitaus mehr als das. Es ist schwer zu erklären. Ich kenne meine Tochter. Sie war schon immer ein wenig melodramatisch gewesen und steht äußerst gerne im Mittelpunkt. Nachdem was sie gestern erfahren hat …“ Er verstummte, als wüsste er selber nicht, wie er den Satz beenden sollte. „Ihre Reaktion gestern, das ist nicht sie, verstehst du?“

„Vielleicht muss sie sich erstmal selber damit auseinandersetzten, bevor sie darauf reagieren kann.“

Vielleicht“, stimmte er mir zu wirkte aber nicht wirklich überzeugt. Er schien sich große Sorgen um sie zu machen. Dann besann er sich wieder darauf, wo wir waren und was wir für ein Tag hatten. „Lass uns jetzt nicht weiter darüber sprechen. Das ist dein Geburtstag, geh zu Aric und genieße ihn. Alles andere wird sich schon finden.“

„Na gut, dann … dann gehe ich wohl besser. Die anderen warten sicher schon.“

Er nickte. „Ich wünsche euch viel Spaß.“

„Danke.“ Mit einem kurzen Winken machte ich mich davon. Ich wusste nicht warum, aber Sydney war immer irgendwie komisch. So förmlich und … ach, ich wusste gar nicht wie ich das beschreiben sollte. Er war nicht unheimlich, nur irgendwie … anders. Das war wohl das passende Wort. Sydney war anders und das ließ seine Gegenwart manchmal unangenehm erscheinen, wenn auch nicht schlecht unangenehm. Gab es ein gutes Unangenehm? Gott, was mir schon wieder für Gedanken durch den Kopf schossen.

Mit der Schachtel unter dem Arm, machte ich mich wieder auf den Rückweg und überlegte, wie ich Arics Zimmer finden sollte. Ich war ja noch nie da gewesen, aber Cio hatte gesagt, dass es gleich gegenüber von seinem war. Egal, notfalls würde ich halt einfach meine Nase benutzen müssen.

Gerade als ich durch die leere Eingangshalle lief, bemerkte ich im Augenwinkel eine Bewegung. Jemand schlüpfte durch die große Flügeltür links neben dem Eingangsportal. War das nicht Cerberus gewesen? Was für ein Name. Seine Mutter konnte ihn scheinbar nicht sonderlich gut leiden.

Ich schüttelte den Kopf und machte mich auf den Weg nach oben zur Galerie. Was ging es mich an, wo dieser Kerl sich rumtrieb. Wenn er sich wirklich nur mit mir hatte unterhalten wollen, um irgendeine Intrige zu starten, dann konnte er mir mal den Buckel runter rutschen und mir die Füße lecken. Am besten ich vergaß diesen Kerl einfach ganz schnell und konzentrierte mich auf das was vor mir lag. Und das war in der Zwischenzeit der Korridor in der ersten Etage.

Die Tür zu Cios Zimmer erkannte ich auf Anhieb. Dann musste die reichverzierte gegenüber, die von Aric sein. Der Geruch jedenfalls stimmte. Da ich keine Klingel sah, sondern nur einen Handscaner, hob ich die Hand um anzuklopfen, doch bevor meine Knöchel das Holz berühren konnten, wurde sie bereits von Innen aufgezogen.

Überrascht wich ich ein Stück zurück und das war wohl mein Glück, sonst wäre Alina direkt in mich hineingelaufen. „Ah, da bist du ja endlich!“, freute sie sich und schnappte sich meine Hand. Der Raum, den wir betraten, war quadratisch, praktisch, gut. Und leer. Er war gerade mal groß genug, um an jeder Seite eine Tür unterzubringen. Die links und rechts waren so unscheinbar, dass ich sie wohl nur bemerkte, weil die linke offen war. In dem kleinen Raum dahinter saß ein Mann mit grauem Haar in mittleren Jahren. Sein Blick war kalt und an der Uniform die er trug, erkannte ich, dass es ein Umbra sein musste.

Er schaute uns an, als versuchte er einzuschätzen, ob wir eine Gefahr für Aric darstellten. Alina jedoch beachtete ihn gar nicht, sie zog mich einfach auf die gegenüberliegende Flügeltür zu. „Ich wollte dich gerade suchen kommen.“

„Ich hab nur noch meinen Kuchen aufgegessen.“

„Ich hoffe, du hast mir auch noch ein Stück übrig gelassen.“ Sie manövrierte mich durch die andere Flügeltür und schob mich in den Raum dahinter – obwohl man hier wohl nicht mehr von einem einfachen Raum, sondern von einer ganzen Suite sprechen sollte. Inklusive eines sehr großen Flattscreen, und einem Eckbett in das bestimmt ein halbes Dutzend Leute gepasst hätten. „Seht mal wer endlich hier ist!“, rief sie und schloss die Tür hinter uns.

„Hey, das Geburtstagskind!“ Cio klatschte übertrieben in die Hände, als wolle er mein Erscheinen mit Applaus loben. „Wurde ja auch langsam Zeit. Fast hätten wir ohne dich angefangen.“

Mein Lächeln fiel etwas gezwungen aus, da Iesha direkt neben ihm saß und nicht nur eine Hand besitzergreifend auf seinen Arm gelegt hatte, sondern auch noch ein Bein über seinen Schoß drapierte.

Aric saß daneben im Sessel und trank eine klare Flüssigkeit aus einem Glas.

„Guck dir das mal an!“, rief Alina mir begeistert ins Ohr und zog mich quer durch den Raum auf die andere Seite zu dem Schreibtisch. Genau wie der Rest des Zimmers war er in einem dunklen Braun gehalten.

„Ist das nicht geil?!“ Alina zeigte auf einen modernen Computer mit zwei Bildschirmen. Aber das wirklich geniale an diesem Teil war die Aufmachung. WoW-Design, wohin das Auge fiel. Bildschirme, Tastatur, Maus und Mousepad. Und der Tower. Was für ein Wahnsinnsteil.

Mit großen Augen sah ich mir alles genau an und dann meinen Halbbruder. „Du spielst WoW?“

Sein Gesicht verfinsterte sich leicht. Er sah die Frage wohl als Angriff an. „Hast du ein Problem damit?“

„Was? Nein, das ist phantastisch. Ich spiele selber auch schon seit Jahren. Heute habe ich das neue Erweiterungspack bekommen.“ Ich beugte mich ein wenig vor, um mir den Computer genauer anzusehen. Das musste eine Sonderanfertigung sein, sowas gab es sicher nicht zu kaufen. „Der ist Wahnsinn. Mit was spielst du? Mein Main ist im Moment ein …“

„Oh nein!“, fuhr Alina rüde dazwischen und hakte sich bei mir ein. „Hier wird jetzt nicht über so ein blödes Spiel gefachsimpelt, wir feiern jetzt Geburtstag.“ Eine Widerrede wurde nicht geduldet und so musste ich mich von ihr widerstandslos zur braunen Wohnlandschaft ziehen lassen. Doch als sie mich dann neben Iesha ins Polster drücken wollte, wich ich ihr aus. Ich wollte auf keinen Fall neben diesem Weib sitzen. Schon in einem Zimmer mit ihr zu sein ließ mir fast Angstschweiß ausbrechen.

Ich drehte mich weg, noch bevor mein Hintern das Polster berührt hatte. „Nein, setzt du dich hier hin. Ich nehme den Stuhl.“

„Den Stuhl? Aber der ist doch voll unbequem“, nörgelte Alina. „Komm schon, auf der Couch ist genug Platz. Cio muss sich nur ein bisschen kleiner machen.“

„Hey, ich hab mich schon klein gemacht.“

Hatte er nicht. Er fläzte in der Ecke wie ein Couchpotato. Aber das war egal, ich würde trotzdem nicht neben Iesha Platz nehmen. Davon abgesehen, dass ich an meinem Leben hing, war ihr das sicher auch nicht recht und ich würde den Teufel tun und diese Frau noch einmal verärgern. „Nein, ich will auf dem Stuhl sitzen, weil …“ Ja, das war eine gute Frage. „… ähm …“ Mein Blick fiel auf mein Kleid. „… mein Kleid! Ich will nicht dass es zerknittert, deswegen … deswegen sitze ich lieber auf dem Stuhl.“ Gesagt, getan. Noch ein gekünsteltes Lächeln und die Sache war geritzt.

Leider bemerkte ich Arics argwöhnischen Blick zu spät, um das Kommende zu verhindern. „Iesha“, sagte er langsam. „Ich möchte dass du dich in Zukunft von Zaira fern hältst. Das ist ein ausdrücklicher Befehl.“

Oh nein, bitte nicht. Ob ich genauso entsetzt aussah, wie ich war?

Iesha runzelte die Stirn und warf mir einen kurzen finsteren Blick zu, während sich auf Cios Gesicht Verwirrung breit machte. „Ich soll mich von ihr fernhalten? Warum?“

„Das würde ich auch mal gerne wissen“, kam es von Cio.

Alina setzte sich in die freie Ecke der Couch und begann damit die Gläser auf den Tisch mit den verschiedenen Alkoholika zu füllen. Auf dem Tisch sah es fast wie in einem Schnapsladen aus. Wo hatten sie das ganze Zeig nur her?

„Ich weiß dass du es warst, die ihr das blaue Auge verpasst hatte“, kam es dann von Aric.

Ich hielt die Luft an.

„Was?!“, zeterte sie sofort los und wäre mir vermutlich am liebsten sofort an die Kehle gesprungen, wenn wir keine Zuschauer hätten. „Hat sie das etwa behauptet? Und du glaubst ihr?“

Das war wie einem Massaker beizuwohnen. Und ich war das Opfer. Ich sah es schon vor mir, wie ich kurz davor stand zerfleischt zu werden.

„Nein, das hat sie nicht gesagt. Sie behauptet steif und fest, dass sie hingefallen sei, aber das kommt niemals von einem Sturz.“

„Ach, und weil sie zu blöd zum Laufen ist, bin ich jetzt schuld?“

„Das klingt wirklich ein bisschen weit hergeholt“, verteidigte Cio seine Freundin. „Iesha würde doch niemals einfach so auf Zaira losgehen. Dazu hat sie doch gar kein Grund.“

Aber das hat sie getan!, wollte ich rufen. Stattdessen biss ich die Zähne zusammen und schwieg mich aus.

„Du weißt gar nicht wozu deine Freundin alles fähig ist“, sagte Aric ganz ruhig. „Und den Grund kennst du genauso gut wie ich.“

Das konnte Cio nicht auf sich sitzen lassen. Zweifelnd sah er zwischen Iesha und Aric hin und her und blieb schließlich bei mir hängen. Er war deutlich angespannt, als wüsste er genau, dass es seine Freundin gewesen sei, es aber einfach nicht wahrhaben wollte. „War es Iesha? Hat sie dir das blaue Auge verpasst?“

Nur langsam, zögernd schüttelte ich den Kopf und hoffte, dass er meine Unsicherheit nicht bemerkte und dann wieder doch, um vielleicht noch einmal nachzufragen, bis ich ihm die Wahrheit sagte. „Nein. Ich bin gestolpert und gefallen, weil es so dunkel war. Das hab ich doch schon gesagt.“

Beinahe triumphierend wandte Cio sich wieder an Aric. „Siehst du, sie ist gefallen. Also lass Iesha in Ruhe.“

Das hätte ich mir denken können. Natürlich fragte er nicht noch mal nach. Er wollte seiner Freundin vertrauen können und ich hatte gerade dafür gesagt, dass er blind für ihre Lügen blieb.

„Das behauptet sie zumindest“, sagte Aric.

Cio verengte die Augen. „Was soll das heißen? Dass sie mich anlügt? Warum sollte sie? Wenn meine Freundin ihr eine verpasst hätte, dann würde sie das sicher sagen.“

„Und ich denke genau das ist der Grund, warum sie es nicht tut.“

„Was?“ Cio verstand nicht.

„Du weißt wie Iesha ist.“ Als Cio nur die Stirn runzelte, seufzte Aric genervt. „Schon mal auf den Gedanken gekommen, dass sie es dir nicht sagt, weil sie schon Bekanntschaft mit Iesha gemacht hat?“ Er tippte sich gegen sein Auge.

„Hör auf über mich zu reden, als sei ich nicht im Raum“, knurrte Iesha. „Wenn die kleine Schlampe zu …“

Als Aric sie warnend fixierte, verstummte sie augenblicklich. Sie schaffte es eine ganze Sekunde seinem Blick standzuhalten, dann wandte sie das Gesicht schnell ab und griff sich eines der Gläser vom Tisch, das Alina bereits gefüllt hatte. Sie leerte es auf Ex.

„Beherrschung ist etwas, dass du nicht kennst“, sagte Aric zu ihr. „Dabei wäre es für dich besonders wichtig.“

Sie griff nach einem zweiten Glas, dass sie genauso schnell leerte.

Cio sah nur unsicher zwischen seiner Freundin und mir hin und her. In seinem Kopf kämpften Zweifel mit Vertrauen. „Ist das wahr?“, fragte er dann noch mal. „Sagst du nichts, weil du befürchtest, sie könnte es noch mal machen?“

„Nein, ist es nicht“, konnte ich wahrheitsgemäß sagen. Ich befürchtete nicht, dass sie es noch mal machen könnte, ich wusste, dass sie es noch mal tun würde. Ieshas Worte waren eindeutig gewesen, genau wie ihre drohenden Blicke und sowas wie letzte Nach, wollte ich kein weiteres Mal erleben.

Außerdem, was würde es nützen einen Keil zwischen die beiden zu treiben? Ab morgen war ich sowieso nicht mehr hier, dann ging mich das alles nichts mehr an.

Dieser Gedanke gefiel mir nicht.

„Okay“, funkte Alina dazwischen und stellte die Flasche wieder ab. Nach einer Runde war die erste schon fast leer. Oh, ich ahnte Übles. Wenn Alina die Drinks mixte, musste man mit allem rechnen. „Bevor das hier jetzt in einem handfesten Streit endet, wenn Zaira sagt, dass Iesha es nicht war, dann ist das so. Außerdem sind wir hier um zu feiern.“ Sie stand auf und sah sich im Zimmer um. „Wo ist die Musikanlage? Es gibt keine Party ohne anständige Musik.“

Aric war versucht zu antworten, aber da hatte sie sie von alleine in dem Regal hinter dem Schreibtisch entdeckt und durchquerte den Raum. Keine Sekunde später hallten die aktuellen Charts in einer Lautstärke durch das Zimmer, in der man sich selber kaum noch denken hören konnte.

Alina wirbelte herum, dass das Kleid nur so flog. „Und wer tanz jetzt mit mir? Nein, erst mal anstoßen.“ Und schon war sie wieder bei uns und drückte jedem ein Glas in die Hand – für Iesha war es mittlerweile das dritte. Oder das vierte? „Auf Zaira.“ Sie hob das Glas, die anderen folgten ihrem Vorbild und dann durfte ich mir eine extrem schiefe Variante von „Happy Birthday“ anhören und musste dann auch noch so tun, als würde sie mir gefallen.

„Woher hast du das Geschenk?“, fragte Aric, als ich die Schachtel unter meinen Stuhl legte.

„Das will sie nicht sagen.“ Alina grinste frech. „Vielleicht ja von einem heimlichen Verehrer.“

„Von einem Freund, aber das habe ich schon gesagt.“ Ich ignorierte Cios Zwinkern und da Alina nun in Feierlaune war, hatte ich gerade noch genug Zeit meine Schuhe auszuziehen, bevor sie mich auf die Beine zog. Und ob ich nun wollte oder nicht, ich musste tanzen. Aber das war egal. Mit Alina die Hüfte zu schwingen, machte großen Spaß und je später – oder früher – es wurde, desto ausgelassener wurde die Stimmung. Was vielleicht auch an dem Alkohol liegen konnte, mit dem wir nicht gerade sparsam umgingen. Und als Cio uns dann auch noch zupfiff, drehte Alina völlig am Rad.

„Puh“, machte sie irgendwann und wischte sich über die Stirn. „Ganz schön heiß hier.“ Sie fuhr sich einmal durch die Haare, bis sie offen über ihre Schultern fielen. Dann grinste sie Aric schelmisch an. „Siehst du, das ist eine Frisur und nicht das was du da auf dem Kopf hast.“

Cio lachte und reichte Iesha erneut ein Glas – hm, das Mädel trank ganz schön fiel. Hoffentlich vertrug sie das auch.

Aric sah sie böse an und ich konnte nicht anders, als kichern. Ich ließ mich vor dem Tisch auf den Boden sinken und füllte mir mein Glas neu.

„Wenn du dir die Haare scheiden lassen würdest, hättest du vielleicht sogar eine Chance bei mir.“ Alina legte den Kopf schief und beobachtete sein finsteres Gesicht. „Obwohl, nee, selbst dann nicht.“

Ich kicherte wieder und kippte mit dabei den Eiswein über die Finger – Gott, ich liebte das Zeug.

„Ach und warum bitte nicht?“, wollte Aric leicht empört wissen. Es wurmte ihn wohl, dass ausgerechnet ein Mädchen wie Alina nichts von ihm wollte. Hatte der eine Ahnung. Ich kannte die Masche von ihr bereits und musste wieder einmal feststellen wie gut sie funktionierte. Aric gefiel ihr und deswegen tat sie alles, damit er das nicht merkte.

„Weil du viel zu spießig bist“, sagte Alina ganz direkt.

Ich prustete in mein Glas, während Cio ein fettes Lächeln im Gesicht saß.

„Total steif und spießig. Und das ist langweilig. Jungs müssen aufregend sein und witzig.“

Nun fühlte Aric sich wirklich angegriffen. „Ich bin weder steif noch spießig!“

Okay, es war albern und voll kindisch, aber als er sagte: „Ich bin nicht steif“ konnte ich gar nicht anders, als in schallendes Gelächter auszubrechen. Gott, wie viel hatte ich den schon intus? Ich dachte doch sonst nicht so versaut.

„Ach nein?“ Alina lächelte listig. „Beweis es mir.“

„Warum sollte ich?“

Sie zuckte die Schultern. „Dann lass es eben. Du bist halt doch nur ein Prinz.“

Wie sie das sagte, diese Herausforderung musste selbst Aric gehört haben. Aber vielleicht war es gerade das, was Aric handeln ließ.

„Okay, dann beweise ich es dir eben, was soll ich tun?“

„Wirklich?“ Alinas Augen blitzten listig. „Du willst es beweisen?“

„Das hab ich doch wohl gerade gesagt.“

Nicht nur ich sah voller Erwartung zwischen den beiden hin und her. Das konnte nur witzig werden.

„Hm, mal nachdenken.“ Alina legte einen Finger ans Kinn, aber mich konnte sie damit nicht täuschen. Sie wusste garantiert schon, was Aric tun sollte. „Okay, ich hab es.“ Das Grinsen in ihrem Gesicht wurde richtig breit. „Strip für uns.“

„Woo-hoo!“, gröllte ich los und Cio gab sofort Beifall.

„Was?!“, kam es äußerst pikiert von Aric. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. „Ich mach mich für euch hier doch nicht zum Affen.“

„Feigling!“, rief Alina.

„Los, runter mit den Klamotten!“, stimmte ich mit ein, ohne mir eigentlich im Klaren zu sein, was genau ich das von mir gab.

„Ja!“, gab auch Cio seinen Senf dazu. „Wir wollen nackte Haut sehen!“

„Nackte Haut“!, rief ich und hielt mein Glas in die Luft.

„Nackte Haut“, kam es auch von Alina und dann machten wir daraus einen Stimmchor. „Nackte Haut, nackte Haut!“

„Vergesst es“, sagte Aric beistimmt. „Das mach ich auf keinen Fall.“

„Dann mach ich es!“, rief Cio begeistert und kramte sich schon halb von der Couch runter, doch Iesha hielt ihn fest.

„Nein, das machst du nicht!“

Cio seufzte genervt. „Ach komm schon Iesha, ist doch nur Spaß. Und ich verspreche auch, nicht alle Hüllen fallen zu lassen.“ Grinsend gab er ihr einen Kuss auf die Lippen und sprang dann auf die Beine, ohne seine Freundin weiter zu beachten, die ihn nur entsetzt ansah.

„Cio! Wenn du das machst, dann sind wir geschiedene Leute!“

Er warf ihr eine Kusshand zu und ich vermutete, dass er auch schon einiges intus hatte und nicht recht begriff, was er da tat. „Ihr wollte also nackte Haut sehen?!“

Alina und ich jubelten zustimmend und grölten vor Freude über seine lässige Drehung. Dann wurde es witzig. Cio hatte seine ganze eigene Art einen Strip abzuziehen. Als erstes flogen die Schuhe nach links und rechts davon, trafen dabei auch noch fast den Computer. Als nächstes landete er bei dem Versuch sich seine Socken auszuziehen auf dem Hintern, was mich und Alina in lautes Gelächter ausbrechen ließ. Eine Socke flog zu Iesha, die Diese ignorierte und stattdessen lieber nach der Flasche auf dem Tisch griff, um direkt von der Quelle zu trinken. Die zweite flog in einem hohen Bogen zu Aric, der sie angewidert von sich warf.

Dann begann Cio zu tanzen, so richtig bescheuert. Er tat etwas, das wie eine Mischung aus Roboter und Eierlauf aussah, nur um dann in einen Ententanz über zu gehen. Ich klatschte wild Beifall und als er dann mit seinem Hintern vor meinem Gesicht rumhammpelte, klatschte ich auch noch mal da drauf, was mir ein Zwinkern von ihm einbrachte.

Und dann kam endlich der spannende Teil. Er griff an den unteren Saum seines Pullis und zog ihn sich mit einer Bewegung aus, nur um sich uns dann mit ausgebreiteten Armen zu präsentieren. „Na Mädels, was haltet ihr davon?“

Alina und ich pfiffen und applaudierten.

„Danke, danke, ich weiß euren Applaus zu schätzen.“ Cio verbeugte sich mit sehr viel Gehabe, warf mir dann den Pulli zu und setzte sich dann lächelnd zurück auf die Couch, wo Iesha mit einem seltsam glasigen Blick saß. Ihm schien das auch aufzufallen. Er lehnte sich ein wenig vor und berührte sie am Arm. „Iesha?“

Langsam drehte sie ihm das Gesicht zu und lächelte. Ein solches Lächeln hatte ich noch nie an ihr gesehen. „Ich liebe dich“, nuschelte sie und dann kippte sie einfach der Länge nach auf die Couch.

„Verdammt“, fluchte Cio und beugte sich über sie. Vorsichtig schlug er ihr auf die Wangen, doch sie schmatzte nur genüsslich und drehte sich auf die Seite.

„Da hat wohl jemand zu tief ins Glas gesehen“, kommentierte Alina.

„Leider nicht zum ersten Mal“, grummelte Cio und seufzte.

„Selber schuld“, kam es von Aric. „Wenn du hier so eine Show abziehen musst, kommt sowas dabei raus.“

Bevor die beiden heute Abend ein weiteres Mal aneinander geraten konnten, sprang ich auf die Beine und riss mir die Maske vom Kopf. „Ich will tanzen!“ Und das tat ich dann auch. Völlig überdreht, wie ein kleines Kind und ungezügelt. „Komm, Cio, tanz mit mir!“, forderte ich ihn auf und griff nach seiner Hand. Tja, Alkohol beflügelte wohl doch, denn im nüchternen Zustand hätte ich mich sicher nicht getraut. Aber im Augenblick war mir das völlig egal.

Ich zog ihn auf die Beine und drehte mich einmal unter seinem Arm hindurch.

Alina lachte, als ich bei diesem Manöver fast auf die Nase fiel und setzte sich in Bewegung. Genaugenommen setzte sie sich völlig ungeniert auf Arics Schoß, zog seinen Ausschnitt nach vorne und linste hinein.

„Was bitte machst du da?“

„Ich gucke ob du Haare auf der Brust hast.“ Sie grinste ihn an. „Wenn du wie ein haariger Gorilla aussehen würdest, würde das zumindest erklären, warum du dich nicht traust zu strippen.“

„Ich habe keine Haare. Weder auf der Brust, noch auf dem Rücken.“

„Beweise.“

Aric kniff die Augen leicht zusammen, schob Alina dann schon seinen Beinen, um sich aufzurichten und das Hemd aufzuknöpfen. Dann ließ er es mit einer kreisenden Bewegung der Schultern von den Armen gleiten. „Bist du nun zufrieden?“

„Dreh dich“, wies sie ihn an und er tat es wirklich. Und kaum dass er ihr den Rücken zugedreht hatte, schnappte sie sich sein Hemd und rannte lachend damit weg.

„Hey!“, protestierte Aric.

„Das verkaufe ich bei Ebay! Das Hemd von Prinz Aric, das bringt bestimmt eine Stange Geld“, rief Alina laut und rannte aus dem Zimmer.

„Was? Nein! Bleib sofort stehen.“ Er heizte ihr hinterher und ich stand lachend mitten im Raum und konnte mich wahrscheinlich nur aufrecht halten, weil Cio seine Hände von hinten auf meine Taille gelegt hatte. „Er geht ihr voll auf dem Leim!“, kicherte ich und drehte mich zu Cio herum. „Hast du das gesehen?“

„Auf dem Leim?“, fragte Cio. „Das war also geplant? Ihr seid ja zwei ganz ausgefuchste Mädchen.“

„Ganz fuchsig“, stimmte ich ihm zu. Moment, was bedeutete fuchsig noch mal? Das war jetzt irgendwie der falsche Kontext gewesen, oder? Egal.

„Fuchsig also, ja?“ Sein Lächeln veränderte sich irgendwie.

„Listig wie ein Fuchs“, stimmte ich grinsend zu.

„Ja, das habe ich gemerkt.“ Er trat etwas dichter, sodass ich seinen Brustkorb an meinem spüren konnte. „Habt ihr euch vorher einen Plan zurechtgelegt, oder das spontan entschieden?“

„Spontan“, sagte ich. Mein Lächeln verrauschte ein wenig. Warum sah er mich so an, so … so intensiv? Und warum schlug mein Herz plötzlich so schnell? „Tanzt du wieder mit mir?“

„Ich würde jetzt viel lieber etwas anderes tun.“ Seine Stimme war leiser, rauer geworden. Und als ich dann plötzlich auch noch seine Finger an meinem Schlüsselbein spürte, die langsam meinen Hals hinaufwanderten, um sich an meine Wange zu legen, setzte mein Herz einen Schlag aus, um dann mit der Geschwindigkeit eines Düsenjets weiterzuschlagen.

Als er sich dann leicht vorbeugte und ich seinen Atem auf meinen Lippen spüren konnte, geschah etwas ganz komisches in meinem Magen. Er wird mich küssen, wurde mir klar. Oh Gott, oh Gott, oh Gott, er küsst mich gleich!

Wollte ich das? Ja verdammt, ich wollte das! In diesem Moment wollte ich nichts anderes, aber dann bekam ich Panik. Iesha war im Raum. Gott, seine Freundin schlief besoffen auf der Couch und er wollte mich küssen! „Cio“, flüsterte ich.

„Alles Gute zum Geburtstag, Zaira“, raunte er und senkte seine Lippen auf meinen Mund. Doch er traf ihn nicht.

Ich war zurückgezuckt, machte hastig einen Schritt von ihm weg und fiel bei meiner Flucht fast noch über meine Beine. „Hey, ist noch was von dem Eiswein da? Ich liebe das Zeug.“ Ich lachte etwas überdreht und wandte mich zum Tisch um. Um ein Haar hätte er mich geküsst. Und ich? Verdammt, warum hatte ich es nicht zugelassen?

„Das war jetzt aber eine ziemlich miese Tour, mir eine Abfuhr zu verpassen“, sagte er leicht beleidigt.

„Du hast … du bist …“ Ich drehte mich wieder zu ihm herum, darauf bedacht, ihn kein zweites Mal so nahe kommen zu lassen, denn ich wusste nicht, ob ich es ein zweites Mal unterbinden würde. „Wir können das … nein, bleib da stehen!“

Tat er nicht. Schritt für Schritt kam er auf mich zu und ich konnte nicht anders, als wie gebannt auf seine blanke Brust und auf diese Oberarme und die Augen zu gucken. Aber vor allen Dingen nahm mich der Anblick seines Mundes gefangen.

„Du kannst das nicht tun“, sagte ich ein wenig kläglich. „Du bist ein Lykaner.“

„Und?“

„Dein Instinkt verbietet es dir. Ich bin ein Vampir.“

„Scheinbar nicht genug Vampir, um diesen Instinkt anspringen zu lassen.“ Er trat so dicht, dass ich seinen Atem im Gesicht spüren konnte. Seine Hand hob sich an mein Gesicht. Er berührte das Loch an meiner Augenbraue, als fragte er sich, wo das passende Piercing dazu abgeblieben war. „Im Moment sprichst du nur einen meiner Instinkte an.“

Oh verdammt. „Nein, Cio, tu das nicht.“

„Ich mache doch gar nichts“, sagte er leise. Langsam wanderte seine Hand an meinem Gesicht herab und ich wehrte mich nicht, als seine Finger sich um mein Kinn schlossen. Einen Moment überlegte ich noch fieberhaft, was ich tun sollte und dann lagen seine Lippen auf meinen. Fordernd, drängend. Und diese Gefühle … das war ein Kribbeln bis in die Zehenspitzen. Ich schmeckte ihn, schmeckte den Alkohol und roch ihn. Sein Duft war so sauber und rein. Er kitzelte mich verspielt in der Nase. Ich wusste nicht wie, meine Hand fand ihren Weg ganz alleine an seine nackte Haut. Die Brust mit dem schnellen Herzschlag. Das war so … aber, nein – NEIN – ich durfte das nicht. Nicht so.

Ich riss mich von ihm los und brachte mit einen paar schnellen Schritten den Tisch zwischen uns. „Nein, bleib da stehen“, sagte ich, als er mir wieder folgen wollte. „Ich meine es Ernst, Cio, bleib weg.“ Mein Atem ging immer noch zu schnell und mein Herz … oh Gott, das durfte doch nicht wahr sein. Ich konnte mich doch nicht wirklich … nein, das war unmöglich! „Komm nicht näher.“

Mit einem leichten Grinsen auf diesen wunderbaren Lippen, die so tolle Dinge in mir auslösen konnten, neigte er den Kopf zur Seite. „Zaira, das …“

„Wenn du mit Iesha nicht mehr zusammen sein willst, dann verlass sie, aber nicht so“, schoss es aus meinem Mund. Dieser eine Satz reichte um ihn zum verstummen zu bringen. „Nicht so, Cio, das hat sie nicht verdient. Das hat niemand verdient.“

Einen langen Moment schaute er mich einfach nur an. Die Zeit schien sich ins Unendliche auszudehnen, während wir dastanden und nichts anderes taten, als uns anzuschauen. Dann blinzelte er und warf einen unentschlossenen Blick auf Iesha, nur um mich dann wieder anzusehen. „Das will ich auch nicht, ich meine … ich …“

„Es ist doch ganz einfach“, unterbrach ich sein nervöses Stottern – ein Cio der um Worte verlegen war, das ich das noch erleben durfte. „Liebst du sie noch, oder tust du es nicht?“ Bei der Frage hätte ich mir am liebsten die Zunge abgebissen. Ich wollte das nicht wissen, nicht wenn die Antwort meine Befürchtungen bewahrheiten könnte.

„Naja, ich …“, druckste Cio herum. „Iesha ist so …“

„Vergiss für einen Moment was sie getan ha. Vergiss was euch und eure Beziehung so belastet.“ Vergiss was wir gerade getan hatten. „Und dann sage mir, ob du sie noch liebst.“

„Das ist nicht so einfach und das weißt du auch.“ Er drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

Ja das wusste ich. Aber er hatte ihr immerhin noch eine Chance gegeben und ihr Vertrauen auf diese Art zu benutzen, hatte nicht mal sie verdient. Ich warf einen Blick zur Couch und mich traf fast der Schlag, als ich sah, dass Ieshas Augen offen waren. Scheiße, seit wann war sie wach? Hatte sie das alles gesehen, oder war sie erst vor ein paar Sekunden zu sich gekommen?

„Ich hasse ihre zickige Art und ihre ewige Rechthaberei geht mir ehrlich gesagt ziemlich auf den Sack“, sagte Cio. Er hatte nicht bemerkt, dass seine Freundin wieder bei Bewusstsein war und jedes seiner Worte hören konnte. „Und wenn sie wieder eine ihrer Eifersuchtsattacken bekommt, würde ich ihr manchmal am liebsten den Hals umdrehen, einfach weil … es macht mich wahnsinnig. Ich meine, es kann doch nicht normal sein, dass ich mit keiner Frau zwischen zehn und neunundneunzig unterhalten darf, ohne das sie rot sieht.“ Er drückte die Lippen aufeinander.

Ich wartete einfach, weil ich mir sicher war, dass da noch mehr kam. Und ich sollte recht behalten.

Es fing ganz leicht an, dieses kleine Lächeln das um seinen Mundwinkel spielte. Nur ein Hauch. „Aber wenn sie mich dann anlächelt, so völlig unbefangen, dann ist das alles egal. Ihr Lächeln, das ist so …“ Er stockte. „Ich rede gerade ziemlichen Blödsinn, was?“

„Nein, tust du nicht.“ Leider. „Das heißt, du liebst sie noch.“

„Ich weiß nicht, ich glaub schon. Ach keine Ahnung.“ Verlegen rieb er sich mit der Hand über den Nacken. „Das ist alles so kompliziert geworden. Wenn sie doch nur nie … ach scheiße.“

„Du liebst sie noch immer“, sagte ich leise und ging zu ihm, um ihn zu Iesha zu drehen. Er war wirklich überrascht, sie wach zu sehen. Das war unverkennbar. „Und genau aus diesem Grund solltet ihr beide euch einmal richtig aussprechen.“ Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange, nur ganz leicht, wie die Berührung einer Feder und wandte mich dann ab, bevor er den Schmerz in meinen Augen entdecken konnte. Mein Geschenk nahm ich noch an mich, dann war ich weg. Ohne Schuhe und Maske. Ohne den Blick noch einmal zurückzuwerfen, verließ das Zimmer. Erst dann gestattete ich mir, dem Brennen in meinen Augen nachzugeben.

In den letzten Minuten war mir nur eines zu klar geworden. Ich hatte mich in einen Typen verliebt, der eine andere Liebe. Ein Mädel das große Fehler gemacht hatte, das ihn betrogen und mich zusammengeschlagen hatte. Ein Mädchen, dass jede andere Frau auf der Welt verabscheute, weil sie überall potentielle Konkurrentinnen sah, aber er liebte sie. Und ich hatte dafür gesorgt, dass die beiden es noch einmal miteinander versuchen konnten.

Ich war so dumm.

Dumm, dumm, dumm.

Wie hatte das nur passieren können? Warum hatte er mich küssen müssen? Warum hatte ich nicht schon früher gemerkt, dass ich etwas für ihn empfand? Dieses ständige Bauchkribbeln und sein hinreißendes Lächeln, seine Art, die mich immer bis ins Herz traf. Warum nur?

Mit jedem Schritt dem ich den Korridor hinunter ging, dem ich mich der Treppe nährte, drangen leise Worte an meine Ohren, gefolgt von dem Lachen von Alina. Ich war nicht einen Moment versucht, mich oder meinen Tränen vor ihr zu verstecken. Ich wollte jemand, der mich einfach ohne Fragen in den Arm nahm und mir erzählte, dass alles wieder gut werden würde, auch wenn es eine Lüge war. Ich wollte es einfach hören.

Doch es war nicht Alina, die mich zuerst bemerkte, sondern Aric, der neben ihr auf der obersten Stufe der schwebenden Treppe saß. Das Lächeln, der er auf den Lippen trug, fiel ihm bei meinem Anblick sofort aus dem Gesicht. „Ist was passiert?“

Stumm schüttelte ich den Kopf. Nicht weil ich seine Frage verneinen wollte, sondern weil ich nicht reden wollte. Nicht mit ihm und im Augenblick mit niemanden. Ich sah nur zu Alina und die brauchte keine extra Einladung. Meine Tränen sprachen ihre eigene Sprache. Sie war sofort bei mir und riss mich praktisch in eine tröstende Umarmung. „Hey, Süße, nicht weinen. Schhh, alles wird wieder gut.“

Ich vergrub mein Gesicht an ihrer Schulter und krallte mich meine Hände in ihren Rücken. Es war nicht so dass ich laut heulte und schluchzte, das hatte ich noch nie getan. Meine Tränen liefen still und leise und waren alles, was meinen Schmerz Ausdruck verlieh.

Auch Aric erhob sich von der Treppe und stellte sich zu uns. Nur zögernd hob er die Hand, als wolle er sie mir tröstend auf die Schulter legen, ließ sie dann aber unentschlossen zurück an seine Seite fallen. „Was ist denn passiert?“

„Man Aric“, fuhr Alina ihn ein bisschen barsch an. „Siehst du denn nicht, dass sie nicht reden möchte?“ Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie so viel Dummheit gar nicht glauben. „Und jetzt geh, das hier ist eine Mädchenangelegenheit.“

Nur langsam öffnete er den Mund, runzelte dabei die Stirn, „Aber …“

„Geh einfach.“ Sie drückte mich ein wenig fester an sich. „Das hier geht dich nichts an.“

Er war unentschlossen, weil er nicht verstand was geschehen war. Vor zehn Minuten war ich schließlich noch lachend durch sein Zimmer getanzt und hatte mit Cio herumgealbert, aber wenigstens sah er ein, dass er hier im Moment nicht viel ausrichten konnte. „Okay, dann …“ Er sah von einem zum anderen. „Dann geh ich wohl besser.“

Ich sah es nicht, aber ich wusste, dass Alina die Augen verdrehte und konnte dann hören, wie Aric nach einem gemurmelten „Nacht“ den Korridor hinabging. Erst als er in seinem Zimmer verschwunden war, wo Cio und Iesha nun wahrscheinlich ihre neugewonnene Liebe feierten, richtete sie das Wort an mich. „Sagst du mir was passiert ist?“

Ich schüttelte nur den Kopf und klammerte mich ein bisschen fester an sie. Wie konnte ich ihr auch sagen, dass ich so dumm gewesen war, mich in einen Kerl zu verlieben, der nicht nur eine psychopathische Freundin hatte, sondern, den ich auch nie wieder sehen würde? Wie konnte ich ihr sagen, dass ich es bis eben nicht einmal bemerkt hatte? Nicht bis zu dem Moment, als er versucht hatte mich zu küssen. Und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, hatte ich dafür gesorgt, dass er die Differenzen mit seiner Freundin beilegen konnte, um noch lange glücklich mit ihr zu sein.

Ich war so dumm. Warum nur hatte ich nicht einmal im Leben selbstsüchtig sein können? Hätte ich mich doch nur küssen lassen. Iesha hätte es sicher gesehen und dann wäre es zwischen den beiden aus gewesen. Aber was machte das schon für einen Unterschied? Morgen würde ich den Hof verlassen und damit rutschte er für mich in unerreichbare Ferne.

Nein, es war wirklich besser so.

„Wollen wir uns draußen dann ein wenig die Beine vertreten? Flair muss sicher mal Pinkeln und ich muss etwas klarer im Kopf werden.“ Sie überlegte kurz. „Oder soll ich dich in dein Zimmer bringen?“

„Zimmer“, nuschelte ich mit erstickter Stimme. Ich wollte nur noch in mein Bett und schlafen, um das alles vergessen zu können. Vielleicht war morgen ja wieder alles in Ordnung, vielleicht hatte ich mich ja bis dahin entliebt.

Und vielleicht würden Schweine dann auch fliegen können.

 

°°°

 

Es war schon Vormittag, als ich an der Seite meines Vaters das HQ verließ und hinaus in den verschneiten Vorgarten trat. Die Sonne glitzerte auf dem Schnee und ließ ihn wie tausend Diamanten funkeln. Was für ein Hohn. In mir drinnen sah es alles andere als strahlend aus. Ein leichter Nieselregen würde eher zu meiner Stimmung passen.

Mein Vater tätschelte mir mitfühlend den Rücken. Er glaubte, dass meine Stimmung allein an dem Abschied von Cayenne zusammen hing. Aber das war es nicht nur. Es war alles zusammen. Der Hof, die Leute die hier lebten und Cio. Ich war nur eine Woche hier gewesen und trotzdem, das alles würde mir furchtbar fehlen.

„Na komm.“ Papa drückte mich kurz an sich und schulterte dann meine Reisetasche neu, während ich zu Mama und Alina rübersah, die schon an unserem Wagen standen. „Du wirst sehen, es wird alles wieder in Ordnung kommen.“ Seine Stimme war weich und tröstend, doch sein Blick war seltsam wachsam. Immerzu glitt er über die Leute hier draußen, als vermutete er eine Gefahr.

Er schaute zur Cayenne, Sydney und Aric, die uns verabschieden wollten. Er beobachtete Mama und Alina, genauso wie Flair, die ihre morgendliche Bewässerungsrunde mit viel Enthusiasmus in Angriff nahm. Und auch all die Fremden behielt er im Auge, die sich aus den verschiedensten Gründen hier aufhielten. Wie Diego, der wachsam im Hintergrund lauerte, oder auch Alinas Eltern, die gerade dabei waren die Sachen ihrer Tochter in unseren Wagen unterzubringen – ja, Alina würde uns ein Weilchen besuchen.

„Na komm“, forderte mein Vater mich erneut auf. „Es wird nicht einfacher, nur weil du es heraus zögerst.“

Nein, wahrscheinlich nicht. Aber auch nicht schwerer.

Seufzend ließ ich meinen Blick noch einmal wandern, nur um den einzigen zu bemerken, dem ich heute am liebsten entgangen wäre. Cio. Doch jetzt lächelte er mir jedem Schritt, den er auf auf mich zu machte, ein wenig breiter und mir wurde klar, ich wäre nicht glücklich geworden, wenn ich einfach ohne einen Abschied von ihm verschwunden wäre. Und dabei war es egal, wie ich ihn gestern zurückgelassen hatte.

„Fünf Minuten“, sagte mein Vater, der Cios Ankunft misstrauisch beobachtete und machte sich dann auf dem Weg zu Mama. Ich glaubte, er mochte den jungen Lykaner nicht, konnte aber nicht sagen, woran das lag.

Nervös strich ich mir eine lange Strähne hinters Ohr, als Cio grinsend vor mir zum stehen kam – an die langen Haare würde ich mich wohl erst noch gewöhnen müssen. Er sah ziemlich übermüdet aus, ein wenig blass. Die dunkle Ringe unter seinen Augen ließen ihr fast wie eine wandelnde Leiche wirken und die Wollmütze saß ziemlich schief auf seinem Kopf. Es war wohl noch eine lange Nacht bei ihm geworden.

Wieder schlug mein Herz schneller. War wohl doch nicht mit entlieben über Nacht. Tja, ich sah ja auch keine fliegenden Schweine.

„Hey, du“, lächelte er und schaffte es damit mein Herz ein wenig schneller schlagen zu lassen.

„Hey.“ Ich versuchte es mit einem Lächeln, von dem mir aber das Gesicht wehtat. Warum nur war es plötzlich so schwer ihm gegenüber zu stehen? Bis gestern war das doch auch kein Problem gewesen. Gott, warum nur hatte er mich küssen müssen?

Kurz schweifte Cios Blick zu Cayenne, bevor er sich wieder an meinem Gesicht festsog. „Wolltest du dich etwa heimlich aus dem Staub machen, ohne dich von mir zu verabschieden?“

„Kann sein“, sagte ich schüchtern und wich für eine Sekunde seinem Blick aus. „Ich dachte es wäre besser so.“

„Nein wäre es nicht“, erwiderte er bestimmt.

„Okay.“ Ich sah wieder zu ihm auf. Warum nur wirkten seine Augen heute so trübe? Lag das am Schlafmangel? „Geht es dir gut?“

„Klar, warum auch nicht.“ Sein Blick fiel auf mein Karohemd unter meiner offenen Jacke. Das Hemd, das er mir gestern geschenkt hatte.

Ich hatte keine Ahnung, warum ich es trug, doch als ich es heute Morgen in den Händen gehalten hatte, um es in meine Reisetasche zu legen, musste ich es einfach vorher einmal anprobieren und entgegen meiner Befürchtungen, stand es mir gar nicht mal so schlecht – auch wenn es nach meinem Befinden ein wenig offenherzig war.

„Das Hemd gefällt mir. Schicker Ausschnitt“, stichelte er auch sofort.

Kurz war ich versucht meine Jacke zu schließen, beließ es aber dann einfach dabei die Arme vor der Brust zu verschränken.

„Vielleicht sollte ich mir sowas auch zulegen“, überlege Cio und zog den Kragen seines Pullis so weit runter, das ein kleiner Teil blanker Haut frei wurde. „Was meinst du, würde mir das stehen?“ Er drehte sich ein bisschen nach links, dann ein bisschen nach rechts, damit ich ihn auch von allen Seiten inspizieren konnte.

Meine Augen wurden feucht. Wie er da so ausgelassen vor mir rumhampelte … ich konnte gar nichts dagegen tun, dass ich plötzlich undicht wurde und eine Träne über meine Wange kullerte.

„Hey, nicht weinen“, sagte Cio beinahe entsetzt. „Wenn das wirklich so schrecklich aussieht, dann lass ich das mit dem Hemd. Versprochen. Hier.“ Er hielt mir seinen kleinen Finger hin. „Indianerehrenwort.“

„Du bist ein Idiot“, warf ich ihm vor, schlug seine Hand weg und schlang dann einfach die Arme um seinen Hals. Nur einmal wollte ich ihm so nahe sein, ein einziges Mal das Gesicht in seiner Halsbeuge vergraben und sein Geruch tief einatmen. Nur einmal seine Wärme spüren. Und als er dann ohne zu zögern die starken Arme um mich legte und mich sanft an sich drückte, wollte ich diesen Moment so lange wie möglich herauszögen. „Ich werde dich vermissen.“ Und wie sehr ich ihn vermissen würde, konnte er sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen.

„Ach komm schon, Zaira, ich bin ja nicht aus der Welt. Hier.“ Er schob mich halb von sich, um mit einer Hand an seine Hosentasche zu gelangen. Mit geschickten Fingern fischte er einen kleinen Zettel heraus, den er mir vor die Nase hielt. „Du kannst mich anrufen.“

Eine Telefonnummer. Er hatte mir tatsächlich seine Telefonnummer aufgeschrieben, weil er wollte, dass wir in Kontakt blieben. Aber das durften wir nicht. Ich wollte meinen Vater kein zweites Mal enttäuschen. Und mit Cio zu sprechen, dass würde einfach … nein, das konnte ich nicht.

Ich glaubte nicht, dass mir in meinem Leben schon mal etwas so schwer gefallen war, wie in diesem Moment meine Arme von Cio zu lösen und seine Hand mit dem Zettel darin zu schließen. „Ich werde nicht anrufen, Cio. Ich werde nie wieder herkommen“, sagte ich leise und trat von ihm zurück. Nur ein letzter Blick noch in diese traurigen Augen, die sonst so vor Leben und Freude sprühten, dann drehte ich mich um und verbot mir noch einmal zu ihm zurückzuschauen. „Mach es gut. Elicio, du römischer Gott“, flüsterte ich so leise, dass er es vermutlich gar nicht gehört hatte und ging dann mit langsamen Schritten auf meine Eltern zu.

Ich konnte seinen Blick in meinem Rücken spüren, aber ich würde mich nicht umdrehen. Das hier war ein Abschied für immer und es würde nicht einfacher werden, wenn ich den Augenblick hinauszögerte. Mein Vater sollte also mal wieder recht behalten.

Alina saß bereits mit Flair auf dem Schoß auf dem Rücksitz im Wagen, als ich zu den anderen kam und Cayenne vorsichtig entgegen lächelte.

Sie machte den Mund auf. Einmal, zweimal, dreimal, aber kein Ton kam heraus. Letzten Endes riss sie mich einfach in eine Umarmung und drückte mich fest an sich. „Ich will nicht dass du gehst“, weinte sie mir ins Ohr. „Ich muss dich doch noch richtig kennenlernen. Bitte geh nicht.“

Oh Gott, warum musste sie das so sagen? Ich konnte dich nicht bleiben.

„Cayenne“, mahnte mein Vater mit harter Stimme.

Meine Erzeugerin hatte sich so schnell von mir gelost und war zu Papa herumgefahren, dass ich fast auf die Nase fiel. „Halt dich da raus, Ryder! Nur einmal in deinem Leben solltest du einfach die Schnauze halten und dich nicht einmischen, kapiert?!“, schrie sie ihn an. Dabei liefen ihr dicke Tränen über die Wangen. „Nur ein Mal!“

Mein Vater drückte die Lippen aufeinander.

„Königin Cayenne“, wagte sich da ein mutiger todesmutiger Wächter an sie heranzutreten. Hardy. „Wegen dem Einbruch, wir haben …“

„Sehe ich so aus, als wenn ich jetzt Zeit für für diesen verdammten Einbruch hätte?!“, fauchte sie ihn an.

Cayenne“, sagte Sydney sanft.

„Scheiße!“, fluchte sie, wischte sich die Tränen aus den Augen und machte hastig ein paar Schritte von uns weg. Sydney folgte ihr sofort.

„Was für ein Einbruch?“, wollte ich wissen.

Aric zögerte, sah kurz zu seiner Mutter und rieb sich dann über das Kinn. „Gestern Abend während des Maskenballs ist jemand in Sydneys Arbeitszimmer eingebrochen und hat wohl ein paar äußerst wichtige Bücher gestohlen. Sie waren wohl in einem versteckten Tresor im Boden eingeschlossen, aber heute Morgen waren sie weg.“

„Bücher?“ Was konnte an Büchern denn so wertvoll sein, wenn sie nicht gerade antik waren?

„Ich habe keine Ahnung was in diesen Büchern stand, aber meine Mutter hat fast einen Nervenzusammenbruch erlitten, als sie gehört hat, dass sie verschwunden sind. Und auch mein … Sydney ist äußerst besorgt. So habe ich ihn noch nie erlebt.“

Hatte er gerade überlegt, ob er Sydney Vater nennen sollte? Vielleicht auch Erzeuger, so wie ich es mit Cayenne tat. Und verdammt, sie sah wirklich fertig aus.

Meine Mutter lehnte sich vertrauensvoll an meinen Vater. „Es ist Zeit, Donasie, wir müssen gehen.“

Ja, dass mussten wir wohl. Ich reichte Aric die Hand, die er auch ohne zu zögern ergriff, und drückte sie leicht. „Mach´s gut, Aric.“

„Mach´s besser, Prinzessin Zaira.“ Er grinste etwas schief, was ich nur schwer erwidern konnte. Und dann, als ich ihn losgelassen hatte und mich mit einem letzten Blick auf meine leibliche Mutter den Wangen zuwenden wollte, schoss Flair plötzlich laut kläffend daraus hervor und stürzte freudig zu einer kleinen Gestalt, die sich uns zögernd nährte. „Fujo.“Auf keinen Fall konnte ich gehen, ohne mich von der kleinen zu verabschieden. „Bin gleich wieder da“, sagte ich zu meinen Eltern und kam ihr auf halbem Wege entgegen.

Flair saß in der Zwischenzeit auf ihrem Arm und leckte ihr begeistert das Kinn ab.

„Hey“, sagte ich.

Sie sah zu dem Wagen und den Leuten, die dort auf mich warteten. „D-d-du fährst weg?“

„Ja. Es ist Zeit für mich wieder nach Hause zu gehen.“ Auch wenn ich das nicht wollte. „Aber ich freue mich, dich vorher noch einmal zu sehen.“ Ihr trauriger Blick traf mich bis ins Herz.

„K-kommst du w-w-wieder?“

Bedauernd musste ich den Kopf schütteln. „Nein, das geht nicht.“

Jetzt sah sie erst recht traurig aus. Oh Gott, warum nur hatte sie so große Augen? Wie sollte ich das verkraften?

Vorsichtig sah sie an mir vorbei und ich brauchte einen Moment um zu bemerken, dass sie Mama ansah.

„Ja, das ist meine Mutter, wenn du dich das gefragt hast.“

Ertappt sah sie wieder zu mir.

„Soll ich sie dir mal vorstellen? Sie ist echt nett.“

Fujo drückte Flair fester an ihre Brust. Ich glaubte für sie war es schlimmer, dass sie meinen Hund nie wiedersehen würde, als dass ich mich für immer verabschiedete.

„Na komm.“ Lächelnd berührte ich sie an der Schulter und schob sie leicht vorwärts.

Es war nicht direkt Widerwille, der sie langsam laufen ließ, sondern die Angst vor dem Unbekannten. Da waren so viele Leute und sie alle sahen uns entgegen. Aber ich ließ nicht locker. Dass sie neugierig auf meine Mutter war, hatte ich schon bei unserem Gespräch über sie festgestellt und jetzt war nun mal die letzte Gelegenheit sie kennen zu lernen. Außerdem konnte ich den Abschied so doch noch ein kleinen wenig herauszögern und dabei auf ein Wunder hoffen, das mir dabei helfen würde, doch nicht nach Hause zu müssen. Nicht jetzt, nicht für immer.

Mein Vater stand unter deutlicher Anspannung, als ich die Kleine vor die beiden schob.

„Das ist Fujo. Fujo, das ist meine Mutter Tarajika.“ Ich lächelte zu meiner Mutter. „Sie wollte dich einmal kennenlernen.“

„Oh“, machte Mama. Auch sie sah deutlich verunsichert aus.

Fujo runzelte die Stirn. „Ich h-habe dich mal auf einem B-b-bild gesehen.“

„Drius!“, schallte es in diesem Moment quer über den Vorhof.

Ich war nicht die einzige, die in diesem Moment erschrocken herumwirbelte und dem wütenden Großvater von Fujo entgegensah. Er steckte mitten in der Verwandlung in einem Leoparden und mit jedem schnellen Schritt den er auf uns zumachte, schritt die Verwandlung weiter fort.

„Hisam“, sagte Cayenne in dem gleichen Moment, in dem ein ängstliches „Nein“ über die Lippen von Mama kam.

„In den Wagen“, bellte mein Vater. „Sofort!“

„Aber …“

„Drius! Du nicht entkommen, du Strafe für deine Tat und …“

„Zaira! In den Wagen!“

„Ich kümmere mich darum“, schaltete sich Onkel Tristan ein.

Auch Cayenne war auf ihn aufmerksam geworden. „Bleib fern von ihr!“

„Ihr gelogen! Ihr gesagt nicht wissen wo Drius!“, warf der Großvater von Fujo ihr vor. Die Kleidung auf seiner Haut platze. Die Nähte hatten der Verwandlung nichts entgegenzusetzen. Und dann rannte ein fauchender, ziemlich wütender, zweihundert Pfund schwerer Leopard auf uns zu.

Von der Seite sprang Diego herbei und griff ihn an. Er hatte sich in einen großen, braunen Wolf verwandelt und auch Onkel Tristan steckte mitten in der Metamorphose. Scheiße, was war hier plötzlich los?

Als Cayenne zum Himmel hinauf heulte, um ihre Wächter herbeizurufen, stieß mein Vater mich einfach auf den Rücksitz zu Alina und schlug die Tür zu.

„Flair!“, rief ich noch, aber da hatte er sie sich schon aus Fujos Händen geschnappt und rannte mir ihr zur Fahrerseite. Einsteigen, Tür zu, Auto starten war alles eins. Irgendwie schaffte er es dabei noch Flair in Mamas Schoß zu setzten und dann gab er Vollgas.

Der Kies spritzte unter den Reifen, als wir die Auffahrt runterdonnerten. Ich wurde in die Polster gedrückt und musste mich an der Tür festhalten. Scheiße was sollte das?

„Alles ist gut“, murmelte mein Vater, und legte beruhigend eine Hand auf Mamas zitterndes Knie. „Ich lass nicht zu, dass sie dich holen, das weißt du doch. Die kriegen dich nicht.“

Die Augen meiner Mutter waren vor Angst geweitet und sie murmelte unverständliche Worte. Das machte sie eigentlich nur, wenn sie sauer war, aber jetzt traf das genaue Gegenteil zu. Sie sah aus, als sei sie zu Tode verängstigt.

Ich sah durch das Rückfenster, als wir mit hundert Sachen durch das offenen Tor rasten. Von allen Seiten strömten Wölfe und Wächter zum Schlossportal, wo sich ein wütender Haufen aus Krallen und Zähnen raufte.

„Sie haben mich nicht vergessen“, sagte meine Mutter. „Ys-oog, sie suchen mich immer noch!“

Er warf ihr nur einen kurzen Blick zu und raste dann nach Silenda rein. „Aber sie werden dich nicht finden. Niemals.“ Das war wie ein Schwur.

„Verdammt, was ist hier los?!“, brach es plötzlich über meine Lippen. „Was hat das zu bedeuten? Und … und … was ist mit Mama?“

Mein Vater warf mir nur einen kurzen Blick durch den Rückspiegel zu und drückte dann die Lippen aufeinander.

„Das würde mich jetzt aber auch mal interessieren“, kam es von Alina. Auch sie sah ziemlich erschrocken aus. „Der Typ sah aus, als wollte er Tanta Ara fressen.“

Damit hatte sie den Nagel genau auf dem Kopf getroffen.

Meine Mutter atmete tief ein. „Zaira, nicht du bist der Grund, warum wir so versteckt vor der Verborgenen Welt leben, sondern ich.“

„Was?!“

„Dieser Mann und auch die anderen Ailuranthropen …“ Sie zögerte einen Moment, als wäre sie sich unsicher, ob sie mir das wirklich sagen sollte. „Meine Meute … sie wollen mich töten.“

Die wollten meiner Mutter an den Kragen? „Aber … was? Warum? Was hast du getan?“

Sie drückte kurz die Lippen aufeinander, sah dann über die Schulter zu mir nach hinten. „Weil ich der böse Zwilling bin, Drius und sie glauben, dass ich Mika getötet habe und sie nur frei sein kann, wenn auch ich sterbe.“

Was?! Sollte das ein Scherz sein? „Aber ich dachte … du hast mir immer gesagt, dass Tante Mika bei einem Unfall gestorben ist.“

„Ist sie auch“, mischte sich mein Vater ein und bretterte mit viel zu hoher Geschwindigkeit durch die Straßen von Silenda. „Deine Mutter ist als zweiter Zwilling auf die Welt gekommen und dass ist für die Ailuranthropen ein böses Omen. Sie haben deine Mutter weggesperrt, bis Lalamika sie fand, doch als die beiden miteinander gespielt haben, ist deine Tante einen Wasserfall hinuntergestürzt. Deswegen wollen die Ailuranthropen nun ihr Leben. Deswegen müssen wir uns verstecken.“

„Aber das … warum habt ihr mir das nie erzählt?“

„Weil wir dich nicht damit belasten wollten, Donasie.“

„Aber mich in dem Glauben zu lassen, dass wir der verborgenen Welt wegen mir meiden müssen, ist jetzt so viel besser? Wenn ihr mir das nur gesagt hättet, ich wäre dich nie zu Cayenne gefahren, und … scheiße, warum verschweigt ihr mir immer alles?!“ Es verletzte mich. Immer ließen sie mich im Dunkeln. Hatten sie wirklich so wenig Vertrauen in mich?

„Weil wir es für besser betrachtet haben, dich glauben zu lassen, dass wir uns aufgrund deiner Natur verstecken, als dich wissen zu lassen, dass deine Mutter eine gejagte ist“, sagte mein Vater ganz direkt und sah mir dann durch den Rückspiegel in die Augen. „Und deswegen ist es jetzt auch ganz wichtig, dass du meine Fragen beantwortest. Was hast du dieser Fujo über deine Mutter erzählt?“

„Was? Ich … ich weiß nicht. Ich hab ihr den Namen gesagt und das sie ein Ailuranthrop ist.“

„Du hast ihr nichts anderes verraten? Vielleicht wo wir wohnen? Oder unter welchem Nachnamen wir leben? Wie wir leben?“

„N-nein“, sagte ich etwas zögernd.

„Bist du sicher? Zaira, das ist sehr wichtig.“

„Nein, ich glaub nicht. Du hast mir doch immer gesagt, wie wichtig es ist, dass niemand weiß wo wir wohnen, oder wie wir heißen.“

„Und dieser Cio?“ Er beobachtete mich ganz genau. „Hast du ihm deine Telefonnummer gegeben?“

„Was? Nein! Warum sollte ich?“

Diese Frage ließ er unbeantwortet. „Und auch keinem anderen?“

„Nein, ich habe nichts gesagt.“

Ganz langsam ließ mein Vater die Luft aus seinen Lungen entweichen und während wir Silenda verließen, fragte ich mich, ob ich mich nicht doch durch irgendeine Kleinigkeit verraten hatte. Aber das hatte ich nicht, da war ich sicher.

 

°°°°°

Code: Phönix

 

„Ich will auch in die Türkei“, seufzte Alina, nachdem sich die automatischen Glastüren des Flughafens hinter uns geschlossen hatten und uns damit nach draußen auf den Parkplatz verbannten. „Sonne, Strand und jede Menge halbnackter …“

„Sprich nicht weiter“, unterbrach ich sie schnell, bevor noch mehr Einzelheiten ihrer verborgenen Phantasien ans Tageslicht kommen konnten.

Papa schüttelte nur den Kopf. „Deine Mutter würde mir vermutlich geliebte Körperteile sehr schmerzhaft entfernen, wenn ich dich allein in die Türkei fliegen lassen würde.“

„Wer redet den hier von alleine?“ Sie hakte sich bei mir unter. „Zaira kommt natürlich mit.“

Bei dem Gesicht das mein Vater machte, begann Mama lauthals zu lachen. Sie verstummte zwar sofort wieder, aber zu spät, Papa hatte es gehört.

„Keiner von euch fliegt in die Türkei“, bestimmte er in seiner besten strenger-Papa-Stimme. „Und ich glaube auch nicht, dass Amber besonders glücklich darüber wäre, wenn einer von euch sie bei ihrem wohlverdienten Urlaub stören würde.“

Und genau das war der Grund, warum wir uns am Flughafen waren. Tante Amber hatte Urlaub und befand sich jetzt in einem Flieger in die Türkei, wo sie sich die nächsten drei Wochen die Sonne auf den Pelz brennen lassen würde. Natürlich hatten wir sie verabschieden müssen und Alina hatte mehr als einmal erwähnt, dass sie unbedingt ein kleines Mitbringsel aus der Türkei haben wollte, wenn sie schon nicht mit fliegen durfte. Etwas kleines, aber Wertvolles und nicht irgend so ein Schnickschnack aus den Touristenshops.

„Ach was“, winkte Alina mit dem Armstumpf ab. „Ich bin sicher, sie wäre entzückt ihren Urlaub mit ihren beiden Lieblingsnichten zu verbringen.“

Da musste ich meiner Cousine zustimmen. Tante Amber war so durchgedreht, dass sie uns in Spanien wahrscheinlich in jede Szenebar schleppen würde, für eine Nacht voller Spaß – was auch immer das in ihrem Wortschatz bedeuten würde.

Ein Geräusch wie ein Schuss knallte über den Parkplatz. Haufenweise Leute erschraken und sahen sich nach der Ursache um. Nur meine Familie nicht, denn wir wussten genau, was dieses Geräusch zu bedeuten hatte. Kasper war im Anmarsch – oder besser gesagt, in der Anfahrt.

„Da ist unsere Mitfahrgelegenheit!“, rief Alina begeistert und trat mit wild fuchtelnden Armen in der Luft an den Bordstein, damit er uns auch auf keinen Fall übersah.

Papa dagegen beobachtete mit äußerstem Argwohn, wie mein bester Freund dieses schrottreife Gefährt am Straßenrand parkte. Der Auspuff gab ein sehr ungesundes Geräusch von sich, dann starb der Motor einen grausigen Tod und es war ruhig. Naja, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als Kasper versuchte seinen Wagen zu verlassen. Vier Anläufe brauchte er, um die widerspenstige Tür zu öffnen. Dann konnte ich einem finster starrenden Kasper entgegenblicken, der mürrisch sein Auto anfunkelte. Zumindest bis zu dem Moment, als Alina ihm die Arme um den Hals schlang und ihm einen Kuss auf die Wange drückte. Es war nicht so, dass sie sich über sein Auftauchen so freute, es machte ihr einfach nur Spaß, weil sie wusste, dass Kasper das verabscheute.

„Ich geh dann mal Kasper retten. Denk bitte dran, nachher mit Flair rauszugehen. Wir sehen uns dann heute Abend.“

„Nein, warte!“, sagte meine Vater noch während ich mich wegdrehte und biss sich dann förmlich auf die Zunge. „Kannst du … müsst ihr unbedingt in Kino? Könnt ihr euch den Film nicht in deinem Zimmer ansehen? Ihr könnt euch auch eine Pizza bestellen.“

Ich war schon im Begriff ihm zu erklären, dass wir diesen Film nicht zu Hause sehen konnten, weil er ja gerade erst im Kino angelaufen war, doch ich verkniff es mir noch rechtzeitig. In der letzten Woche, seit der Rückkehr aus dem Hof vor neun Tagen, war mein Vater immer sehr wachsam und immer leicht nervös. Und da war es egal, ob wir uns in der Öffentlichkeit, oder Zuhaue aufhielten. Vor einer Woche hatte ich ihm in einer kleinen Auseinandersetzung an den Kopf geknallt, dass er langsam paranoid wurde, da er weder mich, noch Alina und schon gar nicht meine Mutter aus den Augen lassen wollte. Ständig rechnete er mit einem hinterhältigen Angriff der Ailuranthropen und hatte Angst nicht zugegen zu sein, um notfalls eingreifen zu können, wenn wir nicht in seiner Nähe blieben. Es wurde so schlimm, dass ich mir sogar noch eine Woche Urlaub hatte nehmen müssen, weil ihn niemand dazu bringen konnte, mich aus dem Haus zu lassen. Doch gestern hatte ich darauf bestanden, ab morgen wieder arbeiten zu dürfen. Dann war Montag und ich konnte nicht noch eine Woche blau machen, nur weil mein Vater hinter jedem Busch eine Gefahr vermutete. Sonst hätte sicher bald keinen Job mehr, von dem ich mir Urlaub nehmen könnte – was ihm im Moment wahrscheinlich auch sehr recht gewesen wäre.

Er hatte es schlucken müssen, genau wie die Tatsache, dass ich meinen besten Freund endlich wiedersehen wollte und mich entschlossen hatte, heute mit ihm einen Film im Kino zu sehen, den es noch nicht zu kaufen gab.

„Papa“, sagte ich ganz ruhig. „Das haben wir doch gestern alles schon besprochen. Ich weiß dass du … dass im Moment alles Mist ist, aber deswegen kannst du mich nicht wegsperren.“

Er drückte die Lippen zu einem dünnen, weißen Strich zusammen.

„Ys-oog“, mischte sich da meine Mutter ein und legte ihm eine Hand auf den Arm. „Lass sie ins Kino gehen. Du weißt sie hat recht.“

Natürlich wusste er das, aber es passte ihm nicht, absolut nicht. Er wollte mich lieber da haben, wo er mich immer sehen konnte, doch auch er musste einsehen, dass sein Verhalten langsam albern wurde. Mehr als eine Woche war unsere Abreise nun her und in dieser ganzen Zeit war nichts Außergewöhnliches geschehen – naja, außer dass mein Vater völlig am Rad drehte. Und das ich Cio furchtbar vermisste.

„Du bist spätestens um zehn zuhause, verstanden?“

Eigentlich müsste ich ihm jetzt erklären, dass ich Zwanzig war und er damit gar nicht mehr das Recht hatte, mir zu sagen, wann ich Zuhause sein sollte, aber ich nickte einfach artig, gab ihm noch einen Kuss auf die Wange und nach einem gemurmelten „Bis nachher“ sah ich zu dass ich wegkam. Auf weitere Anweisungen, die er mir aufs Auge drücken konnte, hatte ich nämlich keine Lust.

„Alina, lass ihn leben“, sagte ich zu meiner Cousine, die gerade versuchte meinen besten Freund zu erwürgen. Naja, eigentlich versuchte sie ja ihn zu umarmen und ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken, aber er wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen.

„Aber er will mir nicht manierlich Hallo sagen“, beschwerte sie sich mit Schmollmund bei mir.

„Ich habe bereits Hallo gesagt! Und ich habe die Hand gehoben!“

„Aber du hast mich nicht gedrückt“, gab sie eingeschnappt zurück.

Oh man, diese Kinder. „Leute, können wir jetzt fahren? Sonst fängt der Film noch ohne uns an.“ Und dann hätte ich mir diese ganze Diskussion mit meinem Vater auch schenken können.

Konnten wir, auch wenn Alina erstmal so tun musste, als wenn sie beleidigt wäre.

Es dauerte ein paar Minuten, bis wir endlich alle im Wagen saßen, bereit dazu durchzustarten und einen ausgelassenen Tag zu dritt zu genießen. Und dann sprang die alte Schrottmühle nicht an. Weder durch gutes Zureden, noch durch streicheln und durch schlagen und verärgerte Tritte in den Fußraum passierte schon mal gar nichts. Das einzige Gute war, dass meine Eltern schon gefahren waren. Wenn mein Vater sehen würde, wie die alte Kiste schon wieder Zicken machte, würde er mich glatt wieder aus dem Wagen zerren und mir verbieten, jemals wieder in diese Todesmühle zu steigen.

Neben mir wurde Kasper zusehend wütender, aber egal was er tat, es half alles nichts, er musste aussteigen und nachsehen, was da unter der Motorhaube schon wieder los war – nein, es war nicht das erste Mal, dass so etwas passierte. Doch auch die Tür wollte sich wieder nicht öffnen lassen. Nicht beim sechsten und auch nicht beim siebenten Versuch. Irgendwann gab Kasper einfach auf und lehnte sie verärgert zurück in die abgenutzten Polster.

„Und jetzt?“, fragte Alina vom Rücksitz.

„Nichts und jetzt. Wir müssen warten.“

„Worauf?“

„Darauf dass diese dämliche Kiste wieder funktioniert!“, knurrte Kasper nach hinten.

Ich tätschelte ihm das Bein, in der Hoffnung, dass ihn das ein wenig beruhigen würde. Es half – wenn auch nur ein wenig.

Nach ein paar Minuten versuchte Kasper noch mal den Wagen zu starten, aber er wollte einfach nicht anspringen. Bevor er wieder das Theater von eben mit seiner Tür hatte, stieg ich auf meiner Seite aus, damit er über den Beifahrersitz aussteigen konnte.

Seine nächste Adresse war die Kühlerhaube und egal was er darunter fand, es ließ ihn lautstark fluchen und Worte in den Mund nehmen, die sogar mir neu waren. Dann gab es noch einen deftigen Tritt gegen die Karosserie und eine Beschimpfung für den Wagen, der etwas mit seiner Herkunft und freizügigen Damen zu tun hatte und dann zog er sein Handy aus der Jackentasche.

Vorsichtig wagte ich es ein paar Schritte näher zu treten und dem Telefonat zu lauschen. Er rief einen Abschleppdienst an. Das hieß dann wohl, der Wagen würde heute nirgendwo mehr hinfahren.

„Und jetzt?“, fragte ich vorsichtig, nachdem er aufgelegt hatte.

Er fuhr sich mit den Händen einmal durch das verstrubbelte Haar und funkelte seinen Wagen an. „Jetzt müssen wir warten und dann kommt die Karre in die Werkstatt.“

Alina beugte sich halb aus dem Wagen. „Glaubst du echt, der Wagen ist noch zu retten?“

Oh oh, der böse Blick der sie traf, hätte sie glatt tot umfallen lassen müssen.

„Alina“, sagte ich. „Wir müssen uns dringen mal über Timing und Taktgefühl unterhalten.“

„Wieso? Ich hab doch recht.“

Das hatte sie, ohne Zweifel, doch Kasper hatte gerade noch schlechtere Laune als sonst und da war es nicht ratsam ihn zu ärgern – oder überhaupt einen Blick in seine Richtung zu werfen.

Ich lehnte mich an den Wagen und dann war Warten angesagt. Eine Stunde um genau zu sein. Dann konnten wir zusehen, wie der Wagen verladen wurde und mit wenig Hoffnung auf ein Wiedersehen davon fuhr. Damit war Kino wohl gestorben. Wir hatten gerade mal genug Geld dabei, um uns ein Taxi nach Hause zu leisten, Eintrittsgeld war da nicht mehr drin.

„Wir können uns doch bei mir zu Hause einen Film angucken“, schlug ich vor, als wir zum Taxistand liefen. „Ist zwar kein Kino, aber wenigstens etwas. Und wir können uns eine Pizza bestellen.“

„Oh ja!“, stimmte Alina sofort zu und hakte sich bei mir ein. „Das machen wir.“

Dass sie dem zustimmen würde, hatte ich nicht bezweifelt. Mich interessierte eher, was mein bester Freund gerade wollte. „Kasper?“

„Ja, meinetwegen.“

Oh ja, der hatte richtig miese Laune.

Ich nahm seine Hand und drückte sie und zu meinem Erstaunen drückte er auch zurück. Eine Seltenheit. Zwar guckte er immer noch grimmig geradeaus, aber er hielt mich weiter fest – da hatte mich wohl jemand vermisst.

Natürlich sagte ich das nicht laut, schmunzelte einfach nur vor mich hin, während wir uns ein Taxi aussuchten und es zu meiner Adresse beorderten. Aber das dauerte ein bisschen. Der Flughafen war rund eine Stunde von meinem Heim entfernt, aber Alina verkürzte uns die Wartezeit mit der Frage: „Welchen Film gucken wir?“ Sie war für etwas romantisches, mit viel Herzschmerz und einem Happy End. Ich wollte ja eher was Spannendes sehen, einen Thriller, oder einen Krimi und Kasper wollte Action. Und nun einen Film zu finden, der das alles beinhaltete, war gar nicht so einfach.

Wir fuhren schon in Koenigshain ein, da hatten wir uns noch immer nicht einigen können, weil Kasper unbedingt etwas mit explodierenden Autos sehen wollte – wer konnte es ihm verübeln?

„Das ist doch wieder so eine schnulzige Romanze“, beschwerte sich Kasper über Alinas Vorschlag Pretty Woman anzugucken. „Da ist mir …“

„Entschuldigung wenn ich unterbreche“, kam es vorne vom Taxifahrer. „Aber ich komme nicht zu der Adresse durch, da vorne ist gesperrt.“

„Gesperrt?“ Ich lehnte mich zwischen den Sitzen nach vorne und bekam bei dem Anblick der sich mir bot riesige Augen. Die Komplette Straße war abgeriegelt und überall liefen Polizisten herum. Krankenwagen und Sanitäter, Polizeiwagen mit blinkenden Lichtern.

Auch Alina lehnte sich ein wenig vor, um besser sehen zu können. „Aber holla, was ist denn hier los?“

Das Taxi fuhr langsam an den Straßenrand, um zu parken und dann sagte Kasper etwas, dass mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Die kommen aus deinem Haus, Zaira.“

Einen Moment war ich nicht fähig, irgendetwas zu tun. Immer wieder wiederholten sich Kaspers Worte in meinem Kopf, bis ich wirklich realisierte, was das bedeutete. Das Haus in dem ich lebte, in dem meine Eltern jetzt gerade sein müssten. Meine Eltern, die ich nicht auf der Straße sehen konnte, obwohl alles voll mit Polizei und Anwohnern war und sie sicher nicht einfach oben in der Wohnung geblieben wären, wenn hier etwas passiert wäre. „Nein“, hauchte ich nur. Die konnten nicht aus meinem Haus kommen, das musste ein Irrtum sein. Oder sie waren wegen einem Nachbar da. Ja, genau. Es musste wegen meinem Nachbarn sein, aber warum hatten sie dann die ganze Straße abgesperrt?

„Die sind auch auf deinem Balkon“, sagte Alina.

„Nein nein nein nein nein!“ Das war zu viel. Panisch fummelte ich an der Tür und rannte keine Sekunde später schon die Straße entlang, genau auf das Absperrband zu. Aber das konnte mich nicht aufhalten. Ich schlüpfte einfach darunter hindurch. In meinem Kielsog folgten mir Alina und Kasper, ich hörte ihr Füße auf dem Asphalt hämmern.

„Hey, da dürft ihr nicht lang!“, rief mir irgendein Polizist hinterher. Aber das war mir egal. Ich musste ins Haus, musste mit eigenen Augen sehen, dass es meinen Eltern gut ging. Ihnen durfte einfach nichts passiert sein. Gott, bitte mach, dass ihnen nichts passiert ist!

Doch am Hauseingang war Ende für mich. Direkt vor mir tauchte ein Polizist in der Tür auf, in den ich in meiner Hast voll hinein lief. Er schaffte es noch sich am Türrahmen festzuhalten, um nicht umzukippen. Ich nicht, ich prallte ab und landete sehr schmerzhaft auf meinem Hintern.

„Zaira!“, rief Kasper und war sofort bei mir.

Der schon etwas in die Jahre gekommene Polizist mit den Haaren wie Gold, funkelte mich an, als ich mich hastig auf die Beine rappelte. „Was habt ihr hier zu suchen? Das ist ein Tatort, kein Freizeitpark und … hey!“

Ich ignorierte ihn, wollte mich an ihm vorbei drängeln, doch er packte mich am Arm.

„Hast du nicht gehört was ich gesagt habe? Das hier ist …“

„Meine Eltern!“, schrie ich ihm panisch ins Gesicht. „Meine Eltern sind da drin. Ich muss zu ihnen, ich muss …“

„Du wohnst hier?“

„Ja, mit meinen Eltern und meinem Hund. Wo sind sie? Warum sind sie nicht hier?! Sie müssen mich durchlassen!“

Alina und Kasper rückten näher.

Der Polizist rieb sich übers Gesicht. „In welcher Wohnung wohnst du?“

„Zweite Etage rechts, da oben wo ich eben den Polizisten gesehen habe!“

In dem Gesicht des Mannes veränderte sich etwas. Härte und Stränge verschwanden und wichen Mitgefühl, was mein Herz sofort im doppelten Tempo schlagen ließ. Nein, oh bitte, nein.

„Es tut mir leid dir das sagen zu müssen …“

Ich schüttelte schon den Kopf. „Nein“, hauchte ich. „Bitte, nicht.“

„… aber in dieser Wohnung sind zwei Morde geschehen und die Mieter sind verschwunden.“

Das war der Moment, in dem meine Beine nachgaben. Ich sackte einfach in mich zusammen.

„Zaira!“ Kasper hockte sich zu mir und nahm mich ganz untypisch für ihn in den Arm. Und dann begannen meine Tränen zu laufen. Meine Eltern sollten verschwunden sein? Da waren Tote in unserer Wohnung?

Der Polizist winkte einen Sanitäter heran.

Ich bekam das gar nicht mit. Auch nicht wie sie mich auf den Rücken legten und eine Blutdruckmanschette um meinen Arm schnallte.

Stimmen schwebten über mich hinüber, aber ich konnte nur an die Dinge denken, die mein Vater in den letzten Tagen so oft gesagt hatte. Ich hatte alles als übertriebene Paranoia abgetan und jetzt war er verschwunden. Oh Gott, nein, das durfte nicht wahr sein.

Neben mir kniete Alina, sie redete beruhigend auf mich ein und schluchzte dabei aber die ganze Zeit. Ihre Augen waren dick und verquollen, so wie immer, wenn sie heulte.

„Was ist denn genau passiert?“, fragte Kasper.

Der Polizist seufzte. „Die Nachbarin hat uns alarmiert, wegen lauter Unruhen und brüllen im Hausflur. Wie es scheint haben sich mehrere Leute Zutritt zum Haus verschafft. Die Wohnungstür war nicht beschädigt, daher gehen wir davon aus, dass von innen geöffnet wurde. Was genau dann passiert ist, können wir nur raten, aber wir gehen davon aus, dass die Eindringlinge über die Bewohner hergefallen sind. Zwei von ihnen haben wir tot in der Wohnung aufgefunden. Sie sehen aus, als hätte ein Tier ihnen die Kehle aufgerissen.“ Er schüttelte den Kopf. „Sowas habe ich noch nie gesehen.“

„Und was ist mit ihren Eltern? Also mit den Bewohnern?“, wollte Kasper wissen.

„Die Eindringlinge haben sie mitgenommen. Herr Weiland hat uns das erzählt.“

„Der Kerl von nebenan?“

Der Polizist nickte. „Wir haben ihn bewusstlos im Hausflur gefunden, aber er ist in der Zwischenzeit wieder zu sich gekommen. Er berichtet, dass das Schreien einer Frau ihn herausgelockt hat und er sah, wie zwei afrikanische Männer Frau Müller die Treppe herunterzerrten.“

Frau Müller, meine Mutter. Oh Gott.

„Er hat versucht sie aufzuhalten und wurde dabei niedergeschlagen. Herr Müller wurde wohl bewusstlos von einem weiteren Afrikaner heruntergetragen. Außerdem hat Herr Weiland noch erwähnt, dass die Eindringlinge offensichtlich auch nach der Tochter des Hauses gesucht haben.“

„Nach Zaira?“ Kasper runzelte die Stirn. „Warum?“

„Das wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht.“

Sie suchten auch nach mir? Warum? Sie kannten mich doch gar nicht. Wer waren diese Eindringlinge? Die Leute, vor denen wir uns hier versteckt hielten? Afrikaner? Oh nein, das waren doch nicht etwa Ailuranthropen gewesen, oder? Nein, nein, nein!

Alina schluchzte laut auf und quetschte meine Hand so stark, dass sie eigentlich brechen müsste. Doch ich nahm den Schmerz gar nicht richtig wahr. Alles war wie in Watte gepackt. „Und … und … Flair. Der Hund. Da muss ein kleiner Hund gewesen sein“, weinte sie. „Ein kleiner … weißer Hund.“

Der Polizist zögerte einen Moment. „Es tut mir leid das sagen zu müssen, aber der Hund ist wohl zwischen die Fronten geraten und …“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. Nicht auch noch Flair, das konnte nicht stimmen. Es musste ein Verwechslung sein, oder ein Alptraum. Anders war das nicht zu erklären. Genau, das war alles nur ein böser Traum. Mein Vater hatte mich mit seinem Verfolgungswahn angesteckt. Ich musste nur aufwachen, dann war alles wieder gut.

„Flair ist tot?“, fragte Alina und neue Tränen traten in ihre Augen.

Bitte wach auf. Ich will endlich aufwachen. Raus aus diesem Alptraum.

„Es tut mir leid“, gab der Polizist nur schlicht von sich.

Kasper drückte die Lippen fest aufeinander. „Und was passiert jetzt?“

Aber ich wachte nicht auf. Warum wachte ich denn einfach nicht auf? Ich ballte die Hand zur Faust und schlug damit so fest ich konnte auf den Gehweg. Und noch mal und noch mal. Der Schmerz würde mich sicher aufwachen lassen und mich aus diesem Alptraum reißen.

„Verdammt!“ Kasper packte meine Faust. „Lass das!“

„Aber ich muss aufwachen. Ich will aus diesem Alptraum raus. Ich will nicht …“

„Zaira.“ Kasper nahm mein Gesicht zwischen seine Hände, zwang mich damit ihn anzusehen. „Das ist kein Traum, das ist die Realität und du musst dich jetzt zusammenreißen.“

Wie sollte ich das machen? Da lagen Tote in unserer Wohnung, meine Eltern waren verschwunden und Flair würde ich nie wieder sehen.

Oh Gott Flair.

„Wie alte seid ihr?“, fragte der Polizist und schaute uns nacheinander an.

„Achtzehn“, schniefte Alina.

„Ich bin zweiundzwanzig und Zaira ist zwanzig.“

Der Polizist nickte. „Habt ihr einen Ort, an dem ihr eine Zeitlang unterkommen könnt? Jemand den ihr anrufen könnt?“

„Meine Eltern“, schniefte Alina und wischte sich mit dem Unterarm die Tränen aus dem Gesicht. „Ich kann meine Eltern anrufen und die würden uns dann abholen.“

„Dann tu das, das wäre vermutlich das Beste. Vorausgesetzt der Arzt gibt seine Zustimmung.“ Der Polizist sah fragend zum Sanitäter, der die Manschette in der Zwischenzeit wieder abgenommen hatte und nun dabei war meinen Puls zu messen.

„Ja, ich sehe das genauso.“ Er ließ meine Hand sinken und sah zu dem Polizisten. „Sie hat einen leichten Schock. Ich werde ihr noch ein Mittel zur Beruhigung geben und dann …“

„Nein, ich will nichts haben.“ Ich machte mich von diesem Mann und Kasper frei und rappelte mich auf die Beine. Einen Moment schwankte ich, hatte mich aber sofort wieder gefangen. Ich wollte nichts haben, ich wollte hier nur weg und gleichzeitig wollte ich, dass das alles nur ein schrecklicher Traum war, der jeden Moment endete.

„Wo willst du hin?“, fragte Kasper, kaum dass ich mich in Bewegung gesetzt hatte.

Ich antwortete nicht. Nicht weil ich nicht wollte, sondern weil ich nicht konnte. Ich wusste nicht wohin ich wollte, ich wusste nur, dass ich nicht hierbleiben konnte.

„Zaira!“ Schon nach wenigen Metern packte Kasper mich am Arm, hielt mich fest und zwang mich damit, auch stehen zu bleiben. „Wohin gehst du?“

Alina kam direkt hinter ihm angelaufen.

„Ich weiß nicht. Ich … ich …“ Mit dem Handballen rieb ich mir über die Augen, um die verschwommene Sicht loszuwerden. Gott, was machte ich hier eigentlich?

„Ich rufe jetzt erst mal meine Eltern an.“

„Und du setzt dich dahin, bevor du mir noch umkippst“, bestimmte Kasper und führte mich zum Bordstein, wo er mich auf den Boden drückte und sich direkt vor mich hockte, während Alina an ihrem Handy herumfummelte. Sie hielt es sich ans Ohr, drückte die Lippen zusammen, als offensichtlich niemand ranging und suchte nach der nächsten Nummer.

Das tat sie mehrere Male und ihre rotgeränderten Augen blickten dabei immer verzweifelter. „Scheiße!“, fluchte sie und war einen Moment versuchte ihr Handy auf den Boden zu feuern. „Meine Eltern habe ihre Handys abgeschaltet!“

„Und was ist mit eurer Tante Amber?“ Beruhigend legte Kasper mir eine Hand aufs Knie. Ich spürte es kaum. Alles war irgendwie taub.

„Die sitzt im Flieger nach Spanien. Ich hab schon versucht sie anzurufen, aber auch sie hat ihr Handy aus. Meinen Großvater kann ich nicht anrufen, der bekommt glatt einen Herzinfarkt.“

„Und was ist mit der anderen Tante? Da war doch noch eine, oder?“

„Du meinst Tante Vivien? Die ist mit Mann und Kind irgendwo in der Wildnis zum Campen gefahren, da gibt es keinen Handyempfang.“ Sie ließ sich mutlos neben mir auf die Kante des Krankenwagens sinken. „Es kann doch nicht sein, dass niemand zu erreichen ist.“

Kasper ließ den Kopf sinken, sodass ihm die braunen Haare in die Augen fielen und dachte angestrengt nach. „Ihr seid so eine große Familie, da muss doch jemand sein, den ihr anrufen könnt.“

„Und wen?“, kam es etwas angriffslustig von meiner Cousine. „Die einzige Person die mir noch einfällt ist Zairas Erzeugerin, aber von der habe ich keine Nummer.“

Kasper runzelte skeptisch die Stirn. „Meinst du denn, die würde euch helfen?“

„Auf jeden Fall würde sie das, aber ich habe keine Möglichkeit sie zu erreichen.“ Sie drückte die Lippen aufeinander. „Verdammt, hätte ich mir doch von Aric nur die Nummer geben lassen.“ Da schien ihr eine Idee zu kommen. „Zaira, hast du Cios Nummer?“

Mutlos schüttelte ich den Kopf. Er hatte sie mir geben wollen, aber ich hatte abgelehnt aus Angst, ich würde sie wirklich benutzen. Die einzige Nummer aus der verborgenen Welt, die ich außerhalb von meiner Familie besaß war … „Jaden“, flüsterte ich.

„Jaden?“, kam es von Kasper und Alina gleichzeitig.

„Ich hab nur Jadens Nummer.“

„Du meinst den Kerl, der dich gefahren hat?“ Ganz langsam wurden Alinas Augen größer. „Oh mein Gott, das ist es. Hast du nicht erzählt, dass er übers Wochenende immer zu seinen Eltern fährt? Vielleicht ist er ja noch da. Er könnte hoch zu Cayenne gehen. Ruf ihn an!“

„Was würde das bringen?“, fragte ich leise.

Alina packte mich grob bei den Schultern und drehte mich zu sich. „Jetzt hör mir mal genau zu. Dir ist doch sicher bewusst, wer Cayenne ist und auch dass sie die Möglichkeit hat nach deinen Eltern zu suchen. Wir müssen sie nur erreichen, also ruf jetzt verdammt noch mal bei diesem Jaden an!“

Sie hatte recht, wurde mir klar. Meine Erzeugerin war die Königin der Lykaner, die einflussreichste Frau in der verborgenen Welt. Sie würde meine Eltern finden können. Dieser kleine Hoffnungsschimmer löste meine Taubheit ein wenig und ich begann mit fahrigen Fingern nach meinem Handy in der Jackentasche zu kramen. Dabei fiel es mir auch fast noch aus den Händen.

Meine Hände zitterten als ich durch die Kontaktliste scrollte, bis ich die Nummer hatte, aber bevor ich sie anwählen konnte, tippte ich mehrmals daneben, sodass Kasper mir das Handy schließlich aus der Hand nahm und es mir erst wiedergab, als es schon klingelte. Dreimal, viermal. Oh bitte, bitte geh an das Telefon. Sechsmal siebenmal ….

„Hm“, brummte es am anderen Ende.

Ich war so glücklich seine Stimme zu hören, dass mir wieder die Tränen in die Augen stiegen. „Jaden?“

„Wer sonst?“

Oh danke. Danke! „Jaden, ich bin es, Zaira. Ich bin die, die …“

„Ah Zaira.“ Das Lächeln in seine Stimme war überdeutlich. „Wusste ich doch, dass du dich melden würdest. Auf meinen Instinkt ist halt immer Verlass.“

„Jaden, bist du noch bei deinen Eltern?“ Bitte sag ja. Oh bitte.

„Warum? Willst du dich mit mir treffen?“

„Bitte Jaden, antworte einfach auf die Frage. Bist du noch bei deinen Eltern?“

In der Leitung war es einen Moment ruhig. „Alles in Ordnung mit dir? Du hörst dich so komisch an.“

„Nein“, sagte ich erstickt und versuchte das Schluchzen runterzuschlucken. „Nichts ist in Ordnung. Bitte, sag mir einfach wo du bist.“

„Naja, bei einem Freund in Silenda. Ich fahre erst heute Abend nach Hause.“

Oh Gott sei Dank. „Bitte, kannst du etwas für mich tun? Es ist wirklich wichtig.“

„Klar, wenn es in meiner Macht steht.“

Ich umklammerte mein Handy fester. „Du musst zu Cayenne gehen und ihr diese Nummer geben, von der ich gerade anrufe. Es ist wirklich wichtig.“

„Cayenne? Moment, redest du von Königin Cayenne? Dieser Cayenne?“ Er lachte auf. „Sonst noch Wünsche? Wie soll ich das bitte anstellen? Ich bin ein Vampir, sie würde mich niemals empfangen.“

„Doch, würde sie. Du musst ihr nur sagen, dass ich dringen mit ihr sprechen muss.“

„Zaira, selbst wenn sie mit mir sprechen würde – was ich bezweifle – dann ist immer noch die Frage, wie ich an sie herankomme. Sie ist das Heiligtum der Lykaner, niemand wird mich so einfach zu ihr lassen.“

Mist, da hatte er recht“

„Außerdem, was hast du mit der Königin zu tun?“

Diese Frage ignorierte ich einfach. „Dann geh zu Aric, oder nein, geh zu Cio. Geh in den Hof und frag nach dem Umbra Elicio. Sag im, Zaira muss mit ihm sprechen. Bitte, er wird dir helfen.“

„Du meinst den Kumpel des Prinzen?“

„Ja. Er ist ein Freund von mir.“

Er seufzte. „Dir ist klar, dass ich mich wegen dir ganz schön zu Affen machen werde?“

„Du gehst also?“

„Ja, bin schon dabei mir die Schuhe anzuziehen, auch wenn mein Kumpel mir gerade einen Vogel zeigt.“

„Danke.“ Eine unendliche Last fiel mir vom Herzen und wieder stiegen mir die Tränen in die Augen. „Du weist gar nicht wie dankbar ich dir bin.“

Stoff raschelte, dann schlug eine Tür zu. „Dankbar genug um mir zu sagen, was los ist?“

Ich öffnete den Mund, aber es kam nur ein Schluchzen heraus. Was los war? Meine Eltern waren verschwunden und die Polizei schien keine Ahnung zu haben, wo sie abgeblieben waren. Unser Nachbar wurde bewusstlos geschlagen, als er versuchte ihnen zu helfen und mein kleiner Mikrowutz war tot. Ein weiteres Schluchzen stieg mir in der Kehle hoch. Oh Gott, diese Leute hatten meinen Hund umgebracht und hatten nun meine Eltern in ihrer Gewalt.

Waren es die Ailuranthropen gewesen, die sie geholt hatten? Aber wie hatten sie sie nach so vielen Jahren plötzlich finden können?

„Zaira?“, fragte Jaden behutsam durch die Leitung.

Ich konnte das Handy nicht mehr in meinen zitternden Fingern halten. Es fiel mir einfach in den Schoß, als ich die Hände vors Gesicht schlug.

Oh Gott, das durfte nicht sein. Meine Eltern konnten nicht bei ihnen sein. Bitte, nein.

Jadens Rufe nach mir kamen nun drängender durch die Leitung, aber ich war nicht fähig das Handy wieder in die Hand zu nehmen. Daher griff Kasper sich das kleine Gerät aus meinem Schoß, hielt es sich ans Ohr und brachte das Gespräch für mich mit ein paar knappen Sätzen zu Ende. „Er ruft zurück, wenn er am Schloss ist“, sagte er und runzelte dabei angestrengt die Stirn. „Was auch immer das bedeutet.“

Ich hatte jetzt keine Kraft ihn von diesem Thema abzubringen. Sollte er sich doch Gedanken darüber machen, was es heißen könnte. Ich wollte nur eines: Meine Eltern und meinen Hund zurück. Das eine würde ich niemals haben können und auf das andere blieb mir nur die Hoffnung.

Wenn sie wirklich in den Händen der Ailuranthropen waren, war Hoffnung das letzte was mir blieb. Ich hatte die Wut in den Augen von Fujos Großvater gesehen und auch die Angst in denen meiner Mutter.

Oh Gott, nein.

„Hier.“ Kasper hielt mir eine Packung Taschentücher unter die Nase, während Alina unentwegt nervös über ihren Armstumpf rieb, etwas dass sie schon getan hatte, als Tante Lucy sie aus dieser Baracke befreit hatte. Ich hatte es schon lange nicht mehr bei ihr gesehen, nicht mehr seit sie angefangen hatte zu sprechen.

Die Taschentücher nutzte ich eigentlich nur dazu sie in meinen Händen zu zerknüllen, während wir stumm auf Jadens Rückruf warteten. Eine endlose Ewigkeit wie es mir vorkam. Und obwohl mein Blick die ganze Zeit auf das Handy in Kaspers Hand gerichtet war, zuckte ich zusammen, als es endlich klingelte.

Mein bester Freund wollte abnehmen, aber ich riss ihm das kleine Gerät aus der Hand und hielt es mir ans Ohr, bevor er etwas dagegen tun konnte. Dabei fielen die Taschentücher auf den Boden. „Jaden?“

„Ja, ich bin es. Ich steh jetzt um Hof und warte auf diesen Elicio. Die Wächter vorne am Tor waren so freundlich in zu rufen.“

„Oh Gott sei Dank.“

„Sagst du mir jetzt endlich was los ist? Oder was du mit dem Hof zu schaffen hast?“

Ich lachte freudlos auf, während mir wieder eine Träne über die Wange kullerte. „Du würdest es mir eh nicht glauben.“

„Du würdest dich wundern, was ich … ah, ich glaube da kommt er.“ Er verstummte kurz. „Ja, das ist dieser Zipfelmann vom Prinzen. Warte kurz.“

Es knackte in der Leitung. Ich konnte Schritte vernehmen, Stimmen. Und dann war er am Apparat.

„Zaira?“

Oh Gott, seine Stimme zu hören löste gleich neue Tränen bei mir aus und dieses Mal konnte ich das Schluchzen nicht unterdrücken. „Cio.“ Der Name kam mit dünner Stimme über meine Lippen, weinerlich.

„Zaira, was ist los?“

Ich musste schlucken, bevor ich die Worte an dem Kloß in meinem Hals vorbei drängen konnte. „Meine Eltern, sie wurden entführt … und … und … Flair ist tot und da liegen … da liegen Leichen in unserer Wohnung.“

„Was?!“

„Ich brauche Hilfe, Cio, ich … ich weiß nicht mehr was ich machen soll. Ich kann niemand anderes erreichen. Meine Tante ist in die Türkei geflogen und Alinas Eltern gehen nicht ans Telefon.“ Ich schluchzte wieder auf. „Ich brauche Hilfe, Cio. Kannst du … kannst du zu Cayenne gehen und …“

„Bin schon unterwegs.“

„Hey, mein Handy!“, hörte ich da Jaden im Hintergrund rufen.

„Mach dir keine Sorgen“, redete Cio ruhig auf mich ein. „Wir kriegen das schon wieder hin. Cayenne und Aric sitzen gerade in einer Ratssitzung. Die werden mich sicher gleich umbringen und … nein, lasst ihn durch, die Königin wird mit ihm sprechen wollen.“

Die letzten Worte waren wohl nicht an mich gerichtet gewesen, was ich auch an der folgenden Diskussion erkannte, in der es darum ging, ob die Wächter Jaden ins Schloss lassen dürften.

„Scheiß Pflichtbewusstsein“, fluchte Cio irgendwann ins Handy. Seine Stimme klang jetzt anders, hallender. Er musste sich in der Eingangshalle aufhalten. „Bin gleich da“, erklärte er.

Ich konnte Klopfen hören, eine Tür die sich öffnete und dann Stimmen, die sich über die Unterbrechung empörten. Baroness Arabella Bea erkannte ich unter ihnen.

„Königin Cayenne, es tut mir leid Euch stören zu müssen, aber es geht um eine sehr dringende Angelegenheit.“

Während ich lauschte, knautschte ich nervös meine leere Hand im Schoß. Ich verstand nicht, was die anderen sagten, aber ich hörte die Stimme meiner Erzeugerin.

„Es ist Zaira. Wenn ich es richtig verstanden habe, geht es um zwei Tote und eine Entführung.“

Was?!“

Das hatte ich deutlich verstanden, doch ihre folgenden Worte waren nur ein undeutliches Rauschen. Schnelle Schritte folgten, entrüstete laute und eine zuknallende Tür. Dann knackte die Leitung.

„Zaira? Was ist passiert?“

Sie war am Telefon, ich hörte wirklich ihre Stimme. „Ich weiß nicht genau. Wir wollten ins Kino und als ich nach Hause kam, war da überall Polizei. Und jetzt sind meine Eltern verschwunden und Flair ist tot und da liegen Tote in unserer Wohnung.“ Ich schluchzte auf. „Wir können Alinas Eltern nicht erreichen, sie haben ihr Handy abgestellt.“

„Oh Gott, Tristan und Lucy sind gerade für die Themis unterwegs“, sagte meine Mutter hastig. „Das ist … Ryder ist verschwunden?“

„Ja. Ein Nachbar hat gesehen, wie sie von Afrikanern mitgenommen wurden.“

„Ailuranthropen“, hauchte sie durchs Telefon und bestätigte mir damit was ich die ganze Zeit befürchtet hatte. „In Ordnung, pass auf. Ich werde mich darum kümmern. Ich schicke ein paar Wächter zu dir nach Hause und lass dich aufs Schloss bringen. Du musst mir aber sagen, wo du wohnst.“

„Koenigshain“, kam es schwach über meine Lippen. „Wir wohnen in einem kleinen Ort der nennt sich Koenigshain. Dorfstraße Siebenundreißig.“

„Okay. Bleib ganz ruhig, ich werde jemanden schicken. Du wirst sehen, das dauert keine halbe Stunde und dann wird alles wieder gut.“

„Danke.“

„Du brauchst mir nicht zu danken. Ich werde tun was in meiner Macht steht. Wir werden deinen Vater und Tarajika schon finden. Und in der Zwischenzeit kommst du zu mir aufs Schloss.“

„Okay.“

Noch während ich antwortete, bellte sie bereits befehle und verlangte nach dem Großwächter Edward Walker. Und dann konnte ich wieder nichts anderes tun als zu warten. Warten auf die Wächter, warten auf Neuigkeiten von der Polizei, warten auf meine Eltern, die nicht kommen würden.

Ailuranthropen.

Meine Gedanken begannen sich im Kreis zu drehen. Immer wieder hörte ich das was der Polizist zu mir gesagt hatte. Tote, Entführung, Flair. Ich musste an unsere Flucht vom Hof denken und an die Fragen die Papa mir gestellt hatte.

War es vielleicht sogar meine Schuld? Hatte ich vielleicht doch etwas unabsichtlich verraten? Der Wächter am Tor, ich hatte ihm meinen falschen Ausweis gezeigt. Aber er hatte sich doch nur meinen Namen notiert. Sarah Müller. Es musste hunderte von Sarah Müllers geben. Darum hatte mein Vater diesen Namen ausgewählt. Oder vielleicht hatte ich doch etwas zu Fujo gesagt? Konnte das sein?

„Scheiße, Zaira!“ Alina sprang auf die Beine und riss mich mit hoch, nur um ich dann hinter sich herzuzerren.

„Hey!“, rief Kasper und machte sich eilig daran uns zu folgen. „Was ist los? Wo willst du mit ihr hin?“

„Das geht dich nichts an! Geh weg!“

„Was?“ Einen Moment blieb er irritiert stehen, folgte dann aber wieder entschlossen. „Bist du noch ganz dicht?“

Sie beachtete ihn gar nicht weiter, zog mich nur hinter sich her, auf die Rückseite unseres Hauses zu, dorthin, wo das kleine Wäldchen stand, in dem Alina und ich als Kinder immer Verstecken gespielt hatten. „Zaira, konzentriere dich. Du musst es aufhalten.“

„Es aufhalten?“, fragte ich verwirrt. Meine Stimme klang seltsam guttural, als ich hinter ihr her stolperte.

„Hey! Kannst du mir mal verraten, was plötzlich in dich gefahren ist?“, verlangte Kasper säuerlich zu wissen.

„Du verwandelst dich“, zischte Alina mir zu, ohne meinen besten Freund zu beachten. „Deine Hände. Guck auf deine Hände!“

Das tat ich und war geschockt darüber, wie weit die Verwandlung schon war. Das waren keine Hände mehr, das waren schon Klauen. „Nein, nein, nein.“ Das durfte jetzt nicht auch noch passieren.

„Verdammt, könnt ihr mal warten?!“

„Geh weg!“, schrie nun auch ich. Er durfte mich so nicht sehen, unter keinen Umständen.

„Du musst es unterbrechen“, sagte Alina eindringlich.

„Ich kann nissscht“, sprach ich durch viel zu große Zähne. Mein Kiefer verformte sich bereits. Haare sprossen aus meinem Gesicht, meinen Armen, meinen Beinen. Ich spürte das Kribbeln auf der Haut, das vertraute Ziehen in der Wirbelsäule, als mein Körper sich der Gestalt eines Wolfes anpassen wollte. „Esss geht nissscht!“

„Scheiße!“, kommentierte Alina sehr passend und zog mich hinter den nächsten Baum. Hier waren wir vor neugierigen Blicken sicher. Außer vor dem von Kasper, der der wollte sich nicht abschütteln lassen.

„Verdammt noch mal, was ist hier los?!“

„Verschwinde einfach!“, fauchte Alina ihn an. „Das hier geht dich nichts an!“

Ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten. Ich versuchte es, aber es ging nicht. Die Verwandlung schritt unentwegt fort, sie war nicht mehr aufzuhalten.

„Ich werde doch nicht einfach verschwinden! Was ist mit Zaira?“ Er sah unsicher zu mir auf den Boden, wie ich da im Schnee kauerte und wollte sich mir näheren, aber Alina stand ihm im Weg. „Soll ich einen Arzt holen?“

„Nein!“, kam es schon beinahe panisch von meiner Cousine. Sie sprang vor und hielt ihm am Arm fest, damit er nicht einfach abhauen konnte. „Keinen Arzt, versprich mir das.“

„Aber was …“ Seine Augen weiteten sich, als ich mich zusammenkrümmte. Meine Nackenwirbel verschoben sich. Ich warf den Kopf nach hinten und sah den Schreck in seinem Gesicht, sah wie er zurückstolperte und hinfiel, den Blick dabei aber nicht von mir abwenden konnte. Seinen Kopf schüttelte er dabei unentwegt von einer Seite auf die andere. Hin und her, hin und her. Er konnte nicht glauben, was sich da vor seinen Augen abspielte.

„Raste jetzt bloß nicht aus“, sagte Alina und hielt ihn am Arm fest, damit er nicht einfach abhauen konnte.

Ich drückte den Rücken durch, hörte wie die Nähte meiner Kleidung unter dem Druck ächzten und stöhnten. In dem Moment war es wirklich Glück für mich, dass ich immer so weite Klamotten trug. Da ich auch kein sehr großer Wolf war, platzen mir die Kleider auch nicht vom Körper. Trotzdem war es unangenehm und beengend.

Meine Hände und Füße veränderten sich, wurden zu Pfoten. Meine Schuhe hatte ich schon längst verloren und als mein Rute zu wachsen begann, konnte ich ein laut des Schmerzes nicht unterdrücken. In der Hose war nicht genug Platz und es tat weh. „Alina“, jaulte ich. „Meine Rute.“

Sie wollte sofort reagierten, zögerte aber wegen Kasper. „Bleib genau hier sitzen“, sagte sie zu ihm, um dann zu mir zu eilen. Mit einem Ruck riss sie die Hose ein Stück runter, zog meine Rute heraus und öffnete auch den Reißverschluss meiner Winterjacke. Dann war sofort wieder bei Kasper, der sich nicht einen Millimeter bewegt hatte. Sein Kopf ging immer noch von einer Seite auf die andere. Er konnte einfach nicht glauben, was er hier vor sich sah.

Und dann war ich ein Wolf in Klamotten. Ruhig blieb ich im Nachhall der Verwandlung liegen, sah meinem besten Freund dabei in die Augen und wagte es nicht mich vom Fleck zu rühren, aus Angst, ihn damit zu verschrecken.

„Das hättest du nicht sehen sollen“, sagte Alina in die drückende Stille hinein. „Du bist so dumm. Warum konntest du nicht hören?!“

Ihre Worte schienen nicht richtig zu ihm durchzudringen. Ganz langsam, mit riesigen Augen wandte er ihr den Kopf zu. „Was ist hier los?“

Alina drückte die Lippen aufeinander, nur um zu wiederholen: „Das hättest du nicht sehen dürfen.“

„Aber ich habe es gesehen!“, fuhr er sie an. „Und jetzt will ich verdammt noch mal wissen was hier los ist!“ Er warf mir einen kurzen nervösen Blick zu. „Ist das … dieses … dieser … was ist es?“

Es. Ding. Ungeheuer. Dieses Wort tat ganz schön weh.

„Sie ist kein Es!“, sagte Alina auch sofort. „Das ist Zaira.“

Langsam, ohne schnelle Bewegungen zu machen, arbeitete ich mich in eine sitzende Position.

Kaspers Augen wurden weit und er wollte ein Stück zurückweichen, doch Alinas Griff war unnachgiebig.

„Hast du etwa Angst vor ihr?“ Sie schüttelte den Kopf. „Du bist so dumm. Sie ist die gleiche wie immer, nur das du jetzt eine Seite von ihr siehst, die du vorher nicht kantest.“

Seine Augen wurden immer größer. „Du … du wusstest davon?“

„Natürlich. Sie ist meine Cousine.“ Sie schüttelte verächtlich den Kopf. „Dummkopf.“

Alina, nicht.“ Ich ließ den Kopf ein wenig hängen. „Sowas kennt er nicht.“

„Ach und vor Sachen die er nicht kennt, muss er Angst haben?“

Bevor ich darauf antworten konnte, klingelte das Handy in meiner Jackentasche. Keiner Bewegte sich. Aus offensichtlichen Gründen konnte ich ja nun schlecht rangehen, und Kasper würde vermutlich den Teufel tun und sich mir nähern. So blieb Alina nichts anderes übrig, als mit wachsamem Blick auf meinen besten Freund das bimmelnde Gerät aus meiner Jackentasche zu fummeln und abzunehmen. „Ja?“ Sie lauschte, während sie sich wieder wachsam neben Kasper stellte. „Okay, aber wir haben hier ein kleines Problem … Zaira, sie hat sich verwandelt … der Stress, denke ich … vielleicht.“ Sie warf einen kurzen Blick zu mir. „Aber das ist nicht das Problem. Ihr bester Freund hat das gesehen und der ist ein Mensch … ich hab es versuch, und … neben mir, ich hab ihn nicht gehen lassen … okay … okay … ja hab ich, aber was mache ich jetzt mit Kasper? … dem Menschen … ja … okay, mach ich … tschüss.“ Sie legte auf und sah ernst zwischen uns hin und her. „Das war Cayenne. In zehn Minuten sind die Wächter hier, die uns abholen sollen. Du musst versuchen dich bis dahin zurück zu verwandeln. Kriegst du das hin?“

Ich wird mein Bestes geben. Aber was ist mit Kasper?“

„Unter den Wächtern ist kein Vampir, niemand der ihm das Gedächtnis nehmen kann.“

Und das heißt?“

Ihr Ausdruck wurde ernst. „Wir müssen ihn mit in den Hof nehmen. Dort wird sich jemand darum kümmern und ihn dann zurückbringen.“

Unsere Blicke richteten sich gleichzeitig auf meinen besten Freund, der vernehmlich schluckte und unsicher zwischen uns hin und her sah.

Ein Mensch im Hof der Lykaner? Das würde sicher für Unruhen sorgen.

 

°°°

 

„Aric!“

Sobald die Wangentür geöffnet war, sprang Alina schon heraus und fiel ihm um den Hals. Ihr Schluchzen konnte ich dabei noch hier drinnen hören. Immer wieder hatte sie während der Fahrt angefangen zu weinen.

Ich nicht.

Seit ich mich in einen Wolf verwandelt hatte, war keine Träne mehr über meine Wange gerollt, auch wenn meine Augen eins ums andere mal gebrannt hatten. Es schien, als hätte ich den Wolf gebraucht, um wieder zu mir zu kommen und die tauben Gedanken in die richtigen Bahnen zu lenken.

Jetzt sah ich wieder etwas klarer und wusste, dass ich über die nächsten Schritte nachdenken musste. Schritt eins, den Wagen verlassen und Cayenne gegenübertreten, die neben einem leicht überforderten Aric stand. Schritt zwei, Kasper.

Ich wagte einen vorsichtigen Blick zu ihm.

Er hatte sich in die hinterste Ecke des Vans gedrängt, auf den weit entferntesten Platz von mir. Das tat so richtig weh. Ausgerechnet heute, wo ich bereits genug Heimsuchungen über mich hatte ergehen lassen müssen. Nicht ein Wort hatte er die Fahr über gesprochen, mich nur die ganze Zeit mit diesem unsicheren Blick gemustert, als sei ich etwas Absonderliches, Anormales, dem man nur sehr misstrauisch gegenübertreten konnte. Wenigstens hatte er kaum Schwierigkeiten gemacht, als die Wächter ihn in den Wagen verfrachtet hatten. Es schien, als wäre er einerseits neugierig, andererseits aber verschüchtert. Noch nie in meinem Leben hatte ich diesen Kerl so wenig durchschauen können, wie in den letzten Stunden und das machte mich nervös.

Ich traute mich auch nicht ihn anzusprechen, aus Angst, er würde vor mir zurückschrecken. So wie im Wäldchen hinter dem Haus. Das wollte ich nicht noch mal erleben, denn das tat weh.

Seufzend stieg ich aus dem Wagen und fand mich sofort fest an eine Brust gezogen wieder.

„Oh Zaira, es tut mir so leid.“ Cayenne hielt mich ein Stück von sich, aber nur um mir über die Wange und mein Haar zu streicheln. „Mach dir keine Sorgen. Meine besten Leute sind bereits dabei nach deinem Vater und Tarajika zu suchen.“ Unentwegt bewegten sich ihre Finger über meinen Kopf, als versuchte sie mich zu trösten. „Ich werde nicht aufgeben, bevor wie sie wohlbehalten zurückgebracht haben und … wir werden sie finden, dass verspreche ich dir. Ich gebe nicht auf, bis wir sie gefunden haben, hast du verstanden?“

Ich nickte nur, zu etwas anderem war ich im Moment gar nicht fähig.

„Gut. Dann … dann lass uns hineingehen. Drinnen können wir reden und …“

„Cayenne?“, wurde meine Erzeugerin von der Seite angesprochen. Eine Vampirin mit hellen, violetten Augen und langem, schwarzen Haar, die in einer Art Overall steckte, trat ein wenig näher. Sie hatte sich bisher im Hintergrund gehalten.

Cayenne runzelte die Stirn, als fragte sie sich, wo die Frau plötzlich herkam. „Ach ja. Bitte entschuldige, Future.“ Sie seufzte schwer. „Zaira, das ist Future. Sie gehört zu den Themis und hat sich bereiterklärt, deinem Menschen die Erinnerung zu nehmen.“

Deinem Menschen. Wie sich das anhörte, als sei Kasper nur irgend so ein Ding. Sie lebte bereits eindeutig zu lange in dieser Welt. Früher hätte sie sicher nicht so gesprochen.

„Und dann wird er von meinen Leuten gleich wieder nach Hause gebracht“, fügte sie noch hinzu.

Ein leichtes Nicken begleitete mein leises „Okay“, bevor ich mich zu dem Wangen umwandte, nur um festzustellen, das Kasper gar nicht mehr drinnen saß. Er stand davor und musterte sowohl das Schloss, als auch die Umgebung und natürlich die Leute, die sich hier versammelt hatten mit einer Mischung aus Staunen, Verwirrung und Misstrauen.

„Okay“, sagte dann auch Cayenne und nickte dieser Future zu, die sich auch sofort auf meinen besten Freund zubewegte.

Erst da schien Kasper zu peilen, dass er damit gemeint war. Argwöhnisch beobachtete er Futur. „Was soll das heißen, Erinnerung nehmen?“ Er trat mehrere Schritte rückwärts, als die Vampirin immer näher kam. „Bleib weg von mir.“ Sein verärgerter Blick richtete sich auf mich. „Zaira!“

Ich machte den Mund auf, aber kein Ton kam heraus. Hilfesuchend sah ich zu Cayenne.

„Sie wird dir nichts tun“, versprach sie ihm. „Sie lässt dich nur vergessen, was du die letzten Stunden gesehen hast und bringt dich dann nach Hause.“

„Vergessen?“ Kasper runzelte die Stirn, warf einen kurzen Blick zu der schwarzhaarigen Frau, die stehen geblieben war und wieder zurück zu Cayenne. „So richtig aus der Erinnerung löschen?“ Und dann zeigte er meiner Erzeugerin, der mächtigsten Lykanerin der Welt, dem Oberhaupt des Rudels der Könige, einen Vogel. „Bei euch piept´s wohl. Ich lass doch Zaira nach dem was heute passiert ist doch nicht allein.“

„Es tut mir leid“, begann Cayenne, „aber unsere Gesetzte verlangen …“

„Nein!“, unterbrach ich sie und war keine Sekunde später bei Kasper, um mein Gesicht an seinem Hemd zu vergraben. Er wollte bei mir belieben, er wollte mich nicht verlassen, egal was ich war. Und bei diesen Gedanken störte ich mich nicht mal daran, dass er sich unter meiner Berührung leicht versteifte. Das hatte nichts damit zu tun, was er heute über mich rausgefunden hatte, Kasper mochte solche Nähe einfach nicht, er hasste sie regelrecht.

Ich konnte auch keine Angst bei ihm riechen, nur leichte Verwirrung gepaart mit Wachsamkeit und Unsicherheit. „Nein“, wiederholte ich leise und konnte es kaum fassen. Er hatte keine Angst vor mir, oder verabscheute mich plötzlich, er war einfach nur vorsichtig, weil er mit dieser Situation nicht umzugehen wusste.

„Zaira“, sagte Cayenne sanft. „Er ist ein Mensch, er darf nicht bleiben.“

„Warum nicht?“, verlangte ich zu erfahren. „Du kannst ihm die Erinnerung immer noch nehmen lassen, wenn ich wieder nach Hause fahre. Erzähl den Leuten einfach er ist mein Wirt, dann wird niemand etwas dagegen sagen.“ Ich sah sie flehentlich an. „Bitte. Ich habe heute schon so viel … sie sind … alles ist weg.“ Ich drückte die Lippen kurz zusammen. „Nimm mir nicht auch noch Kasper.“

Unschlüssig sah sie zwischen uns beiden hin und her. „Aber es ist gegen das Gesetz, dass musst du verstehen, Und außerdem wird man ihn Zuhause sicher vermissen.“

Kasper schnaubte. „Die einzige Person, die mich vermissen könnte, ruiniert mir gerade das Hemd.“

Das traurige daran? Es war die Wahrheit. Kasper hatte sonst niemanden. Keine Familie, keine Freunde und seit zwei Monaten auch keinen Job mehr. Zum Glück lebten wir in einem Sozialstaat.

„Bitte“, flehte ich wieder. „Schick ihn nicht weg.“

Sie drückte die Lippen zusammen, sah kurz zu Aric, der Alina in der Zwischenzeit an der Hand hielt und dann wieder zu mir. Ihr Zwiespalt stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Gesetze und Verantwortung gegen Familie und Mitgefühl. Und als sie dann geschlagen seufzte, ließ ich mich erleichtert etwas gegen Kasper sinken. „Na gut, er darf erst mal bleiben, jedoch verspreche ich nicht für wie lange.“

„Danke.“

„Schon gut.“ Sie rieb sich über die Schläfe. „Aber jetzt kommt. Wir müssen uns unterhalten und das will ich nicht hier draußen tun.“ Als sie sich der Freitreppe zuwandte, winkte sie uns ihr zu folgen und gab dieser Future gleichzeitig ein Zeichen, dass sie erstmal nicht gebraucht wurde.

Ich schnappte mir Kaspers Hand, zog ihn hinter mir her und sah wie Alina sich Aric entzog. Jetzt war es ihr wohl peinlich, wie sie sich verhalten hatte und wandte schnell ihr Gesicht ab, um ihre verquollenen Augen zu verbergen. Sie hasste es, wenn sie jemand so sah. Sie sagte immer, dass es in ihrem Leben nur eine Situation gab, die sie hässlich machen konnte und das war wenn sie heulte.

Leider musste ich ihr da zustimmen. Der Anblick einer heulenden Alina war wirklich nicht zu empfehlen und wenn sie deswegen einfach einen verwirrten Prinzen stehen ließ, dann war das eben so.

Kasper drückte meine Hand, als wir Cayenne folgten und vorbei an den schwarzuniformierten Wächter durch das große Portal die Eingangshalle betraten. Es war nicht die Furcht, die seine Augen glänzen ließ, eher die Ehrfurcht. Dieses riesige Gemäuer konnte einem aber auch Respekt und Demut lehren.

Cayenne brachte uns hinauf auf die Galerie in den Westflügel, den Korridor, der von Aric und Cio bewohnt wurde.

Cio …

Wo er wohl war? Eigentlich hatte ich erwartet, dass er mich mit den anderen begrüßen würde, doch das war nicht der Fall gewesen und das schmerzte mehr, als ich mir eingestehen wollte. Vorhin am Telefon hatte er so besorgt geklungen. Warum war er dann jetzt nicht hier? Warum nur musste mich das so stören?

„Ist was?“, fragte Aric, der bemerkte, dass Kasper in intensiv musterte.

„Nein“, kam es schlicht von meinen besten Freund, aber das hieß noch lange nicht, dass er die Augen von meinem Halbbruder abwandte. Erst als ich ihm nachdrücklich am Arm zog, wandte er sich mir zu. Ein kleines Kopfschütteln reichte aus, um mir einen finsteren Blick zuzuwerfen.

„War ja klar“, grummelte er. Tja, nicht jeder Kerl fischte im gleichen Gewässer.

„Ich habe dir bereits ein Zimmer vorbereiten lassen“, sagte Cayenne und steuerte eine Tür weiter hinten an. Um dort hinzugelangen, mussten wir sowohl an Arics, als auch an Cio Zimmer vorbei. „Alina hat auch ihr eigenes Zimmer, aber für deinen Freund muss ich noch eines herrichten lassen.

„Nur damit das klar ist, ich bleibe bei Zaira.“

Cayenne sah beim Laufen über ihre Schulter und wollte schon den Mund aufmachen, da schüttelte ich bereits den Kopf. „Nein, ist schon okay. Er kann auf der Couch schlafen.“ Oder wahlweise auf dem Boden, wenn es keine Couch gab. Natürlich könnte er auch einfach bei mir im Bett schlafen, aber das würde er nicht tun. Zu groß war die Angst vor plötzlichen Berührungen. Es war ein leichte Phobie, die er nicht ablegen konnte und selbst dieses harmlose Händchenhalten gerade, musste ihn eine unglaubliche Überwindung kosten.

„In Ordnung, wenn du meinst. Aber wenn ihr es euch doch noch mal anders überlegt, dann sagt mir Bescheid und ich werde alles in die Wege leiten.“

Ich wollte ihr gerade sagen, dass das sicher nicht passieren würde, als ich hörte wie die Tür aufging, die wir gerade erst passiert hatten. Ich wusste es wäre besser gewesen, einfach weiter geradeaus zu gucken und die kleine Hoffnung, dass Cio genau in diesem Moment aus seinem Zimmer auftauchte, war einfach albern. Trotzdem konnte ich mich nicht daran hinter, meinen Blick bei dem Geräusch zurückzuwerfen.

Wie nicht anders zu erwarten, stand da kein Cio. Nein, viel schlimmer, da stand ein schmaler brauner Wolf mit einem weißen Bauch, der gerade aus Cios Zimmer gekommen war. Und die Augen, sie funkelten mich so voller Abscheu an, dass ich ohne zu fragen wusste, dass dort nur Iesha vor uns stehen konnte. Iesha, die gerade Cios Zimmer verlassen hatte. Warum auch nicht? Sie war seine Freundin, sie hatte sicher jedes Recht dazu.

„Iesha?“, fragte Cayenne. „Warum bist du nicht bei deinem Dienst?“

Egal was sie der Königin in Gedanken antwortete, sie machte es so, dass ich es nicht hören konnte.

Cayenne nickte. „Okay, aber jetzt geh wieder auf deinen Posten.“

Sie nickte nur, warf mir noch einen letzten warnenden Blick zu, der mich bis ins Mark gefrieren ließ und trabte dann den Korridor hinunter.

„Ist das … war das ein Wolf?“, fragte Kasper und drehte mir das Gesicht zu. „So wie du?“

„Naja“, druckste ich herum. „So ähnlich.“

Er runzelte die Stirn. „Was seid ihr eigentlich?“

„Wir sind Menschen, die sich in Wölfe verwandeln können“, sagte Aric etwas arrogant und warf ihm einen abschätzenden Blick zu, ohne dabei Cayennes Stirnrunzeln zu beachten.

„Du meinst du bist … ihr seid …“ Sein Blick flog wild zwischen uns hin und her. „Ihr alle?“

„Ja“, sagte Cayenne und steuerte die nächste Tür an. „Wir sind Werwölfe, Lykaner, Lykanthropen, Wolfe in der Gestalt eines Menschen. Nenn uns wie du willst.“ Sie zog die Tür auf und huschte als erster hinein. Alina folgte ihr auf dem Fuße.

Kasper runzelte die Stirn. „Ist das ihr Ernst?“

„Ja.“ Aric blieb stehen und beugte sich Kasper ein wenig entgegen, viel zu nahe, drang damit in den privaten Bereich meines besten Freundes ein. „Hast du jetzt Angst, Mensch?“

Ich konnte spüren, sie der Griff um meine Hand fester wurde, als Kasper sich anspannte. Aric kam ihm nicht nur zu nahe, er war auch ein Fremder, der ihm zu nahe kam.

„Aric!“, ermahnte ich den Prinzen, wurde jedoch ignoriert. Von allen beiden.

„Um ehrlich zu sein, nein, ich bin nur etwas verwirrt.“ Kasper schien diese neuen Informationen noch nicht ganz fassen zu können, aber er hatte wirklich keine Angst. Das würde ich riechen. „Wie ist das möglich?“

„Die bessere Frage lautet doch, wie ist es möglich, dass du existierst“, erwiderte Aric und spielte damit auf unsere Geschichte an, wie kein Mensch sie glauben würde. Nur leider traf er damit ohne es zu wissen einen wunden Punkt bei Kasper.

„Tja, meine Mutter, die Crackhure, hat sich von einem Freier für Geld ficken lassen, um sich den nächsten Schuss besorgen zu können. Nur leider hatte sie nie Geld für ein Kondom übrig. Ich schätze sie war immer so vollgedröhnt, dass sie nicht mal gepeilt hat, was sie da ausbrühtet, bis ich aus ihr rausgeflutscht bin.“

Weg war das überhebliche Lächeln. Aric klappte den Mund zu und blinzelte.

„Kasper, das hat er nicht so …“

„Vergiss es.“ Abrupt ließ er meine Hand los und verschwand in dem Zimmer.

Ich funkelte Aric an. „Das hast du ja toll hinbekommen.“ Zeit für eine Erwiderung ließ ich ihm nicht. Einfach umdrehen und den anderen folgen. Und dann stand ich in einer ähnlichen Suite, wie Aric sie bewohnte, nur das die Farben hier viel heller waren. Creme und Champagner mit Goldtönen abgesetzt. Sonnenschein und Freundlichkeit strahlte der Raum mit dem großen Bett und dem gemütlichen Sitzarrangement aus, auf dem bereits alle Platz genommen hatten.

Alina hatte sich in den Sessel neben den von Cayenne gesetzt und Kaspers Hintern parkte auf der großen Couch, während er finster Löcher in den Boden starrte. Da es jetzt eh keinen Sinn hatte, mit ihm zu reden, oder ihn zu trösten, konnte ich mir den Versuch auch gleich schenken und ließ mich einfach still neben ihm auf die Couch sinken lassen.

Aric betrat als letzter dem Raum, schloss die Tür und blieb dann einfach dort stehen. Sein Blick lag dabei auf Kasper, der die Anwesenheit der Prinzen vollkommen ignorierte.

Ich dagegen sah vorsichtig zu Cayenne hinüber, die den Blick nachdenklich gesenkt hatte. „Du wolltest mit mir sprechen“, sagte ich und war mir gar nicht so sicher, ob ich hören wollte, was genau sie zu sagen hatte.

„Ja, ich …“ Sie rieb sich müde über die Augen und seufzte. „Wenn du es hören möchtest, dann würde ich dir berichten, was meine Leute bisher in Entführung gebracht haben.“

Ich wollte es auf keinen Fall hören und dann wieder unbedingt. „Sprich“, sagte ich leise und hoffte fast, dass sie es nicht gehört hatte und schweigen würde.

Aber ihre Ohren waren gut. Nicht verwunderlich für einen Lykaner, wenn auch nur einen halben. „Die Polizei aus dem Zuständigkeitsbereich für Koenigshain, arbeitet jetzt unter der Aufsicht meiner Leute und …“

„Unter den Wächtern?“

Cayennes Mundwinkel zuckte ein wenig. „Nein, unter der Bundespolizei. Auch dort gibt es Lykaner und wie viele andere gehören sie meinem Rudel an.“

Und damit hatten sie sich der Befehlsgewalt meiner Erzeugerin unterworfen. Ich nickte verstehend.

„Wie es aussieht hat dein Vater ihnen die Tür geöffnet und sie sind direkt über ihn hergefallen. Die Spuren in der Wohnung weisen auf einen heftigen Kampf hin und die Wunden an den Toten zeigen, dass es Ryder gewesen ist, der die beiden Ailuranthropen getötet hat.“

„Ryder?“, fragte Kasper. „Wer ist Ryder?“

Cayenne zögerte und schaute unsicher zwischen ihm und mir hin und her, bevor sie antwortete: „Ryder Randal. So lautete der Deckname von Zairas Vater, als er … als er für mich gearbeitet hat.

„Ailuranthropen“, sagte ich schwach. Also gehörten diese Männer wirklich zu den gefürchteten Werleoparden.

Cayenne nickte. „Ja, es waren Ailuranthropen, die bei euch eingedrungen sind. Es ist schwer herauszufinden, was genau geschehen ist, aber durch deinen Nachbarn haben wir einen kleinen Einblick erhalten. Es scheint, dass dein Vater im Laufe des Kampfes bewusstlos geschlagen wurde und sie ihn und deine Mutter dann mitgenommen haben.“ Für einen Moment verstummte sie, zögerte. „Und dein Hund, er scheint dazwischen geraten zu sein und …“

„Nein“, sagte ich bestimmt. „Das will ich nicht hören.“ Ich wollte Flair genauso in Erinnerung behalten, wie ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Im Flur, wie sie mich beleidigt angesehen hatte, weil ich sie nicht mitnehmen konnte. Hunde durften leider nicht ins Kino.

„Okay“, sagte Cayenne und drückte kurz die Lippen aufeinander. „Laut der Aussage deines Nachbarn, scheinen diese Leute auch hinter dir her zu sein. Doch sie konnten nicht herausfinden, warum das so ist. Kannst du es mir sagen? Es könnte vielleicht helfen sie zu finden.“

Ich schüttelte nur den Kopf. Nicht weil ich es nicht sagen wollte, aber es gab keinen Grund, der mir einfiel. Ich hatte mit den Ailuranthropen nichts zu tun. „Keine Ahnung“, sagte ich leise. „Sie kennen mich ja nicht mal.“

Cayenne drückte die Lippen kurz zusammen. „Nun gut. Jedenfalls konnte das Fahrzeug mit dem sie verschwunden sind sehr schnell ausfindig gemacht werden. Die Nachbarin, die die Polizei gerufen hat, hat es durchs Fenster beobachtet und sich das Nummernschild aufgeschrieben.“

War das ihr Ernst? Ein kleiner Hoffnungsschimmer blühte in mir auf.

„Leider hat sich sehr schnell herausgestellt, dass der Wagen gestohlen war. Wir haben ihn in der Zwischenzeit zwar gefunden, aber er war leer. Die Entführer müssen in einen anderen Wagen umgestiegen sein.“

Scheiße.

„Und das heißt?“, wollte Kasper wissen.

„Das heißt, dass sie vorerst von unserem Radar verschwunden sind. Aber sie werden nicht weit kommen.“ Meine Erzeugerin sah mir grimmig in die Augen. „Dies ist mein Land und jeder Lykaner hier hält seine Augen nach ihnen offen. Flughäfen, Busbahnhöfe und Schiffshäfen werden von meinen Wölfen überwacht. Jeder Ailuranthrop der gesichtet wird, wird sofort aufgegriffen und zur nächsten Wächterstelle gebracht.“ Sie ballte die Hand zur Faust. „Sie können sich vielleicht verstecken, aber sie können nicht entkommen, dafür werde ich sorgen.“

Das hörte sich ja alles schön und gut an, aber die Frage war doch, ob es wirklich etwas bringen würde. „Und wie geht es jetzt weiter?“

„Wir werden sie suchen und nicht aufgeben, bevor wir sie gefunden haben. Ich habe auch bereits Hisam in Gewahrsam nehmen lassen. Er bestreitet zwar, irgendetwas damit zu tun zu haben, aber ich bin mir sicher er lügt. Nachdem Tarajika vom Hof gefahren ist …“ Ihr Blick verfinsterte sich. „Ich weiß, dass er lügt und Diego wird schon die Wahrheit aus ihm rausbekommen. Wir werden erfahren, wo sie deinen Vater und Tarajika hingebracht haben und dann …“

Ein Klopfen an der Tür unterbrach sie und Cio steckte den Kopf herein. Die vertraute Wollmütze auf dem Kopf. „Sorry das ich störe, aber mein Vater schickt mich. Er sagt, er muss dringend mit dir sprechen.“

Sie wurde hellhörig. „Wegen Hisam?“

Sein Kopfschütteln ließ weitere Enttäuschung in mir aufkommen. Für einen kurzen Moment hatte ich gehofft, dass er vielleicht gute Neuigkeiten bringen würde, dass Diego etwas aus Hisam herausbekommen hatte. Fehlanzeige.

„Nein“, verdeutlichte Cio dann noch einmal akustisch. „Er hat mir nicht gesagt, um was es geht, nur dass es keinen Aufschub gewährt. Er ist drüben in der Zentrale der Wächter.“

„Bei den Wächtern?“

„Ja, er schickt mich um dir zu sagen, dass du ganz schnell rüber gehen sollst. Code Phönix.“

Was immer dieser Code Phönix zu bedeuten hatte, er veranlasste Cayenne dazu, sofort mit weit aufgerissenen Augen auf die Beine zu springen. „Ist das dein Ernst?“

„Das hat er gesagt.“ Er runzelte die Stirn. „Was bedeutet das?“

„Das bedeutet, dass ich ganz schnell los muss.“

War das da Panik, die ich da in ihrer Stimme hören konnte, oder bildete ich mir das ein?

Sie hatte keine Worte mehr für uns, keinen Abschied, so schnell war sie verschwunden. Was immer es zu bedeuten hatte, es konnte nichts Gutes sein. Und das ausgerechnet jetzt, wo ich doch so dringend auf ihre Hilfe angewiesen war.

Cio schlüpfe an Aric in den Raum. „Hey“, sagte er zu mir. „Wie geht es dir?“

„Ich glaub ich gehe in mein Zimmer“, kam es da in dem Moment von Alina. In ihren Augen glänzte es wieder verdächtig feucht, als sie sich von ihrem Sessel erhob. „Aric, kannst du mir zeigen, wo ich schlafen kann?“

„Ja, klar. Komm.“ Seine Hand landete auf ihrem Rücken, als er sie hinausführte, doch sein letzter Blick zu Kasper entging mir nicht.

Langsam lief Cio durch den Raum und setzte sich neben mich auf die Couch. Er schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte und sah eher unschlüssig zu mir. Was sollte er auch sagen? „Alles fit im Schritt?“ war genauso unpassend, wie „Durch deine Brille sehen deine geröteten Augen echt übel aus.“

Tja, in so einer Situation die passenden Worte zu finden, war nicht ganz leicht. Und trotzdem erleichterte mich seine Anwesenheit ein wenig. Nur leider wurde die Freude von den vorhergegangenen Ereignissen enorm getrübt.

Aber Cio wäre nicht Cio, wenn er nicht in jeder Situation die passenden Worte finden könnte. „Wer ist das?“ Er sah an mir vorbei zu Kasper. „Dein neues Haustier?“

Okay, das mit den passenden Worten war wohl eine Fehleinschätzung meinerseits. „Das ist mein bester Freund.“

Cio musterte ihn. „Für mich sieht er eher nach einem Erdmännchen aus. Du weißt schon, diese kleinen Wüstenbewohner, die sich immer auf die Hinterbeine stellen und pfeifende Geräusche von sich geben.“

„Besser ein Erdmännchen, als ein Pudel auf Steroide“, kam es giftig von Kasper. „Die machen übrigens impotent – nur so nebenbei.“

Der junge Umbra legte den Kopf leicht schief. „Ich hab die ganze Zeit so ein Pfeifen im Ohr, wie es Erdmännchen immer von sich geben. Hörst du das auch, Zaira?“

Kasper verdrehte nur die Augen. „Ich glaub ich geh mal aufs Klo kotzen, mir steigt gerade die Galle in die Kehle.“ Er erhob sich. „Vorausgesetzt ich finde in diesem Riesenschuppen ein Klo.“

„Das Katzenklo findest du dahinter“, sagte Cio und zeigte netterweise auf die Tür zur rechten Seite. „Ich hoffe das reicht dir.“

Kasper tat etwas sehr Unhöfliches mit seinem Finger, wandte sich dann ab, während er etwas von arroganten Ärschen murmelte, die mehr Muskeln als Hirn besaßen und verschwand mit einem Knall hinter der Tür.

An mir ging dieses kindische Geplänkel mehr oder weniger vorbei. Zu sehr war ich mit den Gedanken bei anderen Dingen.

Mein Vater hatte die Männer in unserer Wohnung getötet. Ich hatte ihn dafür verurteilt, dass er früher Skhän getötet hatte, aber jetzt? Ich wünschte, er hätte sie alle ausgeschaltet – ganz egal wie. Ich wünschte, die Ailuranthropen wären alle tot und meine Eltern in Sicherheit. Aber stattdessen hatten sie ihn bewusstlos geschlagen und mitgenommen. Sie haben meine Eltern in einem Auto verschleppt und keiner wusste, wo sie im Augenblick waren.

Es half nicht mal etwas, dass Cayenne einen von ihnen in Gewahrsam genommen hatte. Hisam, Fujos Großvater. Fujo, mit der ich über meine Mutter gesprochen hatte.

Wieder hörte ich meinen Vater fragen, ob ich ihr etwas über meine Mutter erzählt hatte. Seine Worte dröhnten regelrecht in meinem Ohren und plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich ihr nicht vielleicht doch etwas erzählt hatte. War ich an einer Stelle unachtsam gewesen? War es meine Schuld, dass sie sie gefunden und entführt hatten? Das ich nie wieder Flairs euphorische, kleine Gestalt an mir vorbeiflitzen sehen würde? Würde ich meine Eltern überhaupt jemals wiedersehen?

Sie wollten meine Mutter töten, damit Tante Lalamika frei sein konnte. Sie wollten sie töten. Oh Gott, wer sagte denn, dass das nicht bereits passiert war? Das sie meine Eltern nur mitgenommen hatten, um sich ihnen schnellstmöglich entledigen zu können, ohne dabei gestört zu werden?

„Hey, nicht weinen.“ Cio legte eine Hand an mein Gesicht und rieb mit dem Daumen über meine Wange. „Du wirst sehen, es wird alles wieder gut werden. Du musst nur Geduld haben und darfst die Hoffnung nicht aufgeben.“

„Kannst du mir das versprechen?“ Ich flehte ihm mit Blicken an. „Kannst du mir versprechen, dass ich meine Eltern wiedersehen werde? Dass sie nicht schon tot sind?“ Zum letzten Wort hin brach meine Stimme weg. Tot wie mein kleiner Sonnenschein Flair, den ich nie wieder sehen würde.

Die Betroffenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Nein“, gab er wahrheitsgemäß zu. „Das einzige was ich dir versprechen kann, ist, dass ich dir bei allem helfen werde, um deine Eltern zu finden. So gern ich möchte, mehr kann ich dir nicht geben.“ Als neue Tränen in meiner Augen traten, zog er mich einfach in die Arme und drückte mich an sich. „Es tut mir leid.“

Das glaubte ich ihm, aber das half nicht. Nichts konnte helfen, nicht bis ich meine Eltern wieder in die Arme schließen konnte, doch da war es fraglich, ob das jemals geschehen würde. Fest stand nur eines: Sie waren weg und im Augenblick gab es niemanden, der etwas dagegen unternehmen konnte. Und da half es auch nicht, das Cio mich so umsorgt in den Armen hielt. Ganz im Gegenteil. Wie konnte ich hier sicher und geborgen bei ihm sein, wenn meinen Eltern gerade weiß Gott was widerfuhr? Scheiße, ich hatte nicht mal den Hauch einer Ahnung, was sie heute schon durchgemacht hatten.

Wäre ich doch nur Zuhause geblieben, wie mein Vater es gewollt hatte, dann säße ich jetzt wenigstens nicht in dieser ausweglosen Ungewissheit fest. Sie hätten mich auch mitgenommen. Ich wusste nicht warum, aber sie hätten es getan. „Es ist meine Schuld“, flüsterte ich. „Das sie weg sind, das ist … ich bin dafür verantwortlich.“

„Hey, nein, so darfst du nicht reden.“ Er hielt mich ein Stück von sich, rahmte mein Gesicht mit den Händen ein, damit ich auch ja nicht wegsehen konnte. „Das darfst du nicht mal denken, hast du verstanden? Es ist nicht deine Schuld. Du kannst nichts dafür.“

Er wusste doch nicht, wovon er da sprach. Er hatte keine Ahnung, was ich getan hatte, dass ich mit Fujo über meine Mutter gesprochen hatte und wahrscheinlich versehentlich etwas preisgegeben hatte, was erst dazu führen konnte, dass sie uns gefunden hatten.

Ich entzog mich Cio und stand vom Sofa auf. Seine Berührungen, seinen tröstenden Worte, dass alles hatte ich nicht verdient, nicht solange ich nicht wusste, was mit meinen Eltern war.

„Zaira, du darfst dir keine Vorwürfe machen, du …“

„Bitte geh.“

Er schwieg kurz. Ich konnte seinen Blick in meinem Rücken spüren, wagte es aber nicht mich umzudrehen.

„Willst du das wirklich?“, fragte er leise.

Nein, ich wollte es nicht. Ich wollte dass er bei mir blieb, wollte dass alles wieder in Ordnung war, wollte die Zeit zurückdrehen, aber nichts von dem war möglich. Nur die erste Sache, aber die hatte ich nicht verdient. „Ja“, antwortete ich genauso leise. „Das will ich.“

Er zögerte. Er wollte nicht gehen und mich alleine lassen – vielleicht bildete ich mir das auch nur ein, weil ich es so gerne glauben wollte – doch letztendlich stand er auf. Der Berührung an meiner Schulter entzog ich mich, wollte jetzt nicht von ihm angefasst werden und wollte es gleichzeitig viel zu sehr. Ich wandte mich einfach von ihm weg, ging hinüber zum Fenster, um in die anbrechende Nacht hinauszusehen, ohne wirklich etwas zu sehen. Nicht mal als ich das leise Schließen der Tür hörte, wagte ich es mich umzudrehen.

„Er kennt dich nicht besonders gut, wie?“

Nur ein kurzer Blick über die Schulter – Kasper stand in der offenen Tür zum Badezimmer. Warum hatte ich ihn nicht kommen hören? Wie lange stand er schon da? Das war doch egal. Ich drehte mich einfach wieder zum Fenster um.

„Wenn er dich kennen würde, wäre er nicht gegangen“, führte Kasper seine Worte weiter. „Denn du wolltest es nicht, auch wenn ich es nicht verstehe. Mit solchen Idioten gibst du dich doch sonst nicht ab.“

„Cio ist kein Idiot“, sagte ich leise. „Er ist ein Freund.“

„Ein Freund, der dich nicht gut genug kennt, um zu wissen, dass er hätte bleiben sollen?“

So wie Kasper es getan hatte. Cayenne hatte ihn wegschicken wollen, doch er hatte ihr nur einen Vogel gezeigt. Kasper war eben nicht ohne Grund mein bester Freund.

„Erklärst du es mir?“, fragte er mich.

„Was?“

„Na alles. Das du dich in einen Wolf verwandelt hast, dass wir jetzt in einer Nobelsuite mitten in einem Palast stehen und dass die komplette Besatzung hier scheinbar hin und wieder ein wenig pelzig wird.

Natürlich, er war neugierig. Das wäre ich an seiner Stelle auch, aber jetzt hatte ich einfach nicht die Kraft ihm alles zu erzählen. „Kann das bis morgen warten?“

„Eigentlich wäre mir jetzt lieber.“ Er stieß sich vom Türrahmen ab und schlenderte zur Couch. „Du bist wirklich ein Werwolf?“

„Nicht Werwolf, sie nennen sich lieber Lykaner und nein, ich bin ein Misto.“

Mit einem Plumps landete er in den Postern. „Ein was?“

„Ein Mischling. Zum Teil Mensch, zum Teil Lykaner und zum Teil Vampir.“

„Es gibt auch Vampire?“ Das schien ihn mehr zu schocken, als die Tatsache, dass ich mich in einen Wolf verwandeln konnte.

Langsam drehte ich mich zu ihm herum und zog dann genauso langsam meine Oberlippe hoch, bis er meine Fänge sehen konnte.

Seine Augen weiteten sich. „Und du trinkst Blut?“

War das alles, was er wissen wollte? „Ich brauche es zum Leben.“

„Aber du bist ein verdammter Vegetarier!“

„Ich weiß.“ Müde strich ich mir eine Strähne aus dem Gesicht. „Ich bin ja auch kein richtiger Vampir, so wie mein Vater, der Vampir ist nur ein Teil von mir.“

„Dein Vater ist ein Vampir?“

Ich war schon dabei den Mund zu öffnen, schloss ihn aber wieder und schaute ihn einen Moment einfach nur an. Er wollte verstehen, was um ihn herum los war. Er wollte wissen, was das alles zu bedeuten hatte und es wäre unfair von mir, ihm das alles zu verweigern. Also seufzte ich, setzte mich zu ihm auf die Couch und gab ihn einen Crashkurs zum Thema verborgene Welt und meiner Familie.

Ich hatte geglaubt, dass er schreiend vor mir davonlaufen würde, sollte er einmal die ganze Wahrheit über mich erfahren, doch er hörte einfach nur zu und stellte hin und wieder eine Frage. Es gab nur eine Sache, über die er sich wirklich aufregte und das war die Tatsache, dass mein Vater ihm schon ein paar Mal in den Erinnerungen herumgepfuscht hatte, damit mein Geheimnis ein Geheimnis blieb.

Es war nicht gut, ihm all das zu erzählen. Je mehr er wusste, desto wahrscheinlicher war es, dass etwas in seinem Gedächtnis zurück blieb, nachdem ein Vampir sich um ihn gekümmert hatte. Aber wenn ich ehrlich war, dann war mir das egal. Ich wollte nicht, dass er es wieder vergaß. Ja, die verborgene Welt hatte Gesetze, aber er war mein bester Freund und dass er mich wirklich so akzeptierte wie ich war, das war ein Geschenk, wie man es nur selten fand.

Er hatte keine Angst vor mir.

Er hatte keine Vorurteile.

Er wollte noch immer mein Freund sein.

Vielleicht war es egoistisch von mir, ihn in diese Welt zu ziehen, einfach weil ich am eigenen Leib erfahren hatte, dass sie nicht harmlos war, aber … naja, ich wollte, dass er auch zu diesem Teil meines Lebens gehörte.

„Das ist … extrem“, war alles was er sagte, als ich ihn in das Gröbste eingeweiht hatte. Dann schüttelte er den Kopf. „Ich kann nicht verstehen, warum niemand etwas davon weiß.“

„Die Vampire“, sagte ich schulterzuckend. „Wenn ein Mensch etwas erfährt, dass er nicht wissen soll, löschen sie sein Gedächtnis. Wenn man sich nicht erinnert, ist es für einen nicht existent und dann versucht man auch nicht, noch mehr darüber herauszufinden, oder andere darüber aufzuklären.“

„Aber es gibt doch Menschen in der verborgen Welt. Oder habe ich das falsch verstanden?“

„Wirte“, erwiderte ich. „So weit ich weiß, gibt es Menschen, die richtig als Blutspender arbeiten – besonders in großen Städten wie Silenda. Sie bekommen dafür Geld.“

„Und du gehst zu diesen Wirten, wenn du Blut brauchst?“

„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich gehe mit meinem Vater auf die Jagd.“ Oder besser gesagt, bisher hatte ich das getan. Wieder begann der Kummer mir aufs Gemüt zu drücken.

Kasper schien einen Moment nicht glauben zu können, was ich das sagte. „Du jagst Menschen?“

Ich konnte ihn mit einem weiteren Kopfschütteln beruhigen. „Nein, wir nennen es nur so. Bei der Jagd, sucht man sich einfach einen Menschen, spricht ihn an und verzieht sich dann mit ihm an ein ruhiges Plätzchen. Wenn man fertig ist, lässt man ihn alles vergessen und dann trennen sich die Wege wieder.“

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. „Hast du das schon mal bei mir gemacht?“

Wäre ich so müde und fertig gewesen, hätte mich dieser Frage wohl erst entsetzt, nur um ihm anschließend eine Standpauke über Freundschaft zu halten. „Nein, ich habe dein Blut niemals angerührt, Kasper. Von meinen Eltern einmal abgesehen, habe ich noch nie von jemanden getrunken, den ich kenne.“ Ich schwieg kurz. „Naja, von meinen Eltern und Cio.“ Keine Ahnung, warum ich das noch hinzufügte. Vielleicht wollte ich einfach keine Geheimnisse mehr von ihm haben.

Den Blick, mit dem er mich daraufhin bedachte, konnte ich nicht entziffern. Und wenn ich ehrlich war, wollte ich es im Moment auch gar nicht so genau wissen. Eigentlich wollte ich das alles nur vergessen. „Sei mir nicht böse, aber ich will nur noch schlafen.“ Nicht weil ich glaubte, auch nur ein Auge zuzubekommen, sondern einfach, damit ich nicht mehr sprechen musste.

Etwas Weiches trat in sein Gesicht, wie es so selten an ihm zu sehen war. „Kein Problem. Gib mir einfach nur eine von den Decken rüber.“ Denn er würde niemals bei mir im Bett schlafen. Er verabscheute Körperkontakt einfach.

„Klar.“ Nur langsam kam ich seiner Aufforderung nach, verschwand dann im Bad, um mich auszuziehen und schlüpfte schlussendlich nur in Slip und Unterhemd in das große Doppelbett. Doch schlafen konnte ich nicht. Das Licht war schon aus und auch Kasper hatte sich unter der Decke vergraben. Alles war ruhig, aber die Gedanken in meinem Kopf kreisten unaufhörlich weiter.

Stundenlang wälzte ich mich von einer Seite auf die andere. Versank ich dann doch mal kurz im Land der Träume, wachte ich sofort mit schrecklichen Bildern in meinem Kopf auf. Ich hatte nicht mal meine kleine Flair, die ich beruhigend an mich drücken konnte. Ich hatte nichts mehr. Ein Tag hatte gereicht, um mir so viel zu nehmen. Nur ein Tag, und meine Welt lag in Trümmern.

Nur sehr langsam dämmerte ich einen leichten Halbschlaf, sah dabei zu, wie die Lichter von draußen durch das Fenster an der Wand tanzten. Rote Lichter, wie bei einer Sirene. Sie drehten sich im Kreis, ganz genau wie bei einem Alarm.

Ich runzelte die Stirn. Was waren das nur für Lichter? Die Farbe, wie sie sich bewegten, das war doch nicht normal, oder träumte ich schon wieder?

Gerade als ich mich aufrichtete, um einen Blick durchs Fenster werfen zu können, ginge meine Tür auf und schlug mit einen Knall gegen die Wand.

Sofort stand Kasper in Boxers und T-Shirt auf der Couch und sah dem Eindringling entgegen.

Diego.

„Sofort aufstehen und mitkommen!“

„Was?!“ Das war zwar keine besonders schlaue Frage, aber es brachte das was ich dachte haargenau auf den Punkt.

„Wir müssen weg“, erwiderte Diego und eilte mit langen Schritten zu meinem Bett, um mich kurzerhand an die Hand zu nehmen und einfach rauszuziehen. Er wirkte irgendwie gehetzt und war wie ein Drahtseil gespannt. Er gab mir nicht mal die Zeit mich anzuziehen, nicht mal eine Hose oder Schuhe. Er schnappte sich nur noch schnell meine Brille und zerrte mich dann schon hinter sich aus dem Raum. „Du auch“, ging der Befehl noch in Kaspers Richtung, dann waren wir schon auf dem Korridor und mitten im Chaos.

 

°°°°°

Domizil der Streuner

 

Aufgeregte Leute liefen kreuz und quer wild durch den Korridor und redeten hastig aufeinander ein. Die meisten von ihnen trugen noch ihre Schlafkleidung. Ich sah mich nach Kasper um, der mir eilig auf dem Fuß folgte. Stimmen wurden laut, irgendwo knurrte ein Wolf. Und durch dieses Durcheinander zerrte Diego mich unerbittlich vorwärts, den Gang entlang, vorbei an den Zimmern von Cio und Aric.

Oh Gott, Arics Zimmer war aufgebrochen worden, die Tür war richtig aus den Angeln gerissen und der ganze Raum völlig verwüstet. Von Aric fehlte jede Spur. Ich konnte nur einen kurzen Blick erhaschen, weil Diego mich unerbittlich weiterzerrte, vorbei an zwei streitenden Männer und Wölfen, die auf dem Boden miteinander rangen, aber es reichte um mein Herz schneller schlagen zu lassen.

Was war mit dem Prinzen passiert? Und was zum Teufel ging hier eigentlich vor sich?

Als Diego mich zu Galerie entlang und die schwebende Treppe hinunter zog, drangen Wortfetzen an mein Ohr.

„… doch egal, sie war immer gut zu uns!“, schrie eine Frau.

Ein Wolf knurrte.

„… erklärt so vieles …“

„… und hintergangen, all die …“

„… einer Täuschung erlegen …“

Das Heulen eines Wolfes hallte von den Wänden wieder. Ein grausiges, fürchterliches Heulen, das mir eine Gänsehaut machte.

„… besser als all die anderen vor …“

„Was ist hier los?“, fragte ich Diego mit schwerem Atem, aber entweder hörte er mich nicht, oder er ignorierte die Frage einfach. Erbarmungslos zerrte er mich weiter und ich musste meine ganze Konzentration darauf verwetten, nicht die Treppe runterzufallen. Mein Atem ging hektisch und mein Herz wummerte wild. Selbst Kasper tat sich schwer uns zu folgen, obwohl er eigentlich schneller war als ich.

„Zaira!“, rief da eine laute Kinderstimme.

Ich drehte mich beim Laufen herum und entdeckte Fujo oben am Geländer der Galerie. Ihre Augen waren geweitet, das Haar unordentlich und sie wirkte nervös. Auch sie trug nur Schlafkleidung.

„G-gravin!“, rief sie mir zu. „Gravin, Sc-sc-scar! J-jou Ouers!“

Ich verstand nicht was sie mir da sagen wollte, konnte aber auch nicht nachfragen, weil ich energisch weitergezogen wurde und sie schon bald aus dem Sichtfeld verloren hatte.

Als wir die Eingangshalle durchqueren wollten, weg vom Thronsaal, stellte sich uns ein großgewachsener Mann mit grauem Haar entgegen. Er trug eine Umbrauniform. War das nicht sogar einer von Arics Umbras? „Ist es wahr?“, fragte er Diego mit drohender Stimme. „Stimmt es was sie sagen?“

Diego wollte sich wortlos an ihm vorbei drängen, doch der Kerl verstellte ihm den Weg.

„Antworte mir!“

„Gehr mir aus dem Weg, Logen, sonst passiert was“, knurrte Diego tief aus der Kehle.

„Also stimmt es.“ Die Züge dieses Logen wurden so hassverzerrt, dass es schon fast einer Dämonenfratze ähnelte. „Dann hat sie uns die ganzen Jahre betrogen! Wo ist sie? Ich reiße ihr das Herz aus der Brust!“

Im nächsten Moment hatte Diego mich losgelassen und dieser riesigen Brocken von einem Kerl, fiel einfach wie ein gefällter Baum um. Ich hatte nicht gesehen, was Diego gemacht hatte, aber er schüttelte sich die Hand aus, als würde sie wehtun, bevor er wieder nach meinem Arm griff, nur um mich in der nächsten Sekunde von sich wegzustoßen.

Ich landete nur nicht auf dem Hintern, weil Kasper mich auffing. Im gleichen Moment stürzte sich der Wolf auf Diego. Nur haarscharf segelte er an mir vorbei, bevor er den Umbra mit sich auf den Boden riss.

Diego knurrte, als er auf dem Rücken knallte, dieses Riesenvieh direkt über ihm. Nur ein Griff an der Kehle hielt den Wolf davon ab, seine Zähne in den Umbra zu versenken. Und dann, ich sah gar nicht richtig wie es passierte, riss Diego sein Bein zur Seite und nahm den Wolf damit den Halt. Das Vieh kam aus dem Gleichgewicht, fiel halb auf sein Opfer rauf und drohte den Mann unter sich zu begraben.

Plötzlich, aus heiterem Himmel sackte der Wolf einfach in sich zusammen. Seiner Glieder erschlafften und dann bewegte er sich nicht mehr. Und dann roch ich diesen kupferartigen Duft, der mir nur allzu vertraut war. Blut, das war Blut.

Ich schluckte, trat einen Schritt zurück. Meine Augen waren weit aufgerissen und obwohl ich mich nicht bewegte, ging mein Atem so hektisch, als liefe ich gerade einen Marathon.

Mühevoll schob Diego das Tier von sich herunter. In seiner Hand hielt er einen rotverschmierten Dolch, den er mit einer schnellen Bewegung in seinem Stiefel verschwinden ließ. Sein Arm, sein Hemd, überall war Blut und um den leblosen Körper des Wolfes breitete sich langsam eine Lache aus.

Irgendwo schrie eine Frau und wütende Stimmen wurden noch lauter.

Diego sprang auf die Beine, schnappte sich meine Hand, um mich tiefer in die Eingeweide des Schlosses zu ziehen.

Ich wusste nicht was ich sagen und was ich denken sollte. Er hatte gerade jemanden umgebracht, direkt vor meinen Augen. Keinen Moment hatte er gezögert. Der Geruch seiner Tat hing mir immer noch in meinen Atemwegen, doch ich verspürte nicht wie sonst das Bedürfnis nach Nahrung, wie es bei dem Anblick von Blut normalerweise bei mir der Fall war. Mir war einfach nur schlecht.

Immer tiefer führte er Kasper und mich in das Schloss. Überall war das gleiche Bild zu sehen. Aufgeregte Leute. Manche ängstlich, verunsichert, aber viele waren einfach nur wütend.

„Was ist hier los?“, versuchte ich noch einmal ihn zu fragen, als Diego mich in einen Seitengang zog, in dem es etwas ruhiger zuging. Dort öffnete er hastig die einzige Tür am Ende des Korridors und schob Kasper und mich schnell hinein. „Diego! Was geht hier vor?!“, verlangte ich zu wissen.

Der Raum in dem wir uns befanden, war sehr klein und mit uns Dreien schon übervoll, obwohl keine Möbel darin standen. Da war nur noch eine weitere Tür. Eine Fahrstuhltür, wie es den Anschein hatte.

Diego quetschte sich an uns beiden vorbei zu der anderen Seite und drückte mir die Brille in die Hand, bevor er sich dem eingelassenen Tastenfeld in der Wand widmete. „Cayennes Geheimnis ist keines mehr“, sagte er grimmig. Dabei flogen seine Finger blitzschnell über die Zahlen, um einen ziemlich langen Code einzugeben. „Das Rudel weiß jetzt dass sie ein Misto ist und fühlt sich von ihr betrogen.“

„Was?“ Das konnte nicht wahr sein.

„Irgendwer hat ihr Geheimnis ausgeplaudert. Es hat sich verbreitet wie ein Lauffeuer. Jetzt wollen die Wölfe Blut. Wir sind hier nicht mehr sicher.“ Er bestätigte die Eingabetaste und die kleine rote LED wechselte auf grün.

„Code Phönix“, hauchte ich.

Der Umbra nickte nur grimmig und schob uns zwei in den kleinen Fahrstuhl. „Wir haben bis zuletzt versucht zu retten, was noch zu retten ging, aber es hat nicht geklappt. Die Beweise die gegen sie sprechen, oder fiel mehr für die Wahrheit, sind einfach zu erdrückend.“

Kasper drängte sich leicht hinter mich, als die Aufzugtüren sich schlossen. Nähe war ihm zuwider, aber Nähe von einem Fremden ging mal gar nicht. Da ließ er sich gezwungenermaßen lieber von mir berühren.

Im Fahrstuhl befand sich ein weiteres Nummernfeld, über das Diego eilig seine Finger fliegen ließ. Dann setzte sich der Aufzug in Bewegung und wir fuhren hinab in die Tiefe. „Cayenne ist schon in der Tiefgarage, aber sie will nicht gehen, bevor sie nicht auch dich in Sicherheit weiß. Deswegen musste es so schnell gehen. Sie muss aus der Gefahrenzone raus.“ Er sah mich an. „Tut mir leid. Andernfalls hätte ich euch wenigstens noch die Zeit gegeben euch anzuziehen, aber so wie es steht, drängt die Zeit.“

„Schon gut“, sagte ich, obwohl gar nichts gut war. So wie ich jetzt war, fühlte ich mich absolut nicht wohl in meiner Haut. Da spielten sicher auch die äußeren Umstände mit rein, aber in nichts als Slip und Unterhemd hier zu stehen, machte es auch nicht gerade besser.

Diego tippte sich ans Ohr. Nein, er tippte sich an einen kleinen, schwarzen Ohrstöpsel, wie ich ihn nur aus Agentenfilmen kannte. „Ich bin unterwegs, hab das Küken bei mir. Der Schwarm soll sich in Stellung bringen.“ Er nickte seinem unsichtbaren Gesprächspartner zu. „Verstanden. Zwei Minuten, dann starten wir.“

Der Aufzug war so schnell, dass mir die Ohren davon summten, doch Diegos Ansicht nach wohl nicht schnell genug. Und als die Türen an unserem Ziel dann aufglitten, schnappte er sich wieder meine Hand, um mich hinter sich herzuziehen.

Ein kleiner Raum, baugleich wie der, in dem wir eben schon gewesen waren. Wieder eine Tür, durch die ich gezogen wurde, doch dieses Mal landete ich nicht in heillosem Durcheinander, sondern in einer Tiefgarage mit Betonpfeilern.

Hunderte von Autos standen hier. Kleine Limousinen, Strechlimos und ganz normale PKW´s. Doch eines hatten sie alle gemeinsam, die Farbe. Jeder dieser Autos war schwarz.

Der Boden unter meinen nackten Füßen war rau und kalt und während ich hinter Diego herstolperte und mir einen Weg zwischen den Autos bahnte, trat ich mich mehr als einmal ein Steinchen in die Fußsohle ein. Das pikte unangenehm, aber der Umbra ließ mir keine Zeit etwas dagegen zu tun. Immer weiter und weiter zog er mich, vorbei an den Fahrzeugen.

Kasper folgte uns still und ließ sich nicht abhängen.

Etwas weiter vorne stand eine kleine Gruppe von Leuten an zwei Fahrzeugen, auf die wir uns nun zubewegten. Ein großer Kerl mit grauem Haar. Er wirkte nicht alt, das schien einfach seine Haarfarbe zu sein. Daneben stand eine ziemlich aufgelöste Cayenne, die sich strickt weigerte in den Wagen zu steigen. Ihre Stimme war bis zu mir nach hinten zu hören.

Ach Cio sah ich bei ihnen. Er sprach hektisch in sein Handy, bemerkte uns dabei und zeigte dass wir im Anmarsch waren. Die Blicke der kleinen Gruppe richteten sich auf uns und Diego rief quer durch die Tiefgarage, dass Cayenne ihren knochigen Hintern endlich in das verdammte Auto bewegen sollte! Doch wir waren schon fast am Wagen angelangt, als sie sich endlich von dem grauhaarigen Mann in den Wagen schieben ließ, bevor er selber um das Auto rumlief und sich eilig hinters Steuer setzte.

Cio sah seinem Vater entgegen – oder mir? – und wirkte erleichtert, während er weiter ins Handy sprach. „… unbedingt verriegelt lassen … ist mir egal. Das hier drinnen können wir noch kontrollieren, wenn die von draußen reinkommen, haben wir keinen Überblick mehr!“ Er klappte das Handy zu. „Die Schwalben sind startklar“, sagte er, während Diego mir die Wagentür aufriss und mich praktisch mit einem „Beeilung“ auf die Rückbank schubste.

„Die Geier sind bereits am Tor und fordern lautstark Zutritt.“

Diego knurrte, rannte um den Wagen herum zur Fahrerseite. Währenddessen startete bereits das Auto, in dem meine Erzeugerin saß.

Rechts neben mir nahm Kasper eilig Platz und zog die Wagentür mit einem dumpfen Knall zu.

„Die sollen das verdammte Tor unten lassen!“, knurrte Diego und rammte den Schlüssel in den das Schloss. Einen Moment später schnurrte der Motor unter der Haube.

„Die Wächter wollen nicht, sie sind verunsichert und fühlen sich verarscht. Edward versucht sie zu beruhigen, aber lange lassen die sich nicht mehr aufhalten.“ Cio rutschte links neben mir auf den Sitz. Er sah so ganz anders aus als sonst, was nichts mit der weiten Jogginghose, oder dem lässigen Shirt zu tun hatte. Auch nicht der ernste Ausdruck in seinem Gesicht. Es lag daran, dass seine Wollmütze nicht da war. Zum ersten Mal seit dem ich ihn kannte, konnte ich mehr als nur ein paar braune Fuseln auf seinem Kopf sehen.

„Edward soll tun was er kann, aber aufpassen das er nicht zwischen die Fronten gerät“, befahl Diego. Er schien in diesem Durcheinander das Kommando zu haben. „Er soll sich rechtzeitig zurückziehen.“

„Verstanden.“ Cio tippte sich gegen sein Ohr, in dem auch so ein kleiner, schwarzer Ohrstöpsel steckte, während er konzentriert mit den Fingern auf seinem Handy herumtippte. „Der Phönix ist gestartet, die Schwalben sollen ausschwärmen“, sagte er laut und deutlich. „Der Adler ist beim Phönix, haben wir endlich Kontakt zum Falken?“ Seine Lippen wurden vor ärger ganz dünn. „Verdammt.“ Er steckte das Handy wieder weg und sagte zu seinem Vater: „Wir können den Falken nicht erreichen und dort oben gibt es keine Schwalben, die wir schicken können. Tote Leitung.“

Schwalben? Adler? Falke? Was hatten die hier nur mit den Vögeln?

Diego lenkte das Auto aus der Parklücke und folgte dem Wagen von Cayenne. „Hat schon jemand versucht sie auf ihrem Handy zu erreichen?“

„Scheiße“, fluchte Cio und riss sein Handy wieder aus der Hosentasche. „Warum bin ich da nicht selbst draufgekommen?“

Um uns herum wurden noch andere Autos gestartet. Bis sie zum Leben erwachten, hatte ich gar nicht bemerkt, dass sie besetzt waren. Ein paar folgten in unsere Richtung, fuhren vor, aber die meisten schlugen andere Ziele ein.

Cios Gesicht wurde richtig grimmig, als er sich das Handy ans Ohr hielt und offensichtlich niemand erreichte. Vorne bellte Diego Befehle in seinen Ohrstöpsel. Erst jetzt bemerkte ich, dass auf dem Beifahrersitz Genevièv in einem seidenen Pyjama mit kurzer Hose und Spagettitop saß. Sie wirkte hellwach, wenn auch ziemlich zerzaust. Und sie schien furchtbar wütend zu sein.

Da fiel mir was ein. „Scheiße, wir können noch nicht fahren, Alina! Wir haben Alina vergessen, wir müssen anhalten und …“

„Sie sitzt bei Aric und Cayenne im Wagen.“ Wütend drückte Cio auf sein Handy, wählte eine andere Nummer und versuchte dabei mir ein beruhigendes Lächeln zu schenken, was ihm nicht so ganz gelingen wollte. „Mach dir also keine …was?!“ Er drückte mir dem Daumen gegen den Ohrstöpsel und wurde merklich blasser um die Nase. „Scheiße. Papa, sie haben das Tor gestürmt, sie sind im Hof!“

„Ich hab es gehört.“ Mit fliegenden Fingern griff Diego nach seinem Handy und lenkte den Wagen aus der Tiefgarage in einen schmalen Betontunnel, der gerade mal groß genug war, dass er uns schlucken konnte. Das einzige Licht hier kam von Neonröhren an der Decke, die kalt auf uns hinunter strahlten und seltsame Schatten an die Wand warfen.

Langsam wurde ich unruhig. Die ganze Situation war völlig surreal und kleine, enge Räume mochte ich nicht sonderlich, aber das hier war noch schlimmer. So tief unter der Erde. Wenn nun die Decke einstürzen würde, wir wären lebendig begraben, gefangen unter Tonnen von Betonmassen, bis und langsam die Luft ausging. Hier würde uns doch keiner finden.

War das ein Riss da draußen im Beton gewesen, oder hatte ich mir das eingebildet? Oh nein, fuhren wir vielleicht gerade direkt in eine Todesfalle?

Unter meinem hektischer werdenden Atmen kniff ich die Augen zusammen. Wenn ich es nicht sah, würde auch nichts passieren können, dann konnte ich mir einbilden an einem anderen Ort zu sein, ein einem schönen Platz, mit meinen Eltern und Flair.

„Fuck!“, fluchte Cio neben mir und schmiss sein Handy in den Fußraum.

Ich zuckte bei dem Ausruf zusammen und warf ihm einen vorsichtigen Blick zu.

„Weder Kiara noch Graf Samuel gehen an ihre verdammten Handys“, sagte er zu seinem Vater und tippte sich dann gegen den Ohrstöpsel. „Status des Falken weiterhin unklar.“

„Ich rufe die Themis an, vielleicht ist gerade einer drüben in Frankreich und kann nach dem Rechten sehen.“ Und schon hatte er sein Handy wieder im Ohr, während Cio weiter mit irgendjemand über seinen Stöpsel kommunizierte.

„Das ist wie in einem schlechten Agentenfilm“, sagte Kasper leise neben mir.

„Nur dass dies hier leider die Realität ist“, gab ich genauso leise zurück.

Vor uns gabelte sich der Tunnel in drei andere auf. Zwei Wagen führen geradeaus weiter. Drei nach rechts – unter ihnen auch das Auto, in dem Alina und Cayenne saßen. Wir jedoch nachdem die Linke Abbiegung.

„Wo wollen die hin?!“ Verwirrt sah ich durch das Heckfenster. Was sollte das nun wieder?

„Wir teilen uns auf“, sagte Cio grimmig und lauschte weiter aufmerksam dem Funkverkehr.

Diego klappte sein Handy zusammen. „Die Themis verlassen den Hof. Die Situation dort oben ist wohl nicht mehr zu halten. Es sind Kämpfe ausgebrochen.“

Cios Lippen wurden ganz dünn, so stark drückte er sie aufeinander. „Und was ist mit Kiara?“

„Tristan und Lucy sind wohl in Brüssel. Sie wollen sehen, ob sie die beiden erreichen können, dann schicken sie sie nach Cervon.“

„Und wenn sie die beiden nicht erreichen?“

Darauf gab Diego keine Antwort und sagte damit alles, was es zu sagen gab.

Langsam ging es bergauf. Ich wusste nicht wie lange wir hinter den anderen beiden Fahrzeugen durch diesen engen Tunnel fuhren, der mit jedem Meter enger zu werden schien, doch er wollte einfach kein Ende nehmen. Wo fuhren wir bloß hin? Und warum wurden die Lichter immer dunkler? Bildete ich mir das nur ein, oder hatten sie vergessen die Stromrechnung zu bezahlen?

Nervös knetete ich meine Hände im Schoß und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie schnell das Herz in meiner Brust schlug, doch mein Atem war ein mieser Verräter. Und als ich dann auch noch eine Berührung an meinem Knie spürte, zuckte ich so stark zusammen, dass ich mir das Bein am Sitz stieß und einen panischen Blick zu Cio warf.

Es waren nur seine Finger, die mich beruhigend am Knie berührten. An meinem nackten Knie, weil ich keine Hose trug, weil ich hier nur in Slip und Unterhemd saß. Das war zu viel des Guten, das wollte ich nicht und schob seine Hand weg, nur um dann näher an Kasper herumzurutschen. Der trug zwar auch nicht viel mehr als ich, aber Kasper kannte ich schon lange, bei ihm störte es mich nicht, wenn er meine dicken Beine, oder die kleine Speckrolle an meinem Bauch sah. Ihm war das egal. Das Cio es sehen konnte, beschämte mich und da wollte ich nicht auch noch von ihm angefasst werden.

Leider entging mir nicht der verkniffene Ausdruck in Cios Gesicht, als ich mich seiner Berührung entzog. Und auch entging mir nicht, wie er sich demonstrativ von mir abwandte und die kalten Betonwände finster anstarrte, die draußen am Wagen vorbeiglitten. Dabei sprach er die ganze Zeit mit seinem unsichtbaren Zuhörer und was er da alles für Informationen preisgab, dabei stellten sich mir die Nackenhaare auf. Es hatte den Anschein, als würde dort draußen gerade ein Bürgerkrieg ausbrechen, weil Cayennes Geheimnis gelüftet worden war. Ein Halbblut als Königin war nicht akzeptabel. Ein Misto galt als Schwach und eine schwache Führung konnten die Lykaner sich nicht leisten. Dabei entging ihnen völlig, dass Cayenne bereits seit über zwanzig Jahren ihre Königin war und niemals Schwäche gezeigt hatte.

Diese Leute waren einfach nur dumm.

„Edward hat sich zurückgezogen“, kam es vorne von Diego. „Victoria und Iesha sind bei ihm. Sie wollen abwarten und aushaaren, bis der erste Ansturm vorbei ist.“

Cio zögerte einen Moment, fragte dann aber doch. „Geht es Iesha gut?“

„Ja“, sagte Diego kurz angebunden.

Der junge Umbra wurde bei dem seltsamen Ton hellhörig. „Aber?“

„Nichts aber, es geht ihr gut. Edward passt auf, dass sie keine Dummheiten anstellt.“

Wie er das sagte. Das hörte sich an, als hätte sie bereits etwas sehr Dummes getan.

Der Wangen vor uns wurde langsamer. Nur noch eine schwache Notbeleuchtung sorgte hier für etwas Licht. Wir mussten anhalten, damit wir unserem Vordermann nicht reinfuhren. Ich streckte den Hals ein wenig, um besser sehen zu können. Aus dem ersten der drei Autos stieg eine Frau in Wächteruniform aus. Direkt vor ihr ging es nicht mehr weiter, da war eine Wand, aber die glitt zur Seite auf, als sie eine Nummer in das Tastenfeld links von sich eingab.

Sofort wurde die Stille von einem fürchterlichen Knirschen unterbrochen und die Sackgasse öffnete sich. Ich sah nicht viel, nur das die Wand sich langsam zur Seite schob und den Blick auf einen unordentlichen Raum freigab. Rasenmär, alte Kartons, eine Werkbank an der Seite. War das etwa eine Garage?

Die Frau vorne stieg eilig zurück in ihren Wagen, dann gab sie einfach Vollgas und bretterte los. Alles was ihr dabei im Weg stand, wurde einfach über den Haufen gefahren. Die alte Lampe, die Bretter, die an der Seite ordentlich an die Wand gelehnt standen und auch die ganzen Gartengeräte. Selbst das geschlossene Garagentor konnte sie nicht aufhalten. Unter Ächzen und Quietschen fuhr sie einfach hindurch. Es schepperte laut, das Tor flog aus der Verankerung und krachte auf den Boden. Der Wagen schob es noch ein Stück vor sich her, bevor es neben der Einfahrt liegen blieb und das Auto einfach vorbeiraste. Der zweite Wagen und unserer folgten ohne das kleinste Zögern. Ich konnte eine Frau aus dem angrenzenden Haus rennen sehen, die fassungslos den drei Autos hinterher blickte, die gerade aus ihrer Garage gesaust kamen und mit quietschenden Reifen einfach auf die Landstraße davor abbogen. Der Erste nach rechts, der Zweite und wir nach links.

Ich sah durchs Rückfenster, „Die Frau wusste nicht, dass ihre Garage mit einem geheimen Zugang verbunden ist, oder?“

Auch Kasper blickte aus dem Rückfenster. „So wie die die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, nein.“

„Aber jetzt wird sie den Zugang zum Schloss finden.“ Ich sah nach vorne zu Diego. „Das sollte sie aber nicht, oder?“

„Sie wird nichts finden, die Wand hat sich wieder geschlossen.“

Naja, wenn sie einen Experten anheuerte, würde der sicher etwas finden. Blieb nur zu hoffen, dass sie wenigstens ein Lykaner oder Vampir war.

Cio hob wieder die Hand zu seinem Stöpsel. „Ja, ich höre.“ Er nickte. Einmal, zweimal, dann drückte er die Lippen fest aufeinander. „Verstanden. Papa, die Schwalben können die Stellung nicht mehr halten, sie geraten in Bedrängnis, weil die Leute vermuten, Cayenne könnte in den Wagen sitzen. In Silenda ist die Hölle los.“

Ah, die vielen Wagen waren also ein Ablenkungsmanöver. Kasper hatte recht, das erinnerte langsam wirklich einen Agentenfilm.

„Sie sollen sich zu erkennen geben“, kam die Anweisung von Diego. „Der Phönix hat die Stadt bereits verlassen.“

„Verstanden.“ Wieder drückte Cio gegen seinen Ohrstöpsel. „Die Schwalben sollen ihre Stellung verlassen und sich zu erkennen geben, der Phönix ist auf dem Weg in die Sonne. Also Rückzug. Ich wiederhole, der Phönix … ahhh!“ Mit einem hastigen Griff riss Cio sich unter lautem fluchen den Ohrstöpsel vom Kopf. Aber nicht nur er, auch Diego gab ein Zischen von sich und zerrte sich das Teil vom Ohr. Dabei geriet der Wagen einen Moment ins Schlingern, genau wie der direkt vor uns.

Mit schnellen Kurbeln schaffte Diego es noch dem anderen Wagen auszuweichen und sicher zurück in die Spur zu fahren. Das andere Auto hatte nicht so viel Glück, es landete im Graben.

„Scheiße!“, fluchte Cio und hielt sich das Ohr. „Was zum Teufel war das denn?“

„Ein Störgeräusch, das unsere Kommunikation beeinträchtigen soll.“ Diego sah durch den Rückspiegel zu dem verunglückten Wagen, aber da schien nicht schlimmes passiert zu sein. Der Fahrer war sogar schon am Aussteigen.

„Beeinträchtigt ist jetzt nur mein Gehört. Man, das tut echt weh.“ Er rieb sich vorsichtig über den Lauscher. „Und jetzt?“

„Wir haben noch unsere Handys.“

„Handys bringen im Moment überhaupt nichts, damit haben wir nur eine eingeschränkte Kommunikation.“

„Es muss eben reichen“, sagte Diego ruhig und trat ein wenig mehr aufs Gaspedal.

Cio lehnte sich seufzend ins Polster zurück und rieb sich über die Augen. Er schien in der letzten Nacht nicht viel Schaf bekommen zu haben. Überhaupt schien die letzte Nacht für Viele schlaflos verlaufen zu sein.

„Fuck!“, fluchte er nochmal, öffnete die Augen und sah die Nackenstütze seines Vaters grimmig an, als sei sie schuld an diesem ganzen Dilemma. „Wenn ich den in die Finger bekomme, der dafür verantwortlich ist, dem dreh ich den Hals um!“

„Was ist denn eigentlich genau passiert?“, traute ich mich zu fragen.

Ohne den Kopf von der Lehnte zu nehmen, drehte Cio mir sein Gesicht zu. Dabei musterte er mich etwas zu intensiv und ich fühlte mich sofort wieder unwohl. Wenn ich wenigstens eine Decke hätte. „Gestern Nachmittag sind im Internet wohl Bilder von Cayennes Kindheit aufgetaucht, die sie zusammen mit Prinzessin Celine zeigten.“

„Ihrer Mutter?“

Cio nickte. „Ja, aber damals war sie bereits die verstoßene Tochter gewesen. Zu den Bildern gab es Texte, die sehr detailliert beschreiben, was die Leute dort sehen konnten und auf Cayennes Abstammung hindeuteten. Außerdem wurden in alle Wervamporte Plakate angebracht, Fotokopien von handgeschriebenen sehr aufschlussreichen Texten, die eindeutig von Sydney stammen.“ Als er wieder verstummte und sein Blick auf meine Beine fiel, lief ich nicht nur rot an, sondern versuchte sie auch unter meinen Armen zu verbergen – das klappte natürlich nicht.

Cio seufzte und beugte sich ein wenig vor, um sich sein Shirt auszuziehen. Mit einem „Hier“ reichte er es mir.

Es war mir fast schon peinlich, wie schnell ich es packte und mir überzog, aber es verdeckte wenigstens etwas mehr. Und als ich dann meine Beine anzog, den weiten Stoff darüber streifte und die Arme darum schlang, konnte man eigentlich nur noch meine Füße sehen. „Danke“, sagte ich kleinlaut, wagte es dabei aber nicht ihn anzusehen.

„Schon gut.“ Er seufzte wieder. „Wie dem auch sei. Irgendjemand hat über Nacht ein ganzes Netzwerk an Informationen preisgegeben, dass sich rasend schnell über die Bevölkerung ausgebreitet hat. Sogar geheime Informationen der Wächter sind jetzt an der Öffentlichkeit. Irgendwer hat das alles rausbekommen und es veröffentlicht. Im Internet gibt es sogar ein Video von so einer mageren Blondine, die aus dem Nähkästchen plaudert und alles preisgibt, was König Isaac damals so schön verschleiert hat.“ In seine Gedanken versunken schwieg er kurz. „Cayenne sagt, dass ihr die Frau bekannt vorkommt, sie aber nicht zuordnen kann. Das heißt, sie wird wohl irgendwann mal mit dem Hof der Werwölfe zu tun gehabt haben.“

„Und was passiert jetzt?“, fragte ich, als er schwieg.

Er zuckte nur mit den Schultern. „Keine Ahnung. Wir müssen uns jetzt erst mal verkriechen und sehen was weiter geschieht. Vielleicht beruhigt sich die ganze Angelegenheit ja wieder.“

Auch wenn er das von sich gab, er glaubte selber nicht daran. Das sah ich ihm an.

„Und wo verkriechen wir uns?“, wollte ich wissen. Cayenne war bekannt wie ein bunter Hund, die würde sich in der verborgenen Welt nicht einfach so in einem Hotelzimmer einmieten und darauf vertrauen können, dass sie schon niemand erkennen würde.

Cio zuckte sie Schultern. „Keine Ahnung. Die sicheren Orte, die Cayenne für den Notfall hat, sind jetzt alle öffentlich, da kann sie nicht mehr hin und über einen anderen Platz haben wir uns noch keine Gedanken gemacht. Für uns hat einfach nur gezählt schnell und unbeschadet da rauszukommen.“

Ja, bevor sie meine Erzeugerin lynchen konnten.

„Hey“, sagte er und berührte vorsichtig meinen Ellenbogen. Als ich mich ihm nicht wieder entzog, strich er dort mit rauen Fingern sanft über die Haut. „Mach dir keine Sorgen, das kommt schon alles wieder in Ordnung. Wir müssen eben einfach nur ein bisschen Geduld haben.“

Ich zögerte, sprach meine Gedanken dann aber doch aus, einfach weil ich es wissen musste. „Und was ist mit meinen Eltern?“ Denn in diesem Chaos würde Cayenne bestimmt nicht die Macht haben nach ihnen zu suchen.

„Ich weiß es nicht“, sagte Cio leise und senkte seinen Blick auf meinen Arm. Er folgte mit den Augen den streichelnden Fingern, die langsam aber sicher eine Gänsehaut bei mir auslösten und meine Nervenenden kribbeln ließen. „Ich weiß es wirklich nicht.“

Natürlich nicht, woher sollte er das auch wissen? Im Moment war alles so unbeständig. Wir wussten ja nicht mal, was in einer halben Stunde sein würde, wie sollten wir da wissen, wie wir meine Eltern finden sollten?

Seine Finger strichen meinen Arm hinunter, bis er meine Knöcheln erreichte, die verschrammten Stellen. Besorgnis erschien in seinem Gesicht. „Was hast du da gemacht?“

„Ich habe auf den Gehweg vor unserem Haus eingeschlagen. Gestern, als ich das mit meinen Eltern erfahren habe.“

Behutsam ließ der einen Finger über die Wunden gleiten. „Warum machst du sowas nur?“, fragte er ganz leise. Es schien nicht, als wollte er eine Antwort darauf haben und er bekam auch keine. Ich wollte mich ihm nicht erklären.

Vorne klingelte das Handy von Diego. Es dauerte keine Sekunde, da hatte er es schon am Ohr zu kleben. „Ja? … Moment, ich schalt dich auf Lautsprecher.“ Er fummelte das kleine Gerät in die Halterung am Armaturenbrett und drückte ein paar Knöpfe, bevor er seine Hände wieder ans Lenkrad legte. Vorher aber tätschelte er noch kurz beruhigen das Bein seiner Gefährtin, die die ganze Zeit versuchte mit ihrem Blick Löcher in die Windschutzscheibe zu bohren. „So, jetzt können dich alle hören.“

„Zaira?“

Das war Cayenne am anderen Ende.

„Ja?“

„Oh Gott, geht es dir gut?“

„Ja, bei uns ist alles bestens. Mach dir keine Sorgen.“

Etwas wie ein abgehacktes Schluchzen drang durch die Leitung. „Dafür danke ich Leukos.“

„Cayenne“, unterbrach Diego sie. „Hast du jemanden erreicht?“

„Ja, ich … ich hab mit Keenan gesprochen und der hat mich an Ayko weitergeleitet. Wir können uns erst mal bei ihnen verstecken.“

„Haben wir eine Adresse?“

„Nein.“ Sie schniefte wieder. „Wir sollen einfach nach Düsseldorf fahren, zu der Sankt Lambertus Kirche, dort werden sie uns abholen.“

„In Ordnung, verstanden.“ Er gab ein erleichtertes Geräusch von sich.

Ich beugte mich leicht zu Cio. „Wir sollen zu einer Kirche fahren? Was bedeutet das?“ Ich konnte mir schlecht vorstellen, dass beten uns im Moment weiterbrachte.

„Das bedeutet wir sollten uns vor Flöhen in acht nehmen.“ Er grinste mich etwas schief an. „Denn wir besuchen jetzt die Streuner.“

 

°°°

 

Mit einem Knarren, schloss sich das große Scheunentor hinter uns und verbarg uns vor der Welt dort draußen. Der blaue Wagen, dem wir seit unserem Treffpunkt in Düsseldorf gefolgt waren, parkte im hinteren Teil, vor einem Berg aus gebundenen Strohballen. Diego lenkte sein Auto direkt in die Lücke daneben und schaltete den Motor aus. Dann atmete er erst einmal tief durch.

Mittlerweile war es Nachmittag. Wir hatten fast zehn Stunden in diesem Wagen verbracht. Die einzige Pause, die Diego gemacht hatte, war an einer Tankstelle, um den Tank wieder aufzufüllen. Dort hatten wir auch eine Kleinigkeit zu Essen und zu trinken besorgt. Ich hatte nichts herunter bekommen.

„Na los“, sagte Diego. „Raus mit euch.“

Nur langsam folgten wir seiner Anweisung. Obwohl wir die ganze Zeit gesessen hatten, konnte ich meine müden Beine kaum dazu bringen, sich zu bewegen und hinter Kasper vom Rücksitz zu rutschen. Wir waren alle erschöpft. Nicht körperlich, nein, geistig. Das Schlimmste an dieser Situation war nicht das, was wir hinter uns hatten, sondern das, was das alles bedeutete.

Als ich draußen stand, klebte sofort Stroh an meinen Füßen. Die Scheune in der wir standen, wirkte nicht ungepflegt, aber sie wurde eindeutig benutzt. Zwischen den einzelnen Holzbrettern der Wände, blitzte das Licht der Sonne hindurch. Mehrere schwere Maschinen, deren genauer Verwendungszweck mir nicht ganz klar war, waren an den Wänden aufgereiht. Sie hatten eindeutig etwas mit Landwirtschaft zu tun.

Es war kalt. Auf meine Armen machte sich eine Gänsehaut breit und vor meinem Mund bildeten sich weiße Wölkchen.

Diego half Genevièv aus dem Wagen und ging Seite an Seite mit ihr zu dem blauen Wagen, der uns hergeführt hatte. Dem entstieg gerade eine junge Frau, die kaum älter als ich sein konnte. Sie war dunkelhäutig, schlank und hatte sich uns mit dem Namen Shiva Steinlein vorgestellt. Ihr Aussehen würde ich nicht gerade als umwerfend bezeichnen, es war eher … exotisch. Ihre Haare waren lang, schwarz und glatt und ihre blauen Augen waren groß und leicht schräg, aber sie standen ein wenig zu dicht beieinander. Die Nase war ein wenig zu groß und die Lippen etwas zu schmal, aber sie besaß Ausstrahlung.

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und rieb mir über die nackten Arme. Langsam wurden meine Füße kalt.

Von hinten legte Cio mir einen Arm um die Schulter und drückte mich ganz leicht an sich. Da er nichts als eine Jogginghose trug, musste er auch freieren, doch er ließ es sich nicht anmerken. „Alles in Ordnung?“

„Musst du das wirklich fragen?“ Ich sah zum Scheunentor, wo zwei fremde Männer standen. Sie hatten die Tore geschlossen, sobald wir in der Scheune gewesen waren und nur näherten sie sich mit wachsamen Blicken dem blauen Wagen. Sie mussten zu dem Streunerrudel gehören. Auch nein, zu dem Simultanenrudel, wie nun die politisch korrekte Bezeichnung war. Genevièv hatte uns auf der Fahrt hier her darauf hingewiesen, dass wir sie so und nicht Streuner oder Abtrünnige nennen sollten.

Kasper beäugte sehr misstrauisch die Hand, die da auf meiner Schulter lag. „Musst du sie eigentlich ständig angrapschen?“, haute er dann auch geradewegs heraus.

Und ich? Ich wurde feuerrot.

Ein leicht abschätzender Blick war alles was Cio für meinen besten Freund übrig hatte. „Was ist los? Bist du etwa eifersüchtig?“

Das war Kasper mit Sicherheit nicht, aber irgendwo hatte er schon recht. Jetzt war wohl nicht der passende Moment Cio so nahe zu sein. Hier wo uns alle sehen konnten … ich fühlte mich einfach nicht wohl dabei und schob seinen Arm runter, ohne ihn dabei anzusehen.

„Das ist jetzt nicht sein Ernst, oder?“, fragte Cio nicht nur entgeistert, sondern auch noch empört. „Nur weil dieses Frettchen da einen blöden Spruch …“

„Erdmännchen“, verbesserte Kasper ihm sofort und baute sich mit verschränkten Armen direkt vor Cio auf. Das sah ziemlich lächerlich aus, wenn man bedachte, dass Kasper nicht nur einen Kopf kleiner war, sondern auch noch wesentlich schmaler. „Du hast mich gestern als Erdmännchen bezeichnet, aber von so einer Hohlbirne ist wohl nicht zu erwarten, dass er sich die einfachsten Beleidigungen merken kann.“

Aber hallo, was war denn jetzt los?

Cio schnaubte nur abfällig. „Tja, in meiner Hohlbirne ist halt nur für wichtige Gedanken Platz. Kein Wunder also, dass da so ein kleiner, unbedeutender Menschen wie du, nichts drinnen zu suchen hat.“

„Wichtige Gedanken, ja klar. So wie du Zaira vorhin auf die Titten gestarrt hast, kann ich mich schon vorstellen, was das für überaus wichtige Gedanken sind.“

„Kasper!“, rief ich empört. Dem ging es wohl zu gut!

Natürlich ließ Cio sich von dieser Anschuldigung nicht aus der Ruhe bringen. Er schaute meinen besten Freund nur an und begann zu schmunzeln. „Casper?“, fragte er? „Dein Name ist wirklich Casper?“

Dafür bekam er ein wirklich finsteren Blick.

„Casper das freundliche Gespenst.“

Uh, wenn Blicke töten könnten. „Wie einfallsreich, den habe ich wirklich noch nie gehört.“

Super, wir steckten in einer Krisensituation und die beiden begannen hier einen Kleinkrieg. „Kaspers Name schreibt sich mit K. Das kleine Gespenst wird mit C geschrieben“, sagte ich und hoffte, das Thema wäre damit vom Tisch.

Cio zuckte nur mit den Schultern. „Dann bleibe ich eben bei Kasper dem zeternden Frettchen.“

Fantastisch.

Bevor mein bester Freund noch etwas dazu sagen konnte, setzte sich die kleine Gruppe am blauen Auto in Bewegung. Diego winkte uns zu sich und damit das hier nicht eskalieren konnte, nahm ich Kasper bei der Hand und zog ihn mit mir mit.

Cio schloss sich uns grinsend an und folgten der Gruppe hinter Diego durch eine kleine Tür neben dem großen Haupttor hinaus ins Freie.

Sobald die schützenden Wände weg waren, fuhr mir schneiden kalter Wind unter die Klamotten und ich begann zu zittern. Der dunkle Erdboden vor der Scheune war zum einen Teil gefroren und mit Schnee bedeckt und zum anderen wässrig, matschig und voller Schneematsch.

Wenn wir noch ein wenig länger hier draußen blieben, würde ich meinen Zehen bald nicht mehr fühlen. Kasper und Genevièv musste es genauso gehen, denn auch sie trugen keine Schuhe, aber keiner von ihnen beklagte sich.

Shiva winkte uns mit einem Lächeln näher. „Los kommt, wir bringen euch erstmals ins Warme, dann …“ Sie verstummte und drehte sich herum, als zwei weitere Autos auf das Gelände fuhren. Das fordere war rot, das hintere schwarz. Da waren Alina und Cayenne drinnen. „Moment“, sagte sie. „Geht gleich weiter.“ Damit ließ sie uns stehen und ging dem roten Auto entgegen.

So viel zum Thema: Ab ins Warme. Wenn das so weiter ging, würde ich mir gleich ein Fell wachsen lassen müssen, um nicht zu erfrieren.

Sobald die beiden Wagen standen, gingen links und rechts die Türen auf. Aus dem roten Wagen stieg ein dunkelhäutiger Mann, denn ich auf Ende dreißig schätzen würde, also war er vermutlich doppelt so alt. Er hatte ein rundes Gesicht und war für einen Mann recht klein. Als Shiva neben ihn trat, überragte sie ihn um ein paar Zentimeter.

Er hatte sich uns vorhin als Keenan Steinlein vorgestellt und war der Vater von Shiva.

Mein Interesse galt jedoch dem hinteren Wagen. Aric und Alina purzelten zusammen mit dem grauhaarigen Mann von den Rücksitzen. Es war jedoch Cayenne, die mich als erstes entdecke.

„Zaira!“, schrie quer über den Platz. Sie war kaum aus dem Wagen gestiegen, da rannte sie auch schon auf mich zu. Selbst wenn ich gewollt hätte, wäre es mir nicht möglich gewesen, mich vor der kommenden Umarmung in Sicherheit zu bringen. Ich fand es immer noch ein bisschen seltsam, sie einfach mal zu drücken, aber sie schien damit überhaupt keine Probleme zu haben.

„Oh Gott sei Dank, Zaira, dir geht es gut, dir ist nichts passiert.“ Immer fester drückte sie mich, als hoffte sie, so mit mir verschmelzen zu können, damit ich ihr nie wieder von der Seite weichen konnte. „Alles wird gut, jetzt wird alles gut.“

Hinter Sydney in Wolfsgestalt, folgten Aric und Alina. Meine Cousine hatte sich an seine Hand geklammert. Genau wie ich trugen die beiden nur Schlafsachen. Keiner Schuhe. Das Schlusslicht bildete der grauhaarige Mann.

„Hey, warum werde ich so nie begrüßt?“, wollte Cio da schon fast empört wissen. „Ich … ahhh!“

Diego hatte seinen Sohn kräftig im Nacken gepackt und drückte ihn leicht herunter. Dabei grollte ein warnendes Knurren in seiner Kehle

Oh wow, warum war er denn gleich so grob? Cio hatte sich doch nur einen kleinen Spaß erlaubt.

„Diego, nicht.“ Genevièv legte ihrem Gefährten eine Hand auf den Arm und schüttelte sehr nachdrücklich den Kopf. „Nicht heute.“

Nicht heute?

Cio drückte die Augen zusammen. Das musste verdammt wehtun.

Diego ließ nicht sofort von seinem Sohn ab, drücke noch einmal fester, aber sobald seine Hand weg war, nahm Cio Reißaus und brachte sich hinter Aric in Sicherheit. Dabei rieb er sich über dem Nacken und warf seinem Vater böse Blicke zu.

Als Cayenne mir ein wenig Luft zum atmen ließ, nutze ich die Gelegenheit, um mich von ihr loszumachen. Aber ganz kam ich nicht weg, denn sie schnappte sich meine freie Hand und hielt sie eisern fest. In ihren Augen stand Panik und sie wirkte etwas durcheinander. Aufgedreht und konfus. Die ganze Situation schien sie ganz schön mitzunehmen. Wie sollte es auch anders sein? Schließlich ging ihr ganzes Leben gerade den Bach hinunter.

Kennan legte seiner Tochter einen Arm um die Schulter und gemeinsam schlossen sie zu unserer Gruppe auf. „Ihr beide“, sagte er und zeigte auf die beiden Männer aus seinem Rudel. „Fahrt die Wagen in die Scheune und schließt sie dann ab und der Rest von uns, wird jetzt erstmal Alphas Hallo sagen. Sie sind schon sehr gespannt darauf zu erfahren, was hier eigentlich los ist.“

Cayenne gab ein seltsames Geräusch von sich. „Ich denke eher, dass du es bist, der hier gleich vor Neugierde stirbt. Du konntest es noch nie leiden, wenn man dir etwas vorenthalten hat.“

Keenan lächelte sie an, doch es hatte eher etwas von einem Zähnefletschen. „Ich sehne den Tag herbei, an dem ich dir kräftig den Hintern versohlen darf.“

Diego gab ein warnendes Knurren von sich und auch Genevièv richtete sich ein wenig gerader auf.

Keenan ließ sich davon nicht beeindrucken. „Folgt mir.“ Er ließ von seiner Tochter ab und übernahm die Führung.

Cayenne drückte noch einmal meine Hand und schloss sich ihm zusammen mit Sydney an. Der Rest der Gruppe folgte ihnen. Ich bildete mit Kasper und Cio das Schlusslicht. Langsam fühlte ich meine Zehen nicht mehr.

Das Gelände, auf dem wir uns befanden, schien ein großer, landwirtschaftlicher Betrieb zu sein. Ich sah große Kuhställe und Viehweiden. Speicher, Scheunen und Abstellschuppen. Da drüben war ein großer Stall mit Hühnern und Enten und wenn ich mich nicht täuschte, nahm ich auch den Geruch von Scharfen wahr, aber ich konnte sie nicht sehen.

Überall um uns herum liefen Leute geschäftig herum und beäugten unsere Gruppe misstrauisch, wenn wir an ihnen vorbeikamen. Sie alle waren Lykaner, aber niemand von ihnen gehörte zum Rudel der Könige.

Ein Traktor fuhr laut knatternd an und vorbei. Er zog einen großen Hänger mit einem Käfig, doch der war leer. Irgendwo bellte ein aufgeregter Hund.

Bei dem Geräusch wurde mein Herz gleich wieder ein wenig schwerer. Er hörte sich nicht wie Flair an – nicht im Geringsten – aber ich kam nicht umhin, sofort wieder an sie zu denken. Und auch an das, was mit ihr passiert war.

„Das hier erinnert mich irgendwie an einen Bauernhof“, bemerkte Kasper. Beim Sprechen bildeten sich vor seinem Mund kleine Atemwölkchen. Auch er zitterte mittlerweile.

Shiva, die nur ein kurzes Stück vor uns lief, hatte ihn gehört und ließ sich zu uns zurückfallen. „Das könnte daran liegen, dass es einer ist“, sagte sie und lächelte.

Aber Großmutter, warum hast du nur so große Zähne?

„Wir produzieren hier Milch, Wolle und Getreide. Gracia-Ökonomie.“

„Gracia-Ökonomie?“

„So heißt unser Betrieb. Wir sind das Gracia-Rudel und betrieben es. Jeder hier gehört zum Rudel und alles was ihr hier seht …“

„Shiva!“, rief Keenan seine Tochter und winkte sie nach vorne. „Komm mal her.“

„Sorry, muss los, aber wir können uns ja später noch mal unterhalten.“ Sie zwinkerte uns zu und joggte dann in ihrer warmen Winterjacke nach vorne zu ihrem Vater.

„Ein besseres versteckt könnten wir im Moment gar nicht finden“, erklärte Aric. Er und Alina waren direkt vor uns. Meine Cousine klammerte sich noch immer an seinen Arm, aber sie schien unverletzt. Ganz im Gegenteil zu dem Prinzen. Der Seidenpyjama war am Arm zerfetzt und blutig, als hätte sich ein starker Kiefer darum geschlossen.

Das sah böse aus.

„Wieso?“, wollte ich wissen. „Glaubst du hier finden uns die Lykaner nicht?“

„Das ist der Sitz eines eigenständigen Rudels, zwar eines kleinen, aber trotzdem ein Rudel und jeder Lykaner würde es sich dreimal überlegen, uneingeladen mitten ins Herz eines fremden Rudels zu marschieren. Die Simultanen sind da nämlich ein wenig angriffslustiger als wir.“

Das verstand ich. Dem Rudel der Könige waren sie Zahlenmäßig bei weitem unterlegen und irgendwie mussten sie sich ja vor den rauen Gesellen schützen.

„Und es wird wohl niemand auf die Idee kommen, dass ein Rudel der Simultanen uns aufnehmen würde. Dafür sind die Rudel untereinander zu misstrauisch“, fügte Cio noch hinzu.

„Und wie kommt es dann, dass wir trotzdem hier sind?“

Aric zuckte mit den Schultern. „Um ehrlich zu sein, weiß ich das nicht. Meine Mutter steht natürlich im politischen Kontakt mit den anderen Rudeln. Das ist zwingend notwendig, um die Ordnung beizubehalten, aber wirklich wohlgesonnen sind uns die Simultanen deswegen noch lange nicht. Ich hab keine Ahnung, wie sie ihren Alpha dazu bekommen hat, uns aufzunehmen.“ Er schaute sich etwas unruhig um. „Und das macht mich nervös.“

Unter unseren Füßen knirschte der Schnee. Ich spürte ihn kaum noch.

„Glaubst du, dass es noch Schwierigkeiten geben wird?“, wollte Kasper wissen.

Er warf meinem besten Freund einen undurchdringlichen Blick über die Schulter zu. „Das weiß ich nicht“, war jedoch alles, was er sagte, als er wieder nach vorne schaute. Dabei streifte er ausversehen Alinas Arm. Dadurch kam sie an seine Verletzung und er zischte.

Sie warf ihm sofort einen besorgten Blick zu. „Alles okay?“

„Ja“, sagte er. „Ist nicht weiter schlimm.“

Ich sah mir die Wunde genauer an. „Woher hast du die?“

„Einer der Wächter hat mich gebissen.“ Er seufzte. „Kurz vor Mitternacht haben mehrere Wölfe mein Zimmer gestürmt und mich direkt angegriffen. Ich hab erst keine Ahnung gehabt, was los war, aber wie es aussieht, wollten sie den Sohn der Betrügerin an die Gurgel. Dass es nicht schlimmer gekommen ist, hab ich Alina zu verdanken.“

„Alina?“ Wirklich? Meiner durchgeknallten Cousine?

Sie grinste mich an. „Ich wollte nicht alleine schlafen und hab auf seiner Couch gepennt. Du glaubst nicht, wie ich mich erschrocken habe, als die ganzen Leute den Raum stürmten und sich auf Aric stürzten. Es waren so viele, dass seine beiden Umbras sie nicht alle aufhalten konnten. Zwei Wölfe schafften es in den Raum und rissen ihn direkt aus dem Bett.“

„Und du hast was gemacht?“, fragte ich, obwohl ich eigentlich gar nicht so sicher war, ob ich das wirklich wissen wollte.

„Sie hat sich die Lampe vom Beistelltisch geschnappt und sie dem Wolf, der sich in meinem Arm verbissen hatte, über den Schädel zogen. Der Kerl war sofort bewusstlos.“ Aric schüttelte den Kopf, als könnte er es immer noch nicht glauben, obwohl er dabei gewesen war. „Ich hab immer gedacht, sowas funktioniert nur in Filmen.“

„Und dann?“, wollte ich wissen.

„Dann bin ich auf dem Plan getreten und hab die Situation gerettet“, erklärte Cio mit einem stolzen Grinsen. „Ist ja schließlich mein Job den Prinzen zu beschützen.“

Naja, zumindest, sobald er seine Ausbildung abgeschlossen hatte.

„Du hättest ihn sehen müssen!“, schwärmte Alina sofort drauf los. „Ein Umbra in Aktion. Gott, ich bekomme jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich nur daran denke.“

Das schmeichelte Cio natürlich so sehr, dass er gleich noch breiter grinste. „Und als die Typen alle im La-la-land waren, hab ich meinen Vater übers Handy angerufen, um zu erfahren, was hier verdammt noch mal los war.“ Dabei knurrte er leicht. „Es ärgert mich immer noch, dass sie mir nicht gleich gesagt haben, was Code Phönix bedeutet. Ich hab mir die beiden dann einfach geschnappt und durch die Bedienstetengänge nach unten in die Tiefgarage gebracht.“

Und den Rest der Geschichte kannte ich bereits. Außerdem erklärte dieser Zusammenstoß Arics verwüstetes Zimmer. Gott sei Dank war Cio da gewesen. Ich wollte gar nicht wissen, wie das sonst ausgegangen wäre.

„Das einzige Problem ist, wir können meine Schwester nicht erreichen“, sagte Aric dann. „Genauso wenig wie Samuel. Auf seinem Anwesend geht niemand ans Telefon.“

Hm. „Wollen die nicht mit der Yacht rausfahren? Vielleicht sind sie ja noch auf dem Wasser.“

Aric schüttelte den Kopf, bevor ich geendet hatte. „Sie sind Freitag wieder in den Hafen gefahren und seit Samstag zurück auf Samuels Anwesen in Cervon. Sydney hat Samstag Abend noch mit Kiara gesprochen, weil er sich Sorgen um sie macht.“

Um zu erfahren, warum das so war, musste ich nicht extra nachfragen. „Müssten denn nicht Angestellte auf dem Anwesen sein?“

„Das ist es ja“, kam es nun von Cio. „Samuel hat zwar nicht viele Leute, aber doch einige. Sogar ein paar Umbra haben sie begleitet, darunter auch Umbra Drogan und er ist der Tribunus Umbra.“

Was auch immer das nun wieder war.

„Das dort niemand ans Telefon gegangen ist, ist kein gutes Zeichen“, sagte nun wieder Aric. „Mama ist deswegen auch schon völlig fertig mit den Nerven.“

Das hörte sich übel an. Wenn man eine Person mal nicht erreichen konnte, war das nervig. Wenn auch nach mehrlagigen anrufen niemand ans Telefon bekam, besonders in so einer Situation, konnte man anfangen sich Sorgen zu machen, aber mit den Wächtern und Umbra zusammen, mussten das um die zwanzig Leute sein und wenn niemand von denen ans Telefon ging, dann war Panik angesagt. „Glaubst du ihnen ist etwas passiert?“

„Ich hoffe es nicht, aber so wie es gerade aussieht, müssen wir davon ausgehen. Ansonsten würde es keinen Sinn ergeben, dass wir niemanden erreichen.“ Aric kniff kurz die Lippen zusammen. „Wenn meiner Schwester etwas passiert ist, dann wird jemand sterben.“

Er sagte das so ernst, dass ich plötzlich wieder an Diego in der Einganghalle denken musste. Das Blut des Wolfes klebte noch immer an seinem Hemd. Was Aric da sagte … das waren keine leeren Worte, oder falsche Versprechungen gewesen. Lykaner waren keine Menschen, sie gingen viel rauer, wilder und auch aggressiver miteinander um. Wenn Kiara etwas zugestoßen war, dann würde Blut fließen.

Wir ließen die Betriebsgebäude hinter uns und kamen zu einer Ansammlung einzelner Häuschen, die alle rund um ein großes Hauptgebäude verteilt standen. Sie waren nicht sehr groß. Die eine Hälfte hatte gerade mal eine Etage, einige wenige, zwei. Das Hauthaus dagegen war riesig. Nicht nur in der Größe, auch in der Höhe. Fünf Stockwerke, wenn ich die Fenster richtig zählte.

Wie ein klitzekleines Dorf, überlegte ich und rieb mir fröstelnd über den Arm.

Um die Häuser herum, erstreckte sich, so weit das Auge reichte, nur leere, schneebedeckte Felder. Kaum ein Baum und kein Wald. Ein ungewöhnlicher Ort für ein Rudel von Lykanern.

Die kleinen Häuser standen kreuz und quer herum, als hätte sie jemand aus einem großen Eimer geschüttelt und sie genau dort stehen gelassen, wo sie gelandet waren. Wir mussten im Zickzack gehen, um zu dem großen Haupthaus zu kommen.

Es war aus Backstein gebaut, mit einer überdachten Veranda, die einmal rundherum ging. Beete und Ziersträucher rahmten es ein, doch im Moment, waren sie alle vom Schnee bedeckt. Nur auf dem, aus Steinfliesen bestehenden, Hauptweg, hatte man die winterliche Pracht beseitigt und irgendwas drauf gestreut. Kleine Steinchen bohrten sich unangenehm in meine Fußsohlen.

Keenan war der Erste, der auf die Veranda trat und für uns alle die Tür Aufzog. „Los, rein mit euch.“

Dem kam ich nur zu gerne nach, Hauptsache endlich raus aus dieser Kälte.

Wir betraten einen rustikales Foyer. Der Boden war aus Holz und um uns herum erhoben sich dunkle Kunststeinwände mit Wandleuchten. Es machte auf mich ein wenig den Eindruck eines gemütlichen Kerkrs.

Sobald alle drinnen waren, übernahm Keenan wieder die Führung. Seine Tochter begleitete uns nur noch ein Stück und verschwand dann nach links durch eine Tür. Wir bogen im Flur nach rechts ab, kamen an einer großen Küche vorbei, die gut besucht war und hielten am Ende des Flurs vor eine einfachen Holztür.

Keenan klopfte zwei Mal dagegen, als wollte er uns ankündigen, öffnete die Tür dann aber ohne abzuwarten und trat einfach hindurch. Cayenne und Sydney folgten ihm auf dem Fuße. Diego, Genevièv, der grauhaarige Mann kamen danach.

Gerade als Aric über die Schwelle trat, hörte ich wie drinnen eine Frau Cayennes Namen rief. Die Stimme klang besorgt und aufgebracht. Verwundert trat auch ich in den Raum und versuchte dabei mein Zittern zu unterdrücken. Hier war es zwar warm, aber irgendwie schien mein Körper das noch nicht gemerkt zu haben.

Das Zimmer war ziemlich groß und schien eine Mischung aus Büro und Wohnzimmer zu sein. Vor der großen Fensterfront mit einer direkten Tür zur Veranda, stand ein großer, L-förmiger Schreibtisch. Die Wand daneben war bis unter die Decke mit Regalen gefüllt.

Es gab eine große Couchgarnitur vor einem steinernen Kamin und eine lange Kommode. Genau wie der Eingangsbereich und der Flur, war auch dieser Raum sehr rustikal gehalten.

Direkt in der Raummitte, umarmte Cayenne eine Frau, die ein wenig kleiner war als sie selber, ihr aber verdammt ähnlich sah.

Keenan stand mit verschränkten Armen daneben und beobachtete die beiden misstrauisch. Aber da war noch ein Mann im Raum. Dunkelhäutig, groß und mit einer militärisch kurzen Frisur. Er hatte eine breite Nase und eine Ausstrahlung, die eindeutig sagte: „Ich bin hier der Alpha, alles springt auf mein Kommando.“

Er lehnte am Schreibtisch und auch wenn er ziemlich entspannt war, so wirkte er nicht wirklich zufrieden. Sein Blick glitt über seine Besucher und blieb schlussendlich an Cayenne hängen.

„Es tut mir so leid“, sagte die Frau, die sie im Arm hielt und strich der Königin beruhigend über das Haar. Diese Geste hatte etwas sehr Vertrautes.

Cayenne löste sich von ihr, behielt ihre Hand aber ihrer. „Es geht schon Mama, im Moment sind erstmal andere Dinge wichtig.“

Mama?! Mir klappte fast die Kinnlade hinunter. Die Frau mit den karamellfarbenen Haar und dem etwas dunkleren Teint, war Cayennes Mutter?!

Ich warf einen Blick zu Aric, doch der schien davon genauso überrascht zu sein wie ich. Die Umbras dagegen schienen zu wissen, wenn sie hier vor sich hatten. Ausgenommen Cio, dessen Augen sich vor Erstaunen geweitet hatten.

Cayenne trat ein Schritt zurück und richtete ihren Blick auf den dunkelhäutigen Mann am Schreibtisch. Ihr Gesicht wirkte sehr neutral. „Hallo, Ayko.“

Ayko schenkte ihr ein Zahnpastalächeln, doch wie schon vorhin bei Keenan, bekam ich eher das Gefühl, als würde er meiner Erzeugerin ein halbwegs beherrschtes Zähnefletschen zeigen. „Wer hätte gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen?“

„Hör auf, Ayko“, mahnte die Frau. Wenn es wirklich Cayennes Mutter war, dann musste das Prinzessin Celine sein. Oder einfach nur noch Celine. Großmutter Celine?

Ayko überging das. Mit einer Eleganz, die man einem so breitschultrigen und großen Mann kaum zugetraut hätte, stieß er sich vom Schreibtisch ab und schlenderte zu Cayenne und ihrer Mutter. Beinahe schon besitzergreifend, legte er Celine einen Arm um die Schultern. „Willkommen in meinem Heim. Fühl dich ganz wie Zuhause.“

„Danke.“

Er nickte. „Aber du solltest dir eines merken, Cayenne, in diesem Haus kann es nur einen Alpha geben.“ Er starrte ihr geradewegs in die Augen, eine eindeutige Herausforderung.

Cayennes Kiefer spannte sich an und die Luft schien von einem Moment auf den anderen zum Schneiden dick.

Ich schluckte, trat einen Schritt zurück und stieß dabei gegen Cio. Aber das war mir egal, genau wie es mir egal war, dass er mir beruhigend die Hand auf den Rücken legte. Ich wollte einfach nur nicht zwischen die Fronten geraten. Wie die sich ansahen, konnte man glatt das Gefühl bekommen, die würden jedem Moment aufeinander losgehen.

Aber dann, von einem Moment auf den anderen senkte Cayenne ihr Haupt und erkannte damit – wenn auch widerwillige – die Führung des anderen Alphas an. „Dies ist dein Haus und hier bist du der Alpha.“

„Ganz genau.“ Aber damit war er noch nicht fertig. Er drehte den Kopf und nahm nun Aric ins Visier. „Ich hoffe, dein Sohn sieht das genauso.“

Aric starrte finster zurück, sagte aber keinen Ton und nach einem sehr langen Moment, senkte auch er seinen Kopf ein ganz kleinen wenig.

Ach ja, Aric war ja auch ein Alpha. Was dieser Ayko wohl tun würde, wenn er erführe, dass ich auch Cayennes Kind war? Eigentlich wollte ich das gar nicht so genau wissen.

Ayko nickte zufrieden. „So, wo wir das nun geklärt haben … ah, da ist meine Sonne ja schon.“

Wenn er damit meinte, erfuhr ich, als sich Shiva hinter uns durchdrängelte. In ihrem Armen trug sie einen ganzen Haufen flauschiger Bademäntel, die sie mit einem „Hier“, an uns verteilte.

Als ich das Ding in den Händen hielt, war ich so dankbar, dass ich ihr vor Freude fast um den Hals gesprungen wäre. Das einzige was mich davon abhielt, war das Bedürfnis, es so schnell wie möglich anzuziehen.

Auch Kasper, Cio, und Aric bekamen einen.“

„Wow, ist der weich“, schnurrte Alina und vergrub das Gesicht in dem weißen Stoff.

„Freut mich, dass er dir gefällt.“ Den letzten reichte sie Genevièv. „Ich hab euch auch dafür gesorgt, dass man euch Kleidung in eure Hütte bring. Ihr habt ja auf die Schnelle sicher nichts mitnehmen können, oder?“

Das konnten wir alle verneinen.

„Wo wir schon mal bei eurer Hütte sind“, begann Ayko. „Shiva, könntest du die jungen Leute bitte zu ihrer Unterkunft begleigten? Die Erwachsenen haben ein paar Dinge zu besprechen, bei denen sie sich sicher langweilen würden.“

Oh weia, so böse wie Aric nach diesen Worten guckte, könne man meinen, er versuchte Löcher in Aykos Seite zu brennen. Passte ihm wohl nicht, dass er ausgeschlossen wurde. Als Prinz hatte er auch in seinem Alter schon viel Verantwortung übernehmen müssen und hier jetzt wie ein störendes Kind weggeschickt zu werden, gefiel im so gar nicht.

„Besprechen?“, fragte Cayenne argwöhnisch.

„Nun so mal nicht gleich so misstrauisch“, schmunzelte Ayko. „Wir werden eure Situation besprechen und auch, wie es jetzt weitergehen soll. Außerdem hat deine Mutter in den letzten Stunden einige Informationen zusammengetragen.“ Er schüttelte den Kopf, als könnte er die Neuigkeit immer noch nicht recht glauben. „Die Wölfe aus deinem Rudel sind ziemlich sauer auf dich. In der nächsten Zeit solltest du dich nicht auf die Straße trauen.“

„Danke dass du mich noch einmal daran erinnerst“, erwiderte Cayenne trocken.

„Immer gerne.“

„Hör jetzt auf, Ayko“, schimpfte Celine und schlug ihm dabei leicht gegen die Brust. „Shiva, bring die Kinder bitte weg.“

„Klar. Kommt.“ Sie machte einen Schritt auf die Tür zu, aber niemand bewegte sich. „Damit meinte ich jetzt“, fügte sie hinzu, als sie bemerkte, dass ihr niemand folgte.

Aricy Blick glitt von Celine zu seiner Mutter. „Vor nicht einmal zwei Wochen, führten wir ein sehr aufschlussreiches Gespräch, an dessen Ende ich dich gefragt hab, ob es sonst noch etwas gibt, dass du mir besser mitteilen solltest. Deine Antwort lautete nein.“

Sie schaute ihn nur an.

Er schüttelte nur den Kopf, als könnte er es nicht glauben und richtete seine Aufmerksamkeit dann auch mich. „Hast du es gewusst?“

Ich konnte ganz ehrlich „Nein“ sagen. Ich warf einen Blick zu Celine. „Ich wusste nicht mal, dass sie noch lebt.“

Aric“, sagte Sydney. „Ich verstehe, dass du sauer bist, aber das ist gerade nicht der richtige Moment.“

„Natürlich nicht. Der richtige Moment ist immer erst dann, wenn ihr beide nicht mehr drumherum kommt, die Wahrheit zu erzählen.“ Er drehte sich um und verließ den Raum.

Cayenne seufzte schwer. „Joel, begleitest du sie bitte? Und … hab ein Auge auf Aric.“

Der grauhaarige Mann nickte. „Ich werde mich darum kümmern.“

Shiva klatschte in die Hände. „Na dann los.“

Wahrscheinlich wäre es am Besten gewesen, wenn ich ihr einfach gefolgt wäre, aber es gab da noch eine dringende Frage. „Cayenne? Was ist mit meinen Eltern?“

Ganz langsam machte sie den Mund auf, schüttelte dann aber nur den Kopf. „Es tut mir leid, Zaira, ich weiß es nicht.“

Mit anderen Worten, bei den aktuellen Problemen, die sie belasteten, war das ganz nach unten auf ihrer To-do-Liste gerutscht. Ich drückte die Lippen aufeinander, wandte mich ohne ein weiteres Wort von ihnen ab und verließ den Raum.

 

°°°

 

„Wir haben hier fünf Zimmer“, erklärte Shiva, nachdem sie uns in eines der Häuser, nicht weit vom Haupthaus entfernt, geführt hatte und wir versuchten erstmal einen ersten Eindruck zu gewinnen. Es war hell und freundlich, fast so wie in schöner Wohnen. Sobald man durch die Haustür trat, stand man auch schon im Wohnzimmer. Drei Türen gingen davon ab und eine Treppe führte ihn die nächste Etage. „Zwei hier unten, drei oben. Das kleine Bad ist dort vorne, oben gibt es noch ein großes und wenn ihr Hunger habt, müsst ihr ins Haupthaus kommen, da ist die Küche.“

„Cayenne und Sydney sollten ein eigenes Zimmer haben“, sagte Joel. Wie sich herausgestellt hatte, war auch er ein Umbra. Er war einer der Männer, die für Aric zuständig waren. „Wir Umbras werden uns eines teilen, dann kann Aric auch ein eigenes Zimmer haben.“

Also er, Genevièv und Diego. Na ob sich Cios Eltern darüber so freuen werden?

Shiva nickte. „Gut, dann können sich die beiden Mädchen und die beiden Jungs jeweils ein Zimmer teilen.“

Das hatte zur Folge, dass Cio und Kasper sich anschauten, als hätte man ihnen gerade die Pest aufgedrückt.

„Niemals“, sagte der Cio, während von Kasper ein „Nur über meine Leiche“ kam.

Das war wohl das erste Mal, dass Cio und Kasper derselben Meinung waren. Trotzdem würden sie so schnell wohl keine Freunde werden.

„Ich teile mir einfach ein Zimmer, mit Zaira“, erklärte Cio.

Bitte was?

Kasper funkelte ihn an. „Das kannst du vergessen.“

Shiva seufzte genervt. „Wenn ihr euch nicht einigen könnt, dann wird Ayko die Zimmer zuteilen. Wollt ihr das?“

„Nein, ist schon gut. Ich teil mir einfach mit Aric ein Zimmer“, bestimmte Cio.

Aric schnaubte. „Vergiss es. Nimm du dir ruhig ein eigenes Zimmer, ich teil mir eines mit Kasper.“

„Du ziehst den Menschen mir vor?!“, fragte Cio völlig entsetzt.

„Ja, dann habe ich vielleicht eine Überlebenschance. Bei deiner Unordnung, breche ich mir sonst noch das Genick.“

„Hey, so unordentlich bin ich nun auch wieder nicht.“

Das ließ den Prinzen schnauben.

Ob das wirklich so eine gute Idee war? Ich berührte Kasper an der Hand. „Ist das in Ordnung für dich?“

Er zuckte nur mit den Schultern. „Mir egal.“

„In Ordnung, dann machen wir es so“, bestimmte nun Shiva und zeigte dann auf das Sofa. „Da sind Klamotten, sucht eich was passendes aus. Cio, du nimmst am Besten das kleine Zimmer neben dem Bad und die Mädchen können gleich das daneben haben. Der Rest von euch geht nach oben. Wenn ihr etwas braucht, dann geht ins Haupthaus, ich werde mich jetzt auch wieder dorthin bewegen.“ Sie lächelte einen Moment, schien dann aber ein wenig verstimmt zu sein, weil niemand es erwiderte.

„Na schön“, sagte sie missmutig und kehrte uns den Rücken. „Stellt nichts Dummes an.“ Damit verschwand sie zur Tür hinaus und ließ uns allein zurück.

„Na gut“, sagte Cio und rieb sich die Hände. Dann bewegte er sich zur Couch und begann damit die drei Kleiderstapel auseinander zu nehmen, um etwas passenden für sich zu finden. Die Anderen folgten seinem Beispiel, nur ich hielt mich ein wenig zurück und wartete ab. Ich wollte mich nicht auch noch dazwischen drängeln.

„Zaira?“

Überrascht schaute ich auf und bemerkte, dass auch der grauhaarige Joel abwartete. Ich hatte gar nicht gewusst, dass er meinen Namen kannte.

Er musterte mich. „Alles okay mit dir?“

Musste er das wirklich fragen? „Würde ich diese Frage mit ja beantworten, wäre das wohl die größte Lüge meines Lebens.“ Als ich merkte, wie harsch die Worte herübergekommen sein mussten, war sofort das schlechte Gewissen zur Stelle. „Tut mir leid, das hab ich nicht so gemeint.“

„Schon gut.“ Er legte mir eine Hand auf die Schulter und drückte sie ganz leicht. „Ihr steht alle unter Spannung. Und besonders viel Schlaf hattet ihr auch nicht. Am besten gehst du in dein Zimmer und ruhst dich ein wenig aus. Du siehst müde aus.“

Ein kleiner bitterer Zug erschien um meinen Mund. Als wenn ich jetzt schlafen könnte.

„Fünf Minuten!“, rief Alina von der Couch und huschte mit einem Bündel Kleidung, zu dem kleinen Badezimmer, das rechts gegenüber der Eingangstür war. „Mehr brauche ich nicht.“

„Das behauptet ihr Mädchen immer“, beschwerte Cio sich, konnte aber nur noch dabei zuschauen, wie sie eilig im Bad verschwand und ihn aussperrte.

Auch Kasper hatte scheinbar alles zusammen, was er brauchte. „Ich zieh mich nur um, dann komme ich runter“, sagte er zu mir.

„Du solltest auch duschen gehen“, kam es von Joel. „Das wärmt dich ein bisschen auf. Komm, ich bringe dich hoch.“

Die Aussicht darauf von einem Fremden begleitet zu werden, schien Kasper nicht besonders zu begeistern. Trotzdem folgte er dem Umbra über die Treppe, nach oben in die erste Etage.

Da nun nicht mehr so viel Gedränge herrschte, näherte auch ich mich dem hellblauen Sofa. Doch wie ich schnell feststellen musste, waren die wenigsten Sachen in meiner Größe. Keine der Jeans, die dort lagen, würde mir passen und der Rock war erstens zu kurz und zweitens zu kalt. Am Ende begnügte ich mich mit einer schwarzen Leggins.

„Das könntest du dazu anziehen“, sagte Cio und hielt mir grinsend ein schulterfreies Top unter die Nase, dass entfernte Ähnlichkeit mit einem Korsett hatte.

Aric verdrehte die Augen, wandte sich ab und verschwand ebenfalls nach oben.

Ich seufzte nur und entschied mich am Ende einen dunkelblauen Häkelpulli, der leider nicht ganz Blickdicht war, mir dafür aber bis über den Hintern reichen würde. Unterwäsche fand ich keine, dafür aber noch ein dünnes Hemd, dass ich unter den Pullover anziehen konnte.

Cio setzte sich mit dem Hintern auf die Lehne und beobachtete mich dabei. Er schien zu spüren, dass ich nicht reden wollte, ließ mich aber trotzdem nicht allein und als Alina dann mit rosigen Wangen aus dem kleinen Bad kam und in das Zimmer rechts unter der Treppe verschwand, sagte er mir, ich solle zuerst duschen gehen.

„Danke“, war meine ganze Erwiderung, bevor ich in das noch vom Dampf vernebelte Badezimmer trat.

Es war wirklich klein. Neben einem Waschbecken und einer Toilette, gab es nur noch eine Dusche und einen beschlagenen Spiegel.

Ich legte meine Sachen auf die Toilette, zog mich aus und stellte mich unter den warmen Strahl der Dusche. Dabei versuchte ich an nichts zu denken, doch auf einmal schwammen meine Augen in Tränen und plötzlich prasselten die Ereignisse der letzten beiden Tage mit einer Gewallt auf mich nieder, dass ich einfach in mich zusammenbrach. Weinend kauerte ich mich zusammen, während das Wasser auf meinem Kopf trommelte. Mein Hund war tot, meiner Eltern verschollen und die einzige Möglichkeit sie wiederzufinden, hatte sich heute in Luft aufgelöst. Natürlich, ich verstand, warum Cayenne nicht nach ihnen suchen konnte, aber das machte er nicht einfacher.

Und ich selber konnte auch nichts tun. Ich war nutzlos, nichts weiter als ein verängstigtes Mädchen, das auf die Hilfe anderer angewiesen war. Und meine Eltern … Gott, was hatten sie bisher schon durchstehen müssen? Einen Tag war es jetzt her, dass sie entführt wurden. Einen verdammten Tag, an dem so viel passiert war, dass ich gar nicht genug Finger hatte, um es zu zählen. Ging es ihnen gut? Hatten sie Schmerzen? Lebten sie überhaupt noch?

Über diese Fragen nachzudenken, machte es nicht besser. Ganz im Gegenteil, es kamen immer mehr Tränen. Meine meine Augen taten schon weh, aber es wollte einfach nicht enden. Ich konnte nicht aufhören daran zu denken, konnte nicht aufhören, mir auszumalen, was meinen Eltern in der Zwischenzeit bei den Ailuranthropen widerfahren war.

Mit dem Kopf in den Armen vergraben weinte und schluchzte ich, bis ich keine Tränen mehr hatte und auch dann konnte ich mich lange nicht vom Fleck bewegen. Es schien sinnlos sich zu bewegen, nutzlos auch nur einen Finger krumm zu machen. Erst als es hinter mir an der Tür klopfte, regte ich mich wieder.

„Zaira?“

Kasper.

Hastig wischte ich mir über mein Gesicht. „Ich bin gleich fertig“, rief ich

„Ich gebe dir noch zwei Minuten, dann komm ich rein.“

Würde er sowieso nicht tun, aber ich verstand, was er mir damit sagen wollte. Ich war schon zu lange hier drinnen und er machte sich Sorgen. Wahrscheinlich hatte er sogar mein Heulen gehört. Darum beeilte ich mich ein bisschen und als ich fünf Minuten später fertig angezogen mit einer Haarbürste vor dem Spiegel stand, klopfte er noch einmal.

„Mach auf“, verlangte er von mir.

Da er ziemlich hartnäckig sein konnte, tapste ich barfuß durch den weiß gefliesten Raum, öffnete das Schloss und stellte mich dann wieder vor dem Spiegel.

Er drückte die Tür, kam aber nicht herein, sondern lehnte sich nur mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen. Auch er hatte geduscht und saubere Kleidung angezogen, die eindeutig nicht ihm gehörte. Freiwillig würde er sich solch bunte Farben niemals aussuchen. „Geht es dir gut?“

„Warum nur muss mir jeder eine so dumme Frage stellen, wo die Antwort doch schon mehr als klar ist?!“, fuhr ich ihn an und trocknete meine Haare grob mit einem Handtuch, bevor ich mit der Haarbürste nicht allzu sanft durch meine Haare bürstete und mir dabei ein paar Extansions ausriss.

„Hey, Zaira, immer …“

„Lass mich in Ruhe!“, fuhr ich ihn an und bereute es gleich darauf. Er hatte mir nichts getan, er wollte nur helfen. „Verdammt.“ Wütend auf mich selbst knallte ich die Haarbürste auf das Waschbecken, sah das Mädchen im Spiegel und hasste sie dafür, dass sie so hilflos war und am liebsten wieder angefangen hätte zu heulen.

Ich wusste es war nicht die Lösung des Problems, aber als ich mich im Spiegels sah, so völlig nutzlos und unzulänglich, konnte ich das Bild nicht länger ertragen und schlug die Haarbürste dagegen. Ich wollte dass das Bild springt, dass ich mich nicht mehr sehen musste, doch stattdessen verursachte ich einen Scherbenregen. Der ganze Spiegel sprang und prasselte unter Klirren in kleinen und großen Scherben in das Waschbecken und den Boden davor.

„Verdammt, Zaira, was soll das?“, fuhr Kasper mich an und zog mich eilig zur Seite, um mich von den Glassplittern weguziehen. „Wenn du die Einrichtung demolierst, bringt dich das auch nicht weiter“, schimpfte er und bückte sich nach den Scherben. Natürlich geschah, was geschehen musste, er säbelte sich in den Daumen. Ein kleines Rinnsal Blut quoll aus dem Schnitt und färbte die Haut augenblicklich rot.

„Na super.“ Kasper steckte den Finger in den Mund und ich konnte gar nicht anders, als der Bewegung mit den Augen zu folgen. Der Duft hing mir in der Nase und meine Fänge begannen zu kribbeln. Nicht gut.

„Ähm …“ Ich schluckte kräftig und machte vorsorglichen einen Schritt von ihm zurück. „Du solltest … könntest du … das Blut …“

„Oh“, machte Kasper und ließ den Daumen aus dem Mund gleiten.

Mein Gesicht war wohl leuchtend rot, so peinlich war mir das. Dieser blöde Bluthunger tauchte wirklich immer in den unpassendsten Momenten auf. „Ja, oh. Ähm … könntest du …“ Ich zeigte auf das Waschbecken.

Seufzend richtete er sich auf. „Geh in dein Zimmer, ich mache das hier weg.“

Gehen. Das war eine gute Idee. Auf jeden Fall besser, als an meinem besten Freund herumzuknabbern. Das fände Kasper sicher nicht lustig. Also ergriff ich die Flucht und atmete dabei immer wieder tief ein, um meinen Hunger unter Kontrolle zu bekommen.

Cio war nicht mehr im Wohnraum. Wahrscheinlich hatte er keine Lust mehr gehabt zu warten und war oben duschen gegangen. Von den anderen sah ich auch niemand, bis ich in mein Zimmer verschwand.

Es war nicht sehr groß. Links und rechts standen jeweils ein Bett unter dem Fenster und dazwischen gab es einen flachen Tisch. Rechts neben der Tür stand ein leerer Kleiderschrank und auf dem Boden lag ein Teppich mit einem Wellenmuster.

Alina lag im linken Bett und schlief. Ihre türkises Haar war fächerförmig über ihr Kissen ausgebreitet und der Mund leicht geöffnet. Ich konnte ihren Hals sehen.

Meine Fänge kribbelten noch stärker und im Magen spürte ich dieses vertraute Ziehen aufkommen, das mich dazu zwingen wollte, Blut zu mir zu nehmen. Das hatte mir im Moment noch gefehlt. In dieser Situation war es wirklich das Unglücklichste, was mir passieren konnte. Wo zum Teufel sollte ich jetzt einen Wirt herbekommen?

Als hätte das Schicksal meine Frage gehört, klopfte es genau in diesem Moment an der Tür und nach dem Öffnen musste ich feststellen, dass dort draußen kein anderer als Cio selber stand. Irgendwer da oben hatte wirklich einen grausamen Humor.

„Hey“, lächelte er. Er trug nun eine andere Jogginghose und ein graues Shirt mit dem Logo einer mir unbekannten Band. „Wollte nur mal sehen wir es dir geht. Alles in Ordnung?“

Ich wollte nicken, wirklich, aber dann wurde daraus ein Kopfschütteln. Verräterischer Körper.

Cio zog die Augenbrauen zu einer zusammen. „Was ist los?“

Ich biss mir auf die Lippen. Das konnte ich doch nicht wirklich tun, oder? Immerhin mochte er es doch und ich brauchte es, damit ich nicht einfach über irgendjemanden herfiel. „Ähm … ich.“ Mist, jetzt glühten meine Wangen wieder vor Verlegenheit. „Du hast mir doch zum Geburtstag diese Karte geschenkt“, begann ich kleinlaut. „Du weißt schon, die mit der Eule.“

„Ja?“

„Naja, wenn es geht … also … ich würde den Gutschein gerne einlösen.“ Gott, wie das klang. Konnte sich unter mir ein Loch auftun und mich einfach verschlucken? Bitte?

„Jetzt?“, fragte Cio ziemlich überrumpelt. „Hältst du das wirklich für eine gute Idee?“

Super. Einfach klasse. „Nein.“ Hastig senkte ich den Kopf und rückte mit fahrigen Fingern meine Brille zurecht, bevor sie mir von der Nase rutschen konnte. „Tut mir leid, war eine dumme Idee. Ich … ich frage einfach Cayenne. Die weiß sicher wo ich einen Wirt bekomme.“ Notfalls musste ich eben allein auf die Jagd gehen. Es half ja alles nichts. „Tut mir leid“, wiederholte ich dann noch einmal und drängte mich an ihm vorbei in den Wohnraum, doch weit kam ich nicht, bevor er mich am Arm festhielt.

„Nein, warte, so habe ich es nicht gemeint.“ Er strich sich die Haare aus dem Gesicht. Ohne die vertraute Wollmütze auf dem Kopf, fielen sie ihm immer in die Augen. „Brauchst du Blut? Hast du hunger?“

„Ja, aber egal. Ich finde schon was und …“

„Mann, Zaira, jetzt warte doch mal. Wenn du mich beißen willst, nur zu, du weißt doch, ich steh drauf.“ Er zwinkerte mir schelmisch zu. „Ich hatte halt nur einen anderen Rahmen für das einlösen des Gutscheins erwartet, das ist alles. Du hast mich eben einfach überrascht.“

Vorsichtig sah ich zu ihm auf. „Dann … dann ist das also in Ordnung für dich?“

„Klar.“ Er ließ mich los, und drehte sich herum, um in mein Zimmer zu gehen, doch da bemerkte er Alina. „Okay, ich glaube, wir sollten besser in mein Zimmer gehen.“ Er wackelte verspielt mit den Augenbrauen. „Da sind wir wenigstens ungestört.“

Äh …

Er drehte sich herum und bemerkte Kasper, der ihm vom Bad aus misstrauisch beobachtete.

„Sorry, Kumpel, du bist nicht eingeladen, ich mag keine Zuschauer.“

Kasper hob den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. „So spitz wie du auf Zaira bist, lasse ich dich sicher nicht mir ihr alleine.“

Cio schnaubte nur. „Das geht dich ja wohl nichts an, darum bye bye.“ Er winkte meinem besten Freund übertrieben zu und öffnete dann die Tür links neben dem Bad und hielt sie mir erwartungsvoll auf.

Meine Zähne kribbelten schon allein bei dem Gedanken Cio zu beißen stärker und so blieb mir nichts anders übrig, als Kasper entschuldigend anzuschauen. „Tut mir leid.“

Nun guckte er wirklich finster. „Warum bitte willst du mit ihm allein sein?“

„Weil wir dich nicht dabei haben wollten“, erwiderte Cio ein wenig ungeduldig. „Ich brauche wirklich keine Zuschauer, wenn ich dabei bin in Ekstase zu vergehen.“

„Was?“ Das verstand mein bester Freund nun mal überhaupt nicht.

„Was Cio damit sagen möchte“, begann ich zögernd, „der Kuss eines Vampirs ist eine sehr intensive und auch intime Sache. Beim Biss werden Endorphine freigesetzt, die …“

„Es ist als hättest du einen Orgasmus ohne Sex und zwar den besten den du dir vorstellen kannst“, kürze Cio meine Erklärung kurzerhand einfach ab. „Und dabei brauche ich kein Kerl, der mich die ganze Zeit angafft.“

Kasper schnaubte. „Warum bitte sollte ich dich dabei angaffen wollen? Du bist absolut nicht mein Typ.“

„Was für ein Glück ich doch habe.“

Kopfschüttelnd stieß Kasper sich von dem Türrahmen ab und ging hinüber zur Couch. „Pass bloß auf, wo du deine Pfoten hinlegst“, ermahnte er den jungen Umbra.

Cio ging darauf nicht mehr ein. Er schaute mich nur erwartungsvoll an und lächelte leicht, als ich an ihm vorbei in sein Zimmer huschte.

Der Raum war nicht sehr groß. Direkt rechts neben der Tür gab es einen alten, bequemen Sessel mit einem Beistelltisch daneben. Darauf stand ein Becher mit Stiften und daneben lag ein Heft mit Kreuzworträtseln. Ein schmales Bett stand unter dem Fenster und links an der Wand befand sich noch eine kleine Kommode mit einer eingeschalteten Nachttischlampe darauf. Aber die Vorhänge waren hübsch.

Cio schlüpfte hinter mir in den Raum und schloss die Tür. „So, den sind wir los“, sagte er und rieb sich erwartungsvoll die Hände. Dann Grinste er mich an. „Wo hättest du mich denn gerne? Auf dem Sessel? Auf dem Bett? Auf einem Silbertablett?“ Er wackelte verspielt mit den Augenbrauen, bis ich ein Lächeln nicht mehr unterdrücken konnte.

„Kannst du eigentlich auch mal ernst bleiben?“

„Nope. Ernst ist doch langweilig.“ Begleitet von einem breiten Grinsen, fasste er nach dem Saum seines Shirts, zog es sich über den Kopf und warf es achtlos auf die Kommode.

Mir fiel die Kinnlade runter. Für einen Moment konnte ich ihn nur mit offenem Mund anstarren. „Was bitte machst du da?“

„Wonach sieht es denn aus?“ Sein Grinsen wurde immer breiter. „Du kannst deinen Pulli auch ausziehen, wenn du möchtest. Würde mich nicht stören.“ Sein Kopf neigte sich leicht zur Seite. „Die Karohemden gefallen mir besser.“

Wie bei einem Fisch klappte mein Mund auf und zu, weil ich einfach nicht wusste, was ich darauf erwidern sollte. Nein, Moment, ich wusste ganz genau, was ich sagen wollte. „Vergiss es, ich zieh mich hier bestimmt nicht aus.“ Ich war froh, dass ich endlich etwas anhatte und nicht mehr bis auf die Knochen fror.

Cio zuckte nur gleichgültig mit den Schultern, zeigte damit ein beeindruckendes Spiel seiner Muskeln und ließ sich dann in den breiten Sessel fallen. Sein Lächeln war voller Vorfreude. „Komm her“, winkte er mich heran.

Herkommen? „Was? Zum Sessel? Soll ich mich vor dich knien, um an dein Handgelenk zu kommen, oder was?“ Ich schielte zum Bett. Das wäre zwar nicht optimal, aber immer noch besser, als beim Beißen auf dem Boden zu hocken.

„Das ist zwar ein netter Gedanke, aber nein. Du setzt dich auf meinen Schoß und beißt mir in den Hals.“

Wie bitte? „Auf keinen Fall.“

„Warum nicht? Da ist es doch auch für dich viel leichter als am Handgelenk.“

„Weil … weil … na weil ich nein gesagt habe.“ Das war einfach zu nahe, zu viel Körperkontakt und viel zu … intim. „Ich beiße dich ins Handgelenk, so wie beim letzten Mal. Und zwar im Bett.“ Ich zeigte sehr nachdrücklich auf das besagte Möbelstück.

„Ah, du willst mich also ins Bett kriegen.“ Das Grinsen in Cios Gesicht wurde richtig schmutzig. „Warum hast du das nicht früher gesagt? Aber erst beißen, dann sehen wir weiter.“

Na sag mal, das gab es doch wohl nicht. „Nein, ich meinte damit nicht … ich meinte … ich …“, stotterte ich und sah ihn dann böse an. Musste der so dreckig grinsen? „Handgelenk“, kam es dann bestimmt über meine Lippen. „Nicht Hals.“

Cio steckte die Hände unter die Achseln. „Ich lass dich aber nicht an meine Handgelenke. Hals oder gar nicht.“

„Warum willst du unbedingt in den Hals gebissen werden?“

„Gegenfrage, warum willst du es nicht tun?“

Weil ich ihm damit viel zu nahe kommen würde. Ich drückte die Lippen zusammen und seufzte dann. Von dem ganzen Gerede ums Beißen wurde das Ziehen in meinem Magen immer schlimmer und auf der Zunge konnte ich bereits das betäubende Sekret schmecken. „Okay. Weißt du was? War eine dumme Idee. Vergiss es einfach. Ich frag Cayenne, die kann mir bestimmt helfen.“ Hastig wandte ich mich von ihm ab, doch bevor ich die Tür öffnen konnte, stand Cio bereits da – der Kerl war verdammt schnell – stemmte den Arm dagegen und hielt sie damit zu.

„Du willst mich doch jetzt nicht hängen lassen, wo ich mich schon so darauf freue, oder?“

„Cio“, sagte ich leicht gequält. „Ich kann …“

Er legte mir einen Finger auf den Mund und sofort kribbelten meine Lippen von der Berührung. „Warte einen Moment, okay?“ Er hielt mir den Finger mahnend vor die Nase. „Nicht weggehen.“ Damit ich auch wirklich nicht einfach abhauen konnte, drehte der den Schlüssel um Schloss herum und ließ ihn anschließend in seiner Hosentasche verschwinden.

Ich sah ihn finster an. „Schließt du mich jetzt etwa mit dir ein, damit ich irgendwann gezwungenermaßen über dich herfalle?“

„Nein. Eigentlich wollte ich nur dafür sorgen dass du nicht einfach abhauen kannst, aber der Gedanke ist auch nicht schlecht.“ Er grinste mich an. „Und guck nicht so böse.“ Mit dem Finger stupste er mir gegen die Nasenspitze und dann konnte ich beobachten, wie er an den Beistelltisch trat und eine Schere aus dem Stiftbecher zog.

Was hatte er den nun schon wieder vor?

Misstrauisch beobachtete ich, wie er grinsend die Schere hob und an seiner Halsbeuge ansetzte.

„Nein!“, rief ich noch, aber da war es bereits zu spät. Die scharfe Kante schnitt begleitet von seinem Zischen in die weiche Haut und hinterließ eine kleine Wunde, aus der langsam Blut herausquoll. Der Anblick und der Geruch nahm mich sofort gefangen. Meine Fänge fuhren zu ihrer vollen Länge aus und das Wasser lief mir im Mund zusammen. Nur zu gut erinnerte ich mich an den köstlichen Geschmack seines Blutes. Trotzdem wagte ich es nicht mich vom Fleck zu rühren, aus Angst ihn einfach auf den Boden zu stoßen und über ihn herzufallen.

Cio legte die Schere achtlos zurück auf den Beistelltisch und streckte mir die Hand entgegen. „Komm.“

Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte einfach nicht.

„So schüchtern, hm?“ Zwei kurze Schritte, dann stand er direkt vor mir. Mein Blick war gefangen von dem Blut, das langsam aus dem Schnitt sickerte und ihm über den Hals lief. Als er dann meine Hand in seine nahm, um mich rückwärts mit sich zum Sessel zu ziehen, war ich so gebannt von dem Anblick, dass ich ihm willenlos folgte.

Ohne mich loszulassen, ließ er sich in den Sessel sinken, zog mich mit sich. „Komm“, sagte er wieder und half mir dabei auf seinen Schoß zu steigen. Sein Puls schlug in heller Vorfreude schneller und sein Atem war auch nicht mehr ganz ruhig. Meine Hände lagen auf seiner Brust, ich konnte seinen schnellen Herzschlag unter meinen Fingern fühlen. Er war so warm, so kräftig, ich konnte nicht widerstehen, mit den Fingern über seine Oberarme zu streichen.

Vorsichtig nahm er mir die Brille aus dem Gesicht und legte sie auf den kleinen Beistelltisch, damit sie nicht stören konnte. Seine Hände legten sich auf meine Hüfte, um auch das letzte Stückchen Abstand zwischen uns zu schließen, bis ich seine Brust an meiner spüren konnte. „Trink, Zaira“, forderte er mich mit rauer Stimme auf.

Nur einen kurzen Blick wagte ich in sein Gesicht, bevor ich mich langsam vorbeugte. Der Geruch wurde stärker und als ich meine Lippen auf seine Haut legte, konnte ich ihn schon schmecken. So köstlich.

Für einen Moment war ich versucht, die Betäubung einfach zu übergehen und ihn direkt zu beißen, doch als ich mit den Fängen an die Wunde kam, zischte er. Ich wusste nicht ob vor Schmerz, oder wegen der Erwartung, doch es half mir wieder ein wenig klarer im Kopf zu werden und meine Fänge über die Haut zu Schaben. Ich musste die Betäubung verteilen, um es für ihn so angenehm wie möglich zu machen.

„Genau so“, wisperte Cio und ließ eine Hand zu meinem Nacken wandern, um ihn mit sanften Fingern zu massieren. Davon bekam ich eine Gänsehaut. „Deine kurzen Haare haben mir besser gefallen“, flüsterte er, ließ seine Finger runter und wieder hoch wandern. „Sie haben zu dir gepasst.“

Ich schloss die Augen und konzentrierte mich ganz auf das, was ich dort tat, schmeckte dabei sein Blut auf meiner Zunge und konnte es kaum abwarten, meine Fänge in seiner Haut zu versenken. Dabei spürte ich jede Bewegung von ihm nur zu genau, jede Berührung. Er war mir so nahe, so unwiderstehlich nah.

„Beiß mich, Zaira. Jetzt.“

Ich wusste es war zu früh, er würde den Biss und den damit verbundenen Schmerz deutlich spüren, doch ich konnte mich nach dieser Aufforderung nicht mehr beherrschen. Meine Fänge glitten in seine Halsbeuge, wie ein heißes Messer durch warme Butter.

„Scheiße!“, fluchte er und spannte sich einen Moment an, aber nur bis das Sekret aus meinen Zähnen gepumpt wurde und die Wunde damit durchtränke. Dann fiel sein Kopf gegen die Lehne und ich konnte spüren, wie er unter mir erschauerte. „Oh scheiße, ja, das ist es.“

Das Blut das in meinen Mund sprudelte, wurde von mir gierig geschluckt, um das erste Brennen in meinem Magen zu stillen, erst dann zog ich in langen, ruhigen Zügen an seiner Haut.

„Fester, Zaira.“ Seine Hände wanderten über meinen Rücken zum Saum meines Pullis, strichen dort über das Stück nackter Haut, über dem Hosenbund. „Saug fester.“

Ich bekam eine Gänsehaut. Nicht nur von seiner Berührung, nein, auch von seiner Stimme. Cio ließ sich völlig gehen und genoss in vollen Zügen, was ich mit ihm tat. Ein leises Knurren entrang sich seiner Kehle, als ich den Sog verstärkte und jagte mir einen Schauer bis in verbotene Zonen.

Seine Hände glitten tiefer, zogen mich dich an sich heran und dann spürte ich etwas, dass mit Sicherheit kein Knüppel war, auch wenn es sich im ersten Moment wie einer anfühlen mochte. Er stöhnte ungeniert und störte sich auch nicht daran, dass ich mich leicht versteifte. Genau das war einer der Gründe, warum ich nicht hatte auf ihm sitzen wollten. Ich wusste das sowas öfter passierte, wenn sich ein Vampir an ihnen nährte und dabei war es egal, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Der Rausch der Endorphine, die ganzen Glücksgefühle und die Nähe zu einem anderen Körper konnten sowas eben verursachen. Aber etwas zu wissen und etwas an so einer intimen Stelle zu spüren, war zwei verschiedene Dinge.

„Nicht denken“, flüsterte er und ließ seine Hände wieder hör gleiten, schlüpfte unter meinen Pulli und strich mit den Fingernägeln über die Haut meines Rückens. „Einfach nur fühlen.“

Ich fühlte es. Ich fühlte es viel zu intensiv, als ich mit tiefen Zügen weiter das verführerische Blut aus den Wunden sog. Alle meine Sinne waren auf Cio ausgerichtet, erschauerten unter der kleinsten Berührung von ihm und entgegen meines Willens, drängte ich mich näher an ihn und ließ meine Hand in seinen Nacken wandern, um das weiche Haar durch meine Finger gleiten zu lassen.

Er war mir so nahe. Ich konnte ihn riechen, schmecken und fühlen. So lebendig, so voller Blut. Seine Berührungen ließen mich zittern und seine wandernden Finger sorgten dafür, dass ich mich wohl zum ersten Mal in meinem Leben nicht für mein Äußeres schämte. Es schien ihn absolut nicht zu stören, wie ich aussah, dass ich keines von diesen Supermodels war, denen die Kerle sonst immer zu Füßen lagen.

Er schien wirklich mich zu mögen. Mich, Zaira.

Langsam glitten seine Hände hör, hoch zu meinen Nacken, während über seine Lippen wieder ein leises Stöhnen kam und sich seine Mitte einen Moment gegen die meine drängte. Doch dann strichen seine Hände hinunter und wanderten ein Stück nach vorne.

Sofort versteifte ich mich. Das wollte ich absolut nicht. Ich war keine von diesen Mädchen, doch als ich meinen Kopf wegziehen wollte, legte er sofort eine Hand darauf und hielt mich an Ort und Stelle.

„Schhh, schhh, hör nicht auf“, wisperte er. Seine zweite Hand jedoch schien ein Eigenleben zu führen, denn sie wanderte zu meinem Bauch.

Ich zog ihm am Haar, um ihm deutlich zu machen, dass er das sein lassen sollte – mit vollem Mund konnte ich schließlich nicht sprechen – doch er lachte nur leise.

„Lass dich gehen und genieße es doch einfach.“ Seine Finger schoben sich unter meinen Pulli höher.

Oh nein, nicht mit mir, Freundchen! Ich biss fester zu, drückte die Kiefer aufeinander, bis er zischte und sich leicht versteifte.

„Okay“, stöhnte er und glitt mit der Hand zurück auf meinen Unterrücken. „Verstanden.“

Das wollte ich doch mal schwer hoffen. Und auch wenn ich meinen Biss wieder lockerte und er nicht mehr versuchte in verbotene Gefilde vorzudringen, fühlte ich mich plötzlich unheimlich schutzlos. Es war nur seine Nähe, es war die Art, wie er mich festhielt. Ich war nur froh darüber, dass er keinen weiteren Versuch startete, mir an die Wäsche zu gehen, denn seine Berührungen lösten etwas in mir aus, das es mir schwer machte, ihm noch lange zu widerstehen.

Mit jeder verstreichenden Minute, die ich hier so eng bei ihm saß, die ich mir seiner Nähe bewusst war, schien die Gefühle zu ihm tiefer zu werden. Und selbst als ich mich an ihn vollkommen gesättigt hatte, ließ ich nicht von ihm ab, weil ich er bat, noch etwas zu verharren. Es schien mir fast, als suchte er in dem Endorphinrausch Vergessen, als hoffte er, in diesen Glücksgefühlen vergehen zu können, um nicht mit der harten Realität konfrontiert zu werden.

Doch alles hatte irgendwann ein Ende. Meine Fänge zogen sich von alleine zurück, wurden kleiner und glitten dabei aus seiner Haut. Sie waren nur ein Instrument zur Nahrungsaufnahme und da ich gesättigt war, bestand keine Veranlassung mehr für ihren Gebrauch.

Cio seufzte schwer, als ich mit der Zunge über seinen Hals fuhr, um die Wunden zu schließen – auch die, die er sich selber zugefügt hatte. Dann saßen wir da und keiner schien sich vom anderen trennen zu wollen.

Plötzlich wurde das zu dem privatesten Moment in meinem ganzen Leben. Und als er dann die Arme um mich schlang und sein Gesicht an meiner Halsbeuge vergrub, beschwerte ich mich nicht, sondern ließ ihn einfach in dem Nachhall des Rauschs gewähren. Ich genoss es sogar, wie er versuchte bei mir Schutz zu suchen. Dieser große, kräftige Kerl mit dem kantigen Gesicht und dem etwas schrägen Sinn für Humor, der mich zumindest im Moment für sowas einfaches wie eine Umarmung brauchte, um sich nicht zu verlieren.

„Es tut mir leid“, flüsterte er irgendwann in die Stille hinein und drückte mich ein wenig fester an sich. „Ich wusste es nicht.“

Ich spannte mich ein kleinen wenig an. Wovon redete er? Hatte er etwa gepeilt, dass ich mich in ihn verguckt hatte? Oh nein, bitte nicht. „Was meinst du?“, fragte ich vorsichtig.

Nur ein Wort kam über seine Lippen. „Iesha.“

„Ähm …“ Ich drückte kurz die Lippen aufeinander. Dass er jetzt, genau in diesem Moment über seine Freundin reden musste, machte meine Träumereien irgendwie zunichte. „Was ist mit ihr?“

„Sie hat es mir gebeichtet. Das sie dich angegriffen und verletzt hat.“ Bei jedem seiner Worte strich sein warmer Atem über meine Haut. „An deinem Geburtstag, nachdem du gegangen bist. Wir haben geredet und da hat sie es mir gestanden.“

Hatte er deswegen am nächsten Morgen so übermüdet und fertig ausgesehen? Weil er die Augen für etwas öffnen musste, bei dem er sich lieber blind gestellte hatte?

„Warum hast du es mir nicht gesagt?“, wollte er wissen und löste sich so weit von mir, dass er mir ins Gesicht sehen konnte. Dabei hob der die Hand und berührte wieder das kleine Loch an meiner Augenbraue. „Warum hast du deinen Mund nicht aufgemacht und mir erzählt, was sie getan hat?“

Weil ich Angst vor Iesha hatte. „Was hätte es gebracht?“, fragte ich ausweichend und wandte den Blick von ihm am. Es war einfacher das Muster des Teppichs zu studieren. Schade nur, dass ich meine Brille nicht aufhatte und nur verschwommen sah.

„Was hat dir dein Schweigen gebracht?“, fragte er mit leiser Stimme. Sie Finger legte sich um mein Kinn und drehten mein Gesicht, bis ich ihn wieder ansehen musste. „Es tut mir leid und ich weiß nicht was ich getan hätte, wenn du es mir gesagt hättest, aber du hast mich angelogen.“ Er drückte Lippen kurz aufeinander. „Und ich dachte, du bist ehrlich mit mir.“

Das so aus seinem Mund zu hören, das tat weh. Ich hatte ihn mit der Lüge doch nicht verletzten wollen, ich hatte nur versucht mich zu schützen. „Es tut mir leid“, flüsterte ich und senkte den Blick. Ich konnte einfach nicht länger in diese gekränkten Augen sehen.

„Warum hast du es dann getan?“ Er drückte meine Kopf etwas höher. „Warum hast du gelogen?“

Ich drückte die Lippen fest aufeinander.

„Bitte, Zaira, sag es mir.“

Ich wollte es ihm nicht sagen, ich wollte mir vor ihm nicht die Blöße meiner Feigheit geben und trotzdem öffnete sich mein Mund. „Ich … sie ist … ich wollte nicht …“ Nein, ich konnte es nicht sagen, konnte ihm nicht zeigen, wie ängstlich ich war.

„Bitte“, wiederholte er schlicht und dieses eine Wort, dieser Ton, er traf mich bis ins Herz.

„Ich habe Angst vor ihr, okay?“, hörte ich mich sagen und befreite dabei mein Gesicht aus seinem Griff, um seinem Blick auszuweichen. „Iesha, sie ist … sie hat gesagt …“ Halt dich von meinem Freund fern, Schlampe, sonst wirst du mich mal von einer anderen Seite kennenlernen. „Sie hat mir verboten etwas zu sagen und ich … ich habe Angst vor ihr.“ Eine unerwünschte Träne löste sich aus meinem Auge und wurde gleich ärgerlich weggewischt. „Ich bin halt nicht so stark oder mutig wie ihr anderen. Ich bin nur Zaira, nur … Zaira.“ Die feige Zaira.

„Du bist so viel mehr“ sagte er sanft und wischte mir die neuerliche Träne von der Wange. „Du bist meine Zaira und zuzuschlagen, oder angreifen ist kein Zeichen von Stärke.“ Er schlang die Arme um mich und zog mich wieder an seine Brust, ließ es zu, dass ich mein Gesicht an seiner Schulter versteckte. „Du bist so stark, dass du es nicht mal merkst.“

Das entlockte mir ein freudloses Lachen. „Ich bin ein verschüchtertes Schäfchen mit Krallen und Zähnen, das nicht weiß wie es sie einsetzten soll und jeder Konfrontation sofort aus dem Weg geht.“ Einfach weil ich Angst hatte verletzt zu werden. Ich mochte keine Schmerzen.

„Du bist mein verschüchtertes Schäfchen“, flüsterte er an meinem Ohr und drückte mich etwas fester an sich, bis ich meine Arme um seinen Nacken schlang.

Sein Schäfchen. Warum nur musste mein dummes Herz dabei nur so einen elendigen Hüpfer machen? Es hatte doch nichts zu bedeuten.

„Sei ehrlich mit mir, hintergeh mich nicht wie es die anderen getan haben“, flüsterte er und streifte mit seinem Atmen die Haut auf meinem Hals. „Bitte lüg mich nie wieder an.“

„Nie wieder“, versprach ich leise und hoffte, dieses Versprechen halten zu können.

Zur Antwort zog er mich ein wenig fester an sich und hoffte, dass er auf mein Wort vertrauen konnte.

Wieder hatte ich das Gefühl, dass Cio gar nicht so stark war, wie er sich gerne gab. In Wirklichkeit hatte er sich hinter einer dicken Mauer verbarrikadiert, damit ihm niemand mehr verletzten konnte, wie es Iesha und Aric getan hatten. Doch mir war es irgendwie gelungen, den Schlüssel zum Tor dieser Mauer zu finden und in sie einzudringen.

Seine Hände schoben sich in mein Haar und plötzlich konnte ich seine Lippen auf meiner Haut spüren. Ein Kuss, so zart wie die Berührung eines Schmetterlingsflügels. Und noch einen.

Ein Schauder überlief meinen Rücken und als er dann begann sich an meiner Kinnlinie zu meinem Gesicht vorzuarbeiten, krallte ich die Hände in seine Schultern. Oh Gott, was machte dieser Kerl nur mit mir? Es war genauso wie beim letzten Mal.

Dieser Gedanke sorgte dafür, dass ich mich ein wenig anspannte. „Cio?“

„Hmh?“

Mist, mit dieser Frage konnte ich jetzt alles ruinieren, aber ich musste sie einfach stellen. „Bist du noch mit Iesha zusammen?“

Er verharrte an meinem Mundwinkel, zögerte und lehnte sich dann seufzend in den Sessel zurück. „Ja.“

Ich wusste, ich hätte das nicht fragen sollen. „Dann … dann ist es wohl besser, wir hören jetzt auf.“

„Zaira, ich …“

Ich schüttelte unwillig den Kopf und kletterte mit einiger Mühe von ihm herunter. Warum nur schienen meine Beine plötzlich aus Pudding zu sein? „Nein, das ist falsch und … und du brauchst etwas zu essen. Und Orangensaft.“ Fahrig machte ich ein paar Schritte von ihm weg und begann fahrig meine Klamotten wieder in Ordnung zu bringen.

„Ich brauche nichts“, sagte er ruhig.

„Doch. Ich habe dein Blut genommen und jetzt muss ich dafür sorgen, dass du nicht einfach umkippst.“ Hastig schnappte ich mir meine Brille vom Beistelltisch.

„Ich werde nicht umkippen.“

Ich erwiderte seinen Blick und einen verrückten Moment wollte ich einfach wieder auf seinen Schoß klettern und da weitermachen, wo wir gerade aufgehört hatte.

Bevor ich mich noch zu etwas verführen lassen konnte, dass ich später definitiv bereuen würde, stürmte eilig aus dem Zimmer. Naja, so zumindest war der Plan gewesen. Nur leider war die Tür verriegelt und der Schlüssel steckte in Cios Hosentasche.

Ich brauchte nichts sagen, er kam von sich aus und entriegelte das Schloss. Dann schlüpfte ich eilig nach draußen, um mich auf die Suche nach der Küche zu machen. Dazu brauchte ich Schuhe und eine Jacke, die ich zum Glück recht schnell in einer versteckten Garderobe neben der Haustür fand. Kaspers misstrauischen Blick beachtete ich dabei nicht weiter. Ich wollte mich jetzt nicht erklären, darum schlüpfte ich einfach nur eilig aus dem Haus.

Die Küche im Haupthaus war nicht schwer zu finden, schließlich waren wir bereits zwei Mal daran vorbeigekommen. Es dauerte zwar ein wenig, doch ich schaffte es meine Mission zu erfüllen und bewaffnet mit Kräckern und einem großen Glas Orangensaft, in Cios Zimmer zurückzukehren, nur um bei dem Anblick der sich mir dort bot sofort stehen zu bleiben.

Cio lag auf der Seite in seinem Bett und schlief. Dabei sah er so unschuldig aus, so zerbrechlich. Nein, er war wirklich nicht so stark, wie er einen auf dem ersten Blick erscheinen mochte und doch war er so viel stärker, als ich es jemals sein konnte.

Leise schlich ich durch das Zimmer und stellte die Sachen aus der Küche neben dem Bett auf die Kommode. Dann schnappte ich mir die Decke vom Fußende und legte sie vorsichtig über ihn. Sein Shirt hatte er nicht wieder angezogen und so konnte ich ihn völlig ungeniert betrachten – naja, zumindest bist die Decke das meiste von ihm verhüllte. Aber sein Gesicht blieb frei. Die kleine Narbe an der Schläfe, diese harten Kanten, die im Schlaf so viel weicher wirkten und mich dazu verleiteten, ihm über die Wange zu streichen.

Warum nur trennte er sich nicht endlich von Iesha? Liebte er sie wirklich so sehr? Aber warum näherte er sich mir dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit so eindeutig? Das waren doch nicht nur Spielereien, oder? Vielleicht hatte er ja auch nur Angst, sich von dem Vertrauten zu trennen und sich etwas Neuem zu öffnen.

Ich schnaubte über meine eigenen Gedanken und setzte mich leise auf den Sessel. Dabei musste ich wieder an das denken, was er gesagt hatte. Ich war sein verschüchtertes Schäfchen.

Ein leises Lächeln schlich sich auf meine Lippen.

Er hatte das so ernst gesagt und die Gefühle, die das bei mir ausgelöst hatte, wallten wieder in mir hoch. Sein Schäfchen. Ich wollte sein Schäfchen sein, nur leider würde das wohl nicht passieren. Dieser Gedanke war ziemlich ernüchternd.

Merkte er eigentlich gar nicht, was seine Worte und seine Taten in mir auslösten? Dass sie mich dazu brachten, Gefühle für ihn zu haben, die keine Zukunft haben konnten?

Ein Klopfen an der Pforte zu seinem Zimmer ließ mich aufblicken. „Ja?“

Die Tür öffnete sich einen Spalt, nur so weit, dass Kasper hindurchschlüpfen konnte, dann war sie wieder zu.

„Hey“, lächelte ich vorsichtig und hoffte, er nahm es mir nicht mehr übel, dass ich ihn praktisch ausgeschlossen hatte.

Kasper nickte zu Cio hin. „Was ist mit ihm? Hast du ihn ausgesaugt und uns damit vom ihm erlöst?“

Dafür bekam er einen finsteren Blick. „Er schläft, weil er erschöpft ist.“

„Ja, von dem Trockenorgasmus“, spottete mein bester Freund und lehnte sich mit dem Rücken an die Tür, um die Schlafmütze zu beobachten. „Ich mag ihn nicht.“

„Wäre mir kaum aufgefallen, wenn du es nicht extra betont hättest.“ Hallo Sarkasmus!

Kasper seufzte. „Der will dir nur an die Wäsche, genau wie dieser andere Idiot. Und dann lässt er dich sicher genauso fallen.“

„Du meinst wie dein Cousin?“

Jetzt war es an ihm einen finsteren Blick aufzusetzen. „Das ist nicht mein Cousin, das ist der Sohn von der Schwester meiner Pflegeeltern. Ich bin mit dem nicht verwandt und ich habe dich gleich vor ihm gewarnt.“

Ja, dass hatte er, aber ich hatte ja nicht hören können, bis ich den daraus folgenden Schmerz am eigenen Leib gespürt hatte. Doch da war es bereits zu spät gewesen. „Aber Cio ist nicht so“, sagte ich leise und hoffte, dass ich damit recht hatte. „Er ist ganz anders.“

Dazu sagte Kasper nichts, doch sein Schweigen verriet alles. Er glaubte mir nicht.

 

°°°°°

Todesangst

 

„Wach auf, Ys-oog, wach doch bitte endlich auf.“ Unentwegt strich Tarajika über seinen Kopf, der in ihrem Schoß ruhte. Seit Rahsaan, ihr Vater, in ihre Wohnung eingedrungen war und ihn niedergeschlagen hatte, war er nicht mehr zu sich gekommen.

Tarajika kniff die Augen zusammen und versuchte die Bilder dieses schrecklichen Moments aus ihrem Kopf zu verbannen, dem Augenblick, als sie in ihr Zuhause gestürmt waren und sich auf sie stürzten. Sie war stark, aber gegen die Übermacht an Männern hatte sie keine Chance gehabt und auch wenn Raphael für sie gekämpft, ja sogar getötet hatte, um sie zu schützen, war er letztendlich unterlegen gewesen. Und das nur wegen diesem kleinen Hund, den ihre Tochter so liebte.

Ihr stiegen immer noch die Tränen in die Augen, wenn sie daran dachte, wie Flair sich auf Pandu gestürzt und sich in seiner Wade verbissen hatte, um Raphael zu verteidigen. Dieser kleine Hund, mit dem Herz eines Löwen. Sie wollte nicht mehr daran denken, wie Pandu das kleine Tier gegriffen hatte, um ihr mit einem schnell Griff das Genick zu brechen, wollte den Laut nicht mehr hören, den Flair dabei ausgestoßen hatte. Sie wusste dass ihre Tochter dieses Tier über alles liebte, es gehörte einfach zur Familie. Aber nun war Zairas kleiner Schatz tot.

Ein Schluchzen kroch ihre Kehle hinauf. „Bitte Ys-oog, öffne endlich deine Augen.“ Sie ließ ihre Stirn auf Raphaels Kopf sinken, benetzte seine Wange mit ihren Tränen und bekam das Bild von dem kleinen Hund, den Pandu wie ein Stück Müll auf den Boden warf, einfach nicht aus dem Kopf. Und das war ihnen zum Verhängnis geworden.

Das Geräusch, das Flair in der Sekunde ihres Todes ausstieß, hatte Raphaels Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ihr Vater Rahsaan hatte diesen Moment sofort ausgenutzt, um Zairas Reittrophäe aus dem Regal zu reißen und sie Raphael über den Kopf zu ziehen. Er war einfach in sich zusammengesackt und auf den Boden aufgeschlagen.

Noch immer hämmerte Tarajikas Herz wie wild, wenn sie an diesem Moment dachte, wenn sie wieder vor ihrem inneren Auge sah, wie sein Körper leblos in sich zusammenfiel und sich gleich darauf eine kleine Blutlache um seinen Kopf ausbreitete. Für eine Sekunde hatte sie wirklich geglaubt ihr Vater hätte Raphael getötet, nur nebenbei hatte sie registriert, dass er noch atmete und nur bewusstlos war. Aber aus dieser Bewusstlosigkeit war er bis jetzt noch nicht wieder aufgewacht.

Wie lange war das jetzt her? Sie wusste es nicht. Seit sie in diesem fensterlosen, verdrecken Raum gestoßen wurden, der nur von einer flackernden Glühbirne beleuchtet wurde, hatte sie jegliches Gefühl für Zeit verloren. Es konnten Stunden gewesen sein, oder auch Tage. Es machte keinen Unterschied, nicht solange Raphael nicht zu sich kam. Und auch wenn sie die ganze Zeit darum flehte, das würde wohl nicht so schnell passieren.

Dieser Mann der bei ihnen gewesen war, dieser Bijan hatte ihm etwas gespritzt, bevor er sie in diesem Raum eingeschlossen hatte. Eine klare Flüssigkeit.

Tarajika war sich sicher, dass es ein Betäubungsmittel war, mit dem sie Raphael ruhig stellen wollten. Ein gebundener Vampir konnte nämlich sehr gefährlich werden, wenn sein Gegenstück in Gefahr geriet. Das wussten sogar die Ailuranthropen, auch wenn sie sich meist von den anderen Völkern fernhielten.

In dieser ganzen Situation war Tarajika nur für eines Dankbar und zwar dafür, dass Zaira nicht Zuhause gewesen war, als ihre Meute in ihre Wohnung eingedrungen war. Ihr ging es gut, sie war in Sicherheit. Das musste Tarajika sich immer wieder sagen, um nicht verrückt zu werden. Ihre Tochter war bei Alina oder Kasper. Sie würde sich sicher Sorgen machen, aber das war immer noch besser, als hier mit ihnen in dieses Loch eingesperrt zu sein.

Als draußen vor der dicken Eichentür Schritte laut wurden, spannte Tarajika jeden Muskel in ihrem Körper an. Jetzt war es so weit, jetzt kamen sie, um sie für Lalamikas Tot zu bestrafen. Sie hatte sich schon gefragt, wann es so weit sein würde, hatte sich gewundert, dass sie bisher eher unbeschadet davongekommen war.

Ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht. Dann ging die Tür leise knarzend auf und ein schmaler Mann in Freizeitkleidung trat in den Raum. Bijan, Hishams Sohn.

Tarajika fauchte ihn an, als er mit langsamen Schritten auf sie und Raphael zukam. In seiner Hand hielt er wieder eine Spritze. „Bleib weg von ihm!“

„Schweig, Dirus, du nicht Erlaubnis sprechen.“

Diese Stimme gehörte Pandu, der zusammen mit ihrem Vater hinter Bijan in den kleinen, versüfften Raum trat.

„Du hast mir nicht mehr zu sagen, wann ich sprechen darf!“, fauchte sie ihn an. Hass und Angst tanzen in ihren Augen, aber sie würde nicht klein beigeben. Sie musste Raphael schützen. „Diese Zeiten sind lange vorbei.“

Bijans Rückhandschlag kam nicht ganz unerwartet, doch sie hatte nicht mit der enormen Wucht gerechnet, die sie herumschleuderte und sie zu Boden warf. Der Schmerz in ihrem Gesicht war enorm und einen Moment verschwamm ihre Sicht.

„Ich gesagt, du schweigen!“, fuhr Pandu sie an und fasste ihr mit festem Griff in die Haare. Sie Schlug nach ihm, schrie dass er sie in Ruhe lassen sollte, als er sie an den Haaren von Raphael wegzog und kassierte dafür einen weiteren Schlag, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Aber sie hörte nicht auf zu schreien, wehrte sich immer heftiger und gab sich auch nicht damit zufrieden, dass sie ihm die Arme zerkratzte.

„Geh weg von ihm!“, schrie sie, als Bijan sich neben Raphael auf den Boden hockte und die Spritze an seinem Arm ansetzte. „Lass ihn in Ruhe! Ich werde meine Krallen an dir wetzen, ich werde …“

Der nächste Schlag warf sie auf den Boden, ihr Kopf knallte auf Stein und einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen. In ihrem Mund schmeckte sie Blut und ein warmes Rinnsal floss ihr über die Schläfe. Eine kräftige Hand, packte sie im Nacken und riss sie hoch. Tarajika wimmerte.

„Du jetzt endlich ruhig?!“, fuhr Pandu sie an.

„Bitte“, flehte sie. „Bitte tut ihm nichts. Lasst ihn gehen, er hat damit nichts zu tun.“

„Er dich vor uns versteckt, er dir Kind gemacht, er Schlechtes über die Welt gebracht. Er Todbringer.“

„Er ist schon lange nicht mehr der Todbringer, das weißt du und Zaira ist nicht meine leibliche Tochter, das habe ich dir schon gesagt. Sie ist … ahhh!“

„Spar dir Lügen, Dirus, ich kennen Wahrheit.“ Mit groben Händen zog er sie auf die Beine, drückte sie mit dem Gesicht voran gegen die schimmlige Wand und zerrte ihre Arme auf dem Rücken, um sie mit den Handschellen, die Rahsaan ihm reichte, auf den Rücken zu binden.

„Es wird Zeit, dass du büßen für deine Tat, für Lalamikas Tot.“

Neue Tränen sammelten sich in Tarajikas Augen. „Ich habe sie nicht getötet, es war ein Unfall. Das habe ich dir schon tausend Mal … uhhh.“

Der Tritt in die Kniekehlen beförderte sie zurück auf den Boden, doch Pandu ließ die Handschellen nicht los und verdrehte ihr die Arme qualvoll nach oben. Sie biss sich auf die Lippen, um nicht vor Schmerz zu schreien.

„Keine Lügen mehr!“, fauchte Pandu sie an. „Ich taub für deine Worte, ich sie nicht mehr hören will. Du verstanden?“ Als sie nicht antwortete, zog er ihre Arme etwas hör, bis sie den Schrei nicht mehr unterdrücken konnte. „Du antworten!“

„Ja“, weinte sie. „Ja, ich hab verstanden.“ Sie hatte verstanden, dass die Ailuranthropen, ihre Familie noch immer blind für die Wahrheit waren, dass aus ihrer Trauer um Lalamika über die Jahre reiner Hass geworden war, der nur durch Rache gestillt werden konnte.

Hinten erhob sich Bijan und ließ die benutzte Spritze einfach achtlos auf den Boden fallen. „Fertig, wir können los.“

Tarajika wagte es den Blick auf ihren Cousin zu richten. „Fertig?“

„Wir unternehmen jetzt eine kleine Reise.“

Bei diesen Worten wurde Tarajika ganz anders. Eine Reise. Das konnte nur bedeuten, dass sie jetzt zurück in ihre Heimat nach Afrika gebracht wurde, an den Ort, von dem sie vor so langer Zeit geflohen war. Aber wie? Mit dem Flugzeug würde es vermutlich am schnellsten gehen, doch es würde sicher auffallen, wenn die Ailuranthropen versuchten zwei Leute auf diesem Weg mit Gewalt außer Landes zu schaffen. Dann blieb also nur der Weg über mit dem Schiff über das Meer.

Als Tarajika ein weiteres Mal auf die Beine gezerrt wurde und man sie grob aus dem Raum stieß, schloss sie resigniert die Augen. Dieses Mal würde sie wohl nicht wieder entkommen können, das würde die Meute nicht erlauben. Mit jedem Fuß den sie vor dem anderen setzte, wusste sie, dass sie ihrem Ende entgegen schritt.

Sie und Raphael waren gefangen, ausgeliefert, wehrlos. Wenigstens war Zaira in Sicherheit. Das zumindest hoffte sie, als eine einzelne Träne über ihre Wange rollte und lautlos zu Boden fiel. Zaira musste es einfach gut gehen.

 

°°°°°

Der einzige Hinweis

 

„Zaira.“

Ganz leise, wie ein Wispern drang diese Stimme an mein Ohr. Ein Finger glitt ganz sanft über meine Wange, fuhr kitzelnd über meinen Mund, bis mir ein Seufzer über die Lippen kam. Leises Lachen drang an mein Ohr und erst da wurde mir klar, dass ich gar nicht mehr schief und da wirklich jemand an meinem Gesicht rumfummelte. Langsam schlug ich die Augen auf.

Draußen war es schon dunkel. Der Schein der kleinen Nachttischlampe auf der Kommode war alles was den Raum erhellte. Den Raum und Cios sanftes Lächeln.

„Na, kleine Schlafmütze, endlich wach?“

„Was machst du da?“, fragte ich, als seine Finger meine Kinnlinie nachfuhren und sanft über meine Unterlippe strichen.

„Ist das nicht eindeutig? Ich wecke dich.“

Langsam richtete ich mich auf und … oh Gott, sich auf dem Sessel einzurollen und dort zu schlafen, war wohl die schlechteste Ideen gewesen, die ich seit langem gehabt hatte. Seine Hand glitt an meiner Wange herab und blieb auf meinem Knie liegen, als ich ein ächzendes Geräusch von mir gab. Man, ich spürte wirklich jeden Knochen im Leib.

Cio hockte direkt vor dem Sessel. Er hatte sein Hemd noch immer nicht angezogen. „Du hättest dich ins Bett legen sollen und nicht auf dem Sessel schlafen.“

„Das Bett war besetzt.“ Okay, ich hätte auch in mein Zimmer gehen können, aber irgendwie hatte ich ihn nicht aus den Augen lassen wollen.

„Hey, wir hätten da sicher locker zu zweit reingepasst.“ Er stand auf und streckte sich, bis die Knochen knackten. Dabei spannten sich seine Muskel an – nicht das mir das besonders aufgefallen wäre. „So, und nun beweg deinen Hintern, ich habe Hunger. Es hat Ewigkeiten gedauert, dich wach zu kriegen.“

Hastig, bevor er merken konnte, wie interessiert ich ihn beobachtete, sah ich zur Kommode. Die Cracker und der Orangensaft waren verschwunden, nur noch das leere Glas stand da.

„Alles artig aufgegessen“, grinste er mich an, griff sein Shirt und begann das grauenhafte Verbrechen, sich damit zu bedecken. „Aber ich bin ein Wolf und von den paar Keksen werde ich nicht satt.“ Wie zur Bestätigung seiner Worte, begann sein Magen zu knurren. Er grinste mich an, schnappte sich ohne großes Federlassen meine Hand und zog mich auf die Beine. „Die anderen sind alle schon ins Haupthaus rüber.“

„Sie sind … wie spät ist es eigentlich?“ Ich rieb mir über die Augen und bemerkte dabei, dass ich meine Brille gar nicht abgesetzt hatte.

Cio zog die Tür auf und schob mich hinaus. „Keine Ahnung, aber es ist schon dunkel.“

„Wäre mir doch tatsächlich entgangen, wenn du mich nicht darauf hingewiesen hättest“, spottete ich und trat in den Wohnraum. Es war still, die Tür zu meinem Zimmer einen Spalt geöffnet. Dahinter brannte kein Licht.

Grinsend schloss Cio sein Zimmer und strebte dann durch den Raum zu der versteckten Kommode. „Ich liebe deinen trockenen Humor, der ist so erfrischend!“

Wollte er mich jetzt wieder auf den Arm nehmen? „Ich brauche noch Socken.“ Noch mal wollte ich nicht ohne in fremde Schuhe schlüpfen.

Cio hockte sich vor die offene Garderobe, um ein paar Schuhe in seiner Größe zu finden. „Schau in den Wäschestapel, da hab ich auch welche gefunden.“

Die Klamotten, die vorhin noch über die ganze Couch verteilt gewesen waren, hatte irgendwer wieder ordentlich zusammengelegt. Auf meiner Suche nach Socken versuchte ich sie nicht wieder unordentlich zu machen.

Fünfzehn Minuten später, traten wir aus dem kalten Abendwind in das hellerleuchtete Haupthaus. Ich trat mir den Schnee von den Schuhen, hängte meine Jacke zu den fünfhundert anderen an einen Haken an der Wand und folgte Cio dann durch das rustikale Foyer in die belebte Küche.

An vier runden Tischen saßen gut ein Dutzend Leute. Und ein Wolf. Bis auf drei der Anwesenden waren mir alle unbekannt. Nein, Moment, das stimmte nicht. Shiva stand am Herd und schaufelte sich eine ordentliche Portion Gulasch auf den Teller.

„Ah, hier sind wir richtig.“ Wieder stieß Cios Magen ein unheilvolles Grummeln aus. Wenn er nicht bald was zwischen die Zähne bekam, würde er noch damit beginnen, sich selber zu verdauen.

Ich wollte mich an den Tisch hinten in der Ecke setzten, an dem ich Kasper, Aric und Alina entdeckt hatte, aber Cio nahm einfach meine Hand und zog mich zu der Kochinsel, um dort in den Topf zu spähen. „Das riecht lecker.“

Sein Grinsen wurde von einem neugierigen Mustern erwidert. Shiva schien zu gefallen was sie sah, denn sie Lächelte ihn auf eine Art an, wie Mädchen es nur in einem solchen Moment taten.

„Es ist auch lecker.“

Er linste wieder zum Topf. „Ist da auch was für mich drinnen?“

Ich zog meine Hand aus seinem Griff. Wie er sie anlächelte … plötzlich kam ich mir hier ganz schön fehl am Platz vor.

„Klar. Hier.“ Sie reichte ihm ihren Teller. „Nimm den, ich mach mir eine neue Portion.“

„Cool, danke.“ Auch das angereichte Besteck nahm er ihr ab und drückte dann beides mir in die Hand. „Was?“, fragte er, als ich ihn ein wenig perplex ansah. „Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dich hungern lassen würde. Und bestreite jetzt ja nicht, dass du hunger hast. Ich will gar nicht wissen, wann du das letzte Mal etwas gegessen hast.“

Um ehrlich zu sein, ich auch nicht. Dass musste gestern Morgen gewesen sein, bevor alles so aus den Fugen geraten war. Seltsamerweise verspürte ich trotzdem keinen Appetit. „Danke“, sagte ich nur und wich dem Blick von Shiva aus. Sie war nicht sonderlich erfreut darüber, dass ihr Essen jetzt an mich gegangen war. Ich wollte gar nicht wissen, was sie erst sagen würde, wenn sie herausfand, dass ich Vegetarier war und nichts von dem Essen wollte. Aber vielleicht, wenn ich das Fleisch zur Seite schob, könnte ich die Kartoffeln essen.

„Und?“, fragte sie dann und befüllte einen neuen Teller, den sie erneut Cio reichte. „Ich hab gehört, du bist ein Umbra.“

„Jup. Ich bin der Umbra des Prinzen.“ Er nahm den Teller, tauchte den Finger in die Soße und steckte ihn sich in den Mund. „Hm, lecker, genau das richtige für einen hungrigen Wolf.“

Ihr Lächeln wurde intensiver. „Hast du schon deine Prüfung abgelegt?“

„Ich setzte mich wohl besser schon“, murmelte ich und wandte mich von den beiden ab. Das musste ich mit nun wirklich nicht antun.

„Hey, warte auf mich.“ Er rief Shiva noch ein kurzes „Danke“ zu, und schon war er an meiner Seite.

„Du hättest ruhig bei ihr bleiben können.“

„Warum? Ich habe doch alles war ich wollte.“ Zu Demonstrationszwecken hielt er seinen Teller ein Stück hör.

„Sie schien sich aber noch unterhalten zu wollen.“

Wir kamen an unseren Tisch, wo Alina gerade dabei war Aric in allen Einzelheiten zu erklären, wie ihr Zimmer in Haus ihrer Eltern aussah. Eine Mischung aus Chaos, Klamotten und Farbexplosion. Da musste man echt erlebt haben.

„Tja, das liegt wohl an meiner charmanten Art“, erklärte Cio mir. „Mir kann einfach keiner widerstehen.“

Gleichzeitig stellten wir unsere Teller auf den Sechsertisch und ließen uns auf die Stühle sinken.

Kasper schnaubte auf Cios letzten Anmerkung hin. Mehr war nicht drinnen, weil er gerade den Mund voll hatte.

„Kommentare von den billigen Plätzen sind unerwünscht“, ließ der junge Umbra ihn wissen.

Mein bester Freund ignorierte ihn einfach, aß in Ruhe seinen Mund leer und musterte mich dabei. „Du siehst immer noch müde aus.“

Ich zuckte mit den Schultern und stocherte mit der Gabel zwischen den Fleischbröckchen herum. Es war seltsam, aber ich hatte keinen Hunger. Zum Glück, sonst müsste ich den Leuten erklären, warum ich ihr leckeres Fleisch verschmähte. „Das kann daran liegen, dass Cio mich nicht hat schlafen lassen.“

Der letzte freie Stuhl wurde von Tisch gerückt und eine lächelnde Shiva ließ sich genau neben Cio nieder. Das hatte mir gerade noch gefehlt.

Alina verstummte einen Moment und sah sie genau wie die anderen etwas irritiert an. Nur Kasper nicht, sein Blick blieb argwöhnisch auf mir haften.

„Was hat er gemacht?“, wollte er wissen.

„Mich geweckt.“ Als ich mich daran erinnerte, wie er das getan hatte, röteten meine Wangen sich leicht. Mist, das brauchte ich jetzt echt nicht. „Er hat mir mit dem Finger ins Gesicht gepikt, bis ich aufgewacht bin“, schob ich noch schnell hinterher, damit hier auch ja keine falschen Eindrücke entstanden.

„Hey, ich wollte nur, dass du etwas isst. Also beschwere dich nicht.“ Er warf mir einen gespielt bösen Blick zu. „Außerdem war das gar kein Piken.“

„Für mich …“

„Du bist der Prinz, oder?“, unterbrach Shiva mich einfach. „Der Sohn von Königin Cayenne.“

Aric unterbrach sich einen Moment beim Essen. „Ja.“ Und schon verschwand die Gabel mit der Kartoffel in seinem Mund und er widmete sich wieder Alinas Erzählungen, auch wenn sie ihn nicht sonderlich zu interessieren schienen. War wahrscheinlich immer noch besser, als sich mit einem verrückten Groupie abgeben zu müssen.

Bevor sie wieder den Mund aufmachen konnte, wandte Cio sich mir zu. „Wenn ich aufgegessen habe, will ich noch mal zu meinem Vater. Vielleicht gibt es in der Zwischenzeit ja Neuigkeiten. Kommst du mit?“

„Klar, kann ich machen.“ Ich hatte ja sonst nichts Besseres zu tun, außer vielleicht noch ein paar Stunden zu schlafen. Obwohl, wenn ich mich jetzt aufs Ohr hauen würde, könnte ich sicher wieder nicht pennen und würde ich nur sinnlos von einer Seite auf die andere drehen, weil meine Gedanken mich nicht in Ruhe lassen würden. Da war es doch besser, mit Cio zu gehen und sich ein bisschen ablenken zu lassen.

„Danach können wir uns ja einen Film ansehen“, kam es von Alina, die uns mit einem halben Ohr gelauscht hatte. „Die haben hier einen echt riesigen Fernseher.“

Filme gucken. Als wenn es im Moment nichts Wichtigeres gab. Aber so war Alina nun einmal und ich hielt es nicht für angebracht, sie deswegen anzuschnauzen. Wahrscheinlich wollte sie auch nur versuchen, uns alle ein wenig abzulenken.

Lustlos stocherte ich weiter in meinem Essen, während sich die Teller der anderen nach und nach leerten. Shiva versuchte dabei immer wieder Aric und Cio in ein Gespräch zu verwickeln und tat mehr als er staunt, als sie feststellte, dass Alina und auch ich nur Freunde von ihnen waren . Danach ging sie erst richtig in die Vollen. Doch als keiner der beiden darauf ansprang, widmete sie sich Kasper. „Und wie passt ein Mensch in diese illustre Runde?“

„Er ist mit der Tochter der Königin befreundet“, erwiderte er ruhig.

Shiva runzelte die Stirn. „Kiara?“

„Nein, mit …“

„Igitt, das ist ja voll eklig“, kam es da von Alina. Mit ausgestrecktem Finger zeigte sie auf einen kleinen, schwarzen Punkt, der sich eilig auf acht Beinen über den Fliesenboden bewegte.

„Spinne!“, kreischte ich und im nächsten Moment stand ich auf meinem Stuhl, die Gabel fest umklammert – wer wusste schon, wozu ich die noch brauchen konnte.

Bis auf Kasper und Alina, die das schon von mir kannten, war jedes Augenpaar in diesem Raum plötzlich auf mich gerichtet. Aber das war mir egal. Diese Vieh waren eklig, haarig und hatten von überzähligen Gliedmaßen einmal abgesehen, auch viel zu viele Augen.

„Da, am Schrank! Mach sie weg bevor sie verschwindet!“

Cio sah zu mir hoch und versuchte nicht einmal seine Belustigung zu verbergen. „Hast du etwa Angst vor einer kleinen Spinne?“

Ich kniff die Augen zusammen. „Nein, natürlich nicht. Ich steh hier nur wegen der schönen Aussicht auf dem Stuhl!“

Das sorgte nicht nur bei ihm für Belustigung.

„Ach komm schon, die tut dir nichts, die ist viel kleiner als du.“

Anklagend zeigte ich mit der Gabel auf ihn. „Das ist eine Handgranate auch, trotzdem möchte ich ihr nicht zu nahe kommen.“

In seine Augen trat ein Funkeln, das mir so gar nicht gefallen wollte. „Na wenn das so ist, gibt es nur eine Möglichkeit.“ Er legte sein Besteck auf den fast leeren Teller, erhob sich von seinem Stuhl und zog mir die Beine weg, sodass ich ihm mit einem überraschten Laut in die Arme fiel und mich an seinen Hals klammerte. „Hey, nein, was machst du da?!“

„Ich bringe dich aus der Gefahrenzone, bevor die Spinne auf dich aufmerksam wird“, sagte er mit toternster Stimme und schritt zügig durch die Küche.

Alina war nicht die einzige im Raum, die lautstark lachte.

„Nein, lass mich runter!“ Auch wenn es irgendwie nett war. Vor diesen ganzen Fremden überwog die Peinlichkeit der Situation.

„Ich soll dich runterlassen?“, fragte Cio scheinheilig und zuckte dann gleichgültig mit den Armen. „Okay, wie du willst.“

„Nein!“ Als er die Arme lösen wollte, klammerte ich mich fester an seinen Hals. „Lass mich nicht runter!“ Nicht zu diesem krabbelnden Monster.

Er schmunzelte. „Du kannst dich aber auch nicht entscheiden, wie?“

Dafür funkelte ich ihn an. „Die Spinne läuft hier immer noch frei herum.“

„Ja, und sie wird sich wie eine wilde Bestie auf dich stürzen und auf dir rumkrabbeln, sobald du den Boden berührst“, schmunzelte er.

„Könnte doch sein“, murmelte ich trotzig. Natürlich wusste ich, dass das Blödsinn war, aber in Gegenwart einer Spinne war rationales Denken nicht so ganz meins.

Noch drei Schritte, dann waren wir im Flur und auch wenn Cio mich jetzt nicht mehr festhalten musste, ließ er mich nicht runter. Stattdessen sagte er: „Ich bin dir wohl zu ewigem Dank verpflichtet.“

„Warum?“

„Weil du mir eine Möglichkeit geboten hast von Schnatterinchen wegzukommen, bevor ich meine Idee sie zu erwürgen in die Tat umsetzen konnte.“

Ah, also war er von Shivas Annäherungsversuchen doch noch so begeistert. „Also ewiger Dank, hm?“ Ich neigte den Kopf leicht zur Seite. „Beinhaltet das auch ewige Treue und gehorsam? Denn wenn ja, wünsche ich morgen zum Frühstück Spiegeleier.“

„Wirst du sie dann auch essen, oder wieder nur darin herumstochern?“ Er sah mich ernst an, als ich nichts darauf erwiderte. „Mir ist sehr wohl aufgefallen, dass du nicht einen Bissen gegessen hast.“

„Es war Fleisch“, erwiderte ich trotzig. „Ich esse kein Fleisch.“

„Da waren auch Kartoffeln. Und wenn du die wegen der Soße nicht hättest essen wollen, wäre im Kühlschrank sicher noch ein Jogurt, oder sowas für dich gewesen.“

Als ich seinen Hals losließ und mein Gewicht verlagerte, blieb er stehen und setzte mich auf dem Boden ab.

„Zaira“, seufzte er. „Das was du da machst, ist nicht gut. Was soll das? Willst du vor Kummer jetzt nichts mehr essen, oder ist das so eine verrückte Idee abzunehmen, weil du mal wieder nicht mit dir zufrieden bist?“

Dass er mir das so direkt an den Kopf knallte, wollte mir so gar nicht gefallen. Das war nicht nur unhöflich, es war außerdem auch noch dreist. Und obendrein stimmt es gar nicht. Ich senkte meinen Blick. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich die Gabel immer noch in der Hand hielt. „Ich habe einfach keinen Hunger“, sagte ich leise. Und es war ja auch die Wahrheit.

Cio seufzte. „Na gut. Aber wenn ich dir morgen die blöden Eier mache und du sie dann nicht isst, dann werde ich echt sauer.“ Er wandte sich zum gehen. „Und jetzt komm.“

Kleinlaut schloss ich mich ihm an. „Dir ist bewusst, dass das nur ein Scherz war? Also das mit den Eiern?“

„Nope, ist mir nicht.“ Wieder grinste er mich in alter Manie an. „Du bekommst jetzt deine Eier. Vielleicht verziere ich sie dir sogar noch mit ein paar Gummibärchen.“

Angewidert verzog ich das Gesicht. „Wenn du das machst, dann kannst du sie selber essen. Nur damit das klar ist.“

Er sah mich beinahe entsetzt an. „Du würdest meine wenigen Kochfähigkeiten verschmähen und mir damit mein kleines Herz brechen?“

Oh Mann, mit Cio konnte man wirklich kein ernstes Gespräch führen. „Wenn du Gummibärchen auf Spiegeleiern brätst, dann ja.“

„Na gut.“ Er legte mir einen Arm um die Schultern. „Dann gibt es die Gummibärchen eben als Nachtisch.“

Wie, bitte, sollte man da nicht lachen? Besonders bei dem Ton, in dem er es sagte. „Blödmann.“

„Mag schon sein, aber du hast mich trotzdem gern.“ Er drücke mich ein wenig fester an sich und ich musste zu meinem Leidwesen gestehen, dass ich es nicht nur widerstandslos zuließ, sondern auch genoss.

Wann waren wir eigentlich so vertraut miteinander geworden? Aber viel wichtiger, wo sollte das nur hinführen? Ich hatte immer noch Cios Worte von vorhin in den Ohren. So wie ich ihn nach dem Biss erlebt hatte … ich konnte mir nicht vorstellen, dass das nur an dem Endorphinrausch gelegen hatte. Er war so ernst gewesen, so offen und so ganz anders als sonst.

Ein paar Männer kamen uns entgegen, als wir auf den Raum zuhielten, in dem wir nach unserer Ankunft gebracht worden waren. Dieses Mal stand die Tür weit offen und auch wenn ich von dem was er sagte kein Wort verstand, so konnte ich schon hier draußen die Stimme von Diego hören.

Mir war es ein wenig unangenehm, einfach so in einem fremden Haus herumzuspazieren, aber zu meinem Glück hatte ich Cio dabei, der besaß diese Hemmschwelle nicht. Er marschierte einfach rein, als hätte er jedes Recht dazu und ich huschte still und leise hinter ihm her.

Hier hatte sich in den letzten Stunden nicht viel geändert, naja, wenn man mal von den Papierstapeln auf dem Schreibtisch und den dicken Akten und dem aufgeklappten Laptop auf dem Wohnzimmertisch absah. Beides war übersät mit Papieren, Fotos, Büchern und Computerausdrucken.

Cayenne und die anderen hatten den Schreibtisch umstellt. Joel hielt sich ein wenig im Hintergrund, der Rest von ihnen beugte sich über eine ausgebreitete Karte, auf der Keenan ihnen gerade etwas zeigte. „… hier, hier und hier. Und das hier auch alles.“ Beim Reden zeichnete er mit dem Finger Kreise auf der Karte.

Ihre Mutter, Celine, trommelte mit einem Stift auf dem Tisch herum, während ihre Augen konzentriert über den Plan glitten. Es machte den Eindruck, dass sich keiner von ihnen in den letzten Stunden auch nur einen Schritt aus diesem Raum entfernt hatte.

Cayenne ließ seufzend den Kopf hängen. „Das sind alle dicht besiedelten Gebiete. Wie hat sie das nur geschafft?“

Grimmig verzog Diego das Gesicht. „Sie wird ihre eigenen Leute dafür benutzt haben. Sie hat genug Anhänger.“

„Und es wird nicht bei diesen Gebieten bleiben“, erklärte Keenan. „Es ist erst einen Tag her, dass dein Geheimnis gelüftet wurde. Die Nachricht konnte noch gar nicht bis in jede Provinz vordringen, aber das wird sich schnell ändern. Rechne damit, dass in spätestens einer Woche jeder Lykaner auf diesem Planeten weiß, wer – oder besser was – du wirklich bist.“

Cayenne sah ihn böse an. „Hast du eigentlich auch mal gute Nachrichten?“

„Ja, der Kaffee ist gleich fertig.“

Grummelnd legte Sydney seiner Gefährtin eine Hand auf die Schulter. Irgendwann in den letzten Stunden musste er sich verwandelt haben. Es war seltsam ihn mal wieder als Mensch zu sehen, aber in der momentanen Situation waren zwei Hände wohl besser, als vier Beine. Obwohl, schneller laufen konnte man damit ja nicht gerade.

Neben Genevièv gab es einen leisen Piepton und erst als sie zur Seite griff und ihn zu sich heranzog, bemerkte ich, dass dort noch ein weiter Laptop stand. Sie klappte ihn auf und drehte ihn so, dass alle den Bildschirm sehen konnten.

Ein roter Button, in einem offenen Chatfenster blinkte munter vor sich hin, bis sie den Anruf entgegen nahm. Augenblicklich öffnete sich in dem Fenster eine Videoübertragung und das Gesicht von dem Großwächter Edward Waller blickte uns ernst entgegen. „Schlechte Nachrichten“, begann er auch gleich ohne überflüssige Begrüßung. „Die Lage hat sich in den letzten zwei Stunden verschlechtert.“

Zwei Stunden? Hatten sie seit unserer Ankunft schon Kontakt zu ihm gehabt? Dumme Frage eigentlich. Wenn es nicht so wäre, hätte er sich sicher anders ausgedrückt.

„Ich habe jetzt die Bestätigung“, fuhr er fort. „Zwei der Themis sind in Gewahrsam genommen worden, weil sie nicht rechtzeitig verschwunden sind und sich geweigert haben Euch die Treue abzuschwören.“ Durch den Bildschirm fasste er Cayenne genau ins Auge. „Im Moment weiß ich leider noch nicht, was mit ihnen passieren soll, aber ich bin mir sicher, dass sie dazu benutzt werden sollen, Euren Aufenthaltsort auswendig zu machen. Sie hat keinen Zweifel daran gelassen, dass sie Euch sucht, um euch für Euren Betrug an dem Rudel von ihrem Sohn hinrichten zu lassen.“

Ich sog zischend die Luft an. Hinrichten? War das sein Ernst?

Cayenne seufzte schwer. „Wer? Wen hat sie in Gewahrsam genommen?“

„Themis Murphy und Themis Alexia.“

Sie drückte die Lippen fest aufeinander, strich sich durchs Haar, sah kurz aus dem Fenster, als wären dort die Antworten verborgen, die sie so dringend brauchte, nur um den Blick dann wieder auf den Bildschirm zu heften. „Aber sie wissen doch gar nichts. Keiner weiß wo ich bin.“

„Das haben sie auch gesagt, aber ihren Worten wird kein Glauben geschenkt, da sie euch nicht abschwören wollen. Sie sind auch nicht die einzigen. Auch eure Kammerzofe Collette befindet sich in ihren Händen. Da sie täglich und persönlich mit Euch zu tun hat, hoffen sie, dass sie ihnen weitere Informationen geben kann.“

„Collette weiß gar nichts“, murmelte Cayenne.

Diego verlagerte sein Gewicht ein wenig. „Gibt es sonst noch Neuigkeiten?“

Edward nickte. „Ja. Das Tor wurde in der Zwischenzeit geschlossen. Draußen herrscht zwar immer noch Aufruhr und in Silenda wagt sich zurzeit keiner unnötig auf die Straße, aber die Wächter haben wenigstens im Hof die Lage halbwegs unter Kontrolle bekommen.“

„Unter der neuen Herrschaft“, sagte Ayko und riskierte einen Blick auf meine Erzeugerin, die immer noch um ihre Fassung rang. „Wie sicher ist die neue Führerschaft?“

Was? War Cayenne etwa schon ersetzt worden? So schnell? Ich warf Cio einen kurzen Blick zu. Er war vollkommen konzentriert auf den Bericht, den Edward da ablieferte.

„Wacklig, aber mit wachsender Tendenz“, kam es aus dem Gerät. „Es gab schon einige Herausforderungen, die trotz der geltenden Gesetze angenommen wurden. Die meisten von ihnen wurden getötet, darunter auch ein Alpha der Simultanen, der sein Glück versuchen wollte. Für heute wird niemand mehr reingelassen, erst morgen sollen die Tore für weitere Provokateure geöffnet werden.“

„Das ist nicht richtig“, sagte Celine und verschränkte missmutig die Arme vor der Brust. „Das Gesetz sagt eindeutig, es darf nur eine Herausforderung am Tag geben, der sich der Alpha stellen muss und das auch frühstens zwei Wochen nach seiner offiziellen Krönung. Es ist noch nicht mal ein Tag her, seit er mit seinem Gefolge in den Hof einmarschiert ist. Und nur weil er auf dem Thron sitzt, heißt das nicht, dass Leukos ihn als König akzeptieren wird.“

Ayko legte ihr in einer vertrauten Geste die Hand um den Nacken. „Er will seine Stärke beweisen.“

„Nein“, widersprach sie ihm und schob seinen Arm weg, als hieße sie das nicht gut. „Er will das Rudel verängstigen. Er sagt den Lykanern damit nur, dass sie ihm besser folgen sollten, wenn sie nicht sterben wollen. Ein Herausforderer muss nur in den seltensten Fällen getötet werden. Die meisten Lykaner legen sich auf den Rücken, wenn sie bemerken, dass sie unterlegen sind.“

„Er hat auch die Lykaner getötet, die sich ihm unterworfen haben“, erklärte Edward.

Genevièv verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. Sie trug noch immer den Bademantel. „Ganz nach dem Motto, bist du nicht für mich, dann bist du gegen mich und hast damit dein Leben verwirkt.“

„Er will ihnen beweisen, dass er ihnen allen überlegen ist“, bemerkte Diego. „Und dass es besser niemand wagen sollte, sich gegen ihn aufzulehnen.“

„Ein neuer Isaac.“ Joel verschränkte die Arme vor der Brust. „Tyrannen kann man noch nie genug haben.“

„Wie stehen die Wölfe dazu?“, wollte Cayenne wissen.

Eddy zuckte ein wenig hilflos mit den Schultern. „Sie sind noch sehr unsicher, aber nicht abgeneigt, der neuen Führung zu folgen.“

Cayennes Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepresst. „Wie sicher ist das?“

„Das einzig sichere zurzeit ist, dass gar nichts sicher ist. Alles steht auf wackligen Beinen. Schon Morgen kann hier wieder alles anders aussehen.“ Er seufzte. „Es gibt nur eines was wirklich sicher ist, uns zwar …“

„Das ich nie wieder auf dem Thorn sitzen werde“, vollendete Cayenne seinen Satz bitter. „Das ich mein ganzes Leben diesen verdammten Arschlöchern gewidmet und ihnen alles gegeben habe was ich nur konnte, ist plötzlich völlig egal! Ich habe alles geopfert, nur um jetzt vor dem Nichts zu stehen!“ Sie erhob sich hastig von ihrem Stuhl und begann aufgebracht im Raum auf und ab zu laufen.

Ich trat vorsichtshalber einen Schritt zur Seite, um nicht von ihr umgerannt zu werden.

„Diese Dummköpfe! Glauben sie wirklich, dass sie mit ihm jetzt besser dran sind?!“

„Sie sehen nur die Reinheit des Blutes“, gab Edward schwach von sich.

Cayenne schnaubte. „Als wenn ihr Blut so viel besser wäre. Ich stamme aus direkter Linie von König Isaac ab, mein Odeur ist sogar stärker als seines. Ich habe mein halbes Leben geopfert, die Bedrohung durch die Skhän auf ein Minimum reduziert, einen stabilen Frieden mit den Simultanen geschlossen und aufrecht erhalten und damit die beiden größten Bedrohungen für das Rudel eliminiert, was wollen diese Idioten den noch?!“

Als hätte er etwas gehört sah Edward kurz zur Seite auf etwas, dass außerhalb unseres Sichtfeldes lag. Er lauschte kurz und richtete sich dann wieder an Cayenne. „In diesem Fall ist es egal, von wem Ihr abstammt, oder was Ihr alles für uns getan habt. Das Rudel fühlt sich von Euch betrogen. Die Folgen, die daraus entstehen, sind sehr gravierend. Außerdem wurde den Lykanern eingeredet, dass der Grund für Eure geistige Schwäche Euer unreines Blut ist. Es verstärkt die allgemeine Meinung, dass ein Misto nicht die Kondition hat, eine so wichtige und belastende Stellung im Rudel einzunehmen.“

„Kondition!“, höhnte Cayenne. „Sprich Klartext Eddy. Sag doch einfach, dass sie endlich einen Grund für den geistigen Zustand ihrer verrückten Königin gefunden haben.“ Unwillig schüttelte sie den Kopf. „Diese elenden Wixer! Auf die Idee, das dieser Hurensohn Jegor daran schuld ist, kommen sie natürlich nicht.“

Darauf folgte betretenes Schweigen und ich begann mich zu fragen, was der geistigen Zustand meiner Erzeugerin mit der momentanen Situation zu tun hatte. Ich wusste ja, dass sie im allgemein als verrückt und ein wenig durchgeknallt galt, aber eigentlich hatte ich immer geglaubt, das läge an ihrer unvorhersehbaren Art. Doch langsam ahnte ich, dass dem nicht so war.

„Vergiss es einfach“, sagte Cayenne dann und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. „Sag mir lieber, wie die Lage bei dir aussieht.“

„Hier den Posten zu halten ist im Moment nicht sonderlich einfach und ich musste viele Wächter auch auf Außeneinsätze schicken, um wenigstens einigermaßen Ordnung zu schaffen. Zwei davon sogar zu den Menschen.“

„Menschen?“ Cayenne spannte sich merklich an. „Was meinst du damit, du musstest Wächter zu den Menschen schicken?“

Diegos Handy bimmelte. Mit einem kurzen Blick darauf versicherte er sich wer ihn da anrief, dann hielt er es sich auch schon ans Ohr und verließ mit einem „Ich höre“ den Raum.

„Damit meine ich, dass insgesamt sieben Menschen gesehen haben, wie sich die Lykaner in einem Machtkampf verwandelt haben. Einer der Menschen wurde dabei sogar verletzt. Ich habe sie alle in die nächste Wächterstelle bringen lassen, wo sie bleiben müssen, bis ich einen Vampir finde, der ihnen die Erinnerung nimmt.“ Sein Blick verdunkelte sich leicht. „Es tut mir leid, aber mir blieb keine andere Wahl. Seit heute Morgen haben sich immer mehr Vampire zurückgezogen und weigern sich einzuschreiten, weil sie in diesen Kampf nicht mit hineingezogen werden wollen. Und da die Themis alle verschwunden sind …“ Er zuckte die Schultern, da sich der Rest des Satzes von selber Erklärte. Keine Themis, keine Vampire die helfen würden, keine Aussicht darauf, dass diese Menschen so schnell wieder nach Hause können.

„Die Themis.“ Cayenne drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. „Kannst du die Themis befreien? Murphy und Alexia? Und auch Collette?“

Bedauernd schüttelte er seinen Kopf. „Nein. Ich stehe im Moment noch unter ständiger Beobachtung ihrer Leute. Zwar habe ich Euch gegenüber offiziell meine Treue abgeschworen, aber sie vertrauen mir nicht genug, um mich auch nur in die Nähe der Gefangenen zu lassen. Es ist schon gefährlich genug, dass ich Euch mit Informationen versorge. Mehr kann ich im Moment leider nicht tun.“

„Nein, mir tut es leid.“ Cayenne rieb sich wieder über das Gesicht. „Du tust schon genug für mich und bringst dich damit selber in Gefahr. Mehr kann ich nun wirklich nicht verlangen.“

Sein Blick wurde ganz weich. „Königin Cayenne, wenn ich könnte …“ Plötzlich riss er den Kopf alarmiert herum. Ein schnelles „Ich muss Schluss machen“ war alles was wir noch von ihm hörten, dann war die Verbindung unterbrochen.

Mir wurde ganz mulmig bei dem Gedanken, was sich da am anderen Ende der Leitung so abspielte. Ich hatte nicht alles verstanden, doch dass die Lage sehr ernst war, das war deutlich herauszuhören gewesen. Das war wie ein Weltuntergasszenario. Trotzdem, bei all dem engstirnigen Denken der Lykaner, verstand ich einfach nicht, warum sie wegen so einer Kleinigkeit alles auf Spiel setzten. Ihre ganze Existenz geriet durch ihr Verhalten in Gefahr. Sie mussten doch Intelligent genug sein, um zu wissen, dass eine Entdeckung ihrer Spezies mit einem Freifahrtscheins ins Kuriositätenkabinett enden würde.

Cayenne stützte sich mit den Armen auf den Tisch, sah die Papiere, die Fotos und Schriftstücke an, als seien sie für all das Verantwortlich, nur um alles mit einem wütenden Schrei vom Tisch zu fegen.

Ich trat einen Schritt näher an Cio heran, als sie wütend die Arme um sich selber schlang. Leider bemerkte sie mein Zurückweichen, drückte die Lippen wieder fest aufeinander, um dann den Blick abzuwenden. Ich hatte die Kränkung darin gesehen, aber was sollte ich den tun? Wütende und verärgerte Menschen hatten mir schon immer Angst eingejagt. Und dass sie im Grunde kein Mensch war, sondern ein halber Lykaner, machte es nicht besser. Ganz im Gegenteil. Lykaner waren meiner Meinung nach noch viel unberechenbarer.

Etwas das mein Vater mir einmal gesagt hatte, ging mir bei diesem Gedanken durch den Kopf. „Lykaner sind Tiere in der Gestalt eines Menschen und ihre Intelligenz macht sie doppelt so gefährlich.“

Als Sydney seine Arme um Cayenne schlang und sie das Gesicht an seiner Schulter versteckte, kam Diego zurück in die Küche. Wenn es möglich war, schaute er sogar noch grimmiger als vorher.

„Das war Future. Mit Samuel und Kiara besteht weiterhin kein Kontakt. Keiner weiß was bei ihnen los ist.“

Sydney spannte sich deutlich an. Auch wenn er es sich nicht anmerken ließ, es machte ihr fertig, dass er nicht wusste, was mit seiner Tochter war. „War denn in der Zwischenzeit jemand auf dem Anwesen in Cervon?“

Diego schüttelte den Kopf. „Bisher nicht. Auf die Wächter in Frankreich konnten wir leider nicht mehr zurückgreifen und die Themis haben sich in alle Himmelsrichtungen verstreut. Future versucht aber weiterhin Tyrone und Letisha zu erreichen. Die beiden haben einen Auftrag ganz in der Nähe von Brüssel, vielleicht können die beiden sich mal ein bisschen auf dem Anwesen umsehen.“

Cayenne gab ein ersticktes Geräusch von sich.

„Wenn alles nicht hilft, dann kann ich auch jemanden aus meinem Rudel schicken, der mal nach dem Rechten sieht“, bot Celine an.

„Allerdings geht das erst, wenn die Lage sich ein wenig beruhigt hat“, fügte Ayko mit einem strengen Blick auf sie hinzu. „Ich werde keinen unserer Leute mitten ins Chaos schicken. Die Simultanen wurden bisher nicht belästigt und ich ziehe es vor, dass es weiterhin so bleibt. Ich will nicht in einen Kampf gerissen werden, der nicht unserer ist.“

„Ayko …“

„Nein, Celine, nicht mal für dich. Ich will weder deine Tochter, noch ihre Leute hier haben, sie machen unsere Leute nervös, aber ich habe nichts gesagt, weil es dir wichtig ist. Ich werde unsere Wölfe jedoch nicht in Gefahr bringen, auch nicht für deine Enkeltochter.“

Das war hart. Ich verstand ihn, aber nichtsdestoweniger, war es hart und Celine schien damit absolut nicht einverstanden zu sein.

„Baby.“ Ayko streckte die Hand nach ihr aus, doch sie wich ihm aus.

„Lass deine Hände bei dir“, knurrte sie, drehte sich herum und stampfte aus dem Raum.

Aykos Lippen wurden ein wenig schmaler.

Stirnrunzelnd schaute ich ihr hinterher. Er hatte sie Baby genannt und „unsere Leute“ gesagt. Waren die beiden ein Paar? Das würde ja bedeuten, dass meine Oma ein Alpha eines Simultanen-Rudels war. Langsam bekam ich den Eindruck, dass ich mich einmal dringend erkundigen sollte, was hier eigentlich genau los war.

„So“, ließ Keenan verlauten. „Der der Kaffee müsste fertig sein. Wer will welchen?“

Cio kümmerte sich weder um das Ayko/Celine-Problem, noch interessierte er sich für den Kaffee, oder das, was nun besprochen wurde. Seine Aufmerksamkeit galt dem offenen Notebook auf dem Wohnzimmertisch, auf dessen Bildschirm das Standbild von einem Video zu sehen war.

Als er sich vor den flachen Tisch hockte, stellte ich mich hinter ihn und schaute ihm über die Schulter.

Das Bild zeigte eine schmale, schwarzhaarige Frau in Großaufnahme. Eine alte Narbe zog sich über ihre Schläfe und der Ausdruck in ihren Augen zeigte zwei Dinge. Zum einen Triumph, zum anderen – und das überwog – Entschlossenheit. Sie schien etwas zu rufen, aber da das Bild ja stand, wusste ich nicht was. Das jedoch änderte sich, als Cio nach dem Touchpad griff, das Video auf Start zurückstellte und dann auf Play drückte.

Sofort drangen Rufe von Menschen, das Knurren von Wölfen und der Schrei einer Frau an mein Ohr. Ich warf einen kurzen Blick zu den anderen, um sicher zu gehen, dass sie sich von uns nicht gestört fühlten, aber die waren viel zu sehr mit ihren eigenen Sachen beschäftigt, um uns auch nur den Hauch von Beachtung zu schenken. Nur Diego bedachte seinen Sohn einen Moment mit einem argwöhnischen Blick, bevor er sich wieder dem eigentlichen Thema zuwandte.

Die Bilder in dem Video mussten von einer Handykamera stammen. Ständig ruckte das Bild hin und her, zeige Wölfe die sich bekämpften, Menschen die aufeinander losgingen und mittendrin die Frau mit der Narbe. Es war das reinste Tollhaus.

„Gräfin Xaverine“, sagte Cio leise. „Also sie steckt dahinter. Dieses Miststück.“

„Die Mutter von Cerberus?“

Das brachte mir von ihm einen überraschten Blick ein. „Woher kennst du den denn?“

„Von meinem Ball.“ Ich zuckte die Schultern. „Wir haben uns kurz unterhalten.“

„Halt dich bloß fern von dem.“

„Warum sagt mir das nur jeder?“, murmelte ich leicht beleidigt und widmete mich wieder dem Film.

Der Bildausschnitt zoomte ein wenig weiter weg und erst jetzt erkannte ich, wo diese Aufnahmen gemacht worden waren: Im Hof der Lykaner.

Wie selbstverständlich schritt Gräfin Xaverine zwischen den Auseinandersetzungen auf das Portal des Schlosses zu. Schräg hinter ihr liefen zwei Frauen. Die eine Blondine war hochschwanger, die andere konnte ich aus diesem Winkel nicht richtig erkennen. Nur dass sie ziemlich dünn, ja schon fast mager war. Um sie herum liefen mehrere Wölfe, ihr Begleitschutz, der jeden verbiss, der den drei Frauen zu nahe kam. Allen voran ein Riesenexemplar mit schwarzem Fell und einer hellen Blässe auf der Stirn. Man, der war fast so groß wie Sydney.

„Das ist Cerberus“, erklärte Cio und tippe auf das Riesenvieh von einem Wolf. „Und die Blondine hier ist seine Gefährtin.“ Fingerzeig auf die Schwangere.

„Und wer ist die magere Frau?“

Er zuckte die Schultern. „Keine Ahnung, die kenne ich nicht.“

Wir verfolgten weiter, wie die Gräfin mit ihrem Begleitschutz das Portal erreichte und sich mit ihnen oben auf der Freitreppe positionierte, um alles überblicken zu können. Jeder Wolf oder Mensch der sich ihnen dabei näherte, wurde sofort weggebissen, wenn nötig auch blutig.

Angst!“, rief sie mit lauter Stimme, sodass sie auch bis in die hintersten Winkel zu hören war. „Das ist es was ihr im Moment verspürt. Enttäuschung, Demütigung und Verrat. Über Jahre hinweg hat man jeden einzelnen von euch getäuscht, aber das ist nun dank mir vorbei!“

Die Kamera schwenkte in den Vorhof. Die Auseinandersetzungen hatten nicht aufgehört, aber es gab doch einige, die den Worten der Gräfin lauschten.

Das Geheimnis der Königin wurde euch allen offenbart und nun ist es an der Zeit, dass die Führung von jemanden mit einem starken Willen übernommen wird!“

Und wer soll das sein?“, rief da eine männliche Stimme. „Ihr etwa?“

Nein. Obwohl ich als reinblütiger Werwolf mit meiner Abstammung sehr wohl fähig dazu wäre, spreche ich nicht von mir.“ Sie ließ ihren Blick wohl auf den Punkt schweifen, von dem die Stimme kam. „Ich bin kein Mischling, ich bin dazu geschaffen zu führen, aber nicht ich bin es, die um diesen Posten mit euch wetteifern wird. Es gibt nur einen, der dafür geboren ist euch zu führen. Er wird jede Herausforderung annehmen und er wird sie alle bestehen. Mein Sohn!“

Das Bild zoomte wieder etwas näher heran, fokussierte den großen Wolf, der langsam mit gebleckten Zähnen über die Freitreppe schlich. Vorbei an seiner schwangeren Gefährtin, vorbei an der mageren Blondine, auf der der Bildausschnitt einen Moment verharrte. In meinem Kopf klingelte es. Irgendwie kam mir diese Frau bekannt vor, nur wo hatte ich sie schon mal gesehen? Ich glaubte nicht, dass ich ihr schon einmal persönlich begegnet war. Vielleicht ja von einem Foto?

Es wurmte mich, dass ich nicht darauf kam. Daher hockte ich mich neben Cio, spulte den Film ein wenig zurück und stoppte ihn dann wieder, sobald die Frau im Bild war. Lange, dunkelblonde Haare, mandelförmige Augen, die kalt und leblos vor sich hinstarrten. Eine Stupsnase und ein Puppenmund. Sie war ziemlich abgemagert, viel zu dünn für ihre Größe. Mit ein bisschen mehr auf den Rippen, würden die Züge viel weicher und angenehmer wirken. Wenn sie nur … und da kam mir die Erleuchtung. Natürlich, ich hatte sie schon einmal gesehen, damals, als ich einen Stammbaum meiner Familie angefertigt hatte.

Cio beugte sich auch ein wenig vor. Sah erst auf das Bild und dann fragend zu mir. „Was ist?“

„Sadrija“, hauchte ich leise. Aber wie war das möglich? Mir wurde erzählt, sie sei schon vor über zwanzig Jahren wegen der Machenschaften von Jegor Komarow gestorben. Und auch alle Artikel die ich bekommen hatte, wiesen darauf hin. Aber dort stand sie, wahrhaftig. Es gab keinen Zweifel, dass war Cayennes Cousine. Was machte sie nur bei dieser Xaverine?

Ich merkte erst nach ein paar Sekunden, dass es im Raum plötzlich unnatürlich still geworden war und brauchte noch ein paar weitere, um mir klar darüber zu werden, dass aller Augen im Raum auf mich gerichtet waren. Von Fassungslos, bis Verwirrt war alles dabei.

Ich machte den Mund auf, schloss ihn aber gleich wieder, und warf einen unsichereren Blick zu Cio. Hatte ich was falsch gemacht?

Cayenne löste sich aus Sydneys Armen. Die Augen vor Unglauben weit aufgerissen, drehte sie sich zu mir um und starrte mich an, als sei ich ein Gespenst. „Was hast du eben gesagt?“

„Ich …“ Ich zögerte, warf noch einen Blick auf den Monitor und richtete mich dann langsam wieder auf. Nur keine hektischen Bewegungen machen. „Sadrija. Das hab ich gesagt. Die Frau da, die Blondine.“ Fahrig zeigte ich auf das Standbild des Bildschirms. „Das ist deine Cousine. Sadrija.“

Cayenne warf einen Blick auf das Bild, leckte sich über die Lippen und schüttelte dabei den Kopf. „Nein, das kann nicht sein, das ist nicht möglich. In dem Kästchen … ihr Haar und das Blut.“ Unaufhörlich schüttelte sie den Kopf, als könnte die Wahrheit damit verschwinden. Ihr Blick war dabei seltsam unstet. „Er hat es mir geschrieben. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Er hat es geschrieben. Fletcher ist tot und er hat es geschrieben. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Sie ist tot!“ Den letzten Teil schrie sie hinaus.

Vorsichtig griff Sydney nach Cayennes Hand. „Liebes, du …“

„Auge um Auge, Zahn um Zahn!“, schrie sie ihm ins Gesicht. Sie war blass und zitterte am ganzen Körper. „Ich habe Fletcher getötet, er hat sie getötet. Das bedeutet es!“ Sie drückte ihre Faust gegen den Nasenrücken. „Er kann doch nicht die Spielregeln ändern. Das geht nicht. Sie ist tot, sie muss tot sein!“

„Cayenne“, begann Sydney erneut. „Du …“

„NEIN!“

Bei dem Schrei zuckte ich heftig zusammen, konnte aber nichts weiter tun als sie anstarren. Ihr heftiger Atem, die zitternden Hände. Ich Blick huschte von einem zum anderen, dann wieder zum Monitor, nur um dann eilig die Tür in der Glasfront zu öffnen und hinaus in den verschneiten Winter zu marschieren.

Natürlich folgte Sydney ihr sofort und auch Diego blieb ihr dicht auf den Fersen. Sobald die Männer sie erreichten, wirbelte sie herum und begann irgendwelches wirres Zeug zu schreien, das keinen Sinn ergab. Und sie ließ sich auch nicht von Sydneys sanften Worten beruhigen. Sie wurde immer lauter.

Ich verstand es nicht. Warum tickte sie bei der Erkenntnis dass ihre Cousine noch lebte so dermaßen aus? Mein Blick glitt wieder auf den Monitor. Eigentlich war es doch eine gute Nachricht, dass sie noch lebte, oder?

Ich beugte mich ein wenig vor, sah mir das Bild genauer an, als würde ich damit eine Antwort bekommen. Dabei nahm ich zum ersten Mal den Hintergrund wahr. Ein Baum und in diesem Baum hockte jemand, oder bildete ich mir das ein? Nein, da war wirklich jemand. Ein junges Mädchen, das alles aus sicherer Entfernung beobachtete. „Fujo“, flüsterte ich und erinnerte ich mich daran, wann ich sie zuletzt gesehen hatte. Oben an der Galerie im Schlafhemd mit weit aufgerissenen Augen. Sie hatte mir etwas zugerufen. Wie hatte ich das nur vergessen können und was war es gewesen?

Angestrengt kramte ich in meiner Erinnerung, aber es war alles so schnell gegangen. Die Worte die sie gesprochen hatte, das war kein Deutsch gewesen, das war … verdammt, was hatte sie da nur gesagt?!

Cio beugte sich leicht über meine Schulter. „Hast du noch etwas entdeckt?“

Ich antwortete nicht, versuchte mich zu erinnern. Sie hatte da oben gestanden und etwas gerufen, auf … afrikanisch? Sie hatte so stark gestottert. „Auers?“

„Was?“

Das war es doch gewesen, oder? Das oder etwas Ähnliches. Ich legte die Gabel auf den Tisch und machte mich über die Tastatur her. Meine Finger schoben sich geübt über das Touchpad. Ein neues Fenster im Browser öffnete sich. Ich suchte mir einen einfachen Übersetzter aus dem Internet heraus. In verschieden Varianten gab ich das Wort ein. Meine Finger flogen dabei nur so über die Tastatur. Wenn ich eines am Computer konnte, dann war es schnell tippen. Auers. Auer. Uer. Oer. Ich gab so viele verschiedene Versionen des Wortes ein, aber keines brachte einen Treffer. „Auers“, flüsterte ich dabei vor mich in. „Auers.“ Und dann plötzlich spuckte mir der Computer eine Übersetzung des Wortes Ouers aus.

Meine Augen wurden groß. Oh Gott, dann war es also wirklich wahr. Es war alles meine Schuld.

Als meine Hände still verharrten und ich nichts weiter tat, als den Bildschirm anzustarren, beugte Cio sich ein wenig vor und las die Übersetzung. „Eltern.“

Das war der Moment, den sich dieser Keenan dafür aussuchte, nachzusehen, was wir da an seinem Laptop machten. „Hast du noch was gefunden?“

Schnell schloss ich das Fenster und sah ihn mit großen Augen an. „Nein … äh … ich hab nur etwas geguckt.“ Ich biss mir auf die Lippe. „Ähm … kann ich mir den Laptop für eine halbe Stunde ausleihen? Ich bring ihn dann auch wieder zurück.“

Cio runzelte bei meinen Worten die Stirn, schwieg aber.

„Wozu denn?“, wollte Keenan wissen.

Mist, das wollte ich ihm nicht sagen. Wenn er es wüsste, würde er mir das Gerät sicher nicht überlassen.

„Sie wollte mir ein Spiel zeigen“, warf Cio da von der Seite ein. Auf die unverständlichen Blicke der Anwesenden – meinen eingeschlossen – fügte er noch hinzu: „Sie wissen schon, so ein Browsergame. Das soll richtig gut sein.“

„Nichts da“, mischte sich Ayko verärgert ein. Seit Celine den Raum verlassen hatte, war seine Stimmung definitiv schlechter geworden. „Das hier machen wir doch nicht zum Spaß, das ist eine wichtige Angelegenheit. Was tut ihr zwei hier eigentlich?“ Er gab uns gar nicht die Möglichkeit zu antworten, da sprach er schon weiter. „Wir haben hier wichtige Dinge zu besprechen, Kinder haben dabei nichts zu suchen, also raus hier!“

Kinder? Hallo, ich war zwanzig! Das hätte ich ihm gerne vor den Latz geknallt, aber wie es nun mal so meine Art war, nickte ich einfach still.

„Heißt das jetzt, wir bekommen den Laptop nicht?“, versicherte sich Cio noch einmal.

Dafür bekam er einen echt bösen Blick. „Raus!“ Sehr nachdrücklich zeigte Ayko auf die offene Tür und uns blieb gar nichts anderes übrig, als den Rückzug anzutreten, aber das war mir im Moment egal. Viel wichtiger war jetzt die Frage, wo ich auf die Schnelle einen anderen Computer herbekam und dass ich mich daran erinnerte, was Fujo da noch gerufen hatte. Aber es war alles so schnell gegangen. Ich hatte sie nur für drei Sekunden im Blick gehabt.

Während die Gedanken in meinem Kopf rasten, bekam ich kaum mit, wie wir durch den Korridor liefen. Viel wichtiger war es jetzt herauszufinden, was Fujo gesagt hatte. Wenn meine Vermutung stimmte, beinhalteten ihre Worte den Ort, an dem meine Eltern sich im Augenblick befanden, da war ich mir sicher.

„Möchtest du deine Gedanken mit mir teilen?“, fragte Cio. „Oder vielleicht erklären, warum du so plötzlich einen Laptop brauchst?“

„Wegen dem was Fujo gesagt hat.“ Nur was war das gewesen? Ich zermarterte mir das Hirn, aber da kam einfach nichts Gescheites bei raus. Wenn ich doch nur … da kam mir plötzlich die Erleuchtung. „Kasper!“ Meine Schritte beschleunigten sich von ganz alleine, immer Richtung Küche.

„Das Frettchen?“ Er runzelte die Stirn, hielt aber locker mit mir Schritt. „Was hat er den jetzt mit dem Computer zu tun?“

„Nichts, aber ich kann mich nicht an die Worte erinnern. Kasper war auch dabei, vielleicht weiß er es ja noch.“ Das war meine einzige Hoffnung.

„Dir ist schon klar, dass du für mich gerade in Rätseln sprichst?“

„Pass auf. Ich hatte die ganze Zeit recht, es ist meine Schuld, dass meine Eltern entführt wurden. Ich …“

„Das ist doch Blödsinn“, unterbrach er mich. „Ich habe dir schon gesagt, dass …“

„Lass mich ausreden!“, verlangte ich. Und ob es nun an meinem Ton, oder an meinen Worten lag, er hielt wirklich seine Klappe. „Fujo hat es mir gesagt, als dein Vater uns heute Morgen aus dem Schloss gebracht hat. Ouers bedeutet Eltern, sie hat es mir zugerufen, aber ich weiß nicht mehr was sie noch gesagt hat. Es ging alles so schnell. Darum muss ich zu Kasper, er war dabei, vielleicht erinnert er sich daran. Und dann brauche ich einen Computer, wegen der Übersetzung.“ Ich drückte kurz die Lippen aufeinander, während die Gedanken in meinem Kopf rasten. „Die anderen Wörter müssten den Aufenthaltsort meiner Eltern bedeuten, darum muss ich sie unbedingt wissen.“ Warum ich nur nicht vorher darauf gekommen war, war mir schleierhaft. Stattdessen hatte ich meine Zeit mit Schuldgefühlen, Bluttrinken und Schlafen verplempert. Aber jetzt hatte ich einen Anhaltspunkt und diesen würde ich auch nutzen.

Cio sah mich zweifelnd an. „Und auf dieser wagen Vermutung baust du deinen Verdacht auf? Ich sag es dir ja nur ungern, aber der ist so wacklig, dass der beim kleinsten Windhauch einfach in sich zusammenbricht. Wenn du dich unbedingt schuldig fühlen willst, okay, aber …“

Als ich zu ihm herumfuhr, blieb er abrupt stehen. Wütend funkelte ich ihn an. „Diese Vermutung ist weder wage noch wacklig! Jahrelang, mein ganzes Leben lang, waren wir sicher, bis ich in den Hof gekommen bin. Ich habe mich mit Fujo über meine Mutter unterhalten, wusstest du das? Ich habe sie und ihre Sicherheit verraten und es noch nicht einmal gemerkt! Fujo muss ihrem Großvater alles erzählt haben, oder willst du das etwa bestreiten?“

„Ich sage ja nicht, dass die Möglichkeit nicht besteht, ich sage nur …“

„Das ist mehr als nur eine Möglichkeit!“, fuhr ich ihn an. „Es kann doch kein Zufall sein, dass ich im Hof war und mich mit Fujo angefreundet hab und plötzlich Ailuranthropen vor unserer Tür stehen! Ich habe sie zu meinen Eltern geführt, ohne es zu merken und jetzt muss ich einen Weg finden sie zu befreien! Dafür brauche ich Kasper und einen PC! Wenn du mir helfen willst, tu es, wenn nicht, steh mir nicht im Weg, ich habe zu tun, denn ich bin hier scheinbar die einzige, die es interessiert, was mit meinen Eltern passiert ist! Ja, ich versteh schon, im Moment haben alle viel zu tun, die ganze Situation ist scheiße, aber ich kann nicht einfach weiter tatenlos rumsitzen und nichts tun außer hoffen, wenn ich sie vielleicht finden kann, deswegen behalte deine blöden Kommentare für dich!“

Einen Moment sah Cio mich völlig regungslos an – tja, damit dass ich meine Klappe auch mal so aufriss, hätte er wohl nicht gerechnet. Nur einen Moment, dann, ganz langsam, breitete sich ein atemberaubendes Lächeln auf seinen Lippen aus, das mich schlucken ließ. „Ich hätte ja nicht geglaubt, dass du so aufbrausend sein kannst.“ Er zwinkerte mir zu. „Wie ein kleines Schäfchen. Das finde ich echt heiß.“

Ungläubig warf ich die Hände in die Luft und setzte mich wieder in Bewegung. Eigentlich hätte ich mir denken können, dass da sowas bei rauskommt. Da hätte ich mir meine Worte gleich schenken können. Cio konnte einfach nicht ernst bleiben. Diego hatte schon recht, dieser Kerl ließ sich einfach zu leicht ablenken und von Nebensächlichkeiten gefangen nehmen.

Die Essensgerüche wehten mir bereits entgegen, bevor ich die Küche betreten hatte.

Cio beeilte sich wieder an meine Seite zu kommen. „Und was machen wir jetzt?“

Wir? Hatte er mir eben nicht noch erklärt, dass ich mir das alles nur einbildete? „Ich werde jetzt mit Kasper reden und hoffen dass er sich daran erinnert, was Fujo noch gesagt hat.“ Direkt vor der Küche zögerte ich einen Moment, schließlich lief hier irgendwo noch dieses Monster auf acht Beinen herum. Aber dann gab ich mir einen Ruck. Ich war schließlich ein halber Lykaner, da sollte ich mich von so einem kleinen Krabbelvieh nicht in die Flucht schlagen lassen. Trotzdem behielt ich meine Umgebung wachsam im Auge, als ich durch den Raum strebte und mich neben Kasper auf den Stuhl fallen ließ. „Weißt du noch heute Morgen? Das kleine Mädchen auf der Galerie, das nach mir gerufen hat?“, fragte ich ihn sofort ohne Umschweife.

Er hatte in der Zwischenzeit aufgegessen und beobachtete skeptisch Shiva, die Aric ohne Punkt und Komma zu laberte. Selbst Alina schien mittlerweile von dem Mädel genervt.

„Du meinst die kleine Schwarze in dem Nachthemd?“

„Genau die.“ Ich rückte samt Stuhl ein bisschen näher und ignorierte dabei Cio, der die Arme neugierig auf meine Stuhllehne gestützt hatte, um auch ja ein Wort zu verpassen. „Bitte, du musst dich erinnern was sie gerufen hat. Es ist wirklich wichtig.“

„Scar“, sagte er sofort. „Das weiß ich noch, weil mich an den Löwen aus diesem Kinderfilm erinnert hat. Der Rest? Keine Ahnung.“ Er runzelte angestrengt die Stirn. „Irgendwas-irgendwas Scar bla bla auer, oder so.“

„Ouers“, verbesserte ich ihn.

„Ja, genau.“ Er neigte den Kopf leicht zur Seite, wobei ihm das Haar leicht in die Augen fiel – er musste es sich wirklich langsam mal wieder schneiden lassen. „Scar jo Ouers, oder so ähnlich.“

„Scar jo Ouers“, wiederholte ich. War da nicht noch mehr gewesen? Oder glaubte ich einfach nur, dass da noch mehr gewesen war? Verdammt!

„Warum willst du das wissen? Was bedeutet das?“

Das fand ich hoffentlich bald raus. Hastig stand ich auf. „Ich brauche dringend einen Computer.“ Da keiner der Flüchtlinge einen in seiner Tasche mit sich herumzutragen schien, wandte ich mich an Shiva. Sie wohnte hier, sie würde sicher wissen, wie ich an sowas rankam. „Gibt es hier sowas wie einen Computerraum?“

„Ähm …“ Sie blinzelte etwas überrascht, dass ich sie so direkt ansprach, schüttelte dann aber den Kopf. „Nein, sowas gibt er hier nicht.“

„Dann vielleicht ein Internetcafé in der Nähe?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich habe einen in meinem Zimmer. Wenn du möchtest, kannst du den benutzen.“

Das wäre nicht optimal. Ich wollte nicht, dass sie mir in der Angelegenheit über die Schulter schaute und sich vielleicht sogar einmischte. Sie … gehörte nicht zu uns. „Gibt es hier irgendwo einen Computer, den wir ungestört benutzten können?“ Ohne dich?

Sie runzelte die Stirn, aber Cio schien zu begreifen, was genau ich wollte. „Ein Laptop wäre toll“, sagte er und schenkte ihr ein hinreißendes Lächeln. „Dafür wären wir wirklich sehr dankbar. Nicht wahr Aric?“

Der Prinz blinzelte ihn nur einmal an. Er war wohl auch der Meinung, dass Cio ein wenig dick auftrug. Trotzdem sagte er: „Natürlich. Ich habe es noch nie vergessen, wenn mir jemand einen Gefallen getan hat.“

Shiva kam mir nicht sehr dumm vor. Ihr Blick glitt misstrauisch von einem zum anderen. Doch dann breitete sich auf ihren Lippen ein Lächeln aus, dass mir so gar nicht gefallen wollte. „Okay“, sagte sie. „Ich besorge euch einen. Aber dafür hab ich bei euch etwas gut. Bei euch beiden.“

Wäre ich gerade ein Wolf gewesen, hätte sich mir das Fell gesträubt. Cio jedoch blieb ganz ruhig. „Abgemacht.“

„Gebt mir zehn Minuten“, sagte sie und schob ihren Stuhl zurück. „Dann bin ich wieder da.“

Sobald sie außer Hörweite war, beugte Kasper sich zu mir hin. „Erklärst du mir, was das alles soll? Was hast du vor?“

Alina und Aric spitzten die Ohren und gaben beide ein genervtes Seufzen von sich, als ich sagte: „Ich warte jetzt auf den Laptop.“

„Und dann?“, wollte Alina wissen.

„Dann werde ich damit in unser Haus gehen, wo keine neugierigen Leute sind.“ Von den vier Nervensägen einmal abgesehen, denn die würden sich sicher nicht anhängen lassen – nicht das ich das wollte.

Jetzt bekam ich von drei Seiten ein frustrierendes Geräusch. Man, war diese Bagage neugierig.

„Und wozu das alles?“, fragte Alina sehr nachdrücklich.

„Ich habe vielleicht einen Anhaltspunkt wie ich meine Eltern finden kann.“

 

°°°

 

Kaum dass ich auf der Couch in unserem Haus saß, stellte ich mir das Notebook auf den Schoß und fuhr es hoch. Es war ein älteres Model und wirkte abgenutzt und ungepflegt, aber wenigstens funktionierte es. Ich bekam sogar eine halbwegs stabile Verbindung zum Internet.

Kaspar ließ sich links von mir nieder, Alina recht. Aric warf sich in den Sessel und Cio lehnte sich mit den Unterarmen auf die Rückenlehne, um über meine Schulter hinweg zu verfolgen, wie ich ein doch recht ungenutztes Talent von mir benutzte.

Die Übersetzung war schnell herausgefunden. Scar bedeutete Narbe, nur leider konnte ich mit diesem Wort nicht viel anfangen. Was hatte eine Narbe mit meinen Eltern zu tun? Grübelnd lehnte ich mich zurück und ignorierte sowohl die neugierigen Blicke, als auch Cios warmen Atem, der trotz meiner nun langen Haare, immer wieder meine Halsbeuge streifte.

„Vielleicht hat sie genau das gemeint, was sie gesagt hat“, überlegte Cio laut. „Scar.“

Kasper runzelte die Stirn. „Du meinst, sie wollte damit auf einen Löwen aufmerksam machen?“

Kopfschüttelnd sah Cio meinen besten Freund an. „Wie schaffst du es nur morgens aus dem Bett zu kommen, ohne dir vor lauter Dummheit alle Knochen im Leib zu brechen?“

Mäßig interessiert blinzelte Kasper. „Sorry, hab gerade nicht zugehört, meine Gedanken waren interessanter, als dein Gequatsche.“

Als Cio zum Gegenschlag ausholen wollte, hob ich mit einem „Stopp!“ meine Hand. „Egal was ihr beide für ein Problem miteinander habt, klärt das ein anderes Mal, ich muss hier nachdenken.“

Kichernd rückte Alina näher. „Aber vielleicht hat Cio recht. Lass mal überlegen. Was genau haben die Ailuranthropen mit deinen Eltern vor?“

„Sie wollen sie umbringen.“

„Ja ja“, winkte sie ab, als wäre das eine unbedeutende Kleinigkeit. „Aber gehen wir einfach mal davon aus, das Scar ein Hinweis ist, eine Ortsangabe. Gibt es einen Ort, der Scar heißt?“

Die schnellste Möglichkeit um auf diese Frage eine Antwort zu finden, war, eine schnelle Suche über eine einfache Suchmaschine und zu meinem Erstaunen gab es wirklich Treffer. Sechs um genau zu sein. Einen in Island, einen in Brasilien, dann noch ein in Kroatien, in Irland, in Kalifornien und in Indien. Und sogar der Chacalluta International Airport in Chile, wurde angezeigt, obwohl es sich mir entzog, was das mit dem Wort Scar zu tun hatte. Aber eines stand fest. „Sechs Treffer“, seufzte ich und lehnte mich nachdenklich auf meinem Stuhl zurück. Welchen dieser Orte konnte Fujo gemeint haben? Die waren alle ziemlich weit weg und schienen meiner Meinung nach auch keine Verbindung zu den Ailuranthropen zu haben. Und doch musste es einer der Orte sein, an dem Meine Eltern jetzt waren.

Nachdenklich strich Aric sich über sein Kinn. „Nach einem Menschenort zu suchen, ist vielleicht nicht ganz logisch“, warf er ein. „Ailuranthropen bleiben lieber für sich. Ich glaube nicht, dass sie sich mit deinen Eltern an einen dieser Orte absetzen würden. Es besteht einfach keine Verbindung dazu.“

Das klang logisch. „Und wo soll ich dann suchen? Ich habe keinen Zugang zum Internet der verborgenen Welt.“

„Aber ich“, sagte Alina, drehte den Laptop in meinem Schoß und tippte eine lange Zahlenkombination ein, die ihr Zutritt zu etwas zu gewährte, dass noch geheimer war als das Darknet. Vier mal musste sie die Nummer eingeben, weil sie sich immer wieder vertippte. Dann schob sie ihn wieder zu. „Da, versuch es jetzt noch einmal.“

Das was ich jetzt auf dem Bildschirm hatte, sah im Grunde aus wie eine ganz normale Website. Doch auch in diesem geheimen Netz unter dem geheimen Netzen, fand ich nicht sehr viel, denn das Schlagwort Scar führte zu keinem einzigen Treffer.

Frustriert verschränkte ich die Arme vor der Brust. Das gab es doch einfach nicht. Die Lösung war zum greifen nahe, da war ich mir sicher, aber ich kam einfach nicht drauf. „Vielleicht ist es ja auch einer von den anderen Orten“, überlegte ich laut, schließlich hatte Fujo mir das sicher nicht umsonst hinterhergerufen.

„Unwahrscheinlich“, ließ Cio mich wissen und beugte sich nun auch leicht vor. Dabei streifte er meine Schulter und ließ die Stelle angenehm kribbeln – Gott, selbst jetzt musste ich seine Nähe so überdeutlich wahrnehmen.

Sein Blick war konzentriert auf den Monitor gerichtet. „Meiner Meinung nach können wir ausschließen, dass die Ailuranthropen deine Eltern in einen Menschenort gebracht haben, dafür sind sie einfach zu eigenbrötlerisch und in der verborgenen Welt gibt es keinen Ort mit diesem Namen. Folglich suchen wir an falscher Stelle.“

So viel war mir auch schon klar. Ich verbot mir einen bissigen Kommentar und drückte die Lippen aufeinander. Cio wollte ja nur helfen.

Alina schlug die Beine übereinander. „Dann stellen wir uns doch einfach mal die Frage, was wir an der Stelle der Ailuranthropen tun würden.“

„Töten“, sagte ich bitter. „Das ist es was sie wollen.“

„Nein“, widersprach Cio sofort. „Alinas Gedankengang ist gar nicht so verkehrt. Wenn sie deine Eltern einfach nur hätten töten wollen, hätten sie es einfach bei euch in der Wohnung erledigen können, das wäre viel einfacher gewesen. Aber sie haben sich die Mühe gemacht, sie mitzunehmen und dabei noch zwei ihrer eigenen Leute verloren. Dafür muss es einen Grund geben.“

„Weil meine Mutter geschrien hat?“, warf ich einfach mal ein. „Damit hat sie schließlich das ganze Haus auf sich aufmerksam gemacht.“

„Aber sie konnte nur schreien, weil die Ailuranthropen sie nicht einfach umgebracht haben. Nein, sie wollten sie einfangen, da bin ich mir sicher. Jetzt ist natürlich nur die Frage, warum.“

Ich seufzte und rieb mir übers Gesicht. Hatten meine Augen schon die ganze Zeit so gebrannt? Ich musste trotz der paar Stunden Schlaf völlig übermüdet sein. „Ich wüsste nicht, wie uns das Warum helfen sollte.“

„Ganz einfach, wenn wir ihr Motiv kennen, dann kennen wir auch ihr Ziel. Tu mir einen gefallen und erzähl mir mal die ganze Geschichte.“

„Die ganze? Von Anfang an?“

„Von Anfang an, alles was du weißt. Warum wollen sie sie töten, warum habt ihr euch versteckt und was genau ist gestern alles passiert.“

Ich zweifelte, dass das etwas bringen würde, aber Cio hatte schon irgendwie recht. Zwei Hirne waren besser als eines und außer mir und Alina wusste hier ja niemand genau, was es mit der Entführung auf sich hatte. Vielleicht bemerkte einer von den anderen ein Detail, das mir bisher entgangen war, eine Kleinigkeit, die zur Lösung des Problems führen konnte. Also begann ich langsam und so ausführlich wie möglich alles zu erzählen, was ich von meinem Vater in den letzten Tagen erfahren hatte. Über meine Tante Lalamika, den Unfall, Dirus und dem Gegenstück Bonum.

Die drei Jungs schauten nicht schlecht aus der Wäsche, als ich ihnen von Geistern und ihrer dauerhaften Existenz um uns herum berichtete. Aric erwischte ich sogar dabei, wie er vorsichtig den Blick durch den Raum wandern ließ, als rechnete er damit, dass jeden Moment ein Geist durch den Raum schwebte und uns heimlich beobachtete. Nur Alina nahm das ziemlich gelassen hin und studierte ihre Fingernägel, um sie anschließend von überflüssigem Dreck zu befreien. Davon abgesehen, dass sie Tante Lalamika kannte, stand sie auch unglaublich auf dieses übersinnliche Zeug wie Wahrsagerei und Horoskope. Für sie war nie etwas Seltsames an dieser Geschichte gewesen.

„Und ich dachte immer“, sagte Kasper, als ich geendet hatte, „dass dein Vater sie nicht mehr alle beisammen hat, so oft wie er Selbstgespräche führt.“

„Nein, mit seinem Geisteszustand ist alles völlig in Ordnung“, erklärte ich. „Er hat dann immer mit meiner Tante geredet und glaub mir, die ist sehr real.“

„Das kann ich bezeugen“, gab Alina auch noch ihren Senf dazu.

Aric lehnte sich auf seinem Platz zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber bringt uns das jetzt irgendwie weiter?“

Langsam öffnete Kasper den Mund, als wollte er seine nächsten Worte mit Bedacht wählen. „Vielleicht wurden deine Eltern ja entführt, um alles dort enden zu lassen, wo es angefangen hat.“ Er sah von Aric zu mir. „Wie es scheint, sind diese Ailu-was-auch-immer, ziemlich abergläubisch.“ Er runzelte die Stirn. „Vielleicht wollen sie deine Mutter ja dort hinbringen, wo deine Tante gestorben ist, um, was weiß ich, das Gleichgewicht wieder herzustellen, oder so.“

Das klang ziemlich weit hergeholt, trotzdem erwischte ich mich dabei, wie ich bei seinen Worten aufhorchte.

„Das würde bedeuten“, sagte Cio, „dass sie versuchen werden deine Eltern nach Afrika in dieses Reservat zu bringen, in dem sie leben.“

„Das heißt ich muss nach Afrika?“

„Nicht so schnell“, schaltete Aric sich ein, bevor ich anfangen konnte, Reisepläne zu machen. „Jemanden außer Landes zu schaffen, noch dazu auf einen anderen Kontinent, ist nicht so einfach, wie es in Filmen und Büchern immer beschrieben wird. Ailuranthropen sind im allgemein nicht sonderlich reich, damit können wir den Flugverkehr schon mal ausschließen, denn mit einem normalen Linienflug werden sie bei den strengen Kontrollen wohl kaum zwei Leute wegschaffen können.“

„Außer die betäuben sie, verfrachten sie in Kisten und lassen sie als Ladung mitfliegen“, kam es da nicht sehr hilfreich von Alina.

„Oder sie chartern sich einfach eine Maschine bei jemanden, der nicht so genau nachfragt“, fügte Kasper nicht hinzu.

Cio schüttelte ungläubig den Kopf. „Ihr beide seht eindeutig zu viele schlechte Krimis. Aric hat doch gerade gesagt, dass sowas bei den ganzen Kontrollen nicht so einfach ist.“

„Aber ausgeschlossen ist es auch nicht“, hielt Alina dagegen.

Merkten die eigentlich nicht, dass sie es mit ihren ganzen Reden nicht viel einfacher machten?

Aric beugte sich wieder etwas vor. „Es ist nicht ausgeschlossen, da gebe ich Alina recht, aber es gibt einen viel unkomplizierteren Weg jemanden wegzuschaffen und zwar per Schiff. Weniger Kontrollen.“ Er sah einen nach dem anderen ins Gesicht. „Noch dazu weiß ich, dass die Ailuranthropen mehrere Frachtschiffe besitzen. Sie betreiben Handel mit afrikanischen Produkten. Das weiß ich deswegen so genau, weil auch meine Mutter mit ihnen handelt. Ich war sogar schon einmal auf einem ihrer Schiffe.“

Einen Moment herrschte ruhe, in dem jeder den Monitor anstarrte, als hätte er die Antworten auf all unsere Fragen.

„Das heißt wir suchen jetzt nach einem Schiff mit dem Namen Scar?“, wollte Kasper wissen.

Aric zuckte mit den Schultern. „Ist nur eine Überlegung.“

„Die Wahrscheinlichste die wir bisher haben“, sagte Cio, da hatte ich schon wieder mit dem Tippen angefangen, das meine Finger nur so über die Tastatur flogen, denn ich sah es ganz genauso. Im verborgenen Netz war nichts zu finden gewesen, also warum nicht so.

Cio beugte sich ein wenig vor. „Was machst du da?“

Da Alina für mich den Mund öffnete, konnte ich mich ganz auf den Monitor konzentrieren. „Sie nutzt ihr einzig wahres Talent.“

Seine Augen folgten meinen flinken Bewegungen. „Heckst du dich gerade in die Datenbank der Schifffahrtsgesellschaft?“, fragte er ungläubig.

Sein Ton war so fassungslos, dass ich selbst in dieser Situation darüber schmunzeln konnte. „Ich informiere mich nur über etwas, dass mich interessiert.“ So wie ich es immer tat. Als hacken würde ich es aber deswegen noch lange nicht bezeichnen.

„Ja“, sagte Alina da. „Ist ja nicht so, als würde sie mit ihrem Talent irgendwas Sinnvolles machen, wie zum Beispiel die Noten auf meinem Zeugnis verbessern.“

Das ich ihr diese Bitte damals verweigert hatte, trug sie mir immer noch nach.

„Du bist wirklich ein kleiner Nerd, was?“, fragte Cio. „Und ich hab geglaubt, du stehst einfach nur auf Computerspiele.“

„Ich bin zum Teil Vampir und erfasse logische Datengänge eben sehr schnell. Das ist nichts Außergewöhnliches. Und was deine Schulnoten betrifft, Alina, du hättest eben einfach ein bisschen mehr lernen müssen.“

„Sagt das kleine Genie und lacht sich ins Fäustchen.“

Wenn ich so ein Genie wäre, wie sie behauptete, dann hätte ich das Problem mit meinen Eltern nicht nur früher erkannt, sondern auch noch selber gelöst. Nein, ich war kein Genie von einem außergewöhnlichen IQ, ich lernte einfach nur sehr schnell und behielt solche Dinge im Kopf. Und alles was mit Computern zu tun hatte, hatte mich schon immer sehr interessiert. Vielleicht hatte Cio recht und ich war ein kleiner Nerd, aber das war mir ganz egal, denn dieses Wissen war es gerade, dass mir half die gesuchten Informationen zu bekommen. Und da ich mich nicht bei Interpol, oder dem Geheimdienst einhackte, war es gar nicht so schwer, in die Datenbank zu gelangen.

Sobald ich drinnen war, begann die eigentliche Arbeit, das durchforsten hunderter von Listen. Wem gehörte was für ein Schiff und wo lag es. Den einzigen Anhaltspunkt den ich hatte, war der Name: Scar. Aber bis ich einen Treffer hatte, musste ich verschiedene Suchdurchläufe starten. Und dann kam auch nicht ganz das raus, was ich mir erhofft hatte. Doch was mich da anblinkte, konnte bedeuten, dass ich endlich alle Worte von Fujo zusammen hatte.

„Genius Scar“, las Cio laut vor.

Kasper verzog das Gesicht leicht. „Ist das der Name des Schiffs?“

Ich überging diese Frage und vertiefte mich weiter in die Lektüre. Fahrpläne, Lagerplätze, Ladungen. Den Namen des Besitzers. „Pandu Okonjo.“

„Das ist der Name vom Anführer der Ailuranthropen von der Cross-River-Meute“, erklärte Aric uns. „Ich kenne ihn persönlich, hatte ein paar Mal mit ihm zu tun. Er war auch schon bei uns auf dem Schloss gewesen.“

Ich starrte den Namen an. Das war also der Mann, vor dem meine Mutter geflohen war und vor dem sie solche Angst hatte, dass sie sich mein ganzes Leben vor ihm versteckt hatte. Der Mann, der sie als Kind weggesperrt hatte und nun für etwas büßen lassen wollte, wofür sie nichts konnte. Pandu Okonjo.

„In welchem Hafen liegt dieses Schiff den gerade?“, wollte Cio wissen.

„Was?“

„Das Schiff, die Genius Scar, in welchem Hafen liegt die im Augenblick?“

Ja, das wäre vermutlich interessant zu wissen. Fast zwei Minuten brauchte ich, um dem Computer diese Information zu entlocken. „Im Hafen von Ponte Doria bei Genova in Italien.“

„Italien?!“, quietschte Alina. „So weit weg?“

Ich war wohl nicht die einzige, die sie wie ein Pferd anguckte. „Hast du in Erdkunde eigentlich jemals aufgepasst?“

Das schien sie jetzt richtig beleidigt zu haben. „Aber es ist ja wohl nicht direkt um die Ecke.“

„Nein“, musste ich zugeben und suchte mir dann einfach mal über eine Karte die Rute von Neuss nach Ponte Doria raus. Das Ergebnis war ernüchternd. „Knapp eintausend Kilometer.“ Ich kniff die Lippen zusammen. Wenn meine Eltern wirklich dort waren, musste ich einen Weg finden hinzukommen, um sie zu befreien, egal wie weit es weg war.

Mit diesem Gedanken beugte ich mich erneut vor, um in die Tasten zu hämmern und bekam so zwei wichtige Informationen heraus. Erstens: Wenn der Kapitän sich an den Fahrtenplan hielt, dann würde die Genius Scar in knapp sechsunddreißig Stunden vollbeladen aus dem Hafen laufen und Kurs Richtung Heimat nehmen – genauer gesagt, Richtung Afrika. Dann wären meine Eltern für mich sicher in unerreichbare Ferne gerückt.

Das zweite was ich herausfand, war, dass ich mit einem Flugzeug nur etwas mehr als zwei Stunden zum Schiffshafen brauchen würde. Doch da ich weder über einen Reisepass verfügte, noch über Geld, um mir ein Flugticket zu leisten, blieb nur die zweite Variante des Reisens: Autofahren. Über tausend Kilometer durch mehrere Länder. Laut Internet sollte das in knapp elf Stunden zu schaffen sein. Natürlich nur, wenn man die Baustellen, Staus und was einem auf dem Weg noch so in die Quere kommen konnte, nicht mit einberechnete. Aber selbst wenn ich doppelt so lange brauchen würde, wäre ich immer noch in der Zeit. Unterm Strich bedeutete das eins: „Ich brauche ein Auto und zwar jetzt.“

„Du hast doch gar keinen Führerschein“, erinnerte Kasper mich.

„Ja, aber ich habe dich und du hast einen Führerschein.“ Ich legte den Kopf in den Nacken und starrte zur Decke rauf. Hm … dieser dunkle Fleck dort oben, ich wollte gar nicht so genau wissen, was das mal gewesen ist. „Nur wo kriege ich jetzt ein Auto her?“

„Was willst du mit einem Auto?“, kam es da nicht sehr schlau von Alina.

„Nach Ponte Doria fahren, um meine Eltern zu befreien, was sonst?“

„Was sonst“, stöhnte sie.

„Wir sind doch mit zwei Wagen gekommen“, sagte Cio. „Vielleicht schaffe ich es, meinem Vater den Autoschlüssel zu klauen.“

Aric schnaubte. „Bevor dir das gelingt, tanze ich in einem Tutu Schwanensee auf der Straße.“

„Außerdem hat Keenan die Autos in der Scheune einschließen lassen“, fügte ich noch hinzu. „Da kommen wir nicht raus, ohne dass wir einen von den Rudel bitten uns zu helfen. Und das fällt aus.“

„Warum?“, wollte Alina wissen. „Wir wissen jetzt wo deine Eltern stecken. Wir können doch einfach zu Cayenne gehen und es ihr sagen. Die wird dann sicher jemanden hinschicken, um sie zu befreien.“

„Und wen?“, wollte ich von ihr wissen. „Sie hat nicht mal genug Leute, um jemanden nach Frankreich zu schicken, um nach Kiara zu suchen, da wird sie wohl kaum jemanden finden, der nach Italien geht. Nein, ich muss das selber machen.“ Es war schließlich meine Schuld, also musste ich das auch wieder in Ordnung bringen. Und zwar jetzt, bevor es zu spät war.

„Dann klauen wir eben einfach ein Auto.“ Vier paar Augen richteten sich auf Kasper, doch er schaute nur ungerührt zurück. „Das ist die einfachste Möglichkeit.“

Cio schnaubte. „Ach, und du kannst Autos knacken, oder wie?“

„Ja.“ Schlicht und ehrlich. Auf die verwirrten Gesichter hin, fügte er noch hinzu. „Ich muss mehrmals die Woche in mein eigenes Auto einbrechen und manchmal auch die Zündung ohne Schlüssel starten. Ich weiß wie das geht.“

Das war die Lösung. So konnten wir es machen.

Cio nickte anerkennend. „Hätte ich einem Frettchen ja nicht zugetraut.“

„Wenn du nicht aufhörst ihn zu hänseln, bleibst du hier“, teilte ich ihm mit, was ihn jedoch nur ein hinreißendes Lächeln entlockte.

Ich schnappte mir vom Couchtisch Papier und Stift und begann die genaue Route nach Ponte Doria aufzuschreiben. Dann löschte ich auf dem Computer alle Spuren, die darauf hindeuten konnten, was ich hier gemacht hatte, einfach weil ich nicht wollte, dass Shiva sich da einmischte.

Sobald ich den Computer ausgeschaltet auf den Tisch gestellt und den Zettel an mich genommen hatte, erhob ich mich vom Sofa. „So, wir können los.“

„Jetzt sofort?!“ Alina sah mich an, als hätte ich nicht mehr alle Tassen im Schrank.

Die Jungs folgten meinem Beispiel.

„Auf was willst du den noch warten?“, wollte ich von ihr wissen und faltete den Zettel sorgfältig zusammen. „In weniger als sechsunddreißig Stunden läuft das Schiff aus und bis dahin müssen wir meine Eltern da rausgeholt haben.“ Und wenn wir jetzt losfuhren, konnten wir bis morgen Mittag an unserem Ziel sein.

Kasper nickte, fragte aber noch: „Sollen wir jemanden Bescheid sagen, oder einfach verschwinden?“

„Einfach verschwinden“, sagte ich und machte mich auf dem Weg zur Garderobe.

„Und wenn sie uns suchen?“, fragte Alina. „Früher oder später wird sicher auffallen, dass wir nicht mehr da sind.“

„Bis dahin sind wir dann hoffentlich schon über alle Berge.“ Und wir würden ja auch zurückkommen. Nur würde ich nicht riskieren, dass jemand Cayenne oder den anderen Bescheid gab. Sie würden uns nicht gehen lassen, da war ich mir sicher. Aber ich konnte nicht mehr einfach herumsitzen. Die Zeit zum Handeln war gekommen.

Alina grinste. „Gut, da wir nun alle Fragen geklärt haben, auf ins Abenteuer!“

 

°°°

 

Müde sah ich meinem Spiegelbild entgegen und versuchte dabei den gelben Fleck am Rahmen nicht zu nahe zu kommen. Ich wusste nicht was es war und wenn ich ehrlich war, dann wollte ich es auch gar nicht wissen. Irgendjemand sollte das Bad dieser Tankstelle dringend mal putzen.

Hinter mir hörte ich Alina in einem der Toilettenkabinen lautstark fluchen. Ja, die Klos hier waren auch nicht gerade viel besser. Von der guten Laune und der Begeisterung, die ihr gestern noch aus allen Poren gelaufen war, als sie Kasper dabei zugeschaut hatte, wie er mit einem Bügel aus der Mülltonne unseren Wagen aufgebrochen hatte, war in der Zwischenzeit nichts mehr übrig.

Das ist ja so spannend.“ So aufgeregt wie Alina war, fehlte es nur noch, dass sie auf der Stelle auf und ab hüpfte. Ich dagegen fühlte mich nicht ganz wohl in meiner Haut und sah mich unruhig auf der leeren Straße um. Mein Kampfgeist und meine Entschlossenheit waren in der letzten halben Stunde ein wenig ins Wanken geraten.

Zuerst hatten wir überlegt, ein Wagen vom Rudel zu klauen, doch auf dem Gelände waren einfach zu viele Augen und Ohren gewesen, die uns auf Schritt und Tritt verfolgt hatten. Erst als wir bei unserem abendlichen Spaziergang das Gelände des Rudels verließen, war auch die Aufmerksam verschwunden, mit der uns das Rudel bedacht hatte.

Fast eine Stunde Fußweg hatten wir hinter uns gebracht, bevor Kasper sich dazu entschloss, sein Glück bei einem Wagen in einer abgelegenen Seitenstraße zu versuchen. Und während er nun versuchte den Wagen zu öffnen, wurde ich doch ein wenig nervös. Ständig glaubte ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung zu sehen. Wenn man uns jetzt entdeckte, würden wir ganz schön in Erklärungsnot geraten.

Hey du Schäfchen“, sagte Cio und legte mir ziemlich sorglos einen Arm um die Schulter. Na nu, was war denn jetzt los? Und dann beugte er sich mir auch noch sehr vertrauensvoll entgegen. „Würdest du mir einen Gefallen tun?“

Wie er das sagte, da konnte ich doch nur misstrauisch werden. „Was?“

Würdest du bitte aufhören zu gucken, als würden wir gerade ein Auto klauen und könnten dabei jederzeit erwischt werden?“

Ha ha, sehr witzig.“

Er zwinkerte mir zu. „Ich habe eben manchmal meine Momente.“

In dem Moment knackte es an dem alten, grauen Kombi und Kasper fluchte. Doch die Tür zu dem Wagen war offen. Neugierig spähte er ins Innere, ließ sich dann auf den Fahrersitz sinken und machte sich dann sofort an der Verkleidung unter dem Lenkrad zu schaffen.

Es war nicht genau das Modell, dass er selber fuhr, aber ein ähnliches. Und es war wesentlich besser in Schuss, als sein Wagen.

Aric ließ einmal wachsam den Blick über die Straße gleiten, als hätte er etwas gehört, was mich sofort wieder nervös machte. Doch da war nichts. Dann beugte er sich an Kasper vorbei in den Wagen, entriegelte die hintere Tür und öffnete sie uns. „Alles einsteigen bitte.“

Juhu!“ Und schon war Alina auf die Rückbank gerutscht.

Ich brauchte ein bisschen länger, um mich dazu zu entschließen, in den Wagen zu steigen. Genaugenommen musste mich Cio fast reinschubsen. Ja, schon klar, das war eigentlich meine Idee gewesen, aber eine Idee zu haben und diese dann auch in die Tat umzusetzen, waren eben zwei Paar Schuhe. Ich mach das für meine Eltern, sagte ich mir, atmete tief durch und rutschte zu Alina auf den Rücksitz. Cio folgte mir und schloss die Tür hinter sich, während Aric um den Wagen herum lief und auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Dann startete der Motor und auch die Fahrertür wurde zugeschlagen.

Das ganze hatte vielleicht zwei Minuten gedauert, zwei Minuten, in der ich mein Verbrecherkarriere gestartet hatte. Okay, das war ein wenig übertrieben, aber wirklich wohl fühlte ich mich hierbei trotzdem nicht.

Wo muss ich hin?“, fragte Kasper und lenkte den Wagen aus der Parklücke heraus.

Moment.“ Ich zog meinen Notizzettel hervor und reichte ihn nach vorne. Da Kasper aber gerade mit der Straße beschäftigt war, nahm Aric sich seiner an und sagte nach einer kurzen Studie des Plans: „Wir müssen zur A7.“

Das war gestern Nacht gewesen, vor knapp neunzehn Stunden, jetzt hatten wir bereits Nachmittag. Nur noch etwas über eine Stunde, dann würden wir an unserem Ziel sein, den Hafen Ponte Doria. Am liebsten wäre ich einfach durchgefahren, den mit jeder verstreichenden Minute wuchs meine Nervosität weiter an, aber Alina hatte unbedingt aufs Klo gemusst. Außerdem war Cio hungrig und Kasper waren so langsam die Beine eingeschlafen.

Bis auf unseren kleinen Abstecher zu dem kleinen Tante-Emma-Laden nach dem Aufstehen, waren wir die ganze Zeit in dieses Gefährt eingepfercht gewesen. Und ich verstand die anderen ja auch, dass sie mal eine kurze Pause brauchten. Trotzdem machte mich dieses Warten unruhig. Jede Minute die wir ungenutzt verstreichen ließen, konnte die entscheidende sein. Und unser Ziel war doch schon so nahe.

Seufzend drehte ich den Wasserhahn auf und spritzte mir das kühle Nass ins Gesicht. Ich war nicht nur nervös, ich war auch ziemlich angespannt und müde. Zwar hatten wir heute Morgen eine Rast eingelegt, um etwas zu schlafen, doch wirklich erholsam war es nicht gewesen. Und das Aufwachen erst. Irgendwann hatte Aric gestreikt. Alina war schon lange eingeschlafen und Cio dümpelte auch schon zwischen Gut und Böse. Da war Kasper auf den nächsten Parkplatz gefahren, wo wir die Rücksitze umgeklappt hatten, um uns gemeinsam in den hinteren Teil quetschen zu können. Die Nacht war, um es mal schlicht ausdrücken, einfach grauenhaft gewesen. Doch nichts im Vergleich zu dem Morgen der gefolgt war.

Da bohrte sich etwas in mein Bein und wie ich nach einem müden Blinzeln feststellen musste, war es Alinas Kralle. Vor dem Schlafengehen hatte sie sich, genau wie Aric und Cio, in einen Wolf verwandelt, damit wir hier hinten mehr Platz zum schlafen hatten. Das hieß aber noch lange nicht, dass sie sich nicht trotzdem breitmachen konnte.

Ich hatte mich nicht verwandelt. Nicht nur wegen Kasper, sondern weil ich die dumme Eigenschaft hatte, mich im Schlaf wieder in einen Menschen zu verwandeln. Auch wenn Cio sehr deutlich betonte, dass er sich nicht daran stören würde, sollte dieser Fall eintreten, hatte ich doch kein Interesse daran, nach dem Aufwachen nackt zwischen den anderen zu liegen.

Ich blinzelte erneut. Wie spät es wohl war? Jedenfalls schien die Sonne bereits durch alle Fenster in den Wagen. War aber auch nicht weiter verwunderlich. Als wir uns zum Schlafen in den Kofferraum verzogen hatten, hatte die aufkommende Dämmerung bereits den Morgen angekündigt. Doch wir waren alle so müde gewesen, dass wir keinen Meter hatten weiterfahren können, ohne Gefahr zu laufen, uns mit dem Auto demnächst um den nächsten Baum zu wickeln.

Die folgenden Stunden waren nicht sehr erholsam gewesen. Zwar wurde mir der Rücken die ganze Zeit von Cios warmem Fell gewärmt, aber ich hatte keine Decke. Außerdem war so ein Kofferraum nicht gerade sehr bequem und Alina hatte einen sehr unruhigen Schlaf. Das war nicht das erste Mal, dass sich eine ihrer Krallen in meine Haut bohrte.

Ich zog mein Bein ein wenig zurück und bemerkte dabei im Augenwinkel eine Bewegung. Kasper war auch schon wach und strich mit der Hand vorsichtig über Arics Kopf. Er kraulte ihm das weiche Fell hinter den Ohren. Und das schien er nicht erst seit ein paar Sekunden zu machen.

Meine Stirn legte sich leicht in Falten. Durch Arics Kopf war mein Gesicht verdeckt, er konnte nicht sehen, dass ich bereits wach war und ihn beobachtete. Ach Kasper. Ich hatte ihm doch gesagt, dass das nichts brachte. Warum nur konnte dieser Kerl nicht hören? Gerade war ich im Begriff den Mund aufzumachen, um ihm genau das zu sagen, als ich bemerkte, dass Arics Augen einen Spalt offen waren. Er schief gar nicht. Ähm … o-kay. Hieß das, er billigte diese Berührungen? Jetzt verstand ich gar nichts mehr. Sollte ich jetzt lieber still sein, oder die beiden auf mich aufmerksam machen?

Die Frage erübrigte sich im nächsten Moment, als Alina sich im Schlaf drehte und mir dabei mit den Krallen erneut übers Bein kratzte. „Au, verdammt!“

Aric sprang so schnell auf die Beine, dass er mit dem Kopf gegen die Decke stieß und mich böse ansah, als wäre ich schuld daran gewesen. Der Krach ließ dann auch Alina aufwachen – dieses Mädel konnte wirklich überall schlafen. Dabei streckte sie genüsslich alle Viere von sich, kratzte mich noch mal und rollte sich dann auf den Bauch.

„Ich muss mal pinkeln.“

„Das sind genau die Worte, mit denen ich morgens geweckt werden möchte“, grummelte Cio schlaftrunken hinter mir und legte seinen schweren Kopf über meine Taille, um mich müde anzublinzeln.

„Würde mir jetzt bitte jemand mit Händen die Tür aufmachen, bevor mir hier ein peinliches Malheur passiert?“, fragte Alina mit Nachdruck.

Ich wollte es tun, wirklich, nur hatte Cio da ganz anderes im Sinn. Kaum dass ich mich auch nur ein Stück bewegt hatte, kroch er halb auf mich rauf und drückte mich mit seinem ganzen Gewicht auf den Boden hinunter, um seine Nase wie ein übergroßer Hund unter mein Kinn zu schieben. „Cio“, lachte ich, über dieses unsinnige Verhalten. „Was soll das? Hör auf damit.“

Doch natürlich dachte er nicht einmal im Traum daran. Stattdessen begann er auch noch mit der Rute zu wedeln und mir über den Hals zu lecken.

Das kitzelte. Ich konnte gar nicht anders, als über dieses hündische Verhalten zu kichern. Der Kerl benahm sich immer schlimmer.

„Hallo?“, kam es da von Alina. „Toilette!“

Als Alina an der Tür kratzte, erbarmte Kasper sich ihrer, rutschte nach vorne und öffnete noch im Liegen die Tür. Alina war sofort weg und nach kurzem Zögern folgte auch Aric ihr. Langsamer und ohne jemanden dabei anzusehen.

Ich hatte in der Zwischenzeit immer noch mit Cio zu kämpfen. Langsam wurde er übermütig und als er dann versuchte seine Nase in meinen Ausschnitt zu stecken, da passierte es. Ich bekam nicht genau mit, was da geschah, nur das Kasper den Wolf im Nacken packte und von mir runter zerrte. Im nächsten Moment wich er bis an die Rückwand des Autos zurück, weil Cio sich umdrehte und mit einem bösen knurren nach ihm schnappte. Das Fell im Nacken aufgerichtet, Ohren angelegt, die Zähne gebleckt.

Cio!“, rief ich und stieß ihn zur Seite, damit ich zwischen die beiden krabbeln konnte. „Spinnst du?!“

„Ich? Was fasst der Idiot mich einfach an?“, grollte der große Wolf.

Was bitte war denn jetzt los? „Sag mal hast du schlecht geschlafen, oder was? Versuchst du noch mal ihn zu beißen, dann kannst du dich zum Teufel scheren!“

Wortlos lieferten wir uns ein Blickduell. Ich hatte immer noch keine Ahnung, was genau da in ihn gefahren war, doch es ging ja nun mal wirklich zu weit, dass er nach meinem besten Freund schnappte.

Irgendwann schnaubte er, wandte sich ab und sprang aus dem Wagen. Danach konnte ich durch die Scheiben des Wagens beobachten, wie er verärgert am Straßenrand entlang marschierte. Was sollte das den eben?

Ich drehte mich zu Kasper um, der nicht minder wütend dem Wolf hinterher sah. „Mein Vater hat mir eine Sache sehr früh beigebracht. Lykaner mögen ein Teil ihres Lebens in der Gestalt eines Menschen verbringen, aber sie sind Tiere, immer.“

Kasper sah mich nicht mal an, schaute nur weiter aus dem Fenster, wo der Wolf immer weiter in der Ferne verschwand.

Irgendwann waren wir dann losgefahren und hatten Cio unterwegs wieder eingesammelt. Er hatte sich wieder in einen Menschen verwandelt und so getan, als wäre nichts geschehen. Doch ich hatte seine Blicke bemerkt, die immer wieder zwischen mir und Kasper hin und her gewandert waren, wenn er geglaubt hatte, wir würden es nicht bemerken. Manchmal wüsste ich nur zu gerne, was in dem Kopf von dem Jungen vor sich ging. Manchmal, aber nicht im Augenblick. Denn jetzt waren meine Gedanken erfüllt mit dem was vor uns lag.

Uns blieb noch der Rest des Tages und die Nacht, um meine Eltern zu befreien. Zum Glück hatten wir die Grenze nach Italien schon lange hinter uns gelassen. Bis zu unserem Ziel war es nur noch ein Katzensprung. Ein Katzensprung, der sich wie eine Ewigkeit anfühlte.

In Alinas Kabine wurde die Spülung betätigt und dann trat meine sehr angewiderte Cousine heraus. „Ich glaube auf diesem Klo hat bereits halb Italien gesessen.“ Sie schüttelte sich. „Einfach ekelhaft.“

„Du hättest ja auch draußen ins Gebüsch gehen können.“

„Das nächste Mal mache ich das vielleicht sogar. Ist auf jeden Fall besser, als erst die ganze Klobrille mit Klopapier belegen zu müssen, bevor man sich setzten kann.“ Und dann grinste sie mich breit an. „Vielleicht krieg ich Aric ja dazu mit mir ins Gebüsch zu verschwinden.“

„Du kannst ja dein Glück versuchen.“ Ich drehte den Wasserhahn ab und wollte im Papierspender nach Tüchern greifen, doch der war natürlich leer. So blieb mir gar nichts anderes übrig, als meine Hände an der Leggins trocken zu reiben.

Alina seufzte und drehte dann den Wasserhahn auf. „Kann ich dich mal was fragen?“

„Natürlich.“

„Hat Aric mich dir gegenüber mal erwähnt? Also im positiven Sinne, so als würde er sich für mich interessieren?“

Was war das den bitte für eine Frage? „Nicht das ich wüsste.“ Ich lehnte mich mit dem Hintern gegen den Waschtisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Dabei behielt ich Alina genau im Auge. „Eigentlich haben wir nur einmal über dich gesprochen und dass war kurz nachdem ihr euch kennen gelernt habt.“

„Und was hat er da so gesagt?“ Sie fragte das so beiläufig, als würde es sie nicht wirklich interessieren, behielt den Blick stur auf ihrer Hand unter dem Wasserstrahl, doch ich sah ihr die Neugierde an der Nasenspitze an.

„Eigentlich nicht viel. Er hat mich nur gefragt, ob du auch mit ihm Blutsverwandt bist. Das war schon alles.“

Das ließ Alina seufzen. „Weißt du, irgendwie ist er seltsam. Er hat mir gesagt, dass er mich mag, weil ich so anders bin als diese ganzen Porzellanpüppchen, die sich sonst an seine Fersen heften.“ Sie drehte den Wasserhahn ab und wollte wie ich zuvor schon Tücher aus dem Spender ziehen. Aber da waren ja keine, also machte sie es wie ich. „Doch er geht auf meine Annäherungsversuche gar nicht ein. Gestern vor dem Essen habe ich ihn in mein Zimmer gelockt und ihm mehr als nur einmal die Möglichkeit gegeben, mich zu küssen. Er hat keine davon genutzt.“

„Vielleicht ist er ja schüchtern.“ Das glaubte ich zwar nicht, aber was Besseres fiel mir im Augenblick nicht ein.

Sie tat es mir gleich und lehnte sich ebenfalls gegen den Waschtisch. „Das habe ich auch überlegt, also hab ich angegriffen.“

Wie sich das anhörte, als seien wir im Krieg. „Und?“

„Er hat sich blitzschnell abgewandt und so getan, als hätte er diesen eindeutigen Versuch nicht bemerkt. Und dann hat er die Flucht ergriffen. Angeblich hatte er fürchterlichen Hunger und dann mussten wir Kasper noch holen, weil der sicher auch noch Hunger hatte. Und dann haben die beiden mich die ganze Zeit ignoriert.“ Sie seufzte wieder. „Erst in der Küche hat er mich wieder beachtet. Natürlich nur platonisch.“

Hm, das hörte sich schon komisch an. Wie ich Cio verstanden hatte, ließ mein Halbbruder doch sonst nichts anbrennen. Aber wenn man so alles zusammen nahm. „Naja, im Moment ist ja auch viel los. Vielleicht steht ihm einfach nicht der Sinn nach knutschen.“

„Ich glaub langsam, er will nur eine Freundschaft“, gab sie etwas frustriert von sich.

„Freundschaft ist doch was Gutes“, traute ich mich zu sagen und musterte sie etwas eingehender. Ihre türkisen Haare saßen nicht so perfekt wie sonst, aber das war auch schon alles. „Oder hast du dich etwa in ihn verknallt?“

„Hm, keine Ahnung. Nicht so wirklich. Er gefällt mir einfach. Aber ich ihm scheinbar nicht.“

Was sollte ich da noch sagen? In solchen Sachen war ich nicht gut. Meine Männergeschichten bekam ich ja auch nie auf die Reihe, warum also suchte sie bei mir Rat? „Naja, vielleicht stimmt die Chemie zwischen euch einfach nicht.“

„Chemie also?“Alina drehte mir ihr Gesicht zu. In ihren Augen funkelte es listig. „Aber wie es mir scheint, stimmt die Chemie zwischen dir und Cio.“

„W-was?“

„Ach komm schon, das sieht doch ein blinder mit einem Krückstock. Ihr beide hängt ständig aufeinander.“

„Wir kommen halt einfach gut miteinander aus.“ Ich stieß mich vom Waschtisch ab und strebte eilig der Tür entgegen. Diesem Gespräch musste ich mich dringend entziehen. Doch leider ließ Alina sich nicht so schnell abschütteln. Sie war schon wieder an meiner Seite, kaum dass ich das Frauenklo der Tankstelle verlassen hatte.

„Du hast dich in ihn verguckt, oder?“, fragte sie auch gleich völlig unverblümt, als wir um das Gebäude rumliefen, um nach vorne zum Shop zu kommen.

„Das ist absurd.“ Genau, immer schön abstreiten, dann würde sie mir sicher nicht auf die Spur kommen.

„Wenn du es mir nicht sagen willst, okay, aber lüg mich nicht an.“

„Ich will es dir nicht sagen“, rutschte es mir unüberlegt über die Lippen. Die Retourkutsche bekam ich prompt.

„Das war ein Eingeständnis“, grinste sie mich an. „Du hast dich in ihn verknallt.“

Mist. „Ob es nun so ist oder nicht, er hat eine Freundin und deswegen ist es egal.“

„Eine Freundin ist ein Hindernis, aber kein Grund.“

„Für mich ist das ein sehr guter Grund.“

Die automatischen Schiebetüren des Shops öffneten sich und Cio kam mit vier vollbeladenen Tüten heraus.

„Essen!“, rief Alina begeistert und lief sofort zu ihm, um sich über die Fressalien herzumachen.

Ich folgte etwas gesitteter und versuchte das Gespräch mit meiner Cousine zu verdrängen, als mir das Objekt meiner Begierde entgegen grinste.

„Ich hab dir auch was mitgebracht“, sagte er zu mir und übergab Alina eine der Tüten, bevor sie ihm noch die Finger abbiss.

Ich musterte seine Einkäufe. „Wie es scheint hast du ganz Italien etwas mitgebracht.“

Er zuckte nur die Schultern. „Dann haben wir noch etwas für die Rückfahrt.“

Etwas? Davon konnten wir sicher eine ganze Woche leben. Okay, das war übertrieben, aber sein Einkauf auch. Vier volle Tüten. „Was hast du da nur alles gekauft?“

„Mach dir mal keine Sorgen. Das ging alles auf Aydnes Rechnung.“ So wie alles während der Fahrt, weil er der einzige von uns fünf war, der Geld und eine Kreditkarte hatte. „Als Prinz kann er sich sowas leisten, der hat genug Kohle.“

„Aric war ein Prinz“, erinnerte ich ihn. „Vielleicht hast du es vergessen, aber da macht sich zurzeit jemand anderes auf dem Thron breit.“

„Ach ja, stimmt ja.“ Er runzelte angestrengt die Stirn, nur um dann gleichgültig mit den Schultern zu zucken. „Egal, jetzt ist eh zu spät.“

Tja, was sollte man dazu noch sagen?

„Komm.“ Alina hakte sich bei Cio ein, den das etwas verwirrte und zog ihn mit sich über den Parkplatz. Unser Wagen stand ganz am anderen Ende und wurde noch von den Zapfsäulen verdeckt. „Ich würde dich gerne etwas fragen.“

Oh nein, bitte nicht. Sie würde sich da doch nicht wirklich einmischen, oder? Warum fragte ich eigentlich? Das hier war schließlich meine Cousine. Panik! Ich musste etwas unternehmen, bevor es zu spät war und für mich peinlich werden konnte. „Ähm … Alina, könnte ich …“

„Pssst“, machte sie und sah wieder zu Cio auf. „Also, was ist nun?“

„Ähm … klar, frag nur.“

„Aber du musst auch ehrlich antworten, okay?“

Er grinste, „Du machst es ja ganz schön spannend.“

„Alina“, fehlte ich. „Bitte.“

Das brachte mir von Cio einen neugierigen Blick ein.

„Also“, begann das Unheil meines Lebens. „Ich habe mich gefragt, wie das mit dir und deiner Freundin so ist, mit dieser … äh … wie hieß sie noch gleich?“

„Iesha.“

„Genau, Iesha. Also, wie ist das so zwischen euch. Ich meine …“ Sie verstummte, als wir die Zapfsäulen hinter uns gelassen hatten und einen Blick auf den Wagen erhaschten. Aric hatte Kasper grob am Kragen gepackt und gegen das Auto gedrückt. Mein bester Freund wirkte wenig beeindruckt, nur etwas verärgert – also Normalzustand – doch Aric schien richtig wütend. Und seine Stimme konnten wir bis hier hin hören.

„… versuchst, kannst du was erleben!“ Er stieß ihn noch einmal grob gegen den Wagen, ließ ihn dabei los und trat dann zurück, als würde es ihn anekeln, meinen besten Freund zu berühren.

Oh oh, mir schwante böses. Kasper wird doch nicht wirklich so dumm gewesen sein, wie ich vermutete.

„Mit mir kannst du so einen Scheiß nicht machen!“, schleuderte Aric ihm noch einmal wütend entgegen, umrundete dann den Wagen und stieg auf der Fahrerseite ein. Die Tür schloss er mit einem lauten Knall.

Alina runzelte neben mir die Stirn. „Was war das denn gerade für eine Aktion?“

„Ich habe nicht die geringste Ahnung.“ Aber ich würde es herausbekommen, so viel stand fest.

Kasper war gerade dabei, seinen Pulli zu richten, als ich mit Alina und Cio im Schlepptau bei ihm ankam. Er tat so, als würde er mich nicht bemerken.

Aber nicht mit mir Freundchen. „Was war das hier gerade mit Aric?“

„Nichts weiter“, brummte er und funkelte mich an, als wäre ich an daran schuld.

„Das sah aber nicht aus wie nichts.“

Er zögerte kurz, warf einen Blick über meine Schulter und schaute dann noch finsterer, wenn das überhaupt möglich war. „Aric hat Angst davor über seinen eigenen Schatten zu springen, das ist los.“ Mit diesen kryptischen Worten drängte er sich an mir vorbei zur Fahrerseite des Wagens und riss dir Tür auf. „Raus da, ich fahre.“

Ich konnte das Schnauben meines Halbbruders bis hier her hören, dann rumste es und die Tür war wieder zu. Und nicht nur das. Es schien auch, als hätte Aric sie von innen verriegelt, so wie Kasper an dem Griff zog und anschließend gegen die Karosserie trat.

O-kay.

Ich wechselte einen vielsagenden Blick mit Alina und machte dann den Vorschlag: „Ich glaube einer von uns sollte vorne sitzen.“

„Ich mach das“, sagte meine Cousine sofort.

Ihre schnelle Zusage machte mich misstrauisch und dazu hatte ich auch guten Grund. Wenn sie vorne bei Aric saß, dann war sie ihm nicht nur näher, sie verbannte mich damit auch zusammen mit Cio auf den Rücksitz. Nicht das mich das stören würde, ich fuhr gerne neben Cio, doch was mich daran störte, waren ihre Hintergedanken.

Zum protestieren kam ich aber nicht mehr. Kaum hatte sie es gesagt, kletterte sie auch schon auf den Beifahrersitz.

Cio musterte sie. „Also manchmal ist deine Cousine wirklich seltsam.“

„Hast du eine Ahnung“, seufzte ich und sah zu Kasper hinüber, der sich durch das Fenster ein Blickduell mit Aric lieferte. „Steig jetzt einfach hinten ein, wir haben keine Zeit für diese Kindereien. Ihr könnt später klären, was auch immer es da zu klären gibt.“ Ich öffnete die Wagentür und nahm in der Mitte auf dem Rücksitz Platz. Cio verstaute noch einen Großteil seiner Einkäufe im Kofferraum und rutschte dann neben mich. Erst dann ließ Kasper sich dazu herab, auf meiner anderen Seite Platz zu nehmen. Dabei stieß er seine Knie beim Schließen der Tür mit voller Absicht in den Vordersitz.

Aric funkelte ihn durch den Rückspiegel an, griff dann nach unten und rückte den Sitz ruckartig nach hinten, sodass er Kaspers Beine einklemmte.

Mein bester Freund fluchte sehr einfallsreich und versuchte den Sitz dann mit den Armen wieder nach vorne zu drücken. Klappte natürlich nicht.

„Sag mal, kriegt ihr zwei euch jetzt mal langsam wieder ein?“, fragte Alina. „Ihr benehmt euch schlimmer als kleine Kinder.“

„Ich hab jedes Recht mich so zu benehmen, nachdem was er getan hat!“, verteidigte sich Aric.

Kasper schnaubte. „Fass dir mal an die eigene Nase.“

Ich runzelte die Stirn. „Was ist denn nur los?“

„Nichts“, kam es von den beiden gleichzeitig, was den Ärger auf den anderen bei ihnen natürlich weiter schürte. Einen Moment funkelten sie sich durch den Rückspiegel an, dann murmelte Aric etwas Unverständliches, rückte seinen Sitzt wieder nach vorne und startete den Motor.

Ich warf meinem besten Freund einen scharfen Blick zu, als wir vom Parkplatz der Tankstelle rollten, doch er bemerkte es nicht, da er stur mit verschränkten Armen aus dem Seitenfenster starrte.

Hilflos wandte ich mich zu Cio um, doch der zuckte nur die Schultern und kramte dann in der Tüte zwischen seinen Beinen herum. Als er dort nicht fand wonach er suchte, beugte er sich über den Rücksitz, um an die Tüten im Kofferraum zu gelangen. Dabei kam er mir so nahe, dass ich das Gesicht abwenden musste, um nicht in Versuchung zu kommen, es an seiner Brust zu vergraben. Und natürlich entging mir auch nicht der verführerische Streifen nackter Haut, unter dem hochgerutschten Pullover, über den ich so gerne einmal gestrichen hätte. Verdammt, was war im Moment nur mit mir los? Seit gestern schienen meine Hormone bei seinem Anblick völlig verrückt zu spielen.

Das war nicht gut.

Das war ganz und gar nicht gut.

Ich war wirklich richtig im Arsch.

„Hier“, sagte Cio dann triumphierend und ließ sich dann wieder neben mir in den Sitz rutschen, um mir grinsend eine Tüte Gummibärchen vor die Nase zu halten. „Die sind für dich.“

So wie er lächelte, sah ich mich gezwungen zurück zu lächeln. Auch wenn mir gerade nicht nach Gummibärchen war, die Geste war nett und deswegen nahm ich ihm die Tüte aus der Hand und ließ sie in meinen Schoß sinken. Er hatte beim Einkaufen an mich gedacht. „Danke.“

Cio sah missbilligend auf die kleine Tüte. „Die waren nicht als Anschauungsmaterial gedacht, sondern zum essen.“

„Ich hab gerade keinen Hunger.“ Und außerdem befürchtete ich, dass mir das süße Zeug im Moment auf den Magen schlagen würde. Die anderen wären bestimmt nicht begeistert, wenn ich eine Runde Rückwärts-essen spielen würde, um die Vordersitze hübsch um zu dekorieren. Genau wie der vermeidliche Besitzer dieses Wagens. Ja, wir hatten ihn geklaut, aber wir hatten auch vor, ihn vollgetankt zurückzubringen. Unbeschädigt, wenn es möglich war.

Jetzt sah Cio richtig finster drein. „Du willst schon wieder nichts essen? Du hast auch schon vorhin das ganze Zeug verweigert.“

„Ich hab eben keinen Hunger.“ Mit den Fingern zupfte ich an der Ecke der Gummibärchentüte. Neben dem Rauschen des Straßenverkehrs, war es das einzige Geräusch im Wagen. „Außerdem habe ich doch gestern getrunken.“

„Und das reicht dir als Misto?“

Nein, das tat es eigentlich nicht. Deswegen fühlte sich mein Nicken wohl auch wie eine grässliche Lüge an. Sei ehrlich mit mir, hintergeh mich nicht wie es die anderen getan haben. Bitte lüg mich nie wieder an. Super, jetzt bekam ich unter seinem skeptischen Blick auch noch ein schlechtes Gewissen. „Nein, okay, es reicht mir eigentlich nicht, aber wenn ich nur dran denke etwas zu essen, dreht sich mir schon der Magen um. Ich …“

„Bist du etwa schwanger?!“, kam es da erleuchtend von Alina.

Erst sahen die drei Kerle fassungslos zu meiner Cousine und dann fühlte ich mich ihren Blicken ausgesetzt.

Okay, manchmal hatte ich sie so lieb, dass ich sie am liebsten so lange an meine Brust gedrückt hätte, bis sie blau anlief und Schnappatmung bekam. „Um schwanger zu sein, müsste ich hin und wieder Sex haben, da heilige Befruchtung wie bei Maria bei mir sicher nicht funktioniert.“

Durch Arics Unaufmerksamkeit, schnitt er einen anderen Wagen. Es wurde gehupt und er verriss vor Schreck beinahe das Lenkrad. Dann schrie ihm der andere Fahrer auf Italienisch etwas zu, das sich nicht gerade nach einem netten „Willkommen in unserem Land“ sondern eher nach einem „Scheiß Touristen!“ anhörte.

„Also bist du nicht schwanger?“, ging Alina noch mal sicher, als hätten wir nicht gerade fast einen Unfall gebaut.

Ich funkelte sie an. Wie kam dieses Mädel nur immer auf so absurde Ideen? „Nein, definitiv nicht.“

„Hm“, machte sie, und dann ging ihr wohl ein Licht auf. „Ach nee, wenn man schwanger ist, dann schaufelt man das Essen ja nur so in sich rein.“

Seufzend lehnte ich mich zurück und schloss die Augen. Wenn das hier alles vorbei war, bräuchte ich dringend ein paar Tage Urlaub von Alina. Oder ich würde mir einfach ein extra großes Pflaster besorgen, um es ihr über den Mund zu kleben.

Doch langsam wurden meine Gedanken wieder von etwas anderem eingenommen. Je näher wir unserem Ziel kamen, desto weiter rückten sie und ihre unpassenden Überlegungen in weite Ferne. Jeder Meter den wir fuhren, machte mich nervöser. Alle paar Minuten huschte mein Blick zu der Uhr im Armaturenbrett und langsam machte sich auch bei den anderen Anspannung breit.

Als wir am frühen Abend endlich die Hafenstadt Genova in Italien erreichten, krallten sich meine Hände in die Polster der Vordersitze. Mein Blick ging unruhig durch die Frontscheibe, nahmen den Anblick der Stadt in sich auf.

Hier irgendwo waren meine Eltern, auf der Genius Scar. Ich war ihnen so nahe, ich wusste es einfach. Und je näher wir dem Hafen Ponte Doria kamen, desto sicherer wurde ich mir.

„Hey.“ Cio legte mir eine Hand aufs Knie. „Ganz ruhig.“

„Ich bin ruhig.“ Okay, diese fette Lüge musste ich nicht mal aufklären, jeder wusste, dass es nicht stimmte. Wie sollte ich auch jetzt noch ruhig bleiben, wo wir dem Ziel so nahe waren?

„Wie gehen wir weiter vor?“, wollte Aric wissen und bog von der Schnellstraße auf die Calata della Chiappella ein, die uns direkt zum Ponte Doria brachte. Große Parkplätze voll mit LKWs die ihre Ladung hier loswerden wollten. Ich sah das Meer, sah die Schiffe, doch die Genius Scar, die sah ich nicht. Was wenn sie doch schon aufgelaufen war? Was wenn ich zu spät kam?

Cio drückte erneut mein Bein, als würde er spüren, wie ich mich immer weiter anspannte. Jede Faser meines Körpers schien zum zerreißen gestrafft und es wurde auch nicht besser, als Aric den gestohlenen Wagen auf den kleineren der Parkplätze lenkte.

„Wir sollten uns ein wenig umsehen“, beantwortete Cio Arics Frage und ließ genau wie ich den Blick über unsere Umgebung wandern. Überall lag dreckiger Schneematsch. „Das letzte Tageslicht noch nutzen, um zu wissen, was zu tun ist. Solange es hell ist, können wir eh nichts machen.“

Kasper runzelte die Stirn. „Du willst dich im dunklen auf das Schiff schleichen?“

„Ich bin ein Umbra“, grinste Cio. „Nur noch etwas mehr als ein Jahr, dann lege ich meine Prüfung ab. Die Dunkelheit ist mein Element. Da kann ich besser arbeiten.“

Aric schaltete den Motor ab und öffnete auf seiner Seite die Tür. „Na dann lasst uns das Tageslicht noch nutzen und die Umgebung checken.“

„So mag ich das“, sagte Cio und tat es ihm gleich.

Ich musste noch einmal tief durchatmen, dann folgte ich ihnen.

 

°°°°°

Genius Scar

 

Da war sie, direkt vor uns, die Genesis Scar. Hoch ragte sie in den nächtlichen Himmel, beladen mit Containern, still im Mondschein. Alles war ruhig. Nur das Rauschen der Wellen, die gegen das Schiff und den Steg schlugen, machten in dieser Nacht Geräusche. Und mein Herzschlag, der so laut in meinen Ohren pochte, dass das Wellenrauschen dabei fast unterging.

In den Schatten der Container drückte Cio seinen Körper beruhigend an mich. „Ganz ruhig“, raunte er in meinen Gedanken, als fürchtete er, jemand könnte uns hören. Doch wir waren alleine. Er, Aric und ich. Kasper und Alina waren am Wagen geblieben. Kasper war nur ein Mensch und Alina konnte sich aufgrund ihrer fehlenden Pfote nicht schnell bewegen. Es war einfach sicherer, dass wir sie zurückgelassen hatten.

Im Schatten neben mir stellte Aric die Ohren auf, um jedes noch so kleine Geräusch in dieser Nacht einfangen zu können. Doch wir waren alleine, keine andere Seele trieb sich zu dieser nächtlichen Stunde hier am Hafen herum, auf dem in jedem Schatten Bewegungen zu lauern schienen.

Auch auf dem Schiff schien sich niemand zu befinden, zumindest nicht im Augenblick. Doch das täuschte. Der Geruch von Ailuranthropen wehte mit der salzigen Meeresluft zu mir hinunter. Auch wenn wir sie im Moment nicht sehen konnten, sie waren da und das war der Grund, warum wir noch hier unten im Schatten des roten Containers kauerten, anstatt uns schon auf dem Schiff umzusehen.

Sie sind vermutlich alle unter Deck“, ließ Aric uns wissen und sah zu der Rampe, die das Schiff mit dem breiten Steg verband.

Meint ihr sie schlafen?“, wollte ich wissen.

Cio wiegte den Kopf skeptisch hin und her. „Ein paar sicher, aber nicht alle.“ Er erhob sich, streifte mit seinem braunen Fell wieder das meine und hielt den Blick dabei auf einem beleuchteten Bullauge gerichtet. „Sicher werden sie die Ladung die ganze Nacht bewachen. Deswegen macht es wohl auch keinen Sinn, wenn wir noch länger warten. Wir müssen nur leise sein.“

Leise könnte ein Problem werden, so laut wie das Herz in meiner Brust trommelte. Trotzdem erhob ich mich, den Blick wachsam auf das Schiff gerichtet und folgte Cio und Aric, als die beiden sich geduckt in Bewegung setzten.

Wir huschten von einem Schatten zum nächsten. Unsere Krallen klickten unnatürlich laut auf dem Beton. Vielleicht kam es mir aber auch nur so vor, weil die Angst vor Entdeckung, bevor ich meine Eltern dort rausholen konnte, mich fest in seinen Klauen hielt.

Noch einen Container weiter, dann erstreckte sich vor uns die offene Fläche des Stegs, den wir überbrücken mussten, um auf das Schiff zu gelangen.

Cio stupste mir mit der Nase gegen die Wange, schaffte es aber auch damit nicht, meine Anspannung zu lösen. „Bist du sicher, dass du nicht lieber hier warten möchtest? Wir können auch ohne dich gehen.“

Nein.“ Mein Blick glitt von der Rampe zu den Containern. Waren meine Eltern vielleicht in einem von ihm gefangen? Oder hatten die Ailuranthropen sie unter Deck gebracht? „Ich muss das tun. Es ist meine Schuld, dass sie hier sind.“

Niemand kann etwas dafür. Der einzige Schuldige hier ist der Aberglaube“, sagte Aric ruhig, sah sich dann noch einmal wachsam um und huschte dann ohne auf uns zu warten, über die Freifläche, die keine Deckung für uns bot.

Ich wartete nicht auf Cio, folgte ihm einfach, rannte in geduckter Haltung über den dunkeln Steg auf die Rampe zu, an dessen unteren Ende Aric auf uns wartete und vorsichtig zum Schiff hinauf spähte. Der Wind des Meeres zerzauste mir mein Fell und die Gischt der Wellen konnte ich auf meiner Schnauze spüren.

Es war ziemlich windig, fast schon stürmisch, doch das Schiff lag halbwegs ruhig auf dem Wasser.

Cio drängte sich an der Rampe an uns vorbei und übernahm die Führung. Er huschte fast lautlos die Brücke hinauf und spähte oben an der Reling vorsichtig um die Ecke. „Die Luft ist rein“, ließ er uns wissen und im nächsten Moment war er auf dem Schiff verschwunden.

Aric und ich machten, dass wir schnell hinter ihm herkamen. Erst als ich neben meinem Halbbruder die Rampe verlassen hatte, bemerkte ich, dass das Schiff doch nicht so still lag, wie es auf den ersten Blick erschien. Leichte Bewegungen ließen es unter meinen Pfoten ein wenig schwanken. Ich drückte mich leicht gegen Aric, als ich den ersten zögerlichen Schritt auf das Schiff machte. Cio war schon zwischen den Containern verschwunden. Ich wusste genau wo er war, sein Geruch hing noch in der Luft.

Wir teilen uns wohl besser auf, dann können wir das Schiff schneller absuchen“, flüsterte Aric. „Ich gehe zu den Kajüten und du suchst mit Cio zwischen den Containern.“

In Ordnung.“

Mit einem „Sei vorsichtig“ huschte er davon.

Ich zögerte noch einen Moment, horchte auf Geräusche, aber weiterhin blieb nur das Rauschen des Meeres bestehen. Dieser Kahn wirkte schon fast wie ein Geisterschiff, so leer war es und obwohl ich am liebsten einfach kehrt gemacht hätte, setzte ich leise eine Pfote vor die andere. Erst als ich mich halbwegs sicher zwischen den Containern verbergen konnte, atmete ich etwas auf. Hier würde man mich nicht so schnell entdecken.

Ich horchte noch einmal auf die Geräusche der Nacht, dann begann ich damit die Witterung in mich aufzunehmen, filterte die Gerüche in meiner Nase. Ailuranthrop. Dieser Geruch war so eindeutig, wie die Tatsache, dass ich jetzt mitten in Italien auf einem Schiff stand und nach meinen Eltern suchte. Der Geruch wurde begleitet von einer Vielzahl Noten, von denen ich nicht alle zuordnen konnte, aber weder der von meiner Mutter, noch der von meinem Vater waren darunter.

Doch das hatte gar nichts zu bedeuten. Wenn sie schon eine Weile auf dem Schiff waren, konnte es durchaus möglich sein, dass ihr Geruch von dem starken Wind einfach weggetragen worden war. So begann ich mich in Bewegung zu setzten, schnüffelte auf dem Boden, an jedem Container, sah vorsichtig um die nächste Ecke, bevor ich meinen Weg fortführte.

Das Holz unter meinen Pfoten war feucht und nass vom Schnee. An manchen Stellten war die Feuchtigkeit zu kleinen Eisstellen gefroren. An einer Stelle schlich ich um eine große Schmierpfütze herum, um an den blauen Container dahinter zu kommen, doch auch hier nahm ich weder den Geruch von Leben wahr, noch konnte ich Geräusche aus dem Inneren hören.

Mein Blick glitt an dem Kasten hinauf, zu den beiden die darüber gestapelt worden waren. Wenn meine Eltern nun in einem dieser Behälter weiter oben saßen, wie sollte ich sie da finden? Ich könnte mich verwandeln und rufen, oder einfach nach ihnen jaulen, aber das würde sofort die Aufmerksamkeit der Besatzung auf uns ziehen. Das war also keine Option. Ich musste mich einfach mehr anstrengen, um auch jede noch so kleine Note in dieser salzigen Luft zu riechen.

Minuten der Suche vergingen. Mehr und mehr. Über mir schallte der Schrei eines Seevogels und ließen mich zusammenschrecken. Gott! Das hatte meinem Herz nun definitiv nicht gut getan. Nun war ich vorsichtiger, sodass schon das kleine Plätschern des Wassers mich zucken ließ. Doch so sehr ich mich auch bemühte, an wie vielen Containern ich auch schnüffelte, ich konnte meine Eltern einfach nicht finden.

Und wenn sie nun gar nicht hier waren? Wenn ich mich geirrt hatte? Nein, sie mussten hier sein! Ich durfte mich meinen Zweifeln nicht hingeben. Fujos Worte, der Besitzer dieses Schiffes, das alles passte zu perfekt zusammen, als nur ein großer Zufall sein zu können. Leider wurde ich mit jedem weiteren Container, den ich erfolglos untersuchte, unsicherer und nervöser. Je länger wir auf diesem Kahn blieben, desto höher war die Möglichkeit einer Entdeckung, aber ich konnte nicht einfach so gehen, nicht ohne Mama und Papa.

Nein ich würde nicht aufgeben, auf keinen Fall. Sie waren hier, da war ich mir sicher. Sie mussten hier sein. Ich musste sie nur finden. Entschlossen schlich ich zu dem nächsten Behälter, einem blauen, habverrosteten Ungetüm, doch meine Nase sagte mir bereits bevor ich mich an den Türen aufgestellt hatte, dass ich hier nicht fand wonach ich sichte. Frustriert ließ ich mich wieder auf alle Viere sinken, trabte zu dem nächsten Container und zu dem nächsten. Und noch einen.

Überall roch es nach den Katzenwandlern. Irgendwann senkte ich die Nase auf den Boden, in der Hoffnung, so eine Spur zu finden und da stieg mir auf einmal die Note einer Frau in die Nase. Nur ganz schwach und kaum zu erkennen, doch es war eindeutig, dieser Geruch gehörte einem weiblichen Ailuranthropen!

Neue Hoffnung erfüllte mich, als ich der Spur eilig folgte. Sie war so schwach, dass ich nicht genau erkannte, ob es meiner Mutter war. Das einzige was sicher war, sie gehörte einer Frau.

Ohne zu gucken, was mich dahinter erwartete, bog ich um die nächste Ecke, und machte vor Schreck einen Satz rückwärts gegen den nächsten Container, als mir der Geruch des Wolfes wie ein Hammer entgegen schlug. Es gab ein lautes, metallisches Geräusch, das sicher über den ganzen Kahn zu hören war. Mein Herz hämmerte wie wild, als mir klar wurde, dass der Wolf Cio war. Nur Cio, also kein Grund zum Ausflippen.

Er beachtete mich nicht, hatte nur die Ohren aufgestellt und lauschte in die Nacht, in der Befürchtung, dass uns jemand gehört haben könnte, doch zu meinem Glück blieb alles still. Erst als er ein erleichtertes Seufzen ausstieß und langsam auf mich zukam, wagte ich es wieder zu atmen.

Du musst vorsichtiger sein“, tadelte er mich und rieb mit der Schnauze über meine.

Tut mir leid. Ich hab mich nur erschrocken.“

Hast du dir wehgetan?“ Prüfend musterte er die Seite, mit der ich gegen den Container gedonnert war.

Ich schüttelte den Kopf. „Höchstens ein blauer Fleck. Hast du schon was gefunden?“

Nein.“ Er ließ seinen Blick über den Containerwald gleiten, der den Großteil des sternenübersäten Nachthimmels verdeckte. „Ich suche noch, aber …“ Er richtete seinen Blick auf mich. „Zaira, vielleicht sind sie gar nicht hier. Es sieht zumindest nicht so aus und …“

Doch, sie sind hier!“, fiel ich ihm sofort ins Wort. „Sie müssen einfach hier sein, verstehst du?“ Denn ansonsten wäre alles umsonst. Ich hatte keine anderen Anhaltspunkte. Nur dieses Schiff.

Cio seufzte. „Aber wenn sie es nicht sind, das … du solltest dich einfach mit dem Gedanken vertraut machen.“

Ich wandte den Blick ab. Das wollte ich nicht hören.

Hey.“ Er trat näher und schmiegte seinen Kopf an meinen. „Ich sag doch nicht, dass wir aufgeben werden. Ich sag nur was sein könnte. Ich werde noch weiter suchen, genau wie du und Aric, und sollten wir sie wirklich nicht finden, setzten wir uns halt wieder zusammen und überlegen uns etwas anderes, okay?“

Ich nickte, auch wenn ich die unterschwellige Botschaft in seinen Worten verstand. Wir waren schon über eine halbe Stunde auf diesem verdammten Schiff und hatten noch nicht den kleinsten Hinweis auf meine Eltern entdeckt. Und mit jeder weiteren ergebnislosen Minute des Suchens, wurde es unwahrscheinlicher, dass wir sie hier finden würden.

Okay.“ Cio stupste mir noch einmal gegen die Schnauze. „Such du hinten am Heck des Schiffes weiter, da war ich noch nicht. Ich übernehme die Steuerbordseite.“

Ich nickte.

Und mach dir keinen Kopf, wir werden sie schon finden. Wenn nicht hier, dann eben woanders.“

Und wo bitte?!, hätte ich am liebsten gefragt, doch ich schwieg einfach.

Zaira, sieh mich an.“

Seufzend kam ich seiner Aufforderung nach. In der Dunkelheit war Cio fast unsichtbar. Es hatte weniger etwas mit der Farbe seines Fells zu tun, als vielmehr mit seinen Fähigkeiten als Umbra. Und wie der Wind ihm durch Fell strich, er wirkte wunderschön.

Lass den Kopf nicht hängen und sei vorsichtig.“

Werd ich sein.“ Nach dem Schrecken eben doppelt so vorsichtig wie bisher.

Ohne ein weiteres Wort wandte ich mich ab und verschwand aus seinem Blickfeld, um zu den Containern am Heck zu kommen.

Irgendwie lief das hier bisher überhaupt nicht, wie wir es geplant hatten. Als wir am Abend das Gelände erkundet hatten, die Sicherheitsvorkehrungen und das Schiff nur von Weiten sahen, hatte es alles so einfach gewirkt. Nur auf das Schiff kommen, meine Eltern befreien und dann schnell wieder weg. Doch jetzt sah alles so anders aus.

Das Heck hatte ich vorhin schon von Weitem gesehen, als es von einem Kran beladen worden war. Zwischen den Containern in der Mitte und denen ganz hinten waren mehrere Meter freie Fläche, auf die ich nun zuschlich. Immer nahe an den Containern, verborgen in ihren Schatten, wie Cio es mir erklärt hatte. Dabei achtete ich sorgsam darauf, dass ich keine Geräusche machte, die die Ruhe des nächtlichen Schiffes stören konnten. Jedes Behältnis an dem ich dabei vorbei kam, wurde von mir genauestens unter die Lupe genommen, aber wie schon bei den anderen fand ich einfach nicht wonach ich suchte. Und mit jedem erneuten Fehlschlag, sank meine Zuversicht.

Vielleicht waren meine Eltern ja in keinen von diesen übergroßen Metallkisten, vielleicht waren sie ja wirklich unter Deck und Aric befreite sie gerade. Dieser Gedanke schien mir so viel realer, als meine sinnlose Suche hier draußen und einen Moment war ich versucht, die Container am Heck zu ignorieren und zum Bug des Schiffes zu laufen. Doch was wenn ich mich irrte und sie dort hinten waren?

Es ging nicht anders. Wenn Aric sie fand, dann würde ich es später erfahren, doch jetzt sollte ich mich erst mal an den Plan halten. So schlich ich weiter, huschte von Schatten zu Schatten, bis der Metallwald ein abruptes Ende nahm.

Vor mir erstreckten sich mehrere Meter freier Fläche. Wenn mich da jemand erwischte, gab es für mich keine Chance schnell irgendwo in Deckung zu gehen. Daher lauschte ich sehr angestrengt auf verdächtige Geräusche, hielt meine Nase in die Luft, doch nur die Witterung der starken Meeresbrise konnte ich in mich aufnehmen.

Vorsichtig setzte ich eine Pfote auf dem Containerwald hinaus, richtete meinen Blick aufmerksam nach rechts, doch da war nur gähnende Leere. Alles ruhig. Zur Sicherheit drehte ich meinen Kopf auch noch nach links und das war der Moment, in dem ich einfach erstarrte.

Direkt vor mir, fast Nase an Nase stand ein ziemlich großer und mehr als erstaunter Leopard. Verdammt, warum hatte ich den nicht bemerkt? Ganz einfach, weil der Wind seine Witterung in die andere Richtig trieb und er sich verflucht noch mal sehr leise bewegen konnte!

Sekundenlang starrten wir uns einfach nur an, Sekunden in denen das Blut in meinen Ohren rauschte und mit das Herz fast bist in die Kehle hüpfte.

Und dann schien er sich von meinem Anblick zu fangen. „Was hast du hier zu suchen?“, fragte er mit einer äußerst menschlichen Stimme. Im Gegensatz zu Werwölfen, sprachen Ailuranthropen nicht in Gedanken und so wäre es mir auch nicht möglich gewesen zu antworten, selbst wenn ich gewollt hätte. In diesem Moment ging mir nur ein Gedanke durch den Kopf: Erwischt!

Ohne näher darüber nachzudenken, machte ich auf dem Absatz kehrt und rannte zurück in den Containerdschungel.

„Hey!“, rief mir der eindeutig männliche Leopard hinterher. „Bleib stehen!“

Den Teufel würde ich tun. Ich musste hier weg und zwar ganz schnell. Meine Pfoten rutschten über den Boden, als ich eilig um eine Ecke lief. Nur mit Mühe konnte ich mich auf den Beinen halten. Jetzt noch hinzufallen, würde mir wirklich noch fehlen.

„Wirst du wohl anhalten!“, rief mir der Leopard verärgert hinter. Er hatte die Verfolgung aufgenommen und kam mit großen Sätzen immer näher.

Mein Herz trommelte vor Panik. Wenn die mich erwischten, würde es mir dann so ergehen wie meinen Eltern? Wenn sie mich gefangen nahmen, oder gar töteten, konnte ich sie nicht mehr befreien. Oh Gott, was hatte ich mir nur dabei gedacht auf diesen Kahn zu kommen?!

„Bleib endlich stehen, sonst werde ich gleich echt sauer!“

Ich tat es nicht, rannte weiter so schnell wie meine Pfoten mich tragen konnten. Nach links, rechts, rechts, wieder Links. Weg, nur weg. Mein Atem ging keuchend und als ich um die nächste Ecke rannte, rutschte ich auf einer vereisten Stelle aus. Meine Pfoten fanden keinen Halt mehr. Ich schlitterte, überschlug mich einmal und wurde dann von einem Container abgebremst. Der Aufprall entlockte dem Metallkasten nicht nur ein überlautes Gong, sondern mir auch einen schmerzhaftes Jaulen.

Der Leopard kam um die Ecke gesaust, sah mich am Boden liegen und gab noch einmal Gas.

Ich sprang so schnell es mir möglich war auf die Beine, wollte weiterrennen, fort von der Katze, fort von diesem Schiff, doch zu meinem Schrecken stand da plötzlich ein weiterer Leopard. Ein wenig kleiner, aber genauso muskulös. Und ganz auf mich konzentriert.

„Was haben wir denn da gefunden?“, fragte eine weiche Männerstimme und trat langsam auf mich zu.

Ich wich zurück, wollte wegrennen, aber ich war eingekesselt. Überall Container und links und rechts die Großkatzen mit dem getupften Fell. Hinter mir war auch alles dicht. Ich kam hier nicht weg, sie hatten mich.

„Ich habe sie hinten am Heck entdeckt“, sagte der größere Kater und schlich einen Schritt auf mich zu. „Sie hat mich ganz schön zum Narren gehalten.“

„Na dann wollen wir doch mal herausfinden, was so ein neugieriges Wölfchen hier bei uns zu suchen hat.“

Wie er das sagte und das Funkeln in seinen Augen, machten mir richtig Angst. Mein Herz schlug viel zu schnell und mein Puls raste in meiner Panik. Hektisch huschte mein Blick von einem zum anderen. Sie kamen immer näher. Was würden sie tun? „Cio!“, rief ich in meiner Angst und schmiss den Kopf in den Nacken, um nach ihm zu heulen. „Aric!“ Sie mussten mich einfach hören, sie mussten mir helfen!

Der kleinere Leopard stutzte, sah in meine vor Angst geweiteten Augen. Er musste meine Panik riechen und das Funkeln in seinem Blick zeigte mir, dass er sich daran weidete. „Was soll das?“, fragte er mich argwöhnisch. „Hast du etwa …“ Er verstummte, als er die nahen Schritte hörte, nur einen Moment, bevor ein wütender Wolf direkt in ihn reinrannte und ihn gegen den nächsten Container schleuderte.

Cio.

Der Kater fauchte ihn wütend an, während Cio langsam rückwärts zu mir ging und dabei keinen von den beiden aus den Augen ließ.

„Das reicht“, knurrte der kleine Kater und sprang zurück auf die Beine. „Das wirst du büßen.“

Ach, hab ich dem kleinen Kätzchen etwa weh getan?“ Er drängte mich mit dem Hinterteil weiter zurück, bis ich zwischen ihm und dem gelben Container eingeklemmt war.

Der Große schlich etwas näher, war jetzt aber vorsichtiger. Offenbar merkte er, dass von Cio eine größere Gefahr ausging, als von mir. „Ihr wisst, dass ihr hier nicht zu suchen habt? Das was ihr hier tut ist Hausfriedensbruch und …“

„Lass den Quatsch!“, fauchte der andere Kater und drängte seinen Kumpel grob zur Seite. „Der kann jetzt was erleben!“

Oh, hab ich deinen Stolz etwa angekratzt?“ Cio richtete die Ohren auf und warf dem wütenden Kerl einen äußerst überheblichen Blick zu. Er wusste ganz genau, dass keiner der Beiden verstehen konnte, doch Körpersprache erzählte auch sehr viel und die beiden merkten, dass er sie verspottete.

„Na warte.“ Er machte einen Satz nach vorne, fauchte und schlug mit der Pfote nach Cios Schnauze, doch der wich geschickte aus, stieß mich dabei weg und schenkte dem Kater ein Wolfsgrinsen.

Zu langsam.“

Der Kater sprang, aber da war Cio schon wieder einen halben Meter von ihm entfernt, was den Kleinen frustriert fauchen ließ.

Cio ließ sich mit dem Oberkörper auf den Boden sinken und wedelte vergnügt mit der Rute. „Na los, Kätzchen, spiel mit mir.“

Wütendes Fauchen begleitete den nächsten Angriff, doch Cio wich wieder mühelos aus, trat dabei immer weiter zurück und erst nach ein paar Sekunden ging mir auf, was er da eigentlich trieb. Er lockte die beiden von mir weg, damit ich abhauen konnte.

Ich zögerte einen Moment, wollte ihn nicht alleine lassen und das war wohl mein Fehler, denn als ich mich doch dazu entschloss, eilig den Kahn zu verlassen, wurde der große Kater durch meine hektische Bewegung auf mich aufmerksam. Da er die anderen nur wachsam beobachtete, brauchte er nur einen Satz, um sich vor mich zu stürzen und mir damit den Weg abzuschneiden. Seine Pfote rauschte nur Zentimeter vor meiner Schnauze vorbei. Vor Schreck jaulte ich auf, wich vor ihm zurück und dann eskalierte die Situation plötzlich.

Ich wusste nicht wie Cio es schaffte an dem Kleinen vorbeizukommen, aber plötzlich war er bei dem Großen, stürzte sich einfach auf ihn und dieses Mal war es kein Spaß mehr. Er riss den Kerl mit sich zu Boden und rollte mit ihm in einem wütenden Knäuel zwischen den Containern hin und her. Ich hörte sie fauchen und knurren, sah wie Cio den Kater im Nacken packte und ihn wie eine Puppe schüttelte. Die Pranke des Leoparden schlug nach ihm und er schaffte es gerade noch so auszuweichen.

Die beiden sprangen auseinander, knurrten und fauchten sich wütend an.

Ich zog mich ein wenig in die Schatten zurück. Cio schien nicht verletzt, nur unheimlich sauer. Gebleckte Zähne, angelegte Ohren, gesträubtes Fell. Ich hatte ihn noch nie so wütend gesehen und es machte mir ein wenig Angst.

Der große Leopard sprang zu einem neuen Angriff nach vorne, schlug wieder nach Cio, doch der machte schnell einen Satz zur Seite und das nutzte der Kleinere Aus. Plötzlich stürzte er nach vorne und schlug mit ausgefahrenen Krallen seine Tatzen in Cios Flanke.

Cio!“

Der junge Umbra jaulte vor Schmerz auf, fuhr wütend herum und biss nach dem Ohr. Er zerrte daran, bis es blutete. Der Kleinere fauchte wütend und dann stürzte sich auch noch der andere auf ihn.

Nein!“, schrie ich und hastete auf die beiden zu. Ich wusste nicht genau was ich tat und bevor ich die drei erreichen konnte, kam Aric plötzlich zwischen den Containern hervorgeschossen und riss den Kleineren von Cio runter. Dabei zerfetzte Cio ihm das Ohr, weil er es nicht losgelassen hatte, doch jetzt schnappte er nach dem Großen.

Von irgendwoher kamen Schritte, viele Schritte.

Oh nein, nicht noch mehr.

Wir müssen hier weg!“, schrie ich den beiden zu und sah das Licht von Taschenlampen über den Boden und die Container tanzen. Einen Moment später folgten ihm drei Männer, wovon einer sofort auf Aric losging. Er hatte einen Spaten in der Hand, holte damit nach dem Wolf aus …

Aric, pass auf!“

Aric ließ von dem Kater ab, sah gerade noch wie der Spaten auf ihn niedersauste und brachte sich mit einem Satz in Sicherheit. Doch der kleine Kater stürzte sich sofort wieder auf ihn.

Cio biss dem Großen ins Bein, als der ihm über die Schulter kratze. Er zog und zerrte an dem Bein, bis der Kater fiel, ließ dann von ihm ab und wirbelte herum. „Renn weg!“, schrie er mir zu.

Aber meine Eltern …“

Sie sind nicht hier und jetzt lauf!“

Den Moment der Unachtsamkeit büßte er sofort ein, denn der Kater machte ihn sich zu nutzte, indem er sich auf Cio stürzte und ihn unter sich begrub.

Cio!“ Ich wusste nicht was ich da tat, als ich auf die beiden zustürzte, ich wusste nur, dass ich ihm helfen musste, als er sich in den Hals des Leoparden verbiss. Der Kater fauchte wütend, ließ etwas lockerer, sodass Cio sich von ihm befreien konnte, doch er war so beschäftigt damit dem nächsten Angriff auszuweichen, dass er den Mann mit der Taschenlampe hinter sich gar nicht wahrnahm.

Der Kerl hatte etwas in der Hand, was mich an eine Spitzhacke erinnerte – wozu man sowas auf einem Schiff auch immer brauchte – und war dabei, mit dem Teil auf Cio loszugehen.

Mir blieb fast das Herz stehen, als ich das sah. Ich dachte nicht darüber nach, was ich da tat, sprang einfach und verbiss mich knurrend und zerrend in den Arm des Mannes. Er schrie auf, ließ seine Waffe fallen und schlug mir auf die Schnauze. Es tat weh, aber auch als er ein weiteres Mal auf mich einhieb, ließ ich ihn nicht los. Ich biss nur noch fester zu, spürte wie meine Zähne durch Stoff und Haut drangen, schmeckte das Blut auf meine Zunge und zerrte ihn von Cio weg. Mir war es egal, dass er mir Schmerzen zufügte, ich musste helfen. Doch dann waren da plötzlich noch zwei Hände, die mich grob im Nacken packten.

Ich bekam einen Tritt gegen die Flanke, den ich kaum spürte, weil mein Körper so viel Adrenalin ausschüttete. Doch der nächste Fausthieb auf meine Schnauze tat so weh, dass ich von dem Mann mit einem Winseln abließ. Im nächsten Moment wurde ich auf dem Boden gedrückt. Der Mann über mir atmete hektisch, hielt mir die Schnauze zu und drückte mich mit seinem ganzen Körper auf den Boden. Meine Pfoten kratzten sinnlos über das Deck, als ich versuchte mich von ihm frei zu machen. Irgendwo jaulte Aric und das wütende Knurren von Cio sättigte die Luft.

Cio!“, rief ich, als ich einfach nicht freikam. Der Mann den ich gebissen habe, kam wütend auf mich zu, nur um im nächsten Moment von einem großen, braunen Wolf umgerannt zu werden. Kurz glaubte ich, dass es Cio war, doch dann richteten sich zwei haselnussbraune Augen auf mich. Diego? Aber … wo kam den denn plötzlich her?

Mir bleib keine Zeit danach zu fragen, schon im nächsten Augenblick hatte er sich blitzschnell mit gebleckten Zähnen auf den Mann über mit gestürzt und zerrte ihn von mir runter.

Lauf!“, rief er mir zu. „Zur Rampe, schnell!“ Er stieß den Mann von sich und sprang zu seinem Sohn, um ihm von dem Leopard zu befreien. Es ging alles so schnell, dass ich kaum mitbekam, wie es passierte.

Mein Blick flog hektisch umher. „Wo ist Aric?!“

Rampe!“, knurrte Diego, biss den Leoparden weg und stieß dann seinen Sohn an, damit der sich in Bewegung setzte.

Papa?“, fragte Cio überrascht, bekam zur Antwort aber nur ein weiteren Stoß, der uns vorantreiben sollte.

Mich hielt hier nicht mehr, ich wollte einfach nur noch weg und rannte los. Hinter mir hörte ich die beiden anderen Wölfe und auch die Ailuranthropen, die uns verfolgten. Ich flog fast über das Deck, weil ich hier so schnell wie möglich weg wollte.

Plötzlich schoss Aric um die Ecke und hielt abrupt vor uns. Im Gegensatz zu Cio schien er unverletzt. „Da können wir nicht lang, die Ailuranthropen sind schon an der Rampe.“

Diego knurrte, zögerte aber keine Sekunde. „Folgt mir.“ Er rannte los, zwischen den Containern entlang, hinaus auf die Freifläche neben der Reling, um richtig Gas geben zu können. Ich kam kaum hinterher, so schnell war er. Und dann, ohne zu zögern, nahm er noch mal richtig Anlauf und sprang dann einfach über die Reling hinaus ins offene Wasser.

Für einen Moment verlangsamten sich meine Schritte, aber nur bis ich unserer Verfolger sich mit ihren Rufen einen Weg zurück in meine Erinnerung bahnten.

Aric überholte mich, machte einen Satz über das Schiffsgeländer und im nächsten Moment konnte ich hören, wie er ins Wasser eintauchte.

Zusammen!“, rief Cio mir zu, nahm Anlauf und stieß sich vom Deck ab.

Ich gab mir gar nicht die Zeit groß darüber nachzudenken, tat es ihm einfach gleich und dann flogen wir nebeneinander durch die Luft. Nur einen kurzen Augenblick, dann fielen wir hinunter ins Meer und tauchten in das kalte Wasser.

Das war wie ein Schock. Und als die Wellen über mir zusammenschlugen, bekam ich kurz Panik. Ich kämpfte mich zurück an die Oberfläche, nur um von einer Welle überrollt zu werden, die mich erneut nach unten drückte. Doch nur kurz. Salzwasser brannte in meiner Nase, als ich hastig wieder auftauchte und nach Luft schnappte.

Zaira!“, rief Cio. Er war unweit von mir entfernt und hatte selber mit den Wellen zu kämpfen. Diego und Aric sah ich nicht. Oh Gott, wie werden doch wohl nicht untergegangen sein, oder?! „Schwimm!“, forderte Cio mich auf.

In diesem Moment platschte es hinter mir.

Zwei der Männer waren uns hinterher gesprungen, von Deck waren die Lichtstrahlen von Taschenlampen auf uns gerichtet, um uns verfolgen zu können. Unser Glück war in diesem Moment einfach nur, dass wir vier Beine hatten und damit schneller schwimmen konnten. Doch bei dem Wellengang war das gar nicht so einfach. Mehr als einmal wurde ich unter Wasser gedrückt, nur um dann keuchend wieder aufzutauchen, als ich Cio folgte.

Einmal erhaschte ich einen kurzen Blick auf Diego und Aric weiter vorne, die zielstrebig auf den abgeflachten Kai in hundert Meter Entfernung zuhielten. Die Wellen brachen sich dort an den Steinen, aber es war der einzige Ort in der Nähe, der flach genug war, sodass man mit Pfoten darauf klettern konnte. Wenn die Ailuranthropen nur nicht vor uns da waren.

Ich strengte mich mehr an, gab alles was ich hatte, nur mein Ziel vor Augen. Das Wasser war eiskalt und das Salz brannte mir in den Augen, doch ich gab nicht auf.

Du hast es gleich geschafft“, rief Cio mir zu. Ich glaubte er wollte mir einfach nur Mut machen.

Weiter vorne sah ich Diego schon am Kai stehen, wie er Aric im Nacken packte und zu sich rauf zog. Es war nicht mehr weit, gleich hatte ich es geschafft.

Komm schon Zaira, du schaffst das.“

Ja, ich schaffte es, und als meine Pfoten die glitschigen Steine berührten, war das wohl der Glücklichste Moment in dieser Nacht.

Diego packte mich wie Aric schon zuvor im Nacken, um mich hochzuziehen, während Cio von hinten schob. Seinem Sohn allerdings half er nicht, zog mich nur weiter, bis ich endlich wieder festen Boden unter den Pfoten hatte und schwer atmend einfach zusammen brach. Dabei hustete ich mehrere Liter Meerwasser aus – so zumindest kam es mir vor. Meine Brust zog sich darunter schmerzhaft zusammen.

Steh auf“, forderte Diego unbarmherzig und stieß mich nicht allzu sanft mit der Schnauze an. „Wir müssen weiter.“

Unser Wagen steht auf dem Parkplatz von …“

Der Wütende Blick von Diego brachte Cio sofort wieder zum verstummen. „Du meinst den Wagen, den ihr geklaut habt, um euch heimlich davon zu stehlen und alle in Sorge zurück zu lassen? Was habt ihr euch nur dabei gedacht?!“

Cio trat einen vorsichtigen Schritt von Seinem Vater zurück, der mich erneut anstieß – dieses Mal sehr nachdrücklich.

Aric trat einen Schritt vor. „Wir dachten Zairas Eltern sind hier und wollten sie rausholen.“

Wie kommt ihr nur auf so hirnverbrannte Ideen? Nein, ich will das jetzt gar nicht wissen“, sagte Diego sofort und stellte die Ohren auf, als hätte er etwas gehört. „Später werdet ihr noch genug Zeit für Erklärungen haben. Und nun kommt endlich!“ Er wandte sich um und strebte auf etwas zu, dass ein Sammelsurium aus kleinen Silos aussah.

Ich sammelte meine letzten Kräfte und arbeitete mich auf meine müden Knochen, um ihnen zu folgen.

Konzentriert und leise führte Diego uns zwischen den Silos hindurch. Weg von der Genius Scar, weg von dem Parkplatz, auf dem der geklaute Wagen stand und weg von Ponte Doria. Durch ein Loch im Zaun, über die nächtlichen Straßen.

Über eine halbe Stunde mussten wir Diego in einem strammen Tempo folgen und erst als es sicher war, dass wir nicht verfolgt wurden, lief er etwas langsamer. In der Zeit traute sich keiner auch nur ein Wort zu sagen.

Wir wichen Menschen und Autos so gut es ging aus, bis wir den Rand eines kleines Waldstück erreichten. Ein einziger Wagen stand dort, ein großer, silberner Van, von dem der deutliche Geruch nach Lykaner ausging. Im Wagen dudelte das Radio irgendwelche Charts. Das konnte ich so deutlich hören, weil die seitliche Schiebetür offen war. Durch die Innenbeleuchtung konnte ich drei Personen ausmachen und sie alle kannte ich. Kasper, der leicht verärgert auf dem hinteren Rücksitz saß und ein Bein aus dem Wagen hängen ließ. Alina, die aufgeregt davor auf und ab lief und Keenan, der es sich gegenüber von Kasper bequem gemacht hatte.

Sie alle richteten ihren Blick auf uns, als wir vor ihnen aus der Dunkelheit auftauchten.

„Was ist denn mit euch passiert?!“, war Alinas Begrüßung. Klar, unser Fell war immer noch feucht, unsere Glider halb erfroren und wahrscheinlich rochen wir nicht nur nach Meer, sondern auch noch nach vergammeltem Fisch.

Cio zuckte lässig die Schultern. „Wir haben ein Bad im Meer genommen, weil es sich gerade so schön angeboten hat.“

Das war der Moment, in dem sich Diego aus heiterem Himmel auf seinen Sohn stürzte und ihm knurrend an die Kehle ging.

Nein!“, schrie ich, aber Aric stellte sich mir in den Weg. Als ich mich trotzdem an ihm vorbeidrängen wollte, schnappte er nach mir, damit ich mich da raushielt.

Findest du das witzig?“, grollte Diego und biss fester zu, als Cio knurrend gegen ihn wehrte. Doch er lag in einer ungünstigen Position. Diego hatte ihn auf dem Rücken geworfen und stand über ihm. „Ihr seid mitten in der Nach spurlos verschwunden, ohne Nachricht, ohne jemanden Bescheid zu sagen und ohne Möglichkeit euch zu erreichen, da du dein verdammtes Handy ausgeschaltet hast!“

Cio schnappte nach seinem Vater und jaulte auf, als der Biss an seiner Kehle noch fester wurde. Daraufhin wurde er ganz starr.

Cayenne hatte den schlimmsten Zusammenbruch seit Jahren! Wir können Kiara einfach nicht finden und dann verschwinden auch noch ihre beiden anderen Kinder ohne eine Spur zu hinterlassen! Über das GPS in deinem Handy mussten wir euch aufspüren und was wird mir erzählt, als ich zwei von den vermissten an einem gestohlenen Wagen Finde?“ Sein Knurren wurde lauter, als Cio unter ihm sich regte. „Ich kann es nicht fassen, dass du das wirklich getan hast! Die Idee Zairas Eltern hier zu finden ist das Dümmste, was ich seit Jahren gehört habe! Habt ihr wirklich gedacht, die Ailuranthropen würden sie auf ein Schiff bringen und dort Tagelang einsperren, wo jederzeit unangemeldet die Behörde auftauchen könnte? Warum habt ihr nicht mit einem von uns gesprochen?!“

Da es nicht schien, dass er von einem von uns eine Antwort erwartete, schwiegen wir einfach. Doch ich fragte mich, woher er wusste, was wir hier getan hatten. Sobald ich Alinas Blick sah, wusste ich es. Sie musste es ihm erzählt haben, sobald er sie und Kasper gefunden hatte.

Und dann finde ich euch auf einem Schiff mitten in Italien, auf dem ihr euch mit Ailuranthropen anlegt! Wir haben im Moment schon genug Probleme und keine Zeit, auch noch unseren verlorenen Kindern hinterher zu jagen!“ Diego ließ langsam von seinem Sohn ab, blieb aber über ihm stehen. „Ich hätte niemals geglaubt, dass du mich so enttäuschen könntest. Ich hätte dir wirklich ein wenig mehr Verstand zugedacht.“ Sein Blick schweifte zu uns anderen. „Euch allen.“

Darauf folgte betretenes Schweigen, das Keenan mit einem tiefen Seufzer unterbrach, als er sich auf die Beine rappelte. „Na los, verwandelt euch und zieht euch an, damit wir zurückfahren können.“

Keiner regte sich, bis Diego sich von einem wütenden Knurren von uns abwandte.

Aber unsere Kleidung“, traute ich mich zu sagen. „Sie liegt noch im anderen Wagen.“

„Nein tut sie nicht.“ Keenan beugte sich in den Van hinein und holte einen Kleiderstapel mit einer Brille heraus, der nach meinen Sachen aussah. „Wir haben die Klamotten aus dem anderen Wagen mitgenommen.“

Danke“, flüsterte ich leise.

„Kein Problem, hier.“ Er drückte Alina meine Kleidung in die Hand. „Geh mit ihr auf die andere Seite vom Van, die Jungs können sich hier verwanden.“

Ich zögerte kurz, sah zu Cio, der sich auf den Bauch gedreht hatte und wütend den Boden anstarrte. Das war meine Schuld wurde mir klar. Diego war nur auf ihn losgegangen, weil ich sie alle hier her gebracht hatte. Mit hängender Rute folgte ich Alina auf die andere Seite vom Wagen und verwandelte mich. Sie reichte mir meine Kleidung, sah schweigend dabei zu wie ich mich anzog, obwohl ihr die Fragen sicher auf der Zunge brannten.

Als ich fertig war, stand ich einfach nur da. „Wir haben sie nicht gefunden“, flüsterte ich. „Sie waren nicht auf dem Schiff.“ Da war ich mir in der Zwischenzeit sicher. Ich hatte nirgends ihren Geruch auffangen können und Aric und Cio hätten es mir sicher mitgeteilt, wenn es bei ihnen anders gewesen wäre. „Wir sind völlig um sonst hier her gekommen.“

„Ach Süße.“ Alina schlang ihre Arme um mich und drückte mich fest an sich. „Mach dir keine Gedanken, wir werden sie schon finden. Du wirst sehen, beim nächsten Mal klappt es.“

„Und wenn nicht?“

Darauf bekam ich keine Antwort. Sie drückte mich nur fester an sich, bis wir Keenans Stimme hören.

„Seid ihr fertig da hinten?“

„Ja“, rief Alina zurück.

„Dann steigt in den Van, damit wir losfahren können.“

Alina drückte mich noch einmal, bevor sich mich von mir abließ. „Wir werden sie schon finden, du wirst schon sehen. Früher oder später kannst du deine Eltern wieder in den Arm nehmen.“

Langsam zweifelte ich daran.

Nach der zweiten Aufforderung liefen Alina und ich um den Wagen herum, und kletterten zu den Jungs nach hinten auf die Rückbänke. Die Tür war noch nicht mal richtig zu, da startete Keenan bereits den Van. Ich nahm gegenüber von Kasper Platz, der etwas zur Seite rückte, als Alina sich zwischen ihn und Aric quetschte. Cio saß neben mir, die Arme vor der Brust verschränkt, starrte er wütend vor sich hin und ignorierte die missbilligenden Blicke von seinem Vater auf dem Beifahrersitz.

„Soll ich anrufen und Bescheid sagen, dass wir alle gefunden haben?“, fragte Keenan.

Diego verneinte und zückte selber das Handy. Dem Gespräch das dann folgte entnahm ich, dass er sich mit Sydney unterhielt. Kurz und bündig teilte er ihm mit, was passiert war und dass wir uns jetzt auf dem Rückweg befanden.

Ich hörte nur mit einem halben Ohr zu, da ich das Blut an Cios Arm bemerkte. „Bist du etwa verletzt?“

„Nicht der Rede wert.“

Ich sog die Luft ein, nahm den Kupfergeruch der von ihm ausging sehr deutlich war. Und er ging nicht nur von Seinem Arm aus, sondern auch von seinem Hals, wo Diegos Biss mehrere oberflächliche Kratzer hinterlassen hatte, die bereits verschorft waren. Doch die Wunde an seinem Arm schien nicht so harmlos zu sein und ich glaubte auch mich zu erinnern, dass der kleinere Leopard ihn an böse an der Flanke erwischt hatte. Das würde auch erklären, warum er leicht schief dasaß.

Entschlossen griff ich nach seiner Hand und legte sie auf meine Bein, um ihm vorsichtig den Ärmel hochzuschieben, bis ich die tiefen Kratzer auf seinem Oberarm entdeckte. Cio war wohl zu überrascht von meinem Handeln, um sich dagegen zu wehren. Das, oder es störte ihn einfach nicht.

Drei diagonale Kratzer, die schon leicht verkrustet waren. „Das wird jetzt vielleicht wehtun“, erklärte ich ihm, als ich meinen Ärmel über meine Hand zog und damit begann, den Schorf abzureiben. Der Speichel eines Vampir beschleunigte die Heilung von Wunden, doch dazu mussten sie offen sein, damit die Stoffe in die Wunde eindringen konnten, um die Zellerneuerung anzuregen.

Cio strich mit dem Daumen über mein Bein, während er beobachtete, wie ich mich vorbeugte, um über die Wunden zu lecken. Nicht nur das Blut, auch seine Nähe und seine Berührung machten mir eine angenehme Gänsehaut, die gar nicht so einfach zu ignorieren war – nicht mal in solch einer Situation. Als ich fertig war, wollte ich mich den Kratzern an seinem Hals widmen, doch er schüttelte den Kopf. „Nein, die brauche ich zur … Erinnerung.“

Der unfreundliche und auch herausfordernde Ton wurde von Diego ignoriert. Er beachtete seinen Sohn nicht mal mit einem Blick.

„Na gut, dann … ähm … deine Hose. Zieh … zieh deine Hose aus“, stotterte ich leicht verlegen und konnte spüren, wie meine Wangen sich rot färbten.

„Ich soll meine Hose ausziehen? Jetzt?“ Cio zog eine Augenbraue hoch. „Meinst du nicht, wir sollten uns das für einen etwas privateren Moment aufheben?“

Jup, jetzt glühten meine Wangen so richtig. Und dabei half es weder, dass er nur einen dummen Scherz machte, noch dass sein Daumen dabei weiter über mein Bein strich.

„Der Ailuranthrop hat dich doch an der Flanke erwischt“, sagte ich, ohne genauer auf seinen Kommentar einzugehen. „Das sah ziemlich böse aus.“

„Das hat ziemlich weh getan“, bestätigte er meine Vermutung, grinste mich an und griff dann ohne großes Federlassen nach dem Knopf seiner Jeans. Das Ritsch des Reißverschlusses ließ mich einen Moment nervös den Blick abwenden, bis Alina kicherte. Das Polster neben mir bewegte sich. Als ich wieder hinsah, erkannte ich auch den Grund dafür. Cio hatte Jeans samt Boxershorts über seinen Hintern gezogen und sich zur Seite gelehnt. Und schon jetzt sah ich vier tiefe Striemen, die sich in sein Fleisch gegraben hatten.

Zögernd griff ich nach dem Saum seines Pullis und schob den etwas hoch, um die Wunden ganz frei zu legen. Dabei streifte ich mit den Fingern seine Haut und spürte wieder dieses Kribbeln. Ein kurzer Blick in sein Gesicht, ließ mich noch mehr erröten. Man, warum war mir das den peinlicher als ihm?

„Nur nicht so schüchtern“, haute er dann auch noch raus.

Ich drückte die Lippen aufeinander und rieb mit dem Ärmel meines Pullis wieder über die Wunden, bis er zischte. „Entschuldigung“, nuschelte ich und versuchte den verführerischen Geruch des Blutes zu ignorieren.

Wenn das einer sehen konnte, wie wir hier in dem fahrenden Auto Doktor spielten, dann wäre das echt peinlich. Moment, man konnte uns doch sehen, schließlich waren wir nicht alleine.

Ich ignorierte die anderen so gut wie es in einer solchen Situation eben ging, benetzte meinen Finger mit Speichel und strich unter Cios aufmerksamen Blick, ganz vorsichtig über den ersten Striemen.

„Ich hätte ja gedacht, dass wir nicht so viele neugierige Zuschauer hätten, wenn ich dir das erste Mal meinen nackten Hintern zeige.“ Er grinste. „Aber ich mag deine Doktorspielchen.“

Nach diesen Worten spürte ich sehr deutlich, wie sich die Hitze in meinen Wangen noch größer wurde. Und ich vermied es tunlichst einen der anderen im Wagen anzusehen, während ich den nächsten Striemen heilte. Warum musste auch immer so etwas raushauen?

Von vorne kam ein tiefes Grollen, unter dem Cio sich sofort anspannte.

„Was?“, fuhr er seinen Vater an. „Darf ich jetzt nicht mal mehr den Mund aufmachen? Wenn dir nicht passt, was ich zu sagen habe, dann hör doch einfach nicht hin!“

„Wahrscheinlich wäre es wirklich besser, wenn du mal den Mund halten würdest, oder wenigstens über deine Worte nachdenkst, bevor du sprichst, denn du hast offensichtlich vergessen, mit wem du es zu tun hast! Und nachdem was du dir heute geleistet hast, solltest du dir nichts Weiteres aufs Kerbholz laden.“

Cio starte finster nach vorne. „Ich weiß wahrscheinlich besser, mit wem ich es zu tun habe, als du!“

„Vielleicht. Nur hast du scheinbar mal wieder deine Pflichten vergessen. So wird aus dir nie ein richtiger Umbra.“

„Ich war die ganze Zeit bei Aric!“

„Aber du hast ihn nicht beschützt“, erwiderte Diego ganz ruhig.

Nein, hatte er nicht. Er hatte mich beschützt und wurde dabei auch noch verletzt.

„Ich habe getan was nötig ist“, presste Cio zwischen seinen Zähnen hervor.

„Du hast das Falsche getan.“ Diego richtete seinen Blick wieder nach vorne. „So wie immer.“

„Das reicht jetzt!“, schritt nun Aric ein. „Cio hat sich genauso verhalten wie wir anderen auch, also lass ihn jetzt in Ruhe.“

Es passte Diego gar nicht, sich etwas von einem jüngeren sagen zu lassen, doch auch wenn er offiziell kein Prinz mehr war, so war er vorläufig noch sein Alpha. Trotzdem konnte er es nicht lassen hinzuzufügen: „Nur hat Cio dabei des Wesentliche wie immer aus den Augen verloren. Er soll einmal dein persönlicher Umbra sein und es ist seine Aufgabe dich zu beschützten. Wenn es sein muss auch vor deinen eigenen dummen Taten.“

Das Diego Aric unterschwellig als dumm bezeichnet hatte, gefiel meinem Halbbruder gar nicht. Doch er ließ es einfach so auf sich beruhen. Sich weiter zu streiten hätte ja eh keinen Sinn gehabt.

Doch so war Cio nicht. „Der einzige Dumme hier …“

„Es reicht!“, fuhr Aric auf. „Kein Wort mehr über dieses Thema.“ Er starrte Cio warnend an, als dieser wieder den Mund öffnen wollte, bis er zähneknirschend den Blick senkte.

Mit jedem weiteren Wort waren die Schuldgefühle in mir gewachsen. Dass es hier so ausartete, war allein meine Schuld. Sie hatten mir helfen wollen und steckten deswegen in der Scheiße. Doch Worte der Entschuldigung würden im Augenblick auch nicht helfen, daher verarztete ich den letzten Striemen schweigend und ignorierte das leichte Kribbeln an meinen Fingerspitzen, als ich über seine Haut strich.

„Ich weiß genau wer sie ist“, knurrte Cio noch leise und zog sich die Hose wieder hoch.

Diego beachtete seinen Sohn durch den Rückspiegel. „Sie ist Cayennes Tochter, vergiss das nicht, Elicio.“

Ob ich erwähnen sollte, dass ich sie alle hören konnte? Nein, im Moment war es wohl besser einfach die Füße still zu halten. Daher entzog ich mich auch Cios Hand, als er meinen Arm berührte und senkte einfach den Blick. Ich wollte nicht für weitere Unruhen verantwortlich sein.

Neben mir schnaubte Cio abfällig. „Das war ja jetzt klar“, grummelte er und machte es für mich damit nicht gerade besser. War er jetzt sauer auf mich? Weil ich mich nicht von ihm berühren lassen wollte? Ich verschränkte die Arme vor der Brust und rückte ein Stück von ihm weg. Dabei ignorierte ich, wie seine Kiefer verärgert aufeinander mahlten.

Heute war sowieso alles schief gegangen. Ich hatte uns nach Italien geführt, in der Hoffnung meine Eltern zu finden. Stattdessen hatte ich dafür gesorgt, dass wir uns mit Ailuranthropen anlegten, gerettet werden mussten und zum Schluss ein Bad im Meer nahmen. Das Cio jetzt auch noch sauer auf mich war, tat weh, aber rundete den Tag doch perfekt ab.

Ich sah rüber zu Alina, die sich müde an Aric gelehnt hatte. Ihre Hand zog kleine Kreise auf seinem Knie, was er sich wohlwollend gefallen ließ. Erst als ihre Finger etwas hör wanderten, griff er nach ihrer Hand. Aber nicht nur um sie aufzuhalten, sondern auch, um ihr einen hauchzarten Kuss auf den Handrücken zu hauchen und anschließend seine Hand mit ihrer zu verschränken. Dabei sah er sie nicht an und doch hatte diese Handlung etwas sehr Vertrautes. Wenigstens konnte sie sich jetzt nicht mehr beschweren, dass er sie ignorierte.

Mein Blick glitt weiter zu Kasper, der die gleiche Haltung angenommen hatte, wie Cio. Verschränkte Arme, Blick starr aus dem Fenster und seine Kiefer mahlten so stark, dass ich Angst um seine Zähne bekam. Natürlich hatte er auch gesehen, was Aric da mit Alina tat und es passte ihm überhaupt nicht.

Ich zog die Beine an den Körper, schlang die Arme darum und bettete mein Kinn darauf. Heute war wirklich alles schief gelaufen, was nur schieflaufen konnte. „Es tut mir leid“, flüsterte ich und wusste selber nicht genau, bei wem ich mich entschuldigte. Vielleicht bei Diego, weil wir uns in diesen unruhigen Zeiten einfach davon gemacht hatten und damit allen Sorge bereitete hatten. Vielleicht bei Cio, weil ich nicht so sein konnte, wie er es sich vorstellte. Vielleicht bei Kasper, bei dem wieder nichts so lief, wie er es wollte. Aber vielleicht meine ich auch meine Eltern, die ich weder hatte finden noch retten können.

Eine Träne lief über meine Wange, doch bevor es jemand bemerken konnte, vergrub ich mein Gesicht an meinen Knien, während der Wagen unter mir leise brummte. „Es tut mir leid“, wiederholte ich leise und konnte nicht verhindern, dass mir ein ersticktes Schluchzen entwich. Alles war so furchtbar schief gelaufen. Ich hatte Stunden und Tage damit vergeudet, einer falschen Spur zu folgen und jetzt würde ich meine Eltern vermutlich nie wieder sehen. Drei Tage war es her, dass die Ailuranthropen in unsere Wohnung eingedrungen waren. In der Zwischenzeit konnten sie überall sein.

In der Zwischenzeit konnten sie tot sein.

Das zweite Schluchzen ließ nicht lange auf sich warten und auch nicht das dritte. Ich hatte alles falsch gemacht, was ich nur hätte falsch machen können und nun war alles verloren.

Als sich seufzend zwei Arme um mich legten, ließ ich es einfach geschehen, doch nicht mal diese tröstende Umarmung von Cio konnte den Schmerz wirklich lindern.

Ich hatte es vermasselt.

 

°°°

 

Der Schnee knirschte leise unter unseren Schritten und war das einzige Geräusch in der anbrechenden Dunkelheit. Das Gehöft des Rudels lag an diesem Abend ruhig da. Hin und wieder sah ich ein paar Leute aus dem Rudel, aber mehr als einen kurzen Blick hatte niemand für uns übrig.

Wir alle sahen mehr oder weniger Erschöpft und zerknittert aus, doch das war nichts im Vergleicht zu dem wie ich mich fühlte.

Ich starrte auf den Boden, um kein der anderen ansehen zu müssen, während wir uns einen Weg zwischen den Betriebsgebäuden hindurchbahnten, immer auf das klitzekleine Dort mit dem großen Hauptgebäude zu.

Eine Berührung an meiner Hand ließ mich die Arme fester um den Körper schlingen. Ich wollte gerade von niemanden angefasst werden, aber ganz besonders nicht von Cio. Aich nicht, wenn ich daran dachte, dass seine Arme gestern Nacht im Wagen alles gewesen waren, was mich zusammengehalten hatte.

Bis die Tränen versiegt waren und ich vor Erschöpfung einfach eingeschlafen war, hatte ich lange an seiner Brust geweint. Aber viel schlimmer war das aufwachen gewesen. Er hatte halb ausgestreckt auf dem Rücken gelegen. Die Augen geschlossen, der Mund leicht geöffnet. Er hatte ruhig geatmet und mich dabei immer noch im Arm gehalten. Mein Ohr an seiner Brust, sein gleichmäßiger Herzschlag unter mir. Es war angenehm gewesen, ein Ort an dem ich mich geborgen fühlen konnte. Es hatte sich richtig angefühlt, so, als gehörte ich genau dort hin, doch das war falsch. Das war nicht mein Platz, denn dieser Platz war bereits von Iesha besetzt und ich tat gut daran, das nicht zu vergessen, wenn ich nicht noch unglücklicher werden wollte, als ich eh schon war.

Deswegen hatte ich nach dem Aufwachen auch einen Entschluss gefasst. Ich würde ein wenig auf Abstand zu Cio gehen, nur bis ich meine Gefühle wieder unter Kontrolle hatte und mein Herz davon überzeugen konnte, dass es besser für war, sich anderweitig umzusehen. Vielleicht tat es ja dann nicht so weh, ihn nicht haben zu können.

Wir passierten die ersten Wohnhäuser und folgten dem Steinwegplatten bis zum Haupthaus. Keenan war der erste, der hinein ging. Ich bildete das Schlusslicht und ignorierte die Blicke der anderen, die sich auf mich richteten, sobald ich über die Schwelle getreten war. Wahrscheinlich wunderten sie sich einfach, warum ich noch keinen Ton von mir gegeben hatte, seit ich erwacht war. Oder sie bemitleideten mich einfach. Im Gegensatz zu mir, wusste jeder einzelne von ihnen, wo sich ihre Eltern befanden.

„Aric!“, schrie eine fast hysterische Frauenstimme vor uns. Einen Moment später hastete Cayenne um die Ecke, geradewegs auf ihren Sohn zu. Ihre Haare waren zerzaust, als hätte sie sich immer wieder mit den Händen darin gerauft. Unter den Augen lagen dunkle Schatten, die von der schlaflosen Nacht zeugten. Fleckige Haut, zerknitterte Kleidung und einen panischen Blick wie ein Reh im Scheinwerferlicht. Ihre Augen waren dick und verquollen, als hätte sie Stunde um Stunde geweint. Ich hatte sie noch nie in einem so desolaten Zustand gesehen. Und als sie sich um Arics Hals warf, krallte sie ihre Hände in seiner Schultern, als hätte sie Angst, dass er sich einfach wieder in Luft auflösen konnte, wenn sie ihn nicht fest genug hielt.

„Aric“, sagte sie dabei. „Aric.“ Immer wieder seinen Namen, als würde das seine Anwesenheit wahrer machen. Sie strich ihm übers Gesicht, übers Haar und die Arme, macht seine Anwesenheit damit realer.

Hinter Cayenne tauchten Genevièv, Sydney und Ayko mit Celine im Foyer auf.

„Mama“, versuchte Aric sie zu beruhigen. „Ist doch okay, ich bin …“

„Du warst weg!“, schrie sie ihn an und krallte ihre Finger so stark in seinen Arm, dass es wehtun musste. „Einfach weg. Weg, weg, weg.“ Ihre Finger waren schon ganz weiß, so stark bohrte sie sie in seinen Arm und eine schwache Note von Blut erfüllte die Luft, doch Aric zuckte nicht. „Nicht zu finden.“

Ich runzelte die die Stirn. Irgendwie benahm Cayenne sich äußerst seltsam.

„Ich dachte … du warst weg … weg. Erst Kiara und dann du.“

„Mama, ich wollte nur Zaira helfen ihre Eltern zu finden. Mir geht es …“

„Zaira“, hauchte sie und ihre Augen wurden ein Stück größer. „Zaira war auch weg.“ Mit der Genauigkeit eines Lasers fand ihr Blick mich und … ich musste schlucken. Diese Augen, in ihnen wohnte der Wahnsinn. In ihnen saß der Wolf, wechselten dann wieder ins menschliche, nur um wieder zum Wolf zu werden. „Du bist gegangen“, warf sie mir flüsternd vor und machte einen Schritt auf mich zu. Dabei ließ sie Arics Arm nicht los. Sie zog ihn einfach mit sich.

Er gab ein zischendes Geräusch von sich und der kupferartige Geruch nach Blut wurde stärker.

Alle um uns beobachteten genau, wie Cayenne sich auf mich zubewegte, sprachen jedoch kein Wort. Ich wich zurück. Ein Schritt und noch ein Schritt. Ihre Augen, dieser Blick, er verwirrte und verunsicherte mich. Das war nicht mehr die Frau, die ich kennengelernt hatte. Mit ihr stimmte etwas nicht, oder bildete ich mich das nur ein?

„Ich hab dich doch gerade erst wiederbekommen“, flüsterte sie und machte noch einen Schritt. In ihren Augen sammelten sich Tränen. „Und dann warst du einfach weg.“

Ich wich noch ein Schritt zurück, bis ich die Wand im Rücken spürte, sah von Diego zu Cio und weiter zu Sydney, weil ich einfach nicht wusste was ich tun oder sagen sollte.

„Du bist einfach gegangen.“ Eine Träne rollte über ihre Wange. „Weg“, flüsterte sie und aus dem Nichts holte sie plötzlich aus. Ihre Hand traf mich im Gesicht, sodass mein Kopf herumgeschleudert wurde und ich gegen die Wand knallte. Meine Brille flog davon und ich spürte einen Schmerz an der Schläfe, der mir fremd gewesen war, bevor ich mich in die verborgene Welt gewagt hatte.

„Zaira!“

„Scheiße!“

Diego und Sydney schossen vor.

„Was hab ich dir nur getan?!“, schrie sie mich an, packte mich an den langen Haaren, bevor die anderen reagieren konnten. „Mein Baby, mein kleines Baby.“ Ihre Hand in meinen Haaren verkrampfte sich grob, ich konnte nicht entkommen. Im Gegensatz dazu strich ihre andere Hand fast zärtlich über meine Wange, als wolle sie mich trösten. „Du darfst mich nicht verlassen, hörst du? Niemals. Du darfst nicht gehen. Baby, mein kleines Baby.

Alina hatte die Hände vor den Mund geschlagen und Kasper hatte noch nie so blass ausgesehen.

Ich gab ein leises Wimmern von mir, als Sydney sich uns vorsichtig näherte und Cio von Aric zurückgehalten werden musste, weil er eingreifen wollte.

Ich war wie erstarrt, konnte nichts tun, außer dazustehen und mich fragen, was hier eigentlich gerade passierte.

„Cayenne?“

Der Griff in meinen Haaren wurde schmerzhaft, als Sydney sie ansprach. Mein Gesicht tat mir weh, doch als ich mich etwas regte, war das gar nichts im Gegensatz zu dem Schmerz, der auf meinem Kopf herrschte.

„Du musst bei mir bleiben, Baby, geh nicht weg“, sagte sie ganz sanft, was überhaupt nicht zu der brutalen Art passte, wie sie mich anfasste. Dabei flossen ihr die ganze Zeit Tränen über die Wangen „Versprich es mir. du darfst nicht weg. Lass mich nicht alleine. Baby, armes Baby, nicht weinen.“ Ihr Daumen strich die Träne fort, die sich aus meinem Auge gelöst hatte.

„Verdammt, tut doch einer was!“, schimpfte Cio und sah so aus, als wollte er Aric gleich ernsthaft wehtun, wenn er ihn nicht endlich losließ.

„Cayenne“, sprach Sydney seine Gefährtin erneut an. „Lass sie los, Cayenne, du tust ihr weh.“

„Sie wird gehen, wenn ich sie loslasse.“ Ununterbrochen strich ihre Hand über meine Wange, doch er fühlte sich nicht so gut an, wie sie es wohl glaubte. „Sie wird mich allein lassen.“ Neue Tränen traten in ihre Augen und liefen in Strömen über ihre Wangen. „Sie wird gehen.“

„Sie wird nicht gehen“, versprach Sydney und warf mir einen kurzen Blick zu, der mir sagte, dass ich mich einfach ruhig verhalten sollte. „Glaub mir, du weißt, ich hab dich noch nie belogen.“ Seine Finger berührten ihre Schulter und das war der Moment, in dem die Situation eskalierte.

Cayenne schrie auf, drehte sich und riss mich dabei mit. Der Schmerz an meinem Kopf loderte auf und ich schrie, aber sie ließ meine Haare nicht los, schlug nur mit der freien Hand nach Sydney. Der vernarbte Mann fing ihre Faust in der Luft ab, drehte sie ihr auf den Rücken und war einen Augenblick später hinter ihr, wo er ihr den freien Arm um die Taille schlang, damit sie sich ihm nicht entwinden konnte.

Sie schrie wie am Spieß, ließ mich aber immer noch nicht los. Ich versuchte mich von ihr frei zu machen, aber sie gab nicht nach. Eine Sekunde später waren Diego und Umbra Joel bei uns. Diego packte ihr Handgelenk, damit sie damit nicht mehr an meinen Haaren zerren konnte und Umbra Joel bog schnell ihre Finger auseinander, damit ich endlich frei kam.

Die ganze Zeit schrie Cayenne und weinte. Und als sie den Kontakt zu mir verlor, gab sie ein so herzzerreißendes Geräusch von sich, als würde ihre ganze Welt zusammenbrechen.

Ich stolperte von ihr weg, sah wie Sydney die Arme fester um sie schlang und sich mit ihr auf den Boden sinken ließ, während beruhigende Worte seinen Mund verließen. Diego murmelte etwas von „Beruhigungsmittel“, und verschwand den Korridor hinunter. Währenddessen schrie Cayenne immer weiter in Sydneys Armen, kämpfte gegen ihn an, doch er ließ sie nicht los, drückte sie nur noch fester an sich.

Sie ist verrückt, ging es mir durch den Kopf. Sie ist wirklich verrückt. Sie hatte mich angegriffen. Ich konnte es nicht glauben, meine Erzeugerin hatte mich angegriffen! Mein Gesicht schmerzte, meine Kopfhaut brannte und meine Lippe fühlte sich seltsam an.

„Man, jetzt lass mich endlich los!“, fuhr Cio Aric an und stieß ihn von sich. „Zaira!“

Mein Name aus seinem Mund rüttelte mich wach. Mein Blick huschte zu ihm, dann wieder zu Cayenne und dann machte ich einfach auf dem Absatz kehrt und rannte aus dem Haus. Sie riefen mir hinterher, doch ich war nicht fähig stehen zu bleiben, nicht solange ich die Schreie meiner Erzeugerin hören konnte. Sie hat mich angegriffen, sie hat mich geschlagen! Das ging mir immer und immer wieder durch den Kopf, während ich über die verschneiten Pfade rannte, bis ich unser zugeteiltes Haus erreichte. Tränen verschleierten meinen Blick, als ich hineinstürmte und die Tür eilig hinter mir zuknallte. Aber hier war ich auch nicht sicher. Darum blieb ich auch nicht stehen. Ich lief ins kleine Badezimmer und verbarrikadierte mich dort. Heiß liefen die Tränen mir über die Wangen, als ich mich in der kleinen Lücke zwischen Dusche und Wand an den Fliesen hinab rutschen ließ, bis ich schluchzend in der Ecke kauerte.

Oh Gott, wo war ich hier nur rein geraten? Noch nie hatte jemand die Hand gegen mich erhoben, doch seit ich mich dazu entschlossen hatte, die Regeln meines Vaters zu missachten und in den Hof der Lykaner zu gehen, war ich schon zwei Mal angegriffen worden.

Die Erinnerung an meine Eltern trieb mir neue Tränen in die Augen. Warum nur hatte ich nicht auf ihn hören können? Warum nur hatte ich meinen Kopf durchsetzten müssen?

Als Haustür aufschlug, zuckte ich heftig zusammen.

„Wo ist die?“, hörte ich Alina ängstlich durch die Badezimmertür.

„Bad“, kam es von Cio. In der nächsten Sekunde wurde die Klinke gedrückt, doch ich hatte abgeschlossen. „Zaira? Komm schon Schäfchen, mach auf.“ Er klopfte heftig gegen die Tür und drückte wieder die Klinke hinunter. „Zaira, bitte, lass mich rein.“

„Zaira?“ Das war Kasper. „Mach die Tür auf.“

Ich drückte mir die Hände auf die Ohren. Ich wollte ihn nicht hören, ich wollte sie alle nicht hören.

„Zaira.“ Alinas Stimme hörte sich verweint an.

„Geht weg“, flüsterte ich lautlos. „Bitte, geht doch einfach.“

Das Klopfen und Rütteln wurde stärker. „Verdammt Zaira, mach die scheiß Tür auf, sonst breche ich sie auf!“, drohte Cio. In seinen Worten lag eine Spur von Panik.

Nein, geh weg, bitte, bitte, verschwindet einfach.

„Zaira!“ Mittlerweile hämmerte er schon gegen die Tür. „Sag doch was, bitte.“ Seine Stimme klang verzweifelt, aber ich konnte da nicht rausgehen. Ich wollte das nicht. Ich wollte nur die Zeit zurückdrehen, auf den Tag als ich mit Flair auf meinem Schoß auf dem Balkon gesessen hatte und ihr Papas Kekse gefüttert hatte.

„Verdammt!“ Ein letztes Mal schlug Cio mit der Faust gegen das Holz, sodass die ganze Tür im Rahmen wackelte und mich vor Schreck zusammenzucken ließ. Ich drückte die Hände fester auf die Ohren, zog die Beine enger an den Körper und betete, dass sie einfach verschwinden würden. Doch sie gingen nicht. Ich konnte sie im draußen reden hören, nur ein Murmeln an meinen Ohren, aber ich wollte das auch das verstummte.

Zitternd und schluchzend kauerte ich in der Ecke und brauchte eine ganze Weile, bis ich merkte, dass es im Wohnraum ruhig geworden war. Nur sehr langsam ließ ich meine Hände sinken und zuckte wieder zusammen, als es erneut an der Tür klopfte. Dieses Mal jedoch vorsichtiger, fast zögernd.

„Zaira?“

Das war Aric.

„Würdest du rauskommen, ich würde gerne mit dir reden.“

Ich regierte nicht. Ich wollte nicht rauskommen, nie wieder. Hier drin war ich sicher.

„Okay“, sagte er. „Dann hör mir wenigstens zu, bitte.“ Ich hörte wie er sich auf der anderen Seite bewegte. „Hörst du mir zu?“ Er wartete auf eine Antwort, die er nicht bekam. „Okay, dann … pass auf: Was da gerade passiert ist, das mit Mama, das war … ich weiß was du jetzt denkst. Verrückt, durchgeknallt, wahnsinnig.“ Für einen Moment schwieg er. „Bitte denk das nicht von ihr. Mama ist krank, sie hat eine psychische Störung und die zeigt sich leider so. Die meiste Zeit ist sie normal, aber manchmal … das was da eben gemacht hat … sie hat das nicht böse gemeint. Manchmal, wenn sie viel Stress hat, dann … du darfst das nicht falsch verstehen, aber Mama funktioniert unter Druck nicht so gut und in den letzten Tagen ist so viel passiert. Ich hätte wissen müssen, was es bei ihr auslöst, wenn wir einfach verschwinden.“

Auch wenn ich nichts sagte, ich lauschte seinen Worten, doch ich konnte nicht verstehen, wie er sie nach dem was sie getan hatte, noch in Schutz nehmen konnte. Andererseits, sie war seine Mutter, er hatte zu ihr eine Beziehung, die ich niemals haben würde.

Auf der anderen Seite blieb es eine ganze Weile ruhig und einen Moment fragte ich mich, ob er vielleicht einfach gegangen war, doch dann drangen seine leisen Worte wieder zu mir ins Bad. „Ich war sieben, als ich es das erste Mal mitbekommen habe, vorher hat sie es immer vor mir verbergen können. Aber damals … Kiara ist ziemlich krank gewesen. Das Fieber wollte nicht runtergehen und sie ist fast gestorben.“ Er schwieg kurz. „Ich weiß nicht genau was passiert ist, Samuel hat mich aus dem Raum gebracht, aber ich habe die Schreie meiner Mutter gehört. Als ich später wieder ins Zimmer kam, lag sie ganz ruhig in ihrem Bett. Heute weiß ich, dass unser Arzt sie mit Beruhigungsmitteln ruhiggestellt hatte. Sie hat gar nichts mehr von der Welt um sich herum mitbekommen.“ Er verstummte einen Augenblick. „Wenn sie so drauf ist, dann … man muss ruhig bleiben, aber …“ Er verstummte.

„Sie hat dich auch angegriffen.“ Als meine Lippen sich bewegten, spürte ich ein unangenehmes Ziehen am Mund. Ich tastete mit der Zunge nach dieser Stelle, schmeckte Blut. Eine Platzwunde. Cayenne hatte mir ins Gesicht geschlagen und mir eine Platzwunde verpasst. Fast hätte ich aufgelacht, aber es wäre kein glückliches Lachen geworden.

„Das war auch für mich das erste Mal, dass es so extrem war. Normalerweise sagt sie dann nun unzusammenhängendes Zeug, aber dieses Mal … der Stress, das ist alles so … ich weiß nicht wie ich es sagen soll.“ Für einen Moment herrschte Ruhe. „Du hast doch sicher schon die Narben in Diegos Gesicht gesehen.“

„An seiner linken Schläfe“, sagte ich kaum hörbar.

„Genau die. Das war Mama gewesen. Ich habe es nur zufällig rausbekommen. Sie bereut, was sie ihm angetan hat und wünscht sich, sie könnte es rückgängig machen.“ Wieder verfiel er einen Moment in Schweigen. „Das wünscht sie sich immer.“

„Man kann aber nicht rückgängig machen, was passiert ist.“ Ich wusste es. Das war auch der Grund, warum ich jetzt in diesem Bad saß und mich durch die Tür mit meinem Halbbruder unterhielt. Ich hatte alles verbockt. Nur zu gerne würde auch ich es rückgängig machen, aber so funktionierte das Leben leider nicht. „Geschehen ist geschehen“, fügte ich noch leise hinzu und legte mein Kinn auf die Knie.

„Aber manchmal bekommen wir die Chance uns zu entschuldigen und unsere Fehler zu bereuen. Wenn wir es nur versuchen, dann …“ Er machte eine Pause, als suchte er nach dem richtigen Worten. „Wenn wir die Chance bekommen, dann können wir es wieder besser machen.“

Bei diesen Worten drückte ich die Lippen aufeinander. Besser machen.

Langsam erhob ich mich aus meiner Ecke, lief fast wie ein Schlafwandler auf die Badezimmertür zu, öffnete sie wie unter Zwang.

Aric saß neben der Tür an der Wand gelehnt, auf dem Boden.

„Wie?“, fragte ich und hasste mich fast dafür, dass mir schon wieder Tränen in die Augen stiegen. Wütend wischte ich sie weg, kniete mich vor ihn und sah ihm ins Gesicht. „Wie kann ich es besser machen? Ich habe meine Chance vertan, bin nach Italien zu diesem total bescheuerten Vorhaben gefahren und habe nichts erreicht.“ Ich flehte ihn mit Blicken an, mir eine die Antwort auf eine Frage zu geben. „Also sag mir, wie kann ich es besser machen? Wie bekomme ich meine Eltern zurück?“ Zu den letzten Worten hin brach mir die Stimme weg.

Entschuldigend senkte er den Blick. „Ich weiß es nicht.“

Natürlich nicht. Niemand wusste es, niemand außer die Ailuranthropen und die würden mir nicht helfen.

„Aber ich weiß; dass meine Mutter es bereut und sich sicher bei dir entschuldigen möchte. Wenn du sie nur lässt.“

„Ich weiß nicht.“ Jetzt war ich es, die den Blick senkte, um diesen intensiven Wolfsaugen zu entgehen. „Ich hab keine Ahnung wie ich ihr noch einmal gegenüber treten kann.“

„Das kann ich dir auch nicht sagen, aber ich weiß dass es ihr das Herz brechen würde, wenn du dich vor ihr verstecken würdest.“ Mit der Hand berührte er mich vorsichtig an der Schulter, genau wie Sydney es vorhin bei meiner Erzeugerin getan hatte. „Und das möchte ich nicht.“ Als ich darauf nichts erwiderte, atmete er einmal tief durch. „Komm einfach mit mir mit, okay? Wenn es dir zu viel wird, kannst du doch wieder gehen.“

„Und wenn sie mich wieder angreift?“

„Das wird sie nicht.“ Er hob mein Gesicht am Kinn, um mir in die Augen sehen zu können. „Das verspreche ich dir.“

Ich wusste nicht warum, aber ich glaubte ihm und schaffte es sogar, ihn vorsichtig anzulächeln. „Stört es dich, wenn ich dich mal umarme?“

„Ähm … okay.“

Zögernd beugte ich mich vor und drückte ihn kurz an mich. Irgendwie fühlte sich das … komisch an. War das normal bei Brüdern? Ich hatte keine Ahnung.

„Das fühlt sich seltsam an.“

Bei seinen Worten erschien ein kleines Lächeln auf meinen Lippen. „Also das zeigt mir, dass wir wirklich miteinander verwandt sind.“ Auf seinen verwirrten Blick sagte ich: „Genau das gleiche hab ich eben auch gedacht.“

Jetzt lächelte er. „Kannst du mir noch einen Gefallen tun, bevor wir zu meiner Mutter gehen?“

„Kommt darauf an.“

„Kannst du bei mir das gleiche machen wie bei Cio gestern?“ Vorsichtig zog er seine Jacke aus und schob den Ärmel seines Pullis hoch. Damit präsentierte er mir drei kleine, aber tiefe Wunden. Cayenne musste ihre Finger wirklich richtig in seine Haut gebohrt haben. „Das tut nämlich saumäßig weh.“

„So sieht es auch aus.“ Ich steckte meinen Finger in den Mund, benetzte ihm mit dem heilenden Speichel und konnte dann zusehen, wie sich vor meinen Augen in rasender Geschwindigkeit die Blutung versiegte und die Zellbildung beschleunigt wurde, bis die Wunden fast verschwunden waren.

„Nimm es mir nicht übel“, sagte Aric da plötzlich, „aber du stinkst.“

„In den letzten Tagen hatte ich ja auch keine Gelegenheit zu Duschen.“ Ich grinste ihn an. „Und du riechst übrigens auch nicht gerade wie ein Rosenfeld.“

Er verzog das Gesicht und stand auf. „Da bin ich echt froh.“

Typisch Kerl.

„Dann schlag ich vor, wir gehen noch schnell duschen, bevor wir meine Mutter suchen.“

Wahrscheinlich keine schlechte Idee. So konnte ich mich zumindest seelisch ein wenig auf dieses Treffen vorbereiten.

„Ach, und bevor ich es vergesse, hier.“ Aus seiner Jackentasche zog er meine Brille und hielt sie mir vor die Nase. „Alina hat sie vom Boden aufgelesen.“

„Danke.“ Zum Glück war sie heile geblieben. „Gib mir zwanzig Minuten, dann bin ich fertig.“ Im Endeffekt wurden es dann über eine halbe Stunde, was daran lag, dass ich das Mädchen, das mich nach dem Duschen aus dem Spiegel ansah, nicht mochte. Die langen Haare passten nicht zu ihr.

Kurzentschlossen riss ich mir die ganzen Extansions vom Kopf – Kopfschmerzen hatte ich sowieso schon – bis ich wieder aussah wie ich und das hatte absolut nichts damit zu tun, was Cio gesagt hatte. Zumindest redete ich mir das ein. Ich wollte das nicht mehr. Sie waren von meiner Erzeugerin gekommen, als sie mich etwas gemacht hatte, was ich nicht war.

Dieser Abend, mein Geburtstag schien schon so lange her zu sein. So viel war in den letzten zwei Wochen passiert und wie es schien, wurde es von Minute von Minute schlimmer.

Ich wandte den Blick vom Spiegel ab. Das Nest aus Haaren ließ ich in dem kleinen Mülleimer verschwinden, bevor ich in eine viel zu große Jogginghose und einen dünnen und recht engen Longshirt schlüpfte. In diesen Sachen fühlte ich mich nicht unbedingt wohl, aber es war immer noch besser als nackt rumzulaufen. Ich musste mir unbedingt andere Klamotten besorgen.

Auf Socken kam ich aus dem Bad. Aric wartete bereits auf mich. Auch er war duschen gewesen, hatte seine dreckigen Sachen gegen eine saubere Jeans und ein weißes T-Shirt ausgetauscht. Er trug bereits Schuhe und hielt unsere Jacken in der Hand. Wie er da so stand, wirkte er so … normal. Nicht mehr wie ein Prinz, nur wie ein durchschnittlicher, junger Mann.

„Bereit?“, fragte er mich nach einer kurzen Musterung meiner kurzen Haare und hielt mir meine Jacke hin.

„Nicht wirklich“, musste ich eingestehen, nahm die Jacke aber trotzdem an mich und schlüpfte an der Tür in meine Schuhe. Dann folgte ich Aric hinaus in die Dunkelheit.

Ich hatte das vom ersten Moment an für keine sehr gute Idee gehalten und als wir dann ins Haupthaus traten, bekam ich wirklich Bammel vor der Begegnung mit Cayenne. Vielleicht war es wirklich eine psychische Störung, so wie Aric sagte, aber das machte es irgendwie nicht besser. Sie hatte mich angegriffen und geschlagen und das machte mir Angst.

Kurz dachte ich darüber nach, ob ich mich nicht vielleicht doch besser in meinem Zimmer verkriechen sollte. Dort wäre es bestimmt sicherer und ich müsste Cayenne nicht gegenüber treten. Doch meine Überlegung wurde unterbrochen, als Alina um die Ecke geschossen kam, während wir noch unsere Jacken an die Haken hängten. Sie hatte aufgeregte, rote Flecken im Gesicht und strahlte richtig.

„Aric!“, rief sie. „Meine Eltern, sie haben Samuel und Kiara gefunden. Schnell, komm!“

„Was?“

„Deine Schwester, Mama und Papa haben sie gefunden und Verbindung mit uns aufgenommen. Per Videochat. Los, komm!“ Sie grabschte nach seiner Hand und zog ihn einfach mit sich mit, als er vor Überraschung nicht reagierte. Doch dieser Zustand dauerte nur einen Moment, dann rannte er mit ihr davon – ich direkt hinter ihnen.

Kiara und Samuel, sie hatten sich gemeldet, endlich mal gute Nachrichten. Und auch meiner Tante und meinem Onkel ging es gut. Bis jetzt hatte ich gar nicht gemerkt, dass ich mir auch um sie Sorgen gemacht hatte.

Mehrere Leute mussten uns aus dem Weg springen, als wir durch den Korridor rannten. Die Tür zu dem großen Wohnraum stand wieder offen und so preschten wir einfach hinein.

Auf dem Schreibtisch stand ein offener Laptop. Alle aus dem Rudel hatten sich darum versammelt. Cayenne saß direkt davor auf einem Stuhl. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sydney stand hinter ihr und auch bei ihm machte sich die Erleichterung bemerkbar, genau wie bei Cio und Genevièv, die sich auch vor den Bildschirm gedrängt hatten. Nur Diego und Umbra Joel hielten etwas Abstand. Und Kasper blieb den Leuten komplett fern. Er lehnte mit verschränkten Armen an der Wand und beobachtete das Ganze aus sicherer Entfernung. Doch als wir drei in den Raum gestürmt kamen, richtete sein Blick sich auf mich, nur um gleich darauf Aric zu folgen.

„… den ganzen Urlaub vermasselt!“, hörte ich eine Stimme aus dem Computer. Das war Kiara.

Cio gab ein bellendes Lachen von sich. „Na wenn das deine größte Sorge ist.“

Mein Halbbruder und Alina drängten sich vor den Monitor.

„Aric!“, kam es sofort von seiner Schwester.

„Bei Leukos, geht es dir gut?“

Ich näherte mich etwas vorsichtiger. Kiara wirkte erschöpft, genau wie Samuel, der hinter ihr stand und seine Hände auf ihre Schultern gelegt hatte, doch sie schienen wohlauf zu sein.

„Ja, ja“, winkte Kiara lässig ab. Sie hatte etwas von ihrem Strahlen eingebüßt, nur ließ sich schwer sagen, ob das an den Umständen lag, oder an dem, was sie kurz vor ihrer Abreise erfahren hatte. „Ich will einfach nur nach Hause.“

Nur das sie kein Zuhause mehr hatte. Dort wohnte nun jemand anderes.

„Wir holen dich sobald es möglich ist“, versprach Sydney. „Du musst nur noch ein bisschen Geduld haben.“

Cayenne hatte die Hand an den Bildschirm gelegt, als könnte sie ihre Tochter so näher sein. Sie wirkte ein wenig aufgewühlt, aber ansonsten wieder völlig normal. Trotzdem ging ich nicht näher an sie heran. Allein bei ihrem Anblick fing mein Gesicht wieder an zu pochen und meine Zunge fuhr fast automatisch über meine Lippe. Doch die Platzwunde war verschwunden, ich hatte sie schon bei der ersten Berührung mit meiner Zunge geheilt.

„Wir sind schon seit Tagen in diesem Loch“, beschwerte sich Kiara. Dabei bemerkte sie mich. Ihre Augen wurden eine Spur schmaler, aber ansonsten nahm sie meine Anwesenheit nicht zur Kenntnis. „Ich kann hier nicht mal duschen.“

„Dafür ist es aber wenigstens sicher“, tadelte Samuel sie.

„Es tut mir so leid“, flüsterte Cayenne. Sie hatte bisher nicht mal bemerkt, dass ich den Raum betreten hatte. Oder Kiara war ihr einfach wichtiger als ich. Ihr hatte sie schließlich zusehen können, wie sie aufgewachsen war, mich dagegen hatte sie einfach weggegeben. „Das ist alles meine Schuld.“

„Deine Schuld?“ Kiara gab ein spöttisches Geräusch von sich. „Was kannst du denn bitte dafür, wenn da so eine Schlampe größenwahnsinnig geworden ist? Sie …“

„Kiara“, sagte Sydney. Nur dieses eine Wort und seine Tochter verstummte. Tja, auch wenn größenwahnsinnige Schlampe stimmte, war das wohl keine Bezeichnung, die er aus ihrem Mund hören wollte.

„Wie geht es denn jetzt weiter?“, wollte Samuel wissen.

Ich wich ein wenig zurück, bis ich neben Kasper an der Wand lehnte. Bei dieser Familienzusammenführung würde ich sowieso nur stören.

„Alles okay bei dir?“, fragte er mich leise, ließ seinen Blick aber auf Aric liegen. Er schien ihn wie magnetisch anzuziehen.

„Passt schon“, murmelte ich. Jedenfalls war ich bisher kein weiteres Mal attackiert worden, also konnte es nur besser werden. „Wie ist das passiert?“ Ich nickte Richtung Laptop.

„Er hat geklingelt.“

Für diese blöde Antwort bekam er den passenden Blick. Leider galt sein Interesse noch immer nicht mir und bekam es es gar nicht mit. „Geht das vielleicht auch ein bisschen genauer?“

„Naja, die haben hier alle so rumgesessen und versucht mit Cayenne zu sprechen, aber die saß einfach nur da und hat ins Leere gestarrt. Ich glaub sie ist ganz schön fertig, weil sie auf dich und Aric losgegangen ist.“

Leider half das aber auch nicht dabei, es rückgängig zu machen.

„Jedenfalls klingelte da plötzlich der Laptop. Diego hat den Chat angenommen und da war dein Onkel gewesen.“

Ich horchte auf. „Onkel Tristan?“

„Ja. Wenn ich es richtig verstanden habe, haben er und deine Tante von dieser Future aus dem Hof eine Nachricht bekommen und sich dann auf den Weg nach Cervon gemacht. Das Anwesen war leer gewesen, die Leute der Gräfin haben sie verscheucht, aber sie haben eine verschlüsselte Botschaft von jemanden namens Drogan gefunden. Die hat sie zu einem alten, vergessener Bunker in der Nähe geführt hat.“

Ich runzelte die Stirn. Das klang viel zu abenteuerlich. „Und die Leute von Gräfin Xaverine haben ihre Spur nicht verfolgen können?“

„Nee.“ Er schüttelte den Kopf. „Ein paar Wächter haben für ein bisschen Ablenkung gesorgt und die Leute der Gräfin in die falsche Richtung geführt.“

„Und jetzt sind sie immer noch in diesem Bunker?“

„Nee. Jetzt sind sie wohl in irgendeiner verlassenen Hütte, die kaum einer kennt.“

Cio lachte über etwas, das Kiara gesagt hatte, woraufhin Sydney nur den Kopf schütteln konnte. Cayenne dagegen wandte zögernd den Blick ab, bis sie mich fand. In ihren Augen lag eine unausgesprochene Entschuldigung.

Ich drückte die Lippen aufeinander und senkte mein Gesicht. Ich glaubte ihr, dass es ihr leid tat, doch das Vertrauen hatte stark gelitten und so schnell würde wohl nichts mehr in Ordnung kommen. „Also sind sie erstmal sicher.“

Er nickte. „Darum konnten sie es jetzt auch riskieren sich zu melden.“

Das war gut. Sie sahen glücklich aus, wie eine Familie. Selbst die Leute aus dem Gracia-Rudel wirkten ein wenig erleichtert und auch, als würden sie dazuzugehören, obwohl sie ein wenig Abstand hielten. Ich brauchte nicht lange nachdenken, um darauf zu kommen, woher der Eindruck ihrer Zusammengehörigkeit kam. Sie waren alle Lykaner. Das vereinte auf eine Art, wie andere es sich gar nicht vorstellen konnten. Mehr als Freunde, mehr als Familie. Und das war auch der Grund, warum Kasper und ich hier hinten an der Wand standen. „Wir gehören nicht dazu.“

„Was?“ Er richtete seinen Blick auf mich.

„Du und ich, wir gehören hier nicht her“, sagte ich leise. „Ich bin weder Fisch noch Fleisch und du bist ein Mensch. Wir sind anders und deswegen werden wir nie dazugehören.“

Das war der Moment, in dem Shiva in den Raum trat und so wie sie mich ansah, hatte sie gehört, was eben meinen Mund verlassen hatte. „Warum sagst du sowas?“, fragte sie mich dann auch ganz direkt.

„Weil es stimmt“, gab ich bitter von mir.

„Ach Quatsch.“ Mit den Händen in den Hüften, stellte sie sich vor mich. „Wenn ihr nicht hier hergehören würdet, dann würde ich das auch nicht.“

„Warum? Bist du ein Mensch? Oder ein Misto?“ Das bezweifelte ich gewaltig, sie roch nach Lykaner.

Sie grinste mich an. „Ja und nein zu beidem.“

Was war das denn bitte für eine Antwort? „Du bist sowohl Mensch als auch Misto und dann auch wieder nicht?“

„Mein Vater ist ein Lykaner.“ Sie zeigte auf Keenan. „Meine Mutter war ein Mensch, was mich theoretisch zu einem Misto macht. Nur ist der Wolf in mir nie erwacht, weswegen ich praktisch ein Mensch bin. Und ich würde niemals sagen, dass ich nicht hierher gehöre, nur weil ich anders bin. Ich bin wer ich bin und gehöre dort hin, wo ich mich wohlfühle.“

Klang einleuchtend. Schade nur, dass ich mich hier im Moment absolut nicht wohl fühlte.

Sie lächelte mich an. „Lass dir nie etwas anderes einreden. Und dein Kumpel ist hier auch nicht außen vor. Bei uns im Rudel leben mehrere Menschen.“

Das überraschte mich jetzt doch. „Aber es ist doch verboten, Menschen von der verborgenen Welt zu erzählen.“

„Ja, im Rudel der Könige. Wir haben unsere eigenen Regeln.“ Sie zwinkerte mir zu. „Und … Moment“, sagte sie, als ihr Handy klingelte. Sie zog es aus der Hosentasche, runzelte beim Blick aufs Display die Stirn und hielt es sich ans Ohr. „Ja? … okay und was …“ Sie riss die Augen auf. „Ist das ein Scherz? … okay, ich komm nach vorne. Lasst niemanden an ihn ran.“ Noch während sie das sagte, setzte sie sich bereits in Bewegung und verließ mit dem Handy am Ohr die Küche.

„Schäfchen!“, rief Cio begeistert und drückte mich einen Moment später an seine Brust. „Der Nudel geht es gut! Ist das nicht klasse?!“

Ach ja, er war ja mit ihr aufgewachsen. Für ihn musste sie wie eine Schwester sein. Ich zwang mich zu einem Lächeln, nach dem mir im Moment überhaupt nicht war. „Ja, das ist toll. Wenigstens haben ein paar der vermissten Personen wiedergefunden.“ Es hatte nicht so bitter klingen sollen, wie es rauskam. Aber auch wenn es toll war, dass Kiara und Cayennes Cousin wieder aufgetaucht waren, so blieben meine Eltern noch immer verschollen.

Irgendwo hatte ich mal gehört, je mehr Zeit seit einer Entführung verging, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass man diese Leute lebend wiedersah. Meine Eltern hatte ich vor drei Tagen das letzte Mal gesehen. Es mochte sich vielleicht nicht nach viel anhören, doch das waren zweiundsiebzig Stunden und in dieser Zeit konnte einem eine Menge passieren.

Samuel und Kiara waren nur etwas mehr als achtundvierzig Stunden verschwunden gewesen. Hatten meine Eltern auch einen rettenden Engel, der ihnen helfen konnte, oder waren sie ganz auf sich allein gestellt?

Ich drücke mich von Cio weg, erinnerte mich daran, dass ich Abstand halten wollte, auch wenn es sich in seine Armen noch so gut anfühlte und sein sauberer Geruch mir einfach nur den Verstand vernebeln wollte. „Das ist wirklich toll“, beeilte ich mich noch mal zu sagen.

Cio runzelte die Stirn. „Geht es dir gut?“ Er wollte die Hand auf meine Wange legen, doch ich wich einen Schritt zurück bevor er mich berühren konnte. „Tut sein Gesicht noch weh?“

„Ein bisschen, ist aber nicht so schlimm.“

Die Falte zwischen seinen Augenbrauen wurde tiefer. „Bist du sicher? Ich kann dir Eis oder so holen, wenn du möchtest.“

„Nein, ich brauchte nichts.“ Mein Blick schweifte zum Computer, wo Kiara gerade die ganzen Geschehnisse aus ihrer Perspektive erzählte. „Es ist gut, dass wir jetzt wissen, wo sie sind.“

„Ach Schäfchen, wir werden deine Eltern schon finden, daran glaube ich fest.“

Wenigstens konnte einer von uns noch so zuversichtlich sein.

„Das mit Italien war nur ein kleiner Rückschlag. So schnell geben wir nicht auf, okay?“

Ich schüttelte unwillig den Kopf. „Vergiss es einfach.“ Wir hatten doch nicht mal einen neuen Anhaltspunkt, tappten genauso im Dunkeln, wie in dem Moment, in dem ich erfahren hatte, was in meiner Abwesenheit Zuhause passiert war.

„Zaira …“

„Nein, lass es einfach.“ Noch mehr ertrug ich im Moment nicht. „Bitte.“

Seufzend drückte er die Lippen zusammen. Er sah nicht so aus, als würde er es einfach lassen wollen.

„Was ist denn da los?“, fragte Kasper, der durch die Tür einen Blick auf den Korridor warf.

Einen Moment später stürmte Shiva an uns vorbei. „Wir haben ein Problem“, sagte sie zu keinem bestimmten und trat zur Seite, als hinter ihr ein paar Männer in den Raum kamen. Einer von ihnen trug einen bewusstlosen Mann im Arm. Oh Gott, er sah aus, als wäre er mitten aus einem Kriegsgebiet kommen. Er war überall schwer verletzt. Und Blut, da war so viel Blut, dass man darunter kaum noch die Haut erkennen konnte. Sein Gesicht war fast bis zur Unkenntlichkeit zerstört, die Kleidung hing in Fetzen an ihm herunter. Nur das kurze, blonde Haar war noch ein wenig zu erkennen, genau wie der Ring in seiner Lippe.

Direkt dahinter wurde ein zweiter Mann hineingeführt. Er hatte braunes Haar und eine lange Narbe quer über das Gesicht.

Seine Hände waren blutverschmiert, aber das schien nicht von ihm zu stammen, sondern von dem anderen Mann. Kleine Blessuren waren auch bei ihm erkennbar, doch im Großen und Ganzen schien er unverletzt zu sein. Sein Blick war glasig, so als könnte er den Schrecken, den er gerade erlebt hatte, nicht hinter sich lassen.

„Oh scheiße“, entfuhr es Ayko.

Cayennes Augen waren riesig. „Nathan“, flüsterte sie.

 

°°°°°

Schlimmer geht immer

 

Seine Hände waren voller Blut. Er saß einfach nur auf der Couch und starrte sie an, als würden sie ihm erklären, was geschehen war. Bisher hatte er kein einziges Wort gesagt. Niemand in diesem Raum wusste, was ihm und seinem Freund widerfahren war.

Den anderen Mann konnten wir auch nicht fragen. Den, den Cayenne Nathan genannt hatte, bevor sie kalkweiß geworden war. Aykos Leute hatten ihn aus dem Raum gebracht, um ihn zu versorgen. Ich wusste nicht wo er jetzt war, oder wie es ihm ging, doch so wie es ausgesehen hatte, standen seine Chancen nicht sehr gut.

„Cooper.“ Celine hockte sich vor den großen Mann, mit der langen Narbe im Gesicht und legte ihm vorsichtig eine Hand auf sein Knie. Beruhigende Wellen von Odeur gingen von ihr aus und legten sich wie die Umarmung einer Mutter um ihn. „Sprich endlich mit uns. Was ist passiert? Warum können wir Gero nicht erreichen?“

Gero, das Oberhaupt des Rudels in Itzehoe, Coopers und Nathans Alpha, soviel hatte ich in der Zwischenzeit schon aus den Gesprächen rausgehört. Genau wie die Tatsache, dass Cooper ein Misto war und auch, dass Nathan und Cayenne von Früher miteinander bekannt waren.

Vor dem Schreibtisch lief Keenan unruhig auf und ab und schaltete dann frustriert das Handy ab. „Bei Divana geht auch keiner ans Telefon.“

Ich wollte es nicht laut aussprechen, doch es erinnerte mich sehr stark an die Situation mit Samuel und Kiara. Aber da hatte die Gräfin nur zwei Leute verscheucht – drei, wenn man den Umbra mitrechnete – doch hier waren zwei ganze Rudel nicht mehr zu erreichen. Das von Gero und das von Divana. Das war, gelinde gesagt, beunruhigend.

„Cooper“, versuchte Celine es erneut, aber dieses Mal mit einem Unterton in der Stimme, den ich körperlich spüren konnte. „Sag uns was passiert ist.“

Der Mann mit der Narbe blinzelte nicht einmal, er starrte nur völlig teilnahmslos auf seine Hände mit dem getrockneten Blut. Obwohl er direkt vor uns saß, war er geistig gar nicht anwesend. Er hatte einen Schock. Selbst wenn er gewollt hätte, in diesem Zustand war es ihm unmöglich zu sprechen.

Wieder fragte ich mich, was passiert sein könnte, dass ein völlig verzweifelter Mann seinen halbtoten Kameraden durch die Gegend trug und damit riskierte, den Zustand noch zu verschlimmern.

Keenan hatte wieder das Handy am Ohr, aber wenn ich den frustrierten Ausdruck in seinem Gesicht richtig interpretierte, wurde er wieder in der Leitung hängen gelassen.

Ich drückte mich neben Kasper an der Wand entlang und spähte zu meiner Cousine. Genau wie ich hielt sie sich im Hintergrund und klammerte sich an Arics Hand. Irgendwie war es seltsam die beiden so zu sehen und ich war mir auch noch nicht ganz sicher, was ich davon halten sollte.

Cayenne stand mit Sydney vor dem Computer. Ihr Gesicht war immer noch sehr blass. Neben ihr, durch den Monitor, beobachteten mein Onkel und Samuel mit steinerner Mine, was hier vor sich ging. Meine Tante hatte ich auch schon hinter ihnen herumhuschen sehen. Sie versuchte gerade auf anderem Wege eine Antwort auf unsere Fragen zu finden.

Cio stand mit seinem Vater bei Cooper am Sofa, aber offensichtlich hatte auch keiner von den beiden eine Ahnung, wie sie den verzweifelten Mann zum Reden bringen konnten.

Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe herum. Zum Reden bringen, genau das war das Stichwort, über dass ich mir seit ein paar Minuten den Kopf zerbrach. Da er kein reinrassiger Lykaner war, sondern ein Misto, könnte ich ihn zum Reden bringen – vielleicht. Ich hatte es schon lange nicht mehr getan, einfach weil es so gut wie nie funktionierte und ich war mir auch absolut nicht sicher, ob ich mich da einmischen sollte.

„Verdammt!“, fluchte Keenan und warf sein Handy wütend in den freien Sessel. „Cooper, jetzt sprich endlich mit uns!“

„Ruhig“, sagte Ayko leise. „Ihn jetzt anzuschreien, bringt im Moment gar nichts.“

Da hatte er recht. Ich war mir nicht mal sicher, ob er uns überhaupt hörte. Er war völlig lethargisch.

„Ähm“, machte ich bevor ich noch einmal darüber nachdenken konnte. „Vielleicht kann ich dafür sorgen, dass er den Mund aufmacht.“ Ich sah nervös zu dem apathischen Mann und dann schnell auf den Boden. Die Blicke der Anwesenden spürte ich trotzdem. „Aber … egal, vergesst es einfach.“ Gott, war das peinlich! Warum nur hatte ich meine Klappe aufgemacht?

„Nein“, sagte Celine und richtete sich auf. „Die Idee ist gut.“ Sie schaute von mir zu Cooper und wieder zurück. „Bist du denn fähig, deine Repression einzusetzen? Ich meine, weil du ein Misto bist.“

„Äh … manchmal. Also nicht immer.“ Nervös bohrte ich meinen Zeh in den Teppich und das nicht nur, weil ich zum ersten Mal mit meiner Großmutter sprach. In dem ganzen Chaos waren wir einfach noch nicht dazu gekommen, uns miteinander zu unterhalten. „Ich hab es schon lange nicht mehr getan, weil es meistens nicht funktioniert.“

„Meistens? Aber nicht immer.“

„Nicht immer“, bestätigte ich zögernd.

Akyko wiegte seinen Kopf hin und her, als wöge er unsere Möglichkeiten ab. „Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert.“

Das sah Celine wohl auch so. „Komm“, sagte sie und streckte mir ihre Hand entgegen.

Da es wohl unhöflich wäre, diese Geste zu ignorieren, nahm ich sie an den Fingerspitzen und ließ mich von ihr vor den teilnahmslosen Mann ziehen.

Nervös schaute ich von ihm zu Celine, doch erst als mein Blick Cio begegnete und ich von ihm ein kleines, zuversichtliches Lächeln bekam, ging ich vor Cooper auf die Knie, um Blickkontakt herstellen zu können.

Augenblicklich wurde der Blutgeruch, der von ihm ausging, stärker. Doch er war alt, geronnen und unappetitlich, sodass mein Bluthunger sich einmal zurück hielt. Gott sei Dank. Jetzt in einen Rausch zu verfallen, konnten wir wohl alle nicht gebrauchen. „Cooper?“, fragte ich leise und wartete dann einen Moment. Als er nicht reagierte, berührte ich vorsichtig seine Hand. Sie war kalt und zitterte leicht. Ich hatte nicht viel Ahnung von diesen Dingen, aber der Mann stand eindeutig unter Schock.

Okay, dann wollen wir es mal versuchen. Vorsorglich nahm ich meine Brille ab und legte sie mir in den Schoß. Dann hob ich sein Gesicht so weit an, dass er mir in die Augen sehen musste. Sein Blick war leer und gebrochen. In den Augenwinkeln erkannte ich Spuren von Tränen. Was nur war geschehen, dass ein solch starker Mann weinte?

Ich rief mir das in Erinnerung, was mein Vater mich schon als kleines Mädchen gelehrt hatte. Konzentriere dich, schärfe deinen Blick. Glaube an das, was du erreichen willst. Du musst es wirklich wollen, tief in dir drin, sonst funktioniert es nicht. Und genau da hatte schon immer das Problem gelegen, bei diesem Wollen. Ich wollte es, aber ich wollte es nicht genug, hatte Papa mir einmal erklärt. Einfach weil es mir widerstrebte anderen meinen Willen aufzuzwingen.

Doch jetzt wollte ich es nicht nur, ich musste, weil es wichtig war. In diesen unruhigen Zeiten war es sehr bedeutend zu erfahren, warum ein halbtoter Lykaner hierher gebracht worden war. Nicht nur wegen ihm, sondern auch weil meiner Erzeugerin sich hier aufhielt.

„Cooper“, sagte ich noch einmal und obwohl sein Blick durch mich durchzugehen schien, waren seine Augen auf mich gerichtet. „Komm zu dir und antworte auf meine Fragen“, befahl ich mit strenger Stimme, die nichts anders als Gehorsam zuließ. Ich spürte die Macht in mir brennen, den Willen und versuchte mich von den anderen nicht ablenken zu lassen. „Hast du das verstanden?“

Er blinzelte nicht einmal.

„Cooper“, sagte ich noch einmal und strengte mich ein wenig mehr an. Ich musste es nur wollen. „Du wirst jetzt auf meine Fragen antworten, verstanden?“

Keine Reaktion. Verdammt. Hilflos schaute ich zu den anderen in dem Raum.

„Gib nicht so schnell auf“, sagte Cio. Er löste sich von seinem Platz neben seinem Vater und hockte sich neben mich. „Du schaffst das“, erklärte er überzeugt und legte seine Hand auf meine. „Ich weiß es.“

Na ich war mir da nicht so sicher. Trotzdem wandte ich mich wieder Cooper zu und fixierte ihn.

„Komm schon, kleines Schäfchen“, murmelte er leise.

Ich war mir nicht sicher, ob es seine Nähe, oder seine Worte waren, aber in mir reifte meine Entschlossenheit.

Erneut fasste ich seinen Blick mit meinem. „Cooper, ich werde dir jetzt Fragen stellen und du wirst sie beantworten, hast du das gehört?“

Der gebrochene Blick in seinen Augen wurde ein wenig glasig. „Ja“, sagte er wie ein Roboter mit völlig tonloser Stimme.

Vor Schreck, dass es wirklich funktionierte, hätte ich den Augenkontakt fast abgebrochen. Ich zwang mich still zu verharren. Okay, jetzt wurde es ernst. „Dann sag mir, warum du Nathan hergebracht hast.“

„Ich wusste nicht, wo ich sonst hingehen soll. Ich brauchte Hilfe und alle anderen Rudel sind viel weiter entfernt.“

Hm, das war wohl die falsche Frage gewesen. „Warum brauchtest du Hilfe? Was ist mit deinem Rudel passiert? Wir haben versucht anzurufen, aber niemand geht ans Telefon.“

„Es ist niemand mehr übrig, der ans Telefon gehen kann“, sagte er sehr leise. „Sie hat sie alle getötet.“

Ich schluckte, weil die nächste Frage drohte mir in der Kehle stecken zu bleiben. „Wer hat wen getötet?“

„Die Lykaner von Gräfin Xaverine haben mein Rudel getötet.“

Oh Gott, nein.

Ayko beugte sich ein wenig vor. „Frag ihn, was genau passiert ist. Er soll uns alles berichten, von Anfang an, bis er hier auftauchte.“

„Hast du gehört, was Ayko gesagt hat?“

„Ja.“

„Dann berichte.“

Er blinzelte nicht, oder atmete noch einmal tief ein, wie es jeder andere in seiner Situation getan hätte. Er war so in meinem Bann, dass er nur den Mund öffnete und tat was ich von ihm verlangt hatte. „Es war heute Morgen, noch bevor mein Wecker geklingelt hat. Nathan und ich lagen noch im Bett. Ich weiß nicht was genau geschehen ist. Ein Schrei riss uns aus dem Schlaf, er war von Javan gekommen. Er hat gleich das Zimmer neben uns. Nathan ist noch vor mir aus dem Bett gesprungen, um zu sehen, was da los ist, doch kaum dass er die Zimmertür aufgerissen hatte, wurde er von einem Wolf angesprungen, der sich in ihm verbiss. Er wollte meinen Gefährten töten, aber er hat es nicht geschafft, weil ich dazwischengegangen bin. Ich hab ihm die Kehle rausgerissen, aber es war zu spät. Nathan war schon voller Blut und auf dem Korridor draußen lag Javan. Er war tot.“ Er holte einmal Luft.

„Da waren überall Wölfe von Gräfin Xaverine. Sie haben unser Zuhause überrannt, die Türen aufgebrochen und uns aus den Betten gezerrt. Es waren so viele, wie konnten das Hotel nicht verteidigen. Ich konnte nicht helfen, ich musste Nathan beschützen, ich konnte meinen Gefährten nicht verlieren.“ Er verstummte.

Ich wartete einen Augenblick. Einerseits um ihm die Gelegenheit zu geben, noch etwas hinzuzufügen, andererseits um das, was er da gesagt hat, zu verarbeiten. Was er da erzählte, wollte ich mir nicht einmal vorstellen und doch kam ich nicht gegen die Bilder an, die mein Hirn sich zusammenreimte. „Woher weißt du, dass die Gräfin dahinter steckt?“, fragte ich leise.

„Weil die Wölfe es gerufen haben. Immer und immer wieder. Im Namen der Alphas töten wir euch. Die Bedrohung durch die Abtrünnigen wird hier und heute enden. Es darf keine Wölfe neben dem Rudel der Könige geben. Sie wollten uns alle töten. Nicht nur mein Rudel, auch die der andren Simultanen.“

Oh Gott, hieß das jetzt, dass Rudel in Gefahr waren?

Keenan schnappte sich das Handy vom Sessel. „Ich versuche noch mal Gero und Divana zu erreichen.“

„Ruf auch die anderen an“, befahl Celine. „Sie müssen gewarnt werden, alle.“

Nickend wählte Keenan.

„Wie bist du entkommen?“, fragte ich Cooper, ohne mich um die anderen zu kümmern. „Wie hast du es hier her geschafft?“

„Mit dem Auto. Gero hat es gewollt. Er hat mich hinunter in die Tiefgarage gebracht und gesagt, ich soll die anderen Rudel warnen. Dann ist er gestorben. Ein brauner Wolf hat ihr das Genick gebrochen. Er hat mich beschützt, damit ich es zum Wagen schaffte, das hat ihn das Leben gekostet.“

Nach diesen Worten wurde es im Raum totenstill. Keenan ließ seine Hand mit dem Handy langsam sinken und starte den Mann auf der Couch fassungslos an. Das Tuten aus dem Gerät war das einzige Geräusch im ganzen Raum.

Tut, tut, tut. Hallo, ich bin gerade nicht zu erreichen, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht, oder versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal. Ich werde mich sobald wie möglich zurückmelden.“ Stille.

Nein, er würde sich bei niemanden mehr zurückmelden, denn er war tot, getötet durch Xaverines Schergen.

Das zu hören … ich konnte es kaum glauben. Wie konnte diese ganze Situation nur so aus den Fugen geraten? Was versuchte die Gräfin mit diesen grausamen Taten zu erreichen? Sie war schlimmer als Tiere. Tiere kämpften ums Überleben, um Nahrung und nicht um Macht. Das taten nur Monster.

In dem Moment erschien Tante Lucy neben Tristan auf dem Bildschirm. „Das müsst ihr euch ansehen“, sagte sie, schob ihren Mann zur Seite und begann auf der Tastatur einzuhacken.

Der Blickkontakt zu Cooper brach, als ich mir meine Brille zurück auf die Nase schob und aufblickte. Cooper blieb völlig gleichgültig sitzen. Hatte er überhaupt wahrgenommen, dass ich ihn gerade befragt hatte? Ich bezweifelte es.

Das Gesicht meiner Tante war äußerst grimmig. „Ich kann nicht glauben, dass sie so weit geht“, sagte sie noch, dann wurde das Bild von ihr und Tristan durch ein Video ersetzt.

Das erste was ihr hörte, waren die Schreie und das aggressive Knurren von Wölfen.

Die Bedrohung durch die Abtrünnigen wird hier und heute enden!“, rief eine Mann, der durch einen Flur rannte, der mich an einen Hotelkorridor erinnerte.

Cio ließ mich los und erhob sich langsam. Sein Gesicht war genauso fahl wie das von jedem anderen im Raum.

Während die Bilder über den Monitor huschten, musste ich an Coopers Worte denken. Der Überfall auf sein Zuhause … jemand hatte ihn gefilmt. Das da auf dem Monitor war eindeutig Cooper, der gerade versuchte Nathan in Sicherheit zu bringen, während ihm drei Wölfe auf den Fersen waren.

Im Namen der Alphas töten wir euch!“

Oh Gott, was da zu sehen war, was sie mit dem Rudel von Itzehoe taten, das war das reinste Massaker. Auf einen Simultanen kamen drei Wölfe der Gräfin. Überall blutende und schreiende Wesen. Tote Augen, die leer in die Kamera blickten. Ein weinendes Kind wurde von einem knurrenden Wolf am Arm gepackt und ins nächste Zimmer gezerrt. Ein schwerverletzter Mann jagte den beiden so schnell es im möglich war hinterher, doch der Film zeigte nicht, was weiter geschah. Das musste ich auch nicht sehen, ich konnte es mir auch so vorstellen.

Direkt vor der Kamera lief eine junge Frau vorbei. Sie hatte sich ein schreiendes Bündel an die Brust gedrückt und versuchte mit ihm zu entkommen, doch da wurde sie von zwei schwarzen Wölfen niedergerissen. Als ein Wolf einem Mann frontal ins Gesicht sprang und ihm das Gesicht zerfleischte, riss ich blitzschnell den Kopf zur Seite. Das konnte ich mir nicht länger mit ansehen, ohne mich übergeben zu müssen. Oh Gott, wie konnte jemand so kalt und abgrundtief böse sein? Wie konnte nur jemand Kinder und Babys niedermetzeln?

„Das ist niemand aus Geros Rudel“, sagte Ayko in dem Moment mit unterdrückter Wut in der Stimme. „Er gehört zu Kilians Rudel.“

Die Szene wechselte, ich musste es nicht sehen um das zu wissen, ich konnte es an den Geräuschen wahrnehmen, an den Schreien und dem Knurren.

„Und die Frau dort gehört zu Ivan“, erklärte Celine.

Es darf keine Wölfe neben dem Rudel der Könige geben!“, brüllte die Stimme eines Mannes und ein Chor aus mehrstimmigen Wolfsgeheul erhob sich zustimmend über die Geräuschkulisse. Und dann gingen die Schreie wieder los.

„Es scheint als würde Gräfin Xaverine alle Rudel der Abtrünnigen angreifen lassen“, sagte Cayenne gepresst. „Sie will sie auslöschen, um keine Konkurrenz fürchten sie müssen.“

„Sie will die ganze Macht für sich“, bestätigte Diego.

Sydney drückte die Schultern seiner Gefährtin.

„Aber ich dachte, ihr Sohn sitzt jetzt auf dem Thron“, kam es da von Alina.

Aus dem Monitor drangen weitere Schreie an meine Ohren. Ich war kurz davor die Flucht zu ergreifen, um es nicht mehr hören zu müssen.

„Vordergründig scheint es so“, sagte Genevièv. „Aber diese Frau würde sich die Macht niemals aus den Händen nehmen lassen. Sie manipuliert das Rudel, sagt dass sie nur das Beste für sie will und um das zu beweisen, tritt sie für ihren hübschen Jungen zurück. In Wirklichkeit regiert sie durch ihr Kind. All das hat sie zu verantworten.“

Dafür werdet ihr bezahlen!“, fauchte eine blutige Frau, der von einem Wolf das halbe Gesicht zerkratz worden war. „Leukos wird euch bestrafen und euch … ahhh!“

Die Szene wechselte wieder. Keine Schreie, kein Knurren.

Ich riskierte vorsichtig einen Blick und sah in das grinsende Gesicht von Gräfin Xaverine, die neben ihrem Sohn am Thron stand und berechnend in die Kamera blickte. Doch es war ihr Sohn Cerberus, er den Mund öffnete. „Der Bedrohung durch die Abtrünnigen muss ein Ende gesetzt werden. Unter der Regime der Betrügerin Cayenne Amarok ist es ihnen sogar gelungen unabhängig zu werden und als eigenständige Rudel zu gelten und interagieren. Dies kann ich nicht dulden. Jeder Wolf, der eine Gefahr für mein Rudel darstellt, wird hiermit von mir zum Tode verurteilt. Viele von ihnen sind bereits Strafrechtlich aufgefallen und haben für ihre Taten mit Verbannung auf dem Rudel der Könige bezahlt, doch dies ist nicht genug. Sie rotten sich zusammen und stellen damit eine ernstzunehmende Bedrohung dar. Daher ergeht von mir der Befehl zur Exekution jedes Abtrünnigen.“ Sein kalter Blick schien aus dem Bildschirm direkt auf mich gerichtet. „Ohne Ausnahme.“

Der Das Bild schrumpfte zu einem kleinen Ausschnitt oben in der Ecke zusammen und gab wieder den Blick Tante Lucy frei. „Das ist nicht das einzige Video dieser Art, das ich gefunden habe. Xaverine scheint eine ganze Sammlung angelegt zu haben, die sie nach und nach ins Internet stellen lässt. Unter ihnen sind nicht nur Aufforderungen, die Augen nach Cayenne offen zu halten, sondern auch jeden Abtrünnigen zu melden, der gesichtet wird.“ Sie pustete sich eine Strähne, ihres roten Haares aus dem Gesicht. „Auch lässt sie immer wieder Lesungen veröffentlichen, in denen eine nette alte Dame, Teile aus Sydneys Werk vorließt.“ Sie funkelte den vernarbten Mann an. „Wie konntest du nur so saudämlich sein und das alles aufschreiben?“

Cayenne zeigte ihr die Zähne. „Pass auf was du sagst, es ist nicht seine Schuld. Xaverine hat das alles auch ohne die Bücher rausgefunden.“

„Ja, aber die Entdeckung der Bücher hilft uns nicht gerade weiter. Ganz im Gegenteil. Damit hat er ihr praktisch schwarz auf weiß den Beweis gegeben, den sie brauchte, um alles zu bestätigen. Eine schriftliche Zusammenfassung deines Gefährten über dein Leben. Ich will gar nicht wissen, wie die Wölfe reagieren, wenn sie zu dem Teil der Geschichte mit Nikolaj kommen.“

Diego verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere. „Sich jetzt gegenseitig Vorwürfe zu machen bringt auch nichts, wir müssen jetzt versuchen …“

„Es schadet aber auch nicht“, warf meine Tante ein. Sie war wütend, unglaublich wütend, was weniger damit zusammenhing, dass die ganze Situation so verkorkst war, als mehr, dass sie nichts dagegen unternehmen konnte.

Cayenne seufzte. „Bitte, Lucy, lass das. Wir brauchen eine Lösung, keine Anschuldigungen. Probleme haben wir auch so schon genug.“

Ein grimmiger Laut kam aus dem Monitor. „Wenn ich eine Lösung hätte, würde ich sie dir geben, aber im Augenblick bleibt uns nichts anderes übrig, als Däumchen zu drehen und abzuwarten.“

Diego machte den Mund auf, um etwas zu sagen, unterbrach sich aber gleich wieder, als eine rundliche Frau den Raum betrat. Blut klebte an ihrer Kleidung, Nathans Blut. Ich konnte es riechen.

„Lebt er noch?“, fragte Ayko ohne Umschweife.

Sie nickte. „Wir haben die meisten Blutungen stillen können. Im Moment ist er stabil. Wenn nichts mehr gravierendes geschieht, hat er sogar eine recht gute Überlebenschance.“

Cayenne schlug die Hand über den Mund und gab einen Laut der Erleichterung von sich.

Auch von der Couch kam ein seltsames Geräusch und als ich mich danach umschaute, sah ich Cooper. Er hatte das Gesicht in der Hand vergraben und weinte. Er musste gehört haben, was die Frau gesagt hatte.

„Okay“, sagte Ayko und strich sich über den Mund. „Roselyn, bring Cooper bitte zu ihm. Sieh auch zu, dass er etwas isst und sich ausruht.“

Die Frau nickte und ging dann zur Couch um den weinenden Mann zu holen.

„Keenan, versuch die anderen Rudel zu erreichen, vielleicht können wir noch einige von ihnen warnen. Celine, komm mit.“ Und ohne weitere Erklärung, drehte er sich herum und verschwand mit zügigen Schritten aus dem Raum.

Celine zögerte einen Moment und schenkte ihrer Tochter noch ein aufmunterndes Lächeln, bevor sie ihm hinaus folgte.

„Diese netten, kleinen Unterhaltungsvideos von Xaverine sind auch nicht unsere einziges Problem“, kam es da von meiner Tante. „Ich bin im Moment am laufenden Meter dabei, Handyvideos von Menschen aus dem Internet zu löschen, die Dinge gesehen haben, die nicht für sie bestimmt sind. Future schafft das nicht alleine. Weißt du eigentlich wie schwer das ist? Wenn wir nicht aufpassen, dauert es nicht mehr lange, und die Menschen eröffnen die Großwildjagd auf uns.“

„Ja, das weiß ich!“, fuhr Cayenne sie an. „Aber leider habe ich im Moment keine Ahnung, wie ich das verhindern soll. Die Wölfe hören nicht mehr auf mich, falls es dir entgangen sein sollte!“

„Wie hätte mir das entgehen sollen?“

„Hört auf euch zu streiten“, kam es von Diego. Er legte einen Arm um Genevièvs Schultern und zog sie an sich. „Das bringt uns nicht weiter. Wir brauchen einen Plan und keinen Zickenkrieg.“

Dafür wurde er von beiden Frauen angefunkelt.

Der nächste der das Wort ergriff, war Umbra Joel. „Xaverine und ihr Sohn sind der Meinung, sie haben alles gut im Griff, aber da irren sie sich. Die Lykaner sind völlig verunsichert und wissen nicht mehr wem sie trauen und an wen sie sich wenden können. Sie wollen geführt werden, haben aber gleichzeitig Angst und das macht sie im Moment so unberechenbar.“

„Das wissen wir alles“, sagte Cayenne. „Was wir aber nicht wissen, ist, was wir dagegen unternehmen sollen.“

„Das ist doch ganz einfach“, sagte er ruhig. „Wir brauchen einen starken Wolf, der sowohl Xaverine als auch Cerberus stürzt und ihren Platz einnimmt. Jemand der vertrauensvoll wirkt und die Wölfe nicht mit Gewalt versucht zu kontrollieren.“

Sydney schüttelte den Kopf. „Und wo sollen wir so jemanden finden?“

Joels Blick richtete sich auf den Prinzen. „Wir haben Aric.“

Damit sorgte er erst mal für Stille, in der sich alle Blicke auf meinen Halbbruder richteten.

Der schien einen Moment etwas verwirrt und zog dann zweifelnd eine Augenbraue nach oben. „Mich? Warum glaubst du, dass ich, der Sohn eines Misto, so viel Einfluss habe, um das alles zu bewerkstelligen. Die bringen mich doch um, sobald sie mich sehen.“

„Weil sie dich kennen“, erwiderte Joel ruhig. „Sie wissen wer du bist und auch wenn deine Mutter ein Misto ist, dein Vater ist es nicht und damit bist du auch ein reinblütiger Werwolf. Noch dazu einer, der in direkter Linie von König Isaac abstammt. Dein Odeur ist stark, dein Wille noch stärker. Du musst König Cerberus nur herausfordern und gewinnen, dann könnte sich die Situation beruhigen.“

„Nur“, höhnte Aric. „Und am besten liefere ich ihnen bei der Gelegenheit auch noch meine Mutter aus, damit sie ihre Rache an ihr üben können, oder was?“ Er schnaubte verächtlich. „Vergiss es.“

„Außerdem hat Aric keine Chance an Cerberus ranzukommen“, sagte Sydney. „Sie würden ihr vorher bereits töten.“

„Nicht wenn wir ihm den Weg frei machen.“ Joel sah allen nacheinander in die Augen. „Er muss nur zu König Cerberus gelangen und eine Herausforderung aussprechen. Die muss der König annehmen, um sein Gesicht zu wahren. Wir müssen nur dafür sorgen, dass ihn niemand auf dem Weg dahin aufhält. Und er muss sich erst mal von Cayenne lossagen, bis die ganze Situation sich wieder beruhigt hat. Er wusste bis vor ein paar Tagen nicht, was seine Mutter in Wirklichkeit ist und die Wölfe werden mit der Zeit ihre Wut vergessen.“

Sydney schüttelte unwillig den Kopf. Die Idee seinen Sohn ins Auge des Orkans zu schicken, gefiel ihm nicht. „Da gibt es nur zwei Probleme …“

„Nur zwei?“ Aric schnaubte.

Sydney ignorierte seinen Sohn und sprach einfach weiter. „Zum einen sind wir zu wenige. Wir müssten uns den Weg freikämpfen und gegen die Wölfe des Rudels haben wir keine Chance. Zum anderen müsste Aric Cerberus auch besiegen, damit der Plan funktioniert.“

Joel nickte, als hätte er diese beiden Punkte in seiner Idee bereits bedacht. „Ich glaube daran, dass Prinz Aric die Kraft hat König Cerberus zu besiegen und ich weiß auch, dass wir zu wenige sind. Wir müssen uns einfach mehr Leute besorgen. Ein Teil der Wächter und Umbra im Schloss stehen nach wie vor zu Cayenne und wenn wir Celine bitten, wird sie uns sicher auch einige Wölfe geben, die uns helfen können.“

Jetzt war es an Cayenne zu schnauben. „Ja, Mama würde das machen, aber es ist Ayko, der hier das letzte Wort hat. Er wird keinen seiner Wölfe in so einen aussichtslosen Kampf schicken. Davon abgesehen, dass sie keinerlei Erfahrungen in dieser Richtung haben und gegen ausgebildete Kämpfer antreten müssten, ist das auch nicht sein Kampf. Außerdem hat er durch Xaverine im Moment genug eigene Probleme. Sie macht Jagd auf die Simultanen, auf alle Simultanen. Er wird seine Leute in Sicherheit bringen wollen, bevor ihnen etwas passieren kann.“

„Dann sollte er erst recht kämpfen!“, echauffierte meine Tante im Bildschirm sich. „Einfach den Schwanz einzuziehen ist feige. Er sollte sich wehren!“

„Nathan hat sich gewehrt“, sagte ich leise und verstand selber nicht, warum ich eigentlich den Mund aufmachte.

„Sie hat recht“, sagte Cayenne und warf mir einen flüchtigen Blick zu.

Ich machte vorsichtshalber einen Schritt von ihr weg. Was sie getan hatte … ich war einfach noch nicht so weit, so zu tun, als wäre es nicht geschehen.

„Das heißt also“, begann Cio, „wir brauchen einfach ein paar ausgebildete Kämpfer, die Aric den Weg frei machen, damit er diesem Idioten den Hintern versohlen kann.“ Er grinste in die Runde. „Dann ist doch ganz klar, was wir zu tun haben: Wir rufen die Themis zusammen.“

Damit sorgte er einen Augenblick für Ruhe. Diese Lösung war so einfach und simpel, dass wir uns wohl alle fragten, warum wir noch nicht früher darauf gekommen waren.

Meine Tante nickte im Bildschirm langsam. „Das ist eine ausgezeichnete Idee, nur haben wir ein Problem, wie erreichen wir alle Themis?“

Nur ein Problem? Ich riskierte einen Blick zu Aric. Würde er da etwa einfach mitmachen? Nicht nur dass er bei dem Versuch die Krone an sich zu reißen sterben konnte, wenn er gewann, müsste er auch auf dem Thron sitzen. Andererseits war er sein ganzes Leben auf diesen Posten vorbereitet worden und soweit ich wusste, hatte er sich nie daran gestört.

Aber könnte er das Rudel auch wirklich kontrollieren und wieder für Ruhe sorgen, oder würde er dabei scheitern und unsere Welt den Menschen preisgeben? Das war eine große Verantwortung, aber was hatten wir sonst für eine Wahl? Entweder wir versuchten es und scheiterten vielleicht, oder wir zogen einfach die Schwänze ein und verkrochen uns irgendwo.

Ich kniff die Lippen zusammen. Dieses ganze Gerede von töten und Übernahme und Kämpfen gefiel mir absolut nicht. Warum konnten wir uns nicht alle friedlich zusammensetzten und die Dinge besprechen, bis wir eine Lösung gefunden hatten, die alle zufriedenstellte?

Ganz einfach, weil die Welt so nun mal nicht funktionierte. Leider.

„Alle Themis zu erreichen ist nicht so einfach“, sagte Cayenne da. „Wir haben eine Sicherung eingebaut, damit sie keine Befehle von falscher Stelle bekommen können. Es gibt nur eine Möglichkeit alle auf einmal zusammenzurufen, der Schalter, aber der befindet sich im HQ und kann nur von dort aus in Gang gesetzt werden.“

In dem Moment knallte es und alle fuhren erschrocken herum. Aric hatte einen Stapel Papiere vom Schreibstich gewischt und schaute nun alle grimmig an. Seine Lippen waren nur noch ein schmaler Strich. Er schüttelte den Kopf, wich den Blicken aus und stürmte dann aus dem Raum.

Er will das nicht, wurde mir klar, er will kein König sein.

„Was ist das für ein Schalter?“, fragte Keenan. Ihm war es wohl wichtiger, diese Situation zu klären, als Rücksicht auf die Gefühle eines kleinen Jungen zu nehmen.

Cayenne schaute ihrem Sohn einen Moment hinterher, bevor sie auf die Frage reagierte. „Es ist nicht wirklich ein Schalter, es ist ein Programm. Jeder Themis besitzt einen kleinen Chip in seinem Arm. Mit dem Programm wird ein Impuls in diesem Chip ausgelöst, den der Themis spüren kann. Damit weiß er, dass es einen dringenden Notfall vorliegt und er sich unverzüglich an einem geheimen Treffpunkt einzufinden hat.“

Sydney senke den Blick auf seine Gefährtin. „Wo ist dieser Treffpunkt?“

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Kasper unbemerkt aus dem Raum schlüpfte und im Korridor verschwand.

„In Österreich bei Wolfsberg. Ein privates Grundstück, das früher einmal Prinzessin Blair gehört hat. Es liegt seit dem brach und wird nicht mehr genutzt.“

Diego nickte langsam. „Es könnte also klappen. Wir müssen nur jemanden ins HQ einschleusen, der den Schalter betätigt und dann werden die Themis sich in Wolfsberg einfinden.“

Cayenne nickte. „Theoretisch stimmt das, aber praktisch haben wir keinen Zugang zum HQ und damit auch nicht zum Schalter.“

„Wir könnten Edward bitten es zu versuchen“, sagte Sydney, wirkte selber aber ein wenig unsicher.

„Eddy wird es nicht machen“, erwiderte Cayenne und drehte ihren Kopf ein wenig, um ihren Gefährten ansehen zu können. „Das HQ wird strengsten überwacht, genau wie Eddy selber. Da kommt niemand rein, ohne gesehen zu werden.“

„Außer“, sagte Cio in diesem Moment, „wir würden es über die Bedienstetengänge und dem Geheimtunnel versuchen. Die kennt Xaverine nicht, die lässt sie sicher nicht überwachen.“

Cayenne schüttelte den Kopf. „Aber Eddy wird von ihren Leuten überwacht, genau wie jeder andere, der unter meinem Befehl stand. Es wird kaum möglich sein einen von ihnen dort hineinzuschicken.“

Da war etwas Wahres dran. Obwohl es sicher möglich war, sich einfach mal davonzustehlen und Cayennes Geheimwaffe zu aktivieren. Aber wer würde das schon freiwillig tun? Wenn das schief ging … nicht auszudenken, was demjenigen blühen würde.

„Dann mach ich es“, sagte Cio.

Natürlich, damit hätte ich eigentlich rechnen müssen.

„Wenn sich von Innen keiner frei machen kann, weil er unter Beobachtung steht, dann muss eben einer von außen kommen und …“

„Nein“, sagte Diego in einem Ton, der keine Wiederworte zuließ.

Aber Cio wäre nicht Cio, wenn er nicht trotzdem welche geben würde. „Warum nicht? Ich kenne mich in diesen Gängen besser aus als jeder andere, naja, abgesehen von Samuel vielleicht. Außerdem habe ich die Fähigkeiten das zu schaffen. Ich muss nur …“

„Ich habe nein gesagt, Elicio.“

Cio kniff die Augen zusammen. „Ach, und kannst du das vielleicht auch begründen?“

„Er hat recht, Diego“, kam es da von Joel. „Cios Ausbildung ist vielleicht noch nicht abgeschlossen, aber er gehört bereits jetzt zu den Besten von uns. Mich stellt er schon seit zwei Jahren in den Schatten, er könnte es schaffen.“

Diego schnaubte. „Cio ist nicht mal in der Lage einfachste Befehle zu befolgen. Bei seiner letzten Aktion hat er nicht nur sich, sondern auch noch seinen Schützling und drei Unbeteiligte in Gefahr gebracht. Bei dem Überfall im Schloss wäre Aric gestorben, wenn Alina nicht aufgetaucht wäre.“

„Ich hatte keinen Dienst und hab geschlafen!“, verteidigte Cio sich. „Entschuldigung, dass ich sowas hin und wieder mache!“

Diego blieb standhaft. „Du bist nicht nur zu jung, um so einen Auftrag zu erledigen, du bist auch viel zu unbedacht und Kopflos, stürmst immer mitten hinein, ohne dir über die Konsequenzen im klaren zu sein. Wenn du bei diesem Auftrag einen Fehler machst, könnte dich das nicht nur dein Leben kosten. Du würdest jeden einzelnen von uns damit in Gefahr bringen.“

„Du hältst mich echt für dumm, oder? Meinst du nicht, dass mir das klar ist? Was glaubst du eigentlich was ich machen will? Einen auf Terminator? Ich will reinschleichen, die Themis rufen und dann wieder raus, mehr nicht.“

Diego schüttelt den Kopf. „Wenn ich das nur glauben könnte, aber du hast mir in der Vergangenheit mehr als einmal bewiesen, dass du viel zu unreif bist, um so eine wichtige Aufgabe zu erledigen.“

Oh weh, damit hatte er Cio wirklich getroffen. Ich konnte es an seinem Gesicht sehen, an den Zügen um seinen Mund, die sich verhärteten.

„Zum Glück bist du nicht berechtigt mir Befehle zu erteilen, das kann nur die Königin.“ Er wandte sich Cayenne zu. „Erteile mir den Auftrag, ich weiß ich kann es schaffen.“

Cayenne biss sich auf die Lippe, sah unentschlossen zu Diego und dann wieder zu Cio, nur um dann den Kopf zu schütteln. „Es tut mir leid, aber Diego hat recht, du bist einfach zu jung um so eine Aufgabe zu erledigen. Deine Ausbildung ist noch nicht mal abgeschlossen. Es kann so viel passieren. Das werde ich nicht riskieren.“

„Ich will deine Befehle ja nicht infrage stellen“, sagte Joel, „aber ich bin nicht eurer Meinung. Elicio hat eine hervorragende Ausbildung genossen und ist meiner Meinung nach mehr als geeignet. Er hat das nötige …“

„Ich habe nein gesagt“, wiederholte Cayenne etwas drohender, womit sie dem Umbra wohl vermitteln wollte, dass er ihr in diesem Punkt kein weiteres Mal widersprechen sollte. Und da Joel den Mund geschlossen hielt, kam die Mitteilung wohl klar und deutlich bei ihm an.

Cio presste die Lippen aufeinander und wich sowohl ihrem, als auch dem Blick seines Vaters aus. „Ist das dein letztes Wort?“

„Ja, du wirst nicht gehen.“

„Wie du meinst. Wenn ihr euch lieber die Ärsche breitsitzen wollt, anstatt endlich etwas zu tun, bitte. Ich bin dann weg.“

„Cio!“, rief Genevièv entrüstet, aber da war ihr Sohn schon aus dem Raum hinaus verschwunden.

Auch mich hielt hier nichts mehr. Er hatte so wütend und verletzt ausgesehen, dass ich ihm einfach folgen musste. „Cio!“, rief ich, als ich ihn auf dem Korridor fast eingeholt hatte. Er schien zur Haustür zu wollen. Verdammt, warum waren meine Beine nur so kurz geraten? Er lief nur schnell und ich hatte schon Problem ihn einzuholen. „Warte!“

„Lass mich!“

Das tat ich nicht. Sobald ich ihn eingeholt hatte, packte ich ihm am Shirt und zwang ihn damit stehen zu bleiben. Nun gut, hätte er gewollt, hätte er mich vermutlich einfach mitgeschleift wie eine lästige Fliege, aber er hielt an. „Was dein Vater da gesagt hat …“

„Mein Vater ist ein Idiot!“, fuhr er mich an. In seinen Augen funkelte noch immer die Wut. Ich hatte ihn noch nie so sauer erlebt. „Die sitzen lieber hier herum und schwingen große Reden, anstatt endlich etwas zu unternehmen und … auch vergiss es.“ Er rieb sich mit der freien Hand übers Gesicht.

„Cio …“

„Nein, lass mich einfach in Ruhe. Ich will jetzt niemanden sehen. Auch dich nicht.“ Er riss seinen Ärmel aus meiner Hand. „Sorry, aber ich brauche jetzt einfach … egal.“ Er drehte sich einfach herum und stampfte den Korridor hinunter.

Ich sah ihm hinterher, bis er die Tür erreichte mit einem lauten Knall hinter sich schloss. Er hatte sich nicht mal die Zeit genommen, nach seiner Jacke zu greifen.

Das tat so richtig weh. Es war das erste Mal, dass er mich ausschloss und es fühlte sich schrecklich an. Ich hatte nur helfen wollen und dann die Tür praktisch vor der Nase zugeschlagen zu bekommen. Das ließ mein Herz schmerzhaft zu einer kleinen Rosine zusammen schrumpeln.

Jetzt fang bloß nicht an zu heulen, das war nicht persönlich gemeint.

Trotzdem tat es weh.

„Alles okay?“

Ich drehte mich herum, überrascht Alinas Stimme hinter mir zu hören. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass sie uns gefolgt war. „Ja, alles bestens.“

„So siehst du aber nicht aus. Du siehst eher so aus, als wolltest du jeden Moment anfangen zu heulen.“

Vielen Dank auch für die Zusammenfassung meines Gefühlslebens. „Es geht schon.“

Alina glaubte mir nicht, dass sah ich an ihrem zweifelnden Blick. „Okay, wenn du meinst, aber wenn du reden willst, ich bin immer da, das weißt du.“

„Ja, danke.“

„Willst du zurück gehen?“

Eigentlich nicht. Wir wurden sowieso nur als störende Kinder betrachtet, die sich aus der ganzen Sache raushalten sollten und zu allem was die Erwachsenen von sich gaben, Ja und Amen zu sagen hatten – keiner von denen bekam es auf die Reihe, dass wir praktisch schon erwachsen waren und uns nur ihre Lebenserfahrung fehlte. „Nein, ich glaube, ich gehe lieber in mein Zimmer.“ Dann könnte ich dort in Ruhe meine Wunden lecken.

„Da komme ich mit.“ Sie hakte sich bei mir ein und zog mich den Korridor hinunter.

Das war es dann wohl damit, in Ruhe meine Wunden zu lecken.

Auch wenn ich lieber ein wenig für mich allein gewesen wäre, hinderte ich Alina nicht daran, mich in unser Haus zu begleiten.

Der Wohnraum war leer und verlassen. Einen Moment überlegte ich, ob Cio vielleicht in sein Zimmer gegangen war und ob ich anklopfen sollte, doch nach der Abfuhr, die ich eben erhalten hatte, zog ich es dann doch vor, Alina in unser Zimmer zu folgen.

Meine Cousine überließ es mir die Tür hinter uns zu schließen und warf sich stattdessen schwungvoll in ihr Bett. Irgendwie schaffte sie es dabei so zu landen, dass sie dabei halb unter meiner Decke zum Liegen kam. Ja, mit Schuhen an den Füßen, wie ich feststellte. Naja, dreckige Laken waren im Moment wohl unsere geringsten Probleme.

„Die ganze Situation ist ganz schön vertrackt, was?“, fragte sie, als ich mich ihr gegenüber auf dem anderen Bett niederließ und mit dem Rücken an die Wand lehnte.

„Ich meine, selbst wenn wir es schaffen sollten, Aric an den ganzen Wächtern und Wölfen vorbeizubringen, würde er wirklich den Thron einnehmen, weil man es von ihm verlangt?“

Ich zuckte die Schulter. „Keine Ahnung.“ Besonders glücklich schien dieser Gedanke ihn nicht gemacht zu haben.

Alina hatte den Blick nachdenklich zur Decke erhoben. „Wenn das wirklich alles so abläuft, dann werde ich vielleicht Königin.“

Okay, die letzte Chemiekur, die sie benutzt hatte, um ihre Haare schimmeln zu lassen, hatte wohl ihr Hirn angegriffen. Als gute Cousine war es meine Pflicht, sie vorsichtig darauf hinzuweisen, dass ein bisschen Händchenhalten nicht gleich bedeutete, er würde sie zur Gefährtin nehmen. „Damit es so weit kommt, müssen wir erst mal einen Weg finden, die Themis zusammenzurufen. Und dann muss der Plan auch noch gelingen. Und dann …“

„Du bist eine richtige Miesmacherein, weißt du das eigentlich?“, unterbrach sie mich mit einem bitterbösen Blick.

„Ich will nur nicht, dass du dir zu große Hoffnungen machst und nachher enttäuscht wirst.“

„Er hat mich in den Arm genommen und meine Hand die ganze Zeit nicht losgelassen. Sobald wir ein wenig rumgeknutscht haben, wird sich alles andere schon ergeben.“

Unsere große Liebesexpertin. „Als Königin wirst du eine Menge Verantwortung bekommen“, erklärte ich ihr. „Du wirst in einem Fischglas sitzen, in dem jeder dich zu jedem Zeitpunkt beobachten wird. Außerdem ist es dann vorbei mit deinen schrillen Haarfarben.“

Sie starrte mich an, griff dann nach ihrer Decke und zog sie sich so weit über den Kopf, dass sie nicht mehr zu sehen war.

„Ja, das ist jetzt natürlich sehr königlich.“

„Halt die Klappe.“

Gerade war ich im Begriff den Mund für eine Erwiderung zu öffnen, als es heftig an meiner Tür klopfte. Ich kam gar nicht dazu aufzustehen und zu öffnen, da stand Aric schon wutschnaubend in meinem Zimmer. Wenn man vom Teufel sprach.

„Das ist deine schuld!“, warf er mir ohne Umschweife vor, während er sich mit den Händen durch die Haare raufte. Dabei stand er nicht still, sondern rannte wie Tiger im Käfig auf und ab. Wie ein ziemlich verstörter Tiger.

Ich konnte ihn nur verwirrt ansehen. „Was ist meine Schuld?“

„Du hast dieses Anhängsel mitgebracht! Ich wollte den Kuss nicht, aber jetzt ist es zu spät und ich …“

„Moment“, unterbrach ich ihn und spähte kurz zu meiner Cousine, deren Auge neugierig unter der Decke hervorlugte. „Alina hat gesagt, sie hat dich nicht geküsst und …“

„Alina?!“, fragte er aufgebracht und hielt mitten in der Bewegung inne, um mich erstaunt anzusehen. „Ich rede nicht von deiner Cousine, ich rede von deinem durchgeknallten Freund Kasper, der mir eben die Zunge in den Hals gesteckt hat!“

Das ließ meinen Mund sehr wirksam wieder zuklappen. Was hätte ich darauf auch erwidern sollen?

Alina hatte dieses Problem nicht. Sie richtete sich in meinem Bett so ruckartig auf, das Aric erschrak. Er hatte ihre Anwesenheit bis jetzt gar nicht wahrgenommen. „Heißt das du bist auch schwul?“

„Was?! Nein, auf keinen Fall! Ich bin doch nicht so eine scheiß Schwuchtel!“

„Das hat sich eben aber ganz anders angefühlt“, erklang in dem Moment Kaspers Stimme von meiner Tür. In der nächsten Sekunde stand er in meinem Zimmer. „Wenn ich mich recht erinnere, hast du mir zuerst die Zunge in den Mund gesteckt.“ Ganz ruhig sagte er das, als er sich mit verschränkten Armen neben der Tür an die Wand lehnte.

Arics Gesicht wurde erst weiß wie Schnee und dann krebsrot. „Willst du mich verarschen?! Du bist doch wie ein geiler Bock über mich hergefallen!“

„Und du hast dich nicht sonderlich dagegen gewehrt“, schoss Kasper zurück. „Egal wie sehr du jetzt hier rumspinnst, dass ändert nichts an der Tatsache, dass du es warst, der mir als erstes an den Mandeln gelutscht hat.“

„DAS HAB ICH NICHT GETAN!“, schrie er meinen Kumpel an und sah aus, als würde er jeden Moment auf ihn losgehen, nur damit er endlich die Klappe hielt.

Langsam kam ich mir hier vor wie in einer dieser Talkshows. Oder einer schlechten Seifenoper. Hallo? Hatten wir nicht genügend andere Probleme?

Kasper schüttelte missbilligend den Kopf. „Du kannst erzählen was du willst, ich weiß was passiert ist, ich war schließlich dabei, falls du es vergessen haben solltest.“

„Wie könnte ich das vergessen!“, fauchte er Kasper an und raufte sich wieder die Haare. Sah zur Decke, zu mir, zu ihm und wieder zur Decke, als wüsste er nicht, wohin er seinen Blick wenden sollte.

„Mach dir nur selber was vor“, gab Kasper völlig ungerührt von sich. „Behaupte was du willst, du bist schwul. Oder zumindest Bi.“

Das brachte das Fass zum überlaufen. Aric sah aus wie ein Reh im Scheinwerferlicht, dass in seiner Panik nicht wusste, wohin es laufen sollte. „Ich bin nicht schwul!“, fauchte er ihn an. In seiner Verzweiflung irgendjemand in diesem Raum könnte genau das glauben, huschte sein Blick hektisch hin und her, bis er auf Alina hängen blieb. Zwei Schritte brachten ihn zu ihr ans Bett und bevor noch einer recht wusste, was hier passierte, packte er ihr Gesicht und küsste sie. Küsste sie eine ganze Weile, in der ich um Kaspers Gebiss fürchtete, so wie er mit den Zähnen knirschte.

O-kay, damit hatte ich jetzt gewiss nicht gerechnet. Ich glaubte nicht mal, dass Aric selber damit gerechnet hatte.

Alina sah Aric mit großen Augen an, als er sich schwer atmend von ihr löse. „Ähm …“

„Willst du meine Gefährtin werden?“, schoss es geradezu aus ihm heraus.

„Was?“, quietschte Alina, um gleichen Moment als Kasper „WAS?!“, rief.

„Ist das dein Ernst?“, wollte meine Cousine wissen.

Er nickte, den Blick fest auf ihr Gesicht geheftet.

Okay, es war wohl an der Zeit einzuschreiten, obwohl ich mich da lieber nicht einmischen wollte. „Nein, es ist nicht sein Ernst.“ Das war eine Panikreaktion. Davon zumindest ging ich aus.

Arics drohender Blick richtete sich auf mich. „Halt dich da raus“, knurrte er mich an.

Ich schluckte und hätte ich nicht im Bett gesessen, ich wäre sicher vor ihm zurückgewichen. Trotzdem versuchte ich mir mein Unbehagen nicht anmerken zu lassen. „Aric, ich glaube du machst einen gewaltigen Fehler, wenn du das jetzt durchziehst.“

Er stierte mich an, eine ganze Weile, schloss dann resigniert die Augen und atmete tief ein. Seine Hände rutschten von Alinas Gesicht ab, als er sagte: „Ich bin nicht schwul.“

Ob er es nun war oder nicht, dieser Antrag geschah aus den falschen Gründen. „Könnt ihr beide euch mal bitte verziehen?“ Ich sah von Alina zu Kasper. „Ich will mit Aric alleine reden.“ Solange so viele Leute dabei waren, würde er nicht frei sprechen und ich war mir sicher, dass er mit mir reden wollte. Warum sonst sollte er zu mir gekommen sein?

Als Kasper sich von der Wand abstieß, gab einen Knurrlaut von sich, der jedem Wolf Ehre gemacht hätte. Dann war er auch schon zur Tür hinaus verschwunden.

Alina dagegen bewegte sich nicht von der Stelle. „Soll das jetzt heißen, wir werden doch keine Gefährten?“

„Alina, geh raus“, verlangte ich.

Sie warf mir einen bösen Blick zu. „Na gut“, sagte sie eingeschnappt und rutschte vom Bett. „Aber darüber werden wir uns noch mal unterhalten“, fügte sie hinzu und ging an Aric vorbei zur Tür. Sie schloss sich leise hinter sich, dann war ich mit meinem Halbbruder alleine.

Einen Moment noch sah ich meiner Cousine hinterher und mir wurde eines sehr deutlich klar. Sie liebte ihn nicht, denn wenn es anders wäre, wäre sie nicht so einfach abgezogen. Und auch er brachte ihr nicht diese Gefühle entgegen, denn sonst hätte er sie sicher nicht einfach so gehen lassen.

Deswegen stelle ich mir die Frage, was hier nun wirklich los war. Lykaner hatten soweit ich wusste nichts gegen Schwule, sie dachten nicht so engstirnig wie die Menschen. Und auch Aric hatte bisher nicht den Eindruck gemacht, als würde ihn gleichgeschlechtliche Liebe irgendwie stören. Also warum ging er so ab, nur weil Kasper ihn geküsste hatte, anstatt ihm einfach nur die Meinung zu geigen?

Gut, es war sicher nicht die feine, englische Art, einfach so über einen anderen herzufallen – egal ob nun Mann oder Frau – aber Arics Reaktion schien mir doch ein wenig überzogen.

„Möchtest du darüber reden?“, fragte ich vorsichtig.

„Ich bin nicht schwul“, sagt er leise, den Blick auf den Boden gerichtet.

„Das hast du schon eins, zwei Mal erwähnt.“ Als er darauf nicht reagierte, setzte ich mich seufzend in den Schneidersitz und lehnte mich mit meinen Armen auf die Beine. „Was ist denn eigentlich passiert?“

Er seufzte und riebt sich mit der Hand übers Gesicht, bevor er sie wieder kraftlos hängen ließ. „Nachdem sie das gesagt haben … keine Ahnung, ich musste daraus. Kasper ist mir gefolgt und wir sind hoch in unser Zimmer gegangen.“ Er schwieg einen Moment. „Er hat versucht mich aufzumuntern und wir haben angefangen miteinander herumzublödeln.“

Kasper hatte herumgeblödelt? Wunder geschahen scheinbar doch noch. „Und dann?“, fragte ich, als er nicht weitersprach.

Aric schüttelte den Kopf, als wollte er die Bilder in seinem Hirn vertreiben. „Ich weiß nicht. Ich … ich stand plötzlich mit dem Rücken zur Wand und er direkt vor mir. Er hat mich an den Schultern festgehalten und …“ Eine leichte Röte kroch in seine Wangen. „Ach keine Ahnung. Ich dachte das wäre nur Spaß und dann hat der Mistkerl mir einfach die Zunge in den Mund gesteckt!“

„Ich dachte du hast das gemacht.“

Wenn ich den bösen Blick den ich dafür bekam richtig interpretierte, war das nicht das, was er hatte hören wollen.

„Er, ich, ist doch egal. Tatsache ist, er hat mich geküsst, aber ich bin nicht schwul!“ Das war wohl ein Punkt, von dem er nicht abrücken wollte.

„Das habe ich verstanden.“ Ich neigte den Kopf leicht zur Seite. „Aber du hast mitgemacht, also … ich meine, du hast ihn zurückgeküsst, oder?“

Sein Blick traf mich nur ganz kurz, bevor er den Kopf einfach hängen lief. „Ja, ganz kurz“, gab er leise zu.

Ich versuchte nicht zu lächeln, ich versuchte es wirklich, aber das Zucken meines Mundwinkels war einfach nicht aufzuhalten. „Hat es dir denn gefallen?“

Seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Das ist doch ganz egal. Ich bin nicht schwul und es wird nicht noch einmal passieren.“

Was übersetzt wohl so viel hieß, wie, es hatte ihm gefallen. Und das war wohl auch der Grund, warum er so verstört war. Schade dass ich in solchen Dingen nicht wirklich viel Erfahrung hatte. Als Doktor Sommer konnte ich hier nicht gerade aufwarten. Trotzdem wollte ich versuchen ihm irgendwie zu helfen. „Weißt du, es war doch nur ein Kuss. Sag Kasper einfach, dass er seine Griffel in Zukunft bei sich behalten soll und fertig. Oder stört es dich, dass er schwul ist?“

„Nein, verdammt, ich hab nichts gegen schwule, ich hab nur was gegen …“ Er kniff die Lippen zusammen, und schluckte heftig. „Ich bin nicht schwul.“

O-kay, langsam glaubte ich, dass da mehr dahinter steckte. Oder warum wiederholte er das ständig? Sollte ich fragen, oder lieber die Klappe halten? „Kann es sein, dass du ihn auch magst und deswegen …“ Bei seinem scharfen Blick brach ich sofort ab. „Sorry, geht mich ja auch nichts an.“

„Nein, das ist es nicht, es ist …“ Wieder drückte er die Lippen aufeinander. „Ich darf nicht schwul sein, verstehst du?“

Ganz langsam schüttelte ich den Kopf. „Nein, das verstehe ich nicht.“

„Ich bin ein Prinz. Alpha dürfen das gleiche Geschlecht nicht lieben, das ist Gesetz. Wir dürfen nicht, damit die Linie erhalten bleibt.“ Er schlug die Hände vors Gesicht und rieb grob darüber, bevor er sich einfach rücklings auf mein Bett fallen lief. „Warum muss das nur immer wieder mir passieren?“, fragte er wie für sich selber.

Ich hätte ihm gerne geantwortet, aber ich wusste auch nicht, warum … Moment, immer wieder? Hieß das, dass er schon mal mit einem Kerl rumgemacht hatte? „Aric, kann ich dich was fragen, ohne dass du mir an die Gurgel springst?“

„Von mir aus.“

Okay, aber wie sollte ich das jetzt formulieren? „Ähm … hast du … wie viel … wie oft wurdest du schon von Kerlen geküsst?“

Aric ließ die Luft aus den Lungen und schloss resigniert die Augen, als hätte er genau mit dieser Frage gerechnet. „Zwei Mal.“

Sowas hatte ich mir schon gedacht. „Kasper hat dich nur einmal geküsst, oder?“

Er zögerte einen Augenblick. „Ja.“

„Und wer war der andere?“

Eine ganze Weile blieb er still liegen, als müsste er sich selber überwinden diese Frage zu beantworten. „Ich kenne nur seinen Spitznamen. Alle haben ihn Kid genannt.“ Er öffnete die Augen und schaute hinauf zur Decke. „Er hat in der Küche eine Ausbildung zum Koch gemacht. Ich habe ihn kennengelernt, als ich nach einem Ausflug abends hunger bekam. Er war da und wollte etwas Neues ausprobieren. Als ich reinkam, warf er gerade fluchend eine Pfanne in die Spüle. Irgendwie hatte er es geschafft sie in Brand zu setzen. Ich hab ihm geholfen die Sauerei zu beseitigen und danach haben wir uns mit ein paar Sandwiches an den Tisch gesetzt.“ Bei der Erinnerung daran huschte ein schmales Lächeln über seine Lippen. „Er war … ich weiß nicht. Irgendwie bin ich danach öfter mal in die Küche gekommen und wir haben uns angefreundet. Es wurde zu unserem Ritual, dass ich abends noch mal hinging. Irgendwann standen wir in der Speisekammer, um … ich weiß gar nicht mehr warum.“ Langsam gingen seine Augen wieder zu, als wäre es einfacher für ihn weiterzusprechen, wenn er nichts sah. „Da drin war es ziemlich eng und dann hat er mich geküsst und … und ich ihn auch.“

Dieses Geständnis war ihm wohl sehr schwer gefallen. „Und du fandest es unangenehm.“

Er schnaubte. „Wenn es nur so gewesen wäre. Es war … es hat sich richtig angefühlt, aber er hat mich so überrumpelt.“ Er drückte die Lippen fest aufeinander.

„Was hast du gemacht?“

„Ich habe ihm eine reingehauen.“ Er schüttelte wie über sich selbst den Kopf. „Erst habe ich mitgemacht, aber als ich kapiert habe, was er da tat und vor allen Dingen, was ich da tat, habe ich ihn weggestoßen und ihm einen Kinnhaken verpasst. Danach bin ich aus der Küche gestürmt und habe dafür gesorgt, dass er gefeuert wird.“ Er wandte mir sein Gesicht zu, aber ich hatte keine Ahnung, was ich dazu sagen sollte. Doch, ich wusste es.

„Hast du dich danach besser gefühlt?“, fragte ich ziemlich kalt. Ich mochte keine Gewalt, egal aus welchen Gründen und das was er da erzählte, war für mich überhaupt kein guter Grund.

Er schnaubte. „Schön wäre es, aber nein, ich habe mich nur noch schlechter gefühlt. Danach ging es mit mir ziemlich steil Berg ab. Die nächsten Monate habe ich jede Frau abgeschleppt, die ich bekommen konnte, einfach um mir zu beweisen, dass ich nicht schwul bin. Ich habe ziemlich oft ziemlich viel getrunken und hab gar nicht mehr so richtig gepeilt, was ich da eigentlich trieb, aber dann … eines Morgens bin ich aufgewacht und …“ Er verstummte und drehte das Gesicht weg.

Ich konnte mir gut vorstellen, wie der Satz zu Ende ging. „Eines Morgens bist du aufgewacht und hast Iesha neben dir gefunden.“

Sein überraschter Blick traf mich.

Ich zuckte nur mit den Schultern. „Cio hat es mir erzählt.“

Aric seufzte und rieb sich die Augen. „Versteh mich nicht falsch, das ist eigentlich nicht meine Art, aber … ich weiß dass es dafür keine Entschuldigung gibt. Ich weiß nicht mal wie Iesha in meinem Bett gelandet ist. Völliger Absturz, aber als ich sie gesehen habe, wusste ich, dass ich damit aufhören muss.“ Er ließ die Hand wieder sinken. „Seit dem habe ich niemanden mehr angerührt.“

Okay, das verstand ich nur zu gut. Aber eine Frage blieb immer noch offen. „Heißt das jetzt du bist schwul, oder Bi, oder was?“

„Wenn ich das nur wüsste.“ In einer geschmeidigen Bewegung setzte er sich wieder auf. „Aber es ist auch egal. Ich bin ein Prinz und wenn wir uns an den Plan von Joel halten, dann bin ich sogar bald König und als solcher muss ich mir eine Gefährtin nehmen.“

Eine von den Weibern die er nicht wollte. Da kam mir ein Gedanke. Hatte er die Wahl seiner Gefährtin die ganze Zeit herausgezögert, weil er doch schwul war und sein Leben deswegen nicht mit einer Frau verbringen wollte? Mir rauchte der Kopf. „Aber wenn der Plan nicht gelingt, oder uns noch etwas anderes einfällt und du nicht König werden musst, was ist dann?“

Er zuckte nur mit den Schultern.

Tolle Antwort. „Okay, dann eben anders. Wenn du kein Prinz wärst und diesen ganzen Druck von außen nicht hättest, was wäre dir dann lieber, Männlein oder Weiblein?“

Noch ein Schulterzucken.

Eine besonders große Hilfe beim Lösen dieses Problems war er ja nicht gerade. „Okay, dann fragen wir eben anders. Magst du Kasper?“ Wenn er jetzt wieder mit den Schultern zuckte, würde ich ihn schlagen müssen.

„Kasper ist okay.“

Na bitte, das war doch schon mal ein Anfang. „Und der Kuss mit ihm? War der auch okay?“

Wieder kroch diese leichte Röte in sein Gesicht. „Ich denke schon. Irgendwie.“

Ging doch. „Okay, weißt du was? Ich glaube ich bin die falsche Ansprechpartnerin für dieses Problem. Am besten wäre es, wenn du zu Kasper gehst und ihm das alles erklärst. Und, naja, vielleicht findet ihr ja eine Lösung.“

„Da gibt es keine Lösung.“

„Dann erklär es ihm wenigstens. Ich kenne Kasper gut genug, um zu wissen, dass er nicht so einfach aufgibt, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Und diese Sache steht jetzt zwischen euch.“

Er sah mich zweifelnd an.

„Oder du musst dir mit Cio ein Zimmer teilen.“

Das ließ ihn schnauben. „Nie im Leben. So unordentlich wie der ist, muss ich bei ihm um mein Leben fürchten.“

„Dann bleibt dir wohl keine Wahl.“

Ergeben ließ er den Kopf hängen. Das war wohl seine Art aufzugeben und sich in sein Schicksal zu fügen.

 

°°°

 

Poch, poch, poch.

Schon beim ersten Hämmern an meiner Zimmertür, saß ich aufrecht im Bett. Gott, was war denn jetzt los?

„Aric!“, donnerte es durch die Tür.

Cio?

Poch, poch.

„Aric, mach die verdammte Tür auf!“

Alina grummelte in ihrem Bett etwas Unverständliches, drehte sich auf die andere Seite und zog sich das Kissen über den Kopf. Das bedeutete dann wohl, dass sie nicht vorhatte, unter ihrer Bettdecke hervorzukriechen.

Mit noch völlig verquollenen Augen lehnte ich mich zur Seite, um die Nachttischlampe einzuschalten. Ein kurzer Blick auf die Uhr reichte, um mir zu zeigen, dass es noch mitten in der Nacht war, gerade mal zwei Uhr am Morgen.

Poch, poch.

„Aric, mach auf!“

Verdammt, was sollte der Mist? Grummelnd schwang ich die Beine aus dem Bett und eilte ohne Brille durchs Zimmer, bevor er noch das ganze Haus aufweckte. Dabei stieß ich mit dem Schienbein auch noch gegen den Schrank, sodass ich fluchend die Tür aufriss. „Pscht, sei leise!“, zischte ich ihn an. „Sag mach spinnst du um die Uhrzeit hier so ein Lärm zu machen?“

Cio blinzelte mich mit großen Augen überrascht an. Einmal, zweimal. „Du bist nicht Aric.“

Welch eine Erkenntnis. Ein „Sag bloß“ konnte ich mir gerade noch so verkneifen. „Ich weiß.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Ohne Decke war es schon ganz schön kühl hier.

„Wo ist Aric?“ Er beugte sich leicht zur Seite, um an mir vorbeispähen zu können. „Ist er hier?“

Ich runzelte die Stirn. Was war denn mit Cio los? „Äh … nein.“

Wieder ein blinzeln. „Wo ist er?“

„Ich … keine Ahnung, aber bedenkt man die Uhrzeit, würde ich vorschlagen, du gehst nach oben und hämmerst mal an seine Zimmertür.“ Wenn er von dem Lärm hier nicht eh schon wach geworden war.

„Da ist er aber auch nicht.“ Die Worte kamen leicht nuschelnd über seine Lippen. Seine Wagen waren leicht gerötet.

Oh Mann. „Willst du mir sagen was los ist?“

Er ging auf meine Frage gar nicht ein. Stattdessen starrte mir nur wie gebannt im Gesicht.

Kurz fragte ich mich, ob ich da irgendwo einen Popel zu kleben hatte, was sonst könnte da so interessant sein?

„Du hast hammergeile Augen, weißt du das eigentlich?“

Bitte? War der besoffen, oder was? Mein musternder Blick glitt über ihn. Auf jeden Fall sah er ziemlich zerzaust aus. Die dunkelbraunen Haare standen ihn zu allen Richtungen ab, als sei er mit den Händen mehrmals hindurch gefahren.

„Nein, was ich meinte …“ Er stockte. „Doch, genau das meine ich. Hammergeile Augen.“

Ja, er war definitiv besoffen. „Ähm, danke, deine Augen sind auch sehr hübsch.“

„Hübsch? Hübsch?“ Das schien ihn richtig zu pikieren. „Ich will dir mal was sagen.“ Er hob sehr unkontrolliert den Zeigefinger und hielt ihn mir direkt vor die Nase. Dabei beugte er sich mir noch ein wenig entgegen, sodass ich den Alkohol in seinem Atem riechen konnte – irgendetwas Süßliches. „Mädchen sind hübsch, aber nicht meine Augen. Die sind keck, frech, oder cool, vielleicht auch noch hammergeil, aber nicht hübsch!“

Ähm … o-kay, irgendwie hatte er es gerade mit diesem Wort. „Wenn du meinst.“

Der Ausdruck in seinem Gesicht wurde ganz weich, als er sich noch ein wenig vorbeugte. „Aber deine Augen, die sind hübsch.“

„Ja, das haben wir bereits festgestellt“, gab ich ein kleinen wenig sarkastisch von mir und trat einen Schritt zurück, einfach weil mich seine Nähe ein wenig nervös machte.

„Könnt ihr mal ruhig sein?“, kam es von Alina. „Ich will hier schlafen!“

Oh ja. Und Alina zu wecken, war ungefähr so ratsam, wie einen tollwütigen Löwen mit einem Stock zu ärgern. Absolut nicht zu empfehlen.

Verdammt. Eigentlich wollte ich auch wieder ins Bett. Ich hatte seit Tagen nicht mehr richtig geschlafen, aber ich konnte Cio auch nicht einfach so die Tür vor der Nase zuknallen. Wer wusste schon, was er dann anstellen würde?

„So hübsch“, nuschelte er und ließ sich gegen den Türrahmen sacken.

Fantastisch. „Okay, komm, wir bringen dich ins Bett.“

Seine Lippen verzogen sich zu einem dreckigen Grinsen. „In mein Bett?“

„Ja.“ Ich schob ihn in den Wohnraum, schloss die Tür hinter mir und nahm seine Hand.

„Du trägst mein T-Shirt“, murmelte er, als ich ihm zu seinem Zimmer zog.

Ertappt röteten meine Wagen sich. Mist, das hatte er eigentlich nicht mitbekommen sollen. „Ja. Ähm … die anderen Klamotten waren …“

„Es steht dir.“ Er grinste leicht schief. „Möchtest du es behalten?“

Mein Gott, wie er das fragte … er musste wirklich ordentlich gebechert haben. „Im Moment jedenfalls wäre es mir sehr lieb“, sagte ich etwas unbestimmt und schob ihn in sein Zimmer. Klar wollte ich es behalten, aber so deutlich würde ich es nicht ausdrücken. Das wäre einfach nur peinlich. „So, da ist dein Bett. Schaffst du den Rest alleine?“

Er drehte sich halb herum, als sei er überrascht, dass wir uns auf einmal in seinem Zimmer befanden. Auf der Kommode stand eine fast leere Flasche von irgendeinem süßen Likör. Das Licht der kleinen Lampe daneben strahlte sie an. Als er sie sah, wich das Lächeln langsam aus seinem Gesicht, bis nichts mehr davon übrig war.

„Ja“, sagte er leise. Seine Stimme klang enttäuscht. „Ja, klar.“ Er drehte sich herum und setzte sich auf die Kante seines Bettes.

Unentschlossen, sah ich von der offenen Tür zu ihm und auf einmal brachte ich es nicht mehr übers Herz, ihn trotz der späten Stunde allein zu lassen. Und das hatte weder etwas damit zu tun, dass mein Herz wegen seiner Gegenwart einen Tick schneller schlug, noch damit, dass er nun doch noch zu mir gekommen war, nachdem er mir vorhin so eine Abfuhr erteilt hatte. Es lag einzig daran wie er in diesem Moment auf mich wirkte. Den Kopf gesenkt, die Augen auf den Boden gerichtet, irgendwie … verzweifelt. Nein, das war nicht das richtige Wort. Eher Mutlos. Irgendwas lag ihm auf der Seele und so konnte ich nichts anderes tun, als die Tür von innen zu schließen und mich neben ihn auf die Kante des Betts sinken zu lassen.

„Möchtest du reden?“ Wäre ja nicht das erste Mal in den letzten vierundzwanzig Stunden, dass ich als Hobbypsychologe fungierte.

Langsam, als hätte er mein näherkommen gar nicht richtig registriert und sei jetzt erstaunt mich neben ihm zu haben, hob er den Kopf. Dabei ließ er seine Augen über mich wandern, was mir nicht wirklich gefiel. Außer einem Slip und seinen Shirt trug ich nämlich nichts am Leib. Deswegen griff ich hastig nach seiner Decke und zog sie über meine Beine. So war ich wenigstens ein kleinen bisschen bedeckt. „Es ist einfach … sie hat nur nein gesagt, weil mein Vater es nicht wollte, verstehst du? Wäre er nicht, dann wäre ich schon längst auf dem Weg zum Schloss, aber jetzt sitze ich hier fest.“

„Du redest von dem Auftrag die Themis zusammenzurufen.“

„Ja, genau davon rede ich“, brach es aus ihm raus. „Weißt du was sie gerade machen? Sie sind dabei Vorbereitungen für die Evakuierung der Simultanen zu treffen und reden nebenbei immer noch darüber, wie man die Themis erreichen könnte. Sie tun nichts anderes als reden. Dabei ist es so einfach. Ich würde das schaffen, ich weiß das. Ich weiß das ich gut bin in dem was ich mache, alle sagen ich bin gut, verstehst du? Die Königin sagt ich bin gut, ja sogar der Tribunus Umbra sagt ich bin gut, nur mein Vater nicht. Egal was ich tue, nie kann ich es ihm recht machen. Nie.“ Er schlug mit den Fäusten auf seine Knie. „Er hält mich für ein selbstverliebtes Großmaul, ohne jeglichen Sinn für Anstand und Verantwortung, das nur Scheiße im Hirn hat und das nur weil ich nicht so steif und diszipliniert bin wie er.“

Wie er diszipliniert aussprach, als sei es ein Schimpfwort. Ich legte ihm eine Hand auf die Faust. „Ich glaube nicht dass er das denkt. Er …“

„Doch, das tut er. Er hat es mir ins Gesicht gesagt.“

„Oh.“

Cio verzog seine Lippen zu einem bitteren Lächeln. „Vor ein paar Wochen hatten wir Streit und da hat er mir genau diese Worte um die Ohren gehauen.“ Er schnaubte „Ich bin eine einzige Enttäuschung für ihn.“

Aber … das sollte Umbra Diego gesagt haben? Das konnte ich mir gar nicht vorstellen. Nicht so wie Cayenne von ihm sprach und auch nicht so wie ich ihn kennengelernt hatte. Okay, er war immer ein wenig hart zu Cio, das hatte ich schon mehr als einmal miterlebt, aber das? Es war einfach schwer sich das vorzustellen.

„Er sagt … er sagt immer, dass er es in meinem Alter viel schwerer gehabt hat. Er sagt, dass aus mir nie ein richtiger Umbra wird, nicht wenn …“ Er schlug die Hände vors Gesicht, als sei ihm das Ganze auf einmal peinlich. „Gott, warum erzähle ich dir das nur?“

Wenn ich raten müsste, würde ich auf den Alkohol tippen. Ich rückte ein wenig näher an ihn und zog seine Hände aus seinem Gesicht. Dann hielt ich sie fest, damit er sich nicht wieder verstecken konnte. „Du erzählst mir das, weil du Aric nicht finden kannst und jemand zum Reden brauchst.“ Ich strich mit dem Daumen über sein Handgelenk, fühlte den starken Puls darunter und konnte gar nicht anders, als den Blick darauf zu senken. Mist, jetzt war sicher nicht der richtige Moment für Bluthunger. Ich hatte erst vor ein paar Tagen getrunken, dass müsste noch ein Weilchen halten. Trotzdem war es ziemlich verlockend. „Und weil ich dir gerne zuhöre.“

Als ich meinen Blick hob, traf ich genau auf seine Augen.

„Tu es“, sagte er leise.

„Was?“

„Beiß mich. Lass uns diesen ganzen Scheiß einfach für einen Augenblick vergessen, okay?“

Das hörte sich schon nicht schlecht an, aber … „Ich glaube nicht, dass das die Lösung des Problems ist.“ Als ich meine Hand zurückziehen wollte, hielt er sie blitzschnell fest.

„Vielleicht nicht, aber schaden kann es auch nicht. Und wir sind doch jetzt sowieso wach.“

„Cio …“

„Komm schon. Willst du dass ich bettle, und auf die Knie gehe? Ich tu es.“

Als er Anstalten machte aufzustehen, hielt ich ihn am Arm fest. Das war doch wirklich albern. „Du willst den Rausch spüren, oder?“, fragte ich leise.

„Ich will einfach dass du bei mir bist und das ist eben ein kleiner Bonus.“ Er rutschte etwas näher, legte die Hand auf meine Wange, was mein blödes Herz gleich einen Takt schneller schlagen ließ. „Komm schon, dass tut doch keinem weh.“

„Wenn ich abrutsche, dann tut es dir weh“, gab ich zu bedenken.

Das ließ ihn grinsen. „Ich denke, dass ich das verkraften könnte. Also los, beiß mich. Vorher gebe ich eh keine Ruhe.“

Das glaubte ich ihm aufs Wort. „Lässt du mich danach dann wieder schlafen?“

Daraufhin lachte er bellend los. „Jetzt tut doch nicht so, als wäre es dir zuwider. Du magst das doch auch.“

Dem konnte ich leider nicht widersprechen.

„Komm schon“, sagte er noch einmal, als ich zögerte.

Wahrscheinlich wäre es besser, wenn ich einfach wieder in mein Zimmer verschwand, aber diesen Augen zu widerstehen, war gar nicht so einfach. Und es war ja auch nicht so, dass ich nicht wollte. Allein bei dem Gedanken daran, ihn zu beißen, kribbelten meine Fänge bereits.

Na dann hör endlich auf dich dagegen zu wehren und tu es! Er will es doch auch!

Konnte man seine innere Stimme irgendwie abstellen? Wenn ja, hatte ich bis heute noch nicht herausgefunden, wie das funktionierte. „Du hast recht“, sagte ich mutiger, als ich mich fühlte und rutschte ein kleinen wenig zu ihm heran, doch mein Bein war im Weg, so würde ich nicht rankommen. Ich rutschte ein Stück herum, aber dann war sein Bein im Weg. „So klappt das nicht.“

„Und ob das klappt.“ Kurzerhand rutschte er mit dem Rücken an die Wand, packte mich dann an der Taille und hievte mich über seinen Schoß.

Genau wie beim letzten Mal, ging es mir durch den Kopf.

„Komm schon, Schäfchen“, sagte er, als ich schon wieder zögerte und neigte den Kopf einladend zur Seite. „Lass mich ein wenig vergessen.“

Ich wusste es wäre schlauer, aufzustehen und sein Zimmer wieder zu verlassen, doch die Verlockung war einfach zu groß. Und das nicht mal wegen seinem Blut. Es war die Art, wie er seine Hände an meine Hüften legte und mich noch etwas näher an sich zog, als ich mich vorbeugte, um die zarte Haut zu betäuben. Ich spürte wie sein Puls sich unter meiner Zunge beschleunigte und hörte seine gemurmelten Worte, die mir versicherten, wie sehr ihm das gefiel.

Als ich meine Zähne dann in seinem Hals versenkte, spannte er sich einen kurzen Moment an, doch sobald ich an der Wunde sog, stöhnte er völlig ungeniert und schloss seine Augen, um das Gefühl mit allen Sinnen auszukosten.

Der zweite Schwall Blut, stieg mir in den Kopf. Es war wie ein kleiner Rausch, der meine ganze Haut kribbeln ließ und ich brauchte einen Moment, um darauf zu kommen, woher das plötzlich kam. Der Alkohol. Er war in seinem Blut und ich trank es.

Oh Gott, wenn das mal gut ging.

Während ich versuchte mich aufs Trinken zu konzentrieren, entspannte er sich langsam. Er murmelte wie sehr ihm das gefiel und das ich bloß nicht aufhören sollte. Seine Zunge war ein wenig schwer und die Worte etwas genuschelt. Dabei wanderten seine Hände unentwegt über meine Beine und meinen Rücken.

Ich konnte die ganze Zeit seinen starken Herzschlag in seiner Brust spüren, aber ich musste dieses Mal besser aufpassen. Es war noch nicht so lange her, dass ich das letzte Mal sein Blut genommen hatte, doch bei dem Geschmack war es gar nicht so einfach sich zurückzuhalten.

Immer wenn ein gemurmeltes Wort seinen Mund verließ, wurde ich ganz kribbelig und doch merkte ich sofort auf, als er ruhiger wurde und ich nur noch seinen Atem wahrnahm.

Ich sog noch einmal an der Wunde in seinem Hals. Seine einzige Reaktion bestand darin, mich ein wenig fester zu halten. Darum entschloss ich mich dazu, den Biss zu versiegeln und zog dann den Kopf zurück, um ihm ins Gesicht sehen zu können.

Seine Augen waren ganz glasig und ein verzückter Ausdruck umspielte seine Lippen. Es war, als würde er im wachen Zustand selig vor sich hinträumen. Ich hatte doch nicht zu viel Blut genommen, oder? Nein, das musste an dem ganzen Alkohol liegen, den er schon vorher getrunken hatte.

Zögern beugte ich mich ihm ein wenig entgegen. „Geht es dir gut?“

Seine Augen schienen sich wieder ein bisschen zu klären. Er neigte den Kopf zur Seite und unter diesem Blick, da wurde mir ganz anders.

„Cio?“

„Noch nicht“, hauchte er und mein Atem stockte in meiner Kehle, als er plötzlich die Hand an mein Kinn legte und mein Gesicht an seines zog, bis unsere Lippen nur noch ein Hauch voneinander getrennt waren.

„Was machst du da?“

Statt zu antworten, streifte er meine Unterlippe mit seinem Mund und löste damit etwas aus, dass ich bis in die Zehenspitzen spüren konnte. Ich konnte ihn nur mit großen Augen anschauen, als er seine Lippen langsam auf meine senkte. Es war nur ein kurzer, weicher Kontakt, aus dem schnell ein zweiter und dann ein dritter wurde.

Er hielt mein Kinn fest und gab mir damit keine Möglichkeit zum Rückzug. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich mich zurückziehen wollte. Das Gefühl war einfach so unglaublich.

Als seine Finger langsam meinen Hals hinabwanderten und auf meinem Schlüsselbein zum Liegen kamen, schlossen sich meine Augen flatternd. Es war Ewigkeiten her, dass ich jemanden geküsst hatte, doch niemals hatte es sich so richtig angefühlt. Er gab mir das Gefühl, dass ich genau hier hin gehörte.

Der Kuss wurde drängender. Seine Hand glitt in meinen Nacken, um mich noch näher an sich zu ziehen.

Zögernd berührte ich seine Brust und spürte, wie schnell sein Herz unter seinem T-Shirt schlug. Ich nahm ihn mit all meinen Sinnen wahr und vergaß einen Moment alles andere um uns herum. Nur er war wichtig. Wie er mich berührte und küsste und sein Geruch. Oh Gott, ich liebte seinen Geruch.

Auf einmal unterbrach Cio schwer atmend den Kuss und zog sich ein wenig von mir zurück.

Ich war etwas überrascht, tat aber nichts, als seine Augen sich langsam öffneten und er wieder das kleine Loch an meiner Augenbraue berührte. „Jetzt geht es mir gut“, flüsterte er mit einem entrückten Lächeln im Gesicht und strich dabei ganz zart an meinem Gesicht entlang.

Diese doch eigentlich sehr harmlose Berührung, war ein kleiner Schock für mich. Ich wusste nicht genau wie es geschah, oder warum ich das tat, doch plötzlich konnte ich gar nicht anders, als sein Gesicht wieder an meines zu ziehen und ihn zu küssen. Da war nur noch dieser eine Gedanke, der nach mehr verlangte. Mehr von diesem Kuss, mehr von seinen Berührungen, mehr von ihm. Nur ein Mal. Nicht denken, nur fühlen. Ein einziges Mal.

Gierig drängte ich mich gegen ihn, hielt sein Gesicht fest, damit er mir nicht entkommen konnte und nahm mir einfach was ich schon die ganze Zeit hatte haben wollen: ihn. Und so wie er mir entgegenkam, ging es ihm wohl nicht viel anders.

Meine Hände strichen hektisch über seine Brust, über die Schultern und Arme, aber das war nicht genug. Das Shirt war im Weg, der blaue Stoff störte mich. Ich wollte seine Haut berühren, wollte, dass mich nichts mehr von ihm trennte, doch als ich nach dem Saum griff, um das störende Teil loszuwerden, waren seine Arme im Weg. Sprechen und ihm sagen, dass er sie wegnehmen sollte, konnte ich aber auch nicht. Dieser Kuss, oh Gott, niemand würde mich in diesem Moment dazu bekommen, dass ich ihn freiwillig unterbrach. So konnte ich nur ein wenig unter sein Shirt schlüpfen, um die feste Haut seines Bauchs zu berühren.

Doch das schien auch ihm nicht zu genügen. In dem einen Moment waren seine Hände noch an meinem Schenkel, strichen dort mit gespreizten Fingern immer hör und im nächsten packte er selber sein Hemd und zog es in einem Ruck über seinen Kopf. Damit unterbrach er unseren gierigen Kuss für eine ganze Sekunde, doch noch während der Stoff auf den Boden flatterte, lagen seine Lippen schon wieder auf meinen.

Endlich hatte ich uneingeschränkten Zugang zu seiner Haut und nutzte diesen auch sofort aus. Meine Hände glitten über seine Brust, was ihm ein Stöhnen entlockte und nur einen Moment später zog er mir auch mein Shirt über den Kopf, um es dann achtlos wegzuwerfen. Darunter trug ich nichts und auch wenn der Schein der Nachttischlampe sehr mager war, so konnte er sicher alles von mir sehen. Doch ich kam gar nicht dazu mich für irgendwas zu schämen. Noch bevor ich richtig realisieren konnte, was genau da geschah, hatte er mich auf den Rücken gedreht, sich über mich gebeugt und küsste mich, dass mir Hören und sehen verging.

Seine Berührungen, sein Geruch, das Gewicht seines Körpers auf dem meinen, das alles machte es mir unmöglich einen klaren Gedanken zu fassen. Ich war nur noch fähig zu reagieren, seine Nähe zu spüren und mich in den Gefühlen, die er in mir auslöste, zu verlieren.

Seine Hand wanderte über meinen Hals, hinunter zu meiner Brust. Ein leises Geräusch entschlüpfte mir, doch noch immer konnten wir unsere Lippen nicht voneinander trennen. Wir waren wie zwei Verdurstende, die die Berührungen und die Nähe des anderen brauchten, um überleben zu können. Dieses Prickeln, dass unsere Körper immer wieder wie ein Schauder überlief, war in diesem Moment das Lebenselixier, von dem wir tranken, doch als Cio seine Lippen von mir trennte, meinen Geruch tief in seine Lungen sog und mit dem Mund eine Wanderung über meine Haut beschritt, über meinen Hals tiefer fuhr, verebbte der Rausch des Moments ein wenig und mir wurde klar was wir, was ich, hier gerade tat.

„Cio“, hauchte ich und war erstaunt darüber, wie heiser und atemlos meine Stimme klang. „Wir dürfen das nicht …“

„Schhhh“, machte Cio. Dann waren seine Lippen wieder auf meinen, während seine Hand immer tiefer wanderte, auf meiner Haut brennende Spuren hinterließ und erst am Bündchen meines Slips hielt. „Denk nicht darüber nach“, hauchte er mir zu.

„Aber …“

Um mich am sprechen zu hindern, schob er mir die Zunge zwischen die Lippen und mein Denken wollte sich schon wieder verabschieden, doch das durfte nicht sein. Cio war besoffen und wegen dem Rausch der Endorphine im Moment nicht ganz zurechnungsfähig, doch ich hatte keine solche Entschuldigungen vorzuweisen. Ich war völlig klar bei Verstand und deswegen lag es auch an mir, diese Sache zu beenden, bevor es zu spät war. Und so schwer es mir auch fiel, ich zwang meine Hände von seinem Körper und hielt sein Gesicht fest, so dass er sich schweratmend von mir lösen musste.

„Nein“, sagte er, als er meinen Blick sah, zog sein Gesicht aus meinen Händen und vergrub es an meiner Halsbeuge, um die zarte Haut dort zu küssen und mir damit einen heißen Schauder über den Rücken zu jagen. „Bitte, das kannst du mir nicht antun. Nicht jetzt.“ Er atmete den sauberen Geruch meiner Haut tief ein und verursachte mit seinem heißen Atem eine Gänsehaut. „Nicht wo ich jetzt von dir kosten durfte.“

Oh Gott, warum musste er sowas sagen? „Cio, du hast eine Freundin. Es wäre nicht fair gegenüber Iesha, wenn wir …“

„Verdammt, was soll das?!“, fuhr er mich an und hob den Kopf. Seine Augen spürten Funken. „Wenn du das hier nicht willst, wenn du mich nicht willst, dann sag es einfach und bring nicht immer Iesha zur Sprache, um dir selber einen Grund zum Rückzug zu geben!“

Ich drückte die Lippen zusammen und wich seinem Blick aus. So war das gar nicht. Ich wollte ihn. Oh Gott, er ahnte wahrscheinlich gar nicht, wie sehr ich ihn wollte und zwar ganz für mich allein, mit allem was dazu gehörte. Aber das würde nicht passieren, niemals und genau deswegen fand ich es nicht richtig, was wir im Begriff waren zu tun.

„Vergiss Iesha doch einfach“, sagte er leiser und viel sanfter als vorher, während sein Daumen sanft über meine Wange strich. „Vergiss sie einfach.“

„So wie du?“, fragte ich genauso leise und versuchte die Hand zu ignorieren, die nun zärtlich meinen Hals hinab strich.

„So wie ich“, erwiderte er fest und etwas in seiner Stimme veranlasste mich dazu, ihm wieder das Gesicht zuzuwenden. „Vergiss sie, vergiss für diesen Augenblick die ganze Welt. Hier geht es nur um dich und mich. Nichts anderes zählt im Moment.“

Im Moment vielleicht nicht, aber was würde morgen sein? „Cio“, flüsterte ich und wusste selber nicht genau was ich damit sagen wollte. Sollten wir beenden, was wir begonnen hatten, oder wäre es besser, die Flucht zu ergreifen?

„Nicht nachdenken, Schäfchen“, hauchte er an meinem Mund und in der nächsten Sekunde konnte ich seinen unvergleichlichen Geschmack wieder auf meinen Lippen schmecken.

Ich wusste es war nicht richtig und ich sollte es unterbinden, doch ich war einfach nicht fähig mich seinen Berührungen zu entziehen und erwischte mich ziemlich schnell dabei, wie meine Hände ein Eigenleben entwickelten. Es war wie eine Sucht. Ich konnte seiner Haut und dem Gefühl, das er in mir auslöste, einfach nicht widerstehen. Und das war der Moment, in dem ich mich entschied, einfach auf alles zu scheißen. Auf das was war und auf das was sein könnte. Ich tat genau das, was Cio von mir wollte. Ich verbot mir darüber nachzudenken und überließ mich einfach dem Moment.

Als wenn Cio die Veränderung in mir spüren würde, wurden seine Berührungen drängender. Meine Hände krallten sich in seine Schultern, als er sein Knie zwischen meine Beine schob und rhythmisch gegen meine Mitte drängte. Seine Hand strich über meine Seite, umfasste meine Brust und dann fand ich mich in einem Rausch wieder, den ich so noch nie erlebt hatte.

Ich wusste nicht, wer seine Kleidung zuerst komplett ausgezogen hatte, oder wie es möglich war, einen anderen Menschen so intensiv zu fühlen. Natürlich, ich hatte nicht viel Erfahrung mit Männern, aber das was hier und jetzt geschah, gab mir das Gefühl in einem Traum gefangen zu sein.

Seine Hände und Lippen erkundeten meinen Körper ohne jede Scham. Als er meine Brust küsste, bog ich mich ihm entgegen, um ihm noch näher zu sein. Immer wieder murmelte er Worte an meiner Haut. Wie schön ich war, wie gut ich duftete und wie toll ich mich anfühlte.

Ich schaffte es kaum noch einen einen klaren Gedanken zu fassen, war nicht mehr fähig etwas anderes zu tun, als auf ihn und seine Berührungen zu reagieren. In diesem Moment war alles was ich haben wollte, Cio.

Leise murmelnd glitt er an mir hinab. Seine Lippen waren ganz rot und der Ausdruck in seinen Augen ließ mein Herz für ihn erblühen. Als er sich zwischen meine Beine hockte und mich an der Hüfte anhob, waren seine Berührungen beinahe ehrfürchtig. „Du raubst mir den Atem“, murmelte er und vereinte unsere Körper auf eine Art, die älter war als die Zeit selber.

Mein Kopf fiel in den Nacken und ich gab mich ihm einfach hin.

Ich verstand nicht, wie sich etwas so gut anfühlen konnte. Doch die Gefühle des Augenblicks verstand ich sehr wohl. Hatte ich jemals die Chance gehabt, mein Herz von ihm zu lösen, so machte dieses Erlebnis sie zunichte. Unter seiner zärtlichen Behandlung war ich hoffnungslos verloren und im Augenblick störte es mich nicht einmal. Solange ich hier war, zusammen mit ihm, konnte mir alles andere egal sein.

Ich griff nach seinem Gesicht und zog ihn zu mir runter, während ich ihn tief in mir spürte und mir wünschte, dass dieser Augenblick eine Ewigkeit andauern würde.

Unser Atem vermischte sich, als seine Bewegungen begieriger wurden. Ich schlang die Arme um seinen Nacken, suchte seinen Mund, um die Glut der Gefühle, der in mir tobte nicht allein überstehen zu müssen, um mit ihm gemeinsam in diesen Sturm einzutauchen und ihn Arm in Arm wieder zu verlassen.

Unsere Herzen trommelten wild um die Wette, unser Atem verließ hektisch unseren Mund. Seine Arme schlangen sich fest um meinen bebenden Körper und hielten mich, während ich versuchte diese intensiven Gefühle zu überstehen.

Schwer atmend hielt ich mich an ihm fest und war einen Moment einfach nur glücklich, hier mit ihm zu liegen. Doch der Abklang des Rauschs war ernüchternd für mich und ich konnte nichts gegen die Träne tun, die sich still und heimlich aus meinem Auge stahl. Was hatte ich nur getan? Wie hatte ich es so weit kommen lassen können? Was sollte ich denn jetzt tun? Ich wollte ihn doch nicht als Freund verlieren.

Freund.

Freundschaft.

Das Einzige was ich von ihm zu erwarten hatte.

Eine zweite Träne löste sich und genau da hob Cio den Kopf. Der weiche Ausdruck in seinem Gesicht verwandelte sich in etwas Gequältes. „Hey“, flüsterte er und wischte mit dem Daumen die Träne von meiner Wange. „Warum die Tränen? War es wirklich so schrecklich?“

Nein, das war es nicht. Es war sogar genau das Gegenteil, was es noch schlimmer machte. Als ich nicht antwortete, weil ich meine ganze Kraft darauf verwendete, nicht zu einem heulenden Etwas zu mutieren, legte er seine Stirn an meine.

„Bereust du es etwa?“

Ich drückte die Lippen aufeinander, schüttelte den Kopf und wusste, dass es Lüge und Wahrheit zugleich war. „Wir hätten das nicht tun dürfen“, kam es leise über meine Lippen. „Ich hätte das nicht tun dürfen.“ Ich schob ihn von mir runter und hüllte mich in die Decke. Natürlich war es albern, da er bereits alles gesehen, berührt und … naja – bei dem Gedanken kroch mir die Röte ins Gesicht – aber ich fühlte mich so einfach nicht mehr so nackt und ungeschützt.

Cio hatte nicht solche Probleme. Er störte sich auch nicht daran, dass ich ihn weggeschoben hatte – zumindest zeigte er das nicht. Ruhig beobachtete er mich, wartete und kaum dass ich mich in die Decke gewickelt hatte, zog er mich neben sich und schlang einen Arm um meine Taille. „Ich bereue es nicht“, flüsterte er an meinem Nacken und hauchte einen sanften Kuss auf die zarte Haut. „Und das solltest du auch nicht.“

Ich wusste es wäre intelligenter mich seinen Armen zu entwinden und in mein Zimmer zu gehen, doch trotz allem fühlte ich mich in seinen Armen geborgen. Und ich wusste auch, dass es besser wäre, einfach mal die Klappe zu halten, doch dieses eine Wort brannte mir ein Loch in die Zunge und schürte das schlechte Gewissen, dass im mir glühte. „Iesha.“

Kurz wurde der Griff um mich fester. „Warum machst du das?“, fragte er leise. „Warum bringst du sie immer wieder zwischen uns?“

Was für eine dumme Frage. „Es gibt kein uns“, sagte ich tonlos.

Cio seufzte schwer. „Weiß du, ich hab mit Iesha seit deinem Geburtstag nicht mehr gesprochen, nicht mehr seit sie mir gesagt hat, was sie getan hat.“ Er drückte sein Gesicht in meinem Nacken, während ich versuchte, seinen Worten einen Sinn zu geben. „Als sie mir sagte, wie sie dir aufgelauert hat, da war ich … es hat mich furchtbar wütend gemacht und … ich weiß nicht. Ich bin ihr seit dem aus dem Weg gegangen. Ich konnte sie nicht mehr ansehen, ohne vor Augen zu haben, wie sie dich schlägt.“

Diese Worte … was sollte ich mit ihnen tun? Sollte ich die leichte Hoffnung die in mir keimte zulassen, oder war sie nur eine Täuschung, die mich hinterher noch tiefer ins Elend stürzen würde? „Warum sagst du mir das?“, fragte ich so leise, dass ich selber es kaum hören konnte.

„Ich weiß nicht.“

Das war nicht die Antwort die ich mir erhofft hatte. Und doch war da noch eine Frage die ich stellen musste und mein Herz brechen lassen konnte. „Liebst du Iesha noch?“

Es blieb ruhig, viel zu lange, doch ich wagte es nicht mich zu bewegen.

„Cio?“

„Ich weiß es nicht“, flüsterte er in meinen Nacken und streichelte mit seinem Atem über meine Haut. „Schlaf jetzt.“

War das sein Ernst? Wie bitte sollte ich jetzt schlafen? Nicht nur, dass ich mich in den nackten Typen hinter mir verknallt hatte, ich hatte gerade mit ihm geschlafen und konnte seine Berührungen noch immer spüren – was nicht nur daher rührte, dass er mich im Arm hielt.

Es war absurd. Er hatte eine Freundin und es konnte keine Zukunft geben, trotzdem konnte ich ihn in diesem Moment einfach nicht gehen lassen. Sein Geruch war wie ein Rauch, der mich zu verschlingen drohte. Jeden seiner Atemzüge konnte ich in meinem Nacken spüren. Wir waren uns so nahe. Unsicherheit, Nervosität, Angst vor dem was danach sein würde. Ich wollte ihn nicht verlieren, wollte nicht dass nach dem Aufwachen zwischen uns plötzlich alles anderes war, nur weil ich mich nicht hatte beherrschen können. Das bisschen Cio, das ich haben konnte, wollte ich nicht wegen einem Moment im Hormonrausch wegschmeißen.

Langsam schloss ich die Augen, atmete einmal tief durch. Meinen Kopf abzuschalten war so einfach wie einen Grizzly davon zu überzeugen, seinen Fisch dem Angler zu schenken.

Ich wollte es nicht so enden lassen und das war der Grund, warum ich immer noch hier so lag. Ich wollte mehr von ihm, wollte alles, ohne Einschränkungen.

Meine Augen schlossen sich in dem Versuch etwas Ruhe zu finden, doch meine Gedanken wollten da nicht mitspielen. Immer wieder sah ich vor mir, was wir gerade getan hatten. Mein Körper summte noch von seinen Berührungen. Seine Finger strichen immer wieder über meinen Bauch. Sein Atem wurde ruhiger und sein Körper begann sich zu entspannen.

Ich jedoch schaffte es nicht einzuschlafen. Zehn Minuten vergingen, eine halbe Stunde. Ich war am überlegen, ob ich die kleine Lampe auf der Kommode ausmachen sollte, wagte es aber nicht mich zu bewegen, aus Angst ihn zu wecken.

Was würde jetzt passieren? Das hier war ein … eigentlich wollte ich es nicht Ausrutscher nennen, weil es dem Ganzen eine bittere Note geben würde. Aber ich konnte auch nicht sagen, dass es richtig gewesen war, was wir getan hatten. Warum nur hatte ich mich nicht beherrschen können? Was wir hier getan hatten, war wunderbar gewesen, doch es würde alles nur verkomplizieren.

Ich wusste nicht, wie lange ich meine Gedanken bereits in meinem Kopf rotierten, als Cio sich hinter mir wieder regte.

Ganz vorsichtig, als wollte er mich nicht wecken, löste er die Umarmung um mich und rückte von mir ab. Als er dann leise über mich rüber kletterte, war ich mir nicht sicher, ob ich ihm zeigen sollte, dass ich wach war, oder diesen Moment besser noch ein wenig hinauszögerte.

Die Matratze senkte sich leicht und dann war ich alleine im Bett.

Vorsichtig öffnete ich meine Augen einen Spalt und sah gerade noch, wie er sein Blick von mir abwandte und damit begann, seine Klamotten am Boden zusammenzusuchen. Boxershorts, Jeans, Socken. Als er in seine Schuhe schlüpfte, runzelte ich die Stirn. Wozu zog er sich um die Zeit Schuhe an?

Cio schnappte sich auch noch sein T-Shirt, doch bevor er es anzog, trat er zu dem kleinen Beistelltisch und nahm sich einen Stift und das Heft mit den Kreuzworträtseln. Er riss eine unbedruckte Seite heraus, ging damit zur Kommode und begann etwas zu schreiben. Der Ausdruck in seinem Gesicht dabei … auf einmal bekam ich ein ganz ungutes Gefühl. Wollte er sich davon schleichen, um dem Morgen danach zu entgehen?

Dieser Gedanke schmeckte einfach nur bitter. „Du kannst mir auch einfach sagen, dass ich gehen soll.“

Bei meiner Stimme zuckte er wirklich zusammen und schaute mich dann erschrocken an. Seine Überraschung verschwand jedoch ganz schnell hinter einem typischen Cio-Lächeln. „Hey“, sagte er. „Ich dachte du schläfst.“

Das dem nicht so war, musste ich nicht extra betonen. Ich schaute ihn nur an und als er nichts anderes tat, als meinen Blick zu erwidern, machte sich ein wirklich ekliges Gefühl in mir breit. „Ich glaube, ich verschwinde besser in mein Zimmer.“

„Okay.“

Okay? Alles was er dazu zu sagen hatte, war okay? Ich biss die Zähne zusammen und konnte nichts dagegen tun, dass ich mir auf einmal ausgenutzt vorkam. Das war fast so wie damals mit Kaspers Cousin Samir, nur dass es damals nicht so wehgetan hatte.

Ich wich seinem Blick aus, als ich mich aufrichtete und die Decke enger um mich schlang. Dabei verbot mir dem Schmerz nachzugeben. Ich würde nicht hier direkt vor ihm in Tränen ausbrechen und ihm auch noch zeigen, wie sehr sein Verhalten mich verletzte.

„Okay“, sagte ich leise und erhob mich. Ich sammelte nicht mal meine Kleidung ein, als ich eilig das Zimmer durchquerte. Ich war so dumm. Was hatte ich denn erwartet, was passieren würde? Dass er sich unsterblich in mich verliebte und wir gemeinsam in den Sonnenuntergang reiten würden? Ich riss die Tür auf und schlüpfte eilig hinaus. Ich wollte dieser Situation einfach nur noch entgehen.

Zwei Schritte, so weit war ich gekommen, als ich ihn sehr ausgefallen fluchen hörte. Dann stürmte er aus seinem Zimmer und griff nach meinem Arm. Dabei verlor ich fast noch die Decke. „Lass mich!“

Bei meinem Ruf schaute er wachsam auf, als befürchtete er, jemand könnte mich gehört haben. Als dem nicht so war, richtete sein Blick sich wieder auf mich. Er öffnete den Mund, zwei Mal, aber kein Wort kam heraus.

„Lass nur“, sagte ich bitter. „Ich hab schon verstanden. Ich bin Nummer fünf auf deiner Liste. Vielleicht hast du ja Glück und jetzt klappt es wieder mit Iesha.“

„Du denkst, ich habe mit dir geschlafen, um es Iesha heimzuzahlen?“ Er klang wirklich erstaunt. „Wie kommst du den auf den Blödsinn?“

Statt zu antworten, drückte ich meine Lippen fest aufeinander, bevor ich noch etwas sagen konnte, dass ich später vielleicht bereuen würde. Was sollte ich denn sonst denken, wenn er sich so verhielt?

„Hey.“ Er ließ meinen Arm los und legte mir eine Hand an die Wange. „Sei nicht sauer. Das eben … es hat nicht mit dir zu tun, oder damit was wir getan haben. Ich hab einfach nur … ich … also ich muss nur etwas erledigen.“

Er musste etwas erledigen. Aha, so nannte man das jetzt also. „Wenn du es sagst.“

Der weiche Ausdruck verschwand aus seinem Gesicht. „Hör auf damit, ich hasste es, wenn du das machst.“

„Was mache ich denn?“

„Na das!“ Seine Lippen wurden eine Spur schmaler und in seinem Kopf schien es fieberhaft zu arbeiten. „Pass auf, diese Nacht mit dir war der reine Wahnsinn. Und davon abgesehen, dass ich gegen eine Wiederholung sicher nichts hätte, werde ich auch nicht so tun, als wäre es nicht geschehen. Es war der Wahnsinn, weil du der Wahnsinn bist, verstanden?“

Wie gerne hätte ich ihm seine Worte geglaubt, doch sein Verhalten sprach leider eine ganz andere Sprache. „Und wenn es nicht wegen letzter Nacht ist, warum benimmst du dich dann plötzlich so seltsam?“

Er zögerte, kaute kurz auf seinen Lippen herum und wich meinem Blick einen Moment aus. „Okay, du darfst es nicht weitersagen, verstanden? Nicht bevor die anderen den Zettel gefunden haben.“

Zettel? Verwirrt runzelte ich die Stirn. Irgendwas an seinem Ton wollte mir so gar nicht gefallen. „Cio, was hast du vor?“

Er setzte zum Sprechen an, doch genau in dem Moment öffnete sich hinter mir die Zimmertür und eine sehr verschlafene Alina trat in den Wohnraum. Als sie uns sah, hielt sie sofort an und musterte uns.

Ich konnte mir schon vorstellen, was sie bei unserem Anblick dachte. Cio ohne Hemd und ich in nichts als eine Decke gehüllt. Als sie dann auch noch anfing wissend zu lächeln, hätte ich ihr am Liebsten eine geklatscht. Wenigstens besaß sie so viel Anstand, den Mund zu halten, als sie an uns vorbei ging und im kleinen Bad verschwand.

Cio wartete, bis sie die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, dann schnappte er sich meine Hand und zog mich zurück in sein Zimmer. Er verschloss die Tür sehr sorgsam und drehte sich dann wieder zu mir um. Einen Moment zögerte er, als sei er sich nicht sicher, was genau er tun sollte. „Okay, versprich mir, dass du den Mund halten wirst.“

Wie er das sagte, wäre es vermutlich das Beste, wenn ich es ihm nichts dergleichen versprechen würde, doch ich spürte das Drängen in seiner Stimme und konnte mich schlussendlich doch zu einem „Okay“ durchringen.

„Okay“, wiederholte er. „Ich will in den Hof, um die Themis zusammenzurufen.“

„Was?!“ Vor Überraschung wurden meine Augen groß wie Untertassen. „Aber ich dachte dein Vater und Cayenne …“ Als ich das nervöse Zucken seines Auges sah, wurde mir alles klar. „Sie wissen nichts davon.“ Er wollte sich heimlich aus dem Staub machen und hätte ich geschlafen, wäre er vermutlich auch schon weg.

„Nein, aber ich habe ihnen einen Brief geschrieben, aus dem sie es erfahren, sobald sie ihn finden.“ Wie zum Beweis zeigte er auf die ausgerissene Seite auf der Kommode.

War er lebensmüde? Nicht nur das sein Vater ihn wahrscheinlich umbringen würde, es war doch auch viel zu gefährlich. „Cio, das gibt nur wieder Ärger. Du solltest nicht …“

„Hör zu, Schäfchen“, unterbrach er mich. „So kann es nicht weitergehen, wir drehen uns nur im Kreis. Jemand muss etwas tun, damit endlich etwas geschieht.“

„Aber warum musst du bitte dieser Jemand sein?! Verdammt, wenn nun etwas schief geht und …“

Er legte mir einen Finger auf den Mund, der mich zum verstummen brachte. „Ich kann das, ich weiß es. Hab Vertrauen.“

Wie konnte er mir das antun? Wie konnte er mir das sagen und dann erwarten, dass ich nicht nur schweigen, sondern auch noch Vertrauen haben sollte? Wenn nun etwas geschah, dann wäre niemand da, der ihm helfen könnte. Er wäre ganz auf sich allein gestellt. Das konnte ich nicht zulassen. Wenn ihm nun etwas passierte … oh Gott, ich konnte nicht noch jemanden verlieren, das würde ich nicht verkraften. „Bitte, Cio, überlege es dir noch mal. Geh nicht.“

Sein Blick wurde weicher. „Versteh mich doch, ich muss das tun.“

„Nein, musst du nicht. Du willst das tun.“

„Ich will einfach nur, dass das endlich ein Ende hat. Sieh dir doch an, wo wir mittlerweile stehen? Wir verstecken uns, müssen schon wieder abhauen und das alles nur, weil da so eine durchgeknallte Hexe die Macht an sich reißen will.“ Er beugte sich etwas vor, um mir in die Augen sehen zu können. „Es sterben Leute, jeden Tag mehr und je länger wir warten, desto schlimmer wird es werden, verstehst du?“

Natürlich verstand ich, ich war ja nicht dumm. „Aber wenn dir nun etwas passiert?“ Wenn er nun starb? Das Bild von Nathan flammte vor meinem inneren Auge Auf. Wenn ihm nun so etwas passierte … allein bei dem Gedanken daran, wollte ich ihn packen und kräftig durchschütteln, damit er wieder zur Vernunft kam. „Ich will nicht dass dir etwas passiert“, kam es sehr leise über meine Lippen.

„Hey, mach dir keine Sorgen, ich kann schon auf mich aufpassen. Du wirst sehen, spätestens in zwei Tagen bin ich wieder da und du darfst dich wieder an meiner Halsschlagader genüsslich tun.“ Er grinste. „Genaugenommen ist das der beste Grund, warum ich unbedingt wieder herkommen muss. Natürlich musst du mich dann erst mal gesundpflegen, weil mein Vater meinen Dickschädel vermutlich durch die nächste Wand rammen wird.“ Er neigte den Kopf zur Seite. „Vielleicht könntest du dann ja sogar als Krankenschwester verkleiden. Du weißt schon, so mit Häubchen.“ Er tat so, als würde er sich so ein Häubchen anziehen, doch ich fand das absolut nicht witzig.

Ich wollte ihn nicht gehen lassen. Nicht so völlig auf sich allein gestellt.

„Hey, guck nicht so. Man könnte ja meinen deine Großmutter sei gestorben.“

„Daran ist nichts lustig, Cio.“

Das Grinsen wandelte sich langsam in einen sehr ernsten Ausdruck. „Du hast recht, daran ist nichts lustig und genau aus dem Grund muss ich das auch tun.“

„Und wie willst du das schaffen? Ich meine, willst du etwas schon wieder ein Auto klauen, oder was?“

„Sowas in der Art.“ Cio zog aus seiner Hosentasche einen Autoschlüssel mit einem pinken Herzanhänger. „Den habe ich mir von Shiva geliehen.“

Ich sah den kleinen Anhänger an, als wäre er etwas Giftiges. „Geliehen?“

„Okay“, gab er zu. „Ich habe ihn geklaut, aber ich habe vor den Wagen unbeschadet zurückzubringen.“

Das war verrückt, einfach nur verrückt. Aber Cio würde sich nicht aufhalten lassen, ich sah es ihm an. Selbst wenn ich sofort Bescheid geben würde, damit sie ihn aufhielten, wäre die Sache damit nicht getan. Davon abgesehen, dass er ziemlich sauer auf mich wäre – was ich absolut nicht wollte – würde er sicher wieder einen Weg finden, sich aus dem Staub zu machen, um allen zu beweisen, dass er das konnte. Nur würde er sich mir dann kein zweites Mal anvertrauen.

Ich biss mir auf die Unterlippe, sah den entschlossenen Blick in seinen Augen. Nein, er würde sich nicht aufhalten lassen, egal wie gefährlich dieser Auftrag war. Allein schon um seinem Vater zu beweisen, dass er das konnte, würde er sich auf den Weg machen.

„Cayenne und dein Vater könnten dich immer noch einholen, wenn sie den Zettel finden und dann hättest du echte Probleme.“

„Nein, das würden sie nicht tun. Bis sie merken, dass ich weg bin, bin ich schon auf halbem Wege zum Hof und da sie es nicht riskieren werden, dass mir etwas zustößt, werden sie wegbleiben, um niemanden unnötig auf mich aufmerksam zu machen.“

Das stimmte wohl leider. „Ich lasse dich nicht allein gehen“, sagte ich fest.

„Ich werde mich nicht aufhalten lassen. Auch nicht von dir.“

Das war mir klar. „Dann sollte ich mich jetzt wohl besser anziehen.“

Damit hatte er wohl nicht gerechnet, nicht wenn ich seinen Gesichtsausdruck richtig interpretierte. „Du willst mitkommen?“

Ich drehte mich von ihm weg und begann meine Klamotten einzusammeln. „Glaubst du, ich lasse dich alleine gehen? Vielleicht bin ich kein großer Umbra, aber ich kann dir Rückendeckung geben.“

„Zaira, was ich da vorhabe, das ist nicht ganz ungefährlich. Wenn …“

„Dann bleibst du auch hier.“ Mein Blick war fest auf ihn gerichtet. „Wenn du gehst, gehe ich auch. Deine Entscheidung.“

Er musterte mich, hielt meinen Blick fest, um mir deutlich klar zu machen, dass das kein Spaziergang werden würde. Dann, ganz langsam breitete sich auf seinem Gesicht das vertraute Grinsen aus. „Wow, ich glaube, ich habe mich gerade verliebt.“

Damit hatte ich nicht gerechnet. Das mal aus seinem Mund zu hören, das war … scheiße! Es war scheiße, weil er es nicht ernst meinte. „Darüber macht man keine Scherze.“ Ich drängte mich an ihm vorbei aus dem Zimmer. Wenn ich das Haus verlassen wollte, brauchte ich mehr als einen Slip und ein T-Shirt.

 

°°°°°

Durch die Hintertür

 

Der Tau des Morgens lag noch auf dem Laub des Waldes, als die ersten Geräusche des Tages mich aus meinem kurzen Schlaf weckten. Ich blinzelte, sah durch die Verzweigung des Wurzelwerks ein Eichhörnchen, das auf der Suche nach seinen Wintervorräten durchs Unterholz huschte und dabei halb gefrorenes Laub aufwirbelte.

Vereinzelt fielen kleine Wassertropfen von den Blättern. Der Schneeregen hatte aufgehört und eine trübe, durchnässte Welt zurückgelassen. Sie hing in den Bäumen des Waldes, hatten sich auf das Laub am Boden niedergelassen, oder bildeten kleine Pfützen in Erdkuhlen.

In meinem Rücken lag ein warmer Körper, der mich in der Nacht vor dem beißenden Wind geschützt hatte. Viel hatte ich nicht schlafen können. Cio hatte uns gestern mit Shivas Wagen an den Rand der Wälder gebracht, der den Hof der Lykaner in sich barg. Dabei war er so weit wie er es gewagt hatte, an Silenda herangefahren und doch gleichzeitig Stunden entfernt geblieben. Es war Nachmittag gewesen, als wir aus dem Wagen geklettert waren und uns in Wölfe verwandelt hatte. So waren wir stundenlang in einem zügigen Tempo durch diese Wälder gelaufen waren. Selbst als die Sonne schon lange hinterm Horizont verschwunden war, strebten wir noch unserem Ziel entgehen, doch irgendwann waren wir beide so müde geworden, dass wir uns einen Schlafplatz hatten suchen mussten. Eine Erdkuhle, in dem Wurzelwerk einer alten Eiche. Es war eng und wir beide hatten gerade so reingepasst, doch keiner hatte sich beklagt.

Das Eichhörnchen bewegte sich auf uns zu. Also, entweder stand der Wind schlecht, oder es war dumm wie Brot. Welches Beutetier lief schon freiwillig auf zwei Wölfe zu, auch wenn die sich beide noch irgendwo im Delirium befanden?

Als es noch ein paar Schritte auf uns zugetrappelt kam, knurrte Cio leise. Das Eichhörnchen machte einen Satz in die Luft, wobei das Laub nur so mitflog und dann rannte es eilig in den nächsten Baum.

Ich drehte den Kopf halb und war doch etwas überrascht, Cio mit hellwachen Augen zu sehen. „Ich dachte du schläfst noch.“

Nein, ich bin schon eine ganze Weile wach.“ Er hob den Kopf und gähnte herzhaft. „Naja, so mehr oder weniger.“

Warum hast du mich nicht geweckt?“

Du scheinst den Schlaf gebraucht zu haben.“ Seine Nase stupste mir in die Wange. „Und außerdem siehst du echt niedlich aus, wenn du im Schlaf vor dich hinsabberst.“

Dafür bekam er einen bösen Blick. „Ich sabbere nicht, weder als Wolf, noch als Mensch.“

Das behauptest du.“ Noch ein spielerischer Stupser, dann stand er auf und drängte sich an mir vorbei aus der Erdkuhle. Das Laub raschelte unter seinen Pfoten, als er genüsslich seine Glieder streckte, um auch die restlichen Fetzen des Schlafs loszuwerden. Dabei schimmerte sein dunkelbraunes Fell im morgendlichen Sonnenlicht, und gab ihm zusammen mit dem Muskelspiel etwas sehr Faszinierendes. Ein Geschöpf des Waldes in seiner natürlichen Umgebung. Mächtig, kraftvoll, wunderschön.

Wenn du mich so anschaust, dann drängt sich mir doch glatt die Frage auf, was dir gerade so durch den Kopf geht.“

Ertappt wandte ich den Blick ab und krabbelte eilig aus dem Loch. Dabei ignorierte ich sein Lachen und konzentrierte mich ganz auf die Aufgabe, das feuchte Laub aus meinem Fell zu schütteln. „Wie lange brauchen wir noch zum Schloss?“

Ah, ein Ablenkungsmanöver. Okay, ich spiele mit.“ Er ließ sich auf den Hintern sinken und sondierte die Umgebung bis ins kleinste Detail. Die Spitzen der entfernten Alpen, die aus unserem Blickwinkel kaum über die Baumwipfel ragten. Den Stand der Sonne, den Bewuchs um uns herum. Mit der Nase prüfte er die Gerüche in der Luft. Das alles lieferte ihm Hinweise darauf, wo genau wir uns befanden. Ohne ihn wäre ich hier hoffnungslos verloren gewesen.

Natürlich hatte ich mit meiner Tante schon viele Ausflüge in den Wald gemacht, aber es war immer ihr Verdienst gewesen, dass ich wieder nach Hause gefunden hatte. In dieser Hinsicht war es als halber Wolf eben doch ein Problem, die Tochter eines Vampirs zu sein.

Der Gedanke an meinen Vater tat zum ersten Mal seit Tagen nicht ganz so weh, denn bei meiner Wanderung durch den Wald war mir eines deutlich klar geworden. Sollten wir es wirklich schaffen, die Themis zusammenzurufen, hätte Aric eine Chance auf den Thron und dann könnte er das tun, was seine Mutter mir versprochen hatte: Er könnte eine großangelegte Suchaktion nach meinen Eltern starten.

Diese aufkeimende Hoffnung war es gewesen, die mich gestern auch noch in tiefster Nacht immer weiter vorangetrieben hatte und meine Pfoten jetzt auch wieder ganz kribbelig machte. Cio hatte recht gehabt, es war wirklich an der Zeit gewesen, endlich etwas zu unternehmen.

Ich würde sagen, eins bis zwei Stunden.“

Bitte?“

Cio schmunzelte über meine Zerstreutheit. „Wo bist du heute nur ständig mit deinen Gedanken?“

Bei meinen Eltern“, sagte ich leise. „Ich habe gerade an sie gedacht.“

Oh.“ Cio atmete einmal tief durch, als hätte er mit etwas anderem gerechnet. „Na dann komm. In ein bis zwei Stunden müssten wir im Hof sein.“ Beim Losgehen streifte sein er mich mit seinem Fell und verleitete mich so dazu, ihm weiter durch die unberührten Wälder zu folgen.

Schritt um Schritt trugen unsere Pfoten uns vorwärts, bestrebt unser Ziel zu erreichen. Cio versuchte sich zwischendurch immer wieder halbherzig an seinen kleinen Späßen, doch die anwachsende Anspannung konnte auch er damit nicht verbergen. Er wurde immer wachsamer, blieb mit jedem Kilometer den wir zurücklegen häufiger stehen, um die Umgebung erneut zu sondieren. Seine Ohren wandten und drehten sich dabei in alle Richtungen und je näher wir dem Hof kamen, desto öfter trafen wir auf Fährten von anderen Wölfen. Kalt, schal, alt. Sie waren keine Gefahr für uns. Noch nicht. Aber diese Witterungen würden sich früher oder später mit frischen vermischen, wobei ich auf später hoffte – viel später. Doch es war nicht der Geruch von einem Wolf, der uns kurz vor unserem Ziel halten ließ, sondern eine kleine Lichtung mit einem Teich, der von einer altern Trauerweide überschattet wurde.

Ich war schon einmal hier gewesen, wurde mir bei dem Blick auf dem kleinen Grabstein klar. Nur war damals noch alles mit Schnee bedeckt gewesen, jetzt war es hier nur noch matschig. Es war der Abend gewesen, an dem Cio herausgefunden hatte, was ich wirklich war. Der Abend, an dem ich das erste und letzte Mal mit Flair durch diesen Wald gelaufen war. Damals, als meine Welt im noch in Ordnung war.

Ich biss die Zähne zusammen. Wäre ich damals nichts ins Schloss gekommen, würde heute alles anders sein. Aber ich hätte auch vieles nie erlebt. Doch leider überwog der schlechte Teil den guten. Hätte ich doch nur niemals das Gespräch meiner Tante belauscht.

Cio hielt wieder die Nase in die Luft, runzelte die Stirn. Plötzlich schien er wachsamer.

Was ist?“

Hier war vor kurzem ein anderer Wolf gewesen.“ Konzentriert ließ er den Blick über die Lichtung schweifen. „Ich kenne den Geruch nicht, als muss es einer von Xaverines Leuten sein.“

Bei der Erwähnung des Namens sträubten sich mir die Nackenhaare. „Ist er noch in der Nähe?“

Ich weiß nicht.“ Cio drehte seine Ohren in alle Richtungen, um auch jedes noch so kleine Geräusch auffangen zu können. „Ich höre jedenfalls nichts Ungewöhnliches.“

Das ist doch ein gutes Zeichen, oder?“

Ja und nein.“ Was genau er mit dieser Antwort meinte, erklärte er nicht näher, sah sich nur noch einmal um und trat dann zurück in das Dickicht, wo er nicht so leicht zu bemerken war. „Komm. Wir haben es fast geschafft.“

Das zu hören, war sowohl beruhigend, als auch beängstigend. Einerseits hieß das, wir konnten bald hier weg, andererseits lag der schwierige Teil damit direkt vor uns.

Leise schlich ich hinter Cio durchs Unterholz. Seine Angespanntheit griff auch auf mich über und so zuckte ich bei jedem Geräusch sofort zusammen. Dabei war es egal, ob es nun der Schrei eines Vogels war, oder ein Ast, der unter meinen eigenen Pfoten zerbrach. Dem Ende unseres Wegs näher zu kommen, machte mich hypernervös.

Ganz ruhig, sagte ich mir selber. Bald haben wir es geschafft.

Als Cio sich mit einem gezischtem „Duck dich!“ auf den Boden kauerte, blieb mir vor Schreck beinahe das Herz stehen, nur um dann mit der Geschwindigkeit eines Düsenjets weiterzuschlagen. Und ich brauchte eine weitere Sekunde, um mir darüber klar zu werden, dass ich mich jetzt sofort ducken sollte, und nicht erst nächstes Jahr.

Ich fiel praktisch wie ein Sack Kartoffeln in mich zusammen und stieß mir die Nase dabei auch noch am Boden.

Leise“, flüsterte Cio. Sein Blick war auf einen Fleck gerade vor sich durch den Busch gerichtet. Die Ohren aufgestellt, die Körperhaltung aufs Äußerste angespannt, beobachtete er dort etwas.

Ich wagte es nicht mich zu bewegen. Selbst meinen Atem versuchte ich auf ein Minimum zu reduzieren.

Sie blieben wir liegen. Eine Minute, zwei.

Folge mir so leise du kannst“, forderte Cio mich auf und erhob sich im Zeitlupentempo, nur um dann sehr leise loszuschleichen.

Meine Beine kribbelten angespannt, als ich mich erhob, bereit jeden Moment Vollgas zu geben und einfach abzuhauen. Trotzdem wagte ich es auch einen Blick durch das Gebüsch zu werfen, konnte aber niemanden sehen. Der Wald schien bis auf uns beide leer zu sein. „Was hast du gesehen?“, fragte ich, als ich vorsichtig auf meine Schritte bedacht hinter ihm her schlich.

Drei Wölfe, eine Patrouille und da ich keinen von ihnen kenne, werden sie wohl zu unserer geschätzten Gräfin gehören.“

Was? Eine Patrouille?! „Meinst du sie haben uns gesehen?“

Wenn sie uns gesehen hätten, wäre sie wohl nicht einfach an uns vorbei gegangen.“

Da war wohl etwas Wahres dran.

Cio stieg vorsichtig über ein paar knochige Äste hinweg und schlich geduckt um ein paar Bäume herum.

Ich versuchte ihn nachzuahmen, aber seine nächsten Worte ließen mich stolpern.

Aber wenn sie die Richtung beibehalten, werden sie früher oder später auf unsere Fährte treffen.“ Er wandte den Kopf zu mir um. „Und bitte sei etwas leiser.“

Hätte ich gekonnt, wäre ich über diesen Rüffel sicher rot angelaufen. Aber dafür blieb gerade keine Zeit. „Wenn die unsere Fährte entdecken, dann wissen sie, dass wir hier sind.“

Ja.“

Ja?“ War das alles was er dazu zu sagen hatte? „Was heißt hier ja? Wenn die uns entdecken, dann …“

Ganz ruhig, Schäfchen. Die entdecken uns schon nicht, keine Sorge.“

Na der hatte Nerven. „Und wenn doch?“

Dann müssen wir einfach schneller sein als sie.“

Klar, ganz einfach. Und wenn wir nicht schneller waren – oder in diesem Fall ich – dann war das eben Pech. Einen Moment hatte ich das Bedürfnis ihm in den Hintern zu beißen und nein, das hatte nichts damit zu tun, das der zum anbeißen aussah – naja, zumindest wenn er ein Mensch war. Jetzt war er viel zu haarig. Da würde ich glatt …

Der Baum der aus dem Nichts vor mir auftauchte, behinderte nicht nur meine Gedanken, sondern auch meinen Weg. Und er tat weh!

Schnaufend trat ich zurück, schüttelte den Kopf aus und warf dem schäbigen Nutzholz einen bösen Blick zu. Au-a!

Also, im Allgemein ist es ratsam die Bäume zu umlaufen. Weniger Kopfschmerzen.“

Ich grummelte etwas sehr Unhöfliches, ignorierte sein leises Lachen und stampfte an ihm vorbei, bis mir wieder einfiel, wo wir uns gerade befanden und dass es vielleicht nicht sehr angebracht wäre, wie ein Elefant durchs Unterholz zu brechen. Ich blieb wieder stehen, und sah zu ihm zurück. „Hatten wir nicht etwas zu tun?“

Ja, ich sah sein Grinsen, aber zum Glück verkniff er sich eine Erwiderung und übernahm einfach wieder die Führung.

Danach wurde unser Vorankommen mühseliger. Immer wieder zogen frische Witterungen von Wölfen auf und mehr als einmal entdeckten wir weitere Patrouillen. Wir konnten immer nur Stückchenweise weiterschleichen und als der Zaun der Koppel vor uns auftauchte, mussten wir eine ganze Weile im Dickicht verharren. Zwar lag die Weide bis auf die Pferde leer vor uns, doch waren Stimmen zu hören. Leise, murmelnd, irgendwo am Unterstand und dazugehörenden Leute hatten es offensichtlich nicht sehr eilig, sich dort allzu schnell wegzubewegen.

Cio verharrte ruhig neben mir, die Ohren aufgestellt schien er die Augen überall zu haben. Ich dagegen musste mich stark zusammenreißen, um nicht pausenlos zu zappeln und rumzuhampeln. Als dann auch noch ein Schrei zu uns rüber schallte, war es mit dem Rest meiner Ruhe vorbei.

Was war das?“

Cio runzelte die Stirn und lauschte angestrengt in die Ferne. Ein weiterer Schrei schallte durch die Luft. Und das war kein Laut, den ein Mensch ausstoßen konnte, dieses Geräusch war von einem Tier gekommen, einem Tier das furchtbare Schmerzen litt.

Ich glaube das kam aus dem Vorhof. Vielleicht ein Herausforderer der auf Cerberus getroffen ist.“

Der nächste Schrei brach so abrupt ab, wie er begonnen hatte und mir war klar, wer immer ihn ausgestoßen hatte, würde nie wieder einen Laut von sich geben.

Cio“, flüsterte ich und drückte mich an ihn. Ich wollte hier weg. Natürlich war mir klar, dass er nicht gehen würde, nicht bevor er erledigt hatte, weswegen er gekommen war, aber das änderte nichts an dem Wunsch, dass ich am liebsten schon wieder auf dem Heimweg wäre.

Komm, lass uns einen anderen Weg gehen.“ Cio erhob sich und schlich voran am Waldrand entlang. Immer verborgen in den Schatten der Bäume.

Ich folgte ihm so leise ich konnte. Obwohl er schon verklungen war, plagte der leidvolle Schrei meine Ohren noch sehr lange. Ich wollte gar nicht so genau wissen, was da passiert war, nur eines stand jetzt noch fester, als vorher schon: Wir mussten der ganzen Sache endlich ein Ende setzten, damit wieder Ruhe ins Rudel einkehren konnte.

Cio brachte uns zum anderen Ende der Koppel, dort wo ich noch nie gewesen war. Das Schloss war von diesem Punkt aus weiter entfernt, aber hier liefen wir auch weniger Gefahr entdeckt zu werden. Trotzdem wurde jeder Schritt mit Bedacht gesetzt und kein unnötiges Geräusch gemacht – obwohl Cio das wesentlich besser hinbekam als ich.

Hier gab es nur eine einsame, kleine Hütte, aus der sehr seltsame Gerüche aufstiegen. Irgendwas chemisches, das ich nicht kannte. Weder Mensch noch Wolf trieb sich hier rum, nur ein kleiner Spatz, der etwas verloren auf dem Dach saß.

Im Garten gibt es einen kleinen Schuppen, der früher bei Festen von der Dienerschaft genutzt wurde. Lager für Essen und so. Er hat einen direkten Zugang zur Schlossküche. Also nicht direkt zur Küche, sondern zum Keller da drunter. Den müssen wir unentdeckt erreichen.“

Ich starrte ihn mit großen Augen an. „Du willst ins Schloss?!“

Er blinzelte einmal. „Na was hast du denn geglaubt?“

Du hattest etwas von einem geheimen Zugang zum HQ erzählt.“

Ja, im HQ ist der Ausgang, der Eingang liegt versteckt in der Garage und um in die Garage zu gelangen, gibt es zwei Wege. Entweder vorne durch das Tor, oder über den geheimen Zugang im Schloss. Und da ich nicht glaube, dass es sehr unauffällig wäre, wenn wir einfach mal durch den Eingang spazieren würden, bleibt uns nur Möglichkeit Nummer zwei.“ Er musterte mich. „Wenn dir das zu gefährlich ist, dann versteck dich hier, bis ich wieder da bin. Du brauchst da nicht mit rein.“

Und wenn etwas passiert?“

Er stupste mir gegen die Nase. „Ich kann auf mich aufpassen.“

Das glaubte er vielleicht jetzt noch, aber wenn wirklich etwas passierte und ich noch da wäre, um ihm zu helfen, würde ich mir das niemals verzeihen können. „Nein, ich komme mit.“

Du musst nicht. Wirklich.“

Da bekam man ja glatt das Gefühl, er hätte etwas gegen meine Anwesenheit. „Willst du mich etwas loswerden?“

Auf keinen Fall!“ Er knabberte spielerisch an meinem Ohr. „Zu zweit macht das doch viel mehr Spaß.“

Spaß? Ich sollt ihm wohl mal ein Duden schenken, damit er das Wort mal nachschlagen konnte, denn da stand sicher nicht: Begib dich mit einem Freund in Gefahr, um das Rudel vor dem Untergang zu bewahren. Eher sowas wie: Vergnügliche Aktivitäten. Okay, wenn man Cio war, konnte diese Situation vielleicht wirklich als Spaß durchgehen.

Ich zog mein Kopf weg, als er begann an meinem Nacken rumzuknabbern und Gefühle in im aufwallen wollten, die in dieser Situation völlig unpassend waren. „Wollten wir nicht gerade ins Schloss einbrechen?“

Du kommst also mit?“

Ich kann dich da doch nicht alleine lassen.“

Seien Augen blitzten vergnüglich auf. „Und du behaupte noch mal, du seist ein verängstigtes Schäfchen.“ Seine Rute peitschte spielerisch gegen meinen Hintern. „Und jetzt komm, da geht es lang.“

Und weiter ging es.

Langsam aber sicher bekam ich von dem duckenden Scheichen einen steifen Hals. Doch ich beklagte mich nicht. Mein Körper war sowieso völlig angespannt und je weiter wir schlichen, desto schlimmer wurde es. Morgen würde das sicher einen saumäßigen Muskelkater geben. Und bisher waren wir auch ziemlich gut durchgekommen. Jetzt allerdings wurde es schwieriger.

Der Garten war bis auf vereinzelte Gestalten ziemlich verwaist, aber wenn wir nicht aufpassten, konnten auch die zur Gefahr werden. Und wenn ich Cios wachsamen Blick richtig deutete, dann sah er es wohl ganz genauso. „Am besten, wir machen einfach einen kleinen Spaziergang.“

Was?!“ Hatte ich das jetzt richtig verstanden? „Du meinst einen richtigen Spaziergang? So richtig durch den Garten?“ Ich duckte mich etwas tiefer in unserem Gebüsch, als ein paar Meter weiter eine Gruppe von Frauen laut tratschend an uns vorbeischlenderte.

Manchmal ist auffällig am unauffälligsten“, sagte Cio und richtete seinen Blick auf mich. „Die Leute der Gräfin kann unmöglich bereits alle Witterungen der Lykaner auf diesem Schloss kennen und wenn wir als verliebtes Pärchen einen kleinen Spaziergang durch den Schlosspark machen, dann ist das wohl unauffälliger und uninteressanter, als zwei Wölfe, die heimlich herumschleichen.“

Das war schon richtig, aber eine Kleinigkeit hatte er bei seinem brillanten Plan nicht bedacht. „Und wenn wir von Leuten gesehen werden, die uns kennen? Du hast schließlich hier gelebt und die wissen alle, dass du mit Cayenne und Aric verschwunden bist. Wenn die dich jetzt bemerken, werden die doch misstrauisch.“

Sollte es wirklich dazu kommen, müssen wir darauf vertrauen, dass sie noch zu Cayenne stehen und nicht auf die Seite der Gräfin gewechselt haben.“

Aber wenn sie doch nicht mehr hinter Cayenne stehen, was dann?“, wollte ich von ihm wissen.

Dann können wir nur darauf hoffen, dass Leukos seine schützende Hand über uns hält.“ Mit diesen Worten spazierte er einfach aus dem Gebüsch – wortwörtlich.

Mir war gar nicht wohl bei diesem Plan, dabei konnte einfach zu viel schief gehen. Alte Freunde und Bekannte waren schließlich nicht die einzigen, die Cio erkennen können. Wenn nun Cerberus persönlich sich dazu entschlossen hatte, sich ein wenig die Beine im Garten zu vertreten und plötzlich vor uns stand, dann könnten wir wirklich nur noch betten, denn er kannte Cio und wäre von seiner Anwesenheit sicher nicht sonderlich erfreut.

Zaira, das kann nur etwas werden, wenn du mich auch begleitest.“ Abwertend stand er da, den Kopf nach Hinten in meine Richtung gedreht. „Alleine frisch verliebtes Pärchen zu spielen, ist ein wenig schwer.“

Du kannst aber so tun, als schwebtest du auf Wolke Sieben und während des Gehens immer wieder verträumt vor dich hinseufzen. Dann würde sich niemand wundern, dass du alleine durch den Garten schlenderst. Höchstens über dich schmunzeln.“ Ich warf noch einen wachsamen Blick durch die Büsche, bevor ich mich vorsichtig raus traute. Das war doch verrückt!

Hey.“ Cio trappte an meine Seite und schmiegte seinen Kopf an meinen. „Entspann dich. Es wird schon alles klappen.“

Sein Wort in Gottes Ohr.

Und nun komm.“ Er stupste mich noch einmal an und ging dann los.

Ich beeilte mich an seine Seite zu kommen. Als wir auf den Steinpfad traten, konnte ich gar nichts dagegen tun, dass ich mich nach allen Seiten umsah.

Ist da nicht romantisch?“, fragte er da plötzlich.

Überrascht richtete ich seinen Blick auf ihn, „Was?“

Du, ich, ein Spaziergang durch den Garten. Leere Rosenbüsche zu unseren Seiten, der zugezogene Himmel.“ Er rempelte mich spielerisch an. „Sogar die Vöglein zwitschern uns ein Liedchen.“

Ich blinzelte, ließ meinen Blick ein wenig schweifen und stellte überrascht fest, dass er Recht hatte. Ich war die ganze Zeit so auf potentielle Gefahren fokussiert gewesen, dass ich gar nicht wirklich auf meine Umgebung geachtet hatte.

Es war ruhig und friedlich. Wenn wir nicht hier gewesen wären, weswegen wir hier waren, könnte ich diesen Spaziergang mit Cio glatt genießen und mich vielleicht fragen, was das zu bedeuten hatte. Aber so weit würde es sicher niemals kommen, oder? Ich betrachtete ihn von der Seite. Zwar wusste ich um meine Gefühle und wie es um mich stand, aber was war eigentlich mit ihm?

Wir hatten die Nacht miteinander verbracht. Er hatte gesagt, er bereue es nicht und könnte sich auch eine Wiederholung vorstellen, aber was genau beutete es ihm? Einfach nur eine Freundschaftsnummer mit jemanden, den er mochte, oder war da mehr?

Das einfachste wäre natürlich ihn zu fragen. Nur ein paar kleine Worte, eine einfache Frage. Was bin ich für dich? Doch dies war weder der richtige Moment für solche Gespräche, noch war ich mir sicher, ob ich die Antwort darauf überhaupt haben wollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er für mich so empfand, wie ich für ihn, und ich konnte mir auch nicht vorstellen, dass es jemals mehr werden würde. Was sollte ein Kerl wie er schließlich an jemanden wir mir finden? Ein Misto, weder Fisch noch Fleisch. Zu dick, eine wandelnde Katastrophe.

Andererseits, wenn das alles so stimmte, warum gab er sich dann überhaupt mit mir ab? Vielleicht sah er ja in mir einen guten Kumpel, mit dem er einfach seine Späße treiben konnte. Aber warum hatte er dann mit mir geschlafen?

Er ist ein Kerl, brauch er einen besonderen Grund dazu?

Ja! Ich wollte dass es einen besonderen Grund dafür gab, dass er es nicht nur getan hatte, weil er besoffen und voller Endorphine gewesen war. Aber wenn ich so zurückdachte, war genau das immer gewesen, wenn wir uns näher gekommen waren. Vor dem Kuss auf meinem Geburtstag hatte er reichlich getrunken. Und bei jeder anderen Gelegenheit, hatte ich vorher sein Blut genommen. Vor zwei Tagen die Nacht war dann beides zusammengekommen. War das der Grund gewesen, warum er so weit gegangen war?

Dieser Gedanke war nicht nur ernüchternd, er tat auch weh. Das konnte doch nicht sein, oder?

Hätte ich einen Dollar, würde ich ihn dir geben“, holte Cio mich aus meinen Gedanken zurück.

Was?“

So sagt man doch, oder? Einen Dollar für deine Gedanken. Aber leider trage ich heute Pelz, wird also schwer werden irgendwo eine Hosentasche mit einem Dollar zu finden.“

Wir waren in der Zwischenzeit schon weit in den Garten hineingelaufen, außen an dem Labyrinth vorbei. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie weit wir schon gekommen waren.

Erzählst du es mir jetzt?“

Was?“

Er schmunzelte. „Über das was auch immer gerade in deinem Kopf los war.“ Er lenkte mich nach links, auf einen anderen Pfad. „Du hast nicht wirklich glücklich ausgesehen.“

Ach, es war nichts.“

Ach komm schon.“ Er rempelte mich spielerisch an und schubste mich damit fast in die Ziersträucher. „Mir kannst du es doch sagen.“

Klar könnte ich das und anschließend könnte ich mich dann auch in das nächste Mäuseloch verkriechen.

Komm schon, sag es mir. Ich gebe sowieso keine Ruhe, bevor ich es nicht weiß.“ Als ein Stück weiter Schritte zu hören waren, lauschte er unauffällig, doch es schien nur ein einfacher Spaziergänger zu sein, so wie wir.

Es ist wirklich nicht so wichtig.“

Ich dachte wir haben keine Geheimnisse voreinander“, sagte er leise.

Also das war jetzt wirklich unfair. Davon abgesehen dass wir uns absolut in keiner Situation befanden, in der man sowas erörterte, waren das auch meine Gedanken. Er sagte mir doch schließlich auch nicht alles, oder? „Wir haben gesagt, keine Lügen.“

Du hast mich aber gerade angelogen.“ Als ich ihn fast empört ansah, schnaubte er. „Du hast gesagt, es war nicht wichtig, aber so hast du absolut nicht ausgesehen.“

Ja, weil es für mich eben doch wichtig war. Vielleicht sollte ich ihn genau deswegen doch fragen. Was bin ich für dich? Fünf kleine Worte, die mir auf der Zunge lagen, ich musste sie nur ausspucken. Fünf Worte, mehr nicht, aber sie konnten alles verändern. Das war wohl auch der Grund, warum letztendlich etwas ganz anderes kam. „Ich hätte niemals gedacht, dass dir sowas auffallen würde. Also, das mit dem romantischen Spaziergang, und den Vögeln und so.“

Vögeln?“ Er grinste spitzbübisch. „Ich steh aufs Vögeln.“ Als ich ihn böse anstarrte, wurde daraus ein richtiges Wolfsgrinsen.

Du weißt dass ich das nicht gemeint hatte.“

Ich weiß, du sprichst von Romantik. Ein Abendessen bei Kerzenschein, Rosenblätter auf dem Bett und du in nichts als meinem T-Shirt.“ Er zwinkerte mir zu. „Siehst du, ich kann auch romantisch sein.“

Ja nur würde ich das wahrscheinlich nie erleben.

Aber das war es nicht, worüber du gerade nachgedacht hattest, oder?“

Ich verlangsamte meinen Schritt, bis ich ganz stand und auch er hielt an. Abwartend, wachsam.

Natürlich, ich könnte ihm jetzt genau das fragen. Was bin ich für dich? Ich probierte die Worte in meinem Kopf, drei vier Mal, aber ich brachte es einfach nicht über mich, sie auszusprechen. „Nein, war es nicht“, sagte ich schlussendlich und setzte mich wieder in Bewegung.

Er trabte an meine Seite. „Heißt das, du willst es mir nicht sagen?“

Nein, Cio, ich werde es dir nicht sagen.“ Ja, ich hatte ihm versprochen, ihn nie wieder anzulügen, einfach weil es ihm wichtig war, aber deswegen würde ich ihm noch lange nicht alles mitteilen, was mir auf der Seele lag, nicht wenn mein Herz dabei zerbrechen konnte.

Ein neues Geheimnis also“, überlegte er und in seine Augen trat dieser Funke, der mir schon einmal zum Verhängnis geworden war. „Ich liebe Geheimnisse.“

Und ich liebe dich, das ist mein Geheimnis. Ich schüttelte den Kopf. „Hatten wir nicht eigentlich …“

Plötzlich sprang er mich von hinten an und riss mich mit sich zu Boden. Trotz der weichen Erde war der Aufprall hart und entlockte mir einen Schmerzenslaut, aber das war für Cio kein Grund von mir runterzugehen. Ganz im Gegenteil. Er biss mir spielerisch ins Ohr, zupfte an dem Fell in meinem Nacken und verstärkte den Druck auf mich, als ich ihn wegschubsen wollte.

Verdammt, was soll das? Das hat wehgetan!“

Spiel mit.“ Wieder ein Zwicken in mein Ohr.

Ich soll mit dir spielen? Spinnst du?!“

Cio steckte mir die Nase ins Ohr. Das kitzelte, aber deswegen würde ich ihm das noch lange nicht durchgehen lassen.

Cio, ich meine es ernst. Wenn …“

Da hinten ist ein Wächter und der hat uns etwas zu genau beobachtet.“

Bei diesen Worten blieb mir fast das Herz stehen.

Deswegen tu so, als würdest du mit mir spielen.“

Aber …“

Komm schon.“ Er knabberte wieder an meinem Ohr, dann an meiner Wange. „Los, mach irgendwas bei mir.“

Was machen? Was denn bitteschön?! Ich widerstand der Versuchung meinen Kopf zu drehen, um nach diesem Wächter Ausschau zu halten. Meine ganze Konzentration lag darauf, meinen Herzschlag zu beruhigen und nicht in panisches Atmen auszubrechen.

Zaira, lieg nicht nur so da. Bitte.“ Seine Schnauze strich über meine. „Tu etwas.“

Es war wohl das „Bitte“ gewesen, das mich veranlasste, meine Nase zögernd in einen Pelz zu stecken und zärtlich an seinem Hals zu knabbern.

Ja, so ist gut.“ Er ließ sich halb auf mir nieder, eine Vorderpfote über meinen Brustkorb, während ich auf dem Rücken liegen blieb. Für Außenstehende musste er wirken, als seien wir ein verliebtes Pärchen, das miteinander rumkuschelte. Immer vorausgesetzt, sie nahmen uns diese Nummer ab.

Cio schmiegte seinen Kopf an meinen, ließ seinen warmen Atem durch mein Fell gleiten und einen Moment hätte ich fast geglaubt, dass das nicht nur ein Ablenkungsmanöver war. Dafür fühlte es sich einfach viel zu echt an. Selbst in dieser Situation konnte er meine Haut zum kribbeln bringen und den Wunsch schüren, das hier immer zu haben.

Nicht so verkrampft, Schäfchen, sonst glauben die Leute noch, ich tu das hier gegen deinen Willen.“

Wer sagt denn, dass das nicht so ist?“ Als er den Kopf hob, biss ich spielerisch nach ihm. Mein Herz schlug dabei wie wild, was nicht nur an Cios Nähe lag. Gleichzeitig ließ das ganze meinen Atem aber auch auf sehr deutliche Weise schneller werden. Nahm der Wächter uns die Show ab, oder waren wir bereits aufgeflogen?

Oh, so willst das jetzt also“, raunte er mit leiser Stimme. Seine Augen waren leicht verengt, als er spielerisch zurückbiss, bis eine kleine Rangelei entstand, an dessen Ende, ich ihn auf den Boden drückte. Natürlich war mir klar, dass mir das nur gelang, weil er es zuließ, aber das schmälerte das Hochgefühl in mich nicht. Ganz im Gegenteil. Er machte das, weil es mich freute.

Und was machst du jetzt?“

Er neigte den Kopf leicht zur Seite und sah mich ganz eigenartig an. Den gleichen Blick hatte er auch vor zwei Nächten gehabt. „Jetzt würde ich dich gerne küssen“, sagte er sehr leise.

Nach diesen Worten sahen wir uns nur still an. Sollte ich etwas erwidern? Und wenn ja, was? Warum sagte er sowas überhaupt? Irgendwann hielt ich den Blick nicht mehr aus und wandte den Kopf ab. Der Garten um uns herum war Menschenleer, keine Seele die uns beobachten konnte. „Der Wächter ist weg“, sagte ich leise und erhob mich von ihm.

Zaira, ich …“

Wir sollten endlich weitergehen, bevor noch jemand auftauchen kann.“ Ich sah mich um, um den richtigen Weg auszumachen, aber da ich keine Ahnung hatte, woher wir gekommen waren, wusste ich auch nicht wohin wir gehen mussten. „Aber du solltest die Führung übernehmen, sonst landen wir noch überall, nur nicht dort wo wie hinwollen.“

Hinter mir regte sich eine ganze Weile nichts, aber ich widerstand der Versuchung nach ihm zu sehen, einfach weil ich nicht wusste, was mich erwarten würde. Warum auch musste er immer solche Sachen sagen? Und dann auch noch in den unpassendsten Momenten. Nein, streicht das. Es war egal wann er es sagte, es war immer unpassend, einfach weil er nicht zu haben war.

Irgendwann hörte ich ihn seufzen und dann aufstehen. „Komm“, sagte er und ging an mir vorbei ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. „Wir sind fast da.“

Und damit hatte er recht. Es war wirklich nur noch ein Katzensprung bis zu dem kleinen, alten Wirtschaftsgebäude, dass in dem wunderschönen Garten ein einziger Schandfleck war. Abblätternde Farbe, eingesunkenes Dach und eine vernagelte Tür, die einem deutlich machte, dass hier drinnen niemand mehr willkommen war. Ich schätzte eine Grundfläche von vielleicht zwanzig Quadratmetern. Aber das war schon großzügig geschätzt.

Wie kommen wir da rein?“

Durch den Hintereingang.“ Cio verschwand hinter der nächsten Ecke.

Um nicht verloren zu gehen, lief ich ihm schnell hinterher, und entdeckte ihn, wie er mit dem Kopf halb in einen paar Dornensträuchern an der Hausmauer hing. „Was machst du da?“

Durch den Hintereingang gehen.“ Langsam schob er sich vorwärts, dabei zuckte immer wieder leicht er zusammen, oder fluchte leise, wenn es doch ein Dorn schaffte durch den Wolfspelz zu dringen. „Also, als ich kleiner war, war das wesentlich einfach gewesen.“

Während er mit dem Strauch kämpfte und Stück für Stück darin verschwand, wachte ich über die Umgebung. Gerade war niemand zu sehen, aber das konnte sich ganz schnell ändern. Deswegen tippelte ich ziemlich nervös von einer Pfote auf die andere. Ich wollte da auch ganz schnell rein. Nein, Moment, wollte ich nicht. Eigentlich wollte ich nur ganz schnell nach Hause.

Verdammt“, hörte ich ihn wieder in meinem Kopf fluchen, dann war er plötzlich weg und nur noch ein Haarbüscheln in dem Strauch erinnert an ihn.

Cio?“

Ja, hier, komm rein. Beeil dich.“

Als wenn er mir das sagen müsste. Trotzdem zögerte ich. Diese Reihe aus Dornenbüschen sah nicht sehr einladend aus. Aber hier draußen wollte ich auch nicht allein bleiben. Ich sah mich noch einmal um und steckte dann meine Nase in den Strauch, nur um sie sofort wieder rauszuziehen.

Und pass auf deine Nase auf. Diese Sträucher zerkratzen dir wirklich alles.“

Hätte es ihn umgebracht, das einen Moment früher zu erwähnen? Grummelnd versuchte ich es erneut, dieses Mal vorsichtiger. Die Dornen zogen sofort an meinem Fell und eine piksten mich ins Ohr. Dem Drang sich zu schüttel zu widerstehen, war gar nicht so einfach. Nur, die Aussicht auf weitere Kratzer hinderte mich daran.

Es war nur ein kurzes Stück, durch das ich musste, dann kam die Wand – nein, keine Wand, ein Loch im Mauerwerk – aber dieses kurze Stück hatte es echt in sich und ich verlor dabei mehr als ein Haarbüschel. Das Loch war auch nicht sehr groß, eher etwas für einen Welpen, als für einen erwachsenen Wolf, aber dank meiner Größe schaffte ich es ohne Probleme hindurch. Nur wie Cio das geschafft hatte, war mir ein Rätsel.

Dann stand ich in einem großen, dunklen Raum, mit verriegelten Fensterläden und so viel Staub auf dem Boden, dass ich erst mal einen Niesanfall bekam.

„Pssst“, machte Cio.

Als ich wahrnahm, dass er nicht in Gedanken sprach, sondern ganz normal, sah ich überrascht auf. Meine Augen bekamen wohl die Größe von Untertassen, als ich Cio in dem spärlichen Licht, das durch die Ritzen der Fensterläden drang, splitterfasernackt vor einem alten Unterschrank hocken sah. Er kramte darin rum und als er wohl nicht fand, was er suchte, machte er sich über den Unterschrank daneben her.

Was machst du da?“, wollte ich wissen. Für freie Körperkultur war jetzt wohl nicht der richtige Zeitpunkt.

„Ich suche Kleidung, oder willst du nackt durchs Schloss spazieren?“ Er hielt kurz inne, um mich über die Schulter anzugrinsen. „Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, hätte das auch seine Vorteile.“

Cio!“

„Na gut.“ Und schon war sein Kopf wieder im Schrank verschwunden.

Ich wagte es nicht näher zu treten, auch wenn ich selber gerne einen Blick in die Schränke geworfen hätte. „Wie kommst du darauf, dass es hier Klamotten geben könnte?“ Das hier erinnerte eher an eine Küche, aus der schon vor langer Zeit alles bis auf die Holzschränke entfernt worden war.

„Weil ich sie hier versteckt habe.“ Er klappte den Schrank zu, um sich über den vorletzten herzumachen. „Aric und ich haben uns auf diesem Weg früher oft rausgeschlichen um Party zu machen, oder im Wald stromern zu gehen. Cayenne hat nie rausbekommen, wie wir das gemacht haben.“

Früher? Meinte er damit früher vor einem, oder früher vor zehn Jahren? „Vielleicht hat sie das ja doch und es euch nicht gesagt, um eure keinen Jungsträume nicht zu zerstören“, überlegte ich leise.

„Du meinst so wie du das gerade tust?“ Er zog ein Bündel Kleidung aus der hintersten Ecke und nahm es Stückchenweise auseinander. „Hier.“ Ein Kleidungsstück legte er auf die Anrichte. „Das könnte dir passen.“

Das andere Teil in seiner Hand entpuppte sich als eine Jogginghose, die er sich völlig zwanglos überstreifte.

Ja, ohne meine Brille war ich halbblind und das spärliche Licht hier drinnen war auch nicht gerade förderlich für meine Sehkraft, aber jetzt gerade sah ich wirklich alles glasklar. Vielleicht lag das an meiner Erinnerung, doch in diesem Moment blieb nichts vor mir verborgen.

Als die Jogginghose über seinen Hintern rutschte, hielt er noch mit dem Fingern am Bund inne und sah zu mir herüber. „Es wäre ratsam, wenn du dich auch verwandelst, denn sonst wird es schwer werden, sich die Sachen anzuziehen.“

Hier?“, fragte ich, und meinte eigentlich, vor dir?

Leider war Cio nicht auf den Kopf gefallen und erkannte sehr schnell, um was sich meine Gedanken drehten. „Zaira, ich habe bereits alles von dir gesehen, berührt, geschmeckt und …“

Ja, ich weiß“, unterbrach ich ihn hastig. Gott, musste er immer gleich so direkt sein?

„Dann verstehe ich nicht, wo jetzt das Problem liegt.“

Was hatte ich eben noch gedacht? Nicht auf den Kopf gefallen? Ich musste mich korrigieren. Typisch Mann! „Es ist … kannst du dich bitte umdrehen.“

„Schäfchen …“

Bitte.“ Hätte ich gekonnt, ich wäre wohl knallrot geworden.

„Na schön“, seufzte er und kehrte mir den Rücken zu.

Ich beeilte mich mit der Rückverwandlung, zog das Wesen des Wolfs tief in mein Innerstes und hastete dann zu der Kleidung. Zwei Teile. Das eine entpuppte sich als eine kurze Hose, die mir gerade Mal bis zu den Knien reichen würde und das andere als T-Shirt. Und sie sahen nicht so aus, als gehörten sie erwachsenen. Jugendlichen vielleicht.

In die Hose zu kommen, war nicht so einfach. Die Sachen waren für schmale Hüften gedacht und damit konnte ich leider nicht dienen. Aber das Shirt war noch viel schlimmer. Es war so eng, dass ich mir wie eine Quetschwurst vorkam. „Sind da keine anderen Sachen?“ Welche die nicht so knapp waren?

„Warum, sieht doch gut aus.“

Überrascht sah ich auf. „Ich hab nicht gesagt, dass du schon gucken darfst.“

„Du hast aber auch nicht gesagt, dass ich es nicht darf.“ Mir zwei Schritten war er so dich vor mir, dass sein Körper mich berührte. „Hör endlich auf damit.“

Ich runzelte dir Stirn. „Womit?“

„Immer anders sein zu wollen, als du bist.“

Ich senkte den Blick. Das war kein Thema, dass ich mit ihm erörtern wollte.

„Du musst nicht perfekt sein, Zaira, es ist viel besser einmalig zu sein“, sagte er leise. „Und Schönheit wird nicht anhand überflüssiger Kilos gemessen, sondern an Ausstrahlung, Taten, und Charakter. Und wenn es darum geht, bist du eine der schönsten Frauen, die ich jemals gesehen habe.“

„Du weißt nicht wovon du sprichst.“ Selbst Alina bekam trotz ihrer fehlenden Hand mehr Aufmerksamkeit vom männlichen Geschlecht, als ich und das nur weil sie eine Kleidergröße hatte, die für mich unerreichbar war.

„Sieh mich an.“

„Hatten wir nicht was zu erledigen?“

Als ich an ihm vorbei wollte, drängte er mich nach hinten, bis ich zwischen ihm und der Anrichte eingeklemmt war. Dann nahm er mein Kinn zwischen die Finger und drückte es hoch, bis ich ihm in die Augen sehen musste. „Glaubst du ich würde als attraktiver Kerl durchgehen? Besonders neben Aric? Sei ehrlich.“

„Cio, wir müssen …“

„Nein, das klären wir jetzt noch. Ich will eine Antwort. Bin ich ein attraktiver Kerl? Eine ganz einfache Frage.“

„In den Augen der Modeindustrie vermutlich nicht.“ In meinen Augen war er der unerreichbare Traum.

„Genau, die Medien. Sie formen uns und sagen, was schön ist. Aber weißt du was? Ich hatte trotzdem nie Probleme mit meinem Äußeren und weißt du auch warum?“

„Das wird langsam lächerlich.“

„Egal, dann mach ich mich eben lächerlich. Hat mich noch nie gestört. Also, weißt du warum das so ist?“

„Das wirst du mir sicher gleich sagen.“

„Weil ich mit mir selber kein Problem habe, darum.“ Seine Hand glitt zu meiner Wange, strich mir das kurze Haar hinters Ohr, bevor er wieder das kleine Loch an der Augenbraue berührte. „Ich mag mich wie ich bin und wenn den anderen das nicht gefällt, dann ist das ihr Problem, nicht meins. Es zwingt sie schließlich niemand, sich mit mir abzugeben.“

Nein, aber er besaß auch ein Wesen, dass es den Leuten leicht machte mit ihm auszukommen. Ich hatte dieses Glück leider nicht. „In einer konsumorientierten Gesellschaft die so viel Wert auf äußeres gibt, ist es aber nicht leicht mit so einer Einstellung zurechtzukommen.“

„Doch, man muss es nur wollen.“ Bei diesen Worten steifte sein Atem meine Lippen.

Jetzt würde ich dich gerne küssen.

Ich wandte das Gesicht ab. „Wollten wir nicht eigentlich die Welt retten, oder so?“

„Oder so“, bestätigte er mir und trat dann einen Schritt zurück. Seine sinkende Hand, die mir seine Wärme entzog, war fast wie ein körperlicher Schmerz.

 

°°°

 

Eine Luke, ein staubiger, endlos langer Keller und eine Geheimtür zur Garage später, eilte ich geduckt hinter Cio zwischen geparkten Fahrzeugen hinterher. Irgendwie kam mir diese Situation ziemlich vertraut vor. Das letzte und einzige Mal, dass ich hier gewesen war, hatte ich auch kaum mehr als Unterwäsche getragen. Auch da hatten wir uns beeilen müssen und genau wie an diesem Morgen, bohrten sich auch jetzt kleine Steinchen bei jedem Schritt unangenehm in meine nackten Fußsohlen. Manchmal waren Wolfspfoten wirklich praktischer.

Cio zog mich hinter den nächsten Wagen und linste geduckt über die Motorhaube. Zwar war außer uns keiner hier, aber laut seinen Worten mussten wir zum Aufzug und es wäre doch ziemlich scheiße, um es mal deutlich auszudrücken, wenn genau in dem Moment jemand dort aussteigen würde. Doch im Augenblick stand die Anzeige über den automatischen Türen still, niemand schien ihn zu benutzen.

„Jetzt oder nie“, flüsterte Cio, griff meine Hand fester und rannte mit mir das letzte Stück in diesem Betonbunker zum Aufzug. Ihn schien der dreckige Boden dabei nicht so zu stören, wie mich. Und auch die kalte Luft hier unten machte ihm scheinbar nichts aus. Da er nichts als diese Jogginghose trug, konnte ich das gut erkennen.

Mein Blick ging wachsam zu allen Seiten, als Cio ungeduldig auf den Rufknopf drückte. Ihn darauf aufmerksam zu machen, dass es nichts brachte, den Knopf zu malträtieren, würde sicher nichts bringen. Seit dem wir ins Schloss eingedrungen waren, war er sowieso deutlich angespannter. Zwar war uns auf dem Weg durch den Keller niemand begegnet, aber sollte doch jemand auftauchen, könnten wir von hier nicht so einfach verschwinden wie draußen.

„Komm schon“, murmelte Cio ungeduldig, die Leuchtanzeige im Blick. „Los, komm schon.“

Das war wohl einer der längsten Minuten in seinem ganzen Leben und als die Türen endlich zur Seite glitten und uns in das Innerste ließen, stieß Cio so stark die Luft aus, dass er damit hätte Steine erweichen können. Er zog mich hinter sich hinein und wandte sich direkt den Etagenknöpfen zu.

„Und der Fahrstuhl bringt uns jetzt ins HQ?“

„Für dich mag es ein Fahrstuhl sein, für mich ist es ein Eingang. Pass auf.“ In einer schnellen Abfolge, drückte er die Knöpfe. Dann gab es einen leisen Klick und die Rückwand sprang einen Spalt auf. Cio grinste mich an, trat zur Rückwand und legte seine Hand darauf. Unter dem leichten Druck schwang sie in den Dunklen Bereich dahinter auf und präsentierte uns eine gähnende Leere. „E Vóila, Ladys first.“

Ich schüttelte den Kopf. „Nee, geh du mal vor.“

„Hast du etwa Angst?“

„Nein, aber in der Dunkelheit bin ich blind wie ein Maulwurf.“

Er lachte leise. „Na dann, Gentalmans Way.“

Meine Augenbraue zuckte ganz ohne mein Zutun nach oben. „Das war wohl der schlechteste Witz, der jemals deinen Mund verlassen hat.“

„Das kannst du aber auch nur sagen, weil du mich früher nicht gekannt hast.“ Er zog mich hinter sich in den dunklen Bereich, der kaum größer war als der Aufzug selber und drückte die Rückwand wieder zu. Damit tauchte er uns in völlige Dunkelheit.

„Cio, vielleicht …“

„Moment.“ Er ließ meine Hand los und entfernte sich von mir. Ich sah es nicht – natürlich nicht, wie denn auch bei der Finsternis? – ich spürte wie seine Nähe von mir wich und ich allein zurückblieb.

Das gefiel mir nicht. Nicht nur das ich hier an einem unbekannten Ort inmitten von nichts stand, er bewegte sich auch so leise, dass ich ihn nicht hören konnte. Fröstelnd rieb ich mir über die Arme, drehte den Kopf nach links und rechts, aber alles blieb schwarz. „Cio?“

„Ja?“, raunte seine Stimme direkt an meinem Ohr und brachte meinen Puls damit voll auf Touren, was nicht nur an dem Schrecken lag, den er mir eingejagt hatte.

„Verdammt, das hast du mit Absicht getan!“

„Was denn?“

„Mich erschrecken.“ Ich spürte seine Körperwärme jetzt deutlich in meinem Rücken. Die Spitzen seiner Finger strichen sehr langsam meine Arme hinauf, berührten kaum die Haut und zogen doch ein so deutliche Spur, dass sie ein angenehmes Kribbeln hinterließen.

„Nein, habe ich nicht.“ Es war sein warmer Atem, den ich in meinem Nacken spürte, bevor seine Lippen einen federleichten Kuss darauf hinterließen.

Ich schloss die Augen, obwohl es bei dieser Dunkelheit eigentlich keinen Unterschied machte. Es war kaum möglich, diese hauchzarten Berührungen noch intensiver zu spüren. „Cio.“

„Hmh?“

„Hatten wir nicht …“ Oh Gott, was mache er da nur?

„Ja?“ Er war mir so nahe, dass ich sein Lächeln spüren konnte. „Sprich mit mir, Schäfchen, was wolltest du sagen?“

„Das ich … wir …“ Verdammt!

Seine Hand strich über meine Schulter, umfing mein Kinn und drehte meinen Kopf zu sich herum, um mit seinen Lippen über meine zu streiche. „Ja?“

„Ich …“ Warum nur tat er das? Ausgerechnet jetzt? Und warum musste sich das so gut anfühlen? Unter Anstrengung meines ganzen Willens, riss ich mich förmlich von ihm los und trat hastig ein paar Schritte zurück, bis ich eine Wand im Rücken spürte. „Warum machst du das immer?“ Scheiße, warum fragte ich das jetzt? Eigentlich sollten da doch Worte rauskommen, wie „können wir jetzt weiter“ oder „wir haben anders zu tun“, aber nein, ich musste natürlich fragen: „Warum machst du das immer?“

„Warum? Ist das nicht klar?“

„Wenn so klar wäre, würde ich wohl nicht fragen.“ Was bin ich für dich?

Er seufzte. Ein Seufzen, das mir so gar nicht gefiel. Es sprach von negativen Antworten, die ich noch hören wollte. „Zaira, ich …“

„Nein, warte“, unterbrach ich ihn. „Das ist hier ist nicht der richtige Ort für sowas. Wir sollten erst einmal den Ruf für die Themis absetzen.“

Einen Moment blieb er so ruhig, dass ich nicht einmal seinen Atem hören konnte. „Zaira …“

„Bitte.“

Ich konnte es geradezu vor mir sehen, wie er seine Lippen aufeinander drückte und sich dann schwer seufzend von mir abwandte. „Na schön, nicht jetzt.“

Gott sei Dank. Damit hatte ich wohl eine kleine Schonfrist bekommen.

„Dann komm her.“

Witzbold. „Wohin?“

„Folge dem Licht.“

Die Frage was für ein Licht er meinte, blieb mir erspart, als auf Höhe seiner Knie etwas Rötliches zu leuchten begann. Nun erkannte ich auch seine hockende Gestalt auf der anderen Seite des Raumes. Und auch, dass es kein Raum war, sondern sich um eine Ausbuchtung um Fahrstuhlschacht handelte.

„Was ist das?“ Ich trat näher, hockte mich neben ihn, um die roten Lichtpunkte genauer unter die Lupe nehmen zu können und was dabei rauskam, wollte mir so gar nicht gefallen. Das sah aus wie die Notbeleuchtung in einem Kabelschacht, der gerade breit genug war, dass ein Mensch durchkriechen konnte. „Bitte sag mir nicht , dass dies der Weg in das HQ ist.“

„Gut, dann sag ich es dir nicht.“

Scheiße! Mein Gesichtsausdruck musste wohl ziemlich entgeistert sein, so mitleidig, wie Cio mich ansah.

„Keine Angst, der Schacht ist breit genug, da kann nichts passieren.“

„Hab ich schon mal erwähnt, dass ich unter leichter Klaustrophobie leide?“

„Nein, daran würde ich mich sicher erinnern.“

Ich sah wieder zu dem Schacht, „Gibt es keinen anderen Weg?“

Als seine Hand sich an meine Wange legte, schloss ich die Augen schon alleine, um das Gefühl ein wenig auskosten zu können. „Du musst nicht mit, wenn du dir das nicht zutraust. Du kannst auch hier auf mich warten. Hier wird dich keiner finden und du wirst sehen, ich werde so schnell zurück sein, dass du gar nicht merkst, dass ich überhaupt weg war.“

Also die Aussicht darauf alleine hier herumzusitzen und nicht zu wissen, was los war, war auch nicht viel berauschender. „Nein, ich … ich komme mit.“ Ich würde das schon schaffen. „Ich habe gesagt ich komme mit um dir zu helfen und das tu ich jetzt auch.“ Ja, mir war klar, dass ich bis jetzt keine große Hilfe gewesen war.

„Also doch kein ängstliches Schäfchen.“ Das Lächeln schwang in seine stimme mit. Er drückte mir noch einen flüchtigen Kuss auf die Schläfe und lies sich dann auf den Bauch sinken, um langsam in dem Schacht zu verschwinden. Erst nur der Kopf, dann der Oberkörper und als die Füße dann auch weg waren, späte ich ihm hinterher, anstatt mich auch auf den Bauch zu legen.

„Verdammt, ich hätte mir einen Pulli anziehen sollen. Das ist saumäßig kalt hier!“

Das ließ mich grinsen. „Ein bisschen Kälte hat noch niemand geschadet.“ Jetzt ließ auch ich mich auf den Bauch sinken, doch bevor ich in diese, metallischen Schacht eintauchte, musste ich noch einmal tief einatmen. Und noch einmal.

Nun komm schon, sei kein Feigling. Da kann nichts passieren und außerdem ist Cio doch bei dir.

Genau, Cio war bei mir. Dieser Gedanke beruhigte mich so sehr, dass ich mich nach einem weiteren tiefen Atemzug langsam in den Schacht schob. Dabei musste ich mir immer wieder sagen, dass ich nicht allein hier drinnen war und dass es wissenschaftlich unmöglich war, dass die Wände langsam näher rückten und auch das dieser Schacht bei dem ganze Dreck schon ewig bestehen musste und es deswegen ziemlich ausgeschlossen war, dass er genau in dem Moment, in dem ich hier drinnen rumkroch, über mir einstürzen würde.

Doch mein schneller Herzschlag und auch mein rasender Puls waren da wohl ganz anderer Meinung.

„Alles okay dahinten?“, fragte Cio. Er kroch kaum einen Meter vor mir durch das spärliche, rote Licht und schien nicht mit den gleichen Problemen wie ich kämpfen zu müssen. Für ihn schien das hier eher ein Abenteuertrip zu sein, an dessen Ende ein Schatz auf ihn wartete. Warum konnte ich das nicht so sehen? Warum mussten die Wände schon wieder den Anschein erwecken näher zu rücken? Das war doch unmöglich, oder?

„Zaira?“

„Ich … mir geht es gut.“

„Manchmal bist du eine wirklich grauenhafte Lügnerin.“ Mit den Unterarmen zog er sich vorwärts. Ein Stück und noch ein Stück. Ich folgte ihm so dicht es ging, ohne seine Füße im Gesicht zu haben. „Aber keine Sorge, wir haben die Hälfte schon geschafft.“

Erst die Hälfte? Aber wir waren doch schon seit … viel zu lange hier drinnen.

„Glaub ich“, fügte er noch hinzu.

„Glaubst du?“ Meine Stimme bekam einen äußerst schrillen Klang.

„Ich bin auch noch nie hier unten gewesen und weiß nur theoretisch von diesem Schacht.“

Was?! „Soll das heißen, du weißt gar nicht, ob das hier der richtige Weg ist?!“

„Natürlich ist das der richtige Weg.“ Er murmelte noch zwei drei Worte hinterher, die ich nicht verstand.

„Was?“

„Ich hab nichts gesagt.“

„Natürlich hast du, ich hab´s doch gehört!“

Er warf einen Blick über die Schulter und grinste mich an. „Okay, ich hab was gesagt, aber was genau, erzähle ich dir erst, wenn wir aus diesem staubigen Schacht raus sind.“

Ich war mir gar nicht so sicher, ob ich es dann noch hören wollte. Im Moment wollte ich eigentlich nur eins und das war raus. Doch dieser Schacht schien einfach kein Ende nehmen zu wollen. Weiter und weiter. Meine Ellenbogen begannen schon zu schmerzen, aber das störte mich nicht. Es lenkte mich ein wenig von dieser Enge ab. Doch als Cio plötzlich anhielt, bekam ich fast einen Herzinfarkt. Steckte er jetzt etwa fest? Oh Gott, nein! „Was ist los?“

„Ende“, sagte er. Seine Rückenmuskeln spannten sich an, als er damit begann, vor sich etwas abzutasten.

„Du meinst eine Sackgasse?!“

„Nein, ganz ruhig Schäfchen. Damit meine ich, dass der Schacht hier zu Ende ist und ich jetzt den Öffnungsmechanismus für die Luke suche, damit wir hier rauskommen.“

„Und … und wenn es keinen gibt, oder er kaputt ist?!“ Oh Gott, würde ich dann diesen ganzen Weg rückwärts kriechen müssen?

„Keine Panik, es muss … ah, da ist er ja.“ Seinen Worten folgte ein leises Knirschen, ein Klicken und dann ein ziemlich lautes Scheppern, das mich zusammenzucken ließ. „Mist.“

„Mist? Mist?! Was zur Hölle bedeutet Mist!?“

„Es bedeutet, dass der Verschluss Schrott ist und ich die Luke nicht …“

„Du hast ihn kaputt gemacht?! Oh Gott, wie stecken hier fest, wir werden hier sterben und niemand …“

„Hey!“

„… wird uns jemals wieder finden. Ich hätte …“

„Hey, Zaira, ich meinte …“

„… doch warten sollen. Oh Gott, warum habe ich nicht …“

„HEY!“, unterbrach er meine Tirade lautstark. „Ich kann die Luke nicht mehr verschließen, das wollte ich sagen. Ich habe den Verschluss kaputt gemacht und jetzt bekomme ich sie nicht mehr zu.“

„Oh“, machte ich und bekam wohl die Farbe einer überreifen Tomate. Gott, bitte lass mich an meiner Scharm sterben. Das gerade war wirklich peinlich hoch zehn. „Das heißt wir können raus?“

„Das heißt wir können raus“, bestätigte er mir schmunzelnd und robbte endlich weiter.

Mich hielt nichts mehr. Scham hin oder her, sobald Cio den Weg freigemacht hatte und durch die Luke verschwunden war, robbte ich was das Zeug hielt. Kaum hatte ich den Kopf in das dunkle Zimmer dahinter gesteckt, packte Cio mich an den Armen und zog mich das letzte Stück heraus, um dann kurz mit mir auf dem Boden sitzen zu bleiben.

Das war wie eine Befreiung. Zum ersten Mal in der letzten halben Stunde konnte ich wieder richtig durchatmen. Selbst die Luft hier draußen war anders. „Ich will da nie wieder rein“, seufzte ich und drückte mein Gesicht an seine Brust.

„Dann haben wir aber ein kleines Problem, weil wir ja irgendwie auch wieder zurück müssen.“

Verdammt, daran hatte ich gar nicht gedacht. Ins HQ reinzukommen war ja nur der halbe Weg. Wir mussten ja auch wieder raus! Ich löste mein Gesicht von seiner Brust und funkelte ihn an. „Das hättest du dir nicht für später aufsparen können?“

Das Lächeln auf dem überschatteten Gesicht war deutlich zu erkennen. „Ach komm schon. Bis auf die letzten zwei Meter hast du dich doch sehr gut gehalten. Und auf dem Rückweg wird es noch einfacher, weil du den Schacht ja jetzt schon kennst.“

„Glaubst du?“ Ich bezweifelte es ja.

„Das glaube ich nicht, das weiß ich. So, und jetzt auf die Beine mit dir, wir haben noch etwas zu erledigen.“

Seine Worte in Gottes Ohren, oder wer da auch immer war und die Fäden zog.

Ich löste meinen Klammergriff von ihm und stand auf. Nahm dafür aber seine Hand, weil ich in dieser Dunkelheit und meinem Talent sonst sicher gegen die nächste Wand gelaufen wäre. „Wo sind wir hier eigentlich?“ Anhand des hohlen Klangs dieses Raums, wusste ich nur dass er groß und leer sein musste.

„Das ist Trainingshalle der Themis. Im Keller im HQ.“

„Dann haben wir unser Ziel also erreicht.“

„So gut wie.“ Er drückte meine Hand und zog mich hinter sich her.

Der klang unserer Schritte gab mir nur einen ungefähren Standpunkt unseres Aufenthaltsorts. Von der Trainingshalle ging es auf dem Korridor, wo ich vor knapp zwei Wochen noch mit meinen Eltern geschlafen hatte. Dann weiter zur Treppe ins Erdgeschoss.

Alle Lichter waren aus und es herrschte eine gespenstische Stille. Hier war schon lange niemand mehr gewesen, nicht seit unserer Flucht von diesem Ort. Alles wirkte leer, leblos, fast tot. Als hätte das Gebäude mit dem Verlassen der Themis aufgehört zu atmen und nichts als Ziegelsteine und Trockenwände zurückgelassen.

Im Erdgeschoss allerdings mussten wir wieder wachsamer sein. Die Fenster waren zwar mit Jalousien verhangen, doch auch dadurch konnte man einen Schatten erkennen. „Wo müssen wir hin?“, fragte ich, als wir dem Ausgang immer näher kamen.

„In die Computerzentrale. Denke ich.“

Oh Gott. Denke ich? Wirklich? Warum nur war ich mitgekommen?

Weil du es dir nie verziehen hättest, wenn ihm hier was passiert wäre.

Meine innere Stimme konnte so ein Besserwisser sein.

Die Computerzentrale war der Raum, in dem meine Eltern am Tag ihrer Ankunft hier, Murphy und diese Alexia begrüßt hatten. Auch hier sah es jetzt wie ausgestorben aus. Die Computer waren alle ausgeschaltet, der Server nicht in Betrieb und auf den Schreibtischen hatte sich eine Schicht aus Staub gelegt. Andererseits aber erzählte dieser Raum die Geschichte des schnellen Aufbruchs. Papiere, die aussahen, als würden sie jeden Moment gelesen werden, ein Stapel Ordner, der sich auf dem Boden verteilte. Jemand musste ihn beim Rausrennen mitgerissen haben. Da drüben stand noch eine Kaffeetasse und wartete auf die Rückkehr seines Besitzers. Doch die vertrocknete Pflanze in der Ecke sagte deutlich, dass sie darauf noch lange warten konnte.

Zum ersten Mal seit der Trainingshalle, ließ Cio meine Hand los und ging zu dem einen Computer. Okay, er stürzte sich praktisch auf sie.

Das Summen und Piepen beim Einschalten kam mir überlaut vor und veranlasste mich sicherheitshalber noch mal einen Blick in den Korridor zu werfen. Doch da war niemand. Das HQ war ausgestorben und wir die einzigen Seelen in diesem Gemäuer.

Ein zweiter Computer wurde eingeschaltet und dann machte Cio sich über den Server her, drückte ein paar Knöpfe, bis auch der summend zum Leben erwachte. Danach eilte er wieder zu dem ersten Computer zurück, schwang sich in den Drehstuhl und begann wie wild darauf herumzutippen.

Ich warf noch einen weiteren Blick in den Korridor, einfach um sicher zu gehen, dass in der letzten Minute niemand aufgetaucht war und stellte mich dann hinter ihm. Doch als ich sah, was er da tat, konnte ich mich gerade noch so daran hindern, mir entsetzt an den Kopf zu fassen. Cio klickte einfach wie wild auf den Dateien herum, in der Hoffnung zufällig auf das richtige Programm zu stoßen. Willkürlich und ohne System.

„Verdammt, ich finde das Programm nicht.“

Das wunderte mich nicht. „Lass mich mal, ich mach das.“ Da liefen wir wenigstens nicht Gefahr einen Systemabsturz zu riskieren.

Gesagt, getan. Wir wechselten die Plätze und nun war es Cio, der mir über die Schulter schaute und dabei wahrscheinlich auch noch lernte, wie man wenigstens halbwegs organisiert einen Computer durchsuchte. Nicht wie wild auf die Dateien klicken, sondern ein einfacher Programmcheck. Es dauerte genau dreieinhalb Minuten, bis ich etwas gefunden hatte.

Cio beugte sich weiter über meine Schulter. „Dronex, ist es das?“

„Ich gehe davon aus. Der Name sagt mir nichts, aber so wie das Programm aufgebaut ist, könnte er der Schalter sein, von dem Cayenne gesprochen hat. Das erkennt man …“

„Ja, okay, ich glaub dir“, unterbrach er mich, bevor ich ihm mit Fachausdrücken bombardieren konnte. „Dann starte es mal, damit wir hier raus können.“

„Nichts lieber als das.“ Ich klickte das Programm an und sofort tat sich das erste Problem auf. „Passwortgeschützt.“

„Scheiße.“

So konnte man es auch bezeichnen. „Das heißt, du kennst das Passwort nicht?“

„Nein, aber ich werde es gleich in Erfahrung bringen.“ Cio griff nach dem Telefon neben der Tastatur und gab aus dem Kopf eine Nummer ein.

Ich drehte mich auf dem Stuhl zu ihm, als er ungeduldig das Klingeln abwartete. Dabei fiel mir ein Krümel an seinem Bauch auf. Der musste noch aus dem Schacht sein. Da war es so dreckig und staubig gewesen, dass es mich schon fast wunderte, dass wir nicht als Staubmäuse da herausgekommen waren.

Irgendwie störte dieser Krümel mich massiv und so war es auch gar nicht meine Schuld, dass ich die Hand ausstreckte, um ihn zu entfernen. Und dabei dann auch noch mit dem Finger über die feste Haut strich. Diese Haut, die ich vor zwei Nächten so unbefangen berühren durfte.

Doch als ich seinen Blick auf mir spürte, ließ ich den Finger sinken und hörte ihn seufzen. Das klang ja fast enttäuscht, aber das bildete ich mir doch nur ein, oder?

Gerade als ich den Blick zu ihm hob, hörte ich eine laute und sehr wütende Stimme durch den Hörer schallen. So laut, dass ich sogar ein Teil der Wörter verstehen konnte, in denen es darum ging, wo zum Teufel er steckte, was er sich einbildete wer er war und was er erleben konnte, wenn er zurück kam. Das war eindeutig Diego am anderen Ende.

„Bist du jetzt fertig?“, fragte Cio irgendwann, was natürlich einen weiteren Schwall Worte nach sich zog.

Ich schüttelte den Kopf. Nicht nur über Diego, auch über seinen Sohn.

„Papa“, unterbrach Cio irgendwann seinen Vater. „Ich stehe hier gerade im HQ vor dem Computer und brauche das Passwort für den Schalter. Kannst du mich also bitte später anschreien und mir einfach den Code geben, damit ich hier verschwinden kann, bevor ich noch entdeckt werde?“ Er nickte seinem unsichtbaren Gesprächspartner zu und gab mir dann ein Zeichen vom Computer zu verschwinden. „Ja, hab ich … ja … verstanden.“ Er tippe etwas in die Tastatur ein und bestätigte seinen Befehl mit Enter. „Ja, okay, ich sehe es … in Ordnung.“ Ein Klick und noch ein Klick. Dann stand er auf und eilte zum Server rüber. „Wo genau?“

Ich stand vom Stuhl auf und zog mich etwas zur Tür zurück, um nicht im Weg zu stehen.

Cio eilte zurück. „Ja, habe ich gemacht. Und jetzt?“ Er runzelte die Stirn, suchte links und rechts neben dem Monitor etwas und als er es nicht fand, schaute er beim nächsten nach. „Okay, hab es … ja … ja, sie sie hat mich begleitet und ist hier …verdammt, weil sie mit wollte und … auch vergiss es.“ Er knallte den Hörer zurück auf die Gabel und positionierte sich dann wieder vor dem Monitor.

Ich reckte den Hals um zu sehen, was er da noch machte und in dem Moment geschah es. Plötzlich lag da eine Hand auf meinem Mund und ich wurde an einen harten Körper gezogen, der auch nicht locker ließ, als ich vor Schreck meinen Ellenbogen nach hinten riss und ihn irgendwo in der Nierengegend traf. Im gleichen Moment eilte ein Mann mit einer Waffe an mir vorbei, direkt auf Cio zu.

Oh Gott, nein!

Vielleicht war es eine Veränderung in der Luft, vielleicht ein Geräusch das ich gemacht hatte. Auf jeden Fall, wirbelte Cio in dem Moment herum und das war der einzige Grund, warum ihn der Schlag mit der Waffe nicht mitten auf dem Kopf traf. Er schaffte es gerade noch so auszuweichen, doch leider stand der Stuhl im Weg.

Nein!, schrie ich noch, doch da stolperte er bereits. Ich sah wie er überrascht die Augen aufriss, als er fiel und ich sah auch, wie er mit dem Hinterkopf auf die Schreibtischkante knallte. Dieses Geräusch dabei würde ich wohl niemals mehr vergessen.

Haltlos sackte Cio einfach in sich zusammen, blieb regungslos mit geschlossenen Augen auf dem Boden liegen und hinterließ auf der Schreibtischkante einen kleinen roten Fleck.

Das war der Moment, in dem irgendwas in mir zerbrach. Meine Fänge fuhren aus und ich biss dem Mann so stark in die Hand, dass ich bis auf den Knochen kam. Zeitgleich trat ich nach hinten aus und so wandelte sich der Schmerzenslaut des Mannes, in dein deftiges Fluchen, das sich auch noch fortführte, als ich begann mich heftig gegen seinen Griff zu wehren. Dabei ging mir nur ein Gedanke durch den Kopf. Cio, Cio, immer wieder Cio. Warum bewegte er sich nicht? Warum verdammt!?

„Scheiße, hältst du wohl endlich still?!“, knurrte mir eine unbekannte Stimme ins Ohr.

Von wegen. Ich hielt nicht still, rammte ihm sogar noch meinen Ellenbogen in den Magen und fauchte, wie es nur wahre Vampire konnten. Meine Bewegungen waren dabei so schnell, dass er mich nicht halten konnte. Ich war völlig außer mir. Nur ein Gedanke zählte noch. Cio. Ich musste ihn schützen, musste sehen was mit ihm los war. Ich musste zu ihm.

Ich riss mich los, wirbelte herum und versenkte meine Fänge instinktiv tief in seinem Hals, sodass das Blut nur so sprudelte. Doch bevor meine Heilkräfte ihm helfen konnten stieß ich ihn von mir, drehte ich mich herum, um zu Cio zu stürzen, nur um abrupt stehen zu bleiben.

Hinter mir röchelte der Verletzte, aber das wirklich grausame spielte sich vor mir ab.

Cio, der bewusstloses auf dem Boden lag und der Mann, der ihn niedergeschlagen hatte, hockte direkt daneben. Sie Waffe hielt er Cio ruhig an die Schläfe, während seine dunklen Augen sich in meine Seele bohrten.

„Nur eine Bewegung“, sagte er ruhig, „und dein kleiner Freund hat ein hübsches Loch im Kopf.“

Schwer atmend stand ich da. Oh Gott, was sollte ich tun? Ich war wie erstarrt, nicht fähig mich zu bewegen, während sich dieses Bild in meine Netzhaut brannte. Ich sah einfach zu, wie der Kerl der Cio mit der Waffe bedrohte, in seine Jackentasche griff und ein Handy hervorholte, während sein Kumpel hinter mir gerade an seinem eigenen Blut erstickte.

Und Cio bewegte sich noch immer nicht. Warum verdammt bewegte er sich nicht?!

Was sollte ich nur tun?

Der Mann mit der Waffe hielt sich das Handy ans Ohr, ohne mich aus den Augen zu lassen. „Ja, Logan hatte Recht, es war wirklich die Fährte von dem kleinen Umbra und Turner hat es erwischt. Ich brauche hier ein bisschen Verstärkung.“ Er nickte und ließ gleich darauf das Handy in seiner Tasche sinken. „So, und du setzt dich da jetzt in den Stuhl, die Arme schön auf die Lehnen, damit ich sie sehen kann. Und es ist besser wenn du keine unnötige Bewegung machst, weil ich einen sehr nervösen Finger habe.“ Als ich nicht sofort reagierte, ruckte er mit dem Kopf Richtung Stuhl. „Na los, beweg dich, oder bedeutet dir der Kleine doch nicht so viel?“

Ich zog die Oberlippe zurück, zeigte ihm mein vollausgefahrenden Fänge und fauchte. Er hatte keine Ahnung was Cio mir bedeutete. Und genau diese Bedeutung war es, die mich dazu bewog, dem Kerl zu gehorchen und mich langsam zu dem Stuhl zu bewegen. Keinen Moment ließ ich Cio dabei aus den Augen. Das Blut an seinem Kopf roch ich mehr, als ich es sah. Es war nicht viel und doch machte mich der Geruch rasend. Nicht wegen meinem Bluthunger, sondern weil er verletzt war.

„Geht das auch ein bisschen schneller?!“

„Das werden Sie noch bereuen“, knurrte ich ihn an und ließ mich langsam auf den Stuhl sinken.

Der Kerl gab ein schnaubendes Geräusch von sich, das ich nicht weiter beachtete. Wie magnetisch angezogen klebte mein Blick auf Cio. Und da sah ich es. Seine Brust bewegte sich. Er atmete noch.

Ruhig und gleichmäßig, hob und senkte sie sich. Auf und ab, auf und ab. Das war alles, worauf ich mich die nächsten Minuten konzentrierte. Auf das und den Blutgeruch. Er wurde nicht stärker, was ein gutes Zeichen war.

Auf und ab, auf und ab.

Ich bekam nicht mal richtig mit, wie weitere Leute in den Raum kamen, wandte den Blick nicht von ihm ab, als sie nach mir griffen und mich von dem Stuhl zerrten, da ich Angst hatte, ihm könnte etwas passieren, wenn ich nur einen Moment nicht hinsah.

 

°°°°°

Falsches Spiel

 

Als ich versuchte nach hinten auszutreten, wurde mein Arm mir schmerzhaft auf den Rücken verdreht. Im nächsten Moment drückte dieser Gorilla mich mit dem Gesicht voran gegen die Wand. Ich fauchte und wand mich in seinem Griff, machte es ihm schwer mich zu halten, während ich gleichzeitig versuchte einen Blick auf die offene Tür zu erhaschen.

„Verdammt, jetzt halt doch mal still, deinem kleinen Freund passiert nichts!“

„Passiert nicht?!“, fauchte ich. „Er ist bestimmt nicht einfach so bewusstlos umgefallen!“

Er knurrte nur etwas Unverständliches und drückte mich fester gegen die Wand.

Es tat weh. Ich hatte das Gefühl, dass er mir gleich den Arm auskugeln würde und trotzdem schaffte ich es mein Gesicht so zu drehen, dass ich sah, wie sie den bewusstlosen Cio in das Gästezimmer trugen.

Den ganzen Weg durch das Schloss, hatte ich mich gewehrt. Als sie mich die Treppe hinauf zerrten, hatte ich getobt und um mich getreten, während ich hilflos dabei zusehen musste, wie zwei Schränke von Männern und mit Cios erschlafften Körper folgten.

Als sie ihn auf das große Bett schmissen, waren sie nicht sehr sanft zu ihm, aber er gab immer noch kein Geräusch von sich. Nicht mehr seit dem Moment, als er auf die Schreibtischkante geknallt war.

Ich sah es immer noch vor mir, wie der Mann Cio sie Waffe an die Schläfe gehalten hatte. Es war wie ein Film, der sich in einer Endlosschleife vor meinem inneren Auge wiederholte. Immer und immer wieder. Und wie ich es nicht gewagt hatte, mich zu bewegen. Und dann hatten sie mich weggezerrt, raus aus dem HQ.

Als ich plötzlich von der Wand weggerissen und weiter ins Zimmer gestoßen wurde, verlor ich das Gleichgewicht und fiel hart auf die Knie. Doch das war mir gleich. Es dauerte nicht mal eine Sekunde, bis ich wieder auf den Beinen war und zu Cio eilte. In Vampirgeschwindigkeit kauerte ich über ihm und fauchte die drei Männer im Raum mit gebleckten Fängen warnend an. Die zwei, die Cio in den Raum getragen hatten und den Mann, mit den seelenlosen Augen. So kalte Augen hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen.

Er starrte zurück und gab den Männern dann das Zeichen das Zimmer zu verlassen. Er selbst wandte den Blick nicht von mir ab, bis er die Tür hinter sich zuzog und das Schloss mit einem endgültigen Klicken verriegelte.

Augenblicklich lag meine Aufmerksamkeit auf Cio. Besorgt strich ich ihm über den Kopf, tätschelte seine Wange, aber er wachte nicht auf. Mein Herz schlug viel zu schnell. Was war nur mit ihm?

„Cio.“ Ganz vorsichtig schlug ich ihm auf die Wange. „Cio, wach doch bitte auf.“ Plötzlich brannten Tränen in meinen Augen. Alles war schiefgegangen. Ich war mir nicht mal sicher, ob er den Notruf hatte senden können und nun waren wir Gefangene in diesem Schloss, wo sie weiß Gott was mit uns vorhatten. Und Cio wollte einfach nicht aufwachen. Die kleine Wunde an seinem Hinterkopf war nicht tief, nur eine Platzwunde, aber wer wusste schon, wie es darunter aussah?

„Cio“, flehte ich erneut und konnte nichts gegen den Schluchzer tun, der mir entwich. „Cio, bitte, komm zu dir.“ Lass mich jetzt nicht alleine, ohne dich weiß ich doch gar nicht was ich tun soll. Doch alles Beten und Flehen half nicht, Cio wachte einfach nicht auf.

Ich biss mir auf die Lippe, sah mich im Raum um und entdeckte eine Blumenvase auf dem Nachttisch. Hastig wischte ich mir die Tränen aus den Augen und griff danach. Das Grünzeug landete auf dem Boden und das Wasser in einem Schwall in Cios Gesicht.

Noch in der gleichen Sekunde schreckte er hoch und kam prustend und hustend zu sich, Überraschung und Erschrecken in den Augen. Sein Kopf wirbelte einen Moment wild umher, um sich zu orientieren, dann griff er sich an den schmerzenden Kopf und kniff die Augen zusammen.

„Cio, es tut mir leid, aber du bist einfach nicht aufgewacht.“ Fahrig fuhren meine Hände über seine Schultern, die nasse Haut und sein Gesicht. Dabei haute ich ihm auch noch fast die Vase gegen den Kopf, weil ich sie noch in der Hand hatte. „Ich wusste nicht …“

„Schon gut“, unterbrach er mich und tastete vorsichtig nach der Beule an seinem Hinterkopf. „Ist nicht so schlimm.“

„Es tut mir leid. Ich … ich hab nicht richtig aufgepasst, die waren plötzlich da und dann … ich wusste nicht was ich machen soll.“

„Ich hab doch gesagt, dass es in Ordnung ist. Mach dir keinen Kopf, mir geht es gut.“ Cio schnappte sich meine wild fuchtelnden Arme, nahm mir dann die Vase aus der Hand und stellte sie sorgfältig zurück auf den Nachttisch. „Es heißt ja auch, eine Dusche nach dem Aufstehen wirkt belebend auf Körper und Geist.“ Seine Stimme hörte sich rau an und er schien den Blick auch nicht richtig fokussieren zu können. Immer wieder kniff er die Augen zusammen, als wolle er das Bild scharf stellen. „Obwohl die Betonung hierbei eigentlich auf nach dem Aufstehen liegt.“

„Was?!“ Meine Stimme klang unnatürlich schrill und ich bemerkte, wie meine Augen wieder anfingen zu brennen. „Ich dachte du bist tot! Du bist auf die Tischkante geknallt und hast dich nicht mehr bewegt und … und …“

Noch während die erste Tränen ihren Weg nach draußen fand, zog er mich in seine Arme und hielt mich so fest an sich gedrückt, dass ich spüren konnte, wie auch er zitterte. Er mochte vielleicht wieder einen blöden Spruch auf den Lippen gehabt haben, doch diese Situation ging auch an ihm nicht spurlos vorbei.

„Schhht“, machte er und strich mir beruhigend über den Rücken. „Ganz ruhig.“

„Es … es tut mir so leid und … er … er hatte eine Waffe und …“

„Ruhig, Schäfchen. Atme einmal ganz tief durch“, murmelte er und drückte mich ein wenig fester an sich.

Ich verstummte und versuchte genau das. Einfach nur atmen. Er war bei mir, er lebte und er war wach. Vielleicht hatte er eine Beule am Kopf und eine kleine Wunde, aber ansonsten ging es ihm gut. Cio ging es gut und er hielt mich im Arm. Dieser Gedanke half mir langsam den Tränenfluss zu stoppen.

Doch die Angst vor dem was nun geschehen konnte, hielt mich in ihren Klauen. „Was machen wir den jetzt?“, fragte ich leise, während seine Hand immer noch beruhigend über meinem Rücken strich.

„Erst mal abwarten, denke ich.“ Er hielt mich ein Stück von sich und wischte mir mit dem Daumen über die Wange. „Warum bist du voller Blut? Bist du verletzt?“

„Blut?“ Ich sah an mir herunter und bemerkte erst jetzt, dass er recht hatte. Das ganze Shirt war vorne voller Blut und im Gesicht hatte ich es auch. Siedendheiß wurde mir bewusst, was ich getan hatte. Der Biss, das Blut, das Röcheln. Ich schlug die Hand vor den Mund. Oh Gott, wie hatte das nur passieren können?

„Zaira?“ Cio strich mir besorgt das Haar aus dem Gesicht. „Was ist los? Warum bist du plötzlich so blass? Fehlt dir etwas?“

Nein, mir fehlte nicht. Ich konnte nur nicht glauben, was ich getan hatte.

„Hey, Schäfchen, rede mit mir.“

„Ich … nein, mir geht es gut. Mir geht es … gut.“

Sein Blick verfinsterte sich. „Du weißt dass du mich nicht anlügen sollst.“ Er schnappte sich die Ecke der Decke, die vom Blumenwasser noch ganz nass war und begann damit mir das Gesicht sauber zu wischen. „Und jetzt sag mir von wem das Blut ist, denn offensichtlich ist es nicht deines.“

„Nein, es ist …“ Ich hielt seine Hand fest, als er mir über die Wange rubbelte. „Cio, ich glaube ich habe … ich habe …“ Ich kniff meine Lippen zusammen. Das konnte ich nicht aussprechen, damit würde es wahr werden. Auch wollte ich nicht, dass er erfuhr, was ich getan hatte. Doch er verstand mich auch ohne Worte. Ich wusste nicht genau wie es möglich war, aber er begriff sofort. Ich sah es in seinen Augen, sah es an seinem Blick und konnte gar nicht anders, als mein Gesicht abwenden. „Ich …“

„Schon gut, es ist nicht …“

„Nein!“, fuhr ich ihn an. „Es ist nicht gut! Ich habe die Kontrolle verloren!“ Ich kniff die Lippen kurz zusammen. „Als ich gesehen habe, wie du bewegungslos auf den Boden liegst, da habe ich … einfach die Kontrolle verloren.“ Wie ein gebundener Vampir, schoss es mir durch den Kopf. Weil mein Herz für ihn schlug, weil er in Gefahr gewesen war, deswegen hatte ich getötet.

Was folgte war drückendes Schweigen, weil keiner von uns wusste, was er sagen sollte. Er hatte unrecht, es war nicht gut. Egal wer dieser Mann gewesen war, oder was er getan hatte, sowas verdiente niemand.

Als Cio seine Hand wieder hob und von neuem damit begann, mein Gesicht vom Blut zu befreien, wehrte ich mich nicht dagegen. Ich sah einfach nur stumpf auf seinen Schoß und fragte mich, wie das alles so weit hatte kommen können. Das war nicht ich gewesen, so etwas machte ich nicht. Gewalt war mir zuwider. Sie war unnötig.

Und trotzdem hatte ich jetzt ein Leben beendet.

„Es war nicht deine Schuld“, sagte Cio leise.

Darauf sagte ich nichts. Wenn es nicht meine Schuld war, wessen denn dann?

Er seufzte und ließ die Decke sinken. Seinen Blick konnte ich deutlich auf mir spüren, aber ich wagte es nicht ihm in die Augen zu sehen.

„Wo sind wir hier?“

Ich zuckte mir den Schultern und drehte den Kopf ein wenig. Bisher hatte ich diesem Zimmer nicht wirklich viel Aufmerksamkeit geschenkt. Es war nicht groß und bis auf das schmale Bett in dem wir saßen und dem Schrank auf der anderen Seite gab es hier nicht viel. Dafür waren die bodenlangen Fenster seltsam. Und sie waren vergittert, was trotz der braunen Vorhänge deutlich zu erkennen war. Das ganze Zimmer war in Braun gehalten und wirkte sehr trostlos und staubig. Außer der dunklen Holztür, durch die sie uns reingebracht hatte, gab es noch eine zweite, die einen Spalt offen stand.

„Das Badezimmer, schätze ich“, sagte Cio, der meinem Blick gefolgt war.

Badezimmer. Das hieß dann wohl, dass man für uns einen längeren Aufenthalt geplant hatte.

„Na wenigstens müssen wir keinen Eimer benutzen.“

Wie konnte er jetzt Witze reißen? Manchmal verstand ich ihn wirklich nicht. „Was passiert denn jetzt?“, fragte ich leise.

Wie zur Antwort auf meine Frage, kamen in dem Moment draußen auf dem Flur Stimmen auf. Einen Augenblick später klickte das Schloss zu unserer Tür.

„Ich denke wir werden es jetzt erfahren“, sagte Cio, während ich halb hinter ihn rutschte und meine Hand auf seinen Arm legte. Das gab mir ein wenig Sicherheit.

„Ganz ruhig“, murmelte Cio leise und legte seine Hand auf meine, als die Tür aufschwang und uns jemanden offenbarte, mit dem ich nicht gerechnet hätte. Edward Walker, der Großwächter von Cayenne.

Mit ernster Miene sah er uns an. Unpersönlich, fremd, als würde er uns nicht kennen, oder als hätte unsere Bekanntschaft in seinen Augen keinerlei Bedeutung. Kein Wort kam über seine Lippen. Er trat einfach ein Stück zur Seite und ließ Gräfin Xaverine persönlich eintreten.

Augenblicklich schien sie mit ihrer Ausstrahlung das ganze Zimmer einzunehmen. Es war wie eine dunkle Aura, die sie umgab und allen deutlich machte, wer hier das Sagen hatte. Das auffälligste Merkmal an ihr war nicht die schlanke Figur in dem rotschwarzen Kleid. Auch nicht die dunklen Haare, die sie zu einem komplizierten Knoten auf den Kopf gesteckt hatte. Es war die Narbe in ihrem aristokratischen Gesicht, die sogar die kleinen Fältchen um Augen in den Hintergrund rücken ließen.

Hinter ihr trat noch der Mann mit den kalten Augen ein und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand, während Eddy Walker von innen die Tür schloss. Er trug ein ziemlich dickes Buch bei sich, dessen Bedeutung sich mir nicht erschloss. Dann starten uns die drei einfach stumm an.

Cio rutschte ein wenig herum, bis ich mehr oder weniger von seinem breiten Rücken verborgen wurde. „Von euch hat nicht zufällig jemand eine Kopfschmerztablette für mich?“ Er tastete vorsichtig nach der Beule, mit dem leicht vom Blut verklebten Haar. „So eine Tischkante ist nämlich ganz schön hart.“

Natürlich zog er damit alle Aufmerksamkeit auf sich. War das Absicht? Verfolgte er einen Plan?

Die Gräfin neigte den Kopf leicht zur Seite. „Elicio Evers, wenn ich mich nicht täusche? Der beste Freund des Prinzen.“

Wie sie das Wort aussprach, so höhnisch und voller Spott, als hätte es keinerlei Bedeutung. In ihren Augen entsprach das wohl auch der Wahrheit.

„Der Freund mit den fürchterlichen Kopfschmerzen“, korrigierte er sie. „Deswegen hätte er gerne eine Tablette dagegen.“ Er sah von einem zum anderen, als erwartete er ernstlich, dass einer von ihnen eine Aspirin aus seiner Jacke zauberte. „Wenn ihr keine habt, dann könnt ihr mich auch einfach rauslassen. In meinem Zimmer liegen noch welche.“

Natürlich reagierte keiner darauf.

Als die Gräfin die Hände auf dem Rücken verschränkte und ein wenig tiefer ins Zimmer trat, drückte ich Cios Hand fester. Dieser Frau war mir unheimlich. Sie strahlte etwas so Finsteres und Verdorbenes aus, dass ich sie nicht in meiner Nähe haben wollte.

„Habt ihr beide wirklich geglaubt, ihr könnt unbemerkt in meinem Schloss rumstromern?“, fragte sie leise, und schüttelte über unseren Leichtsinn den Kopf. „Wie dumm ihr doch seid.“

Cio zuckte nur lässig mit den Schultern. „Einen Versuch war es wert und wir sind ja auch ziemlich weit gekommen, bevor man uns geschnappt hat.“

Ich konnte es mir gerade noch so verkneifen ihm einen Knuff zu verpassen. Wollte er sie unbedingt provozieren? Was erhoffte er sich davon?

Gräfin Xaverine verengte die Augen zu Schlitzen und fixierte den jungen Umbra. „Was habt ihr im Hauptquartier der Themis getan?“ Sie sah von Cio zu mir und zog ihre Augenbrauen ein wenig zusammen, als wir nicht antworteten. „Was habt ihr an den Computern gemacht? Sagt es mir.“

Natürlich taten wir das nicht. Wir blieben einfach stumm sitzen und warteten, was noch passierte.

„Ihr wollte nicht?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Na gut, wie wäre es dann mit einer anderen Frage? Wo ist Cayenne?“

Als wenn einer von uns beiden ihr ausgerechnet das erzählen würde.

Cio drückte meine Hand ein wenig fester. Eine stumme Vereinbarung, dass wir beide nichts verraten würden, egal was sie täte. Kein Wort würde über unsere Lippen kommen – naja, zumindest kein hilfreiches.

Die Gräfin sah von einem zum anderen. Ihr Unmut war deutlich zu spüren, aber unser Schweigen schien sie nicht zum Aufgeben zu bewegen. Hätte mich auch gewundert.

„In Ordnung“, führte sie ihr Selbstgespräch fort. „Wie wäre es dann, wenn ich euch erzähle, was ich alles weiß.“ Bei diesen Worten fixierte sie mich so intensiv, dass ich schlucken musste. Was würde jetzt kommen? „Mal sehen, ob ihr dann etwas gesprächiger werdet. Estevan?“ Sie schnipste mit den Fingern, was den Mann mit den eiskalten Augen dazu bewog, sich von der Wand abzustoßen und ihr das Buch zu reichen.

Es war dick, in Leder gebunden, ohne Titel, aber nicht wirklich alt. Zahllose bunte Merkzettel schauten oben raus. Nachdem die Gräfin das Buch an sich genommen hatte, griff sie zielsicher nach einem gelben Zettel und schlug eine Seite ziemlich weit vorne auf.

„Wisst ihr was das für ein Buch ist?“, fragte sie in einem lauernden Ton, der mir so gar nicht gefallen wollte. Eigentlich gefiel mir an dieser Situation überhaupt nichts.

„Märchen aus tausend und einer Nacht?“, fragte Cio.

Die Gräfin zeigte sich über diesen Spruch nicht sehr amüsiert. Stoisch nahm sie ihn einfach hin. „Nein. Obwohl es sich teilweise wie ein Märchen ließ, jedes Wort liebevoll von Hand geschrieben. Es ist ein Buch aus der Sammlung von Cayennes Galan Historiker Sydney Sander. Eine private Buchreihe, in der er Cayennes Lebensweg bis ins kleinste Detail festgehalten hat.“ Ihr Blick brannte sich in meine Seele hinein. „Wirklich jedes Detail.“

Bei diesen Worten musste ich stark an mich halten, um nicht nervös herumzuzappeln. Nachdem was sie sagte, musste das eines von den Büchern sein, die auf meinem Ball aus Sydneys Büro gestohlen worden waren. Wenn es stimmte was sie sagte … ich wollte mir gar nicht ausmalen, was sie mit diesem Wissen alles tun könnte.

Auch Cio schien das nicht zu gefallen. Es kam kein neunmalkluger Spruch über seine Lippen und er war nun auch etwas wachsamer.

Die Gräfin schätzte unsere Reaktionen genau ab und das kleine Lächeln, das sich auf ihre Lippen schlich, zeigte nichts als kalte Berechnung. „Soll ich euch eine kleine Leseprobe dieses Werks geben?“

„Nee“, sagte Cio. „Ich bin nicht so der Märchenfan. Ich steh eher auf Krimis und Thriller.“ Auch wenn es so lapidar dahingesagt war, war die Anspannung deutlich aus seiner Stimme herauszuhören.

„Ich werde euch trotzdem eine kleine Kostprobe dieser Lektüre geben. Ein Abschnitt, der mich selber sehr überrascht hat.“ Ihr Blick war fast herausfordernd auf uns gerichtet, bevor er sich auf die Zeilen im Buch senkte. „Wo … ach hier. Hört gut zu. Die Überraschung war groß und das Schicksal gütig. In dieser Nacht wurden wir gleich mit zwei Wundern beschenkt. Zwei Mädchen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Eines, so strahlend und hell, wie das Licht des Morgens. Eines, so geheimnisvoll und orphisch, wie eine sternlose Nacht. Doch war das Glück nur von kurzer Dauer, denn diese unschuldigen Wesen waren nicht der Spross unserer Liebe, wie wir bis zu diesem Zeitpunkt glaubten. Sie waren ein Zeichen der Unsicherheit, die meine Gefährtin zu einer Zeit in sich trug, in der sie versuchte, bei jemand anderes zu finden, was sie glaubte, bei mir nicht haben zu können. Zwei Kinder, eines wie die Mutter, eines wie der Vater. Zwei Mistos, zu einem Teil Mensch, zu einem Teil Wolf und zu einem Teil Vampir. Etwas Seltenes und Kostbares, geboren um geliebt zu werden. Doch die Position in der meine Gefährtin sich befand, zwang sie zu etwas, an dem ihr Herz beinahe zerbrach. Das Kind des Lichts, war ein Wolf, ihr goldener Schatz, Kiara. Das Kind der Nacht, ein Vampir und so blieb ihr keine Wahl, sie musste das kleine Wunder fortgeben, um den Frieden zu wahren. Es gab nur einen, dem sie ihre Tochter anvertrauen konnte, weil sie wusste, dass er sie genauso lieben würde, wie sie es verdient hatte. Dem leiblichen Vater der beiden Mädchen, dem Vampir Raphael Steele. Das Einzige, was sie diesem unschuldigen Leben mit auf dem Weg geben konnte, war ein Name. Zaira.“ Sie klappte das Buch zu, überreichte es wieder dem Diener und sah mich dann erwartungsvoll an.

Ich konnte sie nur anstarren. Das was da geschrieben stand, war das wirklich wahr, oder hatte Sydney das nur geschrieben, weil es sich so zauberhaft anhörte? Ich meine, ich wusste ja, dass es meiner Erzeugerin nicht leichtgefallen war mich wegzugeben, aber durch diese Worte schien diese Tat eine ganz andere Bedeutung zu bekommen.

„Ich habe schon immer gewusst, dass Cayenne ein Misto ist, nur hätte ich niemals damit gerechnet, dass sie so tief sinken könnte einen Vampir zu lieben. Einfach abscheulich.“ Sie schüttelte den Kopf, als hätte sie noch nie etwas Widerwärtigeres wahrgenommen – wahrscheinlich sah sie nicht oft in den Spiegel. „Doch der Beweis dafür sitzt hier direkt vor mir, hab ich nicht recht, Zaira Steele?“

Als sie meinen richtigen Namen sagte, schreckte ich aus meinem Überlegungen auf. Und trotzdem kam kein Wort über meine Lippen. Ich hatte einfach Angst davor, dass da etwas Falsches käme und unsere Situation damit noch schlimmer machte.

„Hm, so schweigsam. Nun gut.“ Sie drehte sich zu Edward herum. „Schick das Mädchen rein und bringt mir den Mann. Diese Sache werden wir jetzt klären.“ Der Blick den sie uns nun zeigte, gefiel mir gar nicht. „Mal sehen ob mein Gast deine Meinung ändern kann.“

Oh Gott, was würde jetzt kommen? Eigentlich wollte ich das gar nicht so genau wissen und hätte mich am liebsten ganz klein hinter Cio gemacht, damit sie mich nicht mehr sah. Aber nur bis zu dem Augenblick, als Edward die Tür öffnete und draußen leise mit ein paar Personen sprach. Die Gräfin war nicht nur mit ihm und dem kaltäugigen Mann gekommen, da draußen warteten noch ein halbes Dutzend weiterer Männer, von denen einer verstehend nickte und dann verschwand.

Ich reckte den Hals ein wenig und in dem Moment in dem Cio sich komplett verspannte, sah ich sie. Kurzgeschoren, braune Haare, eine schlanke, sehnige Gestalt und ein Blick, der diesem Estevan noch in den Schatten stellte.

Iesha.

Bei ihrem Anblick war ich so schnell aus dem Bett gesprungen, dass ich fast noch über Cio fiel und mir den Zeh anstieß. Doch das war mir egal. In der Gegenwart dieses Mädchens würde ich nicht in Cios Nähe bleiben. Schon allein bei ihrem Anblick begann mein Gesicht wieder zu schmerzen. Ja, ich gab es zu, Iesha machte mir eine scheiß Angst. Und das die Gräfin mein Verhalten ihrem Eintritt in den Raum wahrnahm, war mir völlig egal. Ich drückte mich trotzdem lieber auf der andern Seite des Raums an die Wand.

Auch Cio war halb aufgestanden und ich war mir nicht sicher, ob er sich einfach freute sie zu sehen, oder ob er ihr den Weg zu mir abschneiden wollte. Auf jeden Fall war er für seine Verhältnisse viel zu still.

„Wie mir scheint, kennen sich die Anwesenden“, schmunzelte die Gräfin, als ihr Blick zwischen uns drei hin und her wanderte. „Dann brauche ich hier ja niemanden mehr vorstellen.“

Iesha sah abwägend zu Cio und ließ ihren Blick dann zu mir schweifen, wo er hängen blieb. „Hab ich dir nicht gesagt, du sollst dich von ihm fernhalten?“

„Iesha“, warnte Cio und erhob sich nun ganz aus dem Bett, um ihr die Sicht auf mich zu verstellen.

Das Gift in Ieshas Augen löste sich einfach auf. Sie trat nicht nur vor ihn, sie berührte auch seine Brust, genau über der Stelle, wo sein Herz schlug. Er wehrte sich nicht dagegen, oder trat sogar vor der Berührung zurück. Er blieb einfach stehen und erlaubte es ihr.

In mir drin zerbrach etwas.

„Ich habe dich vermisst“, sagte sie leise.

Als er stumm blieb, verhärtete sich der Ausdruck in ihrem Gesicht wieder. Sie ließ ihre Hand sinken und wich ein Stück vor ihm zurück. „Du hast es wirklich getan, oder? Du hast dieses Walross gefickt, weil – wie hast du es ausgedrückt? – ein paar Speckschwarten anzufassen, ist immer noch besser, als meine ewige Eifersucht.“

Ich konnte Cios Gesicht nicht sehen, nur seinen Rücken, aber was ich wahrnahm, war, wie seine Schultern sich nach diesen Worten deutlich anspannten. „Das habe ich so nie gesagt und das weißt du.“

„Doch, das waren genau deine Worte gewesen. Besser ein paar Speckschwarten, als ständige Eifersucht. Genau das waren deine Worte und du brauchst es jetzt nicht zu bestreiten, nur weil dieses fette Monster dich hören kann.“

Der Schmerz der mich plötzlich überfiel, zwang mich fast in die Knie. Besser ein paar Speckschwarten, als ständige Eifersucht. Warum bestritt er es nicht? Warum sagte er ihr nicht, dass das nicht stimmte, oder dass er damit etwas ganz anderes gemeint hatte? Es konnte nicht bedeuten, was ich zu hören glaubte. Cio hätte sowas nicht über mich gesagt. Niemals.

Ich schlang die Arme fest um meinen Körper, senkte den Blick auf den Boden und verbot mir die aufsteigenden Tränen zuzulassen. Und trotzdem konnte ich spüren, wie sich jeder Blick im Raum auf mich fokussierte. Alle bis auf den von Cio. Er musste mich und meinen Körper nicht prüfend mustern, er kannte ihn bereits gut genug.

„Du hast wohl nicht gewollt, dass sie erfährt, wie du hinter ihrem Rücken über sie redest?“

„Iesha, es reicht. Du weißt genau …“

„Nein, es reicht nicht. Der Fairnesshalber sollte sie alles erfahren, oder?“ Ich spürte ihren Blick wie ein brennen auf mir. „Soll ich dir erzählen, was er noch gesagt hat?“

„Iesha!“

„Bitte, hör auf“, flehte ich leise und verbarg die Tränen, die mir über die Wangen liefen. Warum tat sie das? Warum war sie so grausam?

„Der einzige Grund, warum er sich mit dir abgegeben hat, ist, dass du ihn so bereitwillig beißt“, sagte sie, ohne Cio zu beachten. „Na, wusstest wohl nicht, dass er mir das erzählt hat, oder? Und dass er meine Erlaubnis hatte, dir zwischen die speckigen Schenkel zu steigen, hat er dir sicher auch nicht gesagt. Vielleicht aber … scheiße! Lass mich los, das tut weh!“

Cio hatte ihren Arm gepackt und der Griff schien wohl nicht allzu sanft zu sein. „Hör damit auf, Iesha.“

„Warum? Soll sie nicht wissen, wie du über sie denkst? Willst du sie noch einmal vögeln?“

„Schon alleine um dir deine Gemeinheiten heimzuzahlen, ja, auf jeden Fall. Und nur damit du es weißt, um Bett ist sie nicht nur besser als du, sondern auch …“

Batsch.

Das Klatschen war durch den ganzen Raum zu hören.

„Du solltest aufpassen, wie du mit mir sprichst, denn im Moment bin ich die einzige, die dir helfen kann.“

Cio spießte sie mit seinem Blick förmlich auf, bevor er sie grob von sich stieß. „Auf deine Hilfe verzichte ich. Da verrotte ich doch lieber in diesem Raum.“

Iesha schüttelte den Kopf, als würde sie ihren Freund nicht wiedererkennen. „Diese dreckige Sau hat dir wohl nicht nur dein Blut, sondern auch deine Gehirnzellen ausgesaugt. Aber bitte, dann werde doch mit ihr glücklich.“ Sie drehte sich zur Gräfin um. „Ja, das ist sie. Zaira. Sie ist vor ein paar Wochen im Schloss aufgetaucht und war dann ziemlich viel mit der Königin zusammen. Sie hat sogar einen Ball für sie geschmissen und uns allen verboten zu verraten, dass sie ein Vampir ist.“ Ihr abschätzender Blick wandte sich wieder zu mir. „Oder ein Missgeburt.“

Das tat weh. Es schmerzte, weil es so nahe an der Wahrheit lag.

Die Gräfin neigte den Kopf, und musterte mich. „Eine gewisse Ähnlichkeit ist auf jeden Fall vorhanden. Ich glaube, wenn …“

Als es an der Tür klopfte, unterbrach sie sich und gab Estevan ein Zeichen, sich darum zu kümmern. Was würde jetzt wieder kommen? Noch ein Wächter, der mich identifizieren sollte? Vielleicht sogar ihr Sohn, den ich auf meinem Ball kennengelernt hatte?

Ich wagte es kaum den Blick zu heben, als der Kerl die Tür öffnete. Nicht nur weil ich Cio nicht ansehen wollte, sondern auch weil ich mich davor fürchtete, was nun auf mich zukam. Doch als ich da sah, wer da zwischen zwei Wächtern in Handschellen hineingestoßen wurde und mit einem schmerzenden Geräusch auf die Knie knallte, konnte ich meinen eigenen Augen kaum trauen. Ich schlug die Hand vor dem Mund, schüttelte den Kopf. Das ergab absolut keinen Sinn. Er konnte nicht hier sein. Das war einfach unmöglich!

„Ah, wie ich sehe, erkennst du ihn“, säuselte die Gräfin und umrundete den schwarzhaarigen Mann, der sich langsam auf die Knie arbeitete.

Er schien schmerzen zu haben. Seine blauen Augen wirkten irgendwie trübe, als sei er mit Drogen vollgepumpt. Ein Rasierer schien er seit Wochen nicht mehr gesehen zu haben, nicht mehr seit dem Morgen, als wir uns auf dem Weg zum Flughafen gemacht hatten, um Tante Amber zu verabschieden.

Das Haar war verklebt, das Gesicht und der Körper voller Blessuren, Wunden und Blut. Er trug kein Hemd, war verdreckt und der unstete Blick huschte ziellos um Raum umher.

„Er ist in keinem guten Zustand, nicht wahr?“ Die Gräfin fuhr mit den Fingern fast liebevoll durch sein Haar, nur um es dann fest zu packen und seinen Kopf gewaltsam in den Nacken zu reißen.

„Ahhh!“ Er fauchte.

„Papa!“ Ich wusste nicht genau was ich da tat, ich rannte einfach los, wollte dieser Frau wehtun, wollte sie schlagen, wie sie es mit meinem Vater getan hatte, doch auf halbem Weg schlang Cio seine Arme um mich und hielt mich auf. „Nein! Papa, bitte!“ Nun war es mir egal, dass sie meine Tränen sehen konnten, oder dass der Estevan eine Waffe auf mich gerichtet hatte, die er benutzen würde, wenn ich noch einen Schritt näher kam. Mir war alles egal, denn ich musste meinem Vater helfen.

„Wenn du möchtest, lasse ich einen Arzt für ihn kommen“, sagte sie einschmeichelnd. „Du musst mir nur sagen, was ihr im HQ an den Computern gemacht habt.“

Nach diesen Worten drückte Cio meinen Arm fester, einer Ermahnung, genau das nicht zu tun.

„Du kannst natürlich auch weiter schweigen“, fuhr die Gräfin fort, „aber dann musst du auch mit den Konsequenzen leben.“ Sie schnipste mit den Fingern und was dann folgte, ließ meinen Schrei durch den ganzen Raum hallen.

Iesha stand plötzlich neben meinem Vater, ein Messer an seiner Brust, mit dem sie ihm leicht in die Haut einschnitt.

Mein Vater schien nicht wahrzunehmen, was um ihn herum vor sich ging, aber den Schmerz, den spürte er. Die Arme, die mit Handschellen auf seinen Rücken gebunden waren, zuckten, als wolle er sich wehren, doch das brachte nichts, da die Gräfin ihn noch immer festhielt.

„Nein!“, schrie ich, als Iesha das Messer erneut ansetzte.

Cio hatte Schwierigkeiten mich festzuhalten, so sehr wehrte ich mich gegen seinen Griff.

„Bitte, tut ihm nicht weh, bitte!“ Meine Tränen vernebelten mir ein Teil meiner Sicht, doch der Geruch des Blutes, der sich langsam in der Luft ausbreitete, den nahm ich nur zu deutlich wahr. „Bitte!“

„Wirst du mir sagen was ich wissen möchte?“, fragte die Gräfin lauernd.

„Ja, ja! Ich erzähle alles, nur bitte lasst ihn in Ruhe!“

Die Gräfin schnipste, das Zeichen für Iesha sich zu entfernen, doch als sie das Messer von der Haut meines Vaters nahm, schnitt sie ihn wie zufällig ein weiteres Mal. „Ups“, sagte sie nur. „Ich bin abgerutscht.“ Dabei sah sie mich so eindringlich an, dass ich genau wusste, dass es kein Versehen war.

Ich wurde ganz ruhig und egal was sie da in meinem Gesicht sah, es ließ sie leicht die Stirn runzeln. „Dafür wirst du büßen“, schwor ich ihr.

Die Gräfin ließ meinen Vater los, sodass er nach vorne kippte und so keuchend und schwer atmend liegen blieb. Auf seiner Haut hatte sich eine feine Schweißschicht gebildet, die mir Angst machte. Hatte Iesha doch tiefer geschnitten, als es den Anschein machte?

„Papa?“, fragte ich, aber er regierte nicht mal auf meine Stimme. Was hatten sie ihm da nur gegeben?

„Plötzlich scheinst du ja sehr gesprächig“, sinnierte die Gräfin. „Und du weißt was ich hören will. Also?“

Ich zögerte noch einen Moment. Wenn ich es ihr verriet, wäre alles umsonst gewesen, aber ich konnte doch nicht zulassen, dass sie meinen Vater noch weiter verletzte.

„Es ist okay, Zaira“, sagte Cio da auf einmal, den Blick auf fest auf die Gräfin gerichtet. „Sag es ihr ruhig. Es wird ihr eh nicht helfen.“

„Was?“ Völlig entgeistert sah ich zu ihm auf. Das konnte doch nicht sein ernst sein.

„Wenn du es nicht sagst, dann sage ich es eben.“ Er schaute mich bei den Worten nicht mal an. „Wir waren im HQ um die Adressen der sicheren Häuser zu suchen, weil wir Cayenne nicht finden können.“

Die Gräfin runzelte die Stirn. „Du lügst. Die sicheren Orte sind alle öffentlich, dort würde Cayenne sich niemals verkriechen.“

Er zögerte einen Moment. „Nein, nicht alle. Nur die, die vom Königshaus her bestimmt wurden, nicht die der Themis.“

Ich sah zu Gräfin Xaverine, betete, hoffte, dass sie ihr diese Lüge abkaufen würde.

Es war ihr genau anzusehen, wie sich die Rädchen in ihrem Kopf drehten. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm glauben sollte, auch wenn es logisch klang. „Du behauptest nicht zu wissen, wo Cayenne ist“, stellte sie letztendlich fest. „Aber ich weiß genau, dass ihr beide mit ihr verschwunden seid.“ Sie schnipste wieder mit dem Finger und ich fast der gleichen Sekunde holte Iesha aus, und trat meinem Vater mit voller Wucht in die Nieren.

„NEIN!“, schrie ich, während er schmerzgeplagt aufkeuchte und sich zusammenkrümmte. Speichel tropfte aus seinem Mund und die Augen waren fest zusammengekniffen. Sein Atem kam nur stoßweise und er hustete angestrengt. „Bitte“, flehte ich sie an. „Ich schwöre …“

„Keine Lügen“, befahl sie kalt. „Ich will die Wahrheit, sonst wird er es sein, der es ausbaden muss.“

„Es war keine Lüge!“, beharrte Cio auf seiner Lüge. „Wir haben uns auf der Flucht von Cayenne getrennt, um eine größtmögliche Chance zum Entkommen zu haben. Wir wollten uns später wieder treffen, aber sie ist nicht am Treffpunkt aufgetaucht. Deswegen haben wir vermutet, dass sie sich in einem der Verstecke der Themis aufhält und wollten die Adressen holen.“

Die Runzeln auf der Stirn der Gräfin wurden etwas tiefer. Es war deutlich, dass sie über die Wahrheit dieser Worte nachdachte. „Und wo sind diese Adressen vermerkt?“

„Im Computer, denke ich. Wir haben sie nicht gefunden. Ihre Affen sind ja aufgetaucht, bevor wir die Möglichkeit dazu hatten.“

Voller Angst sah ich zu ihr, beobachtete ihre Reaktion und schwor, dass ich ihr alles verraten würde, wenn sie Cio wieder nicht glaubte. Natürlich, ich wusste dass das Leben von meiner Erzeugerin nicht weniger wert war als das meines Vaters, aber ich konnte doch nicht tatenlos zusehen, wie sie ihn verletzte. Ich konnte Cayenne nicht über ihn stellen.

„Nun gut.“ Ein weiteres Fingerschnippen brachte die beiden Männer, die mein Vater hineingetragen hatten, dazu, ihn vom Boden aufzuklauben und den benommenen Mann rauszubrigen.

„Wo bringen sie ihn hin? Was haben Sie mit ihm vor?!“

Die Gräfin zog eine Augenbraue nach oben. „Das habe ich doch schon gesagt, ich lasse ihn ärztlich versorgen. Es wird ihm bald besser gehen. Vorausgesetzt natürlich, dass ihr mich nicht angelogen habt.“ Bei diesen Worten behielt sie mich ganz genau im Blick und ich war wirklich einen Moment in Versuchung in Panik auszubrechen. Wenn sie die Lüge nun durchschaute und ihre Wut an meinem Vater ausließ? Es gab schließlich keine Adressen, zumindest nicht, dass ich wüsste.

Ich war schon kurz davor den Mund aufzumachen und alles zu beichten, als Cio sagte. „Ich habe nicht gelogen.“

„Das hoffe ich für euch und auch für deinen Vater.“ Bei den letzten Worten schaute sie mir genau in die Augen. Dann drehte sie sich herum und rauschte mit wehendem Kleid aus dem Raum. Estevan folgte ihr auf dem Fuß, nur Iesha zögerte und hörte auch nicht auf Edwards Ruf.

„Einen Moment noch“, sagte sie und trat wieder einen Schritt auf uns zu, den Blick auf Cio geheftet. „Schließ dich ihr an“, beschwor sie ihren Freund. „Die Gräfin macht es besser als Cayenne, sie wird uns zu neuer Größe verhelfen.“ Ihr Blick bekam etwas fast flehentliches, als sie noch leise hinzufügte. „Und dann können wir noch mal von Vorne anfangen.“

Cio schnaubte. „Was bitte ist besser daran, wehrlose Wölfe hinterrücks zu überfallen und abzuschlachten? Frauen und Kinder aus ihren Betten zu zerren und sie zu töten?“ Auf den Punkt mit dem Neuanfang ging er überhaupt nicht ein und so hart wie der Ausdruck in Ieshas Gesicht wurde, fiel ihr das sehr wohl auf.

„Diese Wölfe sind Abtrünnige, sie sind eine Gefahr für das einzig wahre Rudel. Sie müssen beseitigt werden, damit wir in Frieden leben können.“

Ich spürte mehr wie ich sah, dass er den Kopf schüttelte.

„Hörst du dir beim Reden eigentlich selber zu? Kannst du nicht mehr selber denken und nur noch nachplappern, was andere dir vorgeben?“

„Ich plappere nichts nach, ich folge meiner Überzeugung.“

„Genau das tue ich auch, nur dass ich dabei keine fanatischen Züge annehme und mir selber treu bleibe. Wenn du in dein Verderben rennen willst, um deiner abartigen Ader frönen zu können, nur zu, nur wirst du diesen Weg ohne mich einschlagen.“

„Ist das dein letztes Wort?“

„Darauf kannst du Gift nehmen.“

„Wie du meinst, dann haben wir uns wohl nichts mehr zu sagen.“ Sie richtete ihren Blick auf mich. „Genieße deine Zeit mit ihm, er wird dich einfach fallen lassen, sobald er was Besseres findet und so wie du aussiehst, kann das nicht sehr lange dauern.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und stampfte wütend aus dem Zimmer.

Ich sah ihr hinterher, begegnete dabei dem Blick von Edward Walker, doch er schüttelte kaum merklich den Kopf. Vielleicht wollte er sich damit für Ieshas Verhalten entschuldigen, vielleicht wollte er uns aber auch einfach sagen, dass es dumm von uns gewesen war hier her zu kommen. Ich konnte es nicht mit Sicherheit sagen, da er nur schweigend den Raum verließ und die Tür von außen wieder verschloss, um uns erneut einzusperren.

Cio atmete einmal tief ein. „Scheiße.“

Das fasste unsere Situation ziemlich gut zusammen.

Ich löste mich aus seinen Armen, die er nur widerwillig von mir nahm.

„Zaira …“

„Lass mich.“ Ich wollte seine Worte nicht hören, wollte nicht dass er mir zu nahe kam und wich ihm aus, als er die Hand nach mir ausstreckte. Das war einfach alles zu viel gewesen. Nicht nur dass sie uns erwischt und hier eingesperrt hatten, oder was Cio hinter meinem Rücken über mich gesagt hatte, nein, das Schlimmste war es gewesen, meinen starken Vater so schwach und hilflos zu sehen und ihm nicht beistehen zu können.

Wie war er nur in die Fänge der Gräfin geraten? Es waren doch die Ailuranthropen die ihn und Mama entführt hatten. Es hatte überall nach ihnen gerochen und die Polizei hatte gesagt, dass die Toten in unserer Wohnung Dunkelhäutige gewesen waren. Wie also war es möglich, dass er hier war? Das ergab einfach keinen Sinn. Und was würden sie jetzt mit meinem Vater tun? Würde die Gräfin ihn wirklich zu einem Arzt bringen? Und was war mit meiner Mutter? Hatte ich mich die ganze Zeit wirklich so sehr getäuscht? Das konnte ich mir einfach nicht vorstellen.

Als ich mich nicht bewegte, nur dastand und mir stumm die Tränen über die Wangen liefen, streckte Cio wieder seine Hand nach mir aus. Ich trat sofort einen Schritt von ihm weg, schlang die Arme um meinen Körper. „Nicht anfassen.“ Das war wohl das erste Mal, dass ich mich absolut nicht von ihm berühren lassen wollte. Nicht nachdem was ich gehört hatte.

Cio ließ die Hand zurück an seine Seite fallen und seufzte schwer. „Was Iesha da eben gesagt hat, das stimmt nicht. So habe ich das nie gesagt.“

So hatte er es nicht gesagt? Gab es denn noch andere Möglichkeiten sowas auszudrücken? Ich schüttelte nur den Kopf. „Warum sollte ich dir glauben?“

„Warum willst du ihr glauben? Keine Lügen, weißt du noch?“ Er schwieg einen Moment, so, als müsste er selber überlegen, wie es wohl am besten war fortzufahren. „So wie sie es gesagt hat, ist es völlig aus dem Zusammenhang gerissen.“

„Also hast du es doch gesagt“, stellte ich bitter fest und rieb mir die Tränen aus den Augen. Mein Geheul würde uns jetzt auch nicht helfen. Es war nutzlos, genauso wie ich.

„Wenn du es genau wissen willst, ich habe gesagt, Speckschwarten sind auf jeden Fall besser, als ihre Eifersucht, aber damit gemeint habe ich, das alles besser ist als …“ Er stockte, und drückte wütend die Lippen aufeinander, weil ihm die richtigen Worte fehlten. „Verdammt, das kommt nicht richtig rüber. Es war an deinem Geburtstag. Sie hat mir alles gebeichtet und wir haben uns gestritten. Dann fing sie damit an, dass ich sie nicht mehr lieben würde und wohl lieber ein paar Speckschwarten anfassen würde und da habe ich gesagt: Ja! Ja, das wäre mit tausend Mal lieber, als ihr krankhafte Eifersucht. Aber Zaira, bitte, du musst mir glauben, ich hab das nicht so gemeint, wie es sich anhört.“

Und dass sollte ich glauben, wo er es nicht mal wirklich abgestritten hatte? „Sie hat gesagt, sie hätte es dir erlaubt.“

„Sie war sauer und sagte: Dann fick sie doch du elender Wixer, mir doch egal.“

Na gut, das war nicht unbedingt eine Erlaubnis. „Und das mit dem Beißen?“, wollte ich wissen. „Hast du das auch nicht so gesagt?“

„Du weißt dass ich mich gerne von dir beißen lasse, daraus habe ich nicht ein Geheimnis gemacht und wenn du dich erinnerst, habe ich mich auch schon mit dir getroffen, bevor du mich das erste Mal gebissen hast.“

„Ja, weil du mir unbedingt meine Geheimnisse entlocken wolltest.“

„Nein, weil ich dich von Anfang an mochte.“

Wie gerne würde ich ihm glauben, aber im Moment war mir das einfach alles zu viel. Ich konnte nicht, meine Kräfte waren erschöpft, ich war fertig mit den Nerven. „Ich … ich kann jetzt nicht darüber nachdenken, ich … kann nicht.“ Ich drehte mich von ihm weg, stellte mich vors Fenster, um hinaus in diesen strahlend schönen Tag zu sehen. Was für eine Ironie das doch war. Heute war nichts strahlend schön. Der Tag glich eher dem bröckelnden Sims direkt vor dem Fenster. Kaputt, rissig, wie mein Leben, das Stück für Stück drohte auseinander zu brechen.

„Schäfchen.“

Ich schüttelte den Kopf, wollte seine Worte im Augenblick nicht hören. Sie würden es nicht besser machen. Im Moment konnte nichts diese Situation besser machen.

Er seufzte, trat leise hinter mich und legte nach kurzem zögern von hinten die Arme um mich. Als er merkte, dass ich mich ihm nicht entwand, zog er mich fester in die Arme. Erst jetzt, wo er mir so nahe war und die Anspannung ein kleinen wenig nachließ, bemerkte ich sein Zittern. Das hier war auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen. Er war genauso ein Gefangener wie ich und hatte gerade wahrscheinlich auch noch seine Freundin verloren.

Eigentlich sollte dieser Gedanke mich doch wenigstens ein wenig glücklich stimmen, doch das geschah nicht, dafür war einfach zu viel passiert.

Ich legte meine Hand auf seine, denn solange wie wir hier festsaßen, waren wir alles, was wir hatten. „Was soll denn jetzt werden?“, fragte ich leise.

„Ich weiß es nicht.“ Er zog mich fester an sich und vergrub sein Gesicht in meinem Nacken. „Ich weiß es wirklich nicht.“

 

°°°

 

Cios gleichmäßiger Atem fuhr bei jedem Atemzug in mein Haar. Er schlief nicht, denn auch wenn wir erschöpft waren und uns schon vor Stunden in Bett gelegt hatten, keiner von uns beiden hatte auch nur ein Auge schließen können. Es war einfach die Nähe des anderen, die wir im Moment brauchten, etwas Vertrautes, das uns Sicherheit gab.

Die Nacht hatte sich schon vor Stunden über den Tag gelegt und tauchte uns in eine trügerische Ruhe, die nichts als Schatten, begleitet vom sanften Schein des Mondlichts, zu uns ins Zimmer ließ. Doch es war nicht diese Ruhe, es waren Cios Arme, die mich wie einen schützenden Kokon umfingen und dafür sorgten, dass ich unter der ganzen Last nicht einfach auseinander brach. Auch wenn es wehtat, ihn so nahe bei mir zu haben und gleichzeitig Ieshas Worte wie eine Endlos in meinem Kopf zu hören, im Moment war er alles was ich hatte.

Aber ich verstand sie. Natürlich war sie gemein zu mir und wollte mich verletzten, immerhin war Cio nicht mit ihr mitgegangen, sondern lag jetzt hier bei mir im Bett. Das musste sie unheimlich schmerzen. Doch das war nicht meine Schuld.

Ich vergrub mein Gesicht an Cios Brust. Ich wollte nicht mehr darüber nachdenken. Ich wollte das alles einfach vergessen und wieder zu dem Tag zurückkehren, als alles angefangen hatte. Ich wünschte, dass ich damals nicht so dumm gewesen wäre und auf meinen Vater gehört hätte. Dann wäre meine Welt heute noch in Ordnung.

„Du bist so still“, sagte Cio leise. „Alles okay mit dir?“

Nein, absolut nicht. Im Moment war gar nichts okay. „Das sollte ich wohl lieber dich fragen. Wie geht es deinem Kopf?“

„Könnte besser sein.“

Ich löste mich leicht von ihm, um sein Gesicht zu sehen. War es wirklich noch so schlimm?

Er grinste leicht schief. „Könnte aber auch schlimmer sein.“

Natürlich, er nahm es wieder auf die leichte Schulter. Was hatte ich auch anderes erwartet? Ich versteckte mein Gesicht wieder an seiner nackten Brust. „Glaubst du, wir würden es schaffen abzuhauen?“

„Ich bezweifle es.“ Seine Finger strichen gleichmäßig und ruhig über meinen Rücken. „Die Fenster sind vergittert, vor der Tür stehen Wachleute und der Lüftungsschacht im Badezimmer ist zu eng, da kommst nicht mal du durch.“

Natürlich hatte er darauf geachtet, als er vorhin kurz auf dem Klo war. Sowas fiel ihm immer auf. „Das heißt wir können hier jetzt nur rumliegen und darauf warten was als nächstes geschehen wird?“

„Ich wüsste nicht, was wir sonst tun könnten. Natürlich könnte ich mich neben der Tür postieren und als großer Held auftreten, sobald wieder jemand hier rein kommt, aber eigentlich habe ich für einen Tag genug Kopfschmerzen.“ Er überlegte kurz. „Aber du könntest das machen. Die holde Maid rettet den strahlenden Ritter.“ Sein leises Lachen drang an mein Ohr. „Obwohl eine Aspirin es auch schon tun würde.“

„Du kannst einfach nie ernst bleiben, oder?“

„Doch kann ich, nur …“

Als es am Fenster klapperte, war ich nicht die einzige in diesem Bett, die zusammenzuckte. Wir fuhren zeitgleich hoch, um nachzugucken, was dieses seltsame Geräusch verursacht hat, doch außer der nächtlichen Dunkelheit und den Schatten war dort draußen nichts zu sehen.

Ich verengte die Augen, doch bei meiner Nachtblindheit half das leider nicht wirklich. Die Dunkelheit blieb für mich weiter unergründlich.

„Da ist etwas vor dem Fenster, auf dem Sims“, sagte Cio leise und in dem Moment hörten wir wieder das Geräusch. Wie krallen, die in unmenschlichen Tönen über das Glas kratzten.

„Was ist das?“

„Keine Ahnung.“ Bei diesen Worten hatte er mich schon losgelassen und war halb aus dem Bett geglitten. Auf leisen Sohlen flitzte er durch das Zimmer zum Lichtschalter und einen Klick später wurde ich so geblendet, dass ich erst mal die Augen zukneifen musste. Doch das Knurren, das aus Cios Kehle drang, veranlasste mich ganz schnell dazu, das Fenster zu fixieren, nur um verwundert die Stirn zu runzeln. Da draußen auf dem bröckligen Sims stand ein Leopard, der mit seinen schillernd grünen Augen zu uns hineinblinzelte und erneut die Pfote hob, um zwischen den Streben des Gitters am Glas zu kratzen.

Ich brauchte einen Moment, um mir darüber klar zu werden, was genau ich da draußen sah. „Fujo“, kam es dann über meine Lippen. Ich sprang aus dem Bett, lief zum Fenster und riss es auf. Natürlich, ich hatte sie noch nie in ihrer Tiergestalt gesehen, aber ihre Größe zeigte mir, dass ich es hier mit keinem ausgewachsenen Ailuranthropen zu tun hatte und wer außer Fujo würde sonst hier her kommen? „Fujo, was machst du da? Das ist gefährlich, du könntest abstürzen.“

Sie blinzelte einmal nervös in die Tiefe, schließlich befanden wir uns hier in der zweiten Etage des Schlosses, aber die Höhe schien ihr keine Angst zu machen. „Ich b-b-bin gut im b-balancieren.“

Als ich mich vor dem Gitter auf den Boden kniete, trat Cio hinter uns. Seine Anspannung konnte ich spüren, ohne ihn ansehen zu müssen.

„Aber der Sims ist kaputt“, hielt ich dagegen. „Wenn er bricht, hilft dir dein Gleichgewichtssinn auch nicht mehr viel.“

„A-a-aber ich m-m-musste kommen. D-deine Eltern, sie h-h…“

„Sie sind hier, ich weiß.“ Ich legte meine Hände an das Gitter. „Ich habe meinen Vater bereits gesehen.“

„Es t-tut mir leid“, sagte sie leise und wandte den Blick ab. In ihren Augen schimmerten Tränen. „Ich w-w-wollte nichts sagen, a-aber G-grootv-vader h-hat ge-gesehen wie wir uns un-un-unterhalten h-h-haben und wollte w-wissen w-w-worüber.“

„Und da ist dir nichts besseres eingefallen, als Zairas Leben zu ruinieren?“, fragte Cio kalt hinter mir. „Dafür zu sorgen, dass ihre Eltern entführt werden und ihr Hund getötet?“

Bei den letzten Worten riss sie den Kopf herum. „F-Flair ist t-t-tot?“

Darauf brauchten wir nicht zu antworten, aber unser schweigen sprach Bände.

Nun kullerten der Kleinen dicke Tränen aus den Augen. „Das wollte i-ich nicht. A-aber mein Grootv-vader ist doch d-d-der ein-einzige der mich nicht wegge-ge-geben hat. E-er ist d-doch a-a-alles was ich h-habe.“

Ich seufzte. Natürlich glaubte sie das. Ihre Eltern hatten sie wegen ihres Sprachfehlers verstoßen. Hisham war der Einzige, der ihr geblieben war. Es war doch klar, dass sie alles tat, was er wollte, um ihm zu gefallen.

„I-ich wusste nicht, w-was passieren w-würde.“

„Also hast du ihnen gesagt, wo ich mit meinen Eltern lebe“, stellte ich fest.

Sie nickte nur.

„Und dann haben die Ailuranthropen meine Eltern entführt.“

„I-ich … es tut mir L-l-leid. I-i-ich wollte dir helfen, ich h-hab d-dir gesagt, w-wo sie sind. A-an dem Morgen, a-a-als du w-weggelaufen bist.“

„Genius Scar. Ich erinnere mich. Wir waren auf den Schilf, aber meine Eltern waren nicht da.“

Ihre Stirn legte sich leicht in Falten. „Ge-genius Scar?“

„Na das Schiff auf das du mich geschickt hast. Das …“ Bei ihrem verwirrten Blick klammerten sich meine Finger fester um das Gitter. „Hast du das gar nicht gemeint?“

Sie schüttelte den Kopf. „ G-g-gravin Scar. D-deine Eltern, sie sind b-b-bei der Gräfin mit den Narben. G-gravin heißt G-g-gräfin.“

Während mein Hirn versuchte einen Sinn in ihre Worte zu bringen, wurden meine Augen immer größer. „Du meinst sie waren niemals auf dem Schiff?“

„I-ich weiß nichts von einem Sch-schiff. Pandu, mein Vater B-bijan und Rahsaan h-h-haben d-deine Eltern ge-ge-geholt und aufs Schloss ge-ge-gebracht. Die Gräfin w-w-wollte das s-so und …“

„Moment“, unterbrach Cio sie verwundert. „Soll das heißen, dass die Ailuranthropen für Gräfin Xaverine arbeiten?“

„Sie h-haben eine Ab-ab-ab … eine Vereinbarung. Sie helfen d-d-der Gräfin die K-Königin zu st-st-stürzen, wenn die G-gräfin ihnen hilft Drius zu f-finden.“

„Was?!“ Die Gräfin hatte dabei geholfen, meine Mutter zu entführen? Sie war schuld daran, dass mein ganzes Leben gerade zusammenbrach?

„Die Gräfin hat ge-gesagt, dass d-d-die Kö-königin wisse wo Dr-drius ist und d-d-das sie alles aus ihr herausb-b-bekommen w-w-würde, wenn ihr Sohn nur auf d-dem Thron sitzt.“

Cio runzelte die Stirn. „Aber warum sind ihre Eltern dann jetzt hier? Ich meine, die Ailuranthropen hatten sie doch schon in ihrer Hand, Cayenne wurde gestürzt. Das ergibt keinen Sinn.“

„W-wegen ihrem K-k-kind.“ Fujo richtete den Blick auf mich. „Drius d-darf kein K-kind haben. D-das ist v-v-verboten.“

Diese Eröffnung musste ich erst mal sacken lassen. Sollte das etwas heißen, dass die Ailuranthropen glaubten ich wäre das leibliche Kind meiner Mutter? Aber … „Die Gräfin weiß dass ich Cayennes Tochter bin.“

Fujos Augen wurden groß. „D-du bist nicht d-d-die T-tochter von Drius?“

„Nein, sie ist meine Ziehmutter. Cayenne ist meine leibliche Mutter, aber sie hat mich weggeben, als ich gerade mal ein paar Tage alt war. Das habe ich dir doch erzählt.“

„A-aber die Gräfin …“

„Scheint ein falsches Spiel mit den Ailuranthropen zu spielen“, warf Cio ein und lehnte sich an den Fensterrahmen. „Es macht ganz den Anschein, als trickste sie die Leoparden aus, um noch mehr gegen Cayenne in die Hand zu bekommen. Sie lässt die Ailuranthropen im Glauben, dass du die Tochter deiner Eltern bist, obwohl sie genau weiß, dass das nicht stimmt. Gleichzeitig benutzt sie deine Eltern um Informationen aus dir rauzubekommen. Natürlich, dass ich nicht schon vorher darauf gekommen bin. Das erklärt auch, warum deine Eltern hier sind und noch nicht in Afrika. Die Ailuranthropen wollten erst dich in die Finger bekommen, bevor sie euch dann alle drei nach Afrika verschiffen, um dort weiß Gott was mit euch anzustellen.“

„Aber … was?“ Sollte das heißen, sie hatten meine Eltern hier behalten, um sie als Lockmittel zu benutzen und mich auch in die Finger zu bekommen?

„Pass auf“, sagte Cio. „Du hast mir mal erzählt, dass sie dich schon als kleines Kind gesehen haben, damals, vor Jahren, als du mit deinen Eltern zusammen vor ihnen geflohen bist. Als Baby“, fügte er noch hinzu, um es zu verdeutlichen. „Die Ailuranthropen wussten also von dir und sind die ganze Zeit davon ausgegangen, dass du der Spross ihrer Lenden bist, aber als sie in eure Wohnung eingedrungen sind, fanden sie nur deine Eltern und ein paar Kinderfotos von dir, weil du ja noch mit Kasper und Alina unterwegs warst. Natürlich mussten sie dann schnell abhauen, weil die Polizei kam, mit dem Vorhaben dich später irgendwo einzusammeln. Nur womit sie nicht gerechnet hatten, war, dass du dich in Cayennes Obhut begibst. Gleichzeitig hat Gräfin Xaverine Cayennes wahre Identität aufgedeckt und so warst du zwar im Schloss, bist dort aber wieder verschwunden, bevor die Ailuranthropen begreifen konnten, dass du dich direkt vor ihrer Nase befunden hast.“

Er nickte, um seine Überzeugung noch einmal zu verdeutlichen. „Irgendwann in diesen zwei Tagen muss Gräfin Xaverine in Sydneys Büchern über dich und Kiara gelesen haben und wollte euch unbedingt in die Finger bekommen. Schließlich, was ist besser als der lebende Beweis von Cayennes Herkunft? An Kiara aber kam sie nicht ran, weil Samuel einfach zu schlau ist, um sich fangen zu lassen. Du dagegen bist direkt in ihr Schloss spaziert. Wenn sie dich nun dazu bringen könnte, die ganze Wahrheit über Cayenne, deinen Vater und dich vor dem Rudel auszuplaudern, wäre Cayenne wahrscheinlich auch noch ihre letzten Anhänger los. Eine Königin und ein Vampir? Undenkbar.“

Oh Gott, konnte das wirklich der Wahrheit entsprechen? „Und um zu erreichen, dass ich ihr alles erzählen würde …“

„Hat sie es irgendwie so gedreht, dass die Ailuranthropen deine Eltern hier aufs Schloss bringen, um ein Druckmittel gegen dich in der Hand zu haben. Die Leoparden hatten damit vermutlich kein Problem, weil sie deine Eltern ja sowieso irgendwo unterbringen mussten, bis sich dich erwischen und …“ Plötzlich verstummte er und richtete seinen Blick auf Fujo, die uns die ganze Zeit schweigenden gelauscht hatte. „Sag mal Fujo, wie lange geht dieser Plan schon?“

„Äh …“ Ihr Blick zuckte nervös zu mir. „I-i-ich weiß nicht.“

Ich sah zu Cio hoch. „Warum?“

„Weil mir gerade wieder eingefallen ist, dass irgendjemand aus dem Schloss für die Gräfin spioniert haben muss. Wie sonst hätten die Adressen der sicheren Orte an Xaverine gekommen sein können? Oder auch die Bücher von Sydney. Irgendjemand muss hier herumspioniert haben und die Informationen an die Gräfin gegeben haben.“

„Und dann ist da noch Sadrija. Ich weiß nicht wie sie an sie gekommen ist, aber sie konnte Gräfin Sadrija irgendwie dazu bewegen ihr alles zu verraten. Es gibt doch diese Videos im Internet, in denen Sadrija alles erzählt. Ich kam erst später in Spiel, wahrscheinlich eher zufällig. Die Bücher wurden an meinem Geburtstag geklaut und erst daraus konnte sie von Kiara, mir und meinem Vater erfahren haben.“

„Und dann hat sie mitbekommen, dass die Ailuranthropen deine Eltern gefunden haben und hat alles zu ihren Gunsten verdreht, um daraus ihren Vorteil zu ziehen.“ Cio drückte die Lippen zusammen. „So ein hinterhältiges Miststück.“

Das war unglaublich. Geheimnisse, Lügen, Intrigen und Verschwörungstheorien, aber … „Es passt alles zusammen.“

„Und wir sind auch noch hier her gekommen, um ihr alle Trümpfe in die Hand zu spielen. Verdammt!“ Er schlug gegen den Fensterrahmen, was nicht nur mich, sondern auch Fujo zusammenzucken ließ. „Damit dass sie dich und deine Eltern hat, könnte sie gewinnen. Durch deine Eltern kann sie dich zwingen ihr alles zu sagen und selbst wenn du schweigst, wird sie dich früher oder später dazu benutzen, um Cayenne aus ihrem Versteck zu locken.“ Er sah mich mit zusammengekniffenen Lippen an. „Du bist ihre Tochter, für dich würde sie alles tun.“

„Dann müssen wir versuchen so schnell wie möglich zu verschwinden, bevor sie unsere kleine Lüge enttarnt und mich wirklich als Druckmittel benutzen kann.“

Cio schnaubte. „Wenn es sonst nichts ist. Sind ja nur verschlossene Türen, vergitterte Fenster und ein ganzen Bataillon an Wächtern die wir überwinden müssen.“

„Ich weiß, dass es nicht einfach wird, aber wir müssen es trotzdem versuchen, oder wenigstens …“ Ich wandte mich zu Fujo um, als mir ein Gedanke kam. „Du musst mit deinem Großvater reden. Sag ihm, dass die Gräfin ihn belügt, erzähl im alles was du gerade gehört hast.“

„E-er wird mir n-n-nicht glauben. Er g-glaubt d-d-der Gräfin.“

„Fujo.“ Ich rutschte näher ans Gitter und griff durch die Streben nach ihrer Pfote. „Du bist seine Enkelin, er wird dir zuhören und selbst wenn er dir nicht glauben sollte, so werden deine Worte ihn nachdenklich machen. Vielleicht wendet er sich dann von der Gräfin ab.“

„Er w-wird Drius n-n-nicht gehen lassen.“

„Er kommt im Moment gar nicht an sie ran, weil die Gräfin sie hat, aber es würde wenigstens zu Streitigkeiten zwischen ihnen führen. Damit wäre Xaverine eine Weile abgelenkt und so bekommen wir vielleicht die Gelegenheit abzuhauen. Bitte, du musst es wenigstens versuchen. Die Ailuranthropen werden nicht sehr erfreut darüber sein, wenn sie erfahren, dass sie aufs Kreuz gelegt wurden.“

Cio schnaubte. „Die Untertreibung des Jahrhunderts.“

Damit hatte er vermutlich recht. „Wenn du es ihm sagst, rettet das zwar weder mich noch meine Eltern, oder Cayenne, aber es gibt uns die Zeit die wir dringend brauchen, um hier zu verschwinden. Deswegen, bitte.“

Sie war unsicher, glaubte nicht, dass ihre Worte genug Kraft hatten, um uns zu helfen. „I-i-ich kann es versuchen, aber nichts v-v-versprechen. Mein G-grootv-vader ist …“

Als draußen auf dem Korridor Stimmen aufkamen, wirbelten drei Köpfe zur Tür. Ein Schlüssel klimperte.

„Schnell!“, sagte ich zu Fujo. „Verschwinde!“

Sie nickte und drehte sich in einer halsbrecherischen Bewegung auf dem Sims herum, bevor sie in die Nacht verschwand.

„Und rede mit deinem Großvater!“, rief ich ihr noch leise hinterher, als der Schüssel ins Schloss gesteckt wurde. Ich war auf den Beinen, noch bevor die Tür geöffnet wurde und einen Moment war ich am überlegen, ob ich vielleicht einfach vorstürmen sollte, um zu versuchen zu entkommen, doch als ich die kalten Augen von Estevan sah, machte ich lieber einen Schritt zurück. Er besaß eine Waffe und mit der wollte ich mich nicht anlegen.

Der Mann runzelte die Stirn. Sah von mir zu Cio und weiter zu dem offenen Fenster. Hatte er etwa etwas gehört? Mein Herz trommelte verräterisch in meiner Brust. Wenn er es nun mitbekommen hatte, würde er versuchen Fujo abzufangen, um sie daran zu hindern ihrem Großvater alles zu erzählen?

„Ich hab immer noch Kopfschmerzen“, sagte Cio. „Ich dachte ein wenig Frischluft würde mir gut tun.“

Er glaubte ihm nicht, das war mehr als nur deutlich. „Diese Gitter sind werwolfsicher, ihr werdet sie nicht entfernen können.“

Er dachte dass wir versucht hätten zu entkommen? Sein Verdacht war auf jeden Fall besser, als die Wahrheit. So war Fujo außer Gefahr. Ob er wohl die Gerölllawine hörte, die mir vom Herzen fiel?

Scheinbar nicht, denn er trat einfach nur zur Seite und ließ einen anderen Mann mit einem Silbertablett eintreten, das er neben der leeren Vase auf das Nachtschränkchen abstellte. Und dann betrat noch jemand den Raum.

Iesha.

Ihr Blick klebte sofort auf mir und Cio und maß den Abstand zwischen uns, doch als ich schon reflexartig einen Schritt von ihm wegmachen wollte, griff er meine Hand und hielt mich demonstrativ fest.

Ieshas Blick verfinsterte sich. „Du hast es dir also immer noch nicht anders überlegt.“

„Nein.“

Sie schüttelte über so viel Sturheit den Kopf. „Das wirst du noch.“

„Darauf kannst du lange warten, den ich gebe meine Prinzipien nicht einfach so für ein verlogenes Miststück auf, nur weil ich bei ihr meine sadistische Ader ausleben kann.“

Das waren wohl nicht die Worte gewesen, die sie hören wollte. Ihr Blick verdunkelte sich vor Hass, aber gleichzeitig sah ich auch den Schmerz darin aufflackern. Ja, es stimmte wohl, bei diesem Mädel lief im Kopf eindeutig etwas nicht ganz richtig, aber das änderte nichts daran, dass ihre Gefühle für Cio echt waren. Und dass er sie so behandelte, ließ sie leiden.

Trotzdem konnte ich keinerlei Mitgefühl für sie aufbringen, nicht nachdem was sie getan hatte.

„Bevor dieses fette Flittchen aufgetaucht ist, hast du dich an dieser Ader ausgesprochen gut erfreut.“

„Wenn du es genau wissen willst, habe ich immer nur mit gemacht, weil es dich so erfreut hat.“ Er schüttelte den Kopf wie über sich selber. „Aber das hat jetzt sowieso keine Bedeutung mehr. Geh spielen und halte weiter an deiner krankhaften Einstellung fest. Ich werde mich dir sicher nicht anschließen. Wir sind geschiedene Leute, Iesha.“

Sie drückte die Lippen zu einem dünnen Stricht zusammen und spießte mich mit einem so hasserfüllten Blick auf, dass ich eigentlich Angst verspüren sollte. Aber da war nur Abscheu. Das war sie meinem Vater angetan hatte, damit hatte sie jegliche Sympathie und Verständnis, dass ich vielleicht noch hätte für sie aufbringen können, verspielt. Es war wohl das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein anderes Wesen wirklich hasste.

„Wie du meinst“, sagte Iesha leise und schritt dann eilig aus dem Raum.

Die beiden Männer folgten ihr und dann war die Tür wieder verschlossen.

Cio atmete tief ein und rieb sich mit der Hand über das Gesicht. „Früher war sie nicht so“, sagte er leise.

Das konnte ich nicht beurteilen, da ich sie nur so kannte, also schwieg ich.

„Ich verstehe einfach nicht was mit ihr passiert ist. Bin ich daran schuld?“

„Nein“, sagte ich bestimmt und drückte seine Hand ein wenig fester. „Menschen ändern sich einfach mit den Jahren und vielleicht … vielleicht war diese Seite ja schon immer an ihr gewesen und du hast sie einfach nur nicht gesehen, weil du sie geliebt hast.“

„Ja, vielleicht“, stimmte er mir halbherzig zu, ließ meine Hand los und schloss das Fenster, um die kühle Nachtluft auszuschließen. „Hast du Hunger?“

Ich sah zu dem Tablett. Er roch schon lecker, doch allein der Gedanke jetzt etwas zu mir zu nehmen ließ bereits Galle in meiner Kehle aufsteigen. „Nein.“

Er schnaubte. „Eine andere Antwort hätte mich jetzt auch gewundert. Und wahrscheinlich ist es auch besser, wenn wir nichts essen. Wer weiß schon, ob die da nicht etwas reingemischt haben.“

Daran hatte ich gar nicht gedacht. Jetzt wollte ich erst recht nichts mehr davon haben.

Der Riegel des Fensters schloss sich. „Aber wir sollten wenigstens versuchen ein wenig zu schlafen. Wenn wir zu müde sind, dann wird uns ein Fluchtversuch sicher nicht gelingen.“ Er sah mich an.

Ich zuckte mit den Schultern und gab ein „Okay“ von mir, weil er das wohl erwartete, denn dass ich schlafen konnte, bezweifelte ich sehr stark.

„Okay“, wiederholte er leise, schaltete das Licht aus und zog mich an der Hand ins Bett, bis wir wieder so langen, wie vor Fujos auftauchen. Mein Gesicht an seiner Brust vergraben, fest in seinen Armen, um mir wenigstens den Anschein von Sicherheit zu geben. Doch meine Gedanken ließen mich nicht in ruhe. Nicht nur die Dinge die wir dank Fujo herausgefunden hatten, auch die letzten Worte von Cio und Iesha. Cio war nicht dumm, irgendwas musste dieses Mädchen an sich gehabt haben, dass er sich in sie verliebt hatte. „Du bist nicht schuld daran, was aus ihr geworden ist“, sagte ich leise.

Er seufzte und zog mich fester an in seine Arme, was mich trotz allem dazu bewog die Augen zu schließen und entgegen meiner Vermutung einzuschlafen. Ich war einfach nur fertig, am Ende meiner Kraft und das nicht nur nervlich.

Doch auch in meinen Träumen fand ich nicht die Ruhe, die ich eigentlich brauchte. Ich sah meinen Vater, wie er blutend am Boden lag und sich nicht mehr bewegte, sah meine Mutter weinend in der Ecke sitzen, während die Ailuranthropen sie einkreisten. Ich hörte Cayennes verzweifelte Schreie, als das Rudel über sie herfiel, sah das überhebliche Lächeln von Cerberus und das hassverzerrte Gesicht von Iesha, die versuchte mich zu töten, um Cio zurückzubekommen. Und über alle dem stand das höhnische Lachen von Xaverine.

Doch plötzlich veränderte sich alles. Die Bilder verschwanden und ich spürte die Berührung. An Meinem Hals, meiner Schulter. Ein unglaubliches Kribbeln breitete sich durch meinen Körper aus und ließ all meine Sinne erwachen.

Ich sah nicht was da passierte. Es war wir Farbkleckse auf meiner Haut, die in der absoluten Finsternis um mich herum zu leuchten schienen und damit die grausamen Bilder verdrängten.

Dieses Gefühl, diese Berührungen, ich kannte sie. So selten wie sie waren, so einmalig waren sie auch. „Cio“, flüsterte ich im Traum. Spürte die Hände, die sich unter mein Shirt schoben, fühlte den Mund auf meinen Lippen, dem ich nur zu gerne entgegen kam, wenn er mich nur von diesen schrecklichen Bildern fern hielt.

Die Berührung an meiner Brust ließ mich seufzen, doch als sein Körper sich über meinen schob, wurde mir mit einem Schlag klar, dass hier war kein Traum. Das war die Realität und ich küsste gerade Cio.

Überrascht riss ich die Augen auf, zuckte vor ihm zurück. Er war wirklich da, direkt über mir, der Blick in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Es war noch Nacht, ich konnte also nicht lange geschlafen haben und bevor ich die Gelegenheit bekam weiter über diese Situation nachzudenken, lagen seine Lippen schon wieder auf meinen und sorgten dafür, dass der Nebel des Schlafs sich wieder verdichtete.

Ich vergrub meine Hände in seinem Haar, als er sich gegen mich drängte, seufzte wohlig, als seine Berührungen an meiner Brust intensiver wurden, wand mich unter seinen Händen, als sie langsam mein Shirt hochschoben.

Es fühlte sich so gut an und ließ mich einmal alles vergessen. Nur das jetzt zählte, der Augenblick, in dem ich mich verlieren konnte.

Seine Lippen unterbrachen den intensiven Kuss, als sie über mein Kinn wanderten, den Hals hinunter, zu meinem entblößten Oberkörper. Überall wo er mich berührte, hinterließ er eine brennende Spur, die mich am ganzen Körper erschauern ließ und ein wohliges Gefühl durch mich hindurch jagte.

„Cio“, seufzte ich, als die Gefühle immer intensiver wurden. Seine Hand wanderte über meinen Bauch, bis hinunter zum Bund meiner Hose, wo sie die Linie nachzog, mich weiter reizte, während er mit dem Mund meine Haut liebkoste.

Als seine Hand sich dann einen Weg unter den Bund bahnte und mich dort berührte, wo all diese Gefühle zusammenliefen, konnte ich mein Stöhnen nicht unterdrücken. Was er dort mit mir machte … ich konnte es nicht in Worte fassen. Dieses Gefühl, das war einfach unglaublich und ich wünschte, dass es ewig währen würde.

Langsam beschritten seine Lippen wieder einen Weg zu meinem Mund. Mein Atem wurde hektischer. Er fing ihn mit seinen Lippen auf, vereinte uns in einem weiteren Kuss, drängte sich gegen mich, als wollte er mir unter die Haut kriechen. Und dann kam die Welle, die dafür sorgte, dass ich mich an ihm festklammerte, um nicht einfach weggespült zu werden.

Mein Atem ging schnell, mein Herz schlug noch schneller. Zarte küsse, die mich sanft von dieser Welle holten und gleichzeitig doch alles noch intensiver fühlen ließen. „Cio“, flüsterte ich wieder, als mir klar wurde, was da gerade geschehen war, als sich wieder diese fünf kleinen Worte in meine Zunge brannten, die unbedingt in die Freiheit wollten.

Er zog seine Hand aus meiner Hose, strich mir eine verirrte Strähne aus dem Gesicht, während sein Blick unbeirrt auf meinen Augen lag.

Draußen dämmerte es langsam. Der Tag kündigte sich mit seinen Vorboten an und im Raum war es nicht mehr ganz so finster, wie beim Aufwachen.

„Was bin ich für dich?“, fragte ich leise, bevor ich mich daran hindern konnte, diese Worte auszusprechen. Aber ich musste es wissen. Ich musste es so unbedingt wissen, wie ich die Luft zum Atmen brauchte, bevor ich mich noch tiefer auf Gefühle einließ, die mich zerstören konnten. Deswegen wiederholte ich noch einmal fast tonlos: „Was bin ich für dich.“ Denn im Augenblick war er fast alles für mich.

Seine streichenden Finger verharrten plötzlich an meiner Wange, als seine Augen sich kaum merklich weiteten, bevor er sie zusammenkniff. „Scheiße!“, fluchte er, rollte sich von mir herunter aus dem Bett und war mit wenigen Schritten im Badezimmer verschwunden. Die Tür knallte so laut, dass ich zusammenzuckte und als er von innen dann noch einmal dagegen schlug, bahnte sich die erste Träne ihren Weg nach draußen.

Er war gegangen. Trotz alles was er gesagt und getan hatte, war er gegangen.

Hatte ich mich wirklich so in ihm getäuscht? Hatte ich wirklich alles falsch verstanden? Oh Gott, was hatte ich nur getan?

Als im Nebenzimmer plötzlich splitterndes Glas zu hören war, als hätte er den Spiegel zerschlagen, schlug ich die Hände vors Gesicht und rollte mich auf die Seite, wo ich mich meinen Tränen ergab.

Er hatte es verstanden und wusste nun um meine Gefühle für ihn. Er hatte verstanden, dass da mehr war, als nur Freundschaft.

Und er empfand nicht genauso.

 

°°°°°

Alarm

 

Die Sonne stieg unaufhaltsam am Horizont hinauf, doch so stark sie auch strahlte, die Tränen auf meinen Wangen konnte sie nicht trocknen. Ich wusste nicht wie lange ich hier schon lag, wusste nicht was Cio die ganze Zeit im Bad tat, denn es war kein Ton von ihm zu hören. Das einzige was ich wusste, war, dass er nicht wieder hinausgekommen war.

War es für ihn so schlimm, dass er die Wahrheit erkannt hatte? War ich ihm so zuwider? Warum nur musste es so wehtun?

Das Kissen unter meinem Kopf war schon ganz durchnässt, als draußen im Hof das Heulen begann. Die Wölfe riefen, doch warum sie das taten, konnte ich nicht sagen. Es war mir egal. Im Moment war mir einfach alles egal. Es tat so weh und das einzige was ich wollte, war in diesem Schmerz zu vergehen, bis ich nichts mehr spürte. Bis ich vergessen konnte, was geschehen war und …

Als die Tür mit einem Knall aufschlug, schreckte ich hoch. Zuerst glaubte ich Cio sei aus dem Bad gekommen, doch es war die andere Tür, die von Gräfin Xaverine durchschritten wurde. Warum hatte ich den Schlüssel nicht gehört?

Hinter ihr kamen mehrere Männer mit in den Raum, darunter dieser Estevan mit den kalten Augen. Auch war mein Vater dabei, der von zwei Wachen in den Raum begleitet wurde. Das erste was mir auffiel war, dass er besser aussah als gestern Mittag, klarer. Das zweite, dass er eine frische Platzwunde an der Lippe hatte.

„Was …“, begann ich im gleichen Moment, als die Gräfin mit den Fingern schnipste.

Estevan löste sich sofort von der Gruppe und kam drohend auf mich zu.

Ich wich an die Wand zurück und trat instinktiv nach dem Typen, als er die Hand nach mir ausstreckte. Doch leider wurde mir das zum Verhängnis. Er griff so schnell nach meinem Bein und zog mich mit einem Ruck zu sich übers Bett, dass ich vor Schreck nur einen Schrei ausstoßen konnte.

In den Griffen der Wachen bäumte sich mein Vater auf, fauchte mit ausgefahrenen Fängen, und versuchte sich gegen die Männer zu wehren, doch seine Arme waren noch immer mit Handschellen auf den Rücken gefesselt.

„Nein!“, schrie ich, als der Mann mich schmerzhaft am Arm hochzog. Seine Finger gruben sich unangenehm in meine Haut und ich versuchte ihn abzuwehren. Doch da drehte er mich kurzerhand einfach herum, wand meine Arme schmerzhaft auf den Rücken und drückte mich dann mit dem Gesicht voran in die Matratze.

Von den Geräuschen angelockt, schwang die Tür zum Bad auf und Cio erschien mit völlig zerrauften Haaren im Türrahmen, so als sei er sich ständig mit den Händen hinfurchgefahren. „Hey, Flossen weg!“ Er machte eine Bewegung auf uns zu, wollte den Kerl von mir wegreißen, notfalls auch mit Gewalt, doch bereits nach einem Schritt stürmten zwei der Wächter vor und wollten ihn Rücklinks an die Wand pinnen. Und das war der Moment, in dem ich zum ersten Mal die Fähigkeiten eines Umbra leibhaftig und in Farbe sah. Er wich mit einer Geschwindigkeit aus, die es fast mit einem Vampir aufnehmen könnte. Mehr als ein verwischter Schemen war nicht zu erkennen. Dann stand er hinter dem Mann und beförderte ihn mit einem gezielten Handkantenschlag nicht nur auf den Boden, sondern gleich ins Land der Träume.

Was dann geschah bekam ich nicht genau mit, denn das Entsichern einer Waffe, direkt vor meiner Nase riss meine Aufmerksamkeit auf sich. Bei dem direkten Blick in den tödlichen Lauf wurden meine Augen groß und ein Wimmern mir über die Lippen, der Cio einen kurzen Moment ablenkte. Doch der genügte schon, um dem anderen Wächter die Gelegenheit einzuräumen, ihn einem kräftigen Schwinger in den Magen zu versetzten.

Cio stöhnte und krümmte sich leicht.

„Das genügt“, ließ Estevan verlauten. Die Waffe lag völlig ruhig in seiner Hand, während er jede von Cios Bewegungen genau beobachtete.

Dieser knurrte: „Du bluffst doch nur. Zaira ist für euch viel zu wertvoll, als das du sie einfach erschießen würdest!“

Täuschte ich mich, oder schwang da ein Hauch von Unsicherheit in seinen Worten mit?

„Jeder ist entbehrlich“, erwiderte Estevan schlicht.

Zögernd huschte Cios Blick von der Waffe zu mir und blieb dann an dem kaltäugigen Mann hängen. Trotzdem registrierte er die Bewegung des Wächters und drehte sich geschmeidig um die eigene Achse. Sein Fuß scherte aus, trat dem Wächter die Beine weg und schickte ihn der Länge nach auf den Boden. Das war der Moment in dem Estevan schoss. Laut hallte der Knall zusammen mit meinem Schrei durch den Raum.

„Zaira!“ Mein Vater bäumte sich auf und bekam dafür einen Tritt in die Kniekehlen, der ihn zu Boden beförderte.

Zeitgleich wirbelte Cio zum Bett herum, in dem direkt neben meinem Gesicht ein verkohltes Loch in der Decke war. Ich roch das verbrannte Polyestergemisch, spürte die Wärme in meinem Gesicht, die von meinen Tränen begleitet wurde. Das Geräusch klang mir noch immer in den Ohren nach, verband sich dort mit einen seltsamen Klingeln auf meinem Trommelfell.

Er hatte geschossen. Dieser verdammte Hund hatte wirklich angedrückt und geschossen! Nicht mal zehn Zentimeter weiter und es wäre mein Gesicht gewesen.

„Das war die letzte Warnung“, ließ der Diener ungerührt verlauten. „Die nächste wird nicht mehr danebengehen. Den, vielleicht erinnerst du dich, dieses Mädchen hat noch eine Zwillingsschwester.“

Es war offensichtlich wie wenig Cio diese Situation gefiel. Wut, Entsetzten und ohnmächtige Hilflosigkeit wechselten sich auf seinem kalkweißen Gesicht ab. Die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengekniffen, hatte er die Hände an den Seiten zu Fäusten geballt und sah tatenlos dabei zu, wie der Wächter wieder auf die Beine kam. Eine Sekunde später wurde er mit dem Gesicht voran grob gegen die Wand gepresst. Seine Arme wurden ihm auf dem Rücken so weit nach oben gebogen, dass schon die kleinste Bewegung schmerzen musste. Das einzige gute an dieser Situation war, dass die Waffe verschwand. Doch zum Ausgleich wurde ich so grob hochgerissen und vor die Gräfin bugsiert, dass ein neuer Schwall Tränen aus meinen Augen kroch und die Welt um mich herum nur verschwommen erscheinen ließ.

Mein Vater fauchte wieder. Er versuchte sich auf die Beine zu arbeiten, doch zwei der Wächter hielten ihn erbarmungslos unten.

„Weißt du was ich überhaupt nicht mag?“, fragte mich die Gräfin mit tödlich ruhiger Stimme.

Mein Blick flitzte zurück zu ihr. Um ihren Mund hatte ein unzufriedener Zug Einzug erhalten und in ihren Augen stand stumme Wut.

„Ich mag es nicht angelogen zu werden.“

Meine Augen wurden kaum merklich größer, doch sie registrierte es. Unsere Lüge war enttarnt und nichts konnte daran noch etwas ändern.

„Einer meiner Männer hat sich die Computer der Themis angesehen und stellt euch vor, niemand hat dort nach irgendwelchen Adressen gesucht, die einen möglichen Aufenthaltsort von Cayenne beherbergen könnten.“

Ich konnte es mir gerade noch so verkneifen einen hilfesuchenden Blick zu Cio zu werfen. Meine Gedanken rasten. Ich brauchte dringend eine gute Ausrede, die das alles erklären konnte. „Wir kamen gar nicht dazu“, rutschte es mir über die Lippen, ohne dass ich näher darüber nachgedacht hatte. „Ihre Männer haben uns überrascht, bevor …“

Die klatschende Ohrfeige brachte mich nicht nur zum verstummen, sondern ließ meinen Kopf gleich noch herumwirbeln. Ich keuchte bei dem Schmerz auf, vernahm Cios Knurren und das Fauchen meines Vaters, als er sich erneut gegen seine Wärter stemmte.

„Dronex“, sagte die Gräfin. „Was ist das für ein Programm?“

Ich öffnete den Mund, nur um ihn gleich wieder zu schließen. Das konnte ich ihr nicht sagen, dann wäre auch unsere letzte Hoffnung dahin.

„Du willst nicht sprechen?“

Ich wagte es nicht mich zu bewegen, schaffte es aber nicht ihrem blick stand zu halten.

„Nun gut, dann soll es eben so sein.“ Ihr letztes Wort klang mir noch in den Ohren, da schnipste sie bereits wieder mit den Fingern. Noch in derselben Sekunde brüllte mein Vater vor Schmerz auf.

Erschrocken riss ich den Kopf herum, nur um meinen Vater zusammengekrümmt auf dem Boden zu finden. Er hatte die Augen zusammengekniffen und schien Probleme mit dem Atmen zu haben. Was hatten sie mit ihm gemacht?

„Für das was nun geschieht, sind du und deine Lügen verantwortlich.“

Meine Augen weiteten sich ungläubig, als der Wächter meinen Vater mit einem gezielten Tritt in die Seite auf den Bauch beförderte und ein Zweiter dann vortrat. In seiner Hand befand sich eine Lederpeitsche, die er geübt einmal im Kreis schlug, damit sie sich zu ihrer vollen Länge entrollen konnte.

„Nein“, hauchte ich, als Papa sich langsam auf die Knie arbeitete. Er konnte nicht sehen, was sich in seinem Rücken abspielte, wusste nicht, was ihm bevorstand. Doch ich wusste es. „Bitte“, flehte ich die Gräfin an. Meine Stimme war so leise, dass ich sie selber kaum hören konnte. „Bitte tun sie das nicht.“

Meine Tränen und mein Flehen berührte sie nicht. Sie hielt es nicht mal für nötig mich anzusehen, als die folgenden Worte ihren Mund verließen. „Niemand lügt mich ungestraft an.“

Der Wächter hob den Arm.

„Nein!“ In diesem Schrei steckte meine gesamte Angst, meine Panik, doch es brachte nichts. Die Peitsche sauste nieder. Ich würde wohl mein ganzes Leben lang niemals den Klang von einer Peitsche vergessen, die auf blankes Fleisch traf. Und auch nicht das Geräusch, das mein Vater von sich gab, als er unter dem Hieb wieder nach vorne sackte. Die Augen zusammengekniffen spiegelten sich die Schmerzen in seinem Gesicht wieder.

Der zweite Schlag ließ mich schreien, als sei ich es, die dort unter den Hieben litt.

Ein feiner Schweißfilm trat auf seine Haut. Dunkle Striemen erschienen unter der Wucht der nächsten Schläge auf seinem Rücken.

Ich wehrte mich gegen meinen Wächter, schrie zusammen mit meinem Vater, versuchte sogar ihn zu beißen, um loszukommen, während weitere Hiebe der Peitsche auf ihn niedersausten. Und dann platze die Haut auf.

Der plötzliche Geruch des Blutes in der Luft war wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Ich konnte nicht mehr hinsehen, kniff die Augen zusammen und wandte das Gesicht ab, während Schluchzer mich schüttelten und Tränen unaufhaltsam meine Wangen benetzten. Doch das machte es nicht besser. Die Geräusche drangen trotzdem noch an meine Ohren, erzählten eine Geschichte, die so grausam war, dass sie aus dem Mittelalter zu stammen schien. Genau wie das Werkzeug, das sie dort benutzen.

Schlag.

Schlag.

Schlag.

Ich wusste nicht wie oft mein Vater die Peitsche bereits zu spüren bekommen hatte, als Gräfin Xaverine endlich die erlösenden Worte aussprach. „Ich denke das genügt fürs erster. Danke.“

Die Geräusche des Martyriums verklangen und der Griff an meinem Arm, das Einzige, was mich die ganze Zeit auf den Beinen gehalten hatte, verschwand. Ich sackte kraftlos in mich zusammen und konnte nichts anderes tun, als durch meinen Tränenschleier zu meinem Vater zu blicken.

Er lag halb auf der Seite, die Hände noch immer durch Schellen auf den Rücken gebunden. Unter jedem Atemzug hob und senkte sein Brustkorb sich angestrengt. Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht. Doch das schlimmste waren die Striemen und aufgeplatzten Wunden, die Schultern, Oberarme und den Rücken verschandelten. Ein paar der Wunden begannen sich dank seiner Vampirfähigkeiten bereits zu schließen, doch ohne Blut wurde es trotzdem nur langsam heilen und die Schmerzen nahm es ihm auch nicht.

Und trotz alledem waren die Augen meines Vaters geöffnet und zeigten eine Klarheit und ein Verständnis, dass er seit dem Tag seiner Entführung nicht mehr gehabt hatte. Die Betäubung der letzten Tage und Wochen war völlig verflogen. „Irgendwann“, sagte er mit rauer, schwacher Reibeisenstimme. „Irgendwann werdet ihr für all das bezahlen.“

Ich schlug die Hand vor den Mund, als sich der Blick der Gräfin verfinsterte. „Bitte“, flehte ich sie an. „Bitte tut ihm nicht mehr weh.“

„Wirst du mir sagen was ich wissen will?“

„Alles“, schluchzte ich. Wenn sie meinen Vater nur nicht mehr foltern ließ, würde ich ihr alles erzählen was ich wusste.

Ein fast unscheinbares Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Wo versteckt sich Cayenne?“

Natürlich wollte sie das wissen.

Mein Mund öffnete sich, als ich zu meinem Vater sah, der meinen Blick ruhig erwiderte. So geschunden, so verletzt und trotzdem noch so stark. Es tat mir in der Seele weh, aber ich konnte eine praktisch Fremde nicht über den Mann stellen, der mich so liebevoll großgezogen hatte und immer für mich da gewesen war, wenn ich ihn wirklich brauchte. Auch nicht, wenn die praktisch Fremde die Frau war, die mir das Leben geschenkt hatte. „Cayenne ist …“

„Nein!“, brüllte Cio da. „Sag es ihr nicht, sie wird …“ Ein dumpfer Schlag ließ ihn aufstöhnen.

Ich schloss die Augen, als sich ein neuer Schwall Tränen einen Weg nach draußen bahnte. „Neuss“, sagte ich und konnte es selber kaum glauben, dass ich es wirklich fertigbrachte sie und auch all die anderen dort zu verraten. Alina ist da, schrie mein Gewissen. Und Kasper. Ein weiteres Schluchzen entrang sich mir. Ich wusste das. Ich wusste genau, was ich mit meinem Verrat anrichten würde, aber ich konnte einfach nicht mehr und wollte, dass das ganze endlich ein Ende hatte.

„Wo genau?“, fragte die Gräfin. Ein gieriger Glanz hatte sich in ihren Augen breit gemacht.

„Sag es ihr nicht!“, brüllte Cio wieder.

Es tut mir leid Cayenne. „Bei den Simultanen. Das Gracia-Rudel von Ayko. Ein Bauernhof, der am …“ Ich schluckte die Tränen herunter.

„Sprich weiter“, forderte Gräfin Xaverine mich begierig auf.

„Verdammt!“, fluchte Cio. Ich konnte sein enttäuschtes Gesicht geradezu vor mir sehen, als ich in einem geschlagenen Tonfall die Adresse von Ayko nannte und sie zusätzlich über die Anlage aufklärte, soweit ich darüber Bescheid wusste.

„Also in diesem Rattenloch hat sie sich verkrochen. Nicht wirklich überraschend.“ Sie drehte sich zu zu dem Typ mit der Waffe herum. „Estevan, stell ein Team zusammen, das sich noch in dieser Stunde auf den Weg macht.“ Ihre Augen wirkten so kalt und begierig, dass sie der Teufel selber sein konnte. „Dieses Mal wird sie uns nicht wieder entkommen.“

„Ich werde das Team begleiten“, erklärte er mit einer leichten Verbeugung.

Das darauf folgende Schnipsten veranlasste zwei der Wächter dazu, meinen Vater grob auf die Beine zu zerren. Dabei war es ihnen egal, dass sie ihm zusätzliche Schmerzen bereiteten und er Schwierigkeiten hatte sich aufrecht zu halten.

„Nein, bitte, tun Sie ihm nichts mehr!“, schrie ich. „Ich schwöre dass ich die Wahrheit gesagt habe. Cayenne ist bei Ayko!“

„Das hoffe ich für dich“, erwiderte Xaverine kalt. „Denn solltest du mich noch einmal belügen, wird dein Vater nicht so glimpflich davon kommen.“

Glimpflich? Vielleicht sollte sie mal ausgepeitscht werden, dann würde sie sicher nicht mehr so reden! „Sie war da als wir gegangen sind. In Neuss auf dem …“ Ich biss mir auf die Lippen, als mir klar wurde, dass sich dieser Zustand in der Zwischenzeit geändert haben könnte. Als wir gegangen waren, war das Rudel im Begriff gewesen das Gehöft zu verlassen. Ayko war mit den Vorbereitungen dafür beschäftigt gewesen und Cayenne würde sicherlich nicht alleine zurück bleiben.

Was wenn sie nun wirklich nicht mehr dort war? Wenn sie sich bereits alle in Sicherheit gebracht hatten?

Die Gräfin kniff die Augen leicht zusammen. „Was?“

Die Tür knallte laut gegen die Wand, als mein Vater den einen Wächter mit der Schulter frontal dagegen rammte. Als Papa ihm dann auch noch eine harte Kopfnuss verpasste, knackte es laut und der Mann stöhnte gequält auf. Ein Schwall Blut schoss ihm aus der gebrochenen Nase und so wie er sich das Gesicht hielt, hatte das sicher saumäßig wehgetan. Doch in dem Moment, als er seine Fänge in das Fleisch bohren wollte, riss der andere Wächter in mit einem Griff in die Haare ruckartig zurück, was meinen Vater laut fauchen ließ.

Vielleicht musste er in diesem Moment unmenschliche Schmerzen ertragen, doch das erste Mal seit Wochen war er wieder klar im Kopf und sein Kampfwille zurückgekehrt.

„Bringt ihn endlich hinaus!“, befahl die Gräfin mit vor Wut bebender Stimme. Diese kleine Störung gefiel ihr so gar nicht. Doch so einfach wie sie sich das vorstellte, wollte es nicht gelingen. Ich wusste nicht was der Auslöser war, doch mein Vater war rasend vor Zorn und nicht mal das Eingreifen dreier weiterer Wächter konnte ihm aus dem Zimmer befördern.

Trotz seiner zahlreichen Verletzungen schien er keine Schmerzen zu spüren. Er war wie von Sinnen und entwand sich trotz seiner gefesselten Hände und ihrer überlegenden Kraft den Griffen der Wächter. Es war seine Schnelligkeit, die ihm dabei zugutekam. Doch mit dem was dann passierte, hatte ich nicht gerechnet. Es geschah so ungestüm, dass er damit jeden im Raum überraschte. Eben stand er noch halb im Türrahmen und rangelte mit den Wächtern und im nächsten duckte er sich unter den Griffen seiner Angreifer hinweg und stürzte sich direkt auf die Gräfin. Diese war so perplex, dass sie nur noch die Arme schützend hochreißen konnte, als er sie auch schon rammte und sie mit sich zu Boden riss. Noch in der gleichen Sekunde versenkte er seine Fänge tief ihn ihrer Kehle, was ihren überraschten Schrei zu einem panischen Röcheln werden ließ.

Da tönte der Schuss durch das Zimmer.

Die Zeit schien sich zu verlangsamen. Ich sah wie mein Vater zuckte, die Augen aufriss und dann einfach zur Seite kippte, während die Gräfin sich panisch an den Hals griff, um den Blutfluss zu stoppen. Estevan stürmte vor, auf die Gräfin zu. Im gleichen Moment gab es hinter mir einen dumpfen Aufschlag und dann wurde ich am Arm gepackt.

Jemand zerrte mich auf die Beine, doch ich stieß ihn weg, ohne zu bemerken, dass es Cio war. Ich musste zu meinem Vater, der Bewegungslos auf der Seite lag, während langsam Blut aus einer Wunde an seiner Schläfe sickerte, aber da wurde ich einfach nach hinten gezerrt.

„Papa!“, schrie ich panisch und wehrte mich nach Leibeskräften. Da war so viel Blut. Estevan hatte ihn in den Kopf geschossen. Ich konnte es kaum glauben, obwohl ich es direkt vor mir sah.

Cio riss mich wieder zurück, als ich zu meinem Vater wollte. Ich verstand nicht warum, sah die Wächter nicht, die auf uns zustürmten. Ich hatte nur Augen für meinen Papa und das Blut, das unaufhaltsam aus der Wunde quoll.

Regungslos.

Tot.

Estevan hatte ihn getötet.

Jemand rief dass man schnell einen Arzt für die Gräfin holen müsste. Ein anderer rannte los um Verstärkung zu holen und König Cerberus eiligst über diesen Zwischenfall aufzuklären.

Ich bekam das gar nicht mit, bemerkte nicht wie Cio mich hinter sich schob, sah nur meinen Vater und Estevan, der sich ihm nun zuwandte. Die Waffe zielte dabei auf den Mann, der mich mein ganzes Leben lang beschützt hatte.

Ich begriff nicht was ich da sah, verstand nicht, dass jemand der bereits tot war nicht noch einmal erschossen werden musste. Da waren nur die geschlossenen Augen meines Vaters und das Blut, das langsam an seiner Schläfe entlang auf den Boden tropfte.

Tropf.

Tropf.

Tropf.

Ich bekam keine Luft mehr, etwas drückte mir die Brust zusammen. Dieser Schmerz. Es tat so weh und noch bevor ich verstand, was da mit mir geschah, spürte ich den Sog, der mich mit Gewalt in die Gestalt eines Wolfes zwang. Noch nie in meinem Leben hatte mir die Verwandlung ein Leid zugefügt, doch dieses Mal spürte ich so unglaublichen Schmerz, dass ich darunter fast zusammenbrach. Das Leid reichte bis in meine Seele.

Meine Kleidung hielt dem Druck nicht stand, riss und zerrte an mir, während der Schmerz meine Sinne unterjochte und ich nichts außer ihm mehr wahr nahm. Ich fiel nach vorne, kam mit den Pfoten auf und hatte dennoch das Gefühl immer weiter zu fallen. Hinab in einen tiefen, dunkeln Abgrund, aus dem es kein Entkommen gab.

Jemand rief meinen Namen, doch das einzige was ich sah war Estevan, der mit seiner Waffe auf meinen Vater zielte. Das konnte ich nicht zulassen, dieser Leib durfte nicht noch mehr zerstört werden.

Plötzlich war da diese rasende Wut, die alle meine Sinne benebelte. Mein Hirn war taub, ließ keinen klaren Gedanken mehr zu. Und dann stürzte ich mich in diesem heillosen Durcheinander auf den Mann mit den eiskalten Augen. Ich hörte einen Knall, spürte einen stechenden Schmerz an der Schulter, dann krachte ich auch schon in ihn rein und knallte mit ihm zu Boden.

Ein Schrei drang an mein Ohr, ein unmenschliches Geräusch in Todesqualen. Ein zweiter. Jemand rief nach mir, jemand rief nach Hilfe und jemand rief nach dem König. Ich schmeckte Blut auf meiner Zunge, spürte zwischen meinen Zähnen rohes Fleisch und brechende Knochen.

Ein Knall, jemand schoss, noch ein Knall.

Ich bekam es kaum mit. Das einzige was zählte war Estevan und die Gefahr, die er für meinen Vater darstellte. Es war allein der Instinkt der mich leitete. Nie in meinem Leben war ich so sehr Wolf wie in diesem Moment gewesen, als alles in mir mich dazu trieb die Gefahr zu beseitigen.

Plötzlich rief Cio nach mir. Ein dumpfer Schlag und ein Aufstöhnen begleitete die letzte Silbe meines Namens. Es war der Klang, der dafür sorgte, dass ich von meinem Opfer abließ, dieser panische Ton. Hastig wirbelte ich herum, gerade noch rechtzeitig um den Knüppel zu erblicken, der unbarmherzig auf mich niedersauste. Doch zum Ausweichen war es bereits zu Spät. Er traf mich mit solcher Wucht am Kopf, dass ein ganzes Universum vor meinem inneren Auge explodierte. Nur einen Moment, dann streckte die alles umfassende Dunkelheit ihre Klauen nach mir aus und riss mich hinab ins Nichts.

 

°°°

 

Es war das Gefühl von Händen an meinem Kopf und den daraus resultierenden Schmerz, der mich langsam zurück ins Reich der Lebenden holte. Ich spürte etwas Weiches unter mir. Matratze, Decken, Kissen.

Ein Bett.

Um zu dieser Erkenntnis zu kommen, brauchte ich eine gefühlte Ewigkeit. Meine Gedanken waren wie Sirup, dick und zähflüssig. Und mein Kopf tat mir fürchterlich weh. Ich hatte das Gefühl, von einem LKW angefahren worden zu sein. Nicht das ich wirklich wüsste, wie sich das anfühlte, ich stellte es mir eben nur genauso vor.

Für einen kurzen Moment verschwanden die Finger von meinen Schläfen. Wasser plätscherte und als sie dann zurückkehrten, lief mir etwas Kaltes über die Wange. Es tat gut und schmerzte zugleich. Ich regte mich darunter. Nur eine kleine Bewegung.

„Schhh, ganz ruhig.“

Cio? Vorsichtig versuchte ich meine Augen zu öffnen, doch sie waren so schwer wie Blei und wollten sich auch mit viel Anstrengung nicht anheben lassen.

Sanfte Finger strichen mir eine verirrte Strähne aus der Stirn.

„Ganz ruhig, Schäfchen, ich passe auf dich auf.“

Wie ein Hauch schwebten die Worte an meine Ohren. Ich ergab mich ihnen, ergab mich dem Glauben an Cio.

„Alles wird wieder gut“, hörte ich ihn noch aus weiter Ferne, dann glitt ich zurück in die Dunkelheit, in der Schmerz keinen Zutritt hatte.

 

°°°

 

Es war ein lautes Scheppern, gefolgt von einem derben Fluch, der mich ruckartig die Augen aufschlagen ließ.

Cio hockte neben dem Bett. Etwas plätscherte und mir wurde klar, dass er eine Schüssel mit Wasser runter geschmissen hatte. Mit dem Lappen versuchte er dem Malheur zu Leibe zu rücken, um Schüssel, Lappen und das nun dreckige Wasser zurück auf den wackligen Nachttisch zu stellen. Er bemerkte nicht, dass ich ihn dabei beobachtete.

Meine Stirn schlug leichte Falten. Dieser Nachtisch … war das nicht ein Nachtschränkchen gewesen? Und die Farbe an der Wand … ich konnte mich absolut nicht dran erinnern, dass sie weiß gewesen war.

„Cio“, sagte ich leise und wunderte mich darüber, wie rau meine Stimme klang. Das Kratzen in meiner trocknenden Kehle war unangenehm.

Sofort schaute er er auf und etwas wie Erleichterung zeigte sich in seinem Gesicht. „Hey“, sagte er und ließ sich neben mir auf der Bettkante nieder. Dabei glitt sein prüfender Blick über mein Gesicht. „Wie geht es dir?“

Das Runzeln auf meiner Stirn wurde tiefer. „Wie es mir geht?“

„Deinem Kopf meine ich.“ Er tippte sich an den selbigen. „Du hast fast einen Tag geschlafen.

Hörte ich da einen besorgten Unterton aus seiner Stimme? Moment, was hatte er gesagt? „Aber …“ Mein Blick fiel auf seinen Oberarm. Dick einbandagiert, mit einem Verband, der nicht mehr ganz frisch aussah. Ich fuhr hoch, im Begriff danach zu greifen, verharrte dann aber wenige Zentimeter davor. Ich wollte ihm schließlich nicht wehtun. „Was ist passiert?“ Warum waren wir jetzt in einem anderen Zimmer? Das war eindeutig nicht der Raum, in den man uns die letzten Tage gesperrt hatte. Und warum zum Teufel steckte ich plötzlich in einem Bademantel? Ich konnte mich nicht daran erinnern ihn angezogen zu haben, noch wie ich damit ins Bett gekommen war.

„Einer der Wächter hat auf mich geschossen und ich konnte nicht schnell genug ausweichen. Und leider habe ich nicht so gutes Heilfleisch wie du.“ Sein Blick war bei diesen Worten einen Moment auf den Verband gerichtet, bis er ihn mir zuwandte und die Stirn leicht in Falten legte. „Erinnerst du dich denn nicht mehr?“

„Erinnern?“ Woran sollte ich mich erinnern?

Sein Mund nahm einen angespannten Zug an, der mir so gar nicht gefallen wollte. Er rieb sich nervös über den Mund, wich einen Moment meinem Blick aus, bevor er sich fahrig über die Lippen leckte. „Zaira, wir … woran … was ist das letzte woran du dich erinnern kannst?“

Um das herauszufinden, musste ich tief in meinem Gedächtnis graben. Das war … seltsam. Ich runzelte die Stirn, dachte angestrengt nach. Ich wusste noch wie wir uns mit Fujo unterhalten hatten, dann schlafen gegangen waren. Auch das Aufwachen war mir im Gedächtnis geblieben und die Erinnerung daran trieb mich dazu, das Gesicht abzuwenden, aber nur bis zu dem Augenblick, als darauf folgenden Ereignisse wie aus endloser Tiefe langsam an die Oberfläche empor stiegen. Es war als würde der Nebel sich lichten und plötzlich sah ich wieder alles klar und deutlich vor meinem inneren Auge. Die Gräfin, die Folter. Ich sah mich selber, wie ich Cayennes Aufenthaltsort ausplauderte, wie mein Vater plötzlich die Wächter angriff und dann über die Gräfin herfiel. Aber wirklich klar leuchtete nur ein Moment in meinen Erinnerungen auf. „Papa ist tot“, hauchte ich und schlug dann die Hände vor den Mund, als mir die Bedeutung dessen wirklich klar wurde. Die blutende Wunde an seinem Kopf. Er war einfach zur Seite gekippt. „Er hat meinen Vater erschossen.“

„Hey, nein.“ Cio rückte näher und schloss die Arme um mich, als die Tränen sich unaufhaltsam ihren Weg bahnten. „Dein Vater ist nicht tot. Es war nur ein Streifschuss. Hörst du? Er lebt. Cerberus hat ihn zurück in seine Zelle bringen lassen, bevor die Wächter uns hier eingesperrt haben.“

Seine Worte drangen nur langsam an mich heran. „Er lebt?“, fragte ich leise und wagte kaum zu hoffen.

„Ja. Es geht ihm … naja, den Umständen entsprechend, aber ja, er lebt.“

Hieß das, er hatte noch gelebt, als er weggebracht wurde, oder das er jetzt in diesem Augenblick noch lebte?

„Hey, nicht weinen. Es ist gut, hörst du? Alles wird wieder gut.“

Ich lachte auf. Ein grässliches Geräusch, dem nichts Amüsantes anhaftete. „Alles wird wieder gut? Wie bitte soll dann irgendetwas wieder gut werden?“ Ich löste mich aus seinen Armen, nahm Abstand von ihm und schlag die Arme um mich selber. Die Tränen ließ ich einfach laufen. Ich konnte sie sowieso nicht daran hindern. „Wir sind hier gefangen, meine Eltern sind hier gefangen und ich habe … ich habe …“ Ich schluchzte auf. Oh Gott, ich hatte Cayenne verraten und damit auch alle die bei ihr waren. Wenn sie Aykos Gehöft nun noch nicht verlassen hatten? Und was wenn doch? Egal wie man es drehte oder wendete, nichts würde wieder gut werden.

„Schäfchen.“ Cio streckte die Hand aus, wollte mir eine Träne von der Wange wischen, doch ich stieg einfach aus dem Bett, um dem zu entgehen. Er sollte mich nicht anfassen. Ich wollte nie wieder so eine Zurückweisung von ihm bekommen, wie in dem Moment, als er sich einfach im Bad eingeschlossen hatte.

„Gar nichts wird wieder gut“, flüsterte ich. „Ich hab alles falsch gemacht.“

„Das ist doch nicht deine Schuld!“, protestierte er und erhob sich vom Bett. „Wenn überhaupt, dann ist diese Schnepfe von Xaverine an allem schuld.“

Oh Gott, die Gräfin. „Mein Vater hat sie … ist sie …“

„Tot?“, er lachte abgehackt. „Nein, leider nicht, aber es ist zweifelhaft, dass sie die nächsten Tage überleben wird.“

Aus weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an. „Nein.“ Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Wenn sie starb … oh Gott, was würde Cerberus dann tun? Mein Vater hätte sie auf dem Gewissen. Ich wollte mir gar nicht vorstellen was der möchtegern König tun würde, wenn seine Mutter durch Papas Schuld starb. „Bitte nein.“

„Hey, Zaira, es wird …“

„Erzähl mir nicht dass alles wieder gut wird!“, schrie ich ihn an. Meine ganze Verzweiflung lag in diesem Worten. „Er wird ihn töten! Wenn sie stirb, wird Cerberus meinen Vater töten!“ Und das alles konnte nur passieren, weil ich unbedingt meine Erzeugerin hatte kennenlernen wollen.

Cio drückte die Lippen aufeinander. Er wusste genauso gut wie ich, dass ich recht hatte. „Es ist nicht deine Schuld“, wiederholte er nur die Worte, die ich schon so oft von ihm gehört hatte.

„Hör auf das immer wieder zu sagen“, weinte ich. „Ich will das nicht mehr hören.“ Denn ich wusste ganz genau, dass es nicht stimmte. Alles was meinen Eltern geschehen war, hatte ich zu verantworten. Im Moment lebte mein Vater vielleicht noch, aber das war nur noch eine Frage der Zeit. Was mit meiner Mutter war, wusste ich überhaupt nicht. Fujo hatte behauptet, dass sie auch hier sei, aber ich hatte sie weder gesehen, noch von ihr gehört und jetzt hatte ich auch noch Cayenne und ihre ganze Familie ins Unglück gestürzt, weil ich meinen Vater vor etwas retten wollte, vor dem es scheinbar keine Rettung gab.

Alles war so unglaublich schief gelaufen und wurde mit jedem verstreichenden Moment nur noch schlimmer. Was hatte ich nur verbrochen, um das alles zu verdienen? Warum musste ich über jeden der mir nahe stand so viel Unheil bringen?

„Schäfchen“, seufzte Cio und streckte den Arm nach mir aus, doch ich wich sofort einen Schritt zurück.

„Fass mich nicht an“, hauchte ich. Seine falschen Berührungen würde ich jetzt nicht auch noch ertragen, ohne darunter zu zerbrechen. Er hatte mehr als deutlich klargestellt, dass meine Gefühle nur einseitig waren. Ihn jetzt nahe bei mir zu wissen, konnte ich einfach nicht ertragen.

Cio drückte die Lippen zusammen. „Ich hasse es, wenn du das machst.“

Umso besser, dann würde er mir in Zukunft vielleicht fern bleiben. Allein dieser Gedanke ließ mich aufschluchzen, aber was sollte ich den tun? Er liebte mich nicht. Deutlicher hätte er es mir nicht zeigen können. Aber ich konnte auch nicht so tun, als hätte ich eine Chance auf … irgendwas. Es war vorbei und für Träumereien gab es keinen Platz mehr. „Du wirst dich wohl dran gewöhnen müssen“, flüsterte ich mit erstickter Stimme und wischte mir so gut es ging die Tränen aus dem Gesicht.

Cio kniff die Augen leicht zusammen. „Was meinst du damit?“

„Genau das was ich sage.“ Ich wandte ich von ihm ab und schritt zu dem Fenster, hinter dem die aufkommende Morgendämmerung den Himmel blutrot färbte.

Hinter mir gab Cio einen unwilligen Laut von sich. „Verdammt, was soll das jetzt?“, wünschte er zu erfahren. „Ja gut, ich weiß dass es nicht gerade eine tolle Aktion war, einfach ins Badezimmer abzuhauen, aber das heißt doch noch lange nicht …“

„Was?“ Ich wirbelte zu ihm herum. „Was heißt es nicht? Das wir nicht weiter miteinander rummachen können? Dass ich mich jetzt so albern haben muss, weil wir sowieso schon Sex hatten? Das es völlig scheiß egal ist, dass das letzte bisschen was von mir existiert nach und nach zerbrechen wird, wenn ich nicht endlich die Notbremse ziehe?“ Bei den letzten Worten brach mir die Stimmer weg. „Ich bin nicht dein Trostpflaster, mit dem du dir über dein gebrochenes Herz hinweghelfen kannst“, flüsterte ich. „Sowas wie heute Morgen will ich kein weiteres Mal erleben. Nur weil das mit Iesha …“ Ich schloss den Mund und schluckte die Worte auf meiner Zunge wieder herunter.

„Iesha?“, fragte Cio lauernd. „Warum bitte bringst du sie jetzt wieder zur Sprache?“

„Tu doch nicht so!“, fuhr ich ihn an. „Bei euch kreiselt es und schon wendetest du dich mir zu! Glaubst du wirklich, ich bin so erbärmlich, dass ich mich nur mit diesem bisschen zufriedengeben könnte? Glaubst du wirklich es würde mir nichts ausmachen? Mit ihr ist es vorbei und dann kannst du zur nächsten übergehen, oder was? Ich bin nicht …“ Ich verstummte, als Cio zwei wütende Schritte auf mich zukam und direkt vor mir stehen blieb.

„Jetzt pass mal ganz genau auf. Das hier ist eine Sache allein zwischen dir und mir, mit der Iesha überhaupt nichts zu tun hat. Zwischen mir und Iesha war es schon lange nicht mehr das was es sein sollte und das weißt du. Außerdem waren wir bereits miteinander im Bett, bevor das mit Iesha zu Ende war.“

„Was mich nur zu einer weiteren dieser Weiber macht, mit denen du sie betrogen hast.“

Er schnaubte und trat einen Schritt zurück. „Rede dir diesen Schwachsinn nur weiter ein, wenn du dich dann besser fühlst, aber glaub nicht dass ich da mitspiele.“

„Ich rede mir das nicht ein.“

„Doch, genau das tust du. Du hast Angst und deswegen …“

„Natürlich habe ich Angst!“, fuhr ich ihn an. „Ist dir eigentlich klar, in was für einer Situation wir uns befinden? Was alles passiert ist und noch passieren kann? Wie bitte sollte ich da keine Angst haben?!“

„Du weißt genau, dass ich das nicht gemeint habe, aber bitte, wenn du dich dann besser fühlst, dann leugne nur weiter. Such dir immer mehr Ausreden, die dir helfen dich von mir fernzuhalten, nur weil du der Wahrheit nicht in die Augen sehen kannst.“

Seine Worte machten mich so wütend, dass ich ihm am liebsten eine Ohrfeige verpasst hätte. „Ich kenne die Wahrheit nicht nur besser als du, sondern auch schon viel länger“, zischte ich ihn an. „Der Einzige der hier leugnet bist du, weil du nicht zugeben kannst, dass ich recht habe.“ Ich wandte mich wieder zum Fenster um und starte durch das Glas hinunter in den Vorhof, der heute so viel düsterer wirkte, als ich es in Erinnerung hatte.

„Rede dir diesen ganzen Scheiß nur weiter ein“, knurrte Cio verärgert, kehrte mir den Rücken und warf sich wütend ins Bett.

Ich zuckte bei dem Geräusch zusammen und verbot mir erneut mit dem weinen anzufangen. Leider konnte ich es aber nicht verhindern, dass sich eine einzelne Tränen ihren Weg über meine Wange bahnte.

 

°°°

 

Der Himmel war so klar, dass die Stern ein ihrer ganzen Pracht zu uns hinunter strahlen konnten, doch der Mond war nur ein trübes Abbild seiner selbst, das die Nacht noch finster erscheinen ließ, als sie bereits war.

Über den Wäldern die den Hof umschlossen schwebte eine dicke Nebelschicht, die sich wie ein eigenes Lebewesen zwischen den Stämmen des Waldes bewegte und langsam auf das Schloss zu kroch, um es in all seiner Pracht zu verschlingen.

Ich schnaubte über meine eigenen Gedanken und lauschte dem ruhigen Atem von Cio. Seit unserem Streit hatten wir kein Wort mehr miteinander gewechselt. Ich war so müde.

Es war schon weit nach Mitternacht. Wenn ich mich nicht täuschte, war heute Montag. Das bedeutete, dass wir bereits seit drei Tagen Gefangene dieser Mauern waren.

Ich saß mit angezogenen Beinen vor dem Fenster. Mein Blick galt dem Vorhof des Schlosses, der im Moment nur wenig Leben beherbergte. Die meisten Lykaner schliefen um diese Zeit, doch ich konnte nicht. Es war Stunden her, dass ich mich hier niedergelassen hatte und durch das Glas hinaus ins Freie starrte – mein Hintern war vom langen Sitzen bereits taub. Aber ich konnte meinen Platz nicht verlassen.

Wenn ich mich umdrehte, dann würde ich Cio sehen und das wollte ich nicht. Ich wollte nicht mehr über unseren Streit nachdenken, über all das, was in der letzten Zeit schiefgelaufen war, über die Vorwürfe und Anschuldigungen. Ich wollte das alles nur vergessen. Leider ließen mich meine Gedanken einfach nicht in Ruhe. Zwischendurch hatte ich sogar leise vor mich hingesungen, um meinen Kopf zu zwingen, sich mit etwas anderem zu beschäftigen, während ich dabei zugesehen hatte, wie die Dämmerung der Nacht gewichen war. Doch auch mein Lied war verstummt und nun blieb mir wieder nichts anderes, als das Karussell in meinem Kopf, das sich endlos drehte und immer und immer wieder die gleichen Probleme wälzte, ohne der Lösung auch nur einen Schritt näher zu kommen.

Seufzend lehnte ich meinen Kopf gegen die Wand und beobachtete unten im Hof die Wächter, die dort draußen patrouillierten, als erwarteten sie eine Gefahr aus der Dunkelheit auftauchen.

Zwei Mal war jemand aufgetaucht, um uns Essen zu bringen, aber keiner hatte mir gesagt, was mit meinen Eltern war, oder wie es um die Gräfin stand. Ich wusste auch nicht was sie nun mit mir und Cio vorhatten, oder was mit den Ailuranthropen war. Hatte Fujo mit ihrem Großvater geredet? Glaubte er ihr? Und was war mit Cayenne? Es war gut möglich, dass auch sie bereits gegen ihren Willen ein Gast dieses Hauses war. Schließlich waren seit meinem Verrat fast zwei Tage vergangen. In dieser Zeit konnte viel passieren.

Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen. Diese Grübeleien brachten mich einfach nicht weiter, doch ich konnte einfach nicht aufhören darüber nachzudenken. Es half mir einfach nicht, doch hier eingesperrt zu sein, zum Nichtstun verdammt, ließ mir einfach keine andere Möglichkeit, als alles immer und immer wieder zu durchdenken.

„Du täuscht dich, Schäfchen.“

Bei der leisen Stimme von Cio, drehte ich überrascht den Kopf zum Bett. Er lag auf der Seite, die Füße halb unter der Decke und beobachtete mich. Wie lange schon? Ich hatte geglaubt, er würde schlafen.

„Ich will nicht, dass du so von mir denkst“, sagte er leise.

Dafür war es wohl ein wenig zu spät. Die Beweise sprachen eindeutig gegen ihn. Warum sonst sollte er sich mit mir abgeben, wenn nicht, um Iesha eine auszuwischen? Wortlos wandte ich den Blick wieder aus dem Fenster. Das Problem mit Cio war wohl eines der geringsten die ich hatte, auch wenn es im Moment am meisten schmerzte. Nie wieder wollte ich erleben, wie er mich einfach so fallen ließ. Es tat viel zu weh.

„Sieh mich doch wenigstens an“, bat er mich und warte, dass ich seiner Bitte Folge leistete. Doch das war leider vergebens. Ich konnte es einfach nicht, wollte mich nicht mehr in seinen Augen verlieren, in Schalk, der darin wohnte, oder leicht spöttischen Zug um seinem Mund.

Es tat einfach so weh. Die Erinnerung daran, einfach so liegengelassen zu werden. Es war wie damals mit Kaspers Cousin. Er war auch einfach gegangen. Ohne ein Wort und ohne sich noch einmal umzudrehen. Cio konnte das nicht, was allein daran lag, dass er hier mit mir eingesperrt war. Ansonsten wäre er wohl auch einfach verschwunden.

Ich drückte die Lippen zu einem festen Strich zusammen, als ich daran dachte, was er alles zu mir gesagt hatte. Jedes Wort von ihm, nichts als Lügen. Er hatte das nur gesagt, um sein Gewissen zu erleichtern, um mich nicht zu verletzten, oder zu verärgern, weil ich Cayennes Tochter war.

„Zaira, bitte.“

Nein, ich konnte nicht. Auch wenn es mir schwer fiel dieses flehenden Ton in seiner Stimme und seine bittenden Worte zu ignorieren, ich musste standhaft bleiben, um mich selber zu schützen.

Ich reagierte nicht, als die Decken im Bett raschelten und auch nicht als er seine Beine über die Kante schwang und mit wenigen Schritten durch das Zimmer an meine Seite kam. Mein Blick blieb stur aus dem Fenster gerichtet, als er sich neben mich setzte.

Natürlich spürte ich seinen eindringlichen Blick, doch ich tat so, als würde ich es nicht bemerken und konzentrierte mich einfach auf die beiden Wächter am Tor, die zwischen dem Nebel der langsam über den Boden kroch, leise miteinander sprachen.

„Bitte, sieh mich wieder an. Ich will nicht das es so zwischen uns ist.“

„Es gibt kein zwischen uns“, sagte ich leise. Und wäre ich schlau gewesen, dann hätte ich dafür gesorgt, dass es niemals so etwas gegeben hätte. Viel Leid wäre mir damit erspart geblieben. Aber wie sagte man so schön? Hinterher war man immer schlauer und Erfahrungen prägten das Leben. Aber dies war etwas, auf das ich gut und gerne hätte verzichten können.

Eine zarte Berührung an meinem Arm ließ mich von ihm wegrutschen. Es war mein Ernst gewesen, als ich gesagt hatte, er solle mich nicht mehr anfassen. Das würde es nur noch schwerer für mich machen.

Cio seufzte schwer. „Weißt du, als du diese Frage gestellt hast, das war … ich schwöre dir, das hatte nichts mit Iesha zu tun.“

„Das ist egal.“ Einfach weil ich ihm sowieso nicht glauben konnte. Mein Vertrauen in ihn … es war einfach erschüttert worden.

„Nein, es ist nicht egal.“ Cio rutschte um mich herum, bis er halb vor mir saß. „Das an dem Morgen, das ist nicht einfach aus einer Laune heraus passiert, sondern … okay, ist es doch irgendwie, aber … man, was ich eigentlich sagen will, das ist einfach … Iesha, hat mich auch mal so angesehen und ... ja, okay, ich gebe es zu, ich hab Panik bekommen, weil ich es vorher einfach nicht gemerkt hab. Ich wusste ja, dass du mich magst und dass du eine kleine Schwärmerei für mich hast, aber als du mich so angesehen hast und dann diese Frage … ich hätte nicht gedacht …“ Er sah mich beinahe hilflos, ja fast flehentlich an. „Unterbrich mich ruhig, wenn ich anfange zu schwafeln.“

Ich wandte den Blick von den Wächtern ab, blieb aber weiter still, denn ich konnte ihm nur zustimmen. Das was ich in diesem Moment in seinen Augen gesehen hatte, konnte man wirklich nur als Panik bezeichnen.

Als er diesem Mal seine Hand hob und mich damit vorsichtig, ja fast zögernd am Arm berührte, zuckte ich nicht vor ihm zurück. Ich wusste es war töricht, aber mittlerweile es war auch egal.

„Es tut mir so leid. Wenn ich könnte, würde ich es gerne wieder gut machen.“

„Warum? Es würde doch eh nichts bringen. Geschehen ist geschehen.“ Das hatte ich in den letzten Wochen nur zu deutlich gelernt. Egal was man getan hatte, es ließ sich nicht mehr rückgängig machen – wie sehr man es sich auch wünschte.

Langsam ließ er seine Hand an meinem Arm heruntergleiten und schloss meine Finger dann darin ein. Und auch wenn das Gefühl dabei viel zu willkommen war, erwiderte ich den leichten Druck nicht. „Ich mag dich, Zaira. Mehr als nur ein Freund. Du bist für mich … ich weiß nicht wie ich das beschreiben soll.“ Er drückte kurz die Lippen aufeinander. „Wenn ich dich berühre, oder dich … ich …“ Er seufzte. „Tut mir leid, ich bin einfach nicht gut in sowas. Was ich sagen will … du darfst nicht denken, dass ich das alles nur gemacht habe, weil ich wegen Iesha gefrustet bin, oder sowas. Ich … ich mag dich wirklich und als ich verstanden habe dass es dir genauso geht, dass du …“ Mit der freien Hand raufte er sich nervös durch die Haare. „Es ist einfach …“

„Du liebst mich nicht“, sagte ich leise.

„Ja … nein … ich weiß nicht.“ Er ließ seinen Arm wieder sinken und hinterließ eine völlig zerraufte Frisur.

Einen Moment herrschte Schweigen zwischen uns. Er blickte aus dem Fenster hinunter zu den Wächtern, drückte meine Hand ein wenig fester und richtete den Blick dann wieder auf mich. „Ich weiß nicht genau was es ist. Ich bin einfach gerne mit dir zusammen und ich mag es von dir berührt zu werden. Es ist mit dir so anders, als mit allen Mädels, die ich bisher gekannt habe. Ich hasse es wenn du sauer auf mich bist und wenn du lachst, das ist … das …“ Er seufzte schwer. „Verdammt, ich rede hier schon wieder Bockmist.“

„Nicht mehr als sonst auch.“

Das ließ seinen Mundwinkel leicht zucken. „Ich weiß nicht ob es Liebe ist“, gab er leise zu. „Ich weiß nur, dass ich dich nicht verlieren will. Zu sehen, wie du da bluten auf dem Boden gelegen hast, das war … ich hatte das Gefühl als würde mir ein Stück aus dem Körper gerissen werden.“

Blutend auf dem Boden? Ach, er meinte sicher den Moment, als ich mich auf den Diener mit den kalten Augen gestürzt hatte und anschließend niedergeknüppelt wurde. Meine Schulter tat von dem leichten Streifschuss immer noch weh, auch wenn die Wunde bereits verheilt war. Ich wusste genau was er meinte. Ich hatte mich genauso gefühlt, als mit ansehen musste, wie er niedergeschlagen wurde. Doch ich wusste auch, warum ich so empfunden hatte. Hieß das … hieß das jetzt, er empfand doch mehr für mich, als er zugeben wollte? Ich konnte mich dem kleinen Keim der Hoffnung in meinem Herzen nicht erwehren und verfluchte mich innerlich gleichzeitig dafür. Was hatte es noch für einen Sinn? Ich wusste doch schon lange dass das, was ich mir erträumte, unerreichbar für mich war.

„Ich weiß nichts, außer dass ich dich nicht verlieren will“, flüsterte er kaum hörbar. Seine Hand strich über meinen Arm, über den dicken Stoff des Bademantels hinauf zu meiner Schulter und kam erst wieder an meiner Wange zum Ruhen. „Das musst du mir einfach glauben.“

Ich seufzte leise bei dem Gefühl, konnte mich nicht daran hindern meine Wange in seine Handfläche zu schmiegen und den vertrauten Geruch einzuatmen. Er bedeutete mir so viel. Wie sehr ich seinen Worten doch glauben wollte, doch da waren so viele Zweifel. Ich konnte weder den Moment, in dem er mich einfach im Bett zurück gelassen hatte, noch die Dinge die Iesha über mich gesagt hatte, vergessen. Andererseits war er sofort aus dem Bad gestürmt, als ich geschrien hatte. Wenn ich ihn gebraucht hatte, war er immer zur Stelle gewesen. Warum also war ich so verunsichert?

„Und was erwartest du jetzt von mir?“ Ich konnte jedenfalls nicht so weitermachen wie bisher. Ich wollte alles an ihm, nicht nur einen kleinen Teil.

„Zieh dich nicht wieder von mir zurück“, bat er mich. Er rutschte noch ein wenig herum, bis er direkt vor mir saß und mit seiner zweiten Hand mein Gesicht einrahmte. „Lass uns das was wir haben doch einfach genießen und sehen was daraus wird. Okay?“

Ich schüttelte schon den Kopf, bevor er geendet hatte. „Das kann ich nicht, Cio.“

Als er langsam seine Hände sinken ließ, drückte er die Lippen fest zusammen und senkte den Blick, um die Enttäuschung darin zu verbergen.

Das zu sehen tat mir weh, ich wollte ihn doch nicht verletzten. „Versteh doch“, sagte ich eindringlich. „Das was ich für dich fühle … so wie es ist kann ich einfach nicht weiter machen. Du bist dir deiner Sache vielleicht nicht sicher und auch wenn du nicht von Liebe sprechen willst, oder es für das was du fühlst gar keinen Namen gibt, ich weiß sehr genau was ich empfinde und auch was ich will.“ Und ich wollte keine halben Sachen.

Ich rutschte näher, bis sich unsere Knie berührten. Der Keim der Hoffnung in mir hatte begonnen erste Wurzeln zu schlagen und ich konnte nur hoffen, dass ich sie mir nicht aus dem Herzen gerissen wurden, um es damit zu zerstören. „Du musst dieser Sache keinen Namen geben, aber …“ Ich atmete einmal tief ein, griff nach seiner Hand, als könnte sie mir für die nächsten Worte Halt geben. „Ganz oder gar nicht. Dieses Halbe, das ist … es ist …“ Verflucht noch mal, hatte er mich angesteckt, oder warum fehlten mir plötzlich die Worte? „Was ich sagen will …“ Man, jetzt stotter hier nicht so herum und spuck es einfach aus, er weiß es doch eh schon! „Verdammt, ich liebe dich!“

Cio sah mich an, blinzelte einmal und konnte nicht verhindern, dass sein Mundwinkel ein Stück nach oben wanderte. „Verdammt, ich liebe dich?“

Der machte sich über mich lustig. Mein Blick verfinsterte sich.

Langsam breitete sich auf seinen Lippen ein Grinsen aus. „Das war wohl die beste Liebeserklärung, die jemals ausgesprochen wurde.“

Ich spürte wie meine Wangen heiß wurden und wollte aufstehen, um mich dieser Situation zu entziehen. Das war nicht nur peinlich, das war Zeitverschwendung und obendrein schmerzte mich seine Belustigung über meine Unbeholfenheit. Doch mich ihm zu entziehen war gar nicht so einfach. Kaum dass ich Anstalten machte mich zu bewegen, griff er meine Hand fester und zog mich wieder zu sich runter – näher als zuvor. „Lass das, ich will …“

„Nein.“

Dieses eine Wort hatte so viel Befehlsgewalt, dass ich nicht nur still hielt, sondern ihm auch in die Augen sah, als er seine freie Hand zurück an meine Wange legte.

„Du hast gesagt ganz oder gar nicht. Ich hab nicht den leisesten Schimmer, wohin das alles führen wird, nur weiß ich, dass ich dich unter keinen Umständen verlieren will. Deswegen entscheide ich mich für ganz.“

Ich starre ihn an, blinzelte, brauchte einen Moment, bis seine Worte zu mir durchdrangen. Ganz. Er hatte ganz gewählt. „Wirklich?“ Der unsichere Klang verriet nur zu genau, was in diesem Moment in mir vorging. Doch dieses Mal machte Cio sich nicht darüber lustig. Ein schlichtes „Wirklich“ war alles was er erwiderte. Dann beugte er sich mir ohne das kleinste Zögern entgegen.

Ich konnte seinen Atem spüren, als er meine Lippen mit seinen streifte und meinen Herzschlag damit auf dreifache Geschwindigkeit beschleunigte.

„Ich würde alles tun, um dich nicht zu verlieren“, hauchte er und er Keim der Hoffnung in meinem Herzen erblühte.

Er liebt mich.

Er konnte es nicht sagen, weil er unsicher war, aber er liebte mich. Diese Überzeugung krallte sich mit aller Macht in mir fest, als er vorsichtig, ja fast zögernd meinen Mundwinkel küsste und dann weiter auf meine Lippen wanderte.

Dies hier war sanfter, als alles was wir bisher geteilt hatten. Nur ein vorsichtiges Antasten, das ich intensiver spürte, als alles Bisherige. Es war als würden wir uns neu kennenlernen und müssten austesten wie weit wir gehen konnten. Keine Eroberung, ein sanftes Geben und Nehmen, das uns durch diesen Kuss vereinte.

Meine Sinne erwachten zu neuem Leben, ließen meine Haut aufgeregt und erwartungsvoll kribbeln. Das Spiel unserer Lippen wurde intensiver. Seine Hand wanderte in meinen Nacken, zog mich näher an sich heran und ließ das sanfte Brennen in mir zu neuem Feuer entfachen.

Ich klammerte ich an ihn, als sein Mund über mein Kinn zu meinem Hals wanderte, spürte das Zittern seines Körpers, die Erleichterung, die in Wellen von ihm ausging. Einen Moment hatte er wirklich Angst gehabt mich zu verlieren.

Starke Arme zogen mich auf seinen Schoß, um mir noch näher sein zu können.

Ich schlang meine Arme um seine Schultern, schloss die Augen und neigte meinen Kopf nach hinten. Keine Facette dieses Gefühls würde ich mir entgehen lassen und so konnte ich seine Berührungen, seine Liebkosungen noch intensiver spüren.

Seine Hand glitt zu dem Gürtel, der meinen Bademantel zusammen hielt. Ich spürte wie sich der Knoten lockerte und …

Wir fuhren beide erschrocken auseinander, als plötzlich ein ohrenbetäubendes Schrillen durch die Gänge des Schlosses schallte. Verwirrt sahen wir uns zu allen Seiten um.

„Oh mein Gott“, entfuhr es Cio da. „Das ist der Alarm!“

„Alarm?“

„Das Notfallsignal!“ Aufgeregt schob er mich von sich herunter und rannte Cio zum Fenster. „Das Schloss wird angegriffen!“

Vom Korridor kamen die Geräusche von eiligen Schritten auf. Unzählige Schritte.

„Angegriffen?“ Ich eilte an Cios Seite, gerade als er rief: „Das sind die Themis!“

Ich brauchte einen Moment um zu kapieren, was er damit sagen wollte, doch dann sah ich sie, die Gestalten, die auf den Mauern hin und her huschten. Einer der Wächter wurde dort einfach heruntergestoßen, ein anderer rangelte mit zwei Gegnern gleichzeitig. Ein Schuss peitschte durch die Nacht.

Im Vorhof hatten sich Wächter und Wölfe versammelt, die versuchten das Tor zu sichern. Weit oben von der Brüstung sprang ein breitschultriger Mann mit Glatze. Seine Augen leuchteten unheilverkündend. Ein Vampir! Er warf sich mitten zwischen die Wölfe am Boden.

Ich schlug die Hände vor den Mund. War der wahnsinnig? Gegen so viele Lykaner konnte er doch gar nicht bestehen!

Aber er war nicht der einzige. Andere Vampire folgen seinem Besispiel. Ein paar lenkten die Wölfe und Wächter ab, während die andere in die Wächterkammer eindrangen, um das Tor zu öffnen.

„Da sind noch mehr!“, rief Cio aufgeregt.

Von den Seiten des Schlosses drangen noch weitere Wölfe auf den Hof und griffen direkt die Wächter an. sie mussten wie Cio und ich durch den Wald gekommen sein. Auch ein paar der Wölfe des Hofes wandten sich gegen ihren König und schlossen sich den Themis an.

Und dann sah ich Joel. Mittendrin stand er, mit gesträubtem Fell und gebleckten Zähnen. Dann stürzte er sich auf einen Wächter, der den breitschultrigen Glatzkopf mit dem Gesicht voran gegen die Mauer schlagen wollte. Die beiden gingen in einem wilden Knäuel zwischen all den anderen unter.

Mein Blick blieb auf einem großen brauen Wolf hängen, der quer über den Vorhof zum HQ rannte. Ihm waren drei weitere Wölfe auf den Fersen. „Das ist dein Vater! Cio, da ist dein Vater, er rennt zum HQ!“ Und nicht nur er war dabei. Ich entdeckte auch Genevièv und ein paar der Simultanen aus Aykos Rudel. Sie wurden von einer kleinen, karamellbraunen Wölfin angeführt. Das musste Celine sein.

Der Lärm von unten wurde immer lauter.

Von allen Seiten strömten Wächter in den Vorhof. Es war eine wogende Masse, in der man nicht mehr erkennen konnte, wer denn nun wer war.

Ich hörte ihre Rufe und Schreie, sah mehr als einen Verletzten. Am Tor ging ein Mann zu Boden, als sich zwei Wölfe gleichzeitig auf ihn stürzten. In der Wächterkammer gab es eine Explosion, Rauch quoll in dicken Schwaden nach draußen. Die Geräusche dort unten quälten mich bis hier oben. Sie kämpften. Oh Gott, sie würden sich alle gegenseitig umbringen!

„Wir müssen etwas unternehmen“, flüsterte ich.

„Was?“

„Wir müssen eingreifen. Sie werden sich noch alle gegenseitig töten!“

Cio sah verwirrt zu mir rüber. „Bist du wahnsinnig? Davon mal abgesehen, dass wir immer noch in diesem verfluchten Zimmer eingesperrt sind, werde ich sicher nicht zulassen, dass du dich dazwischen wirfst. Das ist viel zu gefährlich!“

Ich legte meine Hand ans Glas und sah wie die Rangeleien am Tor immer intensiver wurden.

Es gab eine erneute Explosion, dieses Mal vom anderen Ende des Innenhofes und noch bevor sich der Staub um das Geröll verzogen hatte, quollen weitere Themis in den Innenhof. Sie hatten ein Loch in die massive Mauer gesprengt. Wie war das möglich?

„Ein Ablenkungsmanöver“, überlegte Cio laut. „Sie haben so getan, als wollten sie durchs Tor, um sich ein eigenes zu basteln.“

Ich sah ihn ungläubig an. Wie konnte er jetzt über Strategien nachdenken? „Wir müssen hier raus und sie aufhalten!“

„Schäfchen, keiner von denen da unten würde dir auch nur zuhören, wenn du etwas sagst.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, das hier lässt sich nicht mehr aufhalten. Sie werden solange kämpfen, bis es einen Sieger gibt.“

Die Frage war nun, wer das sein würde.

Die Sirene des Schlosses wurde zu einem unbedeutenden Hintergrundgeräusch, während ich beobachten musste, wie die Scharen übereinander herfielen. Unerbittlich, grausam, ohne Chance auf Frieden. Und das alles nur wegen dem Machthunger einer Frau, die vielleicht nicht mal mehr am Leben war.

Und dann sah ich sie, die goldene Wölfin, die durch das Loch in der Mauer sprang und sich auf den nächsten Wolf stürzte, der sich ihr in den Weg stellte.

Cayenne.

Direkt hinter ihr war ein großer blonder Wolf. Aric. Er kämpfte nicht, wich allen Gegnern aus. Sydney, Diego und Umbra Joel kamen herbeigesprungen, um alle von ihm fernzuhalten. Sie ebneten ihrem Prinzen den Weg, damit er zum Schloss kommen konnte. Sie hielten an ihrem Plan fest. Prinz Aric sollte König Cerberus gegenübertreten, um dem Rudel endlich wieder Frieden zu bringen.

„Das schafft er nicht“, flüsterte ich.

„Was?“

„Aric.“ Ich zeigte in dem Getümmel auf ihn. „Er will zum Schloss, aber das wird er nicht schaffen.“

„Doch, wird er.“

„Und dann? Noch mehr Kämpfe?“ Ich sah Cio eindringlich an. „Glaubst du wirklich, dass Aric Cerberus besiegen kann?“

„Aric wurde gut ausgebildet.“

„Aber er will das nicht.“ Und das würde den Unterschied ausmachen. Cerberus wollte König sein, Aric nicht. Er tat das nur, weil es von ihm verlangt wurde, weil das seine Pflicht war und nicht weil er das selber wünschte. Wenn er Cerberus gegenüber stand, würde er verlieren. Vielleicht sogar mehr als nur den Kampf.

„Wir müssen ihn aufhalten.“ Ich wandte mich vom Fenster ab und rannte zur Tür, doch so sehr ich auch daran rüttelte, sie ließ sich nicht öffnen. Abgeschlossen. Natürlich.

„Bist du verrückt? Warum willst du ihn aufhalten?“ Mit langen Schritten kam Cio zu mir und packte mich sehr bestimmt am Arm. „Er kann das alles vielleicht beenden. Er muss gegen König Cerberus antreten.“

„Aber er wird verlieren, verstehst du nicht?“ Ich sah ihn bittend an. „Cio, es ist mein Bruder, ich kann das nicht zulassen. Er wird Cerberus niemals besiegen können.“

„Er kann nicht nur, er wird es auch tun.“

Es war zwecklos mit Cio darüber zu diskutieren. Er wollte dass Aric gewann, wollte dass das alles endlich ein Ende hatte und verschloss sich deswegen vor der Wahrheit. Aber ich konnte das nicht. Vielleicht gehörte Aric noch nicht lange zu meinem Leben, vielleicht kannte ich ihn noch nicht sehr gut, aber ich konnte es trotzdem nicht zulassen, ihn zu verlieren.

Ich wandte mich wieder zur Tür und trommelte mit den Fäusten dagegen. „Hey, ist da jemand? Hallo? Hilfe!“ Ich trommelte so stark gegen das Holz, dass meine Hände davon wehtaten. „Hallo? Lass mich raus!“

Niemand reagierte. Auch keine Wächter, die eigentlich hätten dazu abgestellt sein müssen, uns zu bewachen. Das konnte nur bedeuten, dass sie in der allgemeinen Aufregung ihren Posten verlassen hatten. Gut für uns.

„He, hört mich jemand?!“

„Was machst du da?“

Draußen war es still, da schien keine Menschenseele zu sein. Niemand der uns rauslassen konnte.

„Hallo!“

„Zaira, was …“

„Wir müssen hier raus“, rief ich und machte mit meinem Trommelfeuer weiter. Sollte einer von Cayennes Leuten ins Schloss eindringen können und diesen Korridor entlanglaufen, so wollte ich sofort seine Aufmerksamkeit haben.

Cio rieb sich über den Mund. „Okay, tritt mal ein Stück zur Seite.“

„Was?“ Ich hielt inne. „Warum? Wir müssen …“

„Ich will die Tür eintreten.“

„Das ist Massivholz!“

„Ja, und ich bin ein Umbra, der die Schnauze voll davon hat, dass man ihn bei schlechtem Essen in ein billiges Zimmer einsperrt. Also los, rutsch mal.“ Noch bevor ich die Gelegenheit bekam, seiner Aufforderung Folge zu leisten, schob er mich einfach aus dem Weg und postierte sich dann einen guten Meter vor der Tür. Dabei starrte er die Tür an. Bei diesem Blick hätte sie sich eigentlich schon aus Angst vor ihm alleine öffnen müssen.

Cio atmete noch einmal tief durch, wirbelte dann herum und im nächsten Moment trat er so heftig gegen die Tür, dass sie im Rahmen erzitterte.

Ich hörte das Holz knirschen und splittern, doch mehr als eine Delle neben der Klinke blieb nicht übrig.

Draußen vor den Fenstern gab es eine weitere Explosion, die mich einen Moment ablenkte. Da hatte wohl jemand seinen Chemiebaukasten mitgebracht und freute sich nun daran, ihn ausgiebig ausprobieren zu dürfen. Hoffentlich kam dabei nur niemand zu schaden.

Das nächste Krachen gegen die Tür zog meine Aufmerksamkeit wieder auf Cio. Er hatte erneut gegen das Holz getreten, doch mehr als eine Erschütterung war dabei nicht rausgekommen.

„Verdammt“, fluchte er. „Die ist stabiler als sie aussieht.“

„Was wohl auch einer der Gründe ist, warum sie uns in dieses Zimmer gesteckt haben.“ Es gab schließlich nicht viele Dinge, die einen Lykaner standhalten konnten. Da musste die Konstruktion schon einiges aushalten.

Doch so schnell gab Cio nicht auf. Ein weiterer Tritt gegen die Tür ließ das Holz dieses Mal eindeutig splittern. Um das Schloss herum zeigten sich Risse.

„Du schaffst es“, hauchte ich beinahe ungläubig.

Er grinste mich frech an. „Hast du etwa daran gezweifelt?“

„Mach jetzt, zum Schäkern haben wir später noch Zeit.“

„Das will ich doch hoffen.“ Er nahm wieder Anlauf, doch dieses Mal wollte er die Tür nicht auftreten, sondern sie mit der Schulter rammen. Und dann geschah es. In der Sekunde, in der er die Tür berührt hätte, wurde sie von außen aufgerissen.

 

°°°°°

Nur die Stärksten überleben

 

Cio hatte so viel Schwung, dass er nicht mehr abbremsen konnte. Er hatte gerade noch Zeit überrascht die Augen aufzureißen, da fiel er auch schon in den Korridor und krachte mit der Schulter voran der Länge nach auf den Boden.

„Cio!“ Ohne auf meine Umgebung zu achten, stürzte ich an seine Seite. Das hatte wirklich schmerzhaft ausgesehen.

„Verdammt“, fluchte er und rappelte sich in eine sitzende Position. Dabei ließ er sich auch nicht davon stören, dass ich nach seinem verletzten Arm sah. Zum Glück war er auf die andere Schulter gefallen. „Das hat echt wehgetan.“

„S-sah aber lustig a-a-aus.“

Beide schauten wir zu dem jungen, dunkelhäutigen Mädchen, das offensichtlich selber kaum fassen konnte, was da gerade aus ihrem Mund gekommen war.

„Fujo.“

„E-es tut mir …“

Sie kam nicht mehr dazu ihren Satz zu beenden. Schon war ich aufgesprungen und hatte sie in meine Arme gezogen, nur um sie einen Moment ein Stück von mir zu halten, um zu sehen, ob mir ihr alles in Ordnung war. Sie trug Jeans und T-Shirt, war also trotz der späten – oder frühen – Stunde nicht aus dem Bett gekommen. „Hast du die Tür geöffnet?“

Ein verzagtes Nicken.

„Zwei Minuten früher hätte auch nicht geschadet“, grummelte Cio armreibend und rappelte sich zurück auf die Beine. Seinen Blick ließ er dabei wachsam den leeren Korridor auf und ab gleiten. Wo die ganzen Leute alle hin waren, musste er nicht erst fragen, wir hatten durch das Fenster schließlich alles beobachten können.

„I-ich wollte euch rauslassen, schon d-d-die ganze Zeit, aber d-da waren immer Wächter an der T-t-tür, und i-i-ich …“

„Können wir das bitte später klären?“, mischte Cio sich ein und griff nach meiner Hand, um mich noch in der gleichen Sekunde durch den Korridor zu ziehen. Dabei lockerte sich wieder der Gürtel meines Bademantels und ich musste schnell nachgreifen, um ihn geschlossen zu halten. Zwei Griffe und er saß wieder fest – vorerst. „Ich habe nämlich keine Lust jetzt noch erwischt zu werden.“

Da ich Fujo am Arm festhielt, musste sie gezwungenermaßen mit uns laufen. „Hast du mit deinem Großvater geredet?“ Es war im Moment vielleicht nicht das wichtigste Thema, aber ich wollte eben wissen, was genau los war. Jede noch so kleine Information konnte sich als hilfreich erweisen.

„I-ich habe es ihm g-g-gesagt, aber e-er glaubt mir nicht und jetzt ist d-die Gräfin t-t-tot.“

Diese Worte ließen mich straucheln, doch Cio zog mich erbarmungslos weiter. Die Gräfin ist tot. Mein Vater hat sie getötet! Ich merkte kaum wie Cio an der nächsten Ecke kurz anhielt, um herumzuspähen und mich dann einfach weiter zog. Mein Kopf wurde nur von diesem einen Gedanken bevölkert. Die Frau die an all dem hier die Schuld trug, existierte nicht mehr und mein Vater war dafür verantwortlich. „Wir müssen ihn finden“, flüsterte ich, als Cio mich vor ein großes Ölgemälde einer älteren Dame zog, die mit strengem Blick auf uns herab sah.

„Wenn müssen wir finden?“ Cio ließ meine Hand los und fummelte an dem Rahmen herum, solange bis er aufschwang. Dann schubste er mich und Fujo in den dunklen Gang dahinter.

„Meinen Vater, meine Eltern“, sagte ich und stolperte über die Trittkante. Zum Glück war die Wand nur einen Meter entfernt. So konnte ich mich dran abfangen, ohne auf die Nase zu knallen. Dabei musste ich aber peinlichst darauf achten, dass mein Bademantel nicht aufging. Für eine Flucht war der echt ungeeignet. „Die Gräfin ist tot. Mein Vater …“

„Schäfchen.“ Cio drehte mich zu sich herum und rahmte mein Gesicht mit den Händen ein. Sein eindringlicher Blick war offen und zeigte mir etwas, dass ich bei ihm nie für möglich gehalten hatte. Einen Hauch von Furcht. „Davon abgesehen das wir keine Ahnung haben, wo sie deine Eltern eingesperrt haben, ist es im Moment auch nicht gerade von Vorteil hier im Schloss rumzustromern. Wir müssen jetzt versuchen hier so schnell wie möglich zu verschwinden, alles andere …“

„Aber meine Eltern! Wir müssen sie …“

„Willst du wieder gefangen werden? Willst du riskieren wieder in dieses Zimmer gesperrt zu werden, ohne zu wissen, was uns blüht? Glaubst du deine Eltern wollen das?“ Sein Griff wurde ein wenig fester. „Das hier ist unsere Chance. Wir können hier verschwinden und solange die Kämpfe dort draußen stattfinden, sind auch deine Eltern in Sicherheit, oder glaubst du mitten im Kampf wird sich einer von denen denken, jetzt ist wohl der passende Moment sich und deine Eltern zu kümmern und die Front einfach verlassen?“

Das war ziemlich weit hergeholt. Keiner von denen da draußen würde sich jetzt entfernen, um dich mit anderen Belangen zu beschäftigen. „Aber …“

„D-d-da kommt jemand!“, zischte Fujo und spähte ängstlich um die Ecke.

Cio ließ von mir ab und zog eilig das Ölportrait zu. Damit tauchte er uns in ein dämmriges Dunkel, das nur von dem schwachen Licht der Wandleuchten beschien wurde.

„Und w-was machen w-w-wir jetzt?“

„Jetzt sehen wir zu, dass wie hier verschwinden.“ Er griff erneut nach meiner Hand und zog mich vorwärts. Ein Glück für uns, dass er hier früher immer rumgestreunert war und damit genau wusste, wohin wir mussten. Denn wie bei meinen anderen Besuchen in den Gängen der Bediensteten, war ich bereits nach wenigen Metern rein Orientierungstechnisch völlig verloren.

Fujo folgte uns so leise, dass ich mich mehr als einmal umdrehen musste und mich zu versichern, dass sie noch hinter uns war. Es ging nach links und nach rechts. Eine Treppe runter, eine halbe rauf und nach der nächsten Ecke wieder eine halbe hinunter. Wer um Gottes Willen hatte nur solche Irrgärten konzipiert? Der Architekt selber würde hier ohne Lageplan vermutlich verloren gehen. Obwohl, es gab ja reichlich Türen, die hinaus auf den eigentlichen Korridor, oder in angrenzende Räume führten. Und genau so ein Raum war es auch, den Cio als erstes anvisierte.

Er riss eine Tür auf, spähte kurz hinein und bugsierte Fujo und mich dann hastig hindurch.

Ein komplett gefliester Raum, mit antiseptischen, weißen Wänden, die einem auf der Netzhaut schmerzten. Behangene Wäscheleinen hingen Quer durch den Raum und aus dem hinteren Teil tönte ein stetiges Röhren, dass den ganzen Raum erfüllte. Es gab ein paar Ständerwerke und Maschinen, die mir so noch nicht untergekommen waren, doch die gefüllten Karren und Behälter wiesen eindeutig darauf hin, wo wir uns befanden. Das musste die Wäscherei des Schlosses sein.

„Was wollen wir hier?“

„Wir müssen dir etwas zum Anziehen besorgen.“ Cio eilte zum nächsten Behälter mit sauberer Wäsche und begann wild darin rumzukramen. Doch schon von Weiten sah ich, dass dort nur Bettlaken drinnen waren – eine Menge Bettlaken. „Mit dem Bademantel kommst du nicht schnell genug vorwärts.“

Gute Idee. „Und wenn sie uns hier erwischen?“ Ich sah mich unbehaglich um, aber es schien, als seien wir drei alleine. Nur das Röhren der Waschmaschine, die im Schleudergang einen Lärm machte, der Tote zum Leben erwecken konnte, war außer uns dreien Anwesend.

„Die erwischen uns nicht“, sagte Cio und eilte zum nächsten Behälter.

Na seine Zuversicht würde ich gerne haben.

Da es schneller ging, wenn zwei suchten, machte ich mich über den nächsten, silbernen Behälter her, der in meiner Reichweite stand. Nur leider waren hier nur Teile von den schwarzen Wächteruniformen vertreten.

„Sowas hab ich gesucht.“

Ich sah auf, als Cio an meine Seite eilte und damit begann wild in dem kleinen Container herumzuwühlen.

„Ich soll das anziehen?“

„Warum denn nicht?“ Nach einigem Suchen beförderte er ein schwarzes Hemd zutage, dass er mir in die Hand drückte, nur um mir kurz darauf noch die passende Hose zu reichen. „Zieh das an, dass müsste passen.“

„Hier?!“

Für einen kurzen Moment stoppte Cio seine Suche, grinste mich verschmitzt an und zwinkerte, bevor er sich wieder über die Klamotten her machte. „Auch wenn die Versuchung groß ist, ich werde nicht gucken.“

Das glaubte ich ihm zwar nicht, aber das war auch gerade das kleinere Problem, dass ich hatte. Was wenn jemand in den Raum kam, während ich gerade halb nackt hier rumstand? Ich sah zu Fujo rüber, die da hinten an der Tür ein wenig verloren wirkte und wohl nicht so recht wusste wohin mit sich. „Tu mir einen gefallen und pass auf, dass niemand kommt.“

Ich drehte ihr und Cio den Rücken zu und zog mir die Hose unter dem Bademantel an. Das war ein wenig umständlich – besonders, weil ich mich dabei so beeilte. Das Hemd konnte ich auf diese Weise nicht überziehen. Also schloss ich einen Moment missmutig die Augen, fragte mich, ob diese ganzen Entwürdigungen irgendwann ein Ende haben würden und ließ den Bademantel fallen. Ich glaubte nicht schon einmal in meinem Leben so schnell ein Hemd übergezogen zu haben und wirklich bedeckt fühlte ich mich damit auch nicht. Es saß gut, genau wie die schwarze Hose, doch es lag hauteng an und ich trug keine Unterwäsche.

„Scharf“, kommentierte Cio.

Ich funkelte ihn über die Schulter hinweg an und sah gerade noch, wie er seine Hose schloss. Von der drei Tage getragenen Hose hatte er wohl die Nase voll gehabt und sich gleich mal mit eingekleidet. Jetzt konnten wir im Partnerlock auftreten. „Gab es zu diesen Dingern nicht auch noch Jacken?“

„Musst du mal im Behälter gucken. Oder auf den Wäscheleinen.“ Er griff sich das Hemd, das er schon bereit gelegt hatte und zog es sich vorsichtig über, um nicht an den Verband zu kommen. Hatte er mich angelogen? Tat es doch weh?

Ich verdrängte diese Fragen und machte mich dann wieder über die Kleiderbehälter her. Und es war wirklich ein unglaubliches Gefühl, endlich wieder manierliche Kleidung am Körper zu haben. Zwar waren wir noch Barfuß, aber man konnte eben nicht alles haben.

Gerade als ich mich über den silbernen Rollcontainer beugte, da geschah es.

„Zaira!“

Das verschreckte Stimmchen von Fujo ließ mich herumfahren. Doch sie blicke gar nicht zu mir, sondern zur gegenübergelegenen Tür, in der eine ziemlich überraschter Mann in den Dreißigern stand und uns mit großen Augen ansah.

„Elicio“, sagte er leise. Dann wirbelte er herum und wollte hinausrennen, doch Cio war schon zur Stelle, schaffte es irgendwie vor ihm an der Tür zu sein und sie zuzuschlagen. Damit war der Mann bei uns eingesperrt.

Ängstlich machte er einen Schritt vor ihm weg und schüttelte den Kopf dabei hin und her, als könnte er unsere Anwesenheit damit ungeschehen machen.

„Es tut mir leid“, sagte Cio und im nächsten Moment ging der Mann bewusstlos zu Boden. Es geschah so schnell, dass ich nicht sehen konnte, was passiert war. In dem einen Moment standen sie noch einen halben Meter voneinander entfernt und im nächsten sackte der Mann in sich zusammen.

Ich wich einen Schritt vor den beiden zurück. „Musste das sein?“

„Sollte ich vielleicht riskieren, dass er zum König rennt und ihn über unsere Abwesenheit aufklärt?“

Ich öffnete den Mund, aber mehr als ein leises „Nein, natürlich nicht“ wollte nicht über meine Lippen kommen. Trotzdem konnte ich den Blick nicht von dem bewusstlosen Mann abwenden. Diese Gewaltbereitschaft, diese Brutalitäten, ich wollte das alles nicht mehr sehen. Es war so unnötig. Warum schafften wir es nicht unsere Differenzen verbal zu regeln? Eigentlich konnte das doch gar nicht so schwer sein, oder?

„Komm jetzt.“

Ich schaffte es kaum den Blick von dem Mann abzuwenden, als Cio mich zurück zur Tür schob und mich samt Fujo hastig hindurch manövrierte. „Wir können ihn doch nicht einfach so zurücklassen!“, protestierte ich schwach.

„Oh doch, das können wir.“ Cio verriegelte die Tür von außen und übernahm dann wieder die Führung durch die schwach beleuchteten Gänge. „Ich habe nicht sehr hart zugeschlagen und ich will hier raus sein, bevor er aufwacht.“

Besonders schwach hatte der Schlag aber nicht ausgesehen.

Unsere Schritte waren wohl das Lauteste in den Gängen, auch wenn ich mir einbildete, mein donnernder Herzschlag würde sie übertönen. Cio zog mich dabei die ganze Zeit schonungslos vorwärts.

Während wir eilig durch die verborgenen Eingeweide des Schlosses liefen, wandte ich mich immer wieder nach Fujo um, in der Befürchtung, sie könnte verloren gehen. Dies war im Moment kein Ort für so ein junges Mädchen – viel zu gefährlich.

Von den angrenzenden Korridoren drangen immer mal wieder aufgeregte Stimmen, hastige Schritte und Geräusche panischer Bewohner in die Gänge der Bediensteten, doch im Großen und Ganzen war alles ruhig. Zu ruhig für meinen Geschmack.

Diese Stille hatte etwas Unheilvolles an sich. Ich mochte sie nicht, ja wartete geradezu darauf, dass etwas geschah. Trotzdem zuckte ich heftig zusammen, als ein gellender Schrei bis zu uns in die Gänge schallte.

Fujo flüsterte mit vor Angst geweiteten Augen ein Wort, wirbelte dann herum und rannte dann in die Richtung, aus der wir gerade gekommen waren.

„Fujo!“, rief ich ihr hinterher, versuchte mich von Cio loszumachen, um ihr nachzulaufen, doch sein Griff war unnachgiebig. „Wir müssen ihr nach!“ Meine Worte glichen einem Schrei. Sie war doch noch ein kleines Mädchen und in diesem … diesem Kriegsgebiet konnte ich sie doch nicht alleine rumlaufen lassen!

„Nein“, sagte Cio kopfschüttelnd und versuchte mich weiter zu ziehen. „Wir müssen hier raus. Ich muss dich hier wegbringen, in Sicherheit und …“

„Cio!“ Ich stemmte meine Beine in den Boden, ließ mich nicht fortziehen. „Wir können sie nicht alleine lassen! Das ist zu gefährlich.“ Ich sah ihn flehend an. „Sie ist doch nur ein kleines Mädchen.“

Die Lippen unwillig zusammengedrückt, bröckelte Cios Widerstand. Es ging ihm gegen den Strich. Er wollte mich einfach nur schnell hier rausbringen, weg von der Gefahr die mich bedrohte und doch packte er mit einem Knurren meine Hand fester und rannte dann Fujo hinterher. Dabei gab er ein solches Tempo vor, dass ich mehr als einmal ins Straucheln geriet.

Irgendwann ließ er mich widerwillig los und rannte alleine vor, folgte dem Geräusch von Fujos schwindenden Schritten. Ich sah nur noch seinen Rücken, dann bog er um die Ecke in den nächsten Gang. Dafür hörte ich dann aber Fujo. Erst schreien und dann fauchen. Fauchen wie eine kleine, sehr wütende Wildkatze. Oder wie eine sehr verzweifelte, wie ich leicht außer Atem feststellen musste, kaum dass ich um die Ecke gebogen war.

Das Bild das sich mir bot, hätte ich so nicht erwartet. Fujo zappelte in Cios Armen wie besessen von dem Wunsch frei zu kommen und die Tür vor sich in der Wand zu öffnen. Sie streckte Ihre Hand nach der Klinke aus, kam aber nicht heran, da Cio sie wegtrug. Er hatte einen Arm um ihren Bauch geschlungen und drückte die andere Hand auf ihren Mund, in dem Versuch sie ruhig zu halten.

So trug er sie zu mir und stieß einen derben Fluch aus, als die kleine ihn mit dem Hacken am Schienbein erwischte. In ihren Augen standen Panik und Tränen. Und je weiter Cio sie von der Tür wegbrachte, desto verzweifelter schien sie zu werden.

„Fujo!“ Ich eilte ihnen das letzte Stück entgegen und schaffte es ihre Hand zu schnappen, als Cio sie vor mir auf den Boden stellte. „Hey, was ist los? Warum bist du weggelaufen?“

„G-grootvad-vad-vad-vader.” Das Weinen ließ ihr Stottern noch schlimmer werden und machte es mir damit schwer ihren Worten zu folgen. „Er hat geschrien!“

Meine Gesichtsmuskulatur entglitt mir ein wenig. Sie meinte doch nicht diesen gellenden Schrei, der mir noch immer in den Ohren nachhallte, oder? Mein Blick glitt zu der Tür, hinter der eindeutig wütende Stimmen zu vernehmen waren. Laut, hallend, als befände sich dahinter ein großer Raum. Doch was genau dort gesprochen wurde, konnte ich nicht verstehen. Es war einfach nur ein lautes, wütendes Murmeln, das in meinen Ohren keinen Sinn ergab. „Wo genau befinden wir uns?“

Cio wusste sofort, worauf ich hinaus wollte, ließ den Blick zur besseren Orientierung einmal durch den Gang von Tür zu Tür gleiten und blieb an jener hängen, durch die Fujo so unbedingt wollte. „Dahinter befindet sich der Thronsaal.“ Seine Mine verdüsterte sich, „Das Reich von König Cerberus.“

Wie er den Titel aussprach, als sei es etwas Ansteckendes, von dem man sich möglichst fern halten sollte.

Ich biss mir auf die Lippe, sah von der Tür zu Fujo und wieder zurück. Nachdem ihre Eltern sie verstoßen hatten, war ihr Großvater alles, was ihr noch geblieben war. Wie es sich anfühlte zu wissen, dass er in Gefahr schwebte, konnte ich ihr nur zu gut nachfühlen.

Ich gab ihre Hand frei und Schritt entschlossen auf die Tür zu.

„Was machst du da?“, fragte Cio misstrauisch.

„Ich verschaffe mir Gewissheit darüber, was dahinter vor sich geht.“ Bevor ich die Hand auf die Klinke legen konnte, war Cio plötzlich neben mir und hielt mich fest.

„Bist du wahnsinnig?!“, zischte er mich an. „Du kannst doch nicht einfach in den Thronsaal marschieren, als sei das hier nichts weiter als ein gemütlicher Spaziergang am Sonntagnachmittag!“

„Das hatte ich sicher nicht vor.“ Hielt er mich für so dumm? „Ich will nur vorsichtig reingucken.“

„Auch dabei können sie dich entdecken“, hielt er sofort dagegen.

Ich runzelte die Stirn. Was war denn mit Cio los? Er war doch sonst immer so Abenteuerlustig und warf sich ohne groß nachzudenken mitten ins Geschehen. Aber seit wir aus diesem Zimmer raus waren, versuchte er mich mit einem Eifer hier wegzubringen, der völlig untypisch für ihn war. Okay, das hier war ein bisschen was anderes, als heimlich nach Italien abzuhauen, oder sich unbemerkt ins Schloss zu schleichen, aber nicht weniger gefährlich.

„Was hast du?“, fragte ich daher auch ganz direkt. Ich legte meine Hand an seine Wange, strich mit dem Daumen über die stoppelige Haut.

Seufzend schloss er für einen Moment die Augen. „Ich will dich einfach nur schnell hier rausbringen.“ Ein tiefer Atemzug. „Ich will nicht noch einmal sehen müssen, wie du verletzt wirst.“

„Ach Cio.“ Einen Moment huschte mein Blick zu Fujo, der noch immer stumm die Tränen über die Wangen liefen.

Sie schielte immer wieder zur Tür, hinter der noch immer die wütenden Stimmen tönten.

Ich beugte mich vor und hauchte Cio einen Kuss auf die Lippen. „Solange du bei mir bist, großer Umbra, kann mir doch gar nichts passieren.“

Sein Mundwinkel zuckte verdächtig nach oben, bevor er sich wieder unter Kontrolle hatte. „Das du versuchst mein Ego zu streicheln, ist echt unfair.“ Er raufte sich mit der freien Hand durch sein Haar. „Und dass es auch noch funktioniert erst recht“, setze er noch hinterher und schob mich sanft aber bestimmt zur Seite, um sich selber an der Tür zu positionieren. Mit dem Finger auf dem Lippen deutete er uns ruhig zu sein und drückte dann wie in Zeitlupe die Klinke herunter.

Ich hielt den Atem an, als er sie lautlos nur einen Spalt öffnete und musste an dieser Stelle einmal festhalten, dass die Schallisolierung in diesem Schloss nahezu perfekt war, denn kaum dass die Tür offen war, drangen nicht nur die wütenden Stimmen klar und deutlich zu uns in den Gang, sondern auch das Geräusch verärgerter Schritte – schade nur, dass ich nichts sehen konnte, weil Cio den Blick durch seine Gestalt verdeckte.

„… einfach nicht glauben!“, donnerte Cerberus. „Sucht sie und bringt sie mir!“

„Aber …“

„Und auch die Eltern. Sofort!“

Raschen, wie von Kleidung.

„Jawohl, Euer Majestät.“

Eilige Schritte entfernten sich.

„Sie uns gehören!“, blaffte da eine wohlbekannte Stimme mehr als nur ein bisschen verärgert. „Sie alle! Du nicht Recht haben sie …“

„Mein lieber Hisham. Das ist mein Schloss, mein Rudel, mein Königreich. Ich regiere hier und alles was sich darin befindet, gehört somit mir.“

Da schien aber jemand extrem an Wahnvorstellungen zu leiden.

„Aber deinen Mutter gesprochen haben, gesprochen Abmachung das …“

„Meine Mutter ist tot“, sagte er mit so klirrend kalter Stimme, dass sich praktisch Eiskristalle an den Wänden bildeten. „Und ihre Abmachungen interessieren mich nicht. Sie betreffen mich nicht und da …“

Ein lautes Krachen donnerte durch die Hallen und warf das Echo hundertfach von den Wänden zurück. Kaum das es abgeklungen war, wiederholte es sich. Wie der Auftakt zu einem gewaltigen Gewitter.

Was ist los?, hätte ich am liebsten gefragt, doch da es in dieser Situation nicht empfehlenswert war ein wenig Smalltalk zu betreiben, drängte ich mich vor Cio, um auch durch den Spalt spähen zu können. Er legte mahnend eine Hand auf meine Taille und beobachtete das Geschehen über meine Schulter hinweg.

Der Thronsaal hatte sich seit meinem letzten Betreten kein bisschen geändert. Keine schwarzen Wände, oder gruftartige Dekoration, keine Eisenfesseln an den Wänden, in denen Skelette vergangener Zeiten baumelten und auch keine Folterbank, wie man bei einem so niederträchtigen Tyrannen erwartet hätte. Alles war wie immer, nur die Leute darin hatten sich zum Teil geändert.

Am Rand standen mehrere dunkelhäutige Männer mit geflecktem Haar.

Ailuranthropen.

Hisham, Fujos Großvater, lief wütenden Schritts vor ihnen auf uns ab. Es sah ein wenig lädiert aus. Blut tropfte von seiner Lippe und hatte das einst weiße Hemd an manchen Stellen rot gefärbt. An der Stirn hatte er eine auffällige Platzwunde und sein Handgelenk war dick und geschwollen. So wie er es an die Brust drückte, schien es ihm schmerzen zu bereiten.

Vor dem Thron auf den Stufen saß Cerberus Gefährtin. Hochschwanger, in einem langen, hellblauen Kleid, aus dem sie versuchte gelangweilt Falten rauszustreichen. Sie erweckte den Eindruck, als ginge sie das alles nichts an.

Weiter hinten, kaum mehr als ein Schatten stand Sadrija. Sie sah in der Zwischenzeit nicht mehr ganz so abgemagert aus und auch ansonsten gesünder, doch schien sie der Welt weit entrückt. Sie war nicht anwesend. Nicht wirklich.

Außerdem standen im Saal verteilt noch zwei Dutzend wachsamer Wächter, die die Ailuranthropen sehr genau im Auge behielten. Auch hinter dem Thron, auf dem Cerberus saß, waren sie zu finden und genau wie bei allen anderen im Saal, war sein Blick auf die große Flügeltür gerichtet. Dabei unterschied ihn nur eine Sache von den anderen Anwesenden – davon abgesehen, dass er scheinbar noch größenwahnsinniger als seine Mutter war und sich für Gottes Geschenk an die Menschheit hielt.

Im Gegensatz zu der Anspannung der anderen war er völlig gelassen. Keine Regung deutete auf seine Beunruhigung hin, als ein weiterer Donnerschlag durch die Hallen hallte. Kein Zucken eines Muskels, das Aufschluss über das geben konnte, was er dachte, als ein leicht panischer Diener mit eiligen Schritten herein kam.

„Euer Majestät.“ Er verbeugte sich leicht vor seinem König und ich kam nicht umhin zu bemerken, dass dieser Mann bereits unter Cayenne gearbeitet hatte. Diese kleinen Schweinsäuglein vergaß man nicht so schnell. „Die Eindringlinge versuchen das Tor aufzubrechen.“

„Und das sagst du mir weil?“

Der Diener sah nervös vom König zur Königin – die immer noch mit einer unsichtbaren Falte in dem makellosen Kleid beschäftigt war – weiter zu den Wächtern und wieder zurück zu ihm. „Sie wollen ins Schloss. Zu euch.“ Er spielte nervös mit seinen Fingern herum. „Deswegen dachte ich …“ Er unterbach sich, als er bemerkte, die Aufmerksamkeit des Königs verloren zu hatte. Die galt jetzt den beiden Gestalten, die unter der strengen Bewachung von sechs Wächtern in den Saal geführt wurden, während im Hintergrund erneut ein Krachen von den Wänden widerhallte.

Jeder meiner Muskeln spannte sich an und hätte Cio seinen Griff an meiner Taille nicht verstärkt, wäre ich wahrscheinlich einfach hinausgerannt.

Das waren meine Eltern!

Ungepflegt und unterernährt wurden sie hineingeführt. Meine Mutter sah schrecklich aus. Verdeckt, die Haare ein einziges, verfilztes Nest. Die Kleidung an mancher Stelle zerrissen. Ihr Gesicht war leicht geschwollen, als hätte sie jemand geschlagen und mehr als nur eine freie Hautpartie zeigte Blessuren wie blaue Flecken und Schürfwunden.

Aber sie war nichts im Gegensatz zu meinem Vater. Man hatte ihm noch immer kein Hemd gegeben und trotz der Tatsache, dass schon mehrere Tage vergangen waren, zeigte sein Rücken weiterhin die Verletzungen von der Folter. Natürlich, sie hatten ihm sicher kein Blut gegeben, deswegen heilte es so langsam.

Und sein Kopf. Oh Gott. Das Gesicht war mit verkrustetem Blut verschmiert. Er musste versucht haben es notdürftig wegzuwischen. Doch das änderte nichts an der angetrockneten Wunde an seinem Kopf.

Cio hatte es mir gesagt, doch bis zu diesem Moment hatte ich nicht glauben können. Nicht wirklich. Mein Vater lebte. Er hatte einen Streifschuss abbekommen, aber, oh Gott, er lebte, er lebte wirklich! Und nicht nur das. Trotz der Verletzungen, trotz des Zustandes, in dem sie sich befanden, liefen die beiden erhobenen Hauptes auf den König zu, mit einem Ausdruck in den Gesichtern, die deutlich sagten, dass sie sich ihm niemals beugen würden.

Ich musste die Hand vor dem Mund schlagen, um mich nicht laut aufzuschluchzen. Sie lebten. Es ging ihnen nicht wirklich gut, aber sie lebten.

Cios Finger strichen beruhigend über meinen Bauch. Das war seine Art mir Kraft zu geben.

Im gleichen Moment trat einer der Ailuranthropen vor, direkt auf meine Eltern zu. Er war von durchschnittlicher Größe und hatte angegrautes Haar. Er trug Jeans und ein altes, verwaschenes Shirt. Er musste in den mittleren Jahren sein und war sehr kräftig gebaut. Von Altersschwachheit war da aber noch lange nicht zu sprechen. Und er hatte etwas sehr düsteres an sich.

„Pandu?“, fragte Cerberus mit täuschend sanfter Stimme. „Was machst du da?“

Meine Mutter hielt unwillkürlich in ihrem Schritt inne und wollte nicht weitergehen, doch der Wächter hinter ihr versetzte ihr einen kräftigen Stoß, der sie vorwärts stolpern lief. Der Anblick des Ailuranthropen schien sie mehr zu ängstigen, als die Gefangenschaft unter Cerberus.

Mein Vater fauchte den Wächter warnend an.

„Pandu?“, fragte Cerberus erneut, als er keine Antwort erhielt.

„Ich nehme was gehört mir, nehme und erfülle Schicksal.“

Wie seine Mutter dies schon immer getan hatte, schnipste Cerberus mit seinen Fingern und Augenblicklich waren vier Waffen auf den Ailuranthropen gerichtet, die ihn sofort stoppen ließen. „Ich habe mich vorhin wohl nicht deutlich genug ausgedrückt.“

Pandu funkelte den König über seine Schulter hinweg an. „Dummer Junge“, zischte er ihm entgegen.

So wie sich Cerberus Blick verfinsterte, was das wohl die schlimmste Beleidigung, mit der man ihn hätte bedenken können. „Du solltest aufpassen wie du mit mir sprichst.“

„Und du nicht wissen, wen du dir machen zu Feind.“

Die beiden Männer lieferten sich ein Blickduell, in dem niemand nachgeben wollte. Hier ging es plötzlich um mehr als nur eine Trophäe in Form meiner Mutter, hier ging es um Macht, um Stärke und um das männliche Ego.

Erst ein weiteres Donnern in den Hallen unterbrach das stumme Duell.

„Wir klären das später“, beschloss Cerberus und erhob sich aus seinem Thron, um meinen Eltern gegenübertreten zu können. Stumm ließ er den Blick von einem zum anderen gleiten und blieb dann bei meinem Vater hängen. „Ich hab die Ränkelspielchen meiner Mutter schon immer verabscheut. Sie langweilen mich und brachten nur selten das, was sie versprachen.“

„Und doch bist du wie ein braves Hündchen jeder ihrer Befehle gefolgt.“

Meine Hand krallte sich in den Türrahmen. War mein Vater verrückt geworden? Wollte er ihn provozieren?

Doch Cerberus schien sich nicht angegriffen zu fühlen. „Alles hat seinen Preis und Geduld bringt einen immer ans Ziel. Und auch wenn ich mich nur selten mit ihr identifizieren konnte, so hat sie mir mit deiner Tochter einen Trumpf in die Hand gegeben, der darüber entscheiden wird, wer diesen Krieg gewinnt.“

Bei meiner Erwähnung wurde das Gesicht meines Vaters ganz starr.

„Nur leider ist es so, dass es diesem unscheinbaren Mädchen irgendwie gelungen ist, sich in den frühen Morgenstunden mit ihrem Begleiter aus ihrem Zimmer zu befreien.“

Ob es sehr wehtat, das zugeben zu müssen?

„Und nun stehe ich vor dem Problem, sie nicht finden zu können.“

Mein Vater sah ihn nur abwartend an.

Cerberus trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme auf dem Rücken. „Diese Hallen hier, sie sind so konzipiert, das ein lautes Geräusch in ihnen weit getragen werden kann. Vorausgesetzt die Tür ist offen. Daher würde ich es wünschenswert finden, wenn einer von euch beiden nach ihr Rufen könnte.“

Mein Vater schnaubte.

„Donasie ist zu schlau darauf reinzufallen“, zischte meine Mutter. „Sie wird schon längst über alle Berge sein. Dieser Trumpf gehört dir nicht mehr.“

„Ach wirklich?“ Cerberus zog eine Augenbraue nach oben. „Ihr seid wirklich der Meinung, dass dieses naive, dumme Mädchen einfach so verschwunden ist, wo sich ihre ach so geliebten Eltern noch in meiner Gewallt befinden?“

Wenn es nach Cio gegangen wäre, dann ja. Und da die Anspannung in seinem Körper mit jeder verstreichenden Sekunde zunahm, befürchtete ich, dass er mich jeden Augenblick einfach von der Tür wegreißen würde, nur um mich dann über die Schulter zu werfen und schnellstens das Weite zu suchen.

„Der einzige dumme Naivling hier steht direkt vor mir“, sagte mein Vater und zischte im nächsten Moment unterdrückt auf, als Cerberus ihm ohne Vorwarnung in die Haare griff und seinen Kopf in den Nacken zerrte. Mit dem Streifschuss, musste das saumäßig wehtun.

„Ys-oog!“, rief meine Mutter und auch ich hätte am liebsten einen Schrei ausgestoßen. Dieser Widerling sollte die Pfoten von meinem Papa nehmen, wenn er sie nicht verlieren wollte!

„Ruf sie“, sagte Cerberus sehr eindringlich.

Aus der Eingangshalle war erneut das Krachen zu hören. Was folgte waren aufgeregte Stimmen und nervöses Fußgetrammpel.

„Ruf deine Tochter, oder ich werde dafür sorgen, dass deine Schreie sie anlocken werden.“

„Nein!“, entfleuchte es mir und hatte sowohl entsetzte, als auch überraschte Blicke zur Folge.

„Scheiße!“, fluchte Cio und versuchte mich von der Tür wegzuziehen, doch ich hielt mich am Rahmen fest.

„Verschwinde!“, brüllte mein Vater quer durch die Halle und stieß im nächsten Moment ein schmerzerfülltes Stöhnen aus.

„Nein!“, schrie ich wieder. In dem Moment war es mir egal was er sagte, oder dass ich Cio mit voller Wucht auf den Fuß treten musste, damit er mich endlich losließ, aber ich würde nicht einfach verschwinden und meine Familie damit im Stich lassen.

Ich stieß den fluchenden Umbra weg, riss die Tür zur Gänze auf und eilte ein paar Schritte in den Thronsaal, bevor er mich wieder festhalten könnte.

„Geh weg, Donasie!“

Ich ignorierte meine Mutter, machte zwei weitere entschlossene Schritte in den Raum, auch wenn mein Herz mit vor Angst bis in die Kehle sprang. Natürlich folgte Cio mir auf den Fuß und auch Fujo verblieb nicht länger in den Gängen. Mit wehendem Haaren rannte sie an mir vorbei zu ihrem Großvater, der sie erst überrascht und dann verstehend anblickte.

„Hier bin ich, also lass meine Eltern endlich in Ruhe“, forderte ich von ihm und fragte mich gleichzeitig, woher mein Mut plötzlich kam. Vielleicht war es aber auch nur die Dummheit der Verzweiflung, weil ich sonst keinen anderen Ausweg sah, meine Eltern vor diesem Scheusal zu schützen.

Cerberus schnaubte spöttisch, ließ aber von meinem Vater ab und entfernte sich ein paar Schritte von ihm. „Glaubst du wirklich dich in der Position zu befinden, Forderungen an mich zu richten?“

„Ja das glaube ich, denn wenn ich mich aus dem Staub mache, haben sie nichts mehr in der Hand, dass sie gegen Cayenne ausspielen können.“ Ich richtete meinen Blick auf Hisham und Pandu. „Denn damit das ich Cayennes leibliche Tochter bin, bin ich wohl der einzige Ausweg, der ihre drohende Niederlage verhindern kann.“

Cerberus' Augenbraue hob sich ein wenig. „Und du glaubst mir entkommen zu können?“

„Jedenfalls lang genug, um …“

Meine Worte wurden durch ein ohrenbetäubendes Krachen unterbrochen. Cio warf sich halb über mich, während alle sich von der offenen Flügeltür abwandten, als zusammen mit einer gewaltigen Druckwelle eine Staubwolke in den Thronsaal schoss, die uns alle unter sich begrub.

Direkt hinter der Druckwelle wurden Schreie und Rufe laut. Die Themis hatten das Portal gestürmt und drangen nun in das Schloss ein.

Cio packte mich am Arm und zerrte mich auf die Beine, sobald wir wieder halbwegs sehen konnten. „Wir müssen hier weg!“

„Aber meine Eltern!“

Er knurrte über meinen Sturkopf, zog mich dann aber in die andere Richtung, wo mein Vater versuchte sich unter einer Staubschicht auf die Beine zu arbeiten. Die auf dem Rücken gefesselten Hände waren dabei nicht gerade hilfreich.

Ich stürzte an die Seite meiner Mutter, schlug mir dabei auch noch schmerzhaft das Knie an und machte mich ohne zögern an ihren Fesseln zu schaffen. Keine Handschellen, nur einfache Stricke.

„Du bist so dumm, Donasie!“, schimpfte meine Mutter. „Warum bist du nicht weggelaufen?“

„Tja, ich bin eben genauso stur wie meine Eltern. Die lassen sich auch von niemanden etwas sagen.“

„Ich brauche den Schlüssel!“, rief Cio, der dabei war, meinen Vater zu befreien. Ihm hatten sie die Handschellen gelassen.

„Cio!“, rief ich in diesem Moment entsetzt, aber da war es bereits zu spät. Einer der Wächter hatte ihm von hinten einen Schlag gebe die Schläfe verpasst und ihn somit auf die Seite geschleudert. Die Zeit zum Aufstehen hatte er nicht, aber da sprang von irgendwoher ein schlanker, roter Wolf heran und verbiss sich in den Wächter.

Tante Lucy.

Und sie war auch nicht die einzige, die in den Thronsaal stürmte. Plötzlich wimmelte es von Lykanern und Vampiren, die vor zwei Minuten noch draußen im Hof gewesen waren. Sie rangen die Wächter nieder, jagten die Ailuranthropen davon und verscheuchten Cerberus Gefährtin.

Sadrija war verschwunden und auch den König konnte ich in diesem heillosen Durcheinander nicht ausmachen.

Ich zerrte an den Fesseln meiner Mutter. Als mich dann eine Hand an der Schulte berührte, wirbelte ich fauchen herum und zeigte dem Angreifer meine ausgefahrenen Fänge, nur um festzustellen, dass es Cio war.

„Rutsch, ich mach das.“

Gute Idee. Bevor ich die Fesseln gelöst hätte, hätte ich wahrscheinlich einen Knoten in den Fingern. Ich machte ihm Platz, sah dabei zu meinem Vater, dem gerade von einer Vampirin die Handschellen abgenommen wurden. Es war diese großgewachsene Frau mit der dunkeln Aura, die ich bei meinem ersten Besuch im HQ gesehen hatte. Romy.

Plötzlich wurde ich von hinten an den Haaren gepackt und zurück gerissen. Ich schrie auf und schlug nach dem Angreifer, doch er zerrte mich einfach noch ein Stück. Cerberus, wurde mir in der gleichen Sekunde klar, das war Cerberus.

Von meinem Schrei alarmiert, sprang Cio herbei und stürzte sich direkt auf den König. Deswegen musste er mich auch loslassen, sonst hätte er keine Hand frei gehabt, um sich zu verteidigen.

Meine Mutter schaffte es den Rest der gelockerten Fesseln selber abzustreifen und wollte Cio helfen. Ihre Züge hatten etwas sehr katzenhaftes angenommen und ihre Haut wurde von den Rosetten eines Leoparden geziert. Sie stand kurz davor sich in ein Raubtier zu verwandeln, dass von der Natur mit allem ausgerüstet war, um zu töten.

Fauchend sprang sie vor, doch da stand mein Vater plötzlich neben ihr und stieß sie Richtung Flügeltüren. „Geh!“, schrie er sie an und riss auch mich auf die Beine. „Verschwindet hier!“

„Aber …“, wollte ich widersprechen.

„Sofort!“, bellte er in meine Richtung und eilte dann zu Cio, um Cerberus von ihm runter zu reißen.

„Komm, Donasie.“

Ich wollte nicht gehen, wollte sie so nicht zurück lassen. Wer wusste schon, was passieren würde, doch meine Mutter drängte mich dazu zu verschwinden. Jetzt.

Ich sah noch einmal zu Cio, der gerade wieder auf die Beine sprang, sah dass Cerberus nach ihm ausholte und rannte dann mit meiner Mutter aus dem Thronsaal hinaus in die Eingangshalle. Doch hier war ein durchkommen gar nicht mehr so einfach. Die ganze Halle war zerstört, der untere Teil der linken Treppe fehlte. Brocken des Mauerwerks lagen verstreut auf dem einst so edlen Boden. Wandgemälde, Porträts, Einrichtung, alles war beschädigt. Staub wirbelte durch die Luft, Schutt ließ das vorwärtskommen zu einem Slalomlauf werden. Und überall kämpften Wölfe. Wächter, Themis und die Leute die Cayenne sonst noch hatte mobilisieren können. Es war ein Bild des Grauens.

Rufe, Knurren, Schreie, Verletzte. Der kupferartige Geruch von Blut tränkte die Luft. Sie kämpften und metzelten sich nieder, ohne Rücksicht auf Verluste zu nehmen.

Dieser Anblick trieb mir die Tränen in die Augen. Das war so unmenschlich. Nicht einmal Tiere würden sich das antun.

„Donasie, lauf!“

Ich hatte gar nicht bemerkt, wie ich stehen geblieben war, doch der Ruf meiner Mutter brachte mich wieder zur Besinnung. Direkt hinter ihr eilte ich um ein Mauerstück herum, dasst eins die Außenwand neben dem Portal gewesen sein musste. Wie kam es nur hier her? Was war passiert? Das sah ja fast so aus, als hätten sie Dynamit gezündet, nur was waren dann die ganzen anderen Detonationen gewesen, die durch die Hallen geschalt waren? Es hatte sich angehört …

Ich stieß mit einem nackten Zeh gehen ein kleinen Gesteinsbrocken und stolperte. In der Sekunde in der ich fiel war ich gerade noch so geistesgegenwärtig meine Arme hochzureißen, da krachte ich auch schon auf die Knie. Steinchen bohrten sich schmerzhaft durch den Stoff.

„Steh auf!“, forderte meine Mutter und zerrte mich wieder auf die Beine. „Wir müssen hier raus, sonst …“

Von der Seite kam ein großer Wolf angesprungen, direkt auf uns zu. Meine Mutter registrierte das noch in dem Moment, als er die Schnauze weit aufriss, stieß mich zur Seite und wurde deswegen von dem Wolf umgerissen.

„Mama!“ Ich ignorierte die Schmerzen unter meinen Füßen, rannte los, bereit mich ins Geschehen zu werfen, doch da wurde ich grob am Arm gepackt, herumgewirbelt und so brutal zu Boden gestoßen, dass ich mir die ganzen Hände aufschürfte. Es war wohl allein meinem Instinkt zu verdanken, dass ich mich im gleichen Moment zur Seite auf den Rücken drehte und so dem Knüppel entging, der mir sonst den Schädel gespalten hätte.

Und dann sah ich mich Auge in Auge mit meinem schlimmsten Alptraum.

Iesha.

Ihr Gesicht war dreckig, die Kleidung beschädigt und ihre Wange zierte ein blutender Schnitt. Und doch war das nichts gegen den Wahn, der in ihren Augen tobte. „Ich habe dich gewarnt“, zischte sie mich an. „Ich habe dich gewarnt und trotzdem hast du ihn mir weggenommen. Dafür wirst du nun mit deinem Blut bezahlen.“

Ich hatte sie einmal als verrückt bezeichnet. In diesem Moment erkannte ich die Wahrheit an meinen eigenen Worten. Das war nicht nur so ein Spruch, mit dieser Frau stimmte eindeutig etwas nicht. In ihrem Kopf lief irgendwas verkehrt und mit dieser Erkenntnis wurde mir auch klar, was nun folgen würde.

Der Knüppel raste mit einem solchen Kraftaufwand auf mich zu, dass er mir den Kopf zertrümmert hätte, wenn ich mich nicht rechtzeitig weggerollt hätte. So zerbarst er einfach nur an der Stelle, an der ich eben noch gelegen hatte.

Ungläubig sah auch auf das gesplitterte Holz und dieser kurze Moment wurde von Iesha sofort genutzt, um sich auf mich zu stürzen. Ich spürte wie wir ineinander krachten, fühlte den Schmerz in meiner Schulter, als sie sich in mir verbiss – als Mensch! Sie hatte sich nicht verwandelt, sie biss einfach so zu und schlug nach mir. Völlig unkontrolliert, einfach nur um Schmerzen zuzufügen.

Ich schrie auf, schlug nach ihrem Kopf, doch sie war in einem solchen Rausch gefangen, dass sie es nicht einmal zu spüren schien. Ihre Zähne gruben sich tiefer in mein Fleisch, während ihre Hände sich in meine Haare krallten. Dabei gab sie ein Geräusch von sich, das weit mehr als ein einfaches Knurren war.

Sie war wie besessen von dem Gedanken mich zu verletzen, dass sie gar nichts anderes mehr um sich herum wahrnahm. Das war wohl auch der einzige Grund, warum es mit gelang, nach dem abgebrochenen Knüppel zu tasten und damit auszuholen.

Ich dachte gar nicht erst darüber nach was ich da tat, oder was das für Konsequenzen haben konnte. Ich schlug einfach zu, donnerte ihr das Ding gegen den Kopf und versetzte ihr dann noch einen kräftigen Tritt mit dem Knie gegen die Hüfte.

Sie stöhnte vor Schmerz auf und kippte einfach zur Seite.

Hastig rutschte ich von ihr Weg. Mein Atem ging nur stoßweise, meine Schulter schmerze, mein Kopf schmerzte, jedes verfluchte Teil meines Körpers schien zu schmerzen und auch wenn ich nichts lieber getan hätte als aufzuspringen und davon zu laufen, schaffte ich es nur langsam auf die wackligen Beine. Dabei ließ ich Iesha nicht aus den Augen.

Sie war nicht bewusstlos, nur leicht benommen. Schwerfällig arbeitete sie sich auf alle Viere und schüttelte mehrmals den Kopf, als versuchte sie ihren Blick zu klären. Dabei drohte sie mit den Armen wegzuknicken.

Ich zog mich langsam vor ihr zurück, hielt mir die Schulter, doch eine Wand im Rücken verhinderte einen weiteren Rückzug. Und als ihr Blick sich dann wieder auf mich richtete, war ich einen Augenblick wie erstarrt.

Sie Lächelte. Ihre Lippen waren blutig, die Augen dem Wahn anheimgefallen und doch lächelte sie auf so eine grausige Art und Weise, dass es mich bis ins Innerste fröstelte. Dieser Frau war wirklich verrückt, völlig durchgeknallt.

Langsam, als bereitete es ihr schmerzen, richtete sie sich schwankend auf. Dabei bemerkte ich die Wunde an ihrem Kopf. Das war ich gewesen! Ohr Gott. Sie strich sich mit der Hand über den Mund und verschmierte das Blut so, anstatt es wegzuwischen. „Du willst also spielen.“ Immer noch lächelte sie. „Das kannst du haben!“

In dem Moment sprang von der Seite meine Mutter herbei und stieß sie einfach weg. Dabei knallte sie so ungünstig mit dem Kopf gegen die Wand, dass sie in der nächsten Sekunde einfach in sich zusammensackte und sich nicht mehr bewegte.

„Nein!“, schrie ich, als meine Mutter auch noch ihre Klaue hob und mit ausgefahrenen Krallen nach der Bewusstlosen schlagen wollte.

Sie hielt inne, sah schwer atmend zu mir und wurde sich dann wohl bewusst, was sie gerade in Begriff gewesen war zu tun: Jemanden zu verletzen, der sich nicht wehren konnte.

„Was macht ihr noch hier?!“, brüllte mein Vater uns da an.

Einheitlich drehten wir uns zu ihm um, aber da war er schon bei uns, packte uns und schob uns weiter.

Ich blickte an ihm vorbei, nach links und nach rechts, als er uns unerbittlich weiter schob. Vorbei an einem Mann, der röchelnd am Boden lag, vorbei an zwei Wölfen, die sich so ineinander verbissen hatten, das ihre Felle von Blut und Speichel schon ganz verklebt waren. „Wo ist Cio?“, fragte ich panisch. Ich konnte ihn nicht sehen. Eben war er doch noch bei meinem Vater gewesen, also wo steckte er nun? „Papa!“

„Er ist hinter Cerberus her.“

Vor uns sprangen zwei Wölfe gleichzeitig auf eine Vampirin, die kreischend zu Boden ging.

Mein Vater sah für einen Moment so aus, als wolle er ihr helfen, entschied sich dann aber doch dafür, mich und Mama auf das klaffende Loch zuzuschieben, dass einmal das Portal gewesen war.

„Cerberus?“, fragte ich und wich zur Seite, um ein Gesteinsbrocken auszuweichen.

„Ja, der Hund ist durch den Seitengang abgehauen.“ Mein Vater sah sich alarmiert über die Schulter, als es hinter uns krachte, ließ sich auf seinem Weg aber nicht beirren. „Er ist ihm hinterher, bevor ich ihn aufhalten konnte.“

Vor uns rangen zwei Wächter mit drei Vampiren und versperrten somit den Weg nach draußen.

„Du hast ihn allein gelassen?!“

Darauf reagierte mein Vater gar nicht. Vielleicht blieb ihn auch einfach nicht die Zeit dazu, denn von der Seite sprang ein weiterer Wächter heran. Mein Vater veranstaltete etwas, das mich an einen Roundhous-Kick denken ließ. Der Wolf jaulte auf, als er von dem Tritt erwischt wurde, segelte durch die Luft und riss seine Kollegen, die die ganze Zeit das Portal blockiert hatten mit sich zu Boden.

Nun hatten die Vampire leichtes Spiel.

„Schnell!“ Mein Vater stieß uns zügig nach draußen und damit hinein ins nächste Schlachtfeld.

 

°°°

 

Trümmer, Kämpfe, Schmerz. Es schien einfach kein Ende nehmen zu wollen. So viel Leid und Qual und wofür das alles? Nur für ein bisschen Macht? Wenn das so weiter ging, würde nach diesem Kampf kein König mehr gebraucht werden, weil es einfach kein Rudel mehr geben würde, das ihm folgen könnte.

Als nur wenige Meter von mir eine Frau loskreischte, wirbelte ich herum, doch mein Vater ließ gar nicht erst zu, dass ich mich genauer umsehen konnte. Unerbittlich schob er mich die Treppe hinunter, darauf bedacht, mich und Mama immer zwischen sich und der Schlossmauer zu haben.

Keiner hielt uns auf, keiner schenkte uns seine Aufmerksamkeit.

Und dann, ich wusste nicht woran es lag, drehte ich den Kopf. Ich bildete mir ein, ein Geräusch gehört zu haben, einen Ruf, doch bei der Lautstärke hier draußen war es eigentlich unmöglich so etwas wahrzunehmen. Trotzdem drehte ich den Kopf und in dem Moment entdeckte ich ihn.

Cio.

Er donnerte einem Mann die Faust ins Gesicht, bemerkte dabei aber nicht den Wolf hinter ihm.

Einen Schrei auf den Lippen sah ich alles wie in Zeitlupe. Cio, der sich langsam herum drehte, als würde er nach etwas Ausschau halten. Der Wolf, der sich mit kräftigen Hinterbeinen abstieß, um ihn hinterrücks zu überfallen. Der Nebel der Nacht im Hintergrund, die Kämpfe drum herum. Und dann traf sein Blick auf mich.

Die Zeit schnappte zurück in ihre normale Geschwindigkeit.

Der Wolf riss ihn nieder. Beide schlugen auf dem Boden auf. Dann sprangen drei andere Leute dazwischen und ich konnte nicht mehr sehen, was dort geschah.

„Cio!“, schrie ich.

In dem Moment sprang von der Seite eine goldene Wölfin heran, deren Fell mit Blut besudelt war, das nicht zu ihr zu gehören schien.

Es reicht!“, donnerte in dem Moment eine Stimme über den ganzen Hof. Dem Ruf folgte eine unsichtbare Welle der Energie, die uns einfach überrollte. Es war wie ein Geruch, der in jede Pore meines Körpers eindrang und mich dazu brachte, schnell den Kopf einzuziehen und zurückzuweichen. Odeur.

Und ich war nicht die einzige, der es so ging. Überall zuckten die Lykaner zusammen, egal ob in menschlicher, oder tierischer Gestalt. Sie winselten, zogen sich knurrend mit eingezogener Rute zurück und dabei war es egal, ob sie zu Cerberus oder Cayennes Leuten gehörten. Sie reagierten alle darauf und starrten ängstlich und unsicher hinauf zum Portal.

Dort stand ein großer, blonder Wolf.

Aric.

Den Kopf erhoben, die Zähne gebleckt starrte er auf die Szenerie im Innenhof hinunter. Hinter ihm standen Diego und Umbra Joel. Und auch Sydney war nicht weit entfernt.

Diese Macht, diese Welle drückte immer noch auf uns hernieder, verhinderte dass den Aggressionen in der Luft Ausdruck verliehen wurde.

Schlagartig wurde es ruhig.

Cerberus!“, rief Aric. „Komm her und zeig dich mir, damit wir diesen sinnlosen Kampf beenden können!“

Oh nein. Es war so weit. Aric wollte den König herausfordern.

Papa versuchte mich weiter zu ziehen, doch ich stemmte mich gegen ihn. Ich musste das verhindern, sonst würde ich ihn verlieren, noch ehe ich ihn richtig kennenlernen konnte. „Nein!“, schrie ich, doch niemand schenkte mir Gehör.

Von weiter hinten schob sich zwischen den lauernden Werwölfen die hochgewachsene Gestalt von Cerberus in den Vordergrund. Er sah nicht mehr ganz so geschniegelt aus. Seine Kleidung hatte einiges abbekommen und auch die perfekte Frisur war vieles, aber eben nicht mehr perfekt. „Siehe da, der Prinz ist zurückgekehrt“, höhnte er.

Einige Wölfe bleckten knurrend die Zähne, wagten es sich aber nicht einzugreifen. Lauernd beobachteten sie, wie der König an ihnen vorbei schritt und erst vor der untersten Stufe der Freitreppe zum Stehen kam.

Die beiden Kontrahenten starrten sich an, bis Aric wieder Anfang zu sprechen.

Dieser Kampf sollte nicht auf dem Rücken des Rudels ausgetragen werden und dabei sinnlos Leben verschwenden, wenn es sich doch so einfach klären lässt. Ein Zweikampf, nur du und ich. Der Verlierer wird sich dem Willen des Siegers beugen.“

„Ein Zweikampf mit dir?“ Cerberus zog eine Augenbraue nach oben. „Du bist der Sohn eines Misto.“

Ja und der eines Reinblüters, was mich ebenfalls zu einem macht. Und damit bin ich berechtigt dich herauszufordern, um deinen Platz einnehmen zu können.“

Cerberus Augen verengten sich leicht. „Ich werde dafür sorgen, dass du den Tag deiner Geburt bereuen wirst.“

Du kannst dir deine Drohungen sparen, sie haben mich noch nie beeindruckt.“

Der amtierende König griff so gelassen nach den Knöpfen seines Hemdes, dass es den Eindruck machte, er habe alle Zeit der Welt. Dabei setzte seine Verwandlung ein. Stück für Stück ließ er den Wolf in sich an die Oberfläche treten, während ein Teil nach dem anderen seiner Kleidung achtlos zu Boden segelte.

Ein Stück weiter fluchte ein Wolf, als ihm jemand auf die Rute trat. Im nächsten Moment trat Cio in mein Sichtfeld. Cayenne war ihm direkt auf den Fersen. Sie sahen beide nicht mehr ganz frisch aus.

Mich hielt nichts mehr bei meinem Vater. Mit eiligen Schritten rannte ich ihm entgegen und warf mich an seine Brust. Er lebte, oh Gott, er lebte. Die alte Narbe an seiner Augenbraue war zwar wieder aufgeplatzt und der Verband an seinem Arm hatte sich gelockert, aber ansonsten schien er heile zu sein. „Wir müssen sie aufhalten, sonst …“

Nein“, kam es von Cayenne. Sie ließ weder Cerberus noch ihren Sohn auch nur einen Moment aus den Augen.

„Wie kannst du das sagen?!“, fuhr ich sie an. „Er ist dein Sohn, er könnte dabei drauf gehen!“

Ihre Haltung sank förmlich in sich zusammen. „Es gibt keinen anderen Weg“, flüsterte sie.

Meine Eltern kamen an unsere Seite geeilt.

„Das kannst du nicht ernst meinen! Verdammt, Cayenne, du hast dein ganzes Leben für dieses Rudel geopfert, du hast mich geopfert und jetzt willst du das gleiche mit deinem Sohn machen?“ Das konnte ich einfach nicht glauben. „Wie kannst du nur …“

„Hör auf, Schäfchen“, mahnte Cio mich.

„Du auch?“, fragte ich ungläubig, obwohl er es mir bereits gesagt hatte. Doch ich konnte einfach nicht glauben, dass er es auch wirklich so meinte. „Aber …“

„Du kannst es nicht aufhalten. Niemand kann das. Aric wird es nicht zulassen.“

„Cio hat recht“, sagte mein Vater, auch wenn er damit nicht zufrieden war. „Manchen Dingen muss man eben einfach seinen Lauf lassen.“

Verdammt!

In der Ferne, über den Gipfeln der Wälder sah ich den Morgen herannahen, der das Bild vor mir in ein schauriges Licht tauchte.

Cerberus Körper krümmte sich. Er fiel nach Vorne und war im nächsten Moment das Tier, das er hinter seiner menschlichen Haut verbarg.

Im ganzen Hof war es unnatürlich still geworden. Nur wenige bewegten sich noch, um ihren Verletzten Genossen zu helfen. Aber selbst dabei waren sie so leise, das sie kaum mehr als Schatten waren.

Komm, Welpe“, knurrte Cerberus. „Lass uns tanzen.“

Er zögerte. Ich sah es ganz genau. Aric zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, bevor er langsam die Treppe runter trabte und in dem Moment wurde mir klar, dass ich recht hatte. „Er will das nicht“, flüsterte ich und klammerte mich an Cios Arm.

Cayenne legte die Ohren an. Sie wusste dass ich recht hatte, aber jetzt war es zu spät, es ließ sich nicht mehr aufhalten. Egal ob Aric wollte, Cerberus würde sich auf ihn stürzen und sollte jemand von außen eingreifen, würden die Kämpfe nicht nur von neuem beginnen, sie würden des Verrats wegen erbarmungsloser geführt werden als vorher.

Durch das Loch, das einmal das Portal gewesen war, kamen zwei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Die blonde Gefährtin von Cerberus, im Blick Triumph, da sie um den Sieg ihres Gefährten wusste und neben ihr Sadrija, die nur ein Schatten ihrer selbst zu sein schien. Sie wirkte so blass und zerbrechlich, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn sie im nächsten Moment durchscheinend geworden wäre, nur um sich dann einfach in Luft aufzulösen.

Ein leichtes Grollen ging durch die Wölfe, als Aric den Fuß der Treppe erreicht hatte und er Cerberus mit Blicken herausforderte den ersten Schritt zu machen. Und das tat er auch. Ohne ein Zeichen der Warnung stürzte er sich mit gebleckten Zähnen auf Aric und riss ihn zu Boden. Der Prinz jaulte auf, Zähne bohrten sich in sein Nackenfell und schüttelten ihn. Seine Pfoten kratzen auf der Suche nach Halt über den steinernen Boden, doch Cerberus riss in ein Stück herum, so dass er wieder abrutschte.

Ich schlug die Hand vor den Mund, als Aric versuchte sich zu drehen, um nach den König zu schnappen aber nur Luft zu fassen bekam. Doch dann gelang es ihm doch irgendwie sich unter Cerberus auf den Rücken zu drehen und ihn mit den Pfoten wegzustoßen. Dabei riss der König ihm mehr als nur ein Büschel Fell aus dem Nacken heraus und der Geruch nach Blut breitete sich langsam aus.

Und du willst König werden?!“, höhnte Cerberus und versuchte mit der Zunge die Fellreste aus seiner Schnauze zu bekommen. „Du bist nicht mal ein Königspudel!“

Aric bleckte die Zähne, sprang auf die Beine und stürzte sich auf seinen Großcousin. Mit angelegten Ohren und gesträubten Rückenfell krachten die beiden Kontrahenten aufeinander und schenkten sich nichts. Sie verbissen sich in Beine, Ohren, Hals, alles was sie erreichen konnten. Sprangen wieder auseinander, um erneut aufeinander loszugehen.

Die Luft war erfüllt von ihrem Grollen und Knurren und mehr als ein Zuschauer musste eilig zur Seite springen, um nicht mit in den Kampf gezogen zu werden.

Ich krallte meine Finger in Cios Arm, um zu verhindern, dass ich mich einmischte. Davon abgesehen, dass ich es nicht durfte, würde ich es damit auch nicht besser, sonder nur noch schlimmer machen.

Aric jaulte laut auf, als Cerberus ihn an der Flanke erwischte und an dem Bein zog und zerrte, bis das Geräusch von reißendem Fleisch an meine Ohren drang.

Cayenne spannte alle Muskeln an und knurrte. Sie war kurz davor auf Regeln zu scheißen und ihr Kind zu retten. Und auch oben auf der Freitreppe wirkte Sydney mit einem mal doppelt so groß. Im Gegensatz zu seiner Gefährtin gab er kein Geräusch von sich, doch die Muskeln waren zum zerreißen gespannt, bereit jeden Moment in Aktion zu treten.

Cerberus ließ von Aric ab, der eilig ein paar Schritte weghumpelte. In seinem Schenkel klaffte eine große Fleischwunde.

Ich sah den Schmerz in seinen Augen, sah wie stark er hechelte. Er war Cerberus nicht gewachsen und trotz dieses Wissens stürzte er sich wieder auf ihn. Doch der König hatte damit gerechnet, konnte Arics langsame Bewegungen abschätzen und sprang im richtigen Moment einfach zur Seite, um ihn dann zu Boden stoßen zu können und sich in seine Kehle zu verbeißen. Wieder jaulte Aric auf. Er trat nach Cerberus, schnappte nach seinem Ohr und zerrte daran, bis es blutete, aber gleichzeitig wurde ihm der Atem knapp. Er röchelte, die Muskeln arbeiteten auf Hochtouren. Mit den Hinterbeinen kratzte er Cerberus den ganzen Innenschenkel auf, doch der verstärkte seinen Biss nur noch.

„Er wird ihn töten“, flüsterte ich. Ich musste etwas unternehmen.

In nächsten Moment war Cerberus es, der ein schmerzerfülltes Jaulen von sich gab und zur Seite wegsprang. Aric hatte es geschafft seine Zähne in den Kopf zu schlagen und ihm die Haut um die Augen aufzureißen.

Röchelnd rollte mein Halbruder sich auf den Bauch und hustete ein paar Mal, doch der König gab ihm keine Gelegenheit sich zu erholen. Schon war er wieder über ihm und verbiss sich in seine Schulter. Dann waren die beiden nur noch ein knurrender Haufen aus Zähnen und Fell, der sich über den Vorplatz des Schlosses wälzte. Sie bissen, rissen, und kratzten sich. Dabei wirbelte der Staub von der Explosion um sie herum auf. Die windenden Körper zerrissen die Nebelfetzten und dann schaffte Aric es seinen Großcousin von sich zu stoßen und ihm an die Kehle zu gehen.

Meine Augen wurden groß. Und zum ersten Mal glaubte ich, dass er es doch schaffen konnte. Er biss immer fester zu, ließ den zappelnden König nicht mehr auf die Beine kommen. Sein ganzes Körpergewicht drückte ihn herunter.

„So ist es richtig“, flüsterte Cio neben mir. „Komm schon, unterwirf dich du Dreckssack.“

Mein Blick huschte kurz zu Cio hoch. Glaubte er wirklich, dass Cerberus seinen Stolz hinunterschlucken konnte? Eher würde er sterben und genau das war es, worauf es in diesem Kampf hinaus lief. Wenn Aric gewinnen wollte, musste er den König töten.

Doch das Machtverhältnis zwischen ihren verschob sich wieder, als Cerberus das Bein seines Großcousins zwischen die Zähne bekam und mit aller Kraft zubiss.

Das Jaulen das Aric ausstieß, war markerschütternd.

Cayenne machte einen Satz nach vorne, zwang sich dann aber wieder zurückzuweichen und knurrte nur leise und auch Sydney stand nicht mehr oben auf der Freitreppe, sondern fast unten am Fuß.

Aric sprang zur Seite, doch Cerberus ließ ihn nicht los. Er stolperte und pflügte mit der Nase voran den Boden.

Und das war der Moment, in dem wir alle wussten, was geschehen würde. Die Fleischwunde in der Flanke, der gedrückte Kehlkopf, die Pfote, die zumindest stark gestaucht, wenn nicht sogar gebrochen sein musste. Es war vorbei, er konnte nicht mehr gewinnen. Er hatte nie eine Chance gehabt. Er konnte es weder mit List und Tücke, noch mit Kraft mit Cerberus aufnehmen.

Aric ließ sich einfach auf den Rücken fallen und bot dem stärkeren Wolf die Kehle dar. Er gab auf, unterwarf sich und damit auch jene, die ihm gefolgt waren.

Der Triumph spiegelte sich in den Augen des Königs. Er ließ von dem Bein ab und stürzte sich auf die Kehle.

„Nein!“, schrie ich und stürmte los ohne zu peilen was ich da eigentlich tat, doch Cio erwischte mich noch am Arm und riss mich mit einem Ruck zurück. „Nein!“, schrie ich wieder. „Wir müssen …“

„Du darfst dich da nicht einmischen, sonst …“

„Aber er wird ihn töten!“ Ich sah es ganz deutlich, sah die Mordlust in seinen Augen, wie er sich an der Atemnot des Prinzen weidete.

„Cerberus, genug!“, kam da der Ruf von einer völlig unerwarteten Stelle.

Sadrija.

Sie stand oben an der vordersten Kante der Freitreppe und blickte hinunter auf das grausame Schauspiel.

Doch Cerberus Grollte nur leise.

Alle Blicke waren auf die einstige Prinzessin gerichtet, als sie mit langsamen, vorsichtigen Schritten die Freitreppe hinabstieg. „Zufiel Schrecken, so hab ich das nicht gewollt, so war das nicht geplant“, flüsterte sie dabei so deutlich, dass es wohl auch der Letzte auf diesem Hof hören konnte. „Das Rudel brauch Frieden und Wohlstand, keinen Krieg der es auseinander reißt.“

Ein leises, verwirrtes Knurren drang aus Cerberus Kehle, doch auch wenn er nicht von Aric abließ, so biss er nicht fester zu.

„Kummer, Schmerz, Leid. Ich muss das beenden. Die Regeln müssen gewahrt bleiben, er hat sich unterworfen, Cerberus, du bist der Sieger, der König des Rudels.“ Sie erreichte die unterste Stufe der Treppe und lief langsam, wie in Trance auf die beiden Wölfe zu. „Er muss nicht sterben. Er hat sich unterworfen, er gibt auf, hat deine Stärke anerkannt.“

Es war nicht ganz klar, ob sie nun mit sich selbst, oder mit Cerberus sprach. Vielleicht redete sie aber auch mit dem ganzen Rudel.

Ich sah verwirrt zu Cio auf, doch der schien sich darauf auch keinen Reim machen zu können.

„Schenk ihm das Leben. Er wollte nichts böses, er wollte den Frieden. Frieden, das ist es, was das Rudel brauch. Die Etikette muss gewahrt bleiben, die Regeln eingehalten werden. Leukos wünscht dies nicht. Kein Krieg, kein Leid. “ Sie kam neben den beiden zum Stehen.

Aric japste immer noch unter Cerberus, stemmte ihm seine Beine gegen die Brust, wagte es aber nicht ihn von sich zu stoßen.

Plötzlich schien Sadrija zu wachsen und die gebrochene Seele in ihr an Stärke zu gewinnen. Ihre durchscheinende Art wurde fest und ihr Gesicht bekam etwas Hartes, Unbeugsames. „König Cerberus Fenris Amarok, ich, Sadrija Amarok, geborene Prinzessin durch Blut, Tochter von Prinessin Alica, Titel durch Blut, und Prinz Manuel, direkte Nachkomme von König Isaac, fordere dich hiermit zu einem Zweikampf um den Thron heraus.“

Nach diesen Worten brach auf dem ganzen Vorhof leises Gemurmel aus. Natürlich, jeder hier wusste in der Zwischenzeit, wer sie einst gewesen war, doch damit hatte nun wirklich niemand gerechnet. Nicht einmal der König selber.

Er ließ von Aric ab, der sofort japsend nach Luft schnappte und neigte den Kopf in sehr hündischer Manier zur Seite. „Du?“, fragte er ungläubig. „Du forderst mich heraus?“

Sydney und Cayenne stürzten zu ihrem Sohn und mich hielt auch nichts meiner an Ort und Stelle.

„Ich bin nicht nur eine Tochter des Königshauses, ich stamme sogar aus direkter Linie von König Isaac ab. Leukos hat mich schon in meiner Kindheit als Alpha dieses Rudels anerkannt“, sagte Sadrija klar und deutlich. „Ich habe das Recht dich herauszufordern, denn ich bin ein geborener Alpha des Königshauses.“

Das brauchte ihn für einen Moment aus dem Konzept, doch er hatte sich schnell wieder gefangen. „Meine liebe Sadrija. Aufgrund deines körperlichen … Zustandes lehne ich diese Herausforderung ab.“

Sadrijas Lider senken sich ein wenig. „Warum? Glaubst du, du seist mir nicht gewachsen?“

Er schnaubte belustigt. „Nein, ich schlachte nur nicht gerne Frauen ab, die so schwach sind, dass sie morgens kaum in der Lage sind ihr Bett zu verlassen.“

Stimmt, dafür schickte er sonst immer seine Männer vor, um sich nicht selber die Hände dreckig machen zu müssen. Ich sandte ihm einen hasserfüllten Blick, während meine Hände besorgt über Arics Fell strichen. Du bist so dumm, so dumm.

„Du bist grausam, Cerberus“, sagte sie mit leiser Stimme. „Grausamer noch als vieles was mir widerfahren ist, grausamer als König Isaac, der oftmals mit viel zu strenger Hand über das Rudel geherrscht hat.“ Sie schüttelte kaum merklich den Kopf, als könnte sie nicht glauben, dass das wirklich möglich war. „Ich habe einen Fehler gemacht, als ich deiner Mutter half. Ich war verwirrt, verängstigt und glaubte ihre Täuschung, da ich nicht klar denken konnte. Doch jetzt weiß ich dass es ein Fehler gewesen war und ich diesen beheben muss, damit das Rudel endlich Frieden findet.“ Sie trat einen Schritt vor, selbstsicherer als sie wirkte. „Die Herausforderung wurde ausgesprochen. Du musst sie annehmen, oder kampflos von deinem Posten zurücktreten. So ist das Gesetzt, dass du in den letzten Wochen mit Füßen getreten hast. Du hast die Wahl.“ Sie öffnete die Hände und breitete die Arme ein wenig aus. „Es liegt allein bei dir.“

Dem König sträubte sich das Rückenfell. Es passte ihm so gar nicht, von einer so kaputten Frau bloßgestellt zu werden. Und kampflos würde er seinen Thron sicher nicht aufgeben. „Ich gebe dir die Möglichkeit, deine Herausforderung zurückzuziehen und so dankst du es mir?!“

Sadrija sah ihn nur stumm an und wirkte dabei so zerbrechlich, als würde der nächste Windhauch sie einfach umpusten.

Dann sei es so“, knurrte er.

Als wenn Sadrija nur drauf gewartete hatte, setzte Augenblicklich ihre Verwandlung ein. Diese ging so schnell vonstatten, wie ich es in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen hatte und auch viele der anderen Wölfe schnappten hörbar nach Luft. In dem einen Moment war sie noch ein Mensch. Dann beugte sie sich in einer geschmeidigen Bewegung nach vorne und kam als Wolf auf dem Boden auf.

Das Kleid rutschte ohne viel Zutun von der mageren Gestalt und ließ einen Wolf zurück, der nicht nur klein und zerbrechlich wirkte, sondern auch einen, bei dem man jede Rippe einzeln zählen konnte. Wenn das jetzt noch so schlimm aussah, wollte ich nicht wissen, was für ein Anblick sie noch vor ein paar Wochen gewesen sein musste.

Und dann geschah erst mal gar nichts. Die beiden standen sich einfach nur schweigend gegenüber und starrten sich an, als wüssten sie nichts miteinander anzufangen.

Währenddessen brachten Cio und mein Vater Aric zur Seite, um ihn aus dem Schussfeld zu haben. Cayenne wich ihm dabei nicht einen Moment von der Seite und redete die ganze Zeit leise auf ihn ein. Er hatte Schmerzen, das war offensichtlich und war mehr als froh, sich an der Seite wieder hinlegen zu können, bis jemand kam, der ihm helfen konnte.

Hast du es dir anders überlegt?“, fragte Cerberus lauernd.

Nein. Ich warte darauf das du den ersten Schritt machst.“ Wie sie das sagte, so völlig unbeteiligt, als ginge sie das alles gar nichts an. „Ich habe dich in der letzten Zeit oft kämpfen sehen, Cerberus und du warst immer derjenige, der den ersten Schritt getan hat.“

Dann soll es auch dieses Mal so sein.“ Doch entgegen seiner Worte griff er nicht sofort an, sondern schlich erst einmal um sie herum. Sie verunsicherte ihn. Ihre Gestalt, ihre Ruhe, die ganze zerbrechliche Präsenz. Warum begab sie sich in einen Kampf, den sie auf keinen Fall gewinnen konnte? Er war stärker, größer, jünger. Sie hatte keine Chance gegen ihn!

Ich bildete mir gerne ein, dass es genau diese Dinge waren, die ihm durch den Kopf schossen, als er sie langsam und lauernd umkreiste, denn in meinem Kopf schwebten genau diese Gedanken, als ich die beiden beobachtete. Und den anderen um mich herum ging es nicht anders. Warum nur machte Sadrija das? Hatte sie Todessehnsucht?

Warum zögerst du?“, fragte Sadrija leise und senkte den Kopf ein wenig, ohne ihren Gegner dabei aus den Augen zu lassen. Ihre Stimme hatte etwas Sanftes, fast Geisterhaftes an sich. „Fürchtest du dich etwa?“

Cerberus bleckte die Zähne. „Ich soll mich vor sowas wie dir fürchten?!“ Und damit griff er an. Es ging so schnell, dass der gesamte Vorhof hörbar nach Luft schnappte, als der riesige Wolf, auf die zerbrechliche, blonde Hündin zusprang und sie unter sich zu begraben drohte. Doch einem Wunder gleich schaffte er es nicht seine Zähne in sie zu graben, sondern nur mit seiner Schnauze über den Boden zu pflügen.

Sadrija war einfach flink zur Seite gesprungen und sah ihm nun mir ruhiger, ausdrucksloser Miene entgegen, als er verärgert zu ihr herumwirbelte. Er preschte vor, als wollte er sie frontal in die Seite rammen, kalkulierte sogar mit ein, dass sie wieder versuchen würde auszuweichen und trotzdem sprang er ins Leere, Sadrija kaum einen Meter entfernt.

Er knurrte frustriert auf und sprang dieses Mal eiskalt auf sie zu, um sie zu packen. Um ein Haar gelang es ihm auch, doch Sadrija ließ sich im letzten Moment einfach flach auf den Boden fallen und sah zu, wie der große Wolf über sie rüber sprang.

Dieses Spiel trieben die beiden in den nächsten Minuten mehrmals, bis Cerberus frustriert grollte. „Bist du ein feiges Kaninchen? Das ist kein Kampf, das ist …“

Plötzlich schoss Sadrija so schnell vor, biss ihm ins Ohr und sprang wieder weg.

Cerberus jaulte auf, schüttelte den Kopf, als könnte er so den Schmerz loswerden und wirbelte zu ihr herum, doch da hatte sie sich schon wieder in Bewegung gesetzt. Sie sprang ihm einfach auf den Rücken, verbiss sich in seinem Nacken und zog und zerrte daran, bis die Zähne durch die Haut drangen. Dabei zerkratzte sie ihm den breiten Rücken in dem Versuch nicht runter zu fallen.

Cerberus brüllte auf, schnappte nach ihr und ließ sich dann einfach zu Boden fallen, als er sie nicht zu fassen bekam. Er war versucht sie einfach unter sich zu begraben, doch sie war schon wieder aus seiner Reichweite und wartete geduldig blickend ab, was er jetzt tun würde.

Sie spielt mit ihm, wurde mir klar. Sie wusste ganz genau was sie da tat und das was sie ihm nicht durch Stärke und roher Gewalt entgegensetzen konnte, glich sie mit List und Tücke aus.

Wir alle hatten uns getäuscht. Jeder hier hatte geglaubt, dass ihre Herausforderung ein Selbstmordkommando sei, dass sie keine Chance gegen den König habe, doch niemand hatte dabei ihre Vergangenheit bedacht. Niemand hatte sich bewusst gemacht, was es genau bedeutete, dass sie einst als Prinzessin in diesem Schloss gelebt hatte.

Sie hatte gekämpft. Jeden verfluchten Tag in den letzten Jahren hatte sie ums Überleben gekämpft und sich dabei eine Stärke angeeignet, die Cerberus niemals erreichen würde – nicht mal, wenn er dasselbe durchleiden müsste wie sie. Und das bekam er nun zu spüren.

Ja, sie war eindeutig schwächer als er, aber sie war viel schneller und schaffte es immer wieder ihn mit Bissen zu attackieren, aber ihm gelang es nicht ein einziges Mal sie zwischen die Zähne zu bekommen. Sie biss ihm in die Schnauze, in die Beine, den Rücken, Hals, Nacken, Rute. Immer nur kurz aber fest und dann sprang sie wieder aus seiner Reichweite.

Cerberus blutete bereits aus vielen kleinen Wunden und sein Atem ging schon lange nicht mehr so ruhig, wie er sich das wohl gewünscht hätte. Sie machte ihm mürbe. Sie ließ sich Zeit, wartete geduldig und brachte ihn mit jedem neuen Angriff ein kleinen wenig mehr aus der Ruhe.

Doch er verstand es nicht. Seine Flanken zitterten, seine Brust hob und senkte sich in einem schnellen Rhythmus, aber er achtete gar nicht auf diese Zeichen der Schwäche, die ihm sein Körper sandte. Die Frustration trieb ihn immer wieder dazu an, ihr hinterher zu jagen, mehr Energie aufzubringen, um seine Beute zu schnappen, um ihr zu zeigen, wer hier der Stärkere war und merkte dabei nicht, dass seine Bewegungen immer träger wurden und er immer wieder Fehler machte.

Als er dann auch noch bei einem Manöver über seine eigenen Beine stolperte und Sadrija das sofort ausnutzte, um sich ein weiteres Mal in seinen Nacken zu verbeißen, schien bei ihm eine Sicherung durchzubrennen. Plötzlich biss er wild um sich, jagte ihr unkontrolliert hinterher, in dem Versuch ihn zu erwischen und bemerkte dabei gar nicht, dass Sadrija ihn in eine Falle lockte.

Auch der Rest des Rudels peilte das erst, als es geschah.

Sadrija rannte direkt auf die Mauer des Schlosses zu – viel zu schnell. Achtete dabei genau darauf, dass Cerberus in seiner blinden Wut direkt hinter ihr war und da geschah es. Im letzten Moment wich sie zur Seite aus. Doch er schaffte es nicht mehr abzubremsen. In voller Geschwindigkeit krachte er gegen die Mauer. Sein Aufjaulen schallte über den ganzen Platz und noch bevor er die Benommenheit abschütteln konnte, stürzte Sadrija sich mit gebleckten Zähnen auf ihn und verbiss sich in seiner Kehle.

Hilf ihr, flüsterte da eine Stimme.

Einen Moment abgelenkt, sah ich mich um, doch da war niemand und das Knurren der Wölfe zog meine Aufmerksamkeit sofort zurück auf das Geschehen.

Ihre Kiefer drückte sie dabei so fest zusammen, dass er schon nach Sekunden hart nach Luft schnappte, um nicht zu ersticken. Er trat nach ihr, versuchte sie mit den Krallen zu verletzten, was ihm teilweise auch gelang, doch sie gab ihn nicht frei. Sie musste Schmerzen haben, seine Krallen bohrten sich immer tiefer in ihren dünnen Pelz und zerkratzen die Haut darunter an mehr als nur einer Stelle, doch sie gab nicht nach. Ganz im Gegenteil. Ihr Biss wurde immer fester, ließ sogar das Röcheln verstummen.

Das war der Moment in dem Cerberus es zum ersten Mal in seinem Leben mit der Angst zu tun bekam. Ein letztes Mal versuchte er sich aufzubäumen, wollte sie abschütteln, doch die Schwäche hatte bereits von ihm Besitz ergriffen. Seine Bewegungen waren träge und unkontrolliert und dann sackte er einfach in sich zusammen und blieb regungslos am Boden liegen.

Damit endete der Kampf genauso still und leise, wie er begonnen hatte.

Einen Moment verharrte Sadrija noch, um sicher zu gehen, dass Cerberus nicht versuchte sie reinzulegen, aber nach weiteren endlosen Sekunden löste sich ihr Kiefer von seiner Kehle und sie trat zurück. Ihre Beine zitterten, ihr ganzer Körper zitterte und sie sah leicht wackelig aus. Das Ganze war wohl doch anstrengender gewesen, als es den Anschein gehabt hatte. Doch sie hielt sich auf den Beinen, trat einen weiteren Schritt von ihm zurück und wandte sich dann dem Rudel zu.

Cerberus Brust hob und senkte sich leicht. Sie hatte ihren Gegner nicht getötet, er war nur bewusstlos, doch der Sieg über den Rivalen war damit unbestreitbar klar.

„Oh mein Gott“, hauchte ich und klammerte mich fester an Cios Arm. „Sie hat gewonnen.“

Es ist vorbei!“, sagte Sadrija mit lauter, klarer Stimme. „Dieses Rudel hat eine neue Führung und wie es das Gesetz verlangt, werde ich keine Herausforderung bis zur offiziellen Krönung annehmen und auch dann nur, wenn wieder Frieden und Normalität in das Rudel eingekehrt sind.“ Sie drehte sich ganz herum und überblicke die Wölfe, Lykaner und Vampire, die das Schauspiel mitangesehen hatten. „Als Alpha ist es mein Recht das zu bestimmen, um den Frieden und die Sicherheit zu wahren. Dieses Mal konnten wir eine Entdeckung durch die Menschen noch ganz knapp abwenden, doch das wird uns sicher kein weiteres Mal gelingen.“

Die folgende Stille wurde von einem Wächter unterbrochen, der seinen Kopf in den Nacken warf und zur Anerkennung den aufbegehrenden Morgen anheulte. Ein zweiter und ein dritter stiegen mit ein und plötzlich war die Luft erfüllt, von der Gemeinschaft, die diese eine Geste hervorbringen konnte.

„Wo ist sie?“, fragte mein Vater plötzlich und etwas in seiner Stimme ließ mich alarmiert aufhorchen.

„Wer?“

„Gnocchi.“ Er sah sich panisch um, sah zurück zu der Stelle, an der wir vorhin noch gestanden hatten, aber hier waren so viele Leute. Jetzt wo der Kampf beendet war, gerieten sie in Bewegung. Verhaltene Freude brach aus und es war kaum möglich eine einzelne Gestalt zwischen ihnen auszumachen – noch dazu wen sie so klein war wie meine Mutter.

Auch mein Kopf wirbelte auf der Suche nach ihr herum. In mir machte sich ein ganz mulmiges Gefühl breit. Meine Mutter würde in so einer Situation doch nicht einfach davon spazieren. So verrückt war nicht einmal sie.

„Wir teilen uns auf und suchen sie“, sagte Cio. „So finden wir sie schneller.“ Und schon war er in der Menge untergetaucht.

Ich schlug mit meinem Vater eine andere Richtung ein und bekam noch mit, dass sich auch Sydney auf die Suche machte und ein paar der Themis um Hilfe bat.

Ich sah große und kleine Frauen und Männer, sah ein paar Bekannte, aber noch mehr fremde Gesichter. Die Leute halfen sich gegenseitig, bargen und versorgten die Verletzten und verdauten das, was sie die letzte Stunde erlebt hatten.

Ich sah Wölfe in menschlicher und tierischer Gestalt, Vampire, aber keinen einzigen Ailuranthropen.

Mit jeder verstreichenden Sekunde, jedem Blick und jedem Schritt den ich sie nicht entdecken konnten, wurde ich nervöser. Aber das war nichts entgegen dem, was mein Vater in diesen Minuten der Unwissenheit durchmachte.

Wo war Mama? Wo konnte sie sein?

„Schäfchen!“, rief Cio da nach mir. Er drängte sich an zwei Wächtern vorbei, die einem verletzten Themis halfen und rannte dabei fast noch eine Frau über den Haufen, so eilig hatte er es, zu uns zu kommen. „Die Ailuranthropen haben sie!“, rief er da.

Die Augen meines Vaters weiteten sich.

„Einer der Wächter, ein Freund hat gesehen, wie ein Ailuranthrop eine Frau scheinbar gegen ihren Willen weggezerrt hat. Er hat sich nichts dabei gedacht, weil sie auch eine Ailuranthrop ist.“

„Wann“, fragte ich, die es kaum fassen konnte. Der hatte das gesehen? Warum hatte er nichts unternommen!? „Wie lange ist das her?“

„Fünf, vielleicht zehn Minuten.“

Mein Vater packte Cio grob am Arm. „Wo sind sie hingelaufen?!“

Er zeigte nach rechtes, direkt durch das Loch in der Mauer, durch das die Themis sich Zugang zum Schoss verschafft hatten.

Im nächsten Moment spürte ich nur noch einen Luftzug und mein Vater war verschwunden. Auch mich hielt hier nichts mehr.

 

°°°

 

Die Bäume flogen nur so an mir und Cio vorbei. Ich gab alles was ich hatte und trotzdem hatte ich meinen Vater bis jetzt nicht einholen können. Vor mir konnte ich bereits die ersten Häuser von Silenda ausmachen.

Ich gab noch mehr Gas, achtetet nicht darauf, wie sich Dreck in kleine Steinchen in meine Fußsohlen gruben und bei jedem Schritt Schmerz in meinen Körper schickten. Da gab es nur diesen einen Gedanken, der mich vorwärts trieb. Sie hatten meine Mutter!

In einem kleinen, sehr kurzen Moment hatte ich wirklich glauben können, dass alles wieder gut werden würde und dann schnappten diese feigen Hunde sich Mama in einem Augenblick, in dem keiner auf sie achtete. Das war …

Ein Fauchen drang durch die morgendliche Stille, die so gar nicht zu dem passen wollte, was gerade noch im Schloss geschehen war.

„Da!“, rief Cio und zeigte mitten in den Wald hinein.

Ein weiteres Fauchen, ein Schrei.

Cio und ich jagten ins Unterholz, immer den Geräuschen nach. Da fand ein Kampf statt, ich hörte dir Geräusche und das Fauchen in der Luft kam nicht nur von den Ailuranthropen. „Das ist mein Vater!“

Tiefer zwischen den Bäumen bewegten sich hektische Schatten. Cio und ich hielten direkt auf sie zu, doch auf den Anblick der sich mir dann bot, war ich nicht gefasst gewesen. Dort im Unterholz, auf matschigem Laub und Schneeresten, versuchten zwei Ailuranthropen meinen Vater von einem dritten runter zu zerren. Ein Stück weiter entdeckte ich Fujo, die immer wieder stolperte, so sehr zog Hisham sie mit seiner unverletzten Hand hinter sich her. Und nur ein Stück vor ihnen lief Pandu. Meine Mutter hatte er sich über die Schulter geworfen.

Sie schrie, trat wütend um sich und zog ihm die Krallen über den Rücken, nur um gleich aufzuschreien. Egal was Pandu getan hatte, es hatte ihr wehgetan.

„Hilf meinem Vater!“, rief ich Cio zu und rannte weiter.

Cio stürzte sich auf die andern Ailuranthropen.

Durch meine Stimme aufmerksam geworden, drehte Fujo sich im Lauf herum, übersah damit die Wurzel zu ihren Füßen und fiel. Hisham half ihr eilig wieder auf die Beine und zerrte sie entschlossen weiter hinter sich her.

Pandu hatte einen kleinen Vorsprung gewonnen, der ihm flöten ging, als meine Mutter sich an den nächsten Ast klammerte, der ihren Weg streifte.

Pandu, der damit nicht gerechnet hatte, wurde durch die Fliehkräfte nach hinten gezogen und krachte auf den Rücken. Meine Mutter hing halb über ihm, noch immer den Ast zwischen den Händen, zögerte sie nicht und versetzte ihm einen Tritt. Dann gab sie Sporen und rannte mir entgegen.

„Pass auf!“, schrie ich, doch da hatte Hisham sie schon mit sich zu Boden gerissen.

Ein paar Meter weiter stand Fujo mit großen Augen und wusste offensichtlich nicht was sie tun sollte. Pandu arbeitete sich wieder auf die Beine und kam seinen Rudelgefährten zu Hilfe. Er erreichte meine Mutter und Hisham genau in dem Moment, als auch ich bei den beiden ankam, wollte sie am Arm packen, doch ich rannte ihn einfach um.

Jetzt war Feierabend. Ich wollte und konnte das nicht länger mitmachen. Es war meine Schuld gewesen, dass sie wieder auf meine Mutter aufmerksam geworden waren und deswegen würde ich auch alles tun, damit sie sie endlich in Ruhe ließen.

Meine Fänge fuhren aus, wollten sich in die Schulter des Mannes graben, doch da erwischte mich ein Schlag am Kopf und warf mich zur Seite.

Ich hörte Fauchen und Rufe, dann war Pandu auch wieder auf den Beinen.

Von weiter hinten sah ich Papa und Cio herannahmen.

Pandu wollte Hisham helfen, griff wieder nach meiner Mutter.

„Nein!“ Ich trat ihm die Beine unter dem Körper weg und war wohl noch überraschter als er, dass dieses Manöver auch gelang.

Pandu stürzte neben Hisham, der gerade versuchte meine fauchende Mutter auf die Beine zu zerren. Da wurde Fujos Großvater auch schon wie ein Rammbock von meinem Vater gerammt.

„Grootvader!“

Cio sprang auf Pandu und versetzte ihm einen kräftigen Schlag ins Gesicht.

Ich arbeitete mich hastig auf die Beine und stürzte an Mamas Seite. Sie hielt sich den Kopf und schien leicht orientierungslos. „Mama, steh auf.“

„Donasie?“

„Ja, komm, steh auf.“ Ich packte sie beim Arm und versuchte sie hochzuziehen, doch ihre Beine wollten ihr Gewicht einfach nicht tragen.

Ein plötzlicher Stoß in den Rücken ließ mich nach vorne straucheln. Ich stolperte über Mamas Beine und schaffte es gerade noch die Arme hochzureißen, bevor ich auf die Knie krachte.

„Nie Pa!“, schrie Fujo da.

Ich wirbelte herum.

Da war noch ein Kerl – wo kam der den plötzlich her? – und ich konnte gerade noch sehen, wie er ein Messer aus einer Fußscheide zog und meiner Mutter an die Kehle hielt, als er sie an den Haaren auf den Beinen zog.

„Lass mich los, Bijan!“

„Pa!“, rief Fujo wieder.

Pa? War dieser Bijan etwa Fujos Vater?

Das Medaillon, flüsterte da der Wind. Nein, nicht der Wind, das war meine Tante. Ich hatte ihre Stimme bereits so lange nicht mehr gehört, dass ich einen Moment brauchte, bis ich sie erkannte. Wir brauchen das Medaillon.

„Wozu?“ Ich rappelte mich wieder auf die Beine und spürte in dem Moment einen Schmerz durch mein Knie jagen, der mich wieder auf den Boden zwang. Scheiße, ich musste mich beim Sturz verletzt haben. „Papa!“, schrie ich. „Er hat Mama!“

Das Medaillon, Donasie. Hol mich in die Welt der Lebenden, damit die Trauer endlich ein Ende findet.

Medaillon, Medaillon, was für ein Medaillon?

Panisch sah ich zu meiner Mutter, die rückwärts von diesem Kerl weggezogen wurde. Mein Vater konnte ihr nicht helfen, er hatte alle Hände voll zu tun, denn da war noch ein Ailuranthrop aufgetaucht – wo kamen die nur alle her? Und Cio hatte selber schwer damit zu kämpfen, sich die Zähne eines Leoparden vom Hals zu halten. Er war bereits halb verwandelt.

Das Medaillon deiner Mutter. Schnell!

„Mama, dein Medaillon!“, rief ich ihr entgegen, doch auch wenn sie es hörte, sie konnte nicht danach greifen und Tante Lalamika in diese Welt holen. Dieser Bijan zerrte sie immer weiter von mir weg. „Scheiße!“, fluchte ich und versuchte mich trotz der Schmerzen auf die Beine zu arbeiten. „Mama!“ Ich humpelte vorwärts. Vielleicht konnte ich dieses Sackgesicht soweit ablenken, dass meine Mutter genug Zeit hatte meine Tante heraufzubeschwören. „Das Medaillon!“, rief ich wieder und dieses Mal schien sie mich gehört zu haben. Eine Hand noch immer an ihrem Kopf, griff sie sich mit der andern an den Hals und riss sich in ihrer Hast die Kette vom Nacken. Das Medaillon fiel zwischen Moos und vertrocknete Blätter, während Bijan sie immer weiter fortzerrte.

Scheiße, sie hatte es fallen lassen!

Du musst es machen, Donasie.

„Was? Ich?!“

Geh, hohle es, befreie mich.

Und noch mal scheiße. „Ich kann das doch gar nicht.“ Trotzdem humpelte ich weiter und ließ in das vertrocknete Laub sinken. Meine Hände tasteten wild nach dem kleinen Schmuckstück, während mein Blick immer wieder zu meiner Mutter huschte.

Sie hatte ihre Krallen in eine der Bäume geschlagen und als Bijan sie davon losmachen wollte, schlug sie mit der anderen Hand nach seinem Gesicht.

Schnell, sagte ich mir. Schnell. Ich tastete über den Boden. Laub und kleine Stöcker raschelten zwischen meinen Händen. Irgendwo hinter mir knurrte Cio, das Fauchen der Ailuranthropen zerriss die Luft, und dann trafen meine Finger auf das kühle Metall. Hastig nahm ich es an mich. Die ovale Form schmiegte sich passgenau in meine Hand, die silberne Fassung schimmerte leicht im Zwielicht des Morgens. Ich konnte sogar das filigrane Pentagramm auf der gläsernen Oberfläche über dem Hohlraum zu erkennen. „Was soll ich tun?“

Du musst glauben, Donasie. Glaube und es wird geschehen.

„Aber ich habe es noch nie geschafft zu glauben!“, erwiderte ich kopflos.

Du musst!

Verdammt. Theoretisch wusste ich, wie es funktionierte. Es war nicht das Wissen, sonder der Glaube, in dem die Macht wohnte. Wenn ich glaubte, dass es Geister gab, dann konnte ich sie rufen. Das Problem war nur, dass ich es wusste und nicht genau verstand, wo da der Unterschied lag.

Trotzdem berührte ich die Oberfläche des Medaillons, ließ meinen Finger über das Glas wandern, wie ich es schon so oft bei meiner Mutter gesehen hatte, doch nicht passierte. Mein hektischer Blick flog wieder zu Mama, zu Cio und Papa. Immer intensiver rieb ich über das Glas, doch es geschah einfach nichts.

Langsam wurde ich panisch. Was machte ich denn falsch? Ich glaubte doch an Geister. Nein, ich glaubte nicht nur an sie, ich wusste sogar, dass es sie gab! Warum also geschah nichts?

Wissen ist nicht dasselbe wie Glaube. Du musst glauben, Donasie.

„Und wie soll ich das Bitte machen?“ Ein gefährliches Knurren ließ mich aufblicken. „Warum zeigst du dich ihnen nicht einfach? Ich dachte jeder Ailuranthrop könnte Geister sehen, weil sie alle glauben!“

Sie sehen mich nicht, weil sie blind für die Wahrheit sind. Ihre Trauer über meinen Verlust verdrängt das Bild meiner Erinnerung. Sie glauben ich sei verloren, also können sie mich hier nicht sehen. Du musst mich zu dir holen, in die Welt der Lebenden, wo ich mehr sein kann als ein stiller Beobachter. Nur dort kann ich ihnen gegenüber treten und all das beenden. Nur dann können sie glauben.

„Verdammt!“

Ruhig, Donasie.

Das sagte sie so einfach. Wie bitte sollte ich in einer solchen Situation ruhig bleiben? Nicht nur das meine Eltern in akuter Gefahr schwebten, mein Freund stand auch kurz davor von einem Leoparden gefressen zu werden.

Schließ die Augen.

„Was?“

Du sollst die Augen schließen, Donasie.

Was sollte das denn jetzt bringen?

Tu was ich sage, schließe die Augen, atme tief durch und glaube.

Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Wie sollte ich denn jetzt … scheiße. Ich kniff die Augen zusammen, versuchte meinen Atem, mein Herzschlag zu beruhigen, dich die Geräusche um mich herum ließen das einfach nicht zu.

Denk nicht an das, was dort vor sich geht. Leere deinen Geist und dann glaube.

Meine Mutter schrie.

Ich riss die Augen auf, sah wie dieser Bijan sie zu Boden stieß.

Konzentriere dich, bevor er zu spät ist!, befahl meine Tante.

Scheiße, scheiße, scheiße! Ich kniff die Augen wieder zusammen, befahl mir selber nicht auf die Geräusche meine Umgebung zu achten und zu tun was meine Tante von mir verlangte, doch es ging einfach nicht. Wie sollte ich das denn jetzt schaffen?

Versuche deinen Geist zu befreien, denke an einen Augenblick, in dem du wirklich frei warst.

Sofort sah ich Cio vor meinem inneren Auge und diese eine Nacht, die wir zusammen verbracht hatten. Ich hatte mir erlaubt, all meine Sorgen und Probleme zu vergessen, bis es nur noch ihn und mich gegeben hatte. Nie in meinem Leben hatte ich mich freier gefühlt, als in dieser Nacht mit ihm.

Ich konnte mich noch an alles erinnern, an jede Berührung und an jeden Kuss, genau wie dieses Gefühl. Ja, da war ich wirklich frei gewesen, denn ich hatte mich von meinen Ängsten gelöst, um etwas Unbeschreibliches zu erleben.

Diese Erinnerung war so klar, dass ich ganz genau wusste, dass meine Tante da ihre Hand mit im Spiel hatte. Es war Cio, er war mein Ruhepol, bei ihm konnte ich sein, wer ich war.

Langsam spürte ich, wie sich die Ruhe in mir ausbreitete

Und jetzt glaube.

Vor meinem inneren Auge materialisierte sich das Bild meiner Tante. Ein geisterhaftes Abbild eines jungen Leoparden, nicht mehr als weißer Nebel. Ein Ebenbild, nur der Schatten einer Seele. Die Gestalt fast durchscheinend, bewegte sich in einem unsichtbaren Windhauch und wallendem Nebel. Es gab keine klaren Konturen, sie verliefen sich einfach und waren doch deutlich zu erkennen.

Meine Finger glitten sanft über das Glas, als ich mich an die vielen Gespräche mit ihr erinnerte, oder wie gerne sie meinen Vater ärgerte. Ich hatte ihr Bildnis direkt vor meinen Augen und glaubte in dem Moment, dass ich es schaffen könnte.

Meine Augen öffneten sich und vor mir war die durchscheinende Gestalt Lalamikas. Doch sie war nur Wind, nicht fassbar, ein Schatten in der Luft, gezeichnet aus dem Glaube der Erinnerung. Und dann schien das Medaillon sie in sich aufzusaugen. Langsam erst und dann immer schneller. Ich sah sie lächeln.

Du hast es geschafft, Donasie, sagte sie stolz und nächsten Moment bildete sich unter der Kuppel des Medaillons ein blässlicher, weißer Nebel, der unruhig unter der Oberfläche herumwallte, als wehte da ein Lüftchen, das den Nebel durcheinander brachte.

Lass mich raus!

Die Welt begann wie ein Gummizug wieder in die Realität zurück zu schnappen. Die Geräusche des Kampfes drangen an meine Ohren. Cio hatte sich verwandelt. Er hatte den Leopaden mit den Zähnen am Schwanz gepackt und zerrte wie ein besessener daran. Der gelockerte Verband war noch halb um sein Bein gewickelt. Mein Vater schickte einen der Ailuranthropen mit einem Fausthieb auf den Boden, wurde im gleichen Moment aber rücklings von einem anderen angegriffen. Fujo kauerte mit verweinten Augen am Rand des Geschehens und beobachtete ihren Vater, der meine Mutter mit dem Rücken gegen einen Baum drückte und das Messer an ihrer Kehle hielt.

Donasie!

Hastig begann ich mit den Fingern an dem Öffnungsmechanismus herumzufummeln, doch er klemmte wieder.

„Tu das nicht, Bijan“, flehte meine Mutter. „Bitte, tu das nicht.“

Meine verschwitzen Hände rutschten ab, das Medaillon fiel zu Boden und ich musste es hastig wieder aufklauben. Warum hatten sie diesen blöden Mechanismus nicht schon längst reparieren lassen? War ja nicht so, dass er erst seit gestern kaputt war.

„Wir lassen dich kein weiteres Mal entkommen, Drius. Du willst nicht in die Heimat? Du trittst unsere Traditionen mit Füßen? Dann wirst du eben hier sterben.“

Mit einem kaum hörbaren Klick sprang das Medaillon endlich auf.

Lass von ihr ab!, fauchte Tanta Lalamika. Zeitgleich schoss der weißliche Nebel heraus, direkt zwischen Bijan und meiner Mutter. Ihre Konturen formten sich verfestigten sich. Die Gestalt verschwamm an der Stelle, drohte sich aufzulösen, nur um sich wieder zu kräftigen.

Bijan machte einen erschrockenen Schritt zurück, stolperte und landete auf dem Hosenboden. Dabei verlor er sein Messer. „Bonum!“, stieß er ungläubig aus und zeigte auf die Gestalt meiner Tante. „Bonum! Bonum!“

Mit seinen Rufen machte er auch die anderen Ailuranthropen auf sich aufmerksam. Einer stöhnte auf, als mein Vater die Gunst der Stunde nutzte und dem Gegner einen Schwinger in den Magen versetzte.

Hör auf, verlangte meine Tante von meinem Vater. Es reicht, Raphael, genug! Ihre Stimme war nicht wie die der Lebenden. Sie bewegte ihren Mund nicht und doch konnten wir sie alle hören. Es war, als würde die Stimme in meinem Kopf zu existieren, gleichzeitig aber von überall herzukommen.

Schwer atmend schaute mein Vater zu ihr rüber, wischte sich das Blut von den Lippen und eilte dann zu meiner Mutter, um zu sehen, wie es ihr ging.

„Lalamika“, hauchte Pandu. Er kniete auf dem Boden, die Augen weit aufgerissen, als könne er nicht glauben, was er da sah.

Er glaubt nicht, er scheint nur zu wissen und deswegen konnte er sie nicht sehen, wurde mir klar. Ich ließ mich auf meinen Hintern sinken und zischte leise, als der Schmerz von neuem durch mein Bein zuckte.

„Aber wie … das möglich ist wie?“, fragte Hisham. „Wir Gedanken … wir nicht sehen haben dich und glaubten du dazwischen.“ Im gleichen Moment schien ihm wohl die Bedeutung seiner Worte aufzugehen.

Von der Seite her trabe Cio zu mir, drückte mir die Nase in die Wange und schnüffelte an meinem Knie.

Ihr habt es nicht verstanden, sagte meine Tante. Ohne Bonum gibt es keinen Drius. Wie kann das Böse existieren, wenn das Gute es nicht ausgleicht? Sollten Tarajika und ich jemals gewesen sein, was ihr glaubtet zu wissen, dann erlosch es mit meinem Tod.

„Den Tod, den sie dir getan an!“, rief Pandu. „Sie dich getötet!“

Nein. Es war ein Unfall. Als du damals aus dem Dschungel gekommen bist und nach mir gerufen hast, habe ich mich erschrocken und bin auf den glitschigen Felsen ausgerutscht. Tarajika kann nichts dafür. Sie hat sogar noch versucht mich festzuhalten. Das und nichts anderes ist damals geschehen. Tarajika war unschuldig. Schon immer.

„Aber ich gesehen!“, rief Pandu. „Ich gesehen, wie sie dich gestoßen! Hinab in Wasserfall!“

Sie schüttelte bedauernd den Kopf. Du verschließt dich vor der Wahrheit. Der einzige Schuldige ist der Aberglaube. Weil ihr versucht hab uns zu trennen, obwohl wir doch zusammen gehörten. Ihr könnt sie nicht für etwas verantwortlich machen, an dem sie keine Schuld trägt. Es ist vorbei, lasst sie in Frieden leben.

„Aber sie Drius!“, brüllte Pandu, der nicht einsehen konnte, dass er so viele Jahre falsch gelegen hatte und einen Schuldigen wollte, dem er seinen Schmerz über diesen Verlust zufügen konnte. „Sie schuldig. Ohne sie du nicht da sein, bei dem Wasserfall. Ohne sie …“

Ich war nur bei dem Wasserfall, weil er weit vom Lager entfernt war. Ihr habt sie weggesperrt, immer. Ein unschuldiges Wesen, das nicht verstand, warum ihr dieses Schicksal widerfahren musste, ein Kind, das die Geschichten nicht kannte. Als ich sie damals fand, konnte sie nicht einmal sprechen. Sie schüttelte den Kopf über die Vergangenheit, die mehr Leid als alles andere gebracht hatte. Es tut mir leid das zu sagen, aber wenn du einen Schuldigen suchst, Pandu, dann such ihn in dir selber, in deiner Meute und in der Vergangenheit. Hier gibt es keine Schuldigen, nur Opfer.

Meine Mutter schluchzte auf und vergrub ihr Gesicht in Papas Brust, der schüttend ihre Arme um sie schlang.

Pandu traten die Tränen in die Augen, als ihm die Reichweite seines Fehlers bewusst wurde. „Aber sie … Drius“, sagte er schwach.

Drius kann nur existieren, wenn Bonum lebt, verstehst du? Ohne die eine Seite, gibt es keine andere. Sollte jemals ein Fluch auf uns gelegen haben, so wurde er mit meinem Tod gebrochen. Kein Bonum, kein Drius. Ihr habt die letzten Jahre eine unschuldige Frau gejagt und sie zu einem Leben im Verborgenen verurteilt.

Pandu ballte die Hand zur Faust und senkte den Kopf.

Sieh es ein, Pandu, es ist vorbei und Tarajika ist frei.

Ich grub die Hände ich Cios Fell.

Vorbei.

Es war endlich vorbei.

 

°°°°°

Eine neue Ära

 

ihrer Vorwärtsbeweglichkeit, als auch ihr anatomischer Aufbau werden geprüft. In der künstlichen Besamung ist es Pflicht, entnommenes Sperma zu testen und entsprechend der Anzahl …

 

Mein Blick huschte einen kurzen Moment von meinem Tablet zu meinem Bein, wo zwei Finger wie ein Jäger auf Beutezug von meinem Knie aufwärts wanderten.

Wir saßen in Cios Bett, wo er es sich mit seinem Kopf in meinem Schoß bequem gemacht hatte, um seinen Film zu sehen, während ich den Artikel über Besamung bei Pferden auf meinem Tablet las.

Nach meiner Rückkehr nach Königshain hatte ich meine Ausbildung zur Pferdewirtin wieder aufgenommen und musste eine Menge nachholen, wenn ich die bevorstehenden Prüfungen noch bestehen wollte. Deswegen lernte ich jede freie Minute dafür. Und diese Finger, die da immer höher wanderten, nur um mit am Ende ein Stück unters Karohemd zu schlüpfen, um mir spielerisch in den Bauch zu piksen, waren nicht gerade sehr konzentrationsfördernd.

Ohne ein Wort, zog ich seine Hand wieder hervor und legte sie zurück auf mein Knie, wo sie die letzte Stunde geweilt hatte. Dann konzentrierte ich mich wieder auf meinem Artikel. Wo … ach da.

 

Sowohl Anzahl der Spermien, ihrer Vorwärtsbeweglichkeit, als auch ihr anatomischer Aufbau …

 

Nein, Moment, da war ich schon gewesen. Ach da.

 

In der künstlichen Besamung ist es Pflicht, entnommenes Sperma zu testen und entsprechend der Anzahl vorwärtsbeweglicher Spermien …

 

Mein Blick huschte wieder zu Cios Hand. Die Spermien in den Artikel waren hier nicht das einzige was sich vorwärts bewegten. Die Finger begannen ihre Wanderung von neuem. Dieses Mal jedoch versuchte ich ihn einfach zu ignorieren, doch als aus Samen plötzlich Finger wurde und ich statt Scheide Bauch las, seufzte ich genervt auf. Dieser fängt den Finger in einem künstlichen Bauch auf und bereitet den Samen auf. Das hatte nun wirklich nichts mehr mit der Besamung von Pferden zu tun. „Cio, guck deinen Film, ich muss das lesen.“

„Der Film ist zu Ende“, murmelte er und hob mein Karohemd ein Stück an, als verbarg sich darunter das größte Geheimnis des Universums und es sei an ihm es zu ergründen.

Ich sah zum Fußende seines Bettes. In seinem neuen Zimmer, in dem alten Herrenhaus, hatte er es sich so eingerichtet, dass man von hier aus einen netten Fernsehabend veranstalten konnte. Bewegte Bilder huschten über die Mattscheibe. Zwar hatte ich den Namen vergessen, aber ich kannte den Film und der war definitiv noch nicht zu ende. „Das ist doch gerade mal die Mitte. Der drogensüchtige Bruder lebt ja noch.“

Cio griff über mich in die Decken nach der Fernbedienung und schon erlosch die die Mattscheibe. „Siehst du? Zu Ende“, grinste er mich spitzbübisch an.

Von wegen. „Ich muss das hier noch fertig lesen, bevor wir nachher zu Sadrijas Krönung gehen“, nahm ich ihm den Wind aus den Segeln. Egal was sich jetzt schon wieder für Gedanken in seinem Kopf festgesetzt hatten, ich musste das hier erst fertig machen, bevor ich an etwas anderes denken konnte. Daher wurde sein Schmollmund von mir auch nicht beachtet, als ich mich wieder dem Studium meiner Lektüre zuwandte.

Doch Cio wäre nicht Cio, wenn er so einfach aufgeben würde. Wieder schob er mein Hemd ein wenig hoch, beugte sich vor und knabberte ganz leicht an meinem Bauch. Ein angenehmer Schauder kribbelte über meinen Rücken, doch ich ignorierte es. Naja, ich versuchte es zumindest. Okay, ich konnte es nicht ignorieren, aber ich konnte wenigstens so tun als ob. Zumindest am Anfang. Doch als er damit begann die unteren Knöpfe meines Hemdes zu öffnen, war es an der Zeit ihm Einhalt zu gebieten, weil ich die nächste Stunde sonst nicht mehr zum Lernen kommen würde.

Ich drückte ihn ein wenig von mir weg. „Ich muss das hier wirklich lesen.“

Kurzerhand schnappte er sich einfach meinen Arm und knabberte spielerisch an meinem Handgelenk, was meinen Puls gleich ein wenig schneller schlagen ließ. „Lass dich von mir nicht stören.“ In seinen Augen blitzte der Schalk.

Die Ereignisse um Cerberus' Entthronung lagen bald drei Monate zurück. Der Sommer schickte bereits seine ersten Vorboten und die Leute hatten ihre Wintersachen für das nächste halbe Jahr eingemottet. Deswegen trug Cio heute auch nur eine Shorts und ein ärmelloses Shirt, das seine Oberarme prächtig zur Geltung brachte. Nur die schwarze Wollmütze war nach seinem Auszug aus dem Schloss auf seinen Kopf zurückgekehrt. Ein paar Fransen seiner Haare und die kleine Narbe an seiner Augenbraue lugten darunter hervor, während er mit den Zähnen provozierend leicht in meine Haut zwickte und meinen Puls so gleich noch einmal auf Touren brachte.

„Cio!“, schimpfte ich und versuchte meinen Arm aus seinem Griff zu befreien, doch er wollte ihn absolut nicht hergeben. Ganz im Gegenteil. Er langte mit der freien Hand nach meinem Tablet und entriss es mir. „Hey!“, protestierte ich und versuchte es ihm wieder abzunehmen. Leider hatte er anderes im Sinn und eine kleine Rangelei entstand, an dessen Ende mein Tablet auf dem unordentlichen Boden lag und Cio mich auf den Rücken ans Bett gepinnt hatte. Und da er grinsend über mir thronte, war ich nicht nur unter ihm gefangen, sondern musste mir auch noch sein triumphierendes Lächeln reinziehen.

„Lass mich los und gib mir mein Tablet wieder“, forderte ich und versuchte mich unter ihm herauszuarbeiten, doch das einzige was ich mit dieser Aktion erreichte, waren zerknitterte Bettlaken. Ich kniff die Augen leicht zusammen. „Cio, geh runter von mir.“

„Was bekomme ich denn dafür?“, fragte er lauernd.

„Die bessere Frage ist doch wohl, was du bekommst, wenn du es nicht tust.“

Das entlockte ihm ein Lächeln. „Oh, ich weiß ganz genau was ich bekomme, wenn ich es nicht tue.“

Ich öffnete ihm den Mund, um ihm seiner Hirngespinste zu belehren, doch da hatte er sich schon vorgebeugt und meinen Mund mit seinem versiegelt. Jedes weitere Wort wurde damit im Keim erstickt.

Ich spürte seinen warmen Atem, seine tastende Zunge und einfach das Gefühl, das jede seiner Berührungen in mir auslöste. Es war wie ein Schwelbrand, der niemals erlosch und bei dem kleinsten Kontakt mit ihm sofort neu entfacht wurde. Daher ließ ich ihn nicht nur gewähren, als seine Küsse drängender wurden und seine Hände langsam unter mein Hemd schlüpften, ich erwiderte all das auch genauso intensiv.

Diese Momente allein mit Cio, sie waren wohl das Schönste, was mir hatte widerfahren können. Ich liebte dieses Gefühl, liebte seine Nähe, liebte ihn und auch wen er es mir noch nicht mit diesen Worten gesagt hatte, so wusste ich heute doch mit Sicherheit, dass er genauso fühlte.

Die anfängliches Unsicherheiten, diese Zerreißproben, das alles hatte ich nicht vergessen, doch schien es mir heute, als sei es jemand anderem widerfahren. Er war der Einzige den ich wollte und so wie er meinen Namen im Schlaf flüsterte, mit diesem seligen Lächeln auf den Lippen, ging es ihm ganz genau so – ja, Cio redete im Schlaf und das fand ich voll niedlich.

Nichts konnte uns mehr auseinander bringen. Nicht das Vergangene und auch nicht das Zukünftige, auch wenn manche Geschehnisse manchmal noch wie ein Damoklesschwert über uns schwebten. Doch heute hatte sich alles mehr oder weniger zum Guten gewandt. Nicht mal Iesha konnte mich heute noch ins zweifeln bringen – was nicht nur mit ihrem Aufenthaltsort zusammen hing.

Ja, Iesha hatte den Kampf überlebt. Doch jetzt, nachdem die Maske die sie der Welt immer gezeigt hatte, gefallen war, hatten ihre Eltern einsehen müssen, dass sie professionelle Hilfe brauchte. Ich wusste nicht genau wo sie sie untergebracht hatten, nur dass sie dort nicht so schnell rauskommen würde – vielleicht sogar nie mehr.

„Weißt du eigentlich wie sehr ich dich vermisst habe?“, raunte er an meinen Lippen und schickte seine dann auf eine Wanderung über mein Gesicht. Die Kinnlinie entlang, hinunter zu meinem Hals.

Allein davon ging mein Herzschlag gleich doppelt so schnell. „Wenn ich mich daran erinnere, wie du mich vorgestern praktisch umgenietet hast, bekomme ich eine wage Vorstellung davon.“

Bei unserem Wiedersehen vor zwei Tagen – nachdem wir uns fast zwei Wochen nicht gesehen hatten – war ich kaum aus dem Wagen gestiegen, da hatte er mich bereits entdeckt. Leider war er da gerade ein Wolf gewesen und die stürmische Umarmung zur Begrüßung war so umwerfend gewesen, dass ich der Länge nach auf den Rücken geschlagen war und mir den Kopf an einem herumliegenden Ast gestoßen hatte. „Ich glaub, ich hab von deiner Begrüßung noch immer Sabber im Auge.“

Sein leises Lachen spürte ich mehr, als das ich es hörte. Genauso wie seine Hand, die mein Hemd Stück für Stück aufknöpfte, um seinen Mund den Weg zu ebnen.

Ich wand mich behaglich in diesem Gefühl, das Kribbeln und Brennen, das all meine Sinne erwachen ließ und träge zu meiner Körpermitte zog. „Die Beule tut auch noch weh“, sagte ich, obwohl das nicht stimmte.

„Ich bin gerade dabei mich dafür zu entschuldigen.“

Und wie ich an dieser Stelle feststellen musste, sehr gut sogar.

Die letzten Zwei Wochen hatte ich dieses Gefühl so sehr vermisst. Zwar war Cio samt Familie mit Cayenne und Anhang aus dem Schloss in das alte Herrenhaus am Rand von Silenda gezogen, aber seinem Job als Umbra ging er noch immer nach. Dadurch war er an diesen Ort gebunden und da mein Vater darauf bestanden hatte, vorerst zurück nach Koenigshain zu gehen, sahen Cio und ich uns nicht all zu oft.

Ich wusste, spätestens nach meiner bestanden Ausbildung, würde mich nichts mehr in Koenigshain halten. Eine Anstellung in den Ställen des Schlosses war mir dank Cayennes Beziehungen bereits sicher und bis ich mir eine eigene Wohnung gesucht hatte, würde ich sogar hier bei ihr und ihrer Familie wohnen können.

Bei meiner Familie.

Natürlich hoffte ich, dass mein Vater mitkommen würde, schließlich gab es keinen Grund mehr sich länger im Verborgenen zu verstecken, aber er haperte noch und traute der trügerische Sicherheit noch nicht so ganz. Fast drei Monate waren all diese schrecklichen Erlebnisse nun her, drei Monate voller Ruhe, in der uns das alte Leben zurückbekommen hatte, aber trotzdem war er immer äußerst angespannt und sah sich ständig wachsam nach allen Seiten um. Er hatte mir nie erzählt, was ihm und Mama in der Gefangenschaft alles widerfahren war. Genaugenommen sprach er mit mir überhaupt nicht über diese Ereignisse, doch ich spürte immer, wie sehr ihn das alles noch belastete. Es würde besser werden, da war ich mir sicher, doch es würde eben seine Zeit dauern.

„Wo bist du nur mit deinen Gedanken?“ Geschickt öffnete Cio den Knopf meiner Jeans und hauchte einen Kuss auf das freigewordene Stück Haut.

„Bei meinem Vater“, sagte ich ganz ehrlich und musste über den Ausdruck in seinem Gesicht schmunzeln. Das sah aber auch zu komisch aus.

„Ich versuche dich gerade ich andere Hemisphären zu befördern und du denkst an deinen Vater?“ Er klang nicht nur verwirrt, sondern auch ein kleinen wenig empört. „Sollte ich mir darüber vielleicht Gedanken machen?“ Langsam, als hätte er alle Zeit der Welt, rutschte er an mir hinauf, bis sein Gesicht über meinem schwebte. Dabei küsste er jedes Stückchen freier Haut, der er auf seinem Weg erreichte, bevor sein warmer Atem wie eine Liebkosung über meine Lippen streichelte. „Oder vielleicht sogar Sorgen?“

„Nein, ich denke das ist nicht nötig.“ Wie von selbst legte meine Hand sich an Wange, strich über die leichten Stoppeln hinauf zu seinem Haar, um ihm die Wollmütze vom Kopf zu ziehen. Ich liebte dieses Teil, es gehörte einfach zu ihm, aber wie ich festgestellt hatte, liebte ich es genauso ihm mit den Fingern durchs Haar zu fahren. „Ich habe nur darüber nachgedacht, dass er der einzige Grund ist, warum ich noch nicht in Silenda wohne und dich nicht jeden Tag sehen kann.“

„Zumindest nicht leibhaftig.“

Ja, wir hatten uns angewöhnt, uns abends immer per Videochat zu sehen, nur leider war das nicht dasselbe, wie ihn zu berühren, oder zu fühlen. Deswegen ließ ich auch verlauten: „Fernbeziehungen sind scheiße.“

„Sind doch nur noch ein paar Monate bis zu deinem Umzug.“

„Ist trotzdem scheiße.“ Auch diese paar Monate konnten ganz schön lang werden, wenn ich ihn in dieser Zeit nur hin und wieder am Wochenende sehen konnte.

„Hm“, machte er und ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen. „Dann muss ich bis zu deiner Abreise wohl für bleibende Erinnerungen sorgen, die dich auch in meiner Abwesenheit warm halten.“

„Bleibende Erinnerungen hören sich gut an.“ Nicht das er das noch nicht geschafft hätte.

Diese offensichtliche Einladung nahm Cio nur zu gerne an. Als er mich dieses Mal küsste, ließ er keinen Zweifel daran, nach was ihm der Sinn stand. Wie er seine Zunge ins Spiel brachte und mein Hemd zur Seite schob, um dort alles zu berühren, war nichts anderes als eine Eroberung. Und die ließ ich nur zu gerne zu.

Ich drängte mich gegen ihn, strich mit den Händen über die muskulösen Oberarme, über die kleine Narbe von der Schusswunde. Ich liebte diese Arme und …

„Nicht schon wieder.“

Bei der weiblichen Stimme im Zimmer – die hier definitiv nichts zu suchen hatte – fuhren wir ertappt auseinander und wirbelten mit den Köpfen zur Zimmertür herum. Bis eben war die noch geschlossen gewesen. Jetzt war sie nicht nur offen, jetzt stand auch noch Alina im Rahmen und wusste scheinbar nicht, ob sie belustigt, oder verzweifelt dreinschauen sollte.

Mir dagegen schoss die Schamesröte ins Gesicht, während ich hastig mein Hemd zuhielt. Ich war so in mein Tun mit Cio vertieft gewesen, dass ich alles außer ihm ausgeblendet hatte. Und so ertappt wie er guckte, hatte auch er nicht bemerkt, wie die Zimmertür aufgegangen war.

„Gibt es in diesem Haus eigentlich niemanden mehr, der zum Zeitvertreib einfach mal Karten spielt?“, wollte Alina wissen. „Oder wenigstens die Tür abschließt?“

„Im Allgemein ist das nicht nötig, da höfliche Menschen anklopfen, bevor sie einen Raum betreten“, konterte Cio und ließ sich auf seine Fersen sinken. Ihm war eindeutig anzusehen, was wir im Begriff gewesen waren zu tun. Und das hatte weder etwas mit seinen zerwühlten Haaren, noch mit den vom Küssen leicht geschwollenen Lippen zu tun. Die Beule in tieferen Gefilden sprach einfach Bände.

„Ich habe geklopft“, erwiderte Alina. „Mehrmals sogar.“

„Aber du wurdest nicht …“

„Ja ja, schon gut“, winkte meine Cousine ab. „Eigentlich bin ich auch nur hier, weil dein Vater“ – Fingerzeig auf mich – „gesagt hat, dass du in zehn Minuten unten sein sollst.“

„Zehn Minuten?“ Ich richtete mich auf und warf einen Blick auf den kleinen Wecker auf dem Schreibtisch. Dabei hielt ich vorsorglich mein Hemd fest. „Aber wir wollten doch erst in einer Stunde los.“

Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Frag mich nicht, ich bin nur der Bote. Und zwar zum letzten Mal.“ Damit drehte sie sich um und verließ das Zimmer. Natürlich ohne die Tür zu schließen. Deswegen hörte ich sie auch klar und deutlich murren, dass weder Kasper und Aric, noch Cio und ich Rücksicht auf einen Single nehmen konnten und dass ihr diese ganzen glücklichen Pärchen allmählich auf den Sack gingen.

Cio stand schmunzelnd auf und schloss seine Zimmertür – ja, dieses Mal drehte er auch den Schlüssel herum – bevor er mit eindeutigen Absichten zurück zu mir ins Bett kam. „Klingt ganz so, als hätte sie Aric und das Fretten in flagrante erwischt.“

Das konnte ich mir nicht vorstellen. Zwar wusste ich von Kasper, dass Aric in der Zwischenzeit ein wenig auf ihn einging, aber immer noch sehr zurückhaltend und auch nur, wenn die beiden ganz alleine waren, wo kein anderer sie sehen konnte – das ging Kasper ziemlich gegen den Strich, wie er mir mitgeteilt hatte. Doch mehr als küssen und ein wenig anfassen war dann auch nicht drin. Also hieß in flagrantie bei den beiden wahrscheinlich, dass Alina sie beim Händchenhalten erwischt hatte.

„Dir ist klar, dass mein Vater mich in“, – ein kurzer Blick auf die Uhr – „acht Minuten unten erwartet?“, mahnte ich Cio, als er seine Hände unter mein Hemd gleiten ließ, während seine Lippen die zarte Haut an meinem Hals liebkosten.

„Acht Minuten sagst du? Das bekomme ich hin.“

„Cio!“, empörte ich mich und drückte ihn von mir weg. „Das habe ich damit sicher nicht gemeint.“ Ich schwang die Beine aus dem Bett und machte mich daran meinen Koffer unter dem Bett hervorzuziehen. „Außerdem ist dir sicher bewusst, dass mein Vater hier oben auftauchen wird, sollte ich nicht nach unten kommen.“

„Ich hab dir Tür abgeschlossen.“

Dafür bekam er einen entsprechenden Blick.

Seufzend fuhr er sich durch die Haare, merkte dabei, dass seine Mütze fehlte und machte sich daran, sie zwischen den Decken und Kissen im Bett zu suchen. „Dein Vater hasst mich.“

„Hier“, sagte ich, und reichte ihm seine Mütze. Sie war neben das Bett gefallen. „Und natürlich kann mein Vater dich nicht leiden. Ist doch ganz klar.“

„Ja, weil ich sein kleines Mädchen schände und nur zu gerne vom Pfad der Tugend abbringe.“

Ich schnaubte und zog eine frische Hose samt Hemd aus meinem Koffer – ein ganz spezielles Hemd. „Das ist sicher nicht der Grund“, widersprach ich ihm. „Er mag dich nicht, weil du einer der Gründe bist, warum ich unbedingt nach Silenda will.“

„Nur einer?!“, fragte er so übertrieben ungläubig, dass es nur gespielt sein konnte.

Ich grinste zu ihm rauf. „Ja, nur einer der Gründe, wenn auch der Hauptgrund.“

„Hm, damit kann ich mich vorerst zufrieden geben.“

„Vorerst?“

Er zwinkerte mir frech zu, was alles und auch nichts bedeuten konnte und suchte dann nach der Fernbedienung. Als der Fernseher wieder zum Leben erwachte, klaubte ich kopfschüttelnd meine Sachen zusammen und verschwand damit ins Bad. Was mein Vater wohl von mir wollte? Draußen war es bereits eine ganze Weile dunkel, doch bis der Vollmond im Zenit stand, würde es noch ein ganzes Weilchen dauern. Zwar wollten wir vor Sadrijas Krönung noch zum Fest oben im Schloss, doch selbst dafür war es eigentlich noch zu früh.

 

°°°

 

Ich fand Papa draußen auf einer gepflegten Steinbank in Cayennes kleinem Garten und setzte mich neben ihn. Naja, eigentlich war weder der Garten, noch das Herrenhaus klein. Außer man verglich beides mit ihrem vorherigen Wohnsitz.

Ich fühlte mich nicht ganz wohl in meiner Haut und das hatte nichts mit dem Hemd an meinem Leib zu tun – das, das ich von Cio zum Geburtstag bekommen hatte. Klar, an den tiefen Ausschnitt müsste ich mich erst noch gewöhnen, aber wirklich mulmig wurde mir von dem Verhalten meines Vaters. Er schien ein wenig abwesend. Körperlich saß er neben mir, doch geistig schien er in einer ganz anderen Welt zu weilen. „Im letzten halben Jahr ist eine Menge geschehen“, sagte er leise. Sein Blick war dabei auf eine kleine Spinne gerichtet, die in den blühenden Rosensträuchern vor dem Eisenzaun ihr Netz webte.

Ich betrachtete die Sache misstrauisch und zog sicherheitshalber meine Beine auf die Bank. Das Vieh sollte mir bloß fern bleiben.

„Früher gab es Momente, in denen ich glaubte, dass alles würde niemals ein Ende finden. Besonders nachdem deine Tante Vivien damals verschwunden war, brach für mich eine Welt zusammen.“ Er warf mir einen kurzen Blick zu, bevor er ihn seufzend senkte. „Doch selbst aus dieser Tragödie ist noch etwas Gutes entstanden. Nicht nur, dass ich meinen Weg zu den Themis fand und mein Leben endlich einen Sinn zu haben schien, ich lernte auch Cayenne kennen. Zwar wurde auch diese Liebe … diese Geschichte am Ende zu einer Tragödie, doch trotz allem sind auch hieraus zwei gute Dinge entstanden, die mein Leben nicht nur bereichern, sondern es auch lebenswert gemacht haben.“

„Du redest von Mama und mir.“

Er nickte. „Ja, denn nur durch Cayenne habe ich Gnocchi kennengelernt. Vielleicht wäre es mir früher oder später auch ohne sie gelungen, doch dich hätte es dann niemals gegeben.“ Sein Kopf neigte sich leicht zur Seite, als er den Blick wieder auf mich richtete. „Damals ist so viel geschehen und nachdem Cayenne mit Nikolaj aufs Schloss zurückgekehrt ist, hab ich mich von allem und jedem zurückgezogen. Deswegen glaube ich heute auch, dass es sowas wie Schicksal war. Ich habe Cayenne nach all den Jahren noch einmal treffen müssen und mich trotz des Wissens, dass es wieder nach hinten losgehen könnte, auf sie eingelassen. Damals habe ich mich an etwas geklammert, das ich längst verloren hatte, in der Hoffnung, dass zurückzubekommen, was mein Leben meiner Meinung nach lebenswert machte.“

„Daran ist nichts Verwerfliches.“

„Nein, das ist es nicht. Und auch wenn nach der erneuten Trennung von Cayenne etwas in mir zerbrochen ist, bin ich heute dennoch froh es getan zu haben. Das Schicksal hat alles arrangiert, damit ich dich mit nach Hause nehmen konnte.“ Er lehnte sich zurück. „Was ich eigentlich sagen will, unsere Entscheidungen bestimmen unser Leben und wir wachsen nicht nur an unseren Erfahrungen, sie prägen uns auch. Das Leben zeichnet einen eben. Cayenne, Tarajika und ich hatten das früh lernen müssen und weil ich wusste, wie schwer es manchmal sein konnte, habe ich versucht dich vor dieser Welt zu schützen.“ Er schnaubte. „Nur leider sind alle Versuche sinnlos, wenn das Schicksal nicht mitspielt.“

Oder man eine sehr dickköpfige Tochter hatte. „Du meinst also, das alles war vorbestimmt?“

„Vielleicht.“

Da ich an so ein abergläubisches Zeug nicht glaubte, bezweifelte ich das einfach mal.

„Wahrscheinlich fragst du dich, warum ich dir das alles erzähle, obwohl du es schon weißt.“

„Naja, ich denke, du hast gerade einfach das Bedürfnis, dich ein wenig mitzuteilen.“

Mein Vater schnaubte belustigt und richtete seinen Blick auf die große Eiche, die direkt neben dem Eingang des Hauses wuchs. Auf den ersten Blick war an ihr nichts Ungewöhnliches. Erst wenn man genauer hinsah bemerkte man, dass der Ast, der da so seltsam runterhing in Wirklichkeit ein schwarzer Schwanz war. Mama lag in diesem Baum und beobachtete uns. Ich konnte die Lichtspiegelungen aus den beleuchteten Fenstern in ihren Augen sehen.

„Weißt du, was wir in unserem Leben erreichen hängt sehr viel von unseren Entscheidungen ab.“ Er nahm seinen Blick vom Baum und richtete ihn auf mich. „Du und Cio, auch ihr trefft Entscheidungen, die eure Zukunft beeinflussen können. Wenn ihr allein seid …“

„Stopp.“ Hastig gab ich ihm das Zeichen für eine Auszeit. Die Richtung in die das Gespräch plötzlich ging, wollte ich mit meinem Vater nicht einschlagen. „Du willst mit mir jetzt doch nicht wirklich über Sex sprechen, oder? Denn dann sollte ich dir vielleicht verraten, dass ich schon lange aufgeklärt bin.“

Mein Vater verzog das Gesicht, als bereitete es ihm körperliche Schmerzen, dass ich mit dem Wort Sex und seinen Begleiterscheinungen etwas anfangen konnte. „Nein, darüber möchte ich nicht mir dir sprechen. Und eigentlich hatte ich nur sagen wollen, dass wenn ihr allein seid, schmiedet ihr sicher Pläne, wie es mit euch beiden weitergeht. Mir ist durchaus bewusst, wie alt du bist und auch dass du … also jetzt wo du einen Freund hast …“ Er räusperte sich und wandte hastig den Blick ab.

Das ließ mich schmunzeln. Mein großer, starker Vater, der es schon mit den Bösewichten dieser Welt aufgenommen hatte, war peinlich berührt, wenn er mit seiner Tochter über Sex sprach. Nicht das ich besonders scharf darauf wäre, dieses Thema mit ihm zu erörtern. Trotzdem fand ich es witzig.

„Also, eigentlich wollte ich mit dir darüber sprechen … naja, ich weiß dass du nach deiner Ausbildung hier nach Silenda ziehen willst. Mit Cio zusammen. Von Diego weiß ich, dass er sich bereits nach geeigneten Wohnungen für euch umsieht und … natürlich ist mir bewusst, dass du nicht ewig bei mir und deiner Mutter bleiben wirst, aber ich möchte dich trotzdem bitten nichts zu überstürzen.“

Ich runzelte die Stirn. „Was meinst du damit?“

„Deine Mutter und ich, wir haben darüber gesprochen. Also über deine Pläne nach der Ausbildung und … naja, ich wurde gebeten wieder bei den Themis einzusteigen. Und jetzt, wo es keinen Grund mehr gibt sich zu verstecken …“ Er verstummte, als müsste er einen Moment über die folgenden Worte nachdenken. „Wir werden hier nach Silenda ziehen – deine Mutter und ich – und ich möchte, dass du die erste Zeit noch bei uns wohnen bleibst, damit …“

„Damit du kontrollieren kannst, wann ich abends nach Hause komme.“ Meine Mimik verfinsterte sich.

„Nein, nicht deswegen, es ist … okay, vielleicht ein kleinen bisschen deswegen, aber Hauptsächlich weil … es hat sich in der letzten Zeit so viel geändert und ich würde gerne noch ein kleinen wenig Normalität beibehalten. Damit meine ich …“ Er verstummte einen Moment, als müsste er erst über die richtigen Worte nachdenken. „Du bist so schnell erwachsen geworden. Alles verändert sich und ich bin einfach noch nicht bereit dich gehen zu lassen.“

Adieu Freiheit und unbekümmertes Leben, hallo Kontrollfreak. Manche Dinge würden sich wohl niemals ändern. Und auch wenn ich das niemals zugeben würde, war ich insgeheim doch ganz froh darüber.

„Die siehst nicht sauer aus“, sagte er nachdenklich. „Eigentlich hätte ich jetzt mit einer riesigen Diskussion gerechnet.“

Meine Mundwinkel zuckten. Und aus einem Impuls heraus umarmte ich meinen Vater. Der war für einen Moment etwas verwirrt über meine Reaktion, schloss mich dann aber seinerseits in die Arme, du drückte mich an sich.

Ein Gefühl von Geborgenheit wie früher in meiner Kindheit ummantelte mich. „Okay“, flüsterte ich.

„Okay?“

„Ja, ich bleibe noch ein wenig bei euch.“

Die Krone des Baumes am Haus raschelte, als Mama sich auf die Pfoten stemmte und die Glieder streckte. Lautlos glitt sie aus dem Geäst, den Stamm hinunter und kam auf leisen Pfoten im Gras auf.

Mein Vater schob mich ein Stück von sich, um mich misstrauisch zu mustern. „Ist das dein Ernst? So ganz ohne Wiederworte?“

Das entlockte mir ein Lachen. „Glaub mir, die Diskussionen werden früher oder später kommen. Und wenn ich bei Cio übernachten will, dann werde ich das auch machen. Nur weil ich bei euch wohnen bleibe, heißt das noch lange nicht, dass ich nicht auf eigenen Beinen stehen und eigene Entscheidungen treffen werde.“

Mein Vater seufzte schwer. „Und da gehen die Diskussionen schon los.“

„Was hast du erwartete, Ys-oog?“, fragte meine Mutter. Die Muskeln unter ihrem glänzend, schwarzen Fell arbeiteten elegant, als sie auf uns zutrabte. Sie schmiegte sich an Papas Knie und begann zu schnurren, als er die Hand durch ihren Pelz gleiten ließ. „Donasie ist erwachsen geworden.“

„Nur leider viel zu schnell.“

„Und doch langsamer als du.“

Die beiden so zusammen zu sehen, berührte etwas tief in mir. Sie hatten in ihrem Leben viel durchmachen müssen, um an diesen Punkt zu gelangen. Glücklich, bedingungsloses Vertrauen. Das will ich auch, sagte ich mir im Stillen und sah hinauf zu dem beleuchteten Fenster von Cio. Vielleicht hatte ich es ja bereits gefunden.

„Ich glaube, ich lasse euch zwei mal alleine“, schmunzelte ich und erhob mich auf die Beine. Bis wir aufbrechen mussten, war zwar noch ein wenig Zeit, aber da ich nun eh schon fertig war, konnte ich auch jetzt schon Cio holen und mich dann mit ihm auf den Weg machen.

Ich trat auf die hintere Veranda und wollte gerade über die offene Hintertür das Haus betreten, als ich links im Schatten des Fliederstrauchs eine Bewegung wahrnahm. Ich machte einen Schritt rückwärts und erkannte Kiara in einem silbernen Abendkleid, das sich wie ein hautenger Handschuh an ihren Körper schmiegte. Ihr Blick war undurchdringlich.

Einen Moment stand ich einfach nur da und wusste nicht so recht, was ich tun solle. Natürlich hatte ich sie in den letzten Monaten des öfteren gesehen, das war unvermeidlich, wenn ich in dieses Haus kam. Aber sie tat noch immer sie, als wäre Sydney ihr leiblicher Vater und ich nur irgendein seltsamer Vampir, der sie nichts anging.

Wo Aric zumindest versuchte, offen zu sein und mich als Teil der Familie zu akzeptieren, war sie nur distanziert und teilweise sehr herablassend. Doch jetzt stand sie hier, halb versteckt hinter dem Fliederstrauch und ich kam nicht umhin mich zu fragen, ob sie mich und Papa gerade beobachtet hatte. Vielleicht auch nur Papa. „Also“, begann ich zögernd. „Wenn du mit ihm reden möchtest, kannst einfach zu ihm gehen. Er würde sich freuen.“

Das wusste ich mit Sicherheit. Ich hatte mehr als einmal mitbekommen, wie er Kiara beobachtete, aber er hatte bisher nie versucht, von sich aus auf sie zu zugehen. Ich denke, er wollte sie nicht bedrängen.

Kiaras gleichgültige Maske wurde zu einem sehr verächtlichen Lächeln. „Aus welchem Grund sollte ich mich mit irgendeinem dahergelaufenen Vampir unterhalten wollen?“

Meine Mundwinkel sanken herab. Ich mochte es nicht, wenn sie sowas über unseren Vater sagte. Sie hatte sich nie die Mühe gemacht ihn kennen zu lernen und nur weil ihr die Wahrheit nicht gefiel, hatte sie noch lange kein Recht, so auf ihn herabzusehen. „Vielleicht weil seine Gene deine Existenz erst möglich gemacht haben?“

Ein Muskel in ihrer Wange zuckte, aber sie schaffte es ihr Lächeln beizubehalten. „Ich bin ein reinrassiger Lykaner. Meine Mutter war die Königin des Rudels und mein Vater ist der erste Historiker der königlichen Memoiren.“

Über so viel Sturheit konnte man wirklich nur noch den Kopf schütteln. „Sydney mag dein Vater sein, aber er ist nicht dein Erzeuger. Du kannst es leugnen und verdrängen, doch das ändert nichts an der Wahrheit, Schwester.“

Dieses Mal verrutschte ihr Lächeln ein wenig und ihre Augen funkelten einen Moment wütend auf, bevor sie sich wieder im Griff hatte. „Ich kann verstehen, warum ein Niemand von einem Misto wie du versucht, in der Hierarchie ein wenig aufzusteigen, aber glaub mir, deine Lügen werden dich nicht weit bringen.“ Durch ihren unterdrückten Ärger, verdunkelte sich das Grau ihrer Augen ein wenig. Plötzlich schienen sich meine Gedanken irgendwie zu verschieben. „Am Besten wäre es, wenn du einfach wieder in die Gosse verschwindest, aus der du gekrochen bist.“

Ja, das klang einleuchtend. Das sollte ich wirklich machen.

„Nimm deinen Vater und deine Lügen und geh einfach, bevor …“

„Kiara!“

Der plötzliche Ruf meines Vaters ließ sie erschrocken herumfahren und sofort in die Defensive gehen, als sie sah, wer da mit langen Schritten verärgert auf uns zukam. „Bleiben sie weg von mir.“

Er ignorierte sie einfach. Stattdessen griff er nach meinem Arm und drehte mich besorgt zu sich herum. Als er mir ins Gesicht sah, fuhr er jedoch wütend zu ihr herum. „Das geht zu weit.“

Sie versuchte sich ihr Unwohlsein nicht anmerken zu lassen, trat aber dennoch einen Schritt vor ihm zurück. „Ich weiß nicht wovon sie sprechen.“

Uh, das war mal ein wirklich finsterer Blick. „Ich habe sowohl funktionierende Augen, als auch Ohren. Das du dich vor der Wahrheit verschließt und mich nicht in deinem Leben haben möchtest, kann ich akzeptieren, aber was ich nicht dulden werde, ist, wenn du dein Joch gegen Zaira einsetzt.“

Damit hatte er sie einen kurzen Moment wirklich verblüfft. „Mein Joch?“ Ich Mundwinkel zog sich ein wenig nach oben. „Ich möchte sie ja nicht desillusionieren, aber Lykaner …“

Das Licht auf der Veranda ging an und eine erstaunte Cayenne erschien im Türrahmen. „Was ist denn mit euch los?“

Die schwarze Gestalt meiner Mutter näherte sich uns auf leisen Tatzen und blieb ein Stück hinter meinem Vater stehen.

Papa ließ das Goldkind nicht aus den Augen. „Kiara hält es scheinbar für angebracht, ihr Joch gegen Zaira einzusetzen, um sie loszuwerden.“

„Was?“ Cayenne runzelte die Stirn und schaute zwischen ihren Töchtern hin und her. „Kiara hat keine Repression.“

„Ach nein?“ Papa wandte sich ihr zu. „Sie hat Zaira gerade gesagt, dass sie verschwinden soll. Frag Zaira, was sie jetzt vorhat.“

Verwirrt schaute Cayenne zu mir. Bei dem Ausdruck in meinem Gesicht, wurde die Falte zwischen ihren Augenbrauen noch ein wenig tiefer. „Zaira?“

Ich blinzelte einmal. „Ich muss jetzt verschwinden.“ Ich griff nach Papas Hand. „Du musst mitkommen.“ Doch als ich mich in Bewegung setzten wollte, blieb er einfach stehen. „Wir müssen gehen, Papa“, sagte ich etwas nachdrücklicher.

„Das ist doch absurd“, echauffierte Kiara sich. „Ich habe keine Ahnung, was ihr hier versucht, aber das muss ich mir sicher nicht von zwei dummen Vampiren bieten lassen.“

„Kiara!“, schimpfte Cayenne.

Das Goldkind funkelte ihre Mutter wütend an, machte dann auf dem Absatz kehrt und marschierte mit wehendem Kleid davon.

„Papa“, sagte ich nun schon drängender und zog an seinem Arm. „Wir müssen jetzt gehen.“ Ich wusste zwar nicht genau warum, aber ich wusste, dass wir es tun mussten.

„Aber“, sagte Cayenne und schaute verwirrt drein. „Kiara hat keine Repression. Das wäre mir doch aufgefallen.“

Anstatt darauf zu reagieren, fing Papa mein Kinn ein und drehte mein Gesicht so, dass ich ihm in die Augen sehen musste. Dabei ließ er sich auch nicht davon stören, dass ich weiter versuchte ihn in Bewegung zu setzen. Er fixierte meinen Blick und auf einmal wurde das helle Eisblau seiner Iris immer dunkler. „Ignoriere Kiaras Anweisung und wach wieder auf. Du musst nicht tun, was sie sagt.“

Ich blinzelte. Er hatte recht. Ich musste nicht tun was sie wollte. Ich musste … ich blinzelte wieder und schaute mich dann etwas verwirrt um. „Was zur“, begann ich und dann wurde es mir plötzlich klar. „Oh mein Gott!“, fluchte ich und trat ein Stück zurück.

Papas Iris verblasste wieder. „Bist du wieder bei mir?“

„Sie wollte mich zwingen zu gehen!“ Ich konnte es nicht fassen.

Cayennes Verwirrung wollte nicht weichen. „Aber … das kann nicht sein. Kiara kann niemand durch ein Joch kontrollieren.“

Mein Vater schien nicht überzeugt. „Und wie würdest du das dann nennen? Es war nicht das erste Mal, dass ich gesehen habe, wie sie das macht.“

„Nein“, bestand Cayenne auf ihrer Meinung. „Sie ist meine Tochter. Es wäre mir ja wohl aufgefallen, wenn sie die Leute um sich herum manipulieren würde.“

Um ehrlich zu sein, hatte ich bisher auch nicht den Eindruck gehabt, dass sie mehr konnte, als sich in einen Wolf zu verwandeln. Wenn man es jedoch genau betrachtete, hatte Kiara in ihrem Leben hauptsächlich mit reinrassigen Lykanern zu tun und die ließen sich nicht manipulieren. Und nachdem was gerade geschehen war … ich hatte es schließlich am eigenen Leib erfahren. Und ich hatte es nicht mal bemerkt. Hätte mein Vater nicht mitbekommen, was hier los war, ich wäre einfach gegangen! Ich konnte es immer noch nicht fassen und wenn ich ehrlich war, machte es mich sauer.

Ich hatte Kiara nichts getan, ich war nie gemein oder unhöflich zu ihr gewesen, warum also machte sie sowas mit mir?

„Ich habe es gesehen, Cayenne“, sagte Papa mit fester Stimmer. „Mehr als einmal und wie du dich vielleicht erinnerst, sehe ich sie nicht sehr oft.“

Sie drückte ihre Lippen aufeinander. „Wenn sie das wirklich kann, dann macht sie das nicht bewusst.“

Ich runzelte die Stirn. „Du meinst, sie macht das, ohne zu wissen, dass sie es kann?“ Das würde auf jeden Fall erklären, warum sie die Leute so leicht um den Finger wickeln konnte. Das war weit mehr als nur Charisma.

Papa schnaubte. „Fantastisch.“

Als sich auf Cayennes Gesicht Ärger abmalte, hielt ich es für das Beste, einzuschreiten.

„Okay“, sagte ich. „Ich denke, wir sollten und deswegen jetzt nicht streiten. Es ist doch nichts weiter passiert.“ Und zumindest wusste ich jetzt, dass ich Kiara nicht allzu direkt in die Augen sehen sollte. „Am Besten wäre es doch, wenn … ähm.“ Ich verstummte, weil ich ehrlich gesagt nicht wusste, was im Moment das Beste war.

Mein Vater atmete einem tief durch. „In Ordnung, belassen wir es erstmal dabei, aber du musst mit ihr reden.“ Diese Worte waren an Cayenne gerichtet. „Falls sie sich dem wirklich nicht bewusst ist, dann muss sie lernen damit umzugehen und wenn sie sich dem bewusst ist, dann musst du ihr erklären, dass die Repression unter die Gesetze der Vampire fällt und das es Leute gibt, die sehr böse werden, wenn sie mitbekommen, was sie da tut.“

„Ich werde mit ihr sprechen“, sagte Cayenne, auch wenn sie damit nicht sehr glücklich schien.

„Tu es bald.“ Papa fixierte sie. „Sonst werde ich es tun, egal ob sie sich mit mir unterhalten möchte oder nicht. Ich werde nicht erlauben, dass ihr etwas passiert, nur weil sie sich vor der Wahrheit verschließt.“

Cayennes Lippen kräuselten sich und einen Moment glaubte ich, sie würde ihn anknurren. Doch dann nickte sie einfach nur. „Ich werde das mit ihr klären, glaub mir.“

 

°°°

 

Das glänzende Haar fiel ihr wie ein Schleier um die Schultern. Das weiße Gewand hatte etwas von einem Nachthemd und ließ sie dünn und zerbrechlich wirken. Ihre ganze Erscheinung wirkte ein wenig geisterhaft. Sie schien nicht von dieser Welt, dem Leben irgendwie entrückt, so als ginge sie das alles nichts an, obwohl sie doch mittendrin war. Sie war der Mittelpunkt, denn heute ging es ausschließlich um sie.

„Hu hu.“ Eine Hand wedelte vor meiner Nase herum und riss mich damit aus meiner Beobachtung. „Bist du anwesend?“

„Ja, ich …“ Ich sah zu Cio hoch und nahm das mir entgegengehaltene Champagnerglas. „Ich hab nur gerade gedacht, Sadrija wirkt so einsam.“ Und bei der Menge an Rudelmitgliedern, die heute hier aufgelaufen waren, war das eine Kunst für sich.

Nicht nur hier im Thronsaal war es so voll, dass man keinen Schritt machen konnte, ohne einem anderen unbeabsichtigt auf den Fuß zu latschen, im Rest des Schlosses sah es nicht anders aus. Wobei, was hieß hier Schloss? Die ganze Stadt war so mit Lykanern überlaufen, dass sie bereits Zelte auf jeder verfügbaren Freifläche aufgeschlagen hatten. Niemand wollte das heutige Ereignis verpassen. Und allein hier her zu kommen, hier in den Thronsaal, war eine Herausforderung gewesen.

Nun saß ich an einem dieser Zahnstocherbeinchentische unter den bodenlangen Fenstern und beobachtete wie der Adel des Rudels zu den Gesellschaftstänzen über das Parkett schwebte. Eine Huldigung an die zukünftige Königin.

Alles sah wieder so aus wie vor dem Angriff auf dem Schloss. Die Leute hatten sich wirklich Mühe gegeben, den Originalzustand des Schlosses wieder herzustellen. Wenn man nicht dabei gewesen war, konnte man fast glauben, dass der Umbruch nie stattgefunden hatte und der Schrecken vor ein paar Monaten, nichts weiter als eine alptraumhafte Phantasie gewesen sei.

„Willst du auch tanzen?“

Mein Blick richtete sich wieder zu Cio, der an seinem Glas nippte. Genau wie ich hatte er es nicht für nötig gehalten sich in Schale zu werfen. Wozu auch? Jeans und Shirt taten es doch auch. Und die Wollmütze hätte zu einem feinen Zwirn auch echt albern ausgesehen. „Du kannst tanzen?“

Er zwinkerte mir zu. „Finde es heraus.“

Das konnte er haben.

Mein Champagnerglas blieb unberührt zurück, als Cio mir die Hand reichte und mich zwischen die wirbelnde Menge auf die Tanzfläche führte. Doch schon als er sich vor mir positionierte wurde klar, dass er im Grunde keine Ahnung von dem hatte, was er dort trieb. Es erweckte fiel mehr den Anschein, als schaute er sich bei den anderen Paaren ab was er tun musste und versuchte es dann bestmöglich umzusetzen. Dabei trat er mir mehr als einmal auf den Fuß und drang permanent in meinen persönlichen Bereich ein. Doch er machte das mit so viel Witz und Charme, dass ich unablässig grinste und mehr als einmal laut auflachte.

Wir rempelten andere Paare an, die sich empört zu uns umdrehten und wirbelten über die ganze Tanzfläche, immer entgegen dem Strom.

Cio wirbelte mich herum. Ich krachte gegen seine Brust und lachte glücklich, als er dabei selber ins Stolpern geriet. Aber das hinderte ihn nicht daran, mich ein weiteres Mal herumzuwirbeln.

Ein paar pikierte Blicke trafen uns. Wir passten so gar nicht in die Gesellschaft auf der Tanzfläche, denn auch wenn wir nicht die einzigen waren, die diesen Abend leger gekleidet verbrachten, so benahm sich doch kein anderer so ausgelassen wie wir zwei. Obwohl, als mein Blick auf Kiara fiel, die sich in einiger Entfernung mit ihrem Tanzpartner zu amüsieren schien, musste ich meine Aussage revidieren. Es war nicht so, dass sie herumzappelte, so wie wir. Nein, ganz im Gegenteil. Die Darbietung, die Kiara bot, war beeindruckend.

Um sie herum hatte sich eine kleine Freifläche gebildet, um die sich ihre staunenden Bewunderer versammelt hatten. Unter der Traube ihrer Zuschauer befanden sich auch Sydney und Cayenne. Doch deren Augen lagen nicht auf dem extravaganten Tanz ihrer Tochter. Genaugenommen sahen die beiden gar nichts, denn ihre Augen waren geschlossen, während sie sich in einen Kuss fallen ließen, der eigentlich hinter verschlossene Türen gehörte.

Es war das erste Mal, dass ich die beiden so sah, so völlig zwanglos. Scheiß auf Etikette. Kein Zwang, keine Regeln, kein Druck. Nur die langersehnte Freiheit, das tun und lassen zu dürfen, was sie wollten und wann immer sie es wollten. Vielleicht war bei den ganzen Ereignissen ja doch etwas Gutes bei herausgekommen.

Irgendwie waren sie zusammen sogar richtig süß – das konnte ich sehr gut beurteilen, da ich nicht bei Cayenne aufgewachsen war und somit nicht dieses peinlich-berührt-Gefühl bekam, wenn die Erzeugerfraktion sich wie hormongesteuerte Teenager verhielt. Außerdem war ich von meinen Eltern bereits so einiges gewohnt.

Eigentlich wirkten heute alle sehr glücklich und zufrieden. Diego, der mit Genevièv tanzte und dabei eine noch schlechtere Figur abgab, als sein Sohn. Onkel Tristan und Tante Lucy, die Hand in Hand zum Büfett schlenderten. Mittendrin tanzten Samuel mit einer mir fremden Frau. Am Rand sah ich Fujo vorbei huschen, wie sie zu ihrem Großvater eilte und aufgeregt auf ihn einredete. Ihre Augen strahlten, denn er hörte ihr wirklich zu.

Nur Sadrija wirkte von alle dem ziemlich entrückt, ja fast melancholisch. Obwohl, genauso gut konnte es auch Stolz sein, was da in ihrem Blick lag. Oder Hoffnung. Sie war einfach schwer einzuschätzen.

Von der Seite kam Alina angestürmt, warf uns je einen Arm um die Schultern und unterbrach damit unseren … naja, Tanz konnte man das ja nicht unbedingt nennen, sie unterbrach uns eben einfach. Für den heutigen Anlass hatte sie es sich nicht nehmen lassen, sich in ihren feinsten Fummel zu werfen, den sie finden konnte – man wusste schließlich nie, wann man wieder die Gelegenheit dazu bekam.

Wie die Sonne höchstpersönlich strahlte sie uns an. „Ihr glaubt nicht was gerade passiert ist!“

„Dir ist endlich aufgefallen, dass du die ganze Zeit mit Klopapier am Schuh rumrennst?“, riet Cio einfach mal ins Blaue.

Wie er es vermutlich beabsichtigt hatte, veranstaltete Alina eine halbe Verrenkung, um über ihre Schulter nach dem potentiellen Übeltäter zu schauen, aber natürlich war da nichts außer ihren mörderischen High Heels.

Ich gab ihm einen mahnenden Klaps gegen den Arm. „Er macht nur Witze“, erklärte ich Alina.

Das hatte sie in der Zwischenzeit auch schon bemerkt und gab ihm ihrerseits auch noch einen Klaps.

„Hey!“, protestierte er.

Wie beide ignorierten ihn.

„Also, was ist dir gerade passiert?“, wollte ich wissen.

Und da war es wieder, dieses blendende Strahlen. „Erinnerst du dich noch an deinen Umbra von dem Maskenball? Diesen Jungwächter Ren-Shi?“

„Dunkel.“

„Ich hab gerade mit ihm getanzt und wow, der ist einfach nur der Hammer. Ich glaub, ich bin zum ersten Mal in meinem Leben wirklich verliebt!“

So sah sie nicht wirklich aus, aber das behielt ich besser für mich.

„Er holt uns gerade etwas zu trinken. Wünsch mir Glück.“

Bevor einer von uns beiden noch die Gelegenheit bekam ihr irgendwas zu wünschen, war sie auch schon wieder in der Menge verschwunden.

Cio blickte ihr mit offensichtlicher Belustigung nach. Er machte den Mund auf um etwas zu sagen, runzelte dann aber die Stirn.

Ich folgte seinem Blick und entdeckte Aric und Kasper nahe dem Büfett. Sie schienen sich zu streiten und hatten damit nicht nur unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Aus der Entfernung war nicht zu verstehen was sie sagten, aber Aric fauchte meinen besten Freund wütend irgendwelche Worte um den Kopf.

Kasper sah nicht weniger verärgert aus, ließ den Mund aber geschlossen. Er tat auch nichts, als Aric ihn einen halben Meter von sich stieß, um dann einfach zwischen den ganzen Leuten zu verschwinden. Die Hände zu Fäusten geballt stand er da und funkelte meinem Halbbruder hinterher. Dann machte er auf dem Absatz kehrt, stampfte zum Büfett, schnappte sich dort ein Champagnerglas und leerte es in einem Zug, als hing sein Leben davon ab.

„Sieht aus, als gäbe es da Ärger im Paradies.“

Das sah nach mehr als nur Ärger aus. Ich sah zu Cio hoch, schnappte seine Hand und strebte mit ihm zusammen an aufgetakelten Frauen und affektierten Männern hindurch. Dass ich dabei ein oder zwei Leute ausversehen anstieß und sie sich empört nach mir umdrehten, bemerkte ich kaum. Ich konnte mich nur wundern was zwischen den Beiden vorgefallen war. Vorhin noch war doch alles okay gewesen. Als wir zum Hof gelaufen waren, hatten sie gute Laune gehabt und kurzzeitig sogar Händchen gehalten, was mich selber sehr überrascht hatte.

Am Rande bekam ich mit, dass auch Kiara der Vorfall nicht entgangen war. Sie ließ ihren Partner einfach mitten im Tanz stehen und schlug die Richtung ein, in die Aric verschwunden war. Der zurückgelassene Mann wirkte etwas verwirrt, konnte aber nichts anderes tun, als ihr hinterher zu schauen.

Ich lief um eine spindeldürre Frau mit sehr ausladendem Kleid herum, drängte mich an zwei Männern vorbei und war dann endlich so weit vorgedrungen, dass ich nach Kaspers Arm greifen konnte.

Sofort wirbelte er herum, zeigte einen Moment sowas wie Hoffnung in seinen Augen, die aber sofort schwand, als er mich bemerkte. „Ach du bist das nur.“ Er wandte sich wieder dem Büfett zu, um das nächste Glas mit Champagner hinunter zu stürzen.

„Was ist passiert?“, fragte ich ohne große Umschweife.

„Hat man doch gesehen. Ich bin wie ein notgeiler Bock über den ach so tugendhaften Prinzen hergefallen, weil ich meine Triebe nicht unter Kontrolle habe und habe ihn damit vor dem ganzen Rudel bloßgestellt.“ Seine Hand spannte sie so fest um den Stiel des Champagnerglases, dass ich einen Moment befürchtete, er würde es zerbrechen.

„Was?“ Ich verstand nicht.

Cio ließ meine Hand los, nahm Kasper das leere Glas ab und tauschte es gegen ein volles aus.

Der Blick in Kaspers Augen wurde trüb. „Ich hab ihn ausversehen an der Hand berührt.“ Das nächste Glas wurde in einem Zug geleert.

Sofort tauschte Cio es wieder gegen ein neues aus.

„Du hast ihn an der Hand berührt?“ War das eine Umschreibung für etwas das ich nicht verstand? Oder für etwas dessen ich mich weigerte es zu verstehen?

„Ja, an der Hand.“ Er stürzte das nächste Glas herunter. „Hier ist es so voll und ich wollte einem Pärchen ausweichen, die noch nie etwas von respektablen Abstand gehört haben. Dabei habe ich seine Hand gestreift.“

Cio tauschte die Gläser wieder aus und erst jetzt schien Kasper das wirklich zu realisieren. Er runzelte die Stirn.

„Ich dachte du wolltest dir die Kante geben und wollte nur behilflich sein.“ Er zuckte die Schultern. „So macht man das doch bekanntlich mit Liebeskummer. Hab ich zumindest gehört.“

Kasper seufzte und stellte das volle Glas zurück auf den Tisch. „Gott, wenn ich ihm in den Schritt gefasst hätte, oder geküsst, oder etwas anderes Eindeutiges gemacht hätte, würde ich ja verstehen, dass er so aufstickt, aber ich habe ihn wirklich nur mit den Fingern gestreift.“

Oh man, was sollte ich dazu noch sagen?

„Ich habe langsam wirklich die Nase voll von Kerlen die nicht wissen was sie eigentlich wollen.“

Ich blinzelte. Er meinte doch nicht … „Du gibst auf?“

„Alles andere wäre vergebene Liebesmüh.“

„Aber ich dachte … du magst ihn. Das hast du doch gesagt.“

„Und? Was bringt mir das?“, fuhr er mich an und griff nun doch nach dem Glas, um sich seinen Inhalt in die Kehle zu stürzen. „Ist ja nicht so, dass ich ihm nicht die nötige Zeit lassen, oder ihm ständig am Arsch kleben würde, aber wegen so einer kleinen Scheiße muss er doch nicht gleich so austicken. Vorhin als wir alleine waren hat er sich auch nicht beschwert. Ganz im Gegenteil. Das ging alles von ihm aus und wäre Alina nicht reingeplatzt …“ Mit einem Knurren, das einem Wolf alle Ehre gemacht hätte, unterbrach er sich und haute das Glas so heftig auf den Tisch, dass ich einen Moment befürchtete, es würde zerbrechen. „Er ist ein elender Schisser und ich habe absolut keinen Bock mehr auf ihn. Ich weiß genau was ich will, er nicht und ich werde nicht länger das Versuchskaninchen zu spielen. Wir sind geschiedene Leute.“

Ich sah ihm genau an, dass er es nicht wollte, aber ich kannte ihn lange genug um zu wissen, dass er es ernst meinte und das zu hören tat mir wirklich leid. Sowohl für ihn, als auch für Aric. „Willst du es dir nicht vielleicht noch einmal überlegen?“, fragte ich vorsichtig.

„Nein.“ Eindeutig uns endgültig. Er kniff die Lippen zusammen. „Ich meine, es ist ja nicht so, dass ich auf diesen ganzen Kuschelkram und Händchenhalten stehe.“

Nein, das tat er wirklich nicht. Er hatte Aric gegenüber zwar erstaunlich schnell seine Scheu vor Berührungen abgelegt – zumindest teilweise – aber ein Kasper, der sich einem anderen förmlich um den Hals warf und nicht mehr von ihm abließ, war immer noch undenkbar. Dafür hatte seine Vergangenheit ihn einfach zu sehr geprägt.

„Es war nur eine kurze, unbedachte Berührung.“ Seine Lippen drückten sich zu einem dünnen Strich zusammen. „Ich will nicht mehr.“ Mehr gab es dazu nicht mehr zu sagen.

Cio neigte den Kopf nachdenklich zur Seite. „Dabei ich hab immer geglaubt, Frettchen seinen so anhängliche Haustiere.“

Dafür bekam er von meinem besten Freund einen vernichtenden Blick.

Cio grinste. „Und vielleicht ist ja doch noch nicht alles verloren.“

Einheitlich mit Kasper folgte ich Cios Blickrichtung und sah Kiara auf uns zukommen. Halb hinter ihr lief Aric. Naja, er lief nicht wirklich. Kiara hatte ihn wie ein kleines, bockiges Kind an sie eine Hand genommen und zerrten ihn praktisch mit sich mit. Als sie uns erreichte, würdigte sie mich keines Blickes. Dafür schob sie ihren Bruder aber sehr nachdrücklich vor Kasper.

Arics Blick war nicht weniger verärgert, als der von Kasper. Doch zeigte sich bei ihm Unsicherheit, wo bei Kasper Kummer stand.

„Na los“, sagte Kiara mit strenger Stimme und gab ihrem großen Bruder einen Stoß in den Rücken, der ihm Kasper noch ein wenig näher brachte. „Sag es ihm.“

Aric sah sich nervös nach seiner Schwester um, Zweifel im Blick. Seine Zunge schnellte nervös über seine Lippen und egal was ihn in dem Moment packte, als er seinen Blick wieder auf Kasper richtete, er war davon selber wohl genauso überrascht wie wir anderen auch.

Er trat einfach einen Schritt nach vorne, schnappte sich Kaspers Gesicht mit den Händen und drückte seine Lippen mit einer Intensität auf die meines besten Freundes, die schon an verzweifelten Hunger denken ließ.

Für einen kurzen Moment spannte Kasper sich an, als machte er sich dafür bereit Aric von sich zu stoßen. Doch statt die erhobenen Hände dazu zu benutzen, ihn von sich zu weisen, packte Kasper sein Hemd und zog ihn nur noch näher an sich heran. Und das war wohl der Moment, in dem die beiden die Welt um sich herum vergaßen.

Sie störten sich nicht daran, dass wir neugieriges Pack Zuschauer spielten und in die Runde grinsten. Und sie störten sich auch nicht daran, dass sie praktisch mitten im Thronsaal vor der Elite des Rudels heftig miteinander rumknutschten. Das wurde sogar so ungestüm, dass ich einen Moment am überlegen war, sie zu unterbrechen und darauf hinzuweisen, dass sie sich hier nicht alleine befanden.

Aber niemand der Umstehenden störte sich daran. Niemand deutete mit dem Finger auf sie, um sie für das was sie waren zu verurteilen. Natürlich gab es ein paar Blicke, aber eher so nach dem Motto „Wie süß“ oder „Die Glücklichen“, oder auch „Sowas will ich auch haben“. Keiner störte sich an der Zurschaustellung ihrer Gefühle. Und ich musste sagen, das war eine ziemlich heftige zur Demonstration.

Cio beugte sich zu meinem Ohr vor. „Also wenn die beiden nicht gleich aufhören, dann muss ich ihnen ein Glas eiskaltes Wasser über den Kopf gießen, um sie etwas abzukühlen.“

„Untersteh dich sie zu stören.“

Und da war es wieder, sein freches Grinsen.

Vielleicht war es Cios Kommentar gewesen, vielleicht wurde er sich seiner Umwelt wieder bewusst, oder vielleicht war es auch einfach nur die Tatsache, dass er zwischendurch mal Luft holen musste. Jedenfalls löste Aric sich schwer atmend von Kasper. Nur die Lippen. Das Gesicht behielt er weiter in den Händen, lehnte nur seine Stirn an die von meinem besten Freund und schloss die Augen. „Ich bin ein Idiot.“

„Ach, auch schon gemerkt?“ Die Worte kamen ziemlich scharf, wenn auch atemlos über Kaspers Lippen, doch der zufriedene Ausdruck in seinem Gesicht strafte den Ton Lügen.

Aric schlug die Augen auf und schaute meinem besten Freund an, als wäre er der einzige Mensch auf der Welt. Für ihn traf das wahrscheinlich auch zu. „Ich würde gerne … ich … ich meine, können wir …“

„Wollen wir uns verziehen?“, fragte Kasper ganz direkt. Vergessen war sein Ärger und sein Schwur Aric den Laufpass zu geben. So eine intensive Begegnung konnte einen aber auch ganz schön in seinen Entscheidungen ins schwanken bringen.

„Ja.“ Aric drückte Kasper noch einen Kuss auf die Lippen und griff dann seine Hand. „Ja, lass uns hier verschwinden.“

„Treibt es nicht zu wild!“, rief Cio ihnen noch hinterher und bekam dafür von beiden gleichzeitig den Mittelfinger gezeigt, bevor sie in der Menge untertauchten. Er lachte nur.

Auch Kiara wirkte zufrieden mit sich. Sie lächelte. Jedoch nur, bis sie sich umdrehte und bemerkte, dass ich auch noch da war. Ihre gute Laune verschwand hinter einem bösen Funkeln. Einen Moment schien es, als wollte sie etwas sagen, doch dann kehrte sie mir einfach den Rücken und machte sich wieder auf die Suche nach ihrer Begleitung.

Was bitte hatte sie für ein Recht sauer auf mich zu sein? Eigentlich stand das nur mir zu, schließlich hatte sie versucht mich zu manipulieren. Ich konnte nur den Kopf schütteln. Das würde sicher noch eine Menge Terz geben.

„Weißt du was ich jetzt gerne tun würde?“, fragte Cio mich.

Ich schüttelte den Kopf. Woher den auch, ich war schließlich kein Hellseher. „Sag es mir.“

„Meine Freundin schnappen, mit ihr hier verschwinden und irgendwo ungestört ein wenig mit ihr rumknutschen.“

Bei seinen Worten machte sich ein aufgeregtes Kribbeln in meinem Bauch breit. Und dass er mir dann auch noch vorsichtig das Piercing an meiner Augenbraue berührte, ließ meinen Puls auch nicht gerade langsamer schlagen. „Und warum machst du es dann nicht?“

Sein Mundwinkel zuckte. „Weil meine Freundin leider der Krönung der Königin beiwohnen will.“

Ach ja, da war ja noch was gewesen. Ich biss mir auf die Lippen, und knuffte ihm gegen die Schulter, als er leise lachte. „Das ist nicht lustig.“

„Wenn man es aus meiner Perspektive betrachtet, dann schon.“ Er beugte sich vor, um mir einen züchtigen Kuss auf die Lippen zu geben. Dann einen zweiten und einen dritten. Wir waren wie zwei Magneten, die nicht mehr voneinander ablassen konnten, sobald sie sich einmal berührt hatten. Und es passierte auch nicht zum ersten Mal. Daher wehrte ich mich auch nicht dagegen, als ich gemeinsam mit Cio in unserer kleinen Welt versank.

Erst als es um uns herum plötzlich totenstill wurde, lösten wir uns etwas verwirrt voneinander. Die Lippen geschwollen, den Blick verklärt, sahen wir uns nach der Ursache um.

Aller Blicke aus diesem und dem angrenzenden Saal hatten sich auf einen Punkt gerichtet und beobachteten in freudiger Erwartung was geschehen würde.

Sadrija hatte sich von ihrem Thron erhoben und sah mit diesen gebrochenen Augen zu uns hinunter. Sie wirkte so zerbrechlich, schwach und doch hatte sie Cerberus die Macht entreißen können. Es war immer noch schwer zu glauben.

Der ganze Raum hielt kollektiv den Atem an, als Sadrija den Kopf hob. Plötzlich wirkte sie nicht mehr so entrückt, sondern klar und der Welt viel näher. Es war als würde sie eine innere Wandlung durchmachen, die wir alle mit ansehen konnten.

Sehr langsam legte sie den Kopf in den Nacken und schloss dabei ihre Augen. Ein einzelner melodiöser Ton verließ ihre Kehle. Das Heulen eines mächtigen Alphas.

Ich bekam eine Gänsehaut und konnte mich auf einmal nur noch auf sie konzentrieren.

Sadrija trat einen Schritt nach vorne und zog sich dann völlig ungeniert das lange, weiße Hemd aus. Sie behielt es zwar in der Hand und drückte es sich an die Brust, doch niemanden entging, dass sie darunter nackt war. Doch es war nicht ihr unbekleideter Körper, dem den einen oder anderen ein Knurren entlockte, sondern die Narben, die sich über ihre blasse Haut verteilten.

Sie waren bei weitem nicht so schlimm, wie die von Sydney, aber sie machten sehr deutlich, dass ihr Leben in den vergangenen Jahren nicht einfach gewesen war.

Plötzlich zupfte ein kleines Lächeln an ihren Mundwinkeln und damit war der Bann des Augenblicks gebrochen.

Im Raum machte sich eine gespannte Erwartung breit. Auch ich spürte es. Ungeduld, ein innerer Drang, den ich nicht zu benennen wusste. Er wollte mich vorantreiben, doch ich klammerte mich an Cios Arm, um ich nicht von der Stelle zu rühren. Nur leider schien es meinem Freund nicht anders zu gehen. Niemandem im Saal. Und trotzdem bewegte sich keiner von der Stelle. Alles warteten nur gebannt und beobachtete, wie Sadrija mit einem letzten erhabenen Blick über die Menge langsam begann sich zu verwandeln. Das Hemd fiel zu Boden und dort wo noch vor wenigen Sekunden eine geisterhafte Frau gestanden hatte, setzte sich nun eine anmutige Wölfin grazil in Bewegung.

Vor ihr bildete sich eine Gasse, die sie entschlossen beschritt. Hände streckten sich nach ihr aus, berührten sie flüchtig an dem hellen Fell, das mich ein wenig an das Strahlen von Licht erinnerte. Hinter ihr schloss die Gasse sich schneller als sie entstanden war. Die Leute drängten ihr hinterher. Sie wollten in ihrer Nähe bleiben.

„Komm“, sagte Cio, griff meine Hand fester und zog mich, bevor ich überhaupt wusste wie mir geschah, durch einen Seiteneingang nach draußen ins Freie.

„Cio, wo willst du hin?“

„Na wohin schon?“ Er lächelte mich über Seine Schulter frech an, ohne den Schritt zu verlangsamen. „Nach vorne in die erste Reihe.“

So schnell, dass ich Probleme hatte ihm zu folgen, zog er mich ein über ein paar überwucherte Pfade, die uns letztendlich nach vorne in den Vorhof brachten, wo nicht weniger los war als im Saal selber. Die Stimmung hier war eine brodelnde Suppe aus Aufregung und gespannter Erwartung, die die Luft zum vibrieren brachte. Der Höhepunkt erreichte die Aufgeladene Luft, als Sadrija den Vorhof betrat. Sie war umgeben von einer Aura der Weisheit und Unschuld. So widersinnig, wie ihr Äußeres und doch mit einer Stärke, die uns alle vor Ehrfurcht erheben ließ – zumindest ging es mir so.

Über ihre Schnauze hinweg ließ sie den Blick über uns wandern. Nur kurz, als wollte sie sehen, ob auch alle da waren. Dann schloss sie die Augen, warf den Kopf in den Nacken und heulte hinauf zum Mond. Der Ton war so durchdringen, dass er mich bis tief in mein Innerstes traf.

Sie rief ihr Rudel zusammen, rief Cayenne und Sydney, rief Alina, Aric und Samuel. Sie rief mich und all die anderen Lykaner die hier zusammengekommen waren, um diesem Erlebnis beizuwohnen. Und dann setzte sie sich in Bewegung.

Mit einer Geschwindigkeit, zu der kein Mensch nicht fähig gewesen wäre, rannte sie zum Tor hinaus, den ganzen Weg bis hinunter nach Silenda. Und wir liefen mit ihr. Auf zwei und auf vier Beinen. Jubelten, bellten, heulten und freuten uns.

Die Energie um mich herum, knisterte in der Luft, so stark war sie. Die Aufregung, die Erwartung. Sie trieben das Rudel mit ihr zusammen vorwärts.

Die Euphorie in der Luft war so stark, dass ich sie in jede Faser meines Körpers fühlen konnte.

Ich rannte mit Cio zusammen, rannte den ganzen weg hinter der zukünftigen Königin her. Es war ein Rausch, der uns alle beflügelte und dazu brachte ihr zu folgen.

Der Mond strahlte auf uns hinunter, lockte uns mit Versprechen und Versuchungen. Wir wurden begleitet von seiner Melodie. Sie schlug im Takt mit unseren Herzen, war der Atem in unseren Lungen. Noch nie in meinem Leben hatte ich das Lied so intensiv gespürt, wie in diesem Moment.

Cios Hand fest im Griff, konzentrierte ich mich auf sein Lied, als wir nach Silenda kamen und ließ mich davon durchfluten und mitreißen. Es war unglaublich.

Das Herz in meiner Brust raste wild und mein Atem fuhr stoßweise über meine Lippen. Ich sah Cio an, dem die gleichen berauschenden Gedanken und Gefühle durch den Kopf zu gehen schienen. Seine Augen, sein ganzes Gesicht strahlte.

Die ersten Häuser der Stadt zogen an uns vorbei. Überall, in jeder Straße warteten weitere Wölfe, die vor Freude beinahe winselnde Geräusche von sich gaben, als sie uns kommen sahen und sich unserem Lauf anschlossen. Es waren so viele, so unzählig viele.

Sadrija gab noch einmal Gas, warf dabei den Kopf nach hinten und heulte, dass auch jeder Wolf, möge er noch so entfernt sein, hören konnte, dass sie in Silenda Einzug hielt.

Von allen Seiten strömten Lykaner heran, schlossen sich uns an, strebten gemeinsam mit uns dem Ziel entgegen.

Durch die Straßen, vorbei an kleinen und großen Häusern. An Geschäften und Parks und überall warteten bereits neue Lykaner. Sie säumten die Wege, standen Spalier, führten uns an das Ziel, das sich schon allzu bald vor uns eröffnete.

Es war ein Tempel, wie es ihm vielleicht schon im alten Griechenland gegeben hatte. Ein großes Dach, gestützt von zwölf stuckverzierten Säulen. Im hinteren Teil befand sich ein Podest mit einem Altar und auf diesem Altar lag bewacht von einem Dutzend Wächtern Leukos Seele, ein Edelstein, ein großer blauer Topas. Ich hatte von ihm Bilder gesehen, berichte gelesen, doch dies war das erste Mal, dass er mir leibhaftig vor die Augen kam. Er war wunderschön und schien im Licht des Mondes, dass durch die offene Luke im Dach auf ihn fiel, beinahe zu leuchten.

Bis auf einen schmalen Streifen, war der Platz vor dem Tempel komplett überfüllt. Die Wölfe sahen aus Fenstern hinunter, von Dächern und ein paar Wagemutige hatten sich sogar Plätze hoch oben auf den Laternen gesucht. Die Luft vibrierte geradezu vor den Erwartungen der Lykaner, während der Mond immer weiter am nächtlichen Firmament hinaufkletterte. Er hatte schon fast den höchsten Punkt erreicht.

Cio zog mich an der Hand weiter nach vorne, um ein besseren Blick auf dieses Ereignis zu haben. Das war gar nicht so einfach, denn die Leute in den vorderen Reihen wollten ihre Plätze natürlich nicht aufgeben. Es wurde geknurrt, gerempelt und geschubst. Jeder wollte ganz vorne sein.

Währenddessen schritt Sadrija erhobenen Haupts durch den Tempel, auf die Stufen des Podests zu. Sie war sich den Blicken um sich herum nur allzu bewusst. Und dann, in dem Moment als sie die unterste Stufe betrat, wurde es schlagartig still. Die ganze Stadt, das gesamte Rudel schien plötzlich die Luft anzuhalten und voller Vorfreude jeden ihrer Schritte zu beobachten.

Cio schob mich noch ein Stück nach vorne, sodass ich mich plötzlich wirklich in der ersten Reihe wiederfand und dabei zusehen konnte, wie sie mit eleganten und geschmeidigen Bewegungen hinter den Altar trat und sich mit den Vorderbeinen daran ausstellte, ohne den Topas oder sein samtiges Nest zu berühren.

Die Luft vibrierte von der Aufregung des Rudels.

Der Mond erreichte seinen höchsten Stand in dem Moment, als Sadrija den Blick auf ihr Rudel richtete. „Es ist Zeit“, sagte sie. Ihre Stimme war leise, doch der Wind schien sie durch die ganze Stadt zu tragen. Sie berührte den Topas mit der Pfote. Im Gleichen Moment schien sie in dem Licht zu baden, ja von innen heraus zu leuchten. Leises Gemurmel setzte wieder ein. Es waren bewundernde Laute, voller Vorfreude und Spannung.

Mein Mund öffnete sich ganz ohne mein Zutun. Meine Augen waren groß und selbst wenn ich gewollt hätte, es wäre mir in diesem Augenblick nicht möglich gewesen den Blick abzuwenden.

Mit der Ausstrahlung eines Alphas, wandte Sadrija sich den Wölfen zu.

Augenblicklich wurde es wieder so ruhig, dass man eine Stecknadel hätte fallen gehört. Sie sah zu uns hinunter, ließ den Blick über uns gleiten. Wir alle waren ihr Rudel. Wir waren nur hier, um sie zu sehen, um unserem Führer nah zu sein. Wir alle hofften, dass sie der Alpharolle gerecht werden konnte, dass sie es besser machen würde als Cerberus. Ohne Lügen und Intrigen. Keine Machtspielchen, keine Unterdrückung.

Wir alle hofften, nun endlich den wahren Alpha unseres Rudels vor uns zu haben.

Die Melodie der Nacht pulsierte durch meinen Körper. Meine Hand schloss sich fester um die von Cio.

Dann fegte ein Windhauch über uns hinweg. Königin der Nacht, Beschützerin des Rudels, Kind des Mondes. Nun ist alles wie es sein soll. Der wahre Alpha ist zurückgekehrt, schien der Wind zu säuseln. Die Worte waren in mir, in der Luft, in der Melodie, ein Hauch des Windes. Es waren die Worte einer nie vergessenen Seele, die noch nach all den Jahrtausenden über die Lykaner wachte.

Die Worte brannten sich in meiner Herzen. Geister, dachte ich. Ich konnte sie nicht sehen, aber sie mussten um uns herum sein. Sie waren immer da, ganz egal was wir taten. Das hatte meine Mutter mich gelehrt.

Nach jedem Frieden, folgt eine Zeit der Unruhe“, sagte Sadrija leise. „Ihr habt Schmerz und Leid erlitten und manch einer von Euch trauert über den Verlust, der der Verwirrung gefolgt ist. Ich kann euch nicht versprechen, jedes Unheil von euch fernzuhalten, doch ich werde für Eintracht und Harmonie einstehen.“ Obwohl das unmöglich war, schien sie jeden von uns einzeln anzusehen. „Ich bin Eure Königin“, verkündete sie und entließ eine Welle ihres Odeurs, die über uns hinweg brandete.

Der Atem stockte in meinen Lungen. Es war pure Macht, die über uns zusammenschlug. Ich spürte sie in jeder Zelle meines Körpers, spürte wie sie mich vereinnahmte, wie alles in mir danach strebte, meinem Alpha zu folgen.

Sobald der erste Schreck verklungen war, beugte jeder Lykaner ehrfürchtig sein Haupt und erkannte damit sein neues Oberhaupt uneingeschränkt an – ja, auch Cio und ich. Wir unterwarfen uns ihr, akzeptierten sie, erkannten ihren Rang an und würden ihr ab jetzt überall hin folgen.

Folgt mir in eine neue Zukunft.“ Sadrija war den Kopf in den Nacken und sandte ihren Gesang hinauf zum Mond und zum ersten Mal seit ich diese Frau kannte, wirkte sie nicht mehr schwach und zerbrechlich. Sie war Stärke und Macht in einer Person. Zukunft und Schicksal.

Hunderte von Kehlen stimmten mit ein und heulte hinauf in die Nacht. Jeder von uns folgte ihrem Ruf, neigte den Kopf zum Himmel, und huldigte dem Mond. Der Schein um sie herum verging, doch die Macht pulsierte weiter. Leukos hatte gewählt und wir alle würden folgen.

Und dann, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, brach plötzlich das reinste Chaos aus. Alle drängten nach vorne zur neuen Königin. Wollten sie sprechen, berühren, um die Zugehörigkeit zu stärken, das Band zu schließen, das uns alle mit ihr vereinte, ihr einfach nahe sein. Schon nach kurzer Zeit war sie in dem Durcheinander verschwunden.

Von irgendwoher ertönte Musik. Aufgeregtes Stimmernwirrwarr durchtränkte die Luft.

Die Party brach einfach aus, ohne dass jemand den Anfang gemacht hatte. Sie alle feierten die neue Königen, feierten das Gefühl, dass sie noch immer durchflutete, diese Euphorie.

Mir ging es nicht anders. Diese Wildheit. Es brannte in mir, das Verlangen nach Freiheit, zu rennen wohin ich wollte. Ungebärdig, wild, frei.

Ein Grollen erhob sich in meiner Kehle und ich fühlte, dass mein Wolf in diesem Moment direkt unter meiner Haut lauerte. Heute Nacht standen nicht nur in Sydneys und Arics Augen die Wölfe, heute Nacht pulsierte die Melodie des Mondes in unseren Adern, sodass wir alle mehr denn jäh Tiere waren.

Als sich von hinten zwei Arme um mich schlangen, drang mir Cios Geruch intensiv wie nie in die Nase. Alle meine Sinne waren hochsensibel und so konnte ich ein leises Knurren nicht unterdrücken, als Cio mir mit den Zähnen verspielt in die Halsbeuge zwickte.

Das Vibrieren seines Lachens spürte ich in meinem Rücken. „So böse, Schäfchen?“

Ich sah ihm über die Schulter hinweg tief in die Augen, nahm das Glimmen, dieses Leuchten seiner Augen wahr. Warum nur ging mein Atem plötzlich so schwer und warum jagte mein Puls in einem Maß nach oben, das sicher nicht gesund war?

Inmitten dieses Chaos aus freudiger Erregung und unbezähmbarer Wildheit, zwischen dem Trubel aus Freude, Glück und Zufriedenheit, unter den Lykanern, die feierten als gäbe es keinen Morgen, starrten Cio und ich uns einfach nur still an. Mit jeder verstreichenden Sekunde ging auch sein Atem schneller und zeigte eine Glut, die ich nicht verstand. Freiheit, schrie jede Faser unserer Körper. Die Wölfe in uns wollten hinaus, wollten rennen und sich austoben.

Mit einem Grollen, das sich tief aus seiner Brust aufbäumte, packte Cio meine Hand und zog mich ohne Rücksicht auf Verluste durch die Menge. Zwischen all den Lykanern zerrte er mich hinaus aus Silenda und hinein in die Ausläufer des Wales.

Mein Herz donnerte bei jedem Schritt vor Aufregung in der Brust, als wollte es voraus galoppieren und uns den Weg weisen. Die Geräusche in der Nacht umschlangen uns wie die Gerüche des Waldes. Ich hörte Kleingetier im Unterholz und andere Wölfe die ihre Glieder strecken wollten.

Wie liefen und liefen, bis die einzigen Laute das schlagen unserer Herzen war, der schwere Atem, der Zug um Zug aus unseren Lungen kroch. Dann hielt Cio so abrupt wie er losgelaufen war. Ich schaffte es nicht mehr anzuhalten, lief frontal in ihn hinein und ließ uns damit beide ein paar Meter weiter stolpern. Und dann lagen seien Lippen auf meinen. Bevor ich Zeit hatte nach Luft zu schnappen, bevor ich mich orientieren, oder wenigstens gerade hinstellen konnte, begann er meinen Mund in einem Rausch zu verschlingen, der uns an den Ort brachte, der ihm und mir allein gehörte.

Seine Hand legte sich in meinen Nacken, zog mich fester an sich und ließ die Zeit um uns herum still stehen. Plötzlich löste er sich von mir. Sein Atem ging noch heftiger als meiner und in seine Augen glühte die Euphorie. „Lauf mit mir.“

Und dann ging alles irgendwie ganz schnell. Seine Lippen drängten sich wieder hungrig gegen meine und während wir uns gegenseitig die Kleidung vom Leib rissen, gaben wir uns der klangvollen Melodie des Mondes hin.

Die Verwandlung setzte ein. Meine Haut kribbelte. Wo ich eben noch über Cios glatte Brust streichen konnte, spross nun ein dichter, dunkelbrauner Pelz. Wir streichelten und berührten uns, küssten uns solange bis es nicht mehr ging, weil die Verwandlung zu weit fortgeschritten war.

Mein Blick auf die Welt verschob sich, als ich auf vier Pfoten zu Boden sank. Die Sinne schärften sich. Ich empfand und roch intensiver, spürte wie der Wind durch mein Fell fuhr und war umgeben von diesem vertrauen Geruch, zu dem es mich mit jeder Faser meines Seins hinzog.

Cio.

Ich warf den Kopf in den Nacken, heulte in meinem Rausch hinauf zum Mond. Nicht nur Cio stimmte in meinen Gesang mit ein. Von weit her, aus Silenda, aus dem Schloss und den hintersten Winkeln der Wälder antworteten die Wölfe der Nacht. Heute, zu dieser Stunde, war die Welt erfüllt mit den Gesängen der Kinder des Mondes, auf das sie niemals verstummen würden.

 

°°°°°

Epilog

 

„Die Mayflower, ich kann sie nicht finden.“ Die kleine Frau mit dem wirren Haar und dem zerknitterten Papierhut auf dem Kopf, schaute ihn mit einem entrückten Blick an. „Ich muss an Board, sonst kann sie nicht auslaufen. Jedes Schiff brauch einen Kapitän.“

Jamal legte ihr einen Arm um die schmächtigen Schultern. „Am Besten gehst du da zu Schwester Lenka. Ich bin mir sicher, dass sie weiß, wo dein Schiff ist.“

„Ja.“ Die verwirrte Frau nickte. „Lenka weiß wo mein Schiff ist.“ Sie setzte sich in Bewegung und lief den sterilen Korridor hinunter, ohne weder ihn, noch die anderen Patienten wahrzunehmen. Aber sie ging nicht zu Schwester Lenka. Als sie an einer offenen Tür vorbei kam, bog sie abrupt ab und trat uneingeladen in das Zimmer. Dort fragte sie wieder nach ihrem Schiff.

Einen kurzen Moment war Jamal am überlegen, ob er ihr folgen sollte, wandte sich dann jedoch ab und nahm Kurs auf sein eigentliches Ziel, das Zimmer mit der Nummer Zwanzig Zwölf. Er kam oft her. Er tat es gerne, auch wenn er sich davor fürchtete. Er musste es tun, er hatte doch sonst niemanden.

Trotzdem musste er noch einmal tief durchatmen, bevor er nach der Klinke griff, sich ein Lächeln auf die Lippen zauberte und die Stube dahinter betrat.

Dieser Raum sah genauso aus wie jedes andere Patientenzimmer in der Heilanstalt Curare. Ein beinahe quadratischer Raum mit einem schmalen Bett, einem Kleiderschrank und einem Tisch mit zwei Stühlen. Es war hell und freundlich. Angeblich half das den Patienten im Gleichgewicht zu bleiben. Jamal fand es einfach nur steril und antiseptisch.

Das Bett mit dem weißen Bettzeug, stand direkt unter dem Fenster. Eine junge, hübsche Lykanerin, mit schulterlangem braunen Haar saß angelehnt an einem Kissen darauf und las ein Buch. Shakespeares, Was ihr wollt. Sie trug eine graue Jogginghose und ein ärmelloses Shirt und schaute nicht auf, obwohl sie gehört haben musste, wie er den Raum betrat.

„Hallo, schöne Frau.“ Zögernd stand Jamal mit der Klinke in der Hand da und war sich nicht ganz sicher, ob er einfach reingehen, oder doch besser waren sollte. Er wollte sie nicht verärgern, doch es hing immer von ihrer Laune ab, wie sie reagieren würde. Er war sich nicht mal sicher, ob er sie ansprechen sollte.

Als sie auf einmal leise knurrte, begann sein Puls etwas schneller zu schlagen. Er kannte dieses Gefühl der Angst, es begleitete ihn schon, so lange er sich zurückerinnern konnte. Er lächelte tapfer weiter, schloss dann dir Tür und bewegte sich zögernd auf die Frau zu. Unentschlossen schaute er zwischen dem Bett und den Stühlen hin und her.

„Setz dich einfach, Jamal.“

Am Besten wäre vermutlich der Stuhl. Er zog ihn direkt neben das Bett. So war er in ihrer Nähe, aber nicht zu nahe.

Dann passierte erstmal gar nichts. Sie las einfach weiter, während er geduldig wartete und es genoss, hier sein zu dürfen. Dabei ließ er sie nicht aus den Augen. Nicht nur, weil sie sie war, auch weil er gewarnt sein wollte, sollte etwas passieren. Er hatte gelernt sie zu besänftigen und sie einzuschätzen, seit sie vor zwei Jahren hier eingewiesen wurde. Aber er vergaß niemals, dass er aufmerksam sein musste.

„Wann entlassen sie dich?“, fragte sie, ohne den Blick aus ihrem Buch zu heben.

„Morgen Vormittag, sobald sie alle Papiere fertig haben.“

Sie nickte und blätterte eine Seite um. „Du weißt, was du zu tun hast?“

„Ihn finden und beobachten.“

„Und wie findest du ihn?“

„Ich weiß, wo sein Vater ist.“ Jamal drehte sich ein wenig. Es juckte ihm in den Fingern sie zu berühren, einfach um sich zu vergewissern, dass sie wirklich hier war, doch das tat er nicht, nicht ohne ihre Erlaubnis. „Es ist gut möglich, dass er auch da ist.“

„Und wenn er nicht dort ist?“

„Ich kenne seinen Namen. Ich werde ihn finden.“

„Ich will Bilder von ihm.“ Sie ließ ihr Buch in ihren Schoß sinken und richtete ihre schwarzen Augen auf ihn. Eigentlich waren sie von einem sehr dunklen Braun, doch das bemerkte man nur, wenn das Licht günstig fiel. „Ich will ihn sehen.“

„Ich weiß.“ Er senkte seinen Kopf ein wenig, ließ sie aber keinen Moment unbeobachtet. „Verlass dich auf mich, ich werde dich nicht enttäuschen.“

Als sie das Buch zusammenklappte und die Hand hob, spannte er sich reflexartig an, doch sie strich ihm nur sanft durch sein Haar. „Das hoffe ich für dich. Sonst brauchst du dich nie wieder bei mir blicken lassen.“

Diese Worte reichten aus, um das Angstgefühl in ihm neu zu entfachen und sein Herz ein wenig schneller schlagen zu lassen. Wenn sie ihn verlassen würde … er konnte das nicht noch einmal ertragen. Trotzdem lächelte er und zeigte ihr damit die Spitzem seiner Fänge. „Ich werde tun, was du willst.“

„Ich weiß.“ Sie legte das Buch zur Seite, rutschte dann auf dem Bett hinunter, bis sie bequem auf dem Rücken lag. „Komm her“, sagte sie und winkte ihn mit dem Finger heran. „Ein letztes Mal zum Abschied.“

„Handgelenk?“

„Nein.“

Er wollte nicht. Wenn er ihr zu nahe kam, konnte es passieren, dass sie ihm wieder wehtat. Aber wenn er sich ihr verweigerte, dann würde sie ihm auf jeden Fall wehtun. Also blieb ihm gar nichts anderes übrig, als sich zu erheben und zu ihr ins Bett zu steigen.

Sie beobachtete ganz genau, wie er sich rittlings über sie kniete. „Na los“, forderte sie ihn auf, als er wieder zögerte.

Bevor sie auch nur die Chance bekam zu reagieren, packte er ihre Handgelenke und drückte sie neben ihrem Kopf in das Kissen. Sie knurrte aufgebracht, doch schon in der nächsten Sekunde hatte er sich bereits vorgebeugt und seine ausgefahrenen Reißzähne ohne Betäubung in ihren Hals gerammt.

Mehrere Sekunden musste er darum kämpfen, dass sie ihn nicht abwarf. Würde ihr das gelingen, würde sie ihn schlagen. Aber dann begann der Endorphincocktail in ihrem Blutkreislauf zu wirken und sie würde nicht nur ruhiger, sie begann es auch zu genießen.

Er hoffte so, dass es nicht das letzte Mal war.

 

°°°°°

Impressum

Cover: Cover by Kathrin Franke-Mois - Epic Moon Coverdesign
Tag der Veröffentlichung: 20.10.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:

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