Cover

Vorwort

Da es in dieser Geschichte sehr viele Eigennamen, und Fremdbezeichnungen gibt,

habe ich mir erlaubt, ein Glossar zu erstellen,

damit das Lesen einfacher wird. 

Viel Spaß beim Schmökern. 

Glossar der Begriffe, Redewendungen und Eigennamen

Amentrum: Das Reittier eines Kriegers oder Lehrlings, das sich aus dem Sermo verwandelt. Wildhund oder Wildkatze in der Größe eines Pferdes. Treuer Begleiter seines Leiters - selten bissig. 

Amicus: Freunde, beste Freunde - oder der ewige Nagel zu meinem Sarg. 

Brestern: Bruder, Schwester, Geschwister, beide Geschlechter werden mit demselben Wort bezeichnet - die ewigen Quälgeister der Familie.

Ein Herz sein: Geliebter, Partner, Beziehung

Fafa: Vater, Papa

Geleit: Sermo/ Amentrum eines Kriegers oder Lehrlings 

Heiler: Arzt - der einem immer so bittere Gebräue aufdrängt und behauptet, dass sie helfen würden. Vorausgesetzt natürlich, man stirbt vorher nicht an einer Lebensmittelvergiftung. 

Heilhütte: Krankenhaus

Land der Götter: Träumen

Leiter: Krieger oder Lehrling eines Sermo oder Amentrum, sein Gefährte und Führer - oder die Person, die einem immer den Mund verbietet. 

Lichtkristall/ Leuchtkristall: Lichtspender, Kristalle, die durch Sonnenlicht aufgeladen werden

Magister: Lehrer - die die alles verbieten, was Spaß machen könnte. 

Mächte: Die Kraft der Götter, die in den Steinen eingeschlossen ist. Auch wenn die Bewohner auf Silthrim aus dem Leib geboren werden, so stammt die Magie der Wesen doch aus den Mächten in den Steinen und geht nach deren Tod dahin zurück.

Meen-Suavis: Süße, Süßer, Kosename

Mina: Mutter, Mama - der Regelaufsteller

Nasan: Kosewort für Familienmitglieder

Natis: Kinder, Söhne, Töchter, beide Geschlechter werden mit demselben Wort bezeichnet

Occino: Bastets Stimme. Bastet kann auf Silthrim nicht agieren, spricht aber durch ein heiliges Wesen, wenn sie etwas zu sagen hat. In jeder Generation wird ein Occino geboren.

Reden im Geist/ Geistreden: Gedanken, denken, nachdenken

Rofafa: Großvater, Opa

Romina: Großmutter, Oma - die einem immer in die Backe kneift

Schöpfungstag: Tag der Erschaffung der einzelnen Spezies. Jede Rasse auf Silthrim hat ihren eigenen Schöpfungstag - und der muss gefeiert werden. 

Sermo: Geleit eines Kriegers oder Lehrlings. Ein Tier das sprechen kann, und sich ab einem bestimmten Alter in einen Amentrum verwandeln kann, um seinen Leiter zu tragen - manche von ihnen sind für ihr vorlautes Mundwerk in den unpassendsten Situationen bekannt. 

Sicuti: Zwilling - doppelt hält besser

Stein der Sonne: Ein sehr heißer Stein aus den Bergen der Naga. Da es auf Silthrim kein Feuer gibt, wird er benutzt, um zu Kochen, oder Hitze zu erzeugen, mit der Metalle geschmolzen werden können. Sollte er einmal abkühlen, nur in die Sonne legen, um ihm wieder aufzuladen - von direktem Hautkontakt wird abgeraten, da das zu Verbrennungen dritten Grades führen kann. 

Theatrum: Theater - oder der Ort der theatralischen Dramen.

Vergelts: Danke schön

Götterliste


Bastet                       Ailuranthrop
Chnum                       Elfen
Sachmet                    Magier & Hexen
Osiris                          Succubus & Incubus
Horus                         Engel
Amun                         Satyr
Anubis                        Vampir
Hathor                        Zentaur
Maat                           Selkie
Sobek                         Gorgonen
Ptah                           Banshee
Thot                           Fee
Geb, Nut & Schu           Nymphen
Isis                              Meermenschen
Chepre                        Sirene
Re                               Harpyien
Seth                            Lykanthropen
Bes                             Naga & Echidna 

Prolog

Mit weit ausholenden Schritten marschierte Bastet durch die Marmorhalle auf den Diwan am anderen Ende zu. Ihr weißes Gewand wehte um ihre Beine und jedes Auftreten schallte in dem großen Saal von den Wänden wieder. Sie war so wütend. Sie hatten es wieder getan und nun war ihr ganzes Volk in Gefahr. Die Macht, sie war verloren und die Schuld trug der verbotene Zauber. Wie hatten sie das tun können? Die Folgen waren ihnen doch bewusst gewesen.

„Sachmet!“, donnert sie und fixierte die Göttin mit dem Löwenkopf, die sich in den Kissen ihres Diwans rekelte und eine Weintraube mit der Kralle aufspießte.

„Bastet.“ Sie nickte der Göttin mit dem Katzenkopf zu und schluckte die süße Frucht genüsslich hinunter. „Was kann ich für dich tun?“

„Der verbotene Zauber, er wurde ausgesprochen!“

Mitten in der Bewegung hielt Sachmet inne und richtete ihren Blick ungläubig auf die andere Frau. „Was sagst du da?“

„Der Weg in die Welten wurde geöffnet. Meine Krieger und Occino sind auf dem Weg zu fremden Ufern und sie tragen das Auge bei sich!“

Mit jedem Wort das über Bastets Lippen kam, wurde Sachmet ungläubiger. Sie konnte einfach nicht glauben was sie da hörte. Ihre Geistreden ließen es nicht zu. „Das ist nicht möglich.“ Sie hatte es verboten. Bereits vor Jahrhunderten hatte sie ihrem Volk untersagt jemals wieder an diesen Zauber heranzutreten.

„Es ist bereits geschehen.“ Bastet kniff wütend die Lippen zusammen. Ihrem Volk drohte Unheil und sie war nicht in der Lage etwas dagegen zu unternehmen. „Und nicht nur ich habe diesen Verlust erlitten. Die Lykanthropen sind meinen Kriegern zu Hilfe geeilt und nun haben auch sie Verluste zu verzeichnen.“

Sachmet richtete sich kerzengrade auf. Bei ihrem Namen, das durfte nicht wahr sein.

„Seth ist unglaublich wütend.“

Natürlich, das verstand sie. „Was soll ich tun?“

„Hilf mir mein Volk zu retten, hilf uns die Verlorenen in die Heimat zurück zu bringen.“

„Aber wie?“ Das war nicht so einfach. Den Weg den die Krieger gerade beschritten war wie Rauch, nicht wie Stein. Er besaß keine feste Substanz.

„Sie haben das Auge.“ Bastet blinzelte einmal. „Gib mir eine Seele, damit sie die Brücke ein weiteres Mal errichten können.“

 

°°°°°

Kapitel Eins

Heillos, wenn ich noch gemeinsam mit Anima ins Theatrum wollte, musste ich mich beeilen. Ausgerechnet heute hatte Sian, mein Schneeleoparden-Sermo, sich beim Klettern eine Kralle einreißen müssen und so war mir nichts anderes übrig geblieben, als ihn deswegen noch kurz in die Heilhütte zu bringen. Doch das hatte Zeit gekostet. Nun war ich viel zu spät dran. Und das ausgerechnet heute, am Schöpfungstag! An jedem anderen wäre es mir egal gewesen, nur heute nicht. Anima wartete bestimmt schon ungeduldig, sie wusste ja nicht was geschehen war.

Meine Schritte trugen mich eilig über die Tempelanlage, doch immer wieder versicherte ich mich mit einem Blick über die Schulter, dass Sian auch hinter kam. Er humpelte leicht. Natürlich, das Auftreten tat ja auch weh, aber das machte mich nur noch ungeduldiger.

Auf ausgetretenen Pfaden, ging es zu den Wohnhütten der Lehrlinge. Vorbei an Blumengärten, Bäumen in Blüte und Beeten mit Kräutern und Gemüse. Der Geruch vom Ailurafluss, der hinter dem Tempel floss, wehte in einer sanften Brise zu mir nach oben.

Die Tempelanlage stand auf einem Hügel. Es war wohl der schönste Ort, an dem ich je gelebt hatte, doch heute verwünschte ich seine Größe. Die Hütten der Lehrlinge standen am anderen Ende der Anlage, eingebettet in ein kleines, immergrünes Tal, das vom Ailurafluss eingerahmt wurde.

Bereits von weitem sah ich die Rundhütten aus Kalkstein, die mein Zuhause waren. Und wie sie dort standen, dicht an dicht gedrängt in dem kleinen Tal, wirkten die vielen Häuschen wie ein Nest voller Eier, die auf die Rückkehr ihrer Mina warteten. Und auch von Nahen kam man auf die Reden im Geist, sie für halbe Eier zu halten. Große Eier. Bewohnte Eier.

Meine Beine trugen mich geschwind die grüne Böschung hinunter. Über Erdpfade eilte ich zu einer Hütte weit in der Mitte, die ich mir außer mit meiner Amicus Anima noch mit Mikain teilte. Sie beide waren Lehrlinge der höheren Kasten, nannten diesen Ort schon länger ihr Zuhause und würden ihn auch lange vor mir verlassen. Zumindest Mikain, denn Anima war etwas Besonderes. Sie gehörte dem Tempel, gehörte zu den Priestern. Ihre Aufgabe war an diesen Ort gebunden

Den neugierigen Blicken der anderen Lehrlinge schenkte ich keine Aufmerksamkeit. Wie ein Schlange wand ich mich durch den Wald aus Hütten, bis ich vor meiner Behausung ankam und den Leinenvorhang mit dem Zeichen unserer Göttin Bastet zur Seite riss, nur um von Mikain in einer Wolke aus Voile begrüßt zu werden.

„Lilith! Wo warst du nur? Ich war schon beunruhigt, dass du es nicht mehr schaffen würdest“, trällerte sie munter, sah aber keineswegs beunruhigt aus. Sie tanzte durch den Raum und summte dabei leise vor sich hin. Bei Sians Eintritt trat sie ihm dabei auch noch fast auf den Schwanz. Er fauchte sie an, schlich am Rand entlang, immer auf der Hut vor ihr, bis er im Nebenzimmer verschwand.

Ich runzelte im Vorbeigehen die Stirn. Zwar hassten Mikain und ich uns nicht, aber Amicus würde ich uns niemals nennen. Nicht mal Bastet könnte mich dazu verleiten und das hatte Gewicht. Das sie besorgt um mich war, nahm ich ihr nicht ab. Vielleicht hatte sie dem Wein zu gut zugesprochen. Gefeiert wurde schon den ganzen Tag und je weiter die Zeit voranschritt, umso ausgelassener wurden die Ailuranthropen auf dem Tempelgelände. Besonders einige der Lehrlinge waren bereits in einem kleinen Rausch versunken, der die Reden in ihrem Geist benebelte. Sie sollten aufpassen, dass die Magister sie nicht erwischten, sonst wäre die Feier für sie schneller aus, als sie vergelts Bastet sagen konnten. Besonders wenn Magister Damonda sie erwischen sollte.

Magister Damonda war eine Xanthippe, die Schlimmste am Tempel der Bastet. Keiner mochte sie, das schloss mich mit ein.

Kopfschüttelnd trat ich in unsern Ruheraum. Vier Holzbetten standen hier, zwei auf jeder Seite des kleinen Zimmers. Doch nur drei von ihnen waren belegt.

Anima stand bei der Truhe am Fußende ihres Bettes und war gerade dabei sich ihre Tunika aus feinster Leine mit Goldfäden über den Kopf zu ziehen. Auf ihrer Matratze lag ausgestreckt Eno, ihre Sermo. Das Licht der Sonne spielte auf dem Fell des jungen Leopardenweibchens, ließ ihre Rosetten erstrahlen und gab ihr mit den halb geschlossenen Augen etwas Träges. Aber täuschen sollte man sich davon nicht lassen. Eno war vieles, doch gewiss nicht träge.

„Mikains Geist ist benebelt“, sagte ich und machte mich sogleich über meine eigene Truhe her. Zum Fest im Theatrum konnte ich schließlich nicht die staubige Lederkleidung am Leib behalten. „Sie behauptet, besorgt um mich gewesen zu sein.“

Animas Kopf tauchte aus ihrer Kleidung auf. Helles, blondes Haar, das sie erst vor kurzer Zeit kurz geschnitten hatte und die für Leoparden bezeichneten gelben Augen mit der runden schwarzen Pupille zeigten sich mir. Mit ihren hohen Wangenknochen und dem Schmollmund war sie eine ausgesprochene Schönheit. Aber hinter diesem schönen Antlitz steckte weit mehr, als man auf den ersten Blick glauben mochte. Anima war nicht nur ein Lehrling zum Krieger, sie war das Geschenk der Göttin an mein Volk, das größte Geheimnis der Ailuranthropen und einer meiner drei Amicus.

„Das ist der Wein, den sie schon seit Sonnenaufgang karaffenweise trinkt“, bestätigte sie mir und bewegte ihren langen Körper geschmeidig zum Fensterbrett, auf dem wir unseren Schmuck aufbewahrten. „Aber sie wird schon sehen, was sie davon hat. Wenn sich ihr Geist morgen von dem Rausch befreit hat, wird sie glauben, dass ihr eine Herde Zentauren über den Kopf gerannt ist.“

Bei der Vorstellung musste ich lächeln. Ich zog einen Lendenschurz und einen langen Schaal aus leichten Leinen aus meiner Truhe. Dann legte ich eilends meine Schlachtkleidung ab, wusch mich rasch an der Wasserschüssel in der Ecke und wickelte mich in meine saubere Garderobe.

Der Lendenschurz, der das Zeichen meiner Göttin trug – eine sitzende Katze mit würdevoll erhobenem Kopf – war mit silbernen Fäden verziert und reichte mir bis knapp unter die Knie. Der Schaal, den ich mir mit etwas Hilfe von Anima um den Oberkörper wickelte, trug die gleichen Verzierungen. Ich nahm mir noch einen Schleier aus Voile, dessen unterer Rand mit blauen Glasperlen gespickt war und wickelte ihn mir um die Hüfte. Gerade, als ich nach dem noch fehlenden silbernen Gürtel mit den blauen Glasperlen greifen wollte, hörte ich Eno hinter mir Fauchen. Ein kurzer Blick über die Schulter zeigte mir, dass Anima ihr ein goldenes Halsband anlegen wollte, das passend zu dem Gürtel meiner Amicus war, aber Eno fand die Idee wohl nicht so ansehnlich. Sie kauerte auf dem Bett und zuckte warnend mit der Schwanzspitze.

„Komm schon, Eno“, flehte Anima, „das ist dein erster Schöpfertag. Willst du da nicht hübsch aussehen?“

Eno schnaubte beleidigt. „Ich finde mich auch so hübsch, ohne dieses Ding!“

Jetzt war auch Anima beleidigt. Sie stützte die Hände in die Hüften und funkelte ihre Sermo böse an. „Du weißt genau, dass ich das so nicht gemeint habe.“

Wieder ein Schnauben von Eno.

Leoparden konnten ganz schön dickköpfig sein. Und dabei war es egal, ob sie Gestaltwandler waren oder Sermos, die zeitweise auch in der Gestalt des Armentumsliefen. Wenn Eno also nicht wollte, würde Anima es sehr schwer haben ihren Willen durchzusetzen.

„Ich will hübsch aussehen“, hörte ich die Kleinkindstimme von meinem Schneeleoparden, meinem Sermo Sian, der sich neben meinem Bett auf ein großes Fell ausgestreckt hatte, in dem ich ihn hätte dreimal einwickeln können.

„Das wirst du auch, mein Hübscher“, beruhigte ich meinen kleinen Jungen.

Als Anima sich ihrer Leopardin erneut näherte, sprang diese mit einem Satz auf ihre erhöhte Schlafstelle, ein Vorsprung in der Wand über den Betten, der mit extra weichem Lammfell ausgelegt war. „Ich bin keine Hauskatze!“, schimpfte sie, machte es sich dann mit viel Gehabe und Tamtam bequem und tat dann so, als würde sie schlafen.

Hatte ich es nicht gesagt? Stur und unnachgiebig, wie ein Esel.

Von dem Fell neben meinem Bett, beobachtete Sian alles neugierig. „Ich mag ein Halsband haben.“ Besorgt sah er mich an. „Bekomme ich ein Halsband?“

„Natürlich“, lächelte ich. „Passend zu meiner Kleidung, damit auch jeder weiß, dass du zu mir gehörst.“

Er nickte zufrieden, damit war alles geklärt.

„Hauskätzchen“, zischte Eno ihm zu, damit der Kleine ganz genau wusste, was sie von ihm hielt.

Sian plusterte sich auf – was bei seiner Größe wirklich niedlich war – und fauchte sein mageres Katzenfauchen nach oben. Da er erst zwei Jahre war und damit gerade Mal doppelt so groß wie eine Hauskatze, beindruckte das noch niemanden. Auch Eno ignorierte ihn einfach. Genauso wie Sie Anima ignorierte, die noch immer durch gutes Zureden versuchte, ihre Sermo vom Vorsprung herunter zu locken.

„Eno bitte, ich bitte dich in Bastets Namen, komm da runter und lass mich dir das Halsband anlegen.“

Keine Reaktion.

Eigensinniges Raubtier.

Mein Gürtel fand seinen Platz an meiner Hüfte. „Wenn sie nicht will, lass sie. Eno wird dann die einzige Sermo auf dem ganzen Fest sein, die nicht glanzvoll strahlen wird.“

Anima verstand natürlich sofort was ich vorhatte und stieg mit ein. „Ja, du hast wahrscheinlich Recht.“

„Aber ich werde glanzvoll sein“, versicherte sich Sian noch einmal. Er hatte immer Angst, dass er vergessen werden könnte.

„Natürlich, hier, ich mach es sofort.“ Aus meiner Truhe zog ich das silberne Halsband mit den blauen Glasperlen, das meine Mina angefertigt hatte und legte es ihm mit geübten Handgriffen um. In dem weißen Fell mit den dunklen Flecken wirkte es sehr auffallend. „Das sieht gut aus. Du zumindest wirst mit den anderen strahlen können.“ 

Er nickte eifrig und rannte praktisch in den mannshohen Spiegel an der Wand rein, um sich ein Bild von sich selbst machen zu können. „Ich werde strahlen, Eno nicht, weil sie ein Steinkopf ist.“

Enos Ohren zuckten. Ein Zeichen dass sie uns sehr wohl zuhörte. Sie war zwar schon fast fünf Jahre, verstand aber noch nicht viel über geistliche Spiele. Dafür fehlte ihr einfach die Erfahrung. Das war unsere Chance.

„Sie wird der einzige Leopard im Theatrum sein, die kein Tand träg“, stimmte ich meinem Sermo zu. Ich legte mir zwei silberne Armreife um die Oberarme und griff nach meinen Haarperlen, die ich in geübten Bewegungen in mein Haar einflocht. „Kaio wird das freuen, dann hat er wieder etwas, über das er sich lustig machen kann.“ Kaio war der Brestern von Eno, der Sermovon Gillette, Animas Herz.

Das ließ Eno hellhörig werden. „Kaio?“

„Natürlich“, erwiderte ich. „Er wird sich von Gillette ein Halsband anlegen lassen. Er will heute Abend ja nicht unansehnlich wirken. Schließlich ist heute ein großes Fest, das nur alle zehn Jahre stattfindet. Wir feiern den Schöpfertag, da putzen sich alle heraus. Auch Kaio.“

„Nur du nicht“, fügte Anima mit einem leichten Schulterzucken hinzu. „Du wirst aussehen wie jeden anderen Tag.“ Sie schmiss das Halsband aufs Bett und machte sich daran ihre Haare zu bürsten, in die sie dann das zarte goldene Diadem steckte, das sie zu ihrem letzten Geburtstag von Gillette bekommen hatte. Sie hatte nicht oft Gelegenheit, es zu tragen.

Anima und ich halfen uns gegenseitig, uns zurecht zumachen. Dabei konnten wir deutlich beobachten, wie Eno mit ihrer Entscheidung langsam aber sicher ins Schwanken geriet.

Ich stellte mich gerade vor den Spiegel, als sie erhobenen Hauptes hinunter aufs Bett sprang und mit würdevoll erhobenem Kopf sagte: „Du darfst es mir doch anlegen. Ich will dich ja nicht beschämen, wenn ich der einzige Sermo im ganzen Theatrum bin, der kein Halsband trägt.“

„Natürlich.“ Sie scheiterte bei dem Versuch ihr Lächeln zu verbergen. Der Sieg war nun mal ihrer.

Ich schmunzelte mein Spiegelbild an. Eine neunzehnjährige Ailuranthropin mit schulterlangen weißen Haaren und grauen Augen schmunzelte zurück. Ich war nicht so schön wie Anima, das war kaum einer im Tempel. Aber ich war zufrieden mit mir. Fast zumindest. Ich hatte einen kleinen Höcker auf der Nase, den ich nicht mochte, aber meine langen Wimpern und der schön geschwungene Mund glichen das Ganze wieder aus. Meine Haut war weiß wie Schnee und schien in dem Festtracht zu leuchten. Ich war schlank und durchtrainiert. Vielleicht ein wenig sehnig. Das musste ich sein, als zukünftige Kriegerin der Bastet.

Im Großen und Ganzen war ich mit mir zufrieden – zumindest was das Äußere anbelangte.

Ich wollte mich gerade umwenden und vorschlagen, dass wir uns langsam auf den Weg machen sollten, als Mikain in ihrer gelben Tunika ins Zimmer schwebte. „Lasst uns gehen, sonst kommen wir zu spät.“

 

°°°

 

„Heillos, ist das voll hier.“ Ich ließ mich nicht besonders anmutig auf dem seidenen Sitzkissen an unserem flachen Tisch nieder. Es war eher ein Plumpsen als alles andere.

„Du wolltest aufhören so viel zu fluchen“, erinnerte mich Jaron. Er hatte mit seinem Brestern bereits am Tisch gesessen, als Anima und ich ins Theatrum gekommen waren. Nun saß er neben mir und grinste mich auf seine ganz eigene Art an. Mit dem markanten Gesichtszügen, dem sandfarbenen Haar, den gelbgrünen Augen und der durchtrainierten Figur, war er ganz nett anzusehen, aber irgendwie kam es immer zum Streit zwischen uns, sobald wir uns sahen. Nicht, dass ich ihn nicht mochte, er gehörte zu meinen Amicus, aber er hatte etwas an sich, das mich einfach aufregte, sobald er nur den Mund aufmachte.

Wie jetzt wieder. Ich warf ihm ein nicht allzu dankbares Lächeln zu. Natürlich wollte ich mit dem Fluchen aufhören. Es war einfach eine schlechte Angewohnheit, aber das würde ich ohne Kommentare seinerseits in Angriff nehmen. „Pass lieber auf, das Mochica nicht von der Tribüne fällt.“

Die eben Genannte balancierte am Rand unserer Ebene, auf der Jagd nach einer Fliege und achtete gar nicht darauf, wohin sie trat. Sie sprang und …

„Mist!“ Jaron machte einen Satz zur Seite, der ziemlich schmerzhaft aussah, schlug der Länge nach hin und fing seine kleine Sermo in letzter Sekunde aus der Luft. Gerade noch rechtzeitig, bevor die kleinen, Leopardendame auf der Ebene unter uns auf dem Tisch landete. Es war zwar nicht tief, aber sie hätte sich sicher wehgetan und das musste ja nicht sein.

Seufzend hob Jaron sie auf seinen Schoss, wo sie zappelnd versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. 

„Du schimpfst über mich und bringst selber Fäkalien an unseren Tisch.“ Diesen Satz konnte ich einfach nicht unterdrücken. Dazu hätte ich mir schon die Zunge abbeißen müssen.

Jaron funkelte mich böse an, während Anima neben Gillette ein langes „Iii“ von sich gab.

„Was denn? Ich spreche nur die Wahrheit.“ Ein Stück Melone, das verführerisch in der Schale auf unserem Tisch lag, verschwand mit einem Handgriff in meinem Mund.

„Warte nur“, ließ Jaron verlauten. „Der Tag kommt, an dem dir dein Sermo ähnlichen Ärger macht. Dann reden wir weiter

Mehr als ein Schulterzucken meinerseits war nicht drin. „Sian ist schon zwei. Ich glaube nicht, dass er noch einmal ins Kleinkindalter kommen wird.“

„Werde ich nicht“, versprach er sofort eifrig. „Ich bin schon fast groß.“

„Ja das bist du.“ Mit den Fingern kraulte ich ihn unter dem Kinn. Seine zwei Jahre waren zu vergleichen mit einem achtjährigen Jungen. Außerdem war er schon immer ziemlich ruhig gewesen. Mochica dagegen entsprach mit ihrem halben Jahr einer Dreijährigen, die den ganzen Tag nichts anderes als Flausen im Kopf hatte. Alles war interessant, alles war neu und sie schien es zu einem Sport erklärt zu haben, ihren Leiter immerzu in Bewegung zu halten. Ja, mit der Kleinen wurde es nie langweilig.

„Das wird schon noch kommen“, versprach Jaron. „Bei den Jungs kommt das Rüpelalter immer erst später.“

„Du musst es ja wissen.“ Wenn das seine Meinung war, konnte er sie gerne vertreten. Ich war mehr an meiner Umgebung, als an unserem kleinen Konflikt interessiert.

Das Theatrum war ein großes, rundes Gebäude, ähnlich wie unsere Wohnhütten, nur viel größer und edler. Die Ebenen, die bis auf den letzten Platz besetzt waren, bestanden aus weißem Kalkstein. Wände waren mit Wandgemälden der Krieger vergangener Zeiten kunstvoll bemalt. Von der Decke bewachte uns ein Abbild unserer Göttin Bastet.

Jeder Tisch, jedes Kissen war besetzt. Auf sechzehn Ebenen die kreisförmig und stufig zur Bühne ausgerichtet waren, tummelten sich die Anwohner des Tempels. Lehrlinge wie ich und meine Amicus hatten Plätze auf den unteren Ebenen eingenommen. Danach kamen die Angestellten, Krieger und Magister. Ganz oben, von wo aus man den besten Ausblick auf die Bühne hatte, saßen die Priester der Bastet. Überall bewegten sich die Sermos zwischen den Tischen, Raubkatzen in verschiedenen Größen und Alter.

Manche, so wie Eno und Kaio, hatten sich auf den Weg gemacht, um den anderen stolz ihre Halsbänder zu präsentieren. Andere hatten sich bei ihren Ailuranthropen niedergelassen und warteten auf die Vorstellung zu Ehren des Schöpfungstags. Und wieder andere, so wie Mochica, versuchten alles, um ein wenig Freiheit zu erlangen.

Es war wirklich süß mit anzusehen, wie die Kleine zappelte, um sich auf die Jagd nach einer neuen Fliege zu begeben. Aber Jaron tat gut daran, sie bei sich zu behalten. Sie war noch zu klein, ein Winzling, fing gerade erst mit dem Sprechen an. Sie hier einfach rumlaufen zulassen, war zu gefährlich, sie konnte sich verletzen.

Nach ein paar Minuten vergaß Mochica, wonach ihr eigentlich der Sinn gestanden hatte und spielte mit der Kordel an Jarons grauen Gürtel, der zu seinem sandfarbenen Haar passte.

Anima war so mit ihrem Herz Gillette beschäftigt, dass sie gar nichts mehr anderes um sich herum wahrnahm. Wie immer. Ihrem Herz ging es kaum anders. Bis heute war ihm nicht bewusst, wie er es geschafft hatte, das schönste Mädchen des Tempels sein eigen zu nennen. Ich ehrlich gesagt auch nicht. Das sollte nicht gemein klingen, aber Gillette war nichts Besonderes. Schwarze Haare, gelbe Augen, ein leicht vorstehende Kinn. Durchschnitt.

Intellektuell ragte er auch nicht sonderlich heraus, doch durch seine kämpferischen Fähigkeiten war er einer der Besten im Tempel. Das musste er auch sein, denn er war dazu auserkoren, über das größte Geheimnis unseres Volkes zu wachen. Ansonsten aber war er durch und durch durchschnittlich. Außerdem lastete ein Fluch auf ihm, ein Todesfluch. Er musste mehrmals am Tag einen Trank, der von den Priestern gebraut wurde, zu sich nehmen, sonst würde er innerhalb weniger Tage sterben. Keiner wusste, woher er ihn hatte. Er war eines Tages einfach da gewesen und hatte ihm fast das Leben gekostet. Und trotz alledem war er der Einzige den Anima wollte.

Liebe musste schön sein.

„Unga“, nuschelte Mochica mit der Kordel in der kleinen Schnauze und hatte damit sofort die Aufmerksamkeit aller am Tisch. Die Kleine war aber auch goldig. Wer nicht auf sie reagierte, trug nur einen Stein in der Brust.

„Da musst du noch warten, essen gibt es erst nach der Vorstellung“, erklärte Jaron.

„Unga!“ Mochica spuckte die Kordel aus und bedachte ihn mit ihren großen Kulleraugen, die jedes Herz zum Erweichen brachten.

Nur nicht Jarons. „Jetzt nicht.“

„UNGAAAAAAAA …“

„Mochica.“

„… UNGA, UNGA,  AAAAAA, UN…“

Schwupp und schon steckte eine Weintraube in ihrer kleinen Schnauze.

„Du musst auf ihre Essenszeiten achten, dann kann so etwas nicht passieren“, belehrte Anima ihn und zupfte zwei weitere Trauben, die sie der kleinen Leopardin vor die Nase hielt, damit dieser nicht wieder anfing zu schreien.

„Hör auf sie mit Weintrauben zu füttern, davon bekommt sie nur Durchfall.“

Anima steckte ihr noch eine in das kleine Schnäuzchen. „Sie hat Hunger. Und außerdem muss ich es ja nicht wegmachen.“ Und damit begann eine Diskussion zum Thema: Erziehe deinen Sermo.

Ich folgte dem Ganzen wie einem Schlagabtausch beim Tischball, einem Spiel, in dem zwei Bällen mit zwei kleinen Kellen hin und her geschubst wurden. Aber wirklich interessieren tat es mich nicht. Anima war nicht anders als ich, auch sie bekam sich mit Jaron regelmäßig in die Wolle.

Vielleicht lag das an seinem Alter. Er war der Jüngste von uns, war eigentlich nur in die Riege meiner Amicus gerutscht, weil er der kleine Brestern von Gillette war. Jaron war siebzehn, vier Jahre jünger als sein großer Brestern und Anima und zwei weniger als ich. Aber wenigstens war er kräftig genug, um im Kampf zu bestehen. Dieses Glück war mir nicht beschert, was ich beim Training oft zu spüren bekam.

So war mein ganzes Leben schon gewesen, immer die Letzte. Das siebente Kind meiner Mina, das einzige Mädchen, die kleinste in unserem Dorf, die Schwächste im Tempel. Ich hatte es gerade mal so zum Lehrling der Krieger geschafft und noch heute glaube ich, dass ich nur aufgenommen wurde, weil mein Fafa der große Zhao war. Noch nie hatte ich in etwas herausgestochen. Überall schaffte ich es gerade mal so. Die Schwächste, die Kleinste, die Jüngste, die Letzte, immer und überall zu spät. Aber aufgeben kam mir nie in den Sinn. Es war schon immer mein Wunsch gewesen, eine Kriegerin zu werden, mein Volk zu beschützen und ich würde es schaffen. Schon als kleines Wildkätzchen hatte ich meinem Fafa und meinen älteren Brestern nachgeeifert.

Mein Fafa hatte mir einmal bei seinen seltenen Aufenthalten gesagt, dass ich das hätte, was eine echte Kriegerin ausmachte, das Herz und den Willen und daran klammerte ich mich mit meinem ganzen Sein fest, wenn ich mal wieder einer Niederlage erlagt, oder wenn ich mich versteckte um meine Wunden zu lecken.

Schon seit sieben Jahren lebte ich im Tempel unserer Göttin Bastet und mein erster großer Augenblick kam, als ich Sian in meine Obhut nahm. Meinen eigenen Sermo, meinen Schneeleopard, der erste Schritt zu einer richtigen Kriegerin. Und bei all den Rückschlägen wusste ich, irgendwann würde meine Zeit kommen. Mein Fafa glaubte an mich, also, wie konnte ich das nicht?

Trotzdem war ich an diesem Tisch mal wieder die Letzte. Gillette und Anima würden in wenigen Monaten fertige Krieger sein. Ich dagegen hatte gerade mal meinen neunzehnten Sommer hinter mich gebracht. Mein Sermo, den ich zu meinem Siebzehnten bekommen hatte, war noch so jung, dass er sich noch nicht mal in einen Armentum wandeln konnte. Bisher hatte ich also nur mein halbes Geleit. Ich war hier wirklich ein Küken. Da war es auch egal, dass Jaron, so gesehen, jünger war als ich. Er war ein außergewöhnlicher Ailuranthrop, so ganz anders als sein Brestern. Bei ihm zeigten sich auch in dieser Gestalt die dunklen Rosetten seiner Leopardenzeichnung auf seiner Haut, etwas sehr seltenes und in seinen Augen lag seine wilde Natur, die schon so manchen auf Abstand gehalten hatte. Jaron war gefährlich und würde seinen Status als Lehrling wahrscheinlich noch vor mir verlieren.

Ich war eine der untersten Lehrlinge im ganzen Tempel, zu schwach zu klein, zu schmal. Drei Jahre hatte ich noch vor mir. Aber nur, wenn das Glück mir einmal zuteilwerden sollte. Ansonsten wäre ich eine der Wenigen, die länger hier bleiben mussten, weil sie einfach noch nicht so weit waren, das Volk zu schützen. Kein Wunder, dass die anderen mich oft so bevormundend behandelten.

Irgendwie war es schon komisch. Andere schlossen sich immer Gleichaltrigen an, wenn sie in den Tempel kamen, aber ich war irgendwie bei den dreien gelandet. Klar, Anima war meine Zimmergenossin. Da verbrachte ich zwangsläufig Zeit mit ihr. Gillette gehörte zu ihr, also konnte ich auch da eine Verbindung herstellen, aber ich wusste nicht wie zur Sachmet ich Jaron einordnen sollte. Er war irgendwann einfach aufgetaucht und verschwand seitdem nicht mehr. An seinem großen Brestern konnte es nicht liegen, die beiden mochten sich nicht mal besonders, so jedenfalls kam es mir vor und das Alter war auch zu unterschiedlich. Warum ging er also nicht zu Seinesgleichen?

Nicht, dass wir uns falsch verstanden, so gesehen hatte ich nichts gegen ihn. Was mich störte war, dass Anima ständig versuchte, mich mit ihm zu verpaaren und dass er nichts dagegen unternahm. Er war ein netter Kerl und mit seinen Grübchen auch ganz ansprechend. Auch die Größe war in Ordnung – überragte er mich doch bereits um einen Kopf – aber mehr als Amicus war nicht drin. Außerdem war da noch das Alter und …

„Wenn ich um Aufmerksamkeit bitten dürfte.“ Die Stimme der obersten Priesterin Tia hallte von der Bühne durchs ganze Theatrum. In all ihrer Pracht stand sie vor den silbernen Vorhängen auf der Bühne. Ihr weißes Haar reichte ihr bis auf den Po und stand in erheblichen Kontrast zu ihrer schwarze Priesterrobe, auf der das Bildnis unserer Göttin prangte. Das Alter hatte sie mit Falten gezeichnet, doch ihre Haltung und ihre Ausstrahlung zeigten nichts als Stolz und Stärke.

Sie war mein großes Vorbild. Sie war eine Schneeleopardin wie ich auch einst eine sein wollte. Unbeugsam und mächtig auf eine sympathische Art. Neben ihr stand eine Schneeleopardin, ihre Sermo Yumakita, mindestens so kraftvoll wie die Priesterin selbst.

Die Gespräche verstummten augenblicklich und wie durch Zauberei tauchten Eno und Kaio bei uns auf. Eno trug ihr Halsband voller Stolz, so dass jeder es sehen konnte. Ich verkniff mir ein Schmunzeln.

„Ich freue mich euch am heutigen Tag, dem Tag unser Schöpfung begrüßen zu dürfen“, sagte Priesterin Tia. „Wie immer zum Anlass dieser Feierlichkeit, haben einige Lehrlinge der Kunst ein Stück für diesen Tag vorbereitet. Und da ich weiß, dass ihr euch mindestens genauso darauf freut wie ich, will ich ohne weitere Umschweife die Vorstellung eröffnen. Erfreut euch an dem Meisterwerk. Erfreut euch an der Geschichte der Entstehung.“

Unter Applaus traten sie und Yumakita von der Bühne. Die Leuchtkristalle an den Wänden wurden abgedeckt, um den Saal zu verdunkelt und hinter den Leinenvorhängen flackerte Licht auf. Einen Moment später glitten sie zur Seite und gaben die Kulisse frei. Ein nächtlicher Himmel mit Sternen, die die Bildnisse der Götter innewohnten. Vor dem Bühnenbild standen achtzehn Lehrlinge mit kunstvollen Masken vor den Gesichtern, die die Götter repräsentierten.

„Jetzt musst du aufpassen, Sian“, flüsterte ich meinem kleinen Sermo zu. Er stellte die Ohren auf und ging in Habachtstellung. Mein kleiner Nasan. Es war auch für ihn sein erster Schöpfungstag, etwas ganz besonderes. Ich konnte mich noch gut an meinen eigenen erinnern, wie ich aufgeregt an der Hand meiner Mina rumgehüpft war, damals noch in unserem Dorf, das einzige Mal bisher, dass ich diesen Tag erleben durfte. Alle zehn Jahre wurde den ganzen Tag gefeiert, das ganze Dorf war dabei. Nie hatte ich ein größeres Fest erlebt.

Auch Mochica wandte sich kurz dem Stück zu, fand Animas Finger, auf denen sie herumkaute, dann aber doch interessanter.

„Vor Jahrmillionen“, hallte es im Theatrum von den Wänden, „gab es auf dem Gestirn Silthrim nichts als dunklen Stein. Kein Erdreich, kein Wasser, keine Luft und auch kein Leben. Die Götter Silthrims lebten in den Wolken, sie brauchten den Boden unter sich nicht um glücklich zu sein und vergaßen ihn. Doch einer von ihnen, Chnum, Gott des Handwerks und der Töpferei, langweilte sich sehr schnell. Er erinnerte sich an das karge Land und wollte es verändern. So begann er damit, Tiere und Pflanzen aus Ton zu formen …“

Aus der Reihe der Götter trat ein männlicher Ailuranthrop mit der Maske eines Widders hervor und begann, Figuren von Pflanzen und Tieren aus seiner Robe zu ziehen, die er vor sich auf den Boden stellte und dann mit einem Starb leicht berührte.

„… hauchte ihnen Leben ein und ließ sie auf dem Gestirn Silthrim frei. Er formte den Planeten, erschuf Wiesen und Wälder, Berge und Täler. Erschuf eine Welt, in der sich seine Wesen wohl fühlten. Geb, Nut und Schu …“

Eine weitere Gottheit trat hervor. Drei Gesichter auf der Brust, die die Familie darstellten und die Maske eines Schmetterlings im Gesicht.

„… waren neugierig auf sein Werk, wollten daran teilhaben und gaben dem Planet die drei Elemente. Wasser, Erde und Luft. Silthrim gedieh, hielt sich von da an selber am Leben und die Götter fingen wieder an, ihn zu vergessen. Doch dann geschah etwas Grauenvolles in der Götterwelt. Seth …“

Ein Lehrling mit Wolfskopfmaske trat hervor …

„… wurde eifersüchtig auf seinen Brestern Osiris und tötete diesen.“

… und stach mit einem Messer auf den mit der Fledermausmaske ein. Osiris ging zu Boden.

„Isis, Brestern und Gattin fand seinen Leichnam …“

Ein Mädchen mit Delphinmaske eilte zu Osiris und beugte sich zu ihm. Sie bewegte den Mund und Arme, wie eine Hexe.

„… und hauchte ihm neues Leben ein. Doch, auch wenn die Gräueltat damit ungeschehen gemacht wurde, vergaßen sie das Sakrileg nicht. Es entbrannte ein Streit zwischen den Göttern. Sie kämpften. Erst um Recht und Regeln, dann um Macht.“

Die Götter auf der Bühne brachen in einem Kampf aus. Erst nur wenige, aber dann wurden die anderen nach und nach mit hineingezogen. Anfangs schien es noch zwei Parteien zu geben, doch es wurde immer undurchsichtiger und mit der Zeit bekriegte jeder jeden. Die Bühne tauchte in farbiges Licht, Nebel zog über den Boden, Dolche blitzen auf und Kampfgeschrei peitschte durchs Theatrum. 

„Jahrhunderte vergingen. Die Götter vergaßen warum sie kämpften, doch sie hörten nicht auf. Zu tief war dieser Streit in ihnen verwurzelt. Eines Tages jedoch wurde Hathor des Kampfes müde.“

Ein Mädchen mit Kuhmaske verließ das Schlachtfeld. Sie ließ ihren Dolch auf den Boden fallen und blickte hinauf in die Sterne, als würde sie dort die Antworten auf ihre Fragen finden. Sie sah geschlagen und müde aus. Ausgemergelt.

„Sie wusste nicht mehr, warum sie die Schlacht führte. Sie waren alle gleichstark, es konnte keinen Gewinner geben. Sie wusste, dass es nie ein Ende nehmen würde, aber sie war des Kämpfens überdrüssig. Also beschloss sie, ihre Macht abzugeben. Wenn sie nicht mehr hatte, was die anderen wollten, bestand auch kein Grund mehr, sie anzugreifen. Aber, was sollte sie mit ihrer Macht tun? Sie wollte keinem einen Vorteil verschaffen, sie wollte nur ein Ende dieses aussichtslosen Krieges. Dann erinnerte sie sich an das Werk von Chnum, an das Gestirn Silthrim und fällte ihre Entscheidung.

Hathor nahm einen Edelstein, groß wie ein Schildkrötenei und speiste ihre Macht darin ein. Dann ließ sie ihn auf Silthrim fallen. Sie glaubte, dass keiner der Götter jemals an diesem Ort nach ihrer Macht suchen würde und dass sie damit sicher war. Doch als ihr Stein, ein Charoit in den schönsten Farben des Lichts, den Boden von Silthrim berührte, geschah etwas womit sie nicht gerechnet hatte. Kreaturen sprangen aus dem Stein hervor. Wesen, halb Mensch halb Pferd. Die ersten Zentauren die Silthrim jemals sehen sollte.“

Die Hathor auf der Bühne zog einen Stein aus ihrer Robe und ließ ihn auf den Boden fallen. Die Götter im Hintergrund waren ruhig geworden, kein Ton von ihrem Kampf drang zu uns. Umso lauter war der Knall, mit dem der Stein den Boden begrüßte. Aus der Bühne wuchsen daraufhin Statuen, die den Zentauren nachempfunden waren.

„Die Zentauren dankten Hathor dafür, dass sie ihnen das Leben gegeben hat und schwuren als Dank, ihre Macht auf ewig zu beschützen. Damit war Hathor glücklich. Sie hatte Leben gegeben und ihre Macht war in Sicherheit.“

Die wenigen Lichter im Theatrum erloschen und hüllten uns in Dunkelheit. Von der Bühne waren Geräusche zu hören. Als die Leuchtkristalle dort wieder aufflackerten, zeigte sich uns ein neues Bild. Die Kulisse hatte sich in eine Wand mit Fenster verwandelt. Davor stand ein Thron, in dem Hathor mit einer Schriftrolle verweilte.

„Einige Zeit hatte Hathor Frieden. Ihr Plan gelang. Die anderen Götter hatten kein Interesse mehr an ihr. Doch eines Tages bat Bastet sie um ein Gespräch.“

Bastet, mit der Maske einer schwarzen Katze, tat zu Hathor auf die Bühne. Sie verbeugte sich vor der machtlosen Göttin und kniete sich dann vor sie.

„Bastet hatte eine Bitte an Hathor. Sie wollte nicht mehr kämpfen und wollte erfahren, wie Hathor es geschafft hatte, sich zurückziehen zu können. Hathor, die sich daran erinnerte, dass sie einst Freunde gewesen waren, erzählte ihr von ihrem Weg und Bastet zögerte nicht, es ihr gleich zu tun. Sie nahm einen Edelstein, ein Tigerauge und ließ all ihre Macht dorthinein fließen. Dann ließ sie ihn auf das Gestirn Silthrim fallen.“

Wie zuvor landete auch Bastets Stein auf dem Boden und aus ihm heraus schienen Figuren zu wachsen, Skulpturen von Ailuranthropen, Wesen wie Katzen, die auf zwei Beinen liefen, halb menschlich, halb tierisch.

„Wie schon bei Hathor entsprangen auch der Macht Bastets Kreaturen, sobald diese den magischen Boden von Silthrim berührten. Geschöpfe, die menschlich wirkten und sich in Raubkatzen verwandeln konnten. Sie gab ihnen den Namen Ailuranthropen und bat sie, auf ihre Macht Acht zu geben und es würde ihnen niemals an etwas fehlen.“

Bastet sprach mit den Figuren zu ihren Füßen.

„Die Ailuranthropen waren so dankbar für ihr Leben, dass sie versprachen, ihre ganze Stärke aufzubringen, um diesen Schatz zu schützen.“

 

°°°°°

Kapitel Zwei

Die Leuchtkristalle erloschen im Beifall, der so lange andauerte, bis das Licht langsam wieder zu scheinen begann. Das nächste Bühnenbild zeigte wieder die Sternenkulisse. Der Erzähler berichtete uns, wie die anderen Götter erfuhren, was Hathor und Bastet mit ihrer Macht getan hatten. Sie versuchten, sie zu stehlen, aber sie konnten Silthrim nicht betreten. So entschieden Seth, Gott der Lykanthropen und Sachmet, Göttin der Magier und Hexen auf anderem Wege an die Macht auf Silthrim zu kommen. Sie speisten ihre Kräfte in Edelsteine und ließen auch diese auf den Erdboden fallen.

Sie versprachen ihren Geschöpfen, ihr Leben behalten zu dürfen, wenn sie ihre Macht schützen und die Edelsteine von Hathor und Bastet stehlen und an sie weitergeben würden. Was sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht wussten, dass sie ihre eigene Macht nur zurückbekämen, wenn sie sie berührten, aber da sie Silthrim nicht betreten konnten, war ihre Macht für sie verloren.

Die Völker jedoch taten, wie ihnen geheißen und führten den Kampf ihrer Schöpfer weiter. Weitere Götter wählten den Weg von Hathor, um dem ewigen Krieg ein Ende zu setzten, oder weitere Macht an sich zu bringen. Chnum erschuf das Volk der Elfen. Osiris Macht ließ Sukkubus und Incubus zum Leben erwachen. Horus kreierte die Engel und Amun ließ das Volk der Satyr entstehen. Die Kraft von Anubis entließ Vampire auf Silthrim und Sobek schickte die Bevölkerung der Gorgonen. Maat ließ seinen Stein zu nahe am Meer fallen. So wurde seine Schöpfung die Selkies, Wesen, die sowohl im Wasser, als auch an Land existieren konnten. Ptah ließ die Banshee auf Silthrim los. Thot die weißen Feen und Geb, Nut und Schus Macht ließ die Nymphen sich entwickeln.

Durchs Chepres Macht entstanden die Sirenen. Re erzeugte Harpyien und Bes Kreaturen waren die Echidna und Naga.

Isis, die achtzehnte und letzte Göttin verfolgte die Taten der Ihrigen und den Kampf, der sich nun von der Götterwelt auf  Silthrim verschoben hatte. Sie war traurig darüber, dass sich die neuen Völker an einem Krieg beteiligten, der nicht der ihre war, wusste aber, dass sie ihre Macht nicht behalten konnte, wenn sie nicht anders als die Götter in ihrer Welt sein wollte.

Aber sie wusste auch, dass das Volk, dass aus ihrer Macht entstehen würde, mit in diesen Krieg gezogen würde, egal ob sie Willens waren oder nicht. So entschied sie sich, ihren Stein im Meer zu versenken. Dem Meer, das durch das Land vom Ozean der Selkies abgeschnitten war, dem Meer, das so tief war, das kein Bewohner von Silthrim jemals auf den Grund tauchen konnte. Ihr Stein versank in den Tiefen des Wassers und sobald er den Boden erreicht hatte, entsprangen ihm die Meermenschen, das einzige Volk, das sich nie an dem großen Krieg beteiligt hatte.

Das Stück nahm seinen Lauf und wechselte von der Götterwelt hinunter auf Silthrim. Nun zeigte sich uns ein Bühnenbild eines Waldrandes und die Lehrlinge der Kunst spielten die Geschichte der Armentums und Sermos. Sie zeigten uns die Ailuranthropen im Krieg, erzählten uns von der Geschichte Rolex, eines Luchskriegers, der eines Nachts vor dem Tempel der Bastet von Lykanthropen angegriffen wurde. Er schickte seinen getreuen Hund um die anderen zu warnen, während er versuchte, den Feind aufzuhalten, doch ehe die Krieger im Tempel verstanden, was das zu bedeuten hatte, war es schon zu spät.

Die Lykanthropen stürmten den Tempel und nur durch eine List schafften sie es, das Tigerauge Bastets in Sicherheit zu bringen. Aber die Verluste wiegten schwer.

Die Priesterin des Tempels beschwor Bastet ihr einen Weg zu zeigen, mit dem sie verhindern konnte, dass sich solch ein Unglück wiederholte. Bastet erkannte die Aufrichtigkeit in ihrem Herzen und schickte sie ein Tier ihrer Art zu suchen, einen Puma und ihn zu ihr zu bringen. Sie Priesterin gehorchte und Bastet befahl ihr, das Tier mit ihrer Macht aus dem Tigerauge zu tränken, um es zum Gefährtin der Priesterin, ihrem Geleit zu machen. Der Tiger bekam die Fähigkeit zu sprechen und im Geist zu reden. Der erste Sermo war geboren.

Jahre zogen ins Land, aber der Krieg wollte einfach kein Ende nehmen. Die Lehrlinge der Künste spielten die Geschichte Sandriens, einer Werleopardin, einer Kriegerin, die nicht rechtzeitig zurück in ihr Heimatdorf kam und nur noch die töten Körper ihrer Familie und Amicus fand. Unschuldige in diesem grausamen Kampf. Opfer, die keine Krieger waren und nie eine Aussicht darauf gehabt hatten, ihr Leben vor diesem Angriff zu retten.

Tief getroffen wandte sie sich an ihre Göttin Bastet, bat um Hilfe, auf das so etwas nie wieder passieren konnte. Bastet erkannte ihre Trauer und befahl ihr, ihren Sermo an die Priester zu geben, wo er von der Macht Bastets berührte wurde. Die Macht ließ Sandrines Geleit wachsen, bis er groß wie ein Pferd war. Nun war er ihr Armentum, ein Sermo, der sich in ihr Reittier verwandeln konnte, das schnell wie der Wind laufen konnte, auf das Sandrien nie wieder zu spät an ein Ziel kommen möge.

 

°°°

 

Die Vorhänge schlossen sich unter enthusiastischem Beifall. Ein paar erhoben sich und gaben ihrer Ovation Namen. Anima schrie mir quer über den Tisch ins Ohr und zeigte ein für ihren Stand sehr ungebührliches Verhalten. Mochica versuchte, sich vor dem Lärm unter Jarons Lendenschurz zu verstecken, was ihr nicht sonderlich gut gelingen wollte. Da war einfach zu wenig Stoff. 

Die Lehrlinge der Kunst traten vor den Vorhang, verbeugten sich und erfreuten sich an der Euphorie. Noch während des Tumults trat Priesterin Tia zurück auf die Bühne und bedeutete uns, ruhig zu werden. Es entzog sich meines Wissens, wie die Frau das machte, aber nur ein Blick reichte und wir folgten blind. Das hieß, schlagartig konnte man in Theatrum Grillen husten hören.

„Die Darstellung des heutigen Spiel war großartig“, begann sie, „und so möchte ich als erstes den Lehrlingen der Kunst für ihre authentische Darstellung vergelten. Natürlich war auch das Publikum großartig, auch wenn die Kleinsten unter uns nicht dazu geneigt waren, der Darbietung zu folgen.“ Mit einem belustigten Funke im Auge, bedachte sie einen kleinen Luchs, der es sich in der letzten halben Stunde zur Aufgabe gemacht hatte, seinen Kriegerlehrling quer über die Ebenen zu scheuchen, weil er keine Lust mehr hatte, still zu sitzen.

Besagter Lehrling lief in einem leuchtenden Rot an, was uns alle zum Lachen brachte.

„Aber davon abgesehen, habe ich die letzten beiden Stunden aufs Tiefste genossen und glaube mit meinem Urteil recht zu behalten, wenn ich behaupte, dass es einem jedem hier auch so ging. Nur eins dürfen wir nie vergessen.“ Ihr Blick glitt mahnend durch unsere Reihen. „Der große Krieg zwischen den Völkern hat vor langer Zeit ein Ende gefunden und auch wenn Frieden herrscht, so ist dieser tückisch. Nicht alle sind uns wohl gesonnen und so manch einer strebt noch immer die Mächte der anderen Völker an. Wir müssen weiterhin wachsam bleiben. Das geht hauptsächlich an die Lehrlinge der Krieger. Ihr habt diesen Weg gewählt, weil er euch ruhmreich erscheint, aber seit wohl gewarnt, mit dieser Stellung wird euch auch sehr viel Verantwortung in die Hand gegeben. Ihr habt eine Pflicht uns gegenüber zu erfüllen und wenn ihr euch bewährt, dann werden vielleicht auch eure Namen eines Tages wie die von Sandrien und Rolex in unsere Geschichte eingehen. Doch nun will ich euch nicht weiter aufhalten. Die Sonne steht schon tief am Äther und wir alle schmachten nach den Köstlichkeiten, die die Küche für diesen heiligen Tag vorbereitet hat. Bevor ich zu Tisch bitte, möchte ich euch noch an den Lauf erinnern. Wer daran teilnehmen möchte, findet sich nach dem Essen auf der kleinen Weide hinter dem Tempel ein. Unser Weg wird uns durch den Wald führen und mit einem Lichtwerk am Ziel belohnt. Und nun lasst uns Bastet vergelten, für den heutigen Tag und jeden der da noch kommen möge.“

Priesterin Tia legte sich beide Hände übers Herz, genau dort, wo das Zeichen der Bastet prangte. In einer Einheit, wie wir es seit unserer Geburt kannten, folgten wir ihrem Gebaren. „Ich glaube an die Sonne, auch wenn der Mond am Himmel steht“, sprach sie mit einer Stimme, die uns bis tief ins Herz zu strahlen schien. „Ich glaube an die Liebe, auch wenn sie mir nie begegnet ist. Und ich glaube an Bastet, auch wenn ihre Stimme schweigt.“ Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte auf zu dem Antlitz unserer Göttin, die wohlwollend von der Decke auf uns heruntersah. „Vergelts Bastet, unserer Schöpferin und Mina“, schloss sie das Gebet.

„Vergelts Bastet, unsere Schöpferin und Mina“, wiederholten wir im Chor. 

„Und nun wünsche ich euch ohne weitere Verzögerung einen guten Appetit.“

Es schien so, als hätten die Beschäftigten der Küche draußen gelauert, den kaum hatte Priesterin Tia zu Ende gesprochen, öffneten sich die Türen und Träger mit Tabletts voller Speisen strömten in das Theatrum. Sie verteilten sich auf den Ebenen und servierten Teller, voller Köstlichkeiten. Lammfleisch in Teigtaschen, gefüllte Pilze, gezuckerte Früchte und Käse. Wein, Wasser und Säfte. Und noch vieles Mehr.

Die Sermos bekamen natürlich rohes Fleisch. Rehkeule, Filets vom Schwein und Rindfleisch. Und die Kleinsten, so wie Mochica, bekamen Fleischbrei angerichtet. Heute, am Tag der Schöpfung, aßen wir alle wie die Götter höchst selbst.

Anima nahm mit ihren gebogenen Essstäbchen ein Lachsstück mit Kräutern und fütterte damit Gillette, als gäbe es außer den beiden niemanden auf der Welt.

Während ich mir einen gefüllten Pilz einverleibte, sah ich dabei zu, wie Mochica versuchte, ihre Schale mit Haut und Haar zu säubern. Auch Eno entging dieser Anblick nicht. „Das ist ja abscheulich. Du siehst aus, als hättest du in deinem Essen gebadet.“

„Ach, zur Sachmet!“ Eilig ließ Jaron seine Stäbchen auf den Tisch fallen und hob die Kleine aus ihrer Schüssel. Ein paar Fleischbrocken fielen ihm auf die Beine, aber da er beide Hände voll hatte, konnte er sie nicht wegwischen.

Sian gluckste leise, verstummte aber sofort, als er sich ertappt fühlte und leerte schweigend seinen Napf.

„Sei nicht so unverschämt“, tadelte Anima ihre Sermo.

„Ja genau“, fügte Kaio, ihr Brestern, mit einem Fleischrest zwischen den Zähnen, spöttisch hinzu. „Du isst heute noch so.“

Kopfschüttelnd half ich Jaron die Kleine zu säubern. „Hört auf so boshaft zueinander zu sein. Das ist sicher nicht das, was Bastet an diesem Tag im Sinn hatte.“

Wenigstens hatten die beiden Sermos so viel Anstand, beschämt zu wirken. Wenn auch nur leicht.

Der Rest des Essens verlief ereignislos. Anima und Gillette verschwanden ziemlich schnell. Angeblich um ihre Armentums zu satteln, aber da bis zum Lauf noch viel Zeit war, glaubte ich, dass die zwei einfach noch ein bisschen Zeit für sich haben wollten. Besonders, da ich noch ihre Überlegung mitbekam, wie sie ihre Sermos eine Zeitlang abhängen konnten. Doch die brauchten sie ja, wen sollten sie denn sonst satteln?

Jaron und ich aßen noch in Ruhe auf und machten uns dann auf den Weg nach draußen. Da sich unsere beiden Sermos noch nicht in Armentums wandeln konnten und somit der Lauf für uns ausgeschlossen war, suchten wir uns einen Platz auf dem Hügel neben dem Tempel, der oft von den Lehrlingen zum Reden genutzt wurde. Von dort würden wir auch zu gegebener Zeit das Lichtwerk bewundern können, Lichter, die wie strahlende Glühwürmchen über dem Himmel aufleuchten würden und in den schönsten Farben explodierten. Ich freute mich auf das Lichtwerk.

Mochica war in der Zwischenzeit eingeschlafen und ruhte nun in ihrem Babybeutel, den Jaron sich auf den Rücken geschnallt hatte. So ein Sermos machte viel Arbeit, besonders wenn sie noch so klein waren.

Da hatte ich schon mehr Glück. Sian war alt genug, um allein zu laufen, aber auch er kuschelte sich an mich, sobald ich mich im Gras niedergelassen hatte und schloss die Augen. Armer Kleiner. Das war ein anstrengender Tag für ihn gewesen.

Auf der kleinen Weide vor den Stallungen hatten sich schon ein paar Ailuranthropen eingefunden. Bei dem Anblick, wie sie auf ihren Armentums aufsaßen, oder sie führten, überkam mich die Sehnsucht, auch an dem Lauf teilzunehmen. Doch leider war Sian dafür noch zu klein. Keine Aussicht darauf, heute mitzumachen.

„Du könntest vielleicht mit Nim, oder Gillette reiten“, überlegte Jaron laut, als er meine sehnsüchtigen Blicke bemerkte.

„Eno und Kaio sind noch nicht mal ausgewachsen. Es wäre für sie zu anstrengen über diese lange Zeit mehr als ihre Leiter zu tragen. Da werde ich wohl kaum Platz auf ihnen finden.“ Davon mal abgesehen, bezweifelte ich, dass die beiden in ihrer Zweisamkeit Gesellschaft haben wollten.

„Da hast du wohl Recht. Schade, dasMochica noch nicht so weit ist. Zu zweit auf einem Armentum zu sitzen hat auch seine Vorteile.“

Ich ignorierte seine Anzüglichkeit und lehnte mich an den Baum zurück. Ich liebte diesen Platz hier oben. Lauschte den Geräuschen der Nacht, roch die Gerüche des Tempels. Alles war so vertraut, so friedlich. Und trotzdem vermisste ich an diesem Tag meine Familie, mein Dorf. Doch ich hatte mich bereits in meiner jüngsten Kindheit für dieses Leben entschieden und würde mich nun nicht beklagen.

Geistesverloren kraulte ich Sian hinter den Ohren, so dass er sofort anfing, sein wohliges Lied zu schnurren. Ein Geräusch, das ich so beruhigend fand, wie die Zeit mit meiner Mina, als sich mich als Kleinkind abends im Arm gewiegt hatte und solange schnurrte, bis ich für die Nacht in die Welt der Götter sank. „Ja, das gefällt dir, was, mein Hübscher?“

Die grauen Katzenaugen schlossen sich halb. Sian war einer der schönsten Sermos die mir je zu Gesicht gekommen waren. Das hatte nichts mit Eitelkeit zu tun, weil er zu mir gehörte. Ja, ich fand ihn besonders schön, schon allein, weil er ein Schneeleopard war. Die silberschwarzen Rosetten auf dem weißen Unterfell, schimmerten im Lampenschein. Die schwarz umrandeten Augen gaben ihm etwas Geheimnisvolles und der lange Schwanz verlieh ihm etwas Anmutiges. Aber selbst unter Schneeleoparden hatte er etwas Einmaliges. Das machte seine Ausstrahlung.

Sian umgab eine Aura der Eleganz, die er durch seine geschmeidige Bewegung noch unterstützte. Für mich jedenfalls war er die schönste Raubkatze, die es gab. Auch wenn er manchmal noch ein wenig tollpatschig war und im Geist ziemlich unsicher. Das würde sich legen, sobald er älter wurde und mehr Selbstvertrauen fasste.

Sian lehnte sich gegen mich. Ich kraulte ihn am Hals entlang, zu dem Lederhalsband. Ich sah mich schon auf seinem Rücken, wie wir die Wälder durchstreiften. Wir würden für Frieden unter den Völkern sorgen und einen angesehen Status unter den Kriegern der Ailuranthropen einnehmen. Wir würden unsere Feinde das Fürchten lehren und selbst der Tod würde uns nicht auslöschen, da unsere Namen in den Schriften der Ailuranthropen erhalten blieben. Ja, wir würden …

„So still?“

Ich zuckte vor Schreck zusammen. Ich war so in meinen Traum vertieft gewesen, dass ich Jaron ganz vergessen hatte. Auch Sian hatte sich erschrocken. Sein Schnurren war erstorben und seine Schwanzspitze zuckte aufgebracht.

„Götter Tod! Musst du mich so erschrecken?“

„Götter Tod? Dein Fluchen zeigt heute mal wieder höchstes Potenzial.“ 

„Höst Tenial“, piepste es aus Jarons Babybeutel. Mochica war wach.

Ich funkelte ihn an. „Mein Herz wollte meiner Brust entfliehen, so sehr hast du mich entsetzt.“

„Keine Sorge“, lächelte Jaron, „ich hätte es aufgefangen und gut bewahrt.“

„Auffang und wahrt“, wiederholte ein kleines Stimmchen.

Was sollte ich dazu groß von mir geben? Ich hatte ihm doch deutlich gemacht, dass wir nur Amicus waren, aber in der letzten Zeit hatte ich immer mehr das Gefühl, dass ich nicht nur gegen Animas zweifelhafte Paarungsversuche ankämpfte, sondern dass er ernstes Interesse an mir entdeckt hatte. Andererseits konnte ich mich da auch täuschen und es war nur eins von Jaron Spielchen. Dieser junge Mann war so undurchschaubar, dass ich nie genau wusste, woran ich war. Und das fand ich ärgerlich.

„Vergelts, aber ich bewahre mein Herz doch lieber da wo es ist.“

Er neigte lächelnd den Kopf. „Ganz wie du wünschst.“

„Wie wünsch“, wiederholte Mochica.

Das brachte mich zum Schmunzeln. „Was hast du denn mit Mochica gemacht? Ich glaubte immer, sie ist ein Leopard und kein Papagei.“

„Kein Paei!“, wiederholte Mochica entrüstet und steckte den Kopf aus ihrem Beutel. „Ich Pard, großer, fährlicher Pard!“

So ernst, wie sie es sagte, fiel es mir schwer nicht zu lachen. „Natürlich. Du bist ein ganz großer Leopard. Der größte, den ich kenne.“

„Nein.“ Ihr Kopf flog von links nach rechts. „Sian viel Großa.“

Sian blinzelte sie an, als er seinen Namen hörte, nur um gleich wieder die Augen zu schließen.

Es war schon erstaunlich. Einfache Worte wie Puma oder Hunger, konnte die Kleine noch nicht aussprechen, aber ein schweres wie Sian, ging ihr leicht von der Zunge.

Ich sah den Hügel hinunter und beobachtete sehnsüchtig die Reiter, die sich langsam am Rand des Waldes für den Lauf zusammen fanden. Mit den Halsbändern und Satteln. Ich wollte das auch.

Die Ausrüstung eines Armentum unterschied sich leicht von der eines Pferdes, wie andere Völker sie nutzen. Es gab auch hier ein Zaumzeug, mit dem der Reiter führen konnte, nur wurden keine Trensen oder ähnliches benutzt. Auch der Sattel war etwas anders. Es gab keine Steigbügel. Links und rechts am Sattel befanden sich metallene Schienen, die mit Leder bezogen waren, in den der Reiter seine Knie legte. Das Ende der Schienen hatte eine kleine Absenkung für die Füße und der Sattel wurde nicht nur vom Bauchgurt gehalten, er war auch mit einem Brustband verbunden. Im Gegensatz zu den Armentums der Lykanthropen, bewegten unsere sich nämlich nicht nur auf dem Boden. Manchmal ging es auch hoch hinauf in die Bäume und damit der Reiter nicht samt Sattel stürzte, brauchten wir diese Sicherheitsmaßnahmen.

„Kommst du noch mit auf die kleine Weide“, fragte Jaron, „oder soll ich ohne dich gehen?“

„Ich komme mit, ich will doch den Start des Laufes nicht verpassen.“ Ich strich Sian noch einmal über den Kopf. „Komm, das willst du bestimmt auch sehen.“

„Ich würde viel lieber mitlaufen“, sagte er ganz ernst.

Ja, ich auch. „Beim nächsten Mal. Dann werden wir ganz vorn mit dabei sein und als erste durch das Ziel gehen, das verspreche ich dir.“

Darüber musste er erst einen Moment im Geist reden, bevor er nickte. „Beim nächsten Lauf.“

„Und auch noch ganz oft danach.“ Ich stand auf und folgte Jaron den Hügel hinunter. Inzwischen war es noch voller geworden. Überall standen berittene Armentum herum und wurden von ihren durch die Menge gelenkt. Sie liefen in kleinen Gruppen umher, oder hatten es sich einfach auf dem weichen Gras gemütlich gemacht und warteten aufgeregt auf den Start. Die erwartungsvolle Energie in der Luft war geradezu mit Händen zu greifen. Ich sah mich um, suchte nach zwei ganz bestimmten Ailuranthropen in der Meute. „Meinst du, Anima und Gillette sind schon hier?“

„Ist dir meine Gesellschaft nicht genug?“

„Nein“, antwortete ich ganz ehrlich und bahnte mir einen Weg zwischen den Wartenden. Es dauerte eine Weile, aber dann machten wir die Gesuchten am Rand der Weide aus. Ohne Armentums. Eng umschlungen.

„Iii!“, kam es lautstark von Mochica. „Die kussen.“

„Das heißt küssen“, verbesserte ich sie und genoss es, wie Gillette eilig zurück trat, als er uns hörte. „Die küssen sich.“

Wäre seine Hautfarbe nicht so gebräunt, würde ich jetzt wahrscheinlich eine Verwandtschaft zu einer Tomate feststellen können. Zum Glück hatte die Kleine nur die Liebkosung bemerkt und nicht Gillettes Hand, die verdächtig unter Animas Tunika gerutscht war. Ich jedoch war aufmerksamer, als ein Baby.

„Wolltet ihr nicht Eno und Kaio satteln?“, fragte ich völlig unschuldig.

„Die sind schon gesattelt.“ Anima machte die Situation nicht so verlegen wie ihr Herz. „Sie laufen noch ein bisschen.“

Damit meinte sie, dass die beiden Armentums sich im Wald vergnügten. Normalerweise waren Leoparden Einzelgänger, außer in der Paarung, aber die Magie von Bastet veränderte sie. Genau wie jeden anderen Armentum oder Sermo. Es war nicht selten, dass sich zwischen den Kriegern und ihrem Geleit Verbindungen auftaten, die einem Rudelinstinkt glichen. Und da Anima und Gillette so innig miteinander waren, war es nur verständlich, dass die beiden Armentums eine Art von Amicus waren. Davon mal abgesehen, dass es sich bei den beiden um Brestern handelte.

Jaron sah zum Waldrand. „Aber ihr solltet sie langsam zurückrufen, der Lauf …“

„Bitte findet euch alle bei mir ein“, ertönte die Stimme von der Wertigerin Damonda, die neben unserer Priesterin Tia am Waldrand auf ihrem Armentum thronte.

„… fängt gleich ein“, beendete er noch seinen Satz und ließ spielend seine Grübchen sehen. „Genau das hatte ich gemeint.“

„Hata meint“, fügte Mochica noch hilfreich hinzu.

Magister Damonda führt den Lauf? Irgendwo war ich vielleicht doch ein bissen froh, dass Sian noch zu klein war mit zu laufen. Mit ihr verbrachte ich nicht gerne meine Zeit. Nicht mal für so etwas wie einen Ritt auf Sian.

Noch immer mit leicht geröteten Wangen und einen Lächeln im Gesicht, stieß Anima eine Folge von Pfiffen aus, um Eno zu sich zu rufen. Gillette tat es ihr gleich und kurz darauf kamen die beiden Armentums aus dem Wald zu uns gelaufen. Gesattelt und fertig zum Aufsitzen. Sie hatten sich verwandelt, waren nun groß wie Pferde und doppelt so schnell.

Sobald Kaio in Griffweite war, packte Gillette sein Sattelknauf und schwang sich geübt auf ihn rauf. Seine Ausrüstung war der der anderen ganz ähnlich. Nur Farbe und Verzierungen waren anders. Eine unserer Aufgaben war es das erste Zaumzeug und den ersten Sattel allein herzustellen. Hatte irgendwas damit zu tun, dass wir damit den Wert kennen lernten, die diese Dinge mit sich brachten. Daher war jeder anderes, ganz individuell, wie es einem gefiel.

Gillettes Sattel war schwarz. Damit machte er sich bei Nacht völlig unsichtbar. Alles an dem Sattel war schwarz wie Kaio, wie der Panther, der er war. Nur auf dem Brustgurt gab es ein kleines, weißes Gebilde, das unsere Göttin darstellte.

Ganz anders hatte Anima ihres gestaltet. Weiß mit Gold, ihre Lieblingsfarben. Halsband und Zaumzeug waren mit Perlen gespickt und Bastets Kopf prangte auf beiden Seiten ihres Sattels. Natürlich mit Goldfäden. Ich selber wusste noch nicht genau, wie ich meinen Gestalten wollte. Ich hatte etwas Neues, Einmaliges im Kopf, wusste aber noch nicht, ob sich das realisieren ließ. Aber ich würde …

„Lauf jetzt?“, piepte Mochicas Stimmchen und holte mich damit einmal mehr in die Gegenwart.

„Gleich.“

Anima saß in der Zwischenzeit auch im Sattel, ritt langsam an um sich der Menge anzuschließen.

„Wir jetzt Lauf, wir jetzt Lauf!“, freute Mochica sich. Sie war so aufgeregt auf ihren ersten Lauf, dass der Beutel auf Jaron Rücken auf und ab hüpfte.

„Du musst still sitzen, damit du nicht raus fällst.“

Auf und ab, auf und ab. „Wir jetzt Lauf …“

„Sonst bring ich dich in die Hütte“, drohte er.

Mochica hörte Jaron gar nicht. „… wir jetzt Lauf, wir jetzt Lauf.“

Ja, ein Baby zu haben, konnte sehr anstrengen sein, erst recht, wenn es den Namen Mochicatrug.

Langsam kehrte Ruhe ein, abgesehen von der kleinen Leopardin, die sich freute wie ein Fisch im Wasser.

Am Rand des Waldes saß Magister Damonda auf ihrem Armentum. Neben ihr, auf der wunderschönen Schneeleopardin Yumakita, saß die Priesterin Tia. Vielleicht war sie keine Kriegerin, aber mit ihrer Ausstrahlung konnte sie mithalten.

„Ich wurde gebeten den heutigen Lauf anzuführen …“, sagte Damonda.

„Wer kam nur auf die glorreiche Idee?“, fragte Jaron leise neben mir und ich musste lächeln. Da konnte ich ihm nur zustimmen.

„… und damit es keine Schwierigkeiten gibt, werde ich ein paar Regeln aufstellen.“

„Ihre Lieblingsbeschäftigung.“ Wieder von Jaron.

„Ich möchte kein Gerangel oder Versteckspielchen. Es soll ein ordentlicher Lauf werden. Wir werden durch den Wald bis zum Fluss reiten und dann in einem Bogen an unseren Ausgangpunkt zurück. Bei unserer Ankunft …“

Ein Schrei hallte aus dem Wald und unterbrach Damondas weiteren Ausführungen. Sie wirbelte herum und spähte in die Dunkelheit. „Was in Bastets Namen …“

Auch alle anderen wandten ihre Aufmerksamkeit zum Waldrand. Zwischen den Bäumen kam ein Luchs herausgesprungen. Das Fell an der Flanke war verbrannt und der linke Vorderlauf schien verletzt zu sein. Sofort war Priesterin Tia neben dem Sermo, redete heftig auf ihn ein, aber die beiden sprachen so leise, dass niemand ein Wort verstand – nicht mal wir, mit unserem guten Gehör. Auch Magister Damonda stieg ab und ihr sonst so ernster Ausdruck, verwandelte sich in Sorge.

Eno streckte den Kopf, um besser sehen zu können. „Da ist was passiert.“

„Ja, aber was nur?“, fragte Anima, ohne die Augen vom Waldrand zu nehmen.

Auch die restlichen Lehrlinge und Krieger die am Lauf teilnehmen wollten, wurden unruhig.

„Ich kann es dir nicht sagen.“ Auch wenn ich das gerne tun würde. Was war da nur los? „Aber es muss was ernstes sein. Schau dir nur den Sermo an.“

Der Luchs schien sich nicht mehr auf den Beinen halten zu können. Er knickte einfach ein und landete nur nicht im Dreck, weil die Priesterin ihn auffing. Besorgt strich sie ihm über den Kopf und redete beruhigend auf ihn ein.

„Wann Lauf?“

„Gleich“, antwortete Jaron, ohne wirklich auf Mochicazu achten.

„Will Lauf!“, quengelte sie, wurde aber von niemand beachtet.

Damonda nickte der Priesterin zu und wandte sich dann an uns. Der Ausdruck in ihrem Gesicht war noch ernster als sonst und ich begann mir langsam ernstlich Sorgen zu machen.

„Lehrlinge in den Tempel. Krieger ruft die anderen zusammen, Sachmets Volk kommt.“

Wie um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, schoss in dem Moment ein blauer Blitz aus dem Wald und schlug mit einem lauten Knall in die Stallungen ein.

 

°°°°°

Kapitel Drei

Kalksteinbrocken flogen durch die Luft. Ich hörte die Ailuranthropen schreien, Armentums brüllen und Sermos riefen wild durcheinander. Ein Gesteinsbrocken flog über mich hinweg. Weitere Blitze brachen aus dem Wald hervor und schlugen in die umliegenden Gebäude ein. Ein Grollen lag in der Luft. Lichter erhellten die Nacht und verdeckten das Leuchten der Sterne.

Weitere Blitze flogen. Ein Mädchen neben mir wurde getroffen und fiel leblos von ihrem Armentum.

Schreie und Rufe.

Panik.

Mochicaweinte.

Um mich herum brach das Chaos aus.

„Wir müssen in den Tempel!“, brüllte Jaron über den Lärm hinweg.

Ich wurde abgedrängt. Anima und Gillette hatte ich schon längst aus den Augen verloren. Mein einziger Halt war Sian, der jeden gefährlich anfauchte, der es wagte, mir zu nahe zu kommen. Aber hier waren einfach zu viele. Die Lehrlinge versuchten den Tempel zu erreichen, die Krieger strömten genau in die entgegengesetzte Richtung. Wir behinderten uns gegenseitig, konnten aber nichts dagegen tun.

Rufe nach dem Portal wurden laut. Und dann sah ich die ersten Magier und Hexen auf Einhörnern am Waldrand auftauchen. Unverwechselbar mit ihren Malen auf Armen und Gesicht. Magische Runen, die ihnen Stärke und Kraft geben sollten.

Macht, das war es, worauf sie aus waren. Schon immer. Auch heute.

Bei dem Anblick und dem Willen, dass was mir lieb und teuer war zu verteidigen, begann meine Verwandlung. Ich war kein verängstigtes kleines Mädchen, ich war eine Kriegerin und das hier war mein Kampf. Ich spürte die Veränderung, das Kribbeln meiner Haut, als mein weißes Fell mit den schwarzen Rosetten wuchs, wie meine Ohren sich verschoben und mein Gesicht sich wandelte, bis es das einer Raubkatze war. Das vertraute Ziehen an meiner Wirbelsäule, als sie sich zu einem Schwanz verlängerte und auch wie mein Körper sich streckte, als sich mein Gewicht auf meine Fußballen verlagerte. Meine Zehen und Hände wurden zu Pfoten mit scharfen Krallen, meine Zähne wurden spitz und dann war ich fertig. Ein gefährliches Geschöpf für alle meine Feinde.

Es hatte nur wenige Sekunden gedauert, dann war ich zu einem Mischwesen geworden. Halb Mensch, halb Schneeleopard. Die perfekte Verschmelzung zweier Gattungen, eine einzigartige Fusion. Ich lief auf zwei Beinen und besaß die Sinne einer Raubkatze.

Und nicht nur ich, auch viele der andere hatten sich ihrem zweiten Wesen hingegeben. Werwesen, wohin ich auch schaute, aber ich hatte jetzt auch Jaron aus den Augen verloren.

Irgendwo weinte ein Baby, ein Mädchen schrie und vor meinen Augen tat sich das Grauenvollste auf, was ich in meinem bisherigen Leben gesehen hatte. Ein toter Armentum. Ein Tiger. Er war nicht nur tot, er war auch … er war … er war nicht mehr vollständig. Und das Schlimmste war, dass ich wusste, wer es war. Nicht an ihm erkannte ich das, sondern an dem Ailuranthrop, der schützend über ihm kauerte, das Fell voller Blut, bereit, den toten Leib zu verteidigen.

Ein vorbeirennender Krieger schrie mir etwas zu, aber ich verstand ihn nicht. Es war als würde er eine andere Sprache sprechen.

Ich sah die Magier und Ailuranthropen wie sie aufeinander zustürmten. Die Blitze, die Krallen und Zähne. Blut. Und über all das hörte ich die Schreie. Das war das Schlimmste daran. Diese Schreie, die von Schmerz und Leid zeugten.

Ich war wie versteinert, konnte nicht wegsehen, mich nicht bewegen, oder irgendetwas tun. Ich stand einfach nur da, unfähig mich zu bewegen. Immer wieder wurde ich angerempelt und hin und her gestoßen. Mein einziger Anker in diesem Chaos war Sian, der sich eng an mich drängte, um in der Menge nicht verloren zu gehen. 

Jemand packte mich an der Schulter. Eine Kriegerin, Magister Jelana, eine Werleopardin. Auch sie hatte sich gewandelt. Ich sah wie sich ihre Lippen bewegten, aber ihre Worte drangen nicht zu mir durch. Ich hatte ein Schock, wurde mir klar. Ich war hier anwesend, aber doch ganz woanders.

Da spürte ich den Schmerz in meiner Schulter, als sich ihre Krallen in mein Fleisch bohrten, um mich aus meiner Erstarrung zu lösen und mein Gehirn begann wieder zu funktionieren.

„… du endlich, oder muss ich dich hinter mir her schleifen?!“, schrie Jelana mir ins Gesicht.

Ein Ruck ging durch mich durch. „Nein, ich … alles ist gut.“

„Dann sieh zu, dass du hier endlich weg kommst!“ Sie ließ mich stehen und rannte mit ihrem Sermo an der Seite auf den nächsten Magier zu, den sie erreichen konnte.

Das tat ich dann auch. Ohne noch einen letzten Blick zurück zu werfen, ohne auf den toten Armentum  zu achten und auch ohne mich um die Verletzten zu kümmern. Ich musste hier weg, musste in den Tempel, musste zu meinen Amicus, um mich zu versichern, dass mit ihnen alles in Ordnung war. Anima, Gillette, Jaron, das waren die Reden im Geist, die mich antrieben, das Einzige was zählte. Kurzerhand nahm ich Sian auf den Arm. Eigentlich war der schon zu alt und zu groß dafür, aber ich hatte Angst ihn sonst in der Menge zu verlieren.

Meine Schulter sandte bei jedem Schritt Schmerz durch meinen Körper und ich schwor mir, dass ich das beim nächsten Training mit Magister Jelana begleichen würde. Schon seltsam was der Geist einem in einem solchen Moment für Reden schickte.

Ich lief zwischen den anderen hindurch, sprang über Hindernisse, oder umlief sie einfach. Als ich an einer Hüttenwand vorbei rannte, schlug ein Blitz direkt über meinem Kopf ein. Ich duckte mich, blieb aber nicht stehen. Geröll und kleine Gesteinsbrocken trafen mich, doch nichts konnte mich aufhalten. Sian fauchte, wollte mutig sein, aber ich spürte seine Angst als wäre es meine eigene. Er zitterte in meinen Armen und hatte die Augen weit aufgerissen. Ein Kind, er war nur ein Kind.

Vor mir war ein Baum umgekippt. Eine Eiche, die so hoch wuchs, als wollte sie die Sterne berühren. Nun nicht mehr, nun hatten Sachmets Kinder sie entwurzelt. Ich übersprang sie ohne weiter darauf zu achten. All dieses Leid, ich konnte, durfte mich jetzt nicht darum kümmern. Ein Armentum überholte mich. Sermos und Ailuranthropen. Wir alle hatten das gleiche Ziel: den Tempel auf dem Hügel, das sicherste Gebäude auf dem ganzen Gelände.

Immer wieder hörte ich Schreie. Blitze zuckten im mich herum. Ein Blick über die Schulter zeigte mir, dass mein Gehör mir keinen Streich spielte. Die Magier hatten den Wald verlassen und befanden sich nun auch auf direktem Weg zum Tempel. Sie wollten den Stein, wollten Bastets Macht und würden sich nicht so leicht abwehren lassen. Blitze schossen durch die Luft, ein Lichtball. Krallen und Zähne. Blut. Noch konnten unsere Krieger sie aufhalten, aber die Magier und Hexen waren in so großer Zahl erschienen, dass ich bezweifelte, dass es lange sein würde.

Wir brauchten Verstärkung, nur damit würden wir noch gerettet werden.

Häuser und Beete. Pflanzen, Bäume und Wege. Das alles flog nur so an mir vorbei. Der Staub in der Luft verdunkelten die Sterne am Himmel und dann endlich tauchte es in der Nacht vor mit auf. Unser Tempel, eine Pyramide aus weißem Marmor, in dessen Herz der größte Schatz lag, den unser Volk besaß. Bastets Tigerauge, ihre göttliche Macht.

Ich übersprang die Stufen, schenkte den Säulen zu beiden Seiten keiner Beachtung, drängte mich mit den Anderen hinein.

Hier wurde weniger geschrien, dafür aber mehr geweint. Und die Blicke waren die gleichen wie draußen. Unwissend, panisch, hilflos. Vielen von uns waren noch so jung und nur die wenigsten würden eines Tages Krieger sein. Sie waren nicht für den Kampf geschaffen, waren Schreiber, Künstler und Tänzer.

Auf meinem Weg durch die Gänge sah ich viele vertraute Gesichter. Geschunden, verletzt, gequält. So viel Unheil, in so kurzer Zeit.

Ich sah Inder, mit ihrem Sermo, ein Luchs. Sie weinte. Ich sah so viele. Rem, Gieel, Stellet, Carbon, Dorimia, Canyo und sogar Mikain, aber die, die ich suchte, fand ich nicht. Meine Beine trugen mich eilig weiter. Ich musste sie finden, meine Amicus. Sie mussten hier irgendwo sein, mussten einfach, denn alles andere, konnte ich nicht akzeptieren. Wenn sie noch da draußen waren … mein Geist weigerte sich diese Vorstellung zu akzeptieren.

Sie waren hier irgendwo, das wusste ich. Es konnte gar nicht anders sein. Ich musste nur weiter ins Innere der Pyramide vordrimgen, dann würde ich sie schon finden. Aber das war gar nicht so einfach.

Der Tempel war riesig. Gänge, Zimmer an Zimmer, Säle. So viel Platz. Wandgemälde, die in den Marmor getrieben waren, zeugten von unserer Geschichte. Wie Bastet uns schuf, von Sandrien und Rolex. Von Krieg und Helden unseres Volkes. Und von Jenen, die uns den verlogenen Frieden gebracht hatten. Gewiss, viele Völker hatten dem Krieg abgeschworen. Wir hatten Verbündete und handelten miteinander, aber es gab auch immer noch Völker wie die Magier und Hexen, die den Frieden einfach nicht akzeptieren wollten. Und diese Szenerie wurde von Lichtkristallen beleuchtet, die in eisernen Halterungen in der Wand steckten.

Es waren so viele Seelen anwesend, dass mein Weg mich nur langsam voranbrachte. Immer wieder stoppten wir. Von draußen war durch die dicken Wände nichts zu hören, aber diese Stille war täuschend, die angespannte Ruhe, die von leisem Weinen begleitet wurde, zollte davon. Alle warteten nur darauf, was als nächstes geschehen würde.

Sian drückte ich fest an meine Brust. Ich glaubte er war der Einzige der dafür sorgte, dass mich nicht die Panik übermannte. Eine tolle Kriegerin gab ich ab. Wenn der Feind in Sicht kam erstarrte ich zu Fels und anschließend rannte ich wie ein verängstigtes Kaninchen zurück in meinen Bau. Das war …

„Lilith!“

Diese Stimme kannte ich so gut wie meine eigene. Es war Gillette. Dahinten, da war er. Oh, vergelts Göttin, vergelts. Auf Kaio bahnte er sich einen Weg durch die Menge, schwamm gegen den Strom, wie die Lachse zur Laichzeit. Bei seinem Anblick fiel mir ein Stein vom Herzen, der so groß wie ganz Ailuran war. Er war außer Gefahr.

„Lilith. Bastet sei es vergolten, du bist in Sicherheit.“ Er kam neben mir zum Stehen. „Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Anima ist …“

„Nim ist hier?“ Ein weiterer Stein fiel. „Ich habe euch aus den Augen verloren. Da war zu viel Gedränge und dann ward ihr weg und dann ist auch noch Jaron verschwunden und ich wusste nicht, was ich machen sollte und …“

„Komm her.“ Er reichte mir seinen Arm. Ich packte ihn und ließ mich von ihm auf Kaio ziehen, Sian weiter in meinem Arm.

In dem Gedränge war es zwar schwierig, aber Gillette schaffte es zu wenden und zurück in die Richtung zu reiten, aus der er gekommen war. Keiner stellte sich ihm in den Weg, jeder machte für ihn Platz und das nur weil er nicht nur Animas Herz besaß, sondern auch ihr Beschützer war. Einer von ihnen. Anima brauchte solche Krieger, denn sie war weit mehr als nur ein Lehrling der Kämpfer. Sie war etwas ganz Besonderes. Die Kriegerschule gehörte bei ihr nur zur Grundausbildung. In ihr steckte so viel mehr. Sie war das größte Geheimnis, das unser Volk hütete.

„Sobald ich den ersten Blitz sah, habe ich Anima sofort in den Tempel gebracht. Sie ist jetzt bei Priesterin Tia und hilft ihr bei dem Portal. Jaron hab ich auch im Tigersaal gesehen, aber keiner der beiden will gehen, bevor sie dich nicht sicher bei ihnen wissen. Deswegen bin ich dich suchen gekommen.“

„Sonst wärst du das nicht?“ Irgendwie schmerzte die Vorstellung, dass er mich einfach zurückgelassen hätte.

„Ich weiß dass du auf dich aufpassen kannst. Du bist sehr mutig.“

Bastet sei es vergolten, dass er nicht gesehen hatte wie ich draußen erstarrt war. Hätte er mich dort beobachtet würde er nicht so über mich reden. Diese Geistreden beschämten mich.

Ein lauter Knall erschütterte den Tempel. Ein paar Ailuranthropen und Sermos schrien erschrocken auf. Irgendwo begann ein kleiner Sermo zu weinen. Einen Augenblick wackelten die Wände. Dann kehrte wieder diese aufgeladene Ruhe ein. Wir alle wussten, dass uns die Zeit davon lief. Sachmets Volk war auf dem Vormarsch.

Gillette besah unbehaglich den Marmor der Wände, als würde er jeden Moment etwas Grausames durchlassen. „Wir sollten uns beeilen.“

„Lass dich von mir nicht aufhalten.“

 

°°°

 

Im Tigersaal, der Raum in dem Bastets Stein, Bastets Macht aufbewahrt wurde, ein Tigerauge, so rein wie es ihn nur einmal gab, war es weitaus leerer. Die Krieger am Tor ließen uns passieren. Das Portal war bereits geöffnet. Ich hatte es schon einmal gesehen, aber dieser Anblick nahm mich wieder gefangen.

Es war eine kreisrunde Öffnung in einer freistehenden Wand mitten im Raum. Die Leere des Lochs schimmerte bläulich, war luftig, durchlässig wie ein Schleier. Unscheinbar, aber unter den Kenntnissen der Priester machtvoll, magisch. Wir konnten Magie nicht nutzen wie die Kinder Sachmets, oder die des Chnum, aber unsere Priester waren in der Lage Bastets Macht aus dem Tigerauge zu lenken. Es war nichts was einem beigebracht werden konnte, es war eine Gabe die uns von Geburt an gegeben war.

Priesterin Tia stand neben dem Portal. Ihre Augen hatten jegliche Farbe verloren und ihr Körper glühte in der Macht unserer Göttin. Sie war hoch konzentriert. Ein Krieger neben ihr schickte nacheinander Lehrlinge und andere Bedienstete hindurch, zusammen mit ArmentumsundSermos. Amina saß neben ihr auf Eno. Sie schien unverletzt, nur leicht nervös, versuchte aber, das nicht zu zeigen.

Auch Jaron stand bei ihnen, Mochica im Arm, die leise an seiner Schulter schluchzte.

Hier drinnen wirkte alles so ruhig und unscheinbar, geordnet. Ganz anders, als draußen, wo Elend und Gier vorherrschten.

„Nim! Ich hab sie gefunden“, sagte Gillette zu Anima und ritt neben sie.

„Bastetlob.“ Anima nahm meine Hand und drückte sie so fest, dass es fast schmerzte. Sie brauchte gar nichts zu sagen, ich wusste genau, was sie glaubte. Ich sah es in ihren Augen, an ihrer angespannten Haltung. Mir ging es nicht anders. Alles was der letzten halben Stunde geschehen war, war so grausam, so angsteinflößend. Ein Vorgeschmack auf das was uns in unserer Zukunft erwartete, wenn wir einst als Krieger in die Welt ziehen durften.

„Sie war schon im Tempel, auf den Weg zu uns“, berichtete Gillette weiter. „Also können wir jetzt aufbrechen.“

Ein weiterer Lehrling verschwand durch das Tor. In einem Moment war er noch zu sehen, dann leuchtete der Schleier in einem seichten Licht auf und dann war er verschwunden, übergewechselt in ein anderes Land, in den Schutz, den das andere Volk zu bieten hatte.

„Noch nicht. Ich muss noch hier bleiben, falls Priesterin Tia mich noch braucht. Aber ihr solltet schon mal gehen. Die Krieger der Lykanthropen müssten auch gleich kommen, dann …“

„Nein, wir gehen nicht ohne dich“, beschloss ich und rutschte von Kaios Rücken, zu entrüstet von ihrem Vorhaben, dass ich nicht sitzen bleiben konnte. „Auf keinen Fall lassen wir dich hier zurück.“

Ein Armentum verschwand samt seinem Reiter im Portal.

„Lilith …“

„Nein, sie hat Recht“, stimmte Gillette mir zu. Sein Gesicht eine undurchdringliche Maske, die keinen Widerspruch zuließ.

Und auch Jaron wollte sich nicht einfach so wegschicken lassen. „Wir gehen zusammen und wenn du noch bleibst, dann bleiben wir auch.“

„Das ist doch närrisch. Wenn ihr in Sicherheit seid …“

Eine Explosion im Gang. Schreie und panische Rufe. Der Boden unter meinen Füßen bebte.

„Schnell, geht!“, schrie Anima, aber trotz der Gefahr sah sie den Starrsinn, den wir alle in den Augen trugen. Sie wandte sich an Jaron. „Du musst Mochicavon hier weg bringen. Sie ist ein Baby, Göttertod noch eins! Bring euch in Sicherheit!“

Die Erwähnung seiner Sermo ließ ihn den Reden in seinem Kopf lauschen. Er sah vom Eingang zu uns und wieder zurück. Unentschlossen was er tun sollte. Pflicht und Verantwortung gegen Ehre. Eine weitere Erschütterung durchfuhr den Tempel. Die Krieger schickten die Lehrlinge nun schneller durchs Portal und dann endlich erschien der erste Lykanthrop aus der Rückseite des Schleiers, ein junger Mann mit seinem Sermo, ein Wildhund. Pfeil und Bogen auf dem Rücken, Dolche am Gürtel. Danach folgten ein paar Wölfe, Dingos und eine Hyäne. Unsere Verbündeten, die Verstärkung, die wir so dringend brauchten. Vielleicht hatten wir doch noch eine Chance, Sachmets Kinder davonzujagen.

Und dann geschahen viele Dinge zugleich. Ich bemerkte noch die Risse, die sich knirschend im Marmor auftaten, dann explodierte die Außenwand. Eine Energiekugel durchbrach den Marmor. Gesteinsbrocken und Splitter flogen durch die Luft. Etwas traf mich an meiner verletzten Schulter und schleuderte mich zu Boden. Mochicaschrie unter Jaron, der bewegungslos am Boden lag. Ein Marmorbrocken hatte ihn getroffen. Er blutete aus einer Wunde an der Schläfe. Sian wurde mir aus dem Arm geschleudert, als mich ein Armentum umrannte. Schreie und Rufe wurden laut. Katzen fauchten und Krieger gaben Befehle. Ich sah noch wie Priesterin Tia an Animas Seite eilte, ihr etwas in die Hand gab und dann waren da plötzlich Sachmets Kinder. Sie strömten durch den Gang zu uns, kamen auf ihren fliegenden Pferden durch das Loch in der Wand, griffen an.

Etwas traf das Portal, es flackerte, aber Priesterin Tia behielt es offen. Es brauchte all ihre Kraft für dieses Meisterstück. Ein paar schafften es noch hindurch.

Gillette rief nach Anima. Anima schrie, dass wir durch das Portal fliehen sollten. Ich konnte Jaron nicht mehr sehen, es waren einfach zu viele Geschöpfe anwesend. War er durch das Portal gegangen? Aber Mochica war noch hier, ich hörte ihr Weinen. Würde er sie zurück lassen? Und wo war Sian? Ich konnte ihn nicht ausfindig machen.

Eine Energiewelle durchfegte den Raum, warf uns von den Füßen, traf das Tor. Kies und kleine Splitter bohrten sich in meine Hände und Knie. Von Portal kamen zischende Laute, wie Wasser, das auf den heißen Steinen verdampfte. Der Schleier war verschwunden und an seiner Stelle war nun ein rotes Licht getreten. Ein wirbelnder Tunnel und noch immer feuerten Magier und Hexen mit Wellen darauf. Sie versuchten es zu schließen, wurde mir klar. Sie wollten uns den einzigen Fluchtweg abschneiden.

So, wie ich hier lag, in all dem Durcheinander, sandte mir mein Geist Reden, die besagten, dass es gescheiter gewesen wäre, wenn wir in die Wälder geflohen wären. Aber jetzt war es dafür zu spät. Sie würden das Portal verschließen und wir säßen in der der Falle, aus der wir nicht fliehen könnten.

Unerwartet glühte das Portal auf. Etwas kam aus seinem Inneren, etwas wie ein Sturm, in dem sich die Winde festigten wie Arme. Sie griffen nach uns, nach allem was sie erreichen konnten. Sie packten nach Anima, nach den Kriegern der Lykanthropen und Ailuranthropen, nach der Priestern, Hexen und Magiern.

Gillette sprang schützend vor Anima, geriet in einen dieser Wirbel. Der Wind hielt ihn gefangen, umklammerte ihn, zog ihn in sich hinein. Kaio packte ihn mit den Zähnen am Arm, versuchte, sie beide wieder hinauszuziehen. Das Haar peitschte mir ins Gesicht. Ich sah den Werwildhund, der seinen Sermo am Genick gegriffen hatte. Der Sermo war in einem greifenden Wind gefangen, der in langsam ins Portal zog. Der Wirbel tastete sich langsam auf den Krieger über.

Ehe ich genau wusste was ich da mache sprang ich auf und griff  nach dem Arm des Werwildhundes und auch er griff zu, ohne seinen Sermo loszulassen. Seine Augen waren geweitet, er schien Schmerzen zu leiden, aber konnte sich oder seinen Sermo nicht aus den Winden befreien. Sie zogen die beiden immer weiter in das Portal, als wollten sie ihn verschlingen.

 Ich versuchte ihm zu helfen, zog mit aller Kraft die mir zur Verfügung stand. Ich würde ihn nicht loslassen, würde ihm nicht der magischen Schandtat der Hexen überlassen. Schweiß brach mir aus und die Winde drohten auf mich überzugehen, aber ich ließ nicht locker, ich würde nicht loslassen.

Irgendwo hörte ich Anima schreien, so qualvoll wie noch nie in ihrem Leben. Ich drehte mich nach ihr um und das war mein Fehler. Meine Beine rutschten auf dem glatten Boden weg, ich verlor den Halt und stürzte. Mit einer Hand am Krieger, versuchte ich mit den Krallen der anderen einen Halt am Boden zu finden. Aber der Marmor war zu glatt, es bot sich mir keine Spalte, an der ich mich festhalten konnte. Meine Krallen glitten von der Oberfläche einfach ab. Jählings trieb der Wind über den Krieger auf mich über, packte mich, umwirbelte mich und zog mich auf das Portal zu. Ich sah nichts mehr und konnte kaum noch atmen. Es ging so schnell, dass ich gar nicht wusste, wie mir geschah. Im einen Moment stand ich noch im Tigersaal und versuchte, den Krieger vom Portal wegzuziehen und im nächsten Moment wurde ich aufgesogen. Den Krieger noch immer am Arm haltend, verschwand ich im Portal.

 

°°°°°

Kapitel Vier

Überall um mich herum zog und zerrte der Wind an mir. Ich bekam keine Luft und hatte das Gefühl, als würde der Sturm mich erdrücken und gleichzeitig zerreißen. Es tat weh und es war so heiß. Diese Hitze, die mich zu verbrühen drohte. So heiß wie die Quellen der Echidna. Eine Hitze, die mir das Fleisch von den Knochen zu sengen drohte. Es war so schlimm, dass ich nur rotes Licht erkennen konnte.

Mein Herz pochte ums Überleben, wollte sich am Schlagen nicht hindern lassen und noch immer spürte ich die Hand des Kriegers an meinem Arm. Er hielt mich fest, so wie ich ihn. Selbst wenn ich gewollt hätte, wäre es mir nicht möglich gewesen, meine Muskeln zu lockern um ihn freizugeben. Es war, als presste uns eine fremde Macht aneinander.

Aber das schlimmste war der Luftmangel. Langsam verfärbte sich das rote Licht. Ich sah schwarze Punkte vor meinen Augen. Ich brauchte Luft, ganz dringend. Ich würde ersticken, das hielt ich nicht mehr aus …

Und ganz plötzlich waren die Winde weg. Ich konnte wieder einatmen. Luft füllte zuhauf meine Lungen. Dann merkte ich, wie ich fiel. Immer schneller. Etwas streifte mein Bein, dann krachte ich gegen etwas Hartes. Rascheln und Knacken. Es peitschte mir gegen meine Gliedmaßen, ins Gesicht. Reflexartig griff ich nach dem Nächsten, was ich zu fassen bekam und schlug die Krallen meiner freien Pfote tief hinein. Meine verletzte Schulter protestierte. Durch den Schwung rutschte der Arm des Lykanthropenkriegers aus meiner Hand.

Dann hing ich da. Keuchend, durchgeschüttelt, fertig mit den Nerven.

Unter mir knackte und raschelte es noch einen Moment. Dann kam ein dumpfer Schlag, gefolgt von einem „Uff“ und dann war alles ruhig.

Um Atem ringend hing ich da, klammerte mich fest. Ich wollte mich einen Augenblick ausruhen, aber dafür war keine Zeit. Die Lage überprüfen, das war es was jetzt wichtig war. Herausfinden wo wir gelandet waren, herausfinden woran ich mich eigentlich festhielt.

Meine Augen brannten beim Öffnen, schlimmer noch wie mein Körper. Die Hitze des Sturms hing noch immer an mir. Vor meinen Augen war es braun, krustig, leicht gewellt mit … Moos? Ich musste mehrmals blinzeln um zu verstehen wo ich war. Das war Rinde vor meiner Nase. Ich hing an einem Baum, verschwitzt, mit schmerzender Schulter und um Atem ringend.

Meine Sinne kehrten langsam zu mir zurück und jetzt sah ich ihn nicht nur, sondern roch ihn auch. So konnte ich mir ein weiteres Mal versichern, ich hing wirklich an einem Baum. Eigentlich nichts ungewöhnliches, wenn man ausließ wie ich hier gelandet war. Denn das war außergewöhnlich!

Etwas Feuchtes fiel auf mich, lief mir über den Körper und mein Geist brauchte Zeit um zu verstehen, dass es sich um Wasser handelte, das vom Himmel fiel. Verwirrung machte sich in mir breit. Wasser fiel nicht vom Himmel. Es floss aus den Bergen durch Flüsse in Seen oder Ozeane, aber es fiel nicht vom Himmel. Es gehörte zu uns auf den Boden und nicht zu den Göttern in die Wolken. Doch bei aller Widerrede, an diesem Ort war es so. Und erst als ich das begriffen hatte bemerkte ich den seltsamen Geruch der in der Luft lag, etwas wie …

Ein Stöhnen vom Boden machte mich darauf aufmerksam, dass ich nicht allein war. Der Krieger. Den hatte ich völlig vergessen. Er lag auf dem Boden, sah genauso geschändet aus wie ich mich fühlte. Sein Sermo lag halb auf ihm und kletterte ungeschickt von ihm herunter.

Langsam ließ ich mich an dem Baum herab, riss Rinde und Blätter mit. Das letzte Stück ließ ich mich auf den Boden fallen – immer in Achtung auf meine Schulter – verharrte einen Augenblick in gehockter Position und wartete auf verdächtige Geräusche, die Gefahr anzeigen könnten. Aber da waren nur wir und die Natur, die uns umgab. Kein anderes Geschöpf der Götter. Keine Blitze, kein Geschrei, wir waren allein.

Auch der Krieger hatte sich auf die Beine gekämpft, stand nun ruhig da, seinen zerbrochenen Bogen in der Hand, die Ohren immer in Bewegung. Sein schwarzes Fell, das am ganzen Körper mit braunen, rötlichen, gelben und weißen Flecken durchsetzt war, klebte ihm vom Wasser, das durch die Baumkronen drang, am Körper.

Sein Sermo stand neben ihm, die Nase in den leichten Wind erhoben. „Riecht ihr das auch?“

Also war es ihm auch aufgefallen. Dieser seltsame Geruch.

„Ja“, antwortete der Krieger mit tiefer, leiser Stimme. „Es riecht als sei …“ Er runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, ich habe so etwas noch nie gerochen.“

„Es riecht dreckig“, half ich aus.

„Du hast Recht“, stimmte der Krieger mir mit leise grollender Stimme zu. „Es liegt etwas Schmutziges in der Luft.“

Und das war es was mich so verwunderte. Es roch wie Natur halt roch. Nach Pflanzen und Tieren, Zerfall und Geburt, Wasser, Erde und Luft, aber über all das lag eine Schicht aus Schmutz, die ich so noch nie wahrgenommen hatte. Aber was mich noch mehr verunsicherte, so sehr, dass ich mich unwohl fühlte: „Warum fällt Wasser vom Himmel?“

Wie aufs Stichwort sahen wir alle drei gleichzeitig nach oben. Der Baldachin der Blätter über unseren Köpfen ließ durch seine Lücken Tropfen auf uns niederfallen, viele Tropfen, hunderte, tausende von ihnen.

„Das waren Sachmets Kinder“, sprach der Sermo. „Da bin ich mir sicher. Die Götter hätten keinen Grund Wasser auf uns niederfallen zu lassen.“

„Vermutlich hast du Recht“, stimmte der Krieger zu, aber sehr überzeugt wirkte er nicht. Sein Stirnrunzeln wollte nicht verschwinden und ich verstand auch warum. Was hatten die Magier und Hexen davon, wenn sie Wasser auf uns fallen ließen? Der Boden trank es doch sofort. Außer dass wir bis auf die Knochen nass wurden brachte es rein gar nichts.

Ich behielt meine Reden im Geist für mich und erhob mich langsam aus meiner kauernden Haltung. Es war an der Zeit meine Umgebung genauer in Augenschein zu nehmen. Rings um uns standen Bäume. Wir befanden uns in einem Wald. Das hieß, dass wir uns noch immer im Westen von Silthrim aufhalten mussten. Aber wir waren eindeutig nicht mehr in Ailuran. Unser Wald roch nicht so …. kaputt.

Aber wo waren wir dann? Unser Wald war riesig, ging über unsere Landesgrenze hinaus, bedeckte fast ein Drittel von ganz Silthrim. Er verschlang sowohl Nymph, das Land von Geb, Nut und Schus Kinder, Sire, die Heimat von Chepres Gefolge und Cubus, das Zuhause von Osiris Geschöpfen. Leider ging er aber auch zum Teil nach Magistin über und wären wir dort könnte das ganz schnell ganz böse für uns werden, denn Magistin war die Heimat der Magier und Hexen.

Während ich noch darüber grübelte und meinen Blick schweifen ließ, stach mir etwas ins Auge, das ich so noch nie gesehen hatte. Es war ein Baum. Zumindest glaubte ich dass es einer war, denn ein solcher war mir bisher noch nie vor die Augen gekommen. Vorsichtig schlich ich mich heran, witterte und … ja, es musste ein Baum sein, aber er sah seltsam aus. Die Rinde war anders als bei jedem den ich kannte und er besaß keine Blätter. Natürlich wusste ich wie ein Baum ohne Blätter aussah, doch dieser hier war nicht kahl oder tot. Er hatte Nadeln. Hunderte, tausende kleiner Nadeln. Bis hinauf in die Spitze. Und sein Dach war auch nicht rund, sondern spitz, wie ein Kegel. Vom Boden zur Spitze hin wurde er immer dünner.

Der Krieger trat neben mich und war nicht weniger irritiert als ich. Sein Stirnrunzeln schien sogar noch tiefer als vorher. „Was ist das?“

„Ich glaube es ist ein Baum, aber ich bin mir nicht sicher.“ Meine Nase stimmte mit meinen Augen überein, denn auch das hatte ich noch nie gerochen. Ein intensiver Geruch nach … ich hatte nichts womit ich ihn vergleichen konnte.

„Er riecht seltsam“, sagte der Krieger.

Seine Geistreden ging also in die gleiche Richtung wie meine.

„Er riecht krank“, bemerkte der Sermo und er hatte damit Recht. Ja, dieser seltsame Baum roch gut, aber darunter konnte ich eindeutig eine ungesunde Note entdecken.

„Aber er scheint nicht gefährlich zu sein“, sagte ich und drehte mich zu dem Krieger hin, denn es gab eine entschieden wichtigere Frage. „Was machen wir jetzt?“

Auch er nahm die Umgebung noch mal unter Augenschein. „Am besten finden wir erst mal heraus wo wir sind und …“

Der Sermo stellte plötzlich die Ohren auf. „Hört ihr das?“

Auch mir war das Geräusch nicht entgangen. Es war wie Wasserrauschen, aber nicht ganz. Erst war es leise, dann wurde es immer lauter und dann wieder leise, bis es endgültig verklang. Wie ein Fluss, der an uns vorbei lief, aber nicht blieb wo er war, sondern schnell wieder verschwand. Durch das Wasser, das vom Himmel fiel, konnte ich es nur schwer hören, aber es war da … und dann wieder weg. „Was ist das?“

„Ich weiß nicht.“ Auch bei dem Sermo machte sich langsam Verwirrung breit. „Ich kenne es nicht.“

„Am besten sehen wir einfach nach.“ Der Krieger ließ seinen kaputten Bogen achtlos auf den Boden fallen und machte sich auf leisen Pfoten auf den Weg, immer in die Richtung, von wo wir dieses Flussrauschen zuletzt gehört hatte. Da ich nicht allein zurückbleiben wollte schloss ich mich ihm an.

„Bleib in Deckung und mach keine Geräusche“, wies er mich an.

Das brachte ihm einen giftigen Blick ein. „Ich bin kein Anfänger“, grummelte ich. Ich hatte genauso wenig wie er ein Geräusch gemacht, bewegte mich gegen den Wind, wie es mir beigebracht wurde und blieb im Schutz der Natur.

„Aber auch keine Kriegerin.“

Oh Göttin! „Aber bald.“

„Bald ist nicht jetzt, also hör auf das was ich sage.“

Heillos, für wen hielt der sich? Davon mal abgesehen, dass er ein Lykanthrop war und mir somit gar nichts zu befehlen hatte, war er auch kaum älter als ich. Er konnte selber noch nicht allzu lange seinen Lehrlingsstatus hinter sich gelassen haben und führte sich hier auf wie Magister Damonda persönlich. Nicht mal von ihr ließ ich mir etwas sagen. Bei der ersten sich mir bietenden Gelegenheit würde ich mich von diesem Lykanthropen und seinem Sermo trennen und meinen Weg allein beschreiten.

Der Krieger duckte sich unter einem Ast hindurch, beachtete meine finstere Mine gar nicht und wollte wissen: „Wie ist dein Name?“

Für einen Moment hielt ich Geistreden, ob er mit dieser Frage etwas Böses im Sinn hätte, tat das dann aber als Unfug ab. Was sollte schon Weltbewegendes daraus entstehen wenn er meinen Namen wusste? „Ich werde Lilith genannt.“

„Ich bin Aman und das hier ist Acco.“ Er deutet auf seinen Sermo.

Schön für euch, sagte ich im Geist, blieb aber still, weil wir langsam der Stelle näher kamen, von der wir das merkwürdige Geräusch gehört hatten. Die Bäume waren hier weniger dicht und ganz plötzlich hörten sie einfach auf. Als hätte jemand den Wald mit einem riesigen Beil abgetrennt. Er hörte einfach auf.

Wir blieben hinter den Stämmen in Deckung, was gar nicht so einfach war, weil sie so dünn waren. Aman hatte damit überhaupt keine Probleme, sein Fell verbarg ihn bestens, aber ich, mit meinem weißen Pelz, konnte sehr schnell auffliegen. Daher hielt ich mich weit in Bodennähe, so wie mein Fafa es mir bereits als kleines Kätzchen beigebracht hatte.

Ich schob diese Reden im Geist davon und richtete meine Aufmerksamkeit auf das, was vor uns lag. Der Wald endete in einer perfekten, geraden Linie. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Auch nicht das, was auf der anderen Seite der Bäume lag. Zuerst glaubte ich dass es ein breiter Weg war, aber bei genauerer Betrachtung merkte ich, dass mir ein solcher Weg noch nie vor die Augen gekommen war. Er glänzte leicht im Sternenlicht und das Wasser prallte einfach an ihm ab, floss zu den Bäumen und den Feldern auf der anderen Seite, oder bildete Pfützen auf seiner Oberfläche. Und dann war daran noch etwas Seltsames. In der Mitte des Weges waren weiße Streifen. Hintereinander, alle gleich lang, alle im selben Abstand. Als wenn jemand den Weg mit Farbe angemalt hätte, doch der Sinn der dahinter steckte entging mir.

Ich versicherte mich, dass wir allein waren und trat dann langsam aus dem Schutz der Bäume hervor.

„Was machst du da?“, herrschte Aman mich an. „Geh zurück.“

Da ich keinen Grund sah auf ihn zu hören schlich ich weiter, doch bevor ich den Weg erreichte fielen mir Pfähle auf, die zu beiden Seiten des Weges standen. Kurze Pfähle, im oberen Bereich schwarzweiß gestreift, mit irgendwelchen glatten Plättchen daran. Und obwohl jede Faser in mir mich warnte und Aman mich anknurrte, ich solle es lassen, gewann meine Neugierde Oberhand und nach einer schnellen Sondierung der Umgebung, berührte ich eins der Plättchen. Nur ganz vorsichtig, mit der Spitze meiner Kralle tippte ich dagegen. Dann wartete ich. Alles schien die Luft anzuhalten. Nur das Himmelswasser machte in der Nacht ein Geräusch.

Nichts geschah.

Ich wartete weiter. Sah mich aufmerksam um, aber alles blieb ruhig.

Von meinem ersten Versuch ermutigt, tippte ich es ein weiteres Mal an, strich darüber. „Es fühlt sich an wie Glas, nur … rauer.“

Nun wagte sich auch Aman vorsichtig hinaus, Acco hinter ihm. „Mach das nicht noch mal. Es hätte gefährlich sein können!“

„Es ist nur ein Pfahl.“ Dessen Sinn mir jedoch entging.

„Es hätte gefährlich sein können“, beharrte er. „Du hast keine Ahnung wozu es gedacht ist, also unterlass so etwas in Zukunft.“

Also langsam machte er mich mit seiner herrischen Art sauer. Ganz ruhig, sagte ich mir, dieser Ort macht ihn auch nervös, deswegen ist er so. Zumindest hoffte ich das.

Ich ließ den Pfahl stehen, da ich noch immer nicht wusste, was es mit diesem Weg auf sich hatte und mein eigentliches Interesse bei ihm lag. Vorsichtig tastete ich mich heran. Meine Pfoten raschelten im feuchten Laub, als ich mich auf die Knie nieder ließ. Der Lendenschurz an meinem Leib war völlig durchnässt und nun auch noch schmutzig vom Schlamm. Langsam wurde das Himmelswasser zur Qual. Von der Hitze, die mich im Portal so gequält hatte war nichts mehr übrig und ich fing an zu frieren. Mein Fell konnte dem vielen Wasser nicht standhalten. Es war kalt. Eine solche Kälte kannte ich aus Ailuran nicht. Vielleicht war es ja doch von Sachmets Kindern gewirkt worden. Wollten sie dass wir erfrieren?

Später.

Jetzt wollte ich erst mal wissen, was es mit dem Weg auf sich hatte. Aman stand neben mir, als ich mich hinhockte und vorsichtig eine Hand ausstreckte. Es war kalt, nass und hart, wie … „Das ist Stein.“

„Stein?“ Dieses Stirnrunzeln wollte wohl nie mehr verschwinden. „Bist du sicher?“

„Es fühlt sich so an. Hart und rau.“ Ich klopfte darauf und war mir sicher. „Ja, Stein.“

Langsam und äußerst wachsam ließ sich Aman neben mir in die Hocke sinken. „Ich habe noch nie ein so großes Stück Stein gesehen.“

Er hatte Recht. Diese Steinplatte war zwar breit, aber von der einen Seite zur anderen hätte ich locker springen können. Die Länge dagegen … ich konnte weder den Anfang noch das Ende ausmachen. Beide Enden verschwanden einfach in der Nacht.

Acco trat vorsichtig darauf, schnüffelte auf dem Boden, bis er in der Mitte angelangt war und nieste. „Es stinkt.“

„Wie alles hier“, sagte ich nachdenklich. Es war wirklich so. Egal, was ich roch, ob ich es kannte oder nicht, alles roch irgendwie dreckig, so, als läge über der ganzen Gegend eine Schmutzschicht die sich nicht entfernen ließe.

Acco hob den Kopf. Auch er war bereits bis aufs Unterfell durchnässt. „Was glaubt ihr bedeuten die Streifen?“

Weder ich noch Aman wussten darauf eine Antwort. Also schwiegen wir. Die Stille hielt solange an, bis wir wieder das Geräusch wahrnahmen, das uns aus dem Wald gelockt hatte. Es kam aus der Dunkelheit, direkt auf uns zu. Und es war schnell. Plötzlich waren da zwei Lichter, die immer näher kamen.

„Versteck dich!“

Das brauchte Aman mir gar nicht erst sagen. Ich war schon vorher aufgesprungen und mit einem Satz hinter den Bäumen verschwunden.

Die Lichter kamen näher, blieben immer auf dem steinernen Weg. Dann waren sie auf gleicher Höhe mit uns, nur ganz kurz, bis sie an uns vorbeirauschten und am anderen Ende der Steinplatte wieder in der Nacht verschwanden. Aber mir war ein kurzer Blick auf das Ding gelungen und wie schon bei vielem anderen hier, war es mir völlig unbekannt.

Als ich es nicht mehr hörte, kam ich hervor, sah dem Ding nach. Nun war meine Verwirrung vollendet.

„Was war das?“ Auch Acco kam heraus.

Ich schüttelte den Kopf. Bei Bastets Namen, ich hatte keine Ahnung. Ich konnte sagen wie es aussah. Es war groß, hatte Räder und war gelb. Und wenn ich es richtig erkannt hatte, war da auch Glas gewesen, aber einem Namen konnte ich dem nicht geben.

„Vielleicht hat Chnum ein neues Geschöpf kreiert“, überlegte Aman laut.

Und wieder schüttelte ich den Kopf … oder immer noch? Ich wusste es nicht mehr. Dieser Ort setzte meinem Geist zu. „Nein, das hat er schon seit Jahrtausenden nicht mehr getan. Wie auch, dazu bräuchte er seine Macht und die ist bei den Elfen in Ellan.“

Da musste er mir natürlich zustimmen.

„Und was ist mit den Magiern?“, schlug Acco vor.

„Nein, das kann ich nicht glauben. Sie haben nicht die Macht ein neues Lebewesen zu erschaffen.“ Davon hatte ich zumindest noch nie gehört.

„War das denn überhaupt ein Lebewesen?“, fragte Aman. Und diese Frage war wirklich ausgesprochen gut, doch eine Antwort wusste ich nicht.

War das ein Lebewesen? Wenn nicht, was war es dann? Dinge konnten sich nicht von allein bewegen, was dafür sprach, dass es doch lebendig war, aber ich wusste nicht wie ich es einordnen sollte. Es war einfach nur so ein Gefühl. Dieses Ding konnte nicht lebendig gewesen sein, doch wie war es dann möglich, dass es …

Das Geräusch kam zurück. Hastig brachte ich mich in den Schutz der Bäume und beobachtete wie es näher kam, wie es schnell über den steinernen Weg kroch. Erst nur der Klang, dann die Lichter. Doch es war anders als das vorher. Dieses war größer und langsamer. Und je näher es uns kam, desto langsamer wurde es. Aber genau wie das andere, blieb es immer auf dem Steinweg, nur, dass es sich auf der anderen Seite von den Streifen bewegte.

Nur noch ein paar Meter und es wäre an uns vorbei. Noch sechs, fünf … es wurde immer langsamer. Vier, drei, zwei … es war nicht nur größer, es sah auch anders aus. Noch einen Meter … vorbei.

Ich wollte schon aufatmen, als es plötzlich von dem Steinweg rollte und an der Seite stehen blieb. Einen Moment noch rumorte es wie ein wütender Bär, dann wurde es ganz still. Die Lichter erloschen und die folgende Ruhe kam mir unendlich laut vor.

Meine verletzte Schulter pochte im Gleichklang mit meinem Herzen. Viel zu schnell.

Außer den Sternen, die zwischen den Wolken hervorguckten, gab es kein Licht, aber das Wenige reichte mir, um mir zu zeigen dass sich in dem Inneren von dem Ding etwas bewegte. Genaues konnte ich nicht erkennen, dafür war es zu dunkel und das Himmelswasser machte es auch nicht besser, aber es gab Bewegungen. Und Stimmen.

Aus dem Ding kamen gedämpfte Stimmen.

Ich verharrte regungslos am Stamm. Versuchte flach und leise zu atmen und glaubte doch, dass dieses Ding meinen Herzschlag hören könnte, so sehr trommelte er mir in der Brust. Ein kurzer Blick auf Aman zeigte mir, dass er völlig ruhig war. Zwar war er angespannt, aber still und voll auf das vor uns konzentriert.

Plötzlich ging das Ding auf – eine Tür wurde mir klar – und zwei Geschöpfe kamen heraus. Nun waren wir nicht mehr allein.

 

°°°°°

Kapitel Fünf

„… du dir sicher? In dieser Einöde? Die anderen Energien waren alle in der Stadt.“

Die Stimme einer Frau. Sie war verhängt mit einem gelben Umhang und ziemlich dick. Auch das zweite Geschöpf trug einen solchen. Es war ein Mann, das wusste ich schon, bevor er sprach. Seite Statur verriet ihn.

„Pascal ist sich sicher. Er hat es ausgependelt und er weiß was er tut. Also komm jetzt, bevor wir uns hier noch den Tod holen.“

Der Mann nahm sie am Arm, einen flachen schwarzen Kasten in der Hand, auf den er konzentriert starrte.

„Das ich bei diesem Sauwetter hier raus muss ist echt das Letzte“, schimpfte die Frau mit gereizter Stimme. „Und das nur, weil die voll den Flash bekommen haben. Das hätten die doch allein abhaken können. Das hat mit uns schließlich nichts zu tun!“

„Hab dich nicht so, ist doch nur ein bisschen Regen.“

Flash? Was war das? Regen? Was wollten sie abhaken?

Der Mann sah von dem Kasten auf und ging, die Frau hinter sich herziehend, zielgenau auf uns zu. Alle Warnsignale bei mir schlugen Alarm. Leise und doch schnell zog ich mich zwischen den Bäumen zurück. Nur weg von dem steinernen Weg, in den Schutz eines mir fremden Waldes.

Aman und Acco taten es mir gleich, aber wir kamen nur langsam voran, weil wir aufpassen mussten, wohin wir traten. Die beiden verhüllten Geschöpfe war es scheinbar gleich, ob sie gehört wurden. Sie machten sich keine Mühe leise zu sein.

Das hier musste ihr Land sein. So sicher wie sie würde ich mich nur in meiner Heimat Ailuran bewegen. Nur, wer waren sie? Solche Gewänder hatte ich noch nie gesehen. Sie glänzten leicht und ließen das Wasser einfach an sich abperlen. Ein solcher Stoff war mir unbekannt. Wieder etwas, dass ich auf meine Liste setzen konnte. Wo hatte uns das Portal nur hingeschickt? 

Ich zog mich tiefer in ein Gebüsch zurück, gerade als die Frau über einen Ast stolperte. „Verfluchte Scheiße! Ich hasse das hier. Können wir nicht einfach wieder abhauen? Bitte?“ Ihr Stimme wurde von wütend zu flehentlich.

Verfluchte Scheiße? Wie sie es aussprach glaubte ich es sei ein Fluch, aber ich kannte ihn nicht und ich kannte eine Menge Flüche.

„Hier stinkt es nach nasser Katze!“

Das überhörte ich schlicht.

„Ich will gehen!“

Bei Bastets Namen, war die vielleicht nörgelig.

„Nur Geduld, Liebes. Wir haben es doch gleich.“ Der Mann ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Konzentriert auf das Kästchen in seiner Hand, sah er sie nicht mal an.

„Das dauert mir aber zu lange.“ Unter ihrer Haube bewegte sie den Kopf hin und her, als sähe sie sich um. „Hallo?“, rief sie. „Ist da Jemand? Wenn ja komm raus, damit ich diese Strafe endlich hinter mich bringen kann.“

Strafe? Ich zog mich weiter in Gebüsch zurück. Die Frau bewegte sich und da roch ich es. Das viele Wasser um mich herum musste meine Nase blockiert haben, aber nun war es ganz deutlich. Die Frau war ein Lykanthrop. Was hatte sie hier zu suchen? Dieses Gebiet konnte nicht Seth gehören, das hätten Aman und Acco doch gewusst. Oder hatten sie versucht mich in die Irre zu führen? Das konnte ich nicht glauben. Das alles hier war ihnen genauso fremd wie mir. Aber was hatte das dann zu bedeuten? Sollte ich ihrem Ruf folgen? Lykanthropen waren Verbündete, aber … irgendwas stimmte hier nicht. Ich konnte nicht mit dem Finger darauf zeigen, es war nur ein Gefühl. Nach kurzem Zögern entschied ich mich dafür mich zu zeigen, doch im gleichen Augenblick tauchte Aman neben mir auf und drückte mich zurück.

Fast hätte ich vor Schreck aufgeschrien. Sofort machte ich mich von ihm los. Verbündeter war eine Sache, aber Berührungen waren völlig ausgeschlossen. Das stand einzig meinem Volk zu, ausschließlich Ailuranthropen. Bei den Hunden konnte es ja anders sein, aber nicht bei uns.

Als ich etwas sagen wollte, legte er einen Finger an seine Schnauze und gab mir damit zu verstehen ruhig zu sein. Sofort zog ich den Kopf zurück und funkelte ihn an.

Die Beiden in der gelben Kleidung liefen an unserem Busch vorbei, weiter hinein in den Wald. Erst als sie fast von der Dunkelheit verschlungen waren wagte ich es zu flüstern. „Warum hast du mich aufgehalten? Sie ist ein Lykanthrop.“

„Aber er nicht“, flüsterte Aman zurück. „Er ist ein Vampir.“

Ein Sohn des Anubis? Mein Kopf schoss herum. „Woher weißt du das? Bei dem vielen Wasser kann meine Nase kaum Witterung aufnehmen.“

„Davon mal abgesehen dass mein Geruchsinn besser ist als deiner, habe ich seine Zähne gesehen.“

Nur um das mal festzuhalten, sein Geruchsinn mag besser sein als meiner, aber dafür war meine Sehkraft ausgeprägter, besonders bei Nacht. Und ich konnte ohne Probleme jeden Baum erklimmen. Das konnte er nur wenn er das Land der Götter besuchte. Aber davon mal abgesehen, war es unfassbar was er da von sich gab. Vampire waren nach Magiern und Hexen das meist verhassteste Volk. Sie gaben nichts auf Frieden und versuchten, in jeden sich nur bietenden Moment die Mächte der anderen Völker an sich zu bringen.

Ein Lykanthrop in der Gesellschaft eines Vampirs war unbegreiflich. Aber Moment, hatte sie nicht irgendetwas von Strafe gesagt? Und mehr als deutlich gemacht, dass sie nicht hier sein wollte, hatte sie auch. Das konnte nur eins bedeuten. „Sie ist seine Gefangene. Er hat sie mitgebracht, um uns herauszulocken.“ Und ich wäre fast darauf herein gefallen.

Aman nickte nur grimmig.

„Wir müssen ihr helfen“, sagte ich entschlossen, den Blick fest auf die Stelle wo sie verschwunden waren. Ich hörte sie noch, das war nicht sonderlich schwer. Sie machten einen Krach wie Greife in der Brunft, nicht zu überhören.

Wie war der Vampir nur an sie gekommen? Auch wenn diese Frage zurzeit nicht wichtig war, es war die erste die mir durch den Kopf ging. „Wir müssen sie befreien.“

Von beiden Seiten bekam ich ein zustimmendes Grunzen. Seit wann kauerte Acco neben mir? Dieser Ort machte mich wirklich konfus. Normalerweise war es nicht so einfach sich an mich heranzuschleichen. Und jetzt hatten es sogar beide geschafft.

Später, es gab wichtigeres zu tun und ich wusste auch schon ganz genau wie. „Ich habe einen Plan.“ Ich zog den einen von Amans Dolchen aus seinem Gürtel – ein Krummdolch mit Kristallklinge, sehr scharf – und bewegte mich schon durchs Unterholz, bevor er auch nur einen Ton von sich geben konnte. „Du machst den Köder“, erklärte ich weiter, „und ich schleiche mich von hinten heran.“

Die Schritte und das Murmeln ihrer Stimmen vor uns wurden wieder lauter. Wir kamen ihnen näher.

„Warte.“

Tat ich nicht.

Aman packte mich am Arm – das zweite Mal schon – um mich zum Stehen zu zwingen. Meine Schulter begann stärker zu pochen.

Ich riss mich los – auch das zweite Mal. „Fass mich noch einmal an und du bekommst meine Krallen zu spüren!“

„Miau.“ Das kam von Acco und wurde von uns beiden mit einem tödlichen Blick gestraft, unter welchem er sich duckte. 

„Ich hab gesagt warte und du bist nicht stehen geblieben.“

„Das gibt dir das Recht deine Pfote an mich zu legen?“

„Du hast auch einfach meinen Dolch genommen.“

„Dich dabei aber nicht berührt!“, schoss ich zurück. Jetzt war ich sauer. Was glaubte er was er sich alles erlauben durfte?

Dann war das Stirnrunzeln wieder da, zusammen mit einem leichten Kopfschütteln. „Das tut jetzt nichts zur Sache. Der Plan ist erbärmlich.“

Von Acco kam ein leises Glucksen. Er schien die Auseinandersetzung zu genießen. Warum wusste ich nicht und es tat auch nichts zur Sache. Ich ignorierte ihn.

„Erbärmlich?“ Ich bekam die Zähne kaum auseinander. Wofür hielt dieser Steinkopf sich eigentlich?

„Ja.“

Das war alles. Nicht weiter, keine Erklärung, nur ein einfaches Ja. „Was ist daran erbärmlich?“ In der Zwischenzeit war ich so sauer, dass ich nicht mehr auf meine Lautstärke achtete. „Du zeigst dich ihnen und lenkst sie damit ab. Ich schnappe mir den Vampir und du ziehst sie weg von ihm.“

Auch Aman war das Flüstern abhandengekommen. „Nein, das ist nicht gut“, wiederholte er. „Du bist nicht ausgebildet für so was.“

Jetzt fing er wieder damit an. „Ich war in der Lehre bei unserem obersten Magister. Ich weiß worauf es ankommt.“ Was ich ihm verschwieg, dass ich nicht sonderlich hervorstach. Das tat ich nie, aber das musste er ja nicht wissen.

„Das hat damit nichts zu tun. Du könntest die Beste in eurem Tempel sein und trotzdem bist du noch nicht bereit dafür. Es ist etwas anderes einem vertrauten Gegner gegenüberzutreten als einem Fremden, der dich ernsthaft verletzen will.“

Göttertod, wenn er so weiter machen wollte, würde ich ihm mal zeigen, was ich schon so alles gelernt hatte. „Hast du einen besseren …“

„Hallo? Wer ist da?“

Mein Kopf wirbelte herum.

Das war der Vampir. Mist, wir waren zu laut gewesen. Er hatte uns gehört und kam zurück.

Noch ehe Aman  weitere Vorbehalte aussprechen konnte, klemmte ich mir den Dolch zwischen die Zähne und sprang in den nächsten Baum. Die Rinde war glitschig und ein kleiner Ast brach, doch das Himmelswasser schluckte diese Geräusche einfach.

Leise, mit kontrolliertem Atem hockte ich mich auf einen breiten Ast und konnte die gelben Umhänge ausmachen. Ich gab Aman ein Zeichen und konnte nur hoffen, dass er sich an meinen Plan hielt. Dann kletterte ich weiter. Von Ast zu Ast, von Baum zu Baum, verschmolz mit den Schatten des Waldes und wartete auf meine Gelegenheit.

 

°°°

 

Die gelben Umhänge schwebten unter mir durch, genau auf die Stelle zu, an der ich Aman und Acco zurückgelassen hatte.

Der Vampir sah sich genau um, seine Kleidung raschelte seltsam, das kleine flache Kästchen war unter seinem Umhang verschwunden. „Wir haben euch gehört“, sagte er.

Ja, das hatten sie, wegen Aman, weil er mich so aufregen musste. Er tat so als sei ich eine Anfängerin, als träge ich noch mein Babyflaum. Das war nicht nur unerhört, das war einfach nur überheblich!

Das Gebüsch raschelte und Acco kam heraus.

„Na super, ein blöder Köter“, sagte die Frau gereizt. „Das hast du gehört.“

Was war ein … später. Konzentrier dich, mahnte ich mich selber, achte gar nicht auf die merkwürdige Sprechweise.

Der Vampir legte seinen Kopf leicht schräg, als horchte er. „Nein“, sagte er nach einem Moment der Stille. „Sie doch genau hin, das ist kein Hund, zumindest kein Haushund. Das ist ein afrikanischer Wildhund.“

„Ein …“ Die Haltung der Frau wurde gerade, als wenn ihr jemand einen Stock auf den Rücken gebunden hätte. „Was hat der hier zu suchen?“

„Ich kann es dir nicht sagen, außer …“ Ein Moment der Stille. „Ist es vielleicht möglich …“ Wieder Ruhe.

Die Frau tippte mit dem Fuß aufs nasse Blattwerk am Boden. „Oh, ich hasse es, wenn du damit anfängst. Sag einfach, was du denkst.“

Acco stand einfach nur da und wartete.

Ich konnte noch nicht eingreifen. Der Vampir hielt die dicke Lykanthropin noch am Arm. Wenn ich ihn anspringen würde, risse ich sie mit auf den Boden. Dann würde sie mir in die Quere kommen und das konnte ich nicht riskieren. Sie könnte verletzt werden.

„Ich bin Luan“, sagte der Vampir dann. „Wie ist dein Name?“

„Was soll denn das? Mein Name ist Janina und ganz ehrlich mein Freund, wenn du das nicht mehr weiß, dann müssen wir uns mal dringend unterhalten.“

Der Vampir – Luan – gab ein leises Lachen von sich. „Nicht du, Liebes, ich spreche mit ihm“, sagte er und deutete mit einem Fingerzeig auf Acco.

„Du redest mit … okay Süßer, jetzt bin ich mir sicher, dass wir uns mal dringend unterhalten sollten. Wenn du nämlich anfängst dich mit …“

Luan hob die Hand und sofort verstummte Janina. Was mochte er ihr nur alles angetan haben, dass er sie so leicht zum Schweigen bringen konnte? Ich wollte es mir gar nicht vorstellen. Es war an der Zeit, dass wir sie befreiten.

Luan ging in die Hocke, um mit Acco auf gleicher Augenhöhe zu sein. „Ich weiß was du bist, du kannst mir deinen Namen ruhig verraten.“

„Nicht mal Seth persönlich könnte mich dazu bringen, einem Sohn des Anubis meinen Namen zu nennen“, knurrte Acco. Seine Ohren waren angelegt, sein Fell gesträubt.

Janina schrie, stolperte rückwärts und landete im Matsch. Das war meine Gelegenheit. Ich sprang ab, dem Vampir direkt auf den Rücken. Während ich fiel fragte ich mich noch, wo Aman abgeblieben war, verdrängte diesen Reden in meinen Geist ganz weit weg und konzentrierte mich auf Luan. Wir krachten zusammen ins Unterholz.

Er gab einen überraschten Laut von sich, rollte mit mir gegen den nächsten Baum, der uns ausbremste. Er versuchte mich dort abzuwerfen, doch ich war schneller, krallte mich mit der einen Pfote an ihm fest und hielt ihm mit der anderen den Dolch unter die Kehle. Sofort wurde er bewegungslos. Meine Schulter brannte. Dreck musste in die Wunde eingedrungen sein. Langsam sollte ich mich mal darum kümmern, aber dafür blieb mir jetzt keine Zeit. Später, nachdem ich hier fertig war. Ich wollte dem Vampir den tödlichen Schnitt versetzen, als eine Frauenstimme schrie.

„NEIN! Lass ihn, geh runter von ihm, du Miststück. Luan, nein … verflucht, lass mich los, ich muss ihm helfen …“

Ein kurzer Seitenblick genügte, um die Situation zu erfassen. Aman hatte Janina geschnappt und wollte sie wegziehen, aber sie wehrte sich mit Händen und Füßen gegen ihn, versuchte alles um sich loszureißen und dem Vampir … zu helfen?

Ich zögerte. Was war hier los? Sie tat so, als würden wir ihr Unrecht tun, dabei wollten wir ihr doch nur helfen. Hatten wir die Situation falsch eingeschätzt? Um mich zu versichern, riss ich ihm die gelbe Haube vom Kopf und zog seinen Kopf nicht sehr sanft an den blonden Haaren in den Nacken, um in seinen Mund zu sehen. Natürlich blieb der Dolch dabei an seinem Hals.

Ein Vampir. Ich hockte auf dem Rücken eines Vampirs. Und sie wollte nicht, dass ich ihn tötete.

„… du Schlampe, werde ich dich bei lebendigem Leibe fressen und …“

Ihre Haube war ihr vom Kopf gerutscht. Darunter hatte sie kurzes rotes Haar. Ein Werfuchs? Ich war dem Glauben verfallen, die gäbe es nicht mehr.

Jetzt war ich mir sicher, dass hier etwas nicht stimmte. Natürlich ließ ich Luan nicht los, aber bevor ich tat was ich tun musste, wollte ich erst mal ein paar Fragen beantwortet haben. „Was hast du mit ihr gemacht?“, zischte ich ihm ins Ohr. „Warum führt sie sich so sonderbar auf?“

„… deine Reste im Atlantik versenken, wo du dann als Fischscheiße enden wirst …“

Und dann sagte er das Einzige, was mich so erschreckte, dass ich völlig bewegungslos nur noch dasitzen konnte, ohne zu wissen, was ich tun sollte. „Sie ist mein Herz.“

Mein Geist stellte sich stumm. Auf so etwas war ich nicht vorbereitet. Das Herz eines anderen zu sein, war das Wertvollste was unsere Welt zu bieten hatte. Wenn es also stimmte, wäre es ein Frevel diese beiden auseinander zu bringen. Aber ein Vampir und ein Lykanthrop? „Du lügst.“

„Nein, ich spreche die Wahrheit. Janina ist mein Herz und sie trägt unser Kind.“

Bamm. Das saß. „Dein …“ Wie war das möglich? Eine Füchsin und ein Vampir? Und noch dazu gab es keine Füchse mehr. Sie waren schon vor Jahrtausenden von Silthrim verschwunden. Was sollte ich nur machen? Ich wusste nicht weiter, war mit diesem Umstand überfordert. „Aman, irgendetwas stimmt hier nicht.“

Er knurrte eine Antwort, die nicht sehr freundlich war.

„Hör mir doch zu, er sagt, sie sei sein Herz.“

„Sein …“ Als hätte er sich die Finger verbrannt, ließ er von Janina ab. Sie stürzte sofort auf mich, aber ein warnendes Fauchen meinerseits und die deutliche Drohung mit dem Dolch an Luans Hals ließ sie auf halbem Weg zu mir verharren.

„Ich werde dich umbringen, wenn du ihm auch nur ein Haar krümmst!“

„Warum?“ Ich war nicht dumm, ich verstand es wirklich nicht.

„Warum? Ist das dein ernst?“, fragte sie fassungslos. „Was du da vorhast ist Mord, das ist verboten! Und du kannst deinen Arsch drauf verwetten, wenn du ihm was tust, wird nicht mal mehr die Polizei dich vor mir retten können!“

Polizei? „Ich verstehe nicht, was du sagst.“

„Willst du mich verarschen?!“, schrie sie mich an. „Was für ein Hinterwäldler bist du denn?“

„Ihr seid aus Silthrim“, hauchte Luan und klang dabei so ehrfürchtig, als stehe Anubis selbst vor ihm. Was ich noch weniger verstand.

„Natürlich sind wir aus Silthrim.“

„Nein, ihr versteht nicht.“ Luan schluckte. Ich spürte die leichte Bewegung über den Dolch. „Ihr seid aus Silthrim, wir nicht. Also sie nicht. Sie ist hier geboren, genau wie ihre Familie, also meine Familie, wir alle, na ja, außer mir. Ich bin aus Silthrim, deswegen weiß ich, dass ihr es auch seid. Aber Janina nicht. Deswegen versteht sie euch nicht und ihr sie nicht. Versteht ihr?“

Die Worte an sich hatte ich verstanden, der Zusammenhang jedoch blieb mir verborgen.

„Sprich deutlich, Vampir“, sagte Aman und sagte das letzte Wort wie ein Schimpfwort.

„Das hier ist die Erde, versteht ihr? Ihr seid nicht mehr auf Silthrim, ihr seid auf einem anderen Planeten.“

 

°°°°°

Kapitel Sechs

Also, es gab nicht viele Dinge die mir die Sprache verschlugen, aber dies schaffte es.

Aman sah genauso ratlos aus wie ich. Ihm entging wohl auch wie wir mit dieser Gegebenheit umgehen sollten. Die ganze Zeit das Sagen haben wollen und nun wo ich einen Rat gebrauchen konnte schwieg er. Soviel zum großen Krieger mit seiner Erfahrung.

„Das kann nicht stimmen.“ Mehr aus Sorge als aus Wut riss ich seinen Kopf nicht allzu sanft in den Nacken. „Sag mir sofort die Wahrheit.“ Eine solche Behauptung war einfach unerhört. Ein anderer Planet? Wie sollte das gehen? Es musste eine Lüge sein, etwas anderes war einfach nicht möglich.

„Das ist die Wahrheit“, keuchte er.

„Nein, ist sie nicht“, grollte Aman. Er sah aus als wollte er töten, nur um diese Unwahrheit zu bestrafen. „Das ist eine Lüge, Sohn des Anubis.“

„Nein, es ist …“

Unvermittelt stürmte Aman auf den Vampir zu und zerrte ihn an seinem Umhang auf die Beine. Mein Dolch rutschte ab und ich roch Blut. Janina schrie und wollte Luan zu Hilfe kommen, aber Acco hielt sie wirksam auf Abstand.

„Und jetzt erzählst du uns die Wahrheit, oder ich werde dafür sorgen, dass dir deine Lügen im Halse stecken bleiben“, drohte der Krieger. „Wo sind wir hier? Und wage es nicht noch einmal, ein falsches Wort an mich zu richten.“ Einen Lykanthropen sollte niemand wütend machen. Er sah aus, als wollte er Luan gleich fressen. Ich hätte ja Angst vor einer Magenverstimmung.

Die Augen des Vampirs waren riesig. Er schluckte, war sich wohl bewusst in was für einer misslichen Lage er sich befand. „Ich sage euch alles, aber vielleicht könntet ihr mich loslassen? Das würde …“

„Nein!“ Das kam von mir und Aman gleichzeitig.

„Okay, wie ihr wollt. Ähm … also, ihr seid hier auf der Erde. Das ist die Wahrheit!“, fügte er schnell hinzu, als ahnte er, dass er Aman damit noch mehr verstimmen würde. „Ihr müsst es nur erkennen. Die Gerüche, der Regen. Es gibt kein Regen in Silthrim.“

„Was ist Regen?“, wollte ich wissen. Das hatte ich mich schon vorhin gefragt.

„Die Wassertropfen, die vom Himmel fallen. Silthrim ist so mit Magie gesättigt, dass er dort nicht gebraucht wird, aber hier auf der Erde ist er lebenswichtig. Hier gibt es ohne Regen kein Leben und …“

„Warte“, unterbrach ich ihn. „Willst du damit sagen, dass es hier keine Magie gibt?“ 

Emsiges Nicken von dem Vampir. „Nicht wie wir sie kennen, oder nur sehr wenig. Die Menschen benötigen sie nicht. Sie haben Elektrizität, geschaffen von riesigen Maschinen, es ist wirklich faszinierend. Ich kann es euch zeigen wenn … also ich meine, nein. Hier gibt es keine Magie wie sie euch vertraut ist.“

„Aber die Götter …“, sagte ich ungläubig.

„Dies ist eine gottlose Welt. Ich meine, ja, auch hier gibt es Gläubige, aber die Wissenschaft hat bewiesen, dass Menschen durch Evolution entstanden sind und nicht durch Mächte.“

Wissenschaft? Was war das nun wieder? „Also ist Evolution ihr Gott?“

„Nein.“ Etwas Frustriertes zeigte sich in Luans Gesicht. „Ihr versteht nicht. Das ist nicht so leicht zu erklären.“ Auf seinem Gesicht war angestrengtes Geistreden zu erkennen. Ich sah ihn nur halb von der Seite, sein blondes nasses Haar. Das Himmelswasser hatte etwas nachgelassen, war erträglicher als vorher. Trotzdem fror ich in meinem Pelz.

„Passt auf. Evolution ist eine biologische Entwicklung und keine Erschaffung. Es ist nicht wie bei uns auf Silthrim.“

„Biologische?“ Ich wurde immer verwirrter. „Was heißt das?“

„Das ist schwer zu erklären.“ Unzufrieden fuhr er sich mit der Hand durchs Haar, ohne dabei eine Rede Im Geist an Amans Griff zu verschwenden. „Ihr würdet es nicht verstehen und wenn ihr …“

„Wie wäre es wenn du mit dem Herumdrucksen aufhören würdest?“, warf Janina ein. „Diese Geistesgestörten verstehen es doch sowieso nicht.“

Er sah sie auf eine Art an, die Galle in den Hals trieb. Vielleicht hatte er uns belogen. Ganz sicher sogar, denn es war kaum zu glauben, was er erzählte, aber bei einer Sache war ich mir sehr sicher, dass er die Wahrheit gesprochen hatte. Sie war sein Herz.

„Sei nicht unfair, meine Liebe. Sie wollen es nur verstehen. Mir ging es nicht anders, als ich damals auf die Erde geschleudert wurde.“ Er warf einen kurzen Blick auf Aman. „Aber im Gegensatz zu mir haben sie jemanden, der es ihnen erklärt.“

„Die Glücklichen“, spottete Janina und verschränkte abweisend die Arme vor der Brust. Acco stand ihr immer noch im Weg und wurde von ihr misstrauisch beobachtet.

„Ja, sie können sich glücklich schätzen.“ Seine Augen zuckten zu mir. „Darf ich eine Frage stellen?“

Warum wandte er sich damit an mich? Glaubte er, ich sei nicht so gefährlich wie der große Krieger, der ihn noch immer am Kragen gepackt hielt? Er sollte gut auf sich achtgeben.

„Bitte?“

Ich und Aman tauschten einen kurzen Blick. Dann fragte er mit Argwohn: „Was möchtest du wissen?“

„Wie seid ihr hier her gekommen?“

„Durch das Portal.“ Die Erinnerungen die bei dieser Frage auf mich einstürzten, hoben meine Stimmung nicht gerade.

Luans Augen wurden groß. „Natürlich. Ein Angriff. Ihr seid mit Sachmets Volk aneinander geraten. Das Portal.“ Er wurde ganz aufgeregt. „Das ist genau wie damals. Ein Zauber, der auf das Portal getroffen ist. Ihr seid eingesogen worden und …“

Amans Griff wurde fester. „Du hattest damit zu tun?“

„Nein, nein.“ Seine Hände packten die von Aman, damit der nicht fester zudrücken konnte. „So meine ich das nicht. Mir ist das auch passiert. Wir haben damals Seths Tempel angegriffen, zusammen mit den Magiern. Sie wollten durch das Portal fliehen, also die Lykaner, nicht die Magier. Sie wollten Seths Macht in Sicherheit bringen. Da haben ein paar Hexen versucht, es zu versiegeln. Etwas ist dabei schief gegangen und plötzlich sog uns ein Wirbelsturm auf, der uns hineinriss und auf die Erde warf. Das war vor fast dreihundert Jahren.“

Dreihundert? Ich hasste Vampire wirklich. Wäre Luan ein Ailuranthrop, würde ich ihn mit seinen feinen glatten Zügen nicht älter als fünfundzwanzig schätzen, aber bei Anubis Kindern wusste ich nie, woran ich war.

„Du hast mein Volk angegriffen?“, grollte Aman und schlagartig begann Luan zu röcheln. Er wollte ihn erwürgen. Das konnte ich nicht zulassen. Natürlich, eben noch wollte ich ihm noch die Kehle durchschneiden, aber etwas an Luans Ton hatte mich ihm glauben lassen. Seine Worte konnten nicht gelogen sein. Ich wusste nicht was, doch wie er erzählte, so spürte ich, dass er die Wahrheit sprach. Irgendwie. Auch wenn ich das mit dem anderen Planeten noch nicht ganz in meinem Geist unterbringen konnte. Aber egal. Ich glaubte, dass wir Luan noch brauchten und so konnte ich nicht zulassen, dass Aman ihn erwürgte.

Ich ließ den Dolch fallen und stieß Aman weg. Er war von dem Angriff meinerseits so überrascht, dass er rückwärts stolperte und bevor er sich wieder auf den Vampir stürzen konnte, schob ich mich dazwischen.

„Was in Seth Namen machst du da?“, grollte er mit angelegten Ohren. Sein Fell sträubte sich und ließ ihn noch größer erscheinen. Als wenn er das nötig hätte.

„Du kannst ihn nicht töten.“ Noch nicht zumindest.

„Das kann ich und das werde ich.“ Seine Stimme war nur noch ein Knurren.

„Was ist, wenn er die Wahrheit spricht?“

„Du glaubst ihm?“, fragte er zweifelnd. „Er ist ein Vampir. Er lügt um die eigene Haut zu retten.“

„Und was ist mit dem Himmelswasser? Oder dem großem Ding auf der Steinplatte mit den weißen Streifen? Er hat es benutzt. Oder die seltsamen gelben Umhänge. Hast du so etwas schon jemals gesehen? Genauso die seltsame Kleidung, die sie darunter tragen.“

Er schwieg.

„Und was ist mit ihr?“ Klauenzeig auf Janina. „Wie erklärst du dir, dass sie bei ihm ist? Dass sie uns häuten will, weil wir ihn angegriffen haben?“ Ich glaubte es nicht. Da stand ich und verteidigte einen Vampir. Oh Göttin, welcher Geist war nur über mich gekommen?

Der Blick den Aman auf die Füchsin warf war so hasserfüllt, als wolle er sie meucheln. „Eine Verräterin an unserem Gott. Ein Schwurbrecher.“

Diese schweren Anschuldigungen zeigten keinerlei Wirkung auf Janina. Was mehr als seltsam war. Mir klappte fast die Schnauze auf. Würde mich jemand als Schwurbrecher bezeichnen, ich würde ihm die Zunge rausreißen. Sie dagegen stand nur abwartend da und ließ die Situation keinen Moment aus den Augen.

„Nein, das ist sie nicht“, meldete sich Luan zu Wort. „Sie ist hier auf der Erde geboren. Sie versteht nichts von der Götterwelt auf Silthrim. Sie ist eine Unwissende, hat …“

„Hey, wenn nennst du hier unwissend.“

„… kein Bewusstsein für die Bedeutung unserer Zuneigung. Hier auf der Erde gibt es nur wenige magische Geschöpfe. Ich weiß von vier, euch nicht mitgezählt und sie alle leben zusammen. Wir sind eine Gemeinschaft. Nur so haben wir überlebt. Der klägliche Rest von uns.“ Ein freudloses Lachen. „Die Menschen haben kein Verständnis für uns. Sie wissen nichts von unseren Fähigkeiten, noch das wir existieren.“ Er sah an mir vorbei zu Aman. Einen Vampir im Rücken zu haben war für meine Nerven ein Geduldsspiel. „Das ist auch der Grund warum wir jetzt hier sind. Pascal, ein Magier der mit uns zusammen auf dem Hof lebt, hat heute in der ganzen Stadt seltsame magische Schwankungen wahrgenommen. Starke Magie. Etwas, wie es ihm noch nie untergekommen ist. Deswegen haben wir uns auf den Weg gemacht. Wir glaubten erst, es sei ein andere Magier, oder eine Hexe, sind dann aber auf euch beide gestoßen.“

„Du meinst wohl drei“, sagte Janina mit Blick auf Acco.

„Natürlich. Drei.“ Er schenkte dem Wildhund ein Lächeln, das dieser ignorierte. „Wir sind hier um zu helfen, nicht um zu kämpfen. Auf der Erde ist es nicht wie auf Silthrim. Hier sind wir keine Feinde, hier sind wir alle Freunde, äh, ich meine Amicus.“

Aman schnaubte. Dem konnte ich mich nur anschließen. Dass sie uns nicht sofort angegriffen hatten, machte sie noch lange nicht zu Verbündeten. Von Amicus ganz zu schweigen.

„Wir sind nur hier um zu helfen“, wiederholte er. „Mein Ehrenwort darauf.“

„Als würden wir dem Ehrenwort eines Vampirs vertrauen“, höhnte ich.

„Und was, wenn ich euch mein Ehrenwort gebe?“, fragte Janina.

„Das Wort einer Schwurbrecherin hat kein Gewicht“, knurrte Aman.

Dann verfielen wir alle in Schweigen. Es war offenkundig, dass nur Argwohn und Misstrauen unter uns wallte. Denn mal ehrlich, was sie da sprachen, war schwer zu glauben. Andererseits würde es eine ganze Menge erklären. Der schmutzige Geruch, der unbekannte Baum, der Regen, wie sie es nannten. Und das war nur ein Teil von den Dingen, die ich in der kurzen Zeit wahrgenommen hatte. Wer wusste schon, was ich zu Gesicht bekommen würde, wenn ich diesen Wald verließe.

Aber das wollte ich gar nicht. Ich wollte nach Hause, musste nach Hause, musste wissen, was dort passiert war. Einen so beunruhigenden Angriff hatten wir schon lange nicht mehr gehabt. Solche Angriffe kannte ich nur aus Geschichten. Zu meiner Zeit war kein anderes Volk bis an den Tempel vorgedrungen, da weitgehend Frieden herrschte. Priesterin Tias Worte von heute Abend kamen mir wieder in den Sinn Nicht alle sind uns wohl gesonnen. Aber galt das nur für Silthrim, oder auch für die Erde? Stimmte es überhaupt was Luan da behauptete, oder wurde ich gerade ein Opfer seiner List? Ich wusste es nicht. Oh Bastet, gib mir ein Zeichen, was soll ich glauben, was soll ich tun?

„Deine Schulter sollte versorgt werden“, kam es leise von dem Vampir.

Ich brauchte einen Moment um mir klar zu werden, dass Luan mit mir sprach. Ich wandte mich ihm zu. Er selber bot auch kein sehr gutes Bild. Die Wunde an seinem Hals hatte sich zwar fast geschlossen, aber noch klebte Blut an Haut und Kleidung. Und Dreck vom Boden, als ich ihn angesprungen hatte.

„Wir haben bei uns auf dem Hof einen Arzt, der kann sich das ansehen“, sagte er weiter.

„Arzt?“  Was war das nun wieder?

„Ähm, einen Heiler.“

„John?“ Janina hörte sich ungläubig an. „Du kannst ihn nicht mit in die Sache hineinziehen. Er weiß nicht von dieser ganzen Scheiße und Gran will auch nicht, dass er …“

„Sie brauchen Hilfe. Und sie werden uns schon nicht preisgeben.“

„Sie haben einen sprechenden Hund!“, sagte sie mit einem anklagenden Blick auf Acco.

„Ich bin kein Hund“, gab dieser beleidigt zurück.

„Er hat Recht“, stimmte Luan zu. „Er ist ein Sermo. Das Geleit eines jeden Kriegers, das Zeichen für seinen Stand.“

Janina spitzte die Lippen. „Ist mir egal wie man das Teil nennt. Gran wird uns den Kopf abreißen, wenn wir John mit in die Sache hineinziehen.“

So ging es zwischen ihnen hin und her. Manche Ausdrucksweisen, die sie sagten, verstand ich zwar nicht, aber grundsätzlich begriff ich, worum es ging. Sie hatten einen Heiler der nicht wusste wer sie waren und sie wollten dass das so bliebe.

Noch während ich dem Gespräch folgte, sah ich aus dem Augenwinkel, wie Aman sich langsam und heimlich  in den Wald zurückzog.

Mein Kopf fuhr zu ihm herum. „Wo gehst du hin?“

Diese einfache Frage von mir brachte das Wortgefecht der beiden zum Erliegen und Aman zum Stehen. Für einen kurzen Zeitpunkt blieb er still, sah mich einfach nur an. Ein befremdliches Kribbeln überlief meinen Rücken.

„Ich werde nicht mit ihnen gehen“, sagte er klar und deutlich.

„Und dann gehst du einfach fort? Ohne mich?“ Ich konnte es kaum glauben, er wollte mich einfach so zurücklassen. Oh Göttin, warum musstest du mich mit diesem Krieger an diesen fremden Ort schicken?

Amans Blick verfinsterte sich. „Es schien mir, als hättest du dich bereits entschieden ihnen zu folgen. Du hast ihn geschützt.“ Seine Stimme wurde zu einem Knurren. „Vor mir.“

„Weil wir ihn brauchen.“ Verstand er das denn nicht? Er musste doch mitbekommen haben, in welch prekärer Situation wir uns befanden.

„Ich nicht.“

Das glaubte ich einfach nicht. Erst wollte er die ganze Zeit über mich bestimmen und jetzt wollte er sich einfach still davon machen, mich einfach hier stehen lassen. „Warst du schon immer ein solcher Steinkopf?“, giftete ich. „Oder bist du bei der Landung zu hart auf dem Boden angekommen?“

„Er war schon immer so“, antwortete Acco, sehr zum Missfallen seines Leiters.

„Ich mache euch einen Vorschlag“, sagte Luan ins aufkommende Schweigen. „Janina und ich werden zu unserem Auto zurückgehen und dort ein Weilchen warten. Ihr könnt euch bereden und entscheiden, ob ihr unsere Hilfe annehmen wollt. Dann kommt ihr einfach dahin.“

Ich runzelte die Stirn. „Was ist ein Auto?“

„Wisst ihr denn überhaupt nichts?“ Ein leicht genervter Ton schwang in Janinas Stimme mit. „Das große Ding, mit dem wir hierher gefahren sind. Du weißt schon, das auf Steinplatte mit den weißen Streifen. Verstanden, oder soll ich dir noch ein Bild malen?“

Jetzt war es an mir finster zu gucken. „Ich bin ja nicht dumm.“

„Da bin ich mir nicht so sicher.“ Sie drehte sich schon um, während sie es noch sagte.

Und genau das war der Grund warum ich Lykanthropen nicht mochte. Sie waren so überheblich, anmaßend und kleinlich. Da keiner sie aufhielt, schloss Luan sich ihr an. Mit einem aufmunternden Lächeln zu mir folgte er ihr und verschwand kurz darauf zwischen den Stämmen.

Aman sah mich nur abwartend an, während ich noch meine Reden im Geist ordnete. Ich war mir immer noch nicht völlig sicher, ob sie die Wahrheit gesagt hatten. Wenn es wirklich stimmte, dann brauchten wir sie. In einem anderen Land konnte ich überleben. Das gehörte zu unserer Lehre. Wenn wir fünfzehn wurden, setzten unsere Magister uns einfach in der Wildnis aus, in der wir zehn Tage allein überleben mussten. Aber nicht in unserem vertrauten Revier. Nein, sie übergaben uns in die Obhut eines anderen Landes. Meist Nymph oder Ellan. In Silthrim kam ich zurecht, dort wusste ich, was mich zu erwarten hatte, aber wenn Luan nun doch nicht gelogen hatte, befand ich mich nicht nur in einem anderen Land, sondern auf einem anderen Planeten. Ohne Magie. Damit stellten sich neue Regeln für mich auf. Ich wusste nicht, wie ich es hier schaffen sollte. Vielleicht war es genauso wie mein Zuhause, doch wenn nicht, hatten wir ein Problem.

Ich sah zu Aman. „Was machen wir nun?“

„Ich weiß nicht, was du tun wirst, aber ich werde nicht mit einer Verräterin gehen.“

Also das war es, was es ihm so schwer machte. Nicht sich in die Obhut des Feindes zu begeben, sondern der Verrat an seinem Gott. „Und was ist, wenn es stimmt was sie sagen? Wenn wir nicht mehr auf Silthrim sind?“

„Eine Lüge, um uns in die Irre zu führen.“

„Und wenn nicht?“, beharrte ich.

Seine Hände öffneten und schlossen sich. Die Stirn tief in Falten gelegt, sah er von mir auf den Boden, in die Richtung in der Luan und Janina verschwunden waren und wieder zurück zu mir. Er kniff die Lippen zusammen, fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht, um sie dann wieder fallen zu lassen. „Wenn es wirklich stimmt, was sie sagen – was ich nicht glaube –, dann könnten sich daraus Schwierigkeiten ergeben.“

„Und sie können uns helfen. Was würde es uns schon kosten, außer etwas Zeit? Die beiden sind keine Gegner für uns.“

„Es könnte ein Trick sein, eine Falle.“

„Oder auch nicht“, hielt ich dagegen. „Und wenn wir sie jetzt gehen lassen, haben wir unsere einzige Möglichkeit auf Unterstützung vertan.“

Ich konnte richtig sehen, wie seine Überzeugung ins Schwanken geriet. Er war unschlüssig. Es brauchte nur noch ein kleinen bisschen mehr und – ob es nun richtig war oder nicht – wir würden sie begleiten.

„Acco“, wandte ich mich an den Sermo. „Was denkst du denn?“

„Das die Füchsin unfreundlich ist.“

Ich hatte immer geglaubt, dass Eno der besserwisserischste Sermo war den es gab. Ich hatte mich geirrt. „Das war nicht meine Frage und das weißt du auch.“

Acco sah Aman fest in die Augen. „Ich traue ihnen nicht.“ Er legte die Ohren an, als er die nächsten Worte widerwillig von sich gab. „Aber ich glaube ihnen.“

Damit war es entschieden.

 

°°°°°

Kapitel Sieben

Dieses Gefährt, dieses Auto, wie sie es nannten, war noch unheimlicher wenn man erst einmal darin saß. Es war laut, stank, vibrierte und von der Fahrt wurde mir schlecht.

„Kotz mir ja nicht auf die Polster, sonst muss ich dir den Hals umdrehen“, warnte Janina mich. „Ich habe ihn gerade erst säubern lassen.“

„Ich versuche mein Bestes.“ Nur wollte mein Magen da nicht so ganz mitspielen. Jeder Bissen den ich heute zu mir genommen hatte, schien ein Eigenleben zu entwickeln und sich gegen mich zu verschwören.

Luan warf  mir von Vorn einem mitfühlenden Blick zu. „Mach das Fenster auf. Etwas Frischluft wird sicher helfen.“

Wenn ich nun eine Ahnung hätte wie das ginge, würde ich es vielleicht sogar tun, aber dieses Fenster hatte keinen Griff. Es war einfach in der Tür drinnen. Sollte ich es einschlagen? Dann wäre definitiv offen, nur konnte ich mir nicht vorstellen, dass es unseren Gastgebern so recht wäre.

Janina bemerkte mein Problem. Plötzlich gab das Glas ein summendes Geräusch von sich und fuhr in die Tür hinein – ganz von allein! Ich erschrak so sehr, dass ich fast auf Amans Schoss sprang. Nur leider lag Acco zwischen uns. Dem ging es bei dieser Fahrt auch nicht so gut. Meine Schulter begann heftiger zu pochen. Nur Aman hatte eine ungerührte Miene, ließ Luan und Janina vor uns nicht aus den Augen. Er traute ihnen nicht ein Schnurrhaar breit.

„Jetzt mach dir mal nicht gleich ins Hemd“, kam es von Janina, während sie an dem großen Rad vor sich drehte. „Das war ich. Elektrische Fensterheber. Serienmäßig. Es sah so aus, als könntest du etwas Hilfe gebrauchen.“

„Was ist das? Elektrische?“ Ich beugte mich näher an das offene Fenster und sog die Luft in die Lungen. Sofort ging es mir ein klein wenig besser, aber wirklich glücklich wäre ich wahrscheinlich erst, wenn ich dieses Vehikel verlassen konnte. Oh Göttin, gib mir Kraft.

Von Janina kam nur ein genervtes Stöhnen, während Luan sich geduldig bemühte meine Frage zu beantworten. „Elektrizität. Es ist etwas … wie soll ich sagen … man könnte es mit Magie vergleichen. Ja, es ist die Magie der Menschen.“

„Du sagtest Menschen können keine Magie wirken“, grollte Aman. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen und seine Hand zuckte, als wolle er damit nach dem Dolch an seiner Hüfte greifen. Ihn in dieses Auto mit dem Feind und dem Schwurbrecher zu bekommen, war wohl das Schwerste an diesem Tag gewesen. Er traute niemanden, auch nicht mir. Würde dieses Gefühl nicht auf Gegenseitigkeit beruhen, hätte ich mich vielleicht gekränkt gefühlt.

Etwas summte und Luan zog das kleine, schwarze Kästchen unter seinem Umhang hervor. „Es ist ja auch keine echte Magie. Nicht wirklich.“ Sein Finger tippte auf dem Kästchen herum, der Blick war konzentriert. Dabei redete er einfach weiter. „Es ist ein wenig schwer es zu erklären, dazu müsstet ihr euch mit Physik auskennen und …“

Mein Geist schaltete sich ab, als ich einen Blick aus dem Fenster warf. Sofort war ich gebannt von dem was ich sah. Selbst die leichte Übelkeit rückte in den Hintergrund. Bisher hatte ich eher auf das geachtet, was hier drin vor sich ging, die Hand für den Notfall auf Amans Dolch, den ich wieder von Waldboden aufgelesen und in meinen Gürtel gesteckt hatte – sicher war sicher. Janina hatte darauf bestanden, dass wir uns vor dem Einsteigen in unser humanes Ich verwandelten und so war das meine einzige Waffe. Aber jetzt war der Dolch und der Wald und alles andere vergessen. Wir fuhren durch eine Stadt. Ein riesiger Ort, wie er mir noch nie vor die Augen gekommen war. Mit Häusern, die alles bisher Gekannte in den Schatten stellten. Groß wie Berge, als wollten sie den Himmel berühren, um den Göttern näher sein zu können.

Ich hatte schon Städte gesehen, sie waren alle groß, voll und laut, doch keine war wie diese. Der gesamte Boden war aus Stein und die Wohnstätten überragten selbst den höchsten Baum. Sie sahen ganz anders aus wie unsere. Manche verkommen, andere glänzend, mit so vielen Fenstern, dass ich sie gar nicht zu zählen vermochte. Es gab nur wenig Bäume und Pflanzen, alles war aus Stein und es waren so viele Wesen unterwegs, wie ich sie noch nie auf einem Haufen erblickt hatte. Männer und Frauen, Junge und Alte. Allein, in Familien, oder in Gruppen. So viele. Und der Geruch erinnerte mich an Wesen aus Silthrim. Es war aber nur ein Hauch von dem, was ich kannte. Ein kleiner Teil, der in jedem von uns steckte. Es war der menschliche Teil, aber es schien etwas zu Fehlen.  Es war so anders.

Und überall standen lange Pfähle, die oben gebogen waren und dort leuchtend sie die Nacht erhellten. Auch andere Lichter sah ich. Sie hingen immer halb über die Straßen. Grüne, gelbe und rote Lichter blinkten dort abwechselnd. Auch hier war die lange Steinplatte bemalt. Und noch immer war das Ende nicht in Sicht. Sie schien unendlich lang zu sein.  Wie nur war es möglich so etwas ohne Magie zu schaffen? Ich wusste nicht mal, ob es mit Magie möglich war.

Der Wagen wurde langsamer und hielt vor einem roten Licht. Es gab hier so viele Häuser, dass sie sich dicht an dicht drängten, um genug Platz zu haben. Unten waren große Fenster mit allerlei Kram, von dem vieles mir unbekannt war. Leuchtende Schriftzüge waren darüber angebracht. Diese Kunst war beeindruckend. WOOLWORTH stand dort in Rot. Daneben Peek&Cloppenburg. Die Wesen der Erde schlenderten in der heranbrechenden Nacht daran vorbei, oder blieben kurz stehen, um sich die Auslagen anzusehen.

Ich hörte eine Gruppe Frauen laut lachen, murmelnde Unterhaltungen. Alles war so laut, dass es als ein einziges Rauschen an meine Ohren drang. Aber bei all den Lebewesen, die dort draußen lebten, sah ich kaum Tiere. Bei uns im Tempel, oder in den Dörfern war es sehr ausgeglichen, hier nicht. Fast alles lief auf zwei Beinen. Und überall waren diese röhrenden Autos. Farbe und Größe waren so unterschiedlich, dass es keines von ihnen zweimal zu geben schien.

Das Licht wechselte auf Gelb und dann auf Grün und Janina wies das Auto an, sich wieder in Bewegung zu setzen. Schnell wie ein Armentum waren wir dabei. Es war das erste Mal, dass mir etwas unter kam, dass es mit der Geschwindigkeit unseres Geleits aufnehmen konnte. Und es machte mir Sorge. Wir hatten durch unsere Schnelligkeit anderen Völkern gegenüber einen Vorteil. Hier nicht. Was, wenn so etwas jemals nach Silthrim kam? Wenn die anderen Völker sich ein solches Vehikel zunutze machten? Ich wollte meine Reden im Geist lieber nicht darauf lenken.

Es gab für mich so viel zu sehen, dass ich kaum bemerkte, wie die Zeit verging. Je weiter wir kamen, desto kleiner wurden die Häuser. Und die Natur begann sich durchzusetzen, bis dann keine Häuser mehr blieben. Auch die Menschen verschwanden immer weiter. Sie wurden immer weniger, bis ich keine mehr sah. Und die ganzen Lichter. Plötzlich kam mir alles so ruhig vor. Nur noch Bäume und unendliche Felder in der Abenddämmerung. Ein rötlich violetter Schimmer, der sich langsam ins Dunkelblaue zog. Die Nacht kam unaufhaltsam und still über uns.

Die Umgebung änderte sich weiter. Immer weniger Bäume und dafür immer mehr Felder. Hier roch es anders als an der Stelle, an der uns das Portal entlassen hatte und es gab weitaus weniger Bäume, war aber genauso einsam.

„Gleich sind wir da“, sagte Luan in die Stille hinein. Das Kästchen war wieder in seinem gelben Umhang verschwunden. Was das wohl war? „Das ist ja so aufregend. Ihr müsst mir unbedingt erzählen, was sich in den letzten dreihundert Jahren in Silthrim ereignet hat. Der Krieg scheint ja noch immer  nicht geendet zu haben und …“

„Moment“, unterbrach ich ihn. „Der Krieg ist schon vor mehr als sieben Millennien beendet worden.“

Luans Kopf fuhr so schnell zu mir herum, dass ich seinen Nacken knacken hörte.

Aman neben mir spannte sich an. Wieder zuckten seine Finger, aber ansonsten verhielt er sich ruhig.

Die Augen des Vampirs waren vor Überraschung geweitet. „Was? Aber das ist nicht möglich“, sagte er fassungslos.

„Doch.“ Das wusste ich mit Sicherheit. Auf Silthrim hatte es nur einen Krieg gegeben, den großen Krieg und den hatte ich, Bastet sei es vergolten, niemals am eigenen Leib zu spüren bekommen.

„Aber … als ich auf die Erde kam … wie sollte … sieben Millennien sagst du?“

Ich nickte.

Seine Stirn legte sich in Falten. „Das ist nicht möglich, außer … welches Jahr herrscht auf Silthrim?“

„Das 627 Jahr im 473 Millennium.“

Luans Augen wurden noch größer. Sie schienen fast aus den Augenhöhlen treten zu wollen. „473 sagst du? Aber das würde ja bedeuten … wie soll das möglich sein? Es waren nur dreihundert Jahre …“

Da ich glaubte, dass er mehr zu sich selbst sprach, als zu mir, sah ich wieder aus dem Fenster. Janina bog von der Steinplatte runter und bewegte das Auto über einen breiten Sandweg auf ein eingezäuntes Gelände. Der Geruch in der Luft änderte sich schlagartig. Er war immer noch dreckig, aber hier waren deutliche Spuren von Tier enthalten. Er erinnerte mich an die Ställe bei uns auf dem Tempelgelände. Schweine, Rinder und Pferde. Vieh.

Auch Hunde konnte ich riechen, aber keine Katzen. Mein Blick glitt neugierig über ein großes Gebäude aus Holz, in dem mehrere Fenster erleuchtet waren. Ich konnte eine Weide sehen, auf der Pferde grasten, einen Stall, der sich an einer Koppel anlehnte und noch ein paar kleine Wirtschaftsgebäude. Und noch etwas fiel mir auf, hier schien alles sehr mit der Natur zu verschmelzen. Kein Boden aus Stein, keine Häuser, die die Füße der Götter kitzelten. „Wo sind wir hier?“, fragte ich neugierig.

„Auf dem Bauernhof meiner Gran, falls du weißt was das bedeutet.“ Janina bewegte das Auto vor das große Gebäude mit den beleuchteten Fenstern und ließ es Einschlafen. Es war aus Holz, wie die anderen auch, ähnelte ihnen sehr, war aber nicht so verkommen. Das Dach war schräg, Davor waren Beete mit Blumen angelegt woren und gaben einen betörenden Duft ab. Kleine Büsche mit Blüten, die mir unbekannt waren.

Immer weniger glaubte ich daran, das Luan uns belogen hatte. Es gab einfach zu viele unbekannte Dinge, zu viele Beweise, die seine Aussage unterstützen. Und trotzdem waren diese Geistreden so abwegig, dass ich es noch immer nicht richtig glauben konnte, auch wenn die Beweise direkt vor meiner Nase lagen.

Aus einem Gebäude, abseits, konnte ich die vertrauten Geräusche von Vieh vernehmen, so wie daheim in meinem Dorf. „Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen“, sagte ich abwesend und suchte die Ähnlichkeiten zu dem Ort, den ich mein Zuhause nannte, aber da waren kaum welche. Der Geruch ein wenig, das war auch schon alles. Die Gerüche waren alle irgendwie ähnlich, fast gleich, aber nie ganz.

Dieses Mal hatte ich Janina wohl überrascht. Sie warf mir einen schnellen Blick zu, bevor sie die Tür mit dem eingelassenen Glas öffnete. „Aussteigen, wir sind da.“

 

°°°

 

Die Nacht umgab uns wie ein schützender Kokon. Mit Janina an der Spitze gingen wir zu dem Wohnhaus. Die Stufen zur Veranda knarrten unter unserem Gewicht. Kaum hatten wir sie betreten, leuchtete ein Licht über uns auf, ganz plötzlich.

„Bewegungsmelder“, sagte Luan und lächelte.

Was war das nun wieder?

Aman wurde mit jedem Schritt angespannter und auch Acco war auf der Hut. Ich dagegen hatte meine Vorsicht völlig fallen gelassen. Diese ganze Welt machte mich so neugierig, dass ich keine Reden im Geist an mögliche Gefahren verwendete. Es war alles so neu, so interessant.

Janina zog etwas Klimperndes aus ihrer Tasche.

„Schlüssel“, erklärte Luan, als er meinen interessierten Blick bemerkte.

Janina zog eine Augenbraue hoch. „Soll das heißen, dass ihr auf eurem Planeten keine Schlüssel kennt?“

Luan schüttelt den Kopf. „Nein, meine Liebe. Da auf Silthrim Macht und Magie vorherrschen, hätten Schlüssel und Schlösser keinen großen Sinn. Dort weiß man sich anders zu helfen.“

„Oh Mann, ihr seid mir schon ein Völkchen.“ Kopfschüttelnd steckte sie den Schlüssel in ein Loch in der Tür und drehte ihn eine halbe Drehung herum. Ein leises Klicken folgte, dann drückte Janina die Tür auf.

Wohlige Wärme strömte mir entgegen. An diesem Ort war es so kalt, dass ich alle Vorsicht fallen ließ und hinter Luan einfach ins Haus schlüpfte. In Ailuran war es immer warm und wenn die Nacht kam, schützte mich mein Fell. Aber hier durfte ich mich laut Janina nicht verwandeln.

„Ey, der Flohsack bleibt aber draußen!“

Bei Janinas Stimmer wandte ich mich um. Sie hatte sich vor der Tür aufgebaut und verweigerte Acco den Zutritt. Er knurrte, sie knurrte zurück. Es glich mehr dem Fauchen einer Füchsin, die ihren Bau gegen einen Eindringling verteidigte.

Luan legte ihr eine Hand auf den Rücken. Aman wurde so starr, als wollte er zu Stein werden. Nein, diese Sache zwischen den beiden gefiel ihm ganz und gar nicht.

„Janina, Liebes. Sie sind unsere Gäste“, sagte der Vampir sanft.

„Bei ihm okay.“ Fingerzeig auf Aman. „Ich lasse sogar die Katze rein, aber das ist ein Hund und Hunde gehören in den Hof, nicht ins Haus.“

„Ich bin kein Hund“, grollte Acco.

„Er ist ein Sermo“, erklärte Luan ihr. „Auf Silthrim haben sie den gleichen Stellenwert, wie alle anderen Wesen. Er ist kein Tier im eigentlichen Sinne, wie du sie kennst. Er ist ein denkendes Wesen.“

„Affen denken auch, deswegen lasse ich sie noch lange nicht ins Haus.“ Sie schwieg einen Moment. „Von Pascal mal abgesehen.“

Luan blickte sie nur abwartend an.

Stöhnend gab sie sich geschlagen. „Okay, meinetwegen. Ich hoffe nur er ist Stubenrein, weil wenn der mir auf den Teppich strullert, ziehe ich ihm das Fell ab und benutze ihn als Bettvorleger.“

Ich konnte einfach nicht anders, ich musste fragen: „Was bedeutet das, strullert?“

„Pinkeln, urinieren, pissen, ´nen Strahl in die Ecke stellen, für kleine Jungs gehen, ´ne Pfütze machen. Frage beantwortet, oder soll ich dir vielleicht noch eine Zeichnung machen?“

Darauf etwas zu erwidern, war unter meiner Würde. So verschränkte ich schweigend die Arme. Zwar hatte ich nicht alles verstanden, aber im Grunde war klar was sie sagte. Und auch, dass sie mich für blöd hielt.

„Und jetzt macht endlich die Tür zu, bevor die Schweinekälte rein zieht.“

Ich wusste es besser, wusste, dass es sie wieder nur ärgern würde, konnte mich aber einfach nicht zurück halten. „Was hat die Kälte mit Schweinen zu tun?“

Janina verdrehte die Augen und ging weiter ins Haus. Schmunzelnd folgte ihr Luan und gab uns ein Zeichen es ihnen gleich zu tun.

Von einer Art länglichem Vorraum, der komplett aus Holz war, mit lebensechten Bildern an den Wänden und einem schmalen Schrank, brachten sie uns in den Hauptraum. Große, bodenlange Fenster säumten eine ganze Wand. Es machte den Eindruck einer Wand aus Glas. Davor stand eine große Sitzgelegenheit, die Ähnlichkeit mit einer Chaiselongue hatte. Nur war diese viel länger, zu einem L geformt, mit einem Glastisch davor.

Eine ganze Wand wurde von einem Schrank eingenommen, wie ich ihn so noch nie gesehen hatte. Offene Regal, dazwischen geschlossene Fächer und immer wieder Glas. Er stand voll von Dingen die ich so nicht kannte. Auch Bilder. Auf manchen erkannte ich Janina und Luan. Viele der anderen waren mir unbekannt. Vasen, Bücher und anderer Kleinkram. Der Boden war mit einem Fell überzogen. Das fand ich seltsam. Aber nicht nur das. Auch die Wände hatte ich so noch nie gesehen.

Ich strich mit der Hand darüber. Rau und doch vertraut. „Warum beklebt ihr eure Wände mit Papier?“

„Weil es billig ist“, sagte Janina. Sie stand in der zweiten Tür dieses Raumes und wartete ungeduldig. Ich war mir sicher, dass es ihr nicht gefiel uns hier zu haben. Sie kam mir die ganze Zeit schon ziemlich gereizt vor, aber seit wir das Haus betreten hatten wirkte sie auch noch feindlicher.

Luan dagegen schien die Ruhe selbst. „Am besten wir kümmern uns erst mal um deine Schulter … ähm, wie war dein Name noch gleich? Ich vergesse so etwas immer schnell.“

„Lilith.“

„Lilith. Ein schöner Name. Also, Janina zeigt dir das Bad und ich mache uns in der Zeit einen kleinen Happen. Dann setzten wir uns zusammen und können reden.“ Er wandte sich an Aman. „Du kannst mir Gesellschaft leisten, wenn du willst, oder einfach hier …“

„Ich bleibe bei Lilith.“ Dabei zog er ein Gesicht, das keinen Widerspruch zuließ.

Eigentlich brauchte ich keinen Aufpasser, besonders keinen wie ihn, aber dass er bei mir blieb gab mir etwas Sicherheit. Auch wenn ich ihn nicht kannte, war er doch das Einzige, was mir vertraut war. Er roch nach Zuhause, nach Silthrim.

 

°°°

 

Janina führte uns durch die zweite Tür in einen weiteren langen, schmalen Raum, ganz und gar aus Holz, von dem mehrere Räume abgingen. Am Ende entdeckte ich eine Treppe, aber soweit brachte sie uns gar nicht. Eine Tür davor hielt sie und öffnete ein Zimmer das so klein war, dass ich es für eine Abstellkammer hielt.

Sie machte Licht und erklärte. „Das Bad. Waschbecken, Badewanne, Klo.“ Sie deutete auf die einzelnen Dinge. Dann sah sie sich zu uns um. „Oh bitte, sagt mir, dass ihr wisst was ein Klo ist.“

 „Das Wort ist mir nicht bekannt“, sagte ich, „aber ich glaube, ich weiß wozu es dient.“ Das schloss ich zumindest aus der Form des Klos, wenn Aborte bei uns auch ein wenig anders aussahen. Dann sah ich zur Badewanne. „Die ist aber ziemlich klein. Da passt kaum ein Einzelner rein. Unsere Badebecken sind viel größer.“ Mussten ja auch eine Menge Geschöpfe reinpassen.

Der Boden unter meinen bloßen Füßen fühlte sich glatt und kalt an. Ähnlich wie der Marmor im Tigersaal, doch irgendwie auch anders. Auch die Wände waren ähnlich überzogen. Und Fenster gab es hier nur ein ganz kleines.

„Die ist nicht klein, die ist gemütlich“, ließ die Füchsin mich wissen. „Und wenn du nicht vorhast, ein Gang Bang zu veranstalten, dann reicht die völlig aus.“

„Was ist ein …“

„Nennen wir es Gruppenbad“, unterbrach sie mich, bevor ich zu Ende gesprochen hatte. Das verstand ich nicht. Gruppenbäder waren bei uns etwas ganz normales. So pflegten wir unsere Kontakte. Mit meiner Familie und meinen Amicus ging ich immer gerne ins Badehaus. Auf mein Stirnrunzeln hin fragte sie: „Was ist jetzt noch?“

 „Du sprichst davon als sei es verwerflich.“

Gemächlich schob Acco sich in das Bad, ließ seinen Blick einmal durch den kleinen Raum gleiten und machte es sich dann neben der Tür gemütlich – sofern das auf dem kalten Boden möglich war. Er wirkte nun etwas entspannter, als noch im Auto, aber immer noch wachsam.

„Es ist einfach nicht mein Ding“, sagte Janina. „Ich steh halt nicht so auf FKK. Das ist nichts für mich.“

„FKK?“

Also, wenn sie so weitermachte, würden ihr vor lauter Augenrollen noch die Besagten herausfallen. „Freie Körper Kultur.“

Ich konnte nicht wirklich etwas damit anfangen, doch ich schwieg, weil ich glaubte, dass ihre Geduld sehr bald erschöpft war.

Sie ging zu dem Waschbecken, wie sie es genannt hatte und drehte an dem metallenen Rad darüber. Augenblicklich floss Wasser aus der Wand.

Meine Augen wurden groß. Irgendwie bekam ich langsam das Gefühl, an diesem Ort immer mit einem erstaunten Ausdruck im Gesicht durch die Gegend zu laufen, aber wie war das nun wieder möglich? Erst fiel Wasser vom Himmel und nun kam es auch noch aus der Wand?

„Am besten setzt du dich aufs Klo“, sagte Janina weiter. „Dann kann ich die Wunde …“

Von der Tür her grollte Aman: „Du fasst sie nicht an.“

Ich konnte für mich selber sprechen, doch bevor ich etwas sagen konnte, drückte Janina ihm den Waschlappen in die Hand. Dabei berührte sie ihn und er zuckte zurück. Zum ersten Mal erschien etwas wie Kränkung in ihrem Gesicht. So schnell wie es gekommen war, so schnell verschwand es auch wieder, wich einer Miene kühler Gleichgültigkeit, doch ich wusste was ich gesehen hatte. Sie wollte dass er sie akzeptierte, weil sie beide Lykanthropen waren. „Dann mach du das. Ich hole solange den erste Hilfe Kasten.“ Und weg war sie. 

Aman kam auf mich zu und mir wurde klar, dass er genau das vorhatte. Er wollte meine Wunde versorgen. Doch ich wollte nicht von ihm angefasst werden. Die grobe Behandlung im Wald hatte mir schon gereicht, näher sollte mir dieser Hund nicht kommen. „Ich mach das selber.“

Er blieb stehen und zog eine Augenbraue hoch. „Du kommst doch gar nicht daran. Wie willst du die Wunde denn ordentlich versorgen?“

„Das wird schon gehen.“ Ich band den Schaal um meinen Oberkörper ab und zum ersten Mal sah ich, was in den letzten Stunden aus ihm geworden war. Zerrissen, dreckig, blutig.

Ruiniert.

Meine Mina hatte ihn selber genäht. Es war die schönste Kleidung, die ich jemals besessen hatte. Auch der Voilerock, den ich über meinem Lendenschurz trug, war nicht mehr zu retten. Was der Kampf im Tempel nicht geschafft hatte, hatten die Bäume und der Dreck im Wald erreicht.

Meine Mina würde sauer sein, wenn sie das sah. Falls sie es jemals sieht, schoss es mir durch den Kopf. Zum ersten Mal wurde mir richtig bewusst, was geschehen war. Ich befand mich auf einem anderen Planeten, in einer anderen Welt, war verletzt und wusste nicht, wie ich zurückkommen konnte. Was war, wenn ich meine Mina nie wieder sehen würde? Um ein Portal zu öffnen, war Magie und die Macht eines Gottes erforderlich und laut Luan, gab es hier nur sehr wenig Magie. Von einer Göttermacht ganz zu schweigen. Und was war mit Sian? Was war mit meinem Fafa und meinen fünf Brestern? Was war mit meinem Amicus?

Wir waren ausgeliefert.

Allein.

Verloren.

„Wir kommen hier nicht mehr weg“, flüsterte ich.

„Wir werden einen Weg finden.“

Als Aman antwortete, wurde mir klar, dass ich es laut ausgesprochen hatte. Ich sah zu ihm auf. In seiner humanen Gestalt hatte er ein spitzes Kinn und eine leicht krumme Nase, als sei sie einmal gebrochen gewesen. Ein leichter Bartschatten lag auf seinen Wangen und die dunklen, fast schwarzen Augen wurden von dem etwas längeren, bunten Haar eingerahmt. Er hatte einen schlanken, sehnigen Körper, mit dem er mich um eine Handbreit überragte.

„Und wie?“, wollte ich wissen. „Wie sollen wir wieder nach Hause kommen?“ Luan war bereits dreihundert Jahre hier und hatte es nicht geschafft.

„Erst kümmern wir uns um deine Schulter, dann wird uns schon etwas einfallen.“

Ich ließ mich auf das Klo sinken. So sehr ich seinen Worten vertrauen wollte, so wenig glaubte ich daran. Wir waren an einem Ort gestrandet, den wir nicht verstanden, an dem es keine Götter gab, niemand der uns helfen konnte. Um zurückzukommen zu dem was uns vertraut und lieb war, bräuchten wir ein Portal. Eines zu erschaffen wäre nicht weiter schwer, doch ohne die Macht eines Gottes wäre es nutzlos, ohne Magie würde es uns nicht helfen.

Als Aman sich dieses Mal auf mich zubewegte, tat ich gar nichts. Auch nicht, als er den Lappen unters Wasser aus der Wand hielt und damit begann meine Wunde zu säubern. Ich mochte es noch immer nicht, von einem Lykanthropen berührt zu werden, doch im Augenblick war es mir gleich.

Wie sollten wir nur jemals zurück nach Silthrim kommen? Und erst jetzt wurde mir die Situation richtig bewusst. Wir waren weit weg von zu Hause. Was war im Tempel geschehen? Wie ging es Gillette und Jaron? Was war mit Anima? Warum hatte sie geschrien? Waren Aman, Acco und ich die Einzigen, die durch das Portal gesogen worden waren, oder gab es da noch andere? Waren sie auch auf der Erde, oder hatte sie das zerstörte Portal auf einen anderen Planeten geworfen? Wie war das Ganze überhaupt möglich?

Mit diesen Fragen konnte ich ewig weiter machen und doch würde ich keine Antwort darauf finden. Nicht hier.

Wieder einmal kam ich mir völlig unnütz vor. Immer die Kleinste, die Letzte, die Schlechteste. Immer unnütz. Ich war zu nichts zu gebrauchen …

„Das wird jetzt wehtun.“

Amans Hände auf meiner Schulter waren auf eine Art sanft, die ich ihm gar nicht zugetraut hatte, nicht nachdem er mich im Wald so grob behandelt hatte. Doch dann kam ein kurzer Schmerzensstich. Ich zischte, um einen Fluch zu unterdrücken, als er mir etwas aus dem Fleisch zog.

„Ein Marmorsplitter“, sagte er und warf ihn achtlos ins Waschbecken. Dann zog er einen weiteren heraus.

Meine Schulter protestierte pochend gegen das Martyrium und ich musste mich zusammenreißen, damit meine Krallen nicht ausfuhren. „Im dem Tempel habe ich einen Marmorbrocken gegen die Schulter bekommen und bin gestürzt“, brachte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus. Ich wusste nicht warum ich ihm das erzählte, vielleicht einfach nur um mich von dem Schmerz abzulenken – was nicht sonderlich viel brachte –, aber seine Anwesenheit und die Versorgung gaben mir ein beruhigendes Gefühl …

Halt mal, was redete ich denn da im Geist? Er war ein Lykanthrop. Göttertod noch eins, diese Sache nahm mich mehr mit, als ich glaubte. Ein Lykanthrop gab mir ein gutes Gefühl? Vielleicht hatte ich ja auch einen Stein gegen den Kopf bekommen, oder im Portal war mein Geist geschmolzen. Anders konnte ich mir diese Geistreden nicht erklären. Und trotzdem, bei allem was ich an ihm nicht mochte – und das war schon nach der kurzen Zeit eine Menge –, fand ich seine Anwesenheit irgendwie tröstlich. Seine Finger waren sanft und wo er meine Haut berührte kribbelte es auf eine angenehme Weise. Es war anders als bei meinen Amicus, anders als bei jedem den ich kannte, aber nicht so unangenehm, wie ich es mir in der Vergangenheit immer vorgestellt hatte.

Aufregend.

Heillos, was machte diese Welt nur aus mir? War ich nach so kurzer Zeit schon so einsam, dass ich die  Berührungen eines Lykanthropen brauchte? Wenn ich das Anima erzählte würde sie mir eine Standpauke halten. Falls ich jemals dazu käme es ihr zu erzählen. Die Reden im Geist führten mich wieder zurück zum Anfang. Alles drehte sich im Kreis.

Als Aman die Wunde etwas auseinanderzog fuhr neuer Schmerz in mich hinein. Ich biss die Zähne zusammen. Kurz darauf klirrte ein weiterer Splitter im Waschbecken. Doch der Schmerz in meiner Schulter wollte sich nicht legen. Er wütete in meinem Fleisch und sandte heiße, unangenehme Impulse durch meinen Arm. Ich konnte den Schmerz bis in die Fingerspitzen fühlen.

„Das dürften alle gewesen sein.“ Er befeuchte den Lappen erneut unter dem Wasserstrahl und wrang ihn über meiner Schulter aus. Das kühle Wasser linderte das Pochen ein wenig. Ich entspannte mich etwas, nur ganz leicht, jedoch was er als nächstes sagte, ließ mich beinahe aufspringen: „Da du nicht selber rankommst, werde ich die Wunde schließen, damit …“

„Nein!“ Ich fuhr so schnell zu ihm herum, dass ich fast vom Klo fiel. „Mach eine Binde darum, oder lass sie einfach offen verheilen, aber das tust du nicht!“

Ein Seufzer. Müde rieb er sich übers Gesicht und spießte mich dann praktisch mit seinem Blick auf. Diese Augen, irgendwie …

„Willst du, dass die Wunde schnell heilt, oder soll sie sich entzünden?“

Ich kniff meine Augen zusammen. „Lieber nehme ich eine Entzündung in Kauf, als Das.“ Weil Das bedeutete, dass er mir sehr nahe kommen würde, zu nahe für einen Lykanthropen, noch näher als vorher und das ging bei allem was mir heilig war einfach zu weit. Es war bereits schlimm genug, dass ich ihn im Rücken hatte und das auch noch fast genoss, aber Das würde ich nicht zulassen.

„Du benimmst dich wie ein albernes Kind“, knallte er mir ins Gesicht.

„Und wenn schon. Lass deine Zunge in deinem Mund!“ Unsere Zungen nämlich konnten ein Sekret absondern, das bei der Heilung von Verletzungen half. Es war ähnlich wie Speichel, wurde aber nur produziert, wenn die Zunge im direkten Kontakt mit der Wunde kam und bei allen Göttern, das war das Letzte was ich wollte.

„Ich will dir nur helfen.“

„Auf eine solche Hilfe kann ich verzichten.“

Ärger flackerte in seinen Augen auf. „Deine Einstellung ist dumm!“

Einen Moment war ich sprachlos. Doch dann wurde ich richtig wütend. „Wen nennst du hier dumm?!“

„Ich habe nicht behauptet, dass du dumm bist, sondern dass deine Weigerung dumm ist. Lieber nimmst du eine Entzündung hin, als dir von mir helfen zu lassen und das alles nur, weil ich ein Lykanthrop bin. Und das ist dumm!“

Das war der längste Wortschwall, den ich von ihm bisher gehört hatte. Aber meine Wut besänftigter er mit seiner kleinen Ansprache nicht. „Du würdest es doch nicht anders machen. Ließest du mich dir auf diese Art helfen, wenn du hier sitzen würdest?“

„Natürlich würde ich das“, sagte er ohne zu zögern. „Nicht wegen deiner ausgesprochen freundlichen Art, sondern weil es nötig wäre. Wir sind hier in einer fremden Land, vielleicht sogar auf einem fremden Planeten und es wäre besser sich von einem Ailuranthropen helfen zulassen, als der ungewissen Zukunft verwundet gegenüberzutreten.“

Acco, der neben der Tür lag und unsere Meinungsverschiedenheit nur mit mäßigem Interesse verfolgt hatte, hob den Kopf und knurrte leise. Aman und ich sahen gleichzeitig den jungen Mann, der vor dem Raum stand und etwas überrascht zu uns hineinschaute. Genauer gesagt betrachtete er mich, meinen bloßen Oberkörper. Doch von Accos Knurren aufgeschreckt, hob sich sein Blick.

Er war jung, hatte das Mannesalter aber schon erreicht. Seine Kleidung war genauso seltsam wie die von Janina und Luan. Ein langes Beinkleid aus einem dicken, blauen Stoff. Ein schwarzes Hemd, auf dem ein Totenschädel gemalt war, der eine Blume zwischen den Zähnen hielt. Seine Haare waren schwarz, seine Haut tief braun, wie dunkle Erde, fast schwarz. Eine Hautfarbe die ich noch nie gesehen hatte. Eine breite Nase, schräge graue Augen, die mich an dunklen Marmor erinnerten und ein markantes Kinn.

Und sein Geruch … er roch angenehm, nach Natur. Aber auch bei ihm war dieser humane Anteil so stark, wie ich es schon bei den Wesen vom Auto aus gerochen hatte. So als hätte er zu viel davon. Es war nur das vorhanden, alles andere fehlte.

Er leckte sich fahrig über die Lippen, ein leichtes Lächeln um die Mundwinkel und wandte seinen Blick ab. „Tut mir leid. Ich hab Stimmen gehört und da wollte ich … ich meine ich wollte nicht spannen oder so, das war wirklich nicht meine Absicht, ich wollte nur …“

Aman gab ein tiefes Knurren von sich.

„John!“ Schritte eilten zu uns und kurz darauf tauchte Janina neben dem jungen Mann auf. Als sie mich sah, weiteten sich ihre Augen. Sie schmiss einen grünen Kasten mit einem weißen Kreuz darauf zu uns hinein und zog eilig die Tür zu. „Was ist mit dir los?!“, zischte sie. „Du hast sie doch wohl nicht mehr alle, bleib weg von ihnen!“

Ihre Stimme klang durch die Tür gedämpft, war jedoch deutlich zu verstehen. Von ihm dagegen hörte ich nur undeutliches Murmeln, so leise, dass ich kein Wort verstand.

„Ich sag dir nur, du sollst von denen wegbleiben.“ Kurze Pause. „Komm mit.“ Die beiden entfernten sich und ich war mit Aman wieder allein. Aber dieses Mal war ich nicht nur allein mit ihm, nein ich war in einem geschlossenen Raum allein mit ihm – von Acco einmal abgesehen – und Aman schien damit gar nicht glücklich. Aber ich wusste nicht ob es mit mir zu tun hatte, mit der geschlossenen Tür, oder mit dem jungen Mann. Amans Knurren hallte mir noch immer im Ohr nach. Es war bösartig gewesen, warnend und gegen den jungen Mann gerichtet. Was sollte ich davon halten?

„Sie will uns nicht hier haben“, sagte ich leise. Janinas Reaktionen auf mich waren eindeutig gewesen.

Aman schüttelte den Kopf. „Sie will dich nicht hier haben“, korrigierte er mich.

Er hatte es also auch bemerkt. Nicht sonderlich tröstlich, aber verständlich. Ich gehörte nicht zu ihrem Volk und befand mich in ihrem Bau. Ein geduldeter Eindringling. Das war endlich etwas, dass ich auch in dieser Welt verstand. Es war nicht viel, aber unter dem ganzen Neuen und Fremden wenigstens etwas.

„Also, setzt du dich jetzt wieder hin, oder möchtest du weiter diskutieren?“, richtete Aman seine Worte wieder an mich.

„Du bist ein Lykanthrop“, sagte ich schlicht und machte mit meiner Stimme sehr deutlich, dass ich nach wie vor nicht gewillt war, mich von ihm heilen zu lassen.

„Zuallererst bin ich ein Krieger“, erwiderte er ein wenig herrisch, „ein Verbündeter der misstrauischen Ailuranthropen. Und du willst auch mal eine Kriegerin werden. Aber mit einer solchen Einstellung wirst du nicht lange überleben.“

Seine Worte machten mich langsam wütend. „Was interessiert es dich?“

„Du bist meine Verbündete.“ Seine Stirn runzelte sich und nach einem kurzen Zögern fügte er noch hinzu: „Und außer Acco meine einzige Verbindung nach Silthrim.“ Diese Worte schienen ihm nicht leicht über die Lippen gekommen zu sein. Sein schmales Gesicht mit den dunklen Augen schaute unnachgiebig. Aus dem kurzen Zopf in seinem Nacken hatten sich ein paar rötliche und weiße Strähnen gelöst, die ihm ums Gesicht fielen. Und er wirkte noch ernster. 

Doch was meine Meinung ins Wanken brachte, war nicht sein Aussehen, nicht die angespannte Haltung des großen, kräftigen Mannes, nein, es waren seine Worte. Er hatte das gleiche Problem wie ich. Wir waren allein in einer fremden Welt. Und ohne ihn, wer blieb mir dann noch?

Mit zusammengekniffenen Lippen setzte ich mich zurück auf meinen Platz, drehte ihm meinen Rücken zu und strich mir die Haare aus dem Nacken.

Er näherte sich mir schweigend. Wahrscheinlich, weil seine Geistrede ihm mitteilte, dass ich das Ganze sofort abbrechen würde, sollte er etwas Dummes sagen.

Ich konnte seine Wärme in meinem Rücken fühlen, den Atem auf meiner Schulter und ich wusste nicht ob ich aufgeregt oder ängstlich sein sollte. Ich wusste nur, dass ich es so schnell wie möglich hinter mich bringen wollte. Also hielt ich ganz still, als seine Zunge die schmerzende Stelle berührte. Die Wirkung setzte nur langsam ein, aber schon nach wenigen Minuten wurde es besser. Ich konnte spüren wie sich die Wunde schloss, sich neue Haut bildete und das kaputte Fleisch sich zusammen fügte.

Seine Hand legte er dabei an meinen Arm, hielt mich fest, als die Spitzen seiner losen Strähnen leicht über meine Schulter strichen. Davon bekam ich eine Gänsehaut und ein ganz komisches Gefühl im Magen. Es hatte nichts mit der Übelkeit aus dem Auto zu tun, ganz im Gegenteil, es war irgendwie angenehm. Warum fühlte ich mich so, als er meine Wunde langsam heilte? Warum gab ich fast einen Seufzer des Bedauerns ab, als er fertig war und sich wieder von mir entfernte? Ich verstand es nicht.

„Danke“, sagte ich ein wenig zu harsch und griff nach dem Lappen. „Den Rest schaffe ich allein.“

„Wie du wünschst.“

 

°°°°°

Kapitel Acht

Stimmengewirr schlug mir entgegen, als ich zurück in den Hauptraum kam. Luan hatte es sich auf der Sitzgelegenheit bequem gemacht und lauschte Janina und dem jungen, braunen Mann bei ihrem leisen, ernsten Gespräch. Ich konnte nicht ganz folgen, da sie verstummten, sobald wie den Raum betraten, aber über was sie sprachen, konnte ich mir gut vorstellen. Hinter ihnen waren die Fenster weit geöffnet und ließen kühle Nachtluft in das Gebäude.

Nachdem Aman fertig war, hatte ich schweigend den Baderaum verlassen. Er und Acco waren mir still gefolgt. Irgendwie war diese Stille unangenehm und dieses Gefühl, dass ich von seinen Berührungen auf der Haut zurückbehalten hatte, wollte sich auch von dem Lappen nicht wegwaschen lassen. Es schien tief in meine Haut eingedrungen zu sein und sich dort mit Krallen und Zähnen festzubeißen. Das mochte ich nicht. Ich wollte nicht, dass mein Körper von etwas beherrscht wurde, dass ich nicht verstand. Deswegen achtete ich sorgsam darauf, dass Aman mir nicht erneut zu nahe kam. Abstand war gut, Abstand brachte keine unerklärlichen Empfindungen, auf die ich als Krieger nicht vorbereitet worden war.

Janinas Mund öffnete und schloss sich wie bei einem Fisch und auf dem Gesicht des jungen Mannes neben ihr zeigte sich kurze Verblüffung, wich dann wieder diesem leisen Lächeln, das er schon vorhin angedeutet hatte. Luan dagegen schien sich über mein Auftauchen zu amüsieren. Vor ihm auf dem Tisch lag seltsames Brot. Meine Nase sagte mir, dass es mit Fleisch und Gemüse belegt war. Doch Hunger verspürte ich keinen.

„Verdammte Scheiße, besitzt du gar kein Schamgefühl?“, fuhr Janina auf.

Ich brauchte einen Moment um zu verstehen, dass sie mich meinte. „Warum? Was meinst du?“

„Was ich meine?!“ Sie sah aus, als stände sie kurz vor einem Wutausbruch. Ohne den gelben Umhang wirkte sie nicht mehr dick und aufgequollen, sondern hübsch rund, wie man es von einer trächtigen Hündin erwartete. „Du kannst doch hier nicht so halbbekleidet reinplatzen! Schmeiß dir deine Klamotten über, sofort, bevor ich auf die Idee komme, dich mit einem Tritt nach draußen zu befördern!“

„Also mir gefällt, was ich sehe“, grinste der Mann mit der dunklen braunen Haut.

„Halt die Klappe, John und starr da nicht so hin! Und du auch nicht!“, fauchte Janina auch noch Luan an, der daraufhin schnell den Kopf abwandte.

Ich sah an mir herunter, dann hinter mich zu Aman. „Aber er trägt auch nur seinen Lendenschurz.“

„Er ist ein Kerl!“ Sie warf dem leise lachenden Luan einen bösen Blick zu. „Du bist auch keine große Hilfe. Freut dich auch noch, dass sie sich euch so anbietet, was?“

„Anbietet?“ Ich glaubte mich verhört zu haben und ließ meiner Empörung freien Lauf. Ich hatte mich noch nie jemanden angeboten und würde hier sicher nicht damit anfangen. „Ich biete mich niemanden an, also unterlass diese Unterstellung. Und wo das Problem liegt, verstehe ich auch nicht.“ Janina sah so wütend aus, was meine Verwirrung nur steigerte. Ich verstand nicht, was ich falsch gemacht hatte und das ärgerte mich. Warum nur war hier alles so kompliziert?

„Bei uns ist es nicht üblich, dass Frauen mit freiem Oberkörper rumlaufen“, verriet mir Luan. „Es ist anstößig, schamlos. Was bei euch normal ist, ist bei uns fremd. Daher möchte ich dich bitten, dich zu bedecken, auch wenn John der Anblick sehr zu gefallen scheint.“

Als der junge Mann seinen Namen hörte, zerfiel sein Lächeln und er wandte sich verlegen ab. Plötzlich schien das Papier an der Wand seine volle Aufmerksamkeit zu brauchen.

„Ihr wollt also, dass ich mich bedecke?“, fragte ich, nur um sicher zu gehen, dass ich ihn auch richtig verstanden hatte. Warum war es anstößig, mit freiem Oberkörper herumzulaufen? Diese Welt wurde mit jeder verstreichenden Minute seltsamer.

„Natürlich wollen wir das!“, fauchte Janina.

„Aber vorhin …“

„Kein Aber, tu es einfach, bevor ich dich noch erwürge!“

Hinter mir gab Aman ein leises Grollen von sich.

Die Erdbewohner verstand ich immer weniger. Auf Silthrim machte es keinen Unterschied, ob jemand Mann oder Frau war. Wir alle waren gleich. Und vorhin am Auto hatte Janina mir und Aman noch verboten, uns mit Fell zu bedecken. Das wäre zu auffällig, hatte sie gesagt, die Menschen würden uns jagen. Und nun sollte ich es doch tun. Aber so angriffslustig Aman war und so gereizt wie Janina war, wollte ich nicht der Auslöser für einen handfesten Streit werden. So verwandelte ich mich und bedeckte meinen Körper mit meinem Fell. Spürte das angenehme Kribbeln, das die Verwandlung mit sich brachte, genoss das vertraute Gefühl.

Sofort wurde mir warm. Die Kälte schien sich bis tief in meine Knochen gegraben zu haben und durch die Wandlung nun endlich zu weichen. Die offenen Fenster hinter Luan hatten es auch nicht besser gemacht.

John und Luan sprangen alarmiert auf und Janina keuchte erschrocken. Ich sah mich nach einer Gefahr um, aber da war nichts und als ich mich wieder zurückgedreht hatte, begegnete ich Johns Blick. Seine Augen waren groß wie Teller geworden und er starrte mich mit offenem Mund an.

Alle im Raum waren auf einmal verstummt. Ich war nicht die Einzige, die verwirrt war, Aman schien auch nicht zu wissen was los war und das machte ihn nervös. Das merkte ich an seiner Anspannung, die immer mehr zurückgekehrt war, seit wir den Baderaum verlassen hatten. Er rückte näher an mich heran und aus den Augenwinkeln konnte ich verfolgen, wie seine Hand langsam zu dem Dolch an seinem Gürtel wanderte. Ganz langsam, so dass es keiner mitbekam.

„Willst du mich verarschen?!“, keifte Janina und durchbrach die unangenehme Stille.

Ich wusste nicht, was dieses letzte Wort bedeutete. „Was …“

„Ich hab dir gesagt, dass du das nicht tun sollst!“

Nun gut, endlich war meine Verwirrung komplett. „Du hast gerade gesagt, dass ich mich bedecken soll. Ich habe extra noch einmal nachgefragt.“

„Mit Kleidung, nicht mit Fell!“, schrie sie mich an. „Fuck! Seid ihr alle so dämlich, oder bildest du da die Ausnahme?“ Sie regte sich furchtbar auf und tobte. Herbe Flüche verließen ihren Mund, von denen ich nur die wenigsten kannte. Und dann fiel ihr Blick auf John und sie wurde augenblicklich ruhig.

Er stand noch wie eine Steinstatur da. Sein Körper schien nur noch eine leere Hülle, als sei sein Geist weit fort, vielleicht in Land der Götter.

„John?“, fragte sie vorsichtig, doch er reagierte gar nicht. Erst als sie ihm behutsam die Hand auf die Schulter legte, zuckte er zusammen, sah fahrig zu ihr und wieder zu mir, nur um sich mit der Hand dann durch das Gesicht zu fahren. Er wirkte irgendwie ängstlich, verstört. „John? Alles okay?“

Wieder sah er von mir zu ihr und wieder zurück. Rieb sich dabei nervös mit der Hand über die Arme, verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere, blieb aber stumm.

Langsam bekam ich das Gefühl, etwas wirklich Dummes getan zu haben, obwohl ich nicht wusste, was das sein sollte. Schließlich hatte ich genau das getan, was mir gesagt wurde. Vielleicht lag da der Fehler. Aber das ergab auch keinen Sinn.

„John? Ich kann das erklären.“ Janinas Stimme war so sanft, als hätte sie Angst, ihn allein dadurch zu verschrecken, dass sie ihn ansprach. Es war deutlich, dass er ihr etwas bedeutete. Vielleicht war er einer ihrer Amicus?

Ohne den Blick von mir zu nehmen sagte er: „Na, da bin ich aber mal gespannt.“

„Es ist … sie ist … ich meine … es ist nicht so einfach.“ Sie verstummte kurz. „Am besten, wir warten auf Pascal.“

„Pascal?“ Nun sah er sie doch an. „Was hat er denn damit zu tun.“ Und wieder fuhr sein Kopf zu mir. „Mein Gott. Sie sieht aus wie eine Katze. Ich muss träumen, so etwas gibt es einfach nicht. Vielleicht werde ich ja krank und bin im Fieberwahn.“

Keiner bestärkte seine Aussage, aber es widersprach auch niemand.

„Wir müssen nur auf Pascal warten. Der bringt alles wieder in Ordnung“, wiederholte Janina.

„Das funktioniert nicht“, widersprach Luan seinem Herz. „Bis er hier ist, ist es im Langzeitgedächtnis eingedrungen und kann nicht mehr entfernt werden.“

„Aber …“

„Warum sagt ihr ihm nicht einfach, dass sie eine Ailuranthropin ist?“, fragte Acco, der es sich vor dem Tisch auf dem befellten Boden bequem gemacht hatte.

Ich hatte nicht geglaubt, dass es möglich war, die Augen noch weiter aufzureißen, aber John belehrte mich eines Besseren. Seine dunkle Haut war ziemlich hell geworden, blass, ungesund würde ich es nennen, irgendwie käsig und er sah aus, als wolle er jeden Moment einfach wie ein gefällter Baum umfallen.

Er trat einen Schritt von Acco weg. „Er hat gesprochen.“ Und noch einen. „Der Hund hat gesprochen.“

„Ich bin kein Hund“, knurrte Acco beleidigt. „Warum nur hält mich hier jeder für einen Hund? Das ist eine Beleidigung.“

John wirbelte herum und rannte aus dem Raum.

„Nein John!“, schrie Janina noch hinterher, aber er war schon weg. Einen Moment später knallte die Eingangstür. „Verdammt, wir müssen ihn aufhalten.“ Sie und Luan setzten sich in Bewegung, ihm hinterher.

Ich zögerte nur einen Moment. Ich wusste nicht genau, was ihn so verschreckt hatte, aber es schien mir kein guter Gedanke, ihn jetzt allein zu lassen. So stürzte ich durch das offene Fenster, wollte ihm den Weg abschneiden. John lief genau in mich rein, war von meinem Auftauchen so überrascht, dass er nicht mehr stoppen konnte.

Wir fielen in einem Wirbel aus Armen und Beinen auf den Boden. Ich landete auf meine Schulter bevor ich reagieren konnte. Die Wunde war zu, aber noch empfindlich und pochte sofort wieder im Rhythmus meines Herzens.

Ich warf ihn ab, drehte mich, so dass ich auf ihm zum Sitzen kam. Er wehrte sich gegen mich, schlug und trat um sich. In seinen Augen standen Panik und Angst. Als ein Schlag mich im Gesicht traf, wurde ich wütend. Der Dolch war an seiner Kehle, bevor ich es realisierte. Er wurde still. Sein Atem ging schnell und wieder fiel mir dieser Geruch von Natur bei ihm auf. Als wäre er selbst ein Teil von ihr, so verströmte er sie. Aber nicht dieser dreckige Geruch, der hier alles bedeckte, nein, es war wie zuhause auf Silthrim, frisch, sauber.

Heimat.

Nicht dieses fremde Ufer, auf dem ich mich zurzeit befand.

Starr vor Angst lag er einfach nur unter mir und sah mit geweiteten Augen zu mir hinauf. So schöne Augen. Grau wie Stein und doch lebhaft wie …

„Verdammte Scheiße, spinnst du? Was zum Teufel machst du da?!“ Janina und Luan kamen eilig angerannt und sie war nicht weniger wütend als ich.

Ich funkelte sie an. Mein Gesicht tat von dem Schlag noch leicht weh. „Du hast gesagt, wir müssen ihn aufhalten und genau das habe ich getan.“

„Aber doch nicht so!“ Sie schlug meine Hand mit dem Dolch weg und wollte mich runter stoßen, doch ich war schneller, sprang und kam ein paar Meter weiter in der Hocke auf. Ich fauchte mit angelegten Ohren, zeigte meine Zähne. Eine deutliche Warnung, dass sie mir nur nicht zu nahe kommen sollte. Sie hatte nicht das Recht mich zu berühren und keinen Grund mich anzugreifen. Ich hatte nichts Falsches getan.

Ein Stück neben mir hörte ich Aman knurren. Er war gerade dabei, sich zu verwandeln. Acco schlich in Abstand um uns herum, bereit jederzeit zuzuschlagen. Sie waren mir durch Fenster gefolgt.

Mein Fauchen wurde zu einem Grollen. Aman knurrte, Janina schimpfte, Luan versuchte mit Worten zu schlichten und John lag einfach auf dem Boden. Schwer atmend und nicht fähig, sich mit dem auseinanderzusetzten, was hier gerade geschehen war. Es war ein riesiges Durcheinander.

Inmitten des Chaos hörte ich eine seltsame Melodie. Seufzend zog Luan das kleine, flache Kästchen aus seiner Hosentasche, das ich schon ein paar Mal bei ihm gesehen hatte, tippte darauf und hielt es sich ans Ohr. Ich war zu sehr auf Janina konzentriert um mitzubekommen, was genau er dort tat, aber es schien, als würde er mit jemanden sprechen. Jemand, der gar nicht da war. Das war äußerst seltsam und … beunruhigend. Zum ersten Mal schlichen sich Zweifel bei mir ein. Vielleicht hätte ich ihnen doch nicht folgen sollen. Luan stammte aus Silthrim, das glaubte ich ihm mittlerweile, aber wer mit der Luft sprach, musste im Geist kaputt sein. Machte das diese Welt aus einem? War es das, was meine Göttin für mich vorbestimmt hatte? Ein kaputtes Wesen? Aber warum, was hatte ich getan?

„… du dummes Weibsbild!“ Janina stand schützend vor John, der sich in eine sitzende Position gekämpft hatte. Noch immer schien er völlig überfordert mit der Situation. „Ich habe gewusst, dass es mit dir nur Ärger geben würde! Wir hätten dich im Wald verrotten lassen sollen, oder den Bullen ausliefern! Du gehörst in einen Käfig, wo du kein Unheil anrichten kannst! Du hast keine Ahnung was du angerichtet hast. Verschwinde von hier und komm bloß nie wieder! Wenn ich dich …“

Luan steckte das Kästchen weg. „Janina.“

„… nochmal hier erwische, kratze ich dir die Augen aus und stecke sie dorthin …“

„Janina“, versuchte er es nachdrücklicher.

„… wo niemals die Sonne hin scheint!“ Sie war vor Wut ganz rot im Gesicht geworden und schien leichte Schwierigkeiten mit der Kontrolle ihrer menschlichen Seite zu haben. Ich hatte das schon oft erlebt, auch bei mir selber. Sie stand kurz vor der Verwandlung, weil sie ihre Gefühle nicht im Griff hatte. „Ich werde dir die Haare einzeln ausreißen und dir zeigen, was es bedeutet …“

„Janina!“

„WAS?“, fuhr sie Luan an.

Ihr Ausbruch ließ ihn kalt. „Das war Gran. Es haben sich einige Schwierigkeiten ergeben. Wir müssen hinfahren und zwar sofort.“

„Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich John jetzt allein lassen kann!“

Er sah nachdenklich auf den jungen Mann hinunter, dann zu mir und Aman und wieder zurück zu ihr. „Dann bleib du hier, ich nehme die beiden mit. Dabei brauchen ich sie.“

 

°°°

 

„… unter keinen Umständen dürft ihr euch verwandeln. Wenn die Menschen erfahren, wer wir wirklich sind, hat das beträchtliche Folgen. Wenn ihr etwas nicht versteht, fragt noch einmal nach. Besser zu viel als zu wenig. Ich weiß genau, wie verwirrend das alles ist, ich habe es selbst mitgemacht. Aber bei allem, was ihr macht, denkt immer daran, in eurer Humangestalt zu bleiben, wenn euch etwas an eurem Leben liegt. Hier.“ Luan warf mir Kleidungstücke zu, die er aus dem Schrank vor sich entnommen hatte. Mir blieb die Wahl sie aufzufangen, oder zur Seite zu treten. Da ich aber einfach zu neugierig war, fing ich sie auf.

Nachdem Janina ihrem Ärger – von dem ich immer noch nicht verstand, warum er gegen mich gerichtet war – weiter Luft gemacht hatte, hatte Luan mich und Aman ins Haus gebracht. Janina war draußen bei John geblieben, der weiter geschockt auf dem Rasen gesessen hatte. Acco war unten.

Luan hatte nur gesagt, da wo wir hingehen, können wir nicht in unseren Lendenschurz auftauchen und gab uns etwas von der seltsamen Bekleidung der Wesen dieser Welt, Menschen, wie Luan sie nannte, Kreaturen ohne Magie, erschaffen durch Evolution. Ich verstand es nicht.

Dem Geruch nach befanden wir uns in dem Zimmer, das er sich mit Janina teilte. Das Bett war riesig, halb aus Metall, halb aus Holz. Auch hier war dem Boden befellt. In Rot. Die Wände hatten eine ähnliche Farbe aus Papier, mit einem hübschen, verschnörkelten Muster.

Luan ging zur Kommode und wühlte hektisch in den Schubladen. „Wir haben nicht viel Zeit, also beeilt euch mit dem Anziehen und …“

„Warum?“, unterbrach ich ihn. „Wozu brauchst du uns?“

Er zog weitere Kleidungsstücke hervor und reichte sie Aman, der sie nur widerwillig nahm. „Ihr erinnert euch, wie wir euch gefunden haben?“

Ich nickte.

„Ich habe vorhin schon erläutert, dass wir in der ganze Stadt magische Schwingungen wahrgenommen haben. Starke Schwingungen. Also haben wir uns aufgeteilt und sind zu den deutlichsten hingefahren. So haben Janina und ich euch gefunden. Aber dort im Wald war nicht die einzige Stelle, die wir auf unserem Radar hatten. Gran und Pascal sind jeweils zu einer anderen gefahren und wie es aussieht, seid ihr nicht die Einzigen, die heute Nacht auf der Erde gelandet sind. Aber …“

„Er sind noch mehr von uns hier?“ Hoffnung und Grauen wechselten sich in mir ab. Ich war nicht die Einzige, das war gut, aber … wie sollte ich sagen? Ich war halt nicht die Einzige und das war schlecht.

„Wahrscheinlich, aber hör mir erst mal zu. Gran ist auch eine Lykanthropin. Sie ist Janinas Großmutter … ähm, ihre Romina und sie hat deutlich eine Spur von einem ihr unbekannten Wesen gefunden, dass sie nicht kennt, aber verdächtig nach Katze riecht. Nur leider hält es sich versteckt. Und dann hat es auch noch einen Menschen erschreckt, der daraufhin die Polizei gerufen hat, wegen einer freilaufenden Wildkatze.“

„Was ist das, Polizei?“

„Gesetzeshüter.“ Luan drehte sich zu uns herum und reichte Aman ein weiteres Stück Stoff. Im Gegensatz zu Janina wurde er nicht wütend, wenn ich eine Frage stellte. Das sollte ich mir merken. „Hm … sie sind zu vergleichen mit Krieger. Ja, sie sind die Krieger der Menschen und sie suchen jetzt nach Jenem, der dort durch das Portal geschleudert wurde, weil sie glauben, dass er eine Gefahr ist für die Anwohner ist.“

Und das war schlecht, wie ich seinem Ton entnahm. Doch es kam mir seltsam vor. Bei uns waren Krieger etwas Gutes, etwas Gerngesehenes. Sie versprachen Schutz und gaben einem das Gefühl von Sicherheit, weil sie für unsere Göttin kämpften, für uns, für das ganze Volk. Und in den Zeiten des Friedens halfen sie ihn zu bewahren. Hier jedoch schien man Angst vor ihnen zu haben. Das fand ich … seltsam. „Und sie jagen jetzt einen von uns?“

„Ich fürchte ja.“ Luan strich sich fahrig durch die blonden Haare, was sie seltsam abstehen ließ. „Und deswegen müssen wir uns beeilen. Wir müssen sie finden, bevor die Polizei es tut, um Schlimmeres zu vermeiden. Zieht euch um, ich warte solange draußen.“ Und ohne mir die Chance auf weitere Fragen zu geben, schloss er die Tür von außen. Nun war ich wieder mit Aman in einem Raum allein. Wirklich toll.

„Glaubst du ihm?“, wollte Aman wissen, sprach so leise, das Luan es durch die geschlossene Tür nicht hören konnte.

„Warum sollte er uns belügen?“ Mir kam wieder das schwarze Kästchen in den Sinn, das Reden mit der Luft. Diese Geistreden behagten mir nicht.

„Warum sollte er uns die Wahrheit sagen?“

Das war eine gute Frage, auf die ich keine Antwort wusste. Luan war immer noch ein Vampir, gehört zu einem der gefürchtetsten Völker auf Silthrim. Doch ich wusste einfach nicht, was er mir einer solchen Lüge bezwecken sollte. „Ich weiß nicht“, sagte ich daher. „Aber es gibt nur einen Weg, es herauszufinden. Und jetzt raus mit dir, damit ich die Menschentracht anziehen kann.“ In Lendenschurz vor anderen herumzulaufen, war etwas ganz natürliches für mich und nicht verwerflich, wie es unter Menschen Brauch zu sein schien, aber Geschlechtsteile wurden bei allen Völkern verhüllt. Diese einem anderen zu zeigen war intim und ich würde es nicht mit Aman teilen.

Niemals!

 

°°°°°

Kapitel Neun

Die Fahrt im Auto war nicht lang gewesen, doch meinem Magen war das egal. Mir war trotzdem schlecht geworden. Reiten war und blieb mir lieber.

Wir mussten ein ganzes Stück entfernt von unserem Ziel anhalten, weil die lange Steinplatte überall mit anderen Autos blockiert war. Autos, mit blauen Lichtern obendrauf, die seltsame Schatten auf ihre Umgebung warfen und alles in ein Licht tauchten, dass den Leuten auf der Straße etwas Surreales gab – ein Bild, geboren in dem Land der Götter.

Nun drängte ich mich neben Aman hinter Luan durch einen Menschenauflauf, der meine Neugierde in Nervosität gewandelt hatte. Meine Kleidung engte mich ein, die vielen Wesen engten mich ein, meine Flip Flops – wie Luan sie nannte – drohten mir bei jedem Schritt von den Füßen zu rutschen. Die Leggins – auch ein Wort von ihm – saß bedrängend an meinen Beinen und das weiße, sogenannte T-Shirt über dem dunklen Longshirt war so groß, dass es mir ständig von den Schultern zu rutschen drohte. Es war laut und voll, die Kleidung war unangenehm auf der Haut zu tragen und das Stimmengewirr dröhnte mir in den Ohren. Ich war nervös und angespannt. Wenigstens hatte das Himmelswasser … ich meinte natürlich, der Regen aufgehört.

Einen so großen Auflauf von Wesen gab es bei uns nur bei Versammlungen und Festen. Oder wenn etwas Schlimmes passiert war. Zu meinem Bedauern glaubte ich hier an das Letztere, was auch der einzige Grund war, warum ich mich nicht auf der Stelle umdrehte und diese Masse verließ. Wie konnten sich Menschen hier nur wohlfühlen? Das war wirklich schwer zu verstehen.

Es lag ein unangenehmer Körpergeruch in der Luft und auch ein Hauch nach Kupfer, der mir viel zu vertraut war. „Blut“, flüsterte ich, als ich mich hinter Luan weiter durch die Masse kämpfte.

Aman nickte grimmig. Seine Kleidung missfiel ihm nicht weniger wie mir die meine. Eine graue Jogginghose und ein Wollpullover hatte er von Luan erhalten. Ich musste zugeben, er sah nicht schlecht darin aus. Ungewohnt, ja, aber nicht schlecht.

Oh Göttin, was dachte ich da nur schon wieder?

„Ach, da ist sie ja.“ Luan zeigte auf eine ältere Frau, am Rand des Auflaufs, die mit stoischer Ruhe ihre Umgebung in Auge behielt. Sie war klein, knochig und das rote Haar war mit grauen Strähnen durchzogen. Sie wirkte sehr alt, dafür aber robust. Ihr Gesicht schaute finster, die Augen waren leicht zusammengekniffen, als missfiel ihr etwas. Ich konnte sie verstehen, diesen Ort mochte ich auch nicht. 

Wir bahnten uns einen Weg um die Leute herum, immer Luan hinterher. Acco hatten wir im Auto gelassen. Luan hatte angemerkt, dass es nicht zur Sache beisteuern würde – wie er es ausgedrückt hatte –, wenn wir mit einem für die Menschen wildem Tier hier auftauchen würden. Ich hatte es so verstanden, dass wir ihn zurücklassen mussten, um unsere Aufgabe problemlos erfüllen zu können – was auch immer das für eine Aufgabe war, denn dazu hatte er sich trotz mehrmaligen Nachfragens noch nicht äußern wollen. „Gran wird es euch erklären“, hatte er gesagt, „ich bin auch nicht ganz im Bilde, aber sie weiß, was genau los ist.“ Mit Acco an unserer Seite, hätte es in der momentanen Lage wohl eine Panik unter den Menschen gegeben.

Die Wesen dieses Planeten schienen mir sehr ängstlich zu sein. Wie Herdenvieh.

„Da seid ihr ja endlich!“, schimpfte die ältere Frau, als wir sie erreicht hatten und ließ den Blick einmal forsch von einem zum anderen gleiten. „Ihr hättet euch ruhig beeilen können. Es ist kalt und ich friere.“ Ihre Augen blieben an Luan hängen. „Wo ist meine Enkelin? Hielt sie es mal wieder für unter ihrer Würde, uns beizustehen?“

Oh, diese Frau sah nicht nur resolut aus, sie sprach auch so harsch, dass ich mich am liebsten unter ihrer Stimme geduckt hätte.

„Nein. Wir hatten … ein kleines Problem“, erklärte Luan beinahe widerwillig. „Janina musste zurück bleiben, um sich um … äh … um sich darum zu kümmern.“

„Problem?“ Die Frau kniff die Augen zusammen. „Was verschweigst du mir Luan?“ 

„Naja, äh … wir …“

„Warum riecht es hier nach Blut?“, unterbrach ich. Ich hatte jetzt keine Lust Probleme zu besprechen, die warten konnten. Wenn dort draußen wirklich jemand meines Volkes war, wollte ich ihm beistehen und nicht lange über eine Füchsin reden, die jetzt nicht interessierte.

Die Frau unterzog mich einer Musterung. Von oben nach unten und wieder zurück. „Es ist unhöflich, einem einfach ins Wort zu fallen.“

Natürlich war es das und, oh Bastet, meine Mina würde mich für ein solch schlechtes Verhalten rügen, aber im Moment interessierte mich das nicht, nicht wenn da jemand war der die Hilfe eines Kriegers brauchte und ich war eine Kriegerin – wenn auch keine vollständige, oder sehr gute. „Du hast das, was eine Kriegerin braucht, das Herz und den Willen.“ Mein Fafa hatte Recht. „Es gibt wichtigeres zu tun. Hier riecht es nach Blut. Nach Werblut und da Sie nicht verletzt zu seien scheinen, würde ich gerne wissen, wessen Blut das ist.“

Die Frau schnalzte missbilligend mit der Zunge, ohne auf meine Worte einzugehen. „Als erstes wäre es nett mir zu verraten, mit wem ich das Vergnügen habe.“

Ich kniff die Augen zusammen. Was versuchte sie mit diesem Verhalten zu erreichen? Verstand sie denn nicht, dass es im Augenblick viel Bedeutsameres zu klären gab? „Ich bin Lilith, das ist Aman.“

„Geht doch.“ Sie nickte. „Ich bin Destina. Luan kennt ihr ja schon.“

Ich nickte ungeduldig.

„Und jetzt würde ich gerne noch wissen, was hier überhaupt los ist“, sagte Destina, immer noch meine Worte ignorierend.

Was hier passiert war? Aber das sollte sie uns doch berichten!

„Es ist wieder passiert“, antwortete Luan, bevor ich den Mund aufmachen konnte. „Das Gleiche wie damals, als ich auf die Erde kam. Die beiden kommen aus Silthrim und wie es den Anschein hat, sind sie nicht die Einzigen.“

Destina spitzte leicht die Lippen. „Das heißt, wir haben es hier …“

„… wahrscheinlich mit einem Ailurana zu tun“, beendete Luan seinen Satz.

„Ailuranthrop“, verbesserte ich.

„Ah ja, Ailuranthropen nehmen immer alles ganz genau. Das hatte ich beinahe vergessen.“ Luan lächelte mich gutmütig an, mir aber ging langsam die Geduld aus. Ich wollte endlich etwas tun.

„Nun gut, verstehe“, meinte Destina. „Dann weiß ich jetzt wenigstens, nach was ich suche.“

„Sag uns doch erst mal was hier passiert ist“, schlug Luan vor. Er war das genaue Gegenteil von mir. Die Ruhe selbst. Mich machte das Rumstehen nur noch nervöser. Da war jemand, dem ich helfen musste und wir standen hier und tratschten. Dafür würde später sicher noch genügend Zeit bleiben. Ich wollte etwas tun, etwas, dass mein Versagen im Tempel ausgleichen konnte.

„Naja, ihr habt mich mitten in der Nach hier rausgeschickt um eine magische Energiequelle zu finden“, begann Destina. „Und ich habe sie auch tatsächlich gefunden. Aber die war schon am Abklingen als ich hier ankam …“

Irgendwas an der Frau störte mich. Ich konnte nicht darauf deuten, aber etwas war verkehrt.

„… doch ich konnte dort die Spur einer Großkatze ausmachen. Der bin ich dann bis hierher gefolgt. Aber in der Zwischenzeit …“

Was nur störte mich an ihr? Natürlich, sie war ein Fuchs und die gab es auf Silthrim eigentlich nicht mehr, das war ungewöhnlich, doch das war nicht alles. Irgendwas an ihr war … falsch. Ja, genau, falsch, etwas stimmte nicht mit ihr. Nur was?

„… hat wohl einer der Anwohner den Gesuchten gesehen und sich fürchterlich erschrocken. Er rief die Polizei und die haben eine Suchaktion gestartet. Soweit ich das mitbekommen habe, hat einer der Beamten das Tier gefunden, wurde von ihm angegriffen, hat seine Waffe gezogen und …“

Der Wind drehte und ich wusste Bescheid. „Hexe“, zischte ich.

Destina unterbrach sich und sah mir in die Augen. „Ja, ich bin eine … ahhh!“

Ich sprang auf sie zu. Luan reagierte blitzschnell, packte sie am Arm und riss sie hinter sich. Aman knurrte, Destina knurrte zurück. Wäre die Situation nicht die, die sie war, wäre es lustig gewesen zu sehen, wie sich Jugend und Stärke gegen Alter und Weisheit stellte.

Ein paar der umstehenden Menschen wurden auf uns aufmerksam.

Luan trat mit ausgestreckten Armen zwischen uns. „Wartet, sie ist nicht, wofür ihr sie haltet!“

„Sie gehört zu Sachmets Brut“, grollte Aman. „Ich kann es an ihr riechen.“

Was merkwürdig war, weil sie auch den Geruch eines Lykanthropen trug. Wie war das möglich?

„Das bestreite ich ja nicht, aber ich habe doch schon erklärt, dass es bei uns auf der Erde anders zugeht, wie bei euch. Wir sind hier nicht im Krieg, wir sind alle Freunde, eine Familie. Und Destina ist nicht nur ein Lykanthrop, sie ist sehr viel mehr.“ Er sah sich zu den Menschen um, die bei ihrem Versuch, nicht allzu auffällig zu lauschen kläglich versagten.

„Was heißt, mehr?“, wollte ich wissen und ließ die Hexe nicht aus den Augen. Ihr Volk war schuld, dass ich nun hier war, ihre Göttin wollte keinen Frieden.

Luan drückte kurz die Lippen aufeinander, als wollte er es eigentlich nicht sagen. „Sie … also nicht sie, sondern ihr Vater … ich meine, Fafa war ein Magier“, flüsterte er leise, damit auch kein Unbeteiligter es mitbekam.

Ihr Fafa war ein … aber … wie war das nur möglich? Die Völker hatten sich niemals vermischt, warum taten sie es dann hier? „Du schützt eine Hexe“, grollte ich leise aus der Kehle. „Du nennst einen Lykanthropen dein Herz. Und du bist ein Vampir.“

Er nickte eifrig und fuhr sich fahrig mit der Zunge über die Lippen. „Destina hat eurem Volk nie etwas getan, sie kennt eure Welt gar nicht, sie ist genauso wenig euer Feind wie ich.“

„Wer sagt, dass du nicht unser Feind bist?“, fragte Aman.

„Nun ist aber gut.“ Destina straffte ihre dürren Schultern. „Ihr seid es, die in eine euch fremde Welt gekommen seid, ob nun freiwillig oder nicht. Ihr seid hier und wir haben unsere Hilfe angeboten. Ich kann mir gut vorstellen, dass es für euch nicht einfach zu verstehen ist, aber das gibt euch noch lange nicht das Recht, einen von uns anzugreifen. Du“, sie zeigte auf mich, „zieh die Krallen ein. Es hilft niemanden, wenn du dein Temperament nicht ein wenig zügelst. Und du“, ihr Finger fuhr zu Aman, „ich weiß ja nicht, wie bei euch die Gepflogenheiten so sind, aber ich bin selber eine Lykanthropin, wenn auch nicht ganz, aber ich habe mich nie so respektlos den Älteren gegenüber benommen. Es ist eine Schande, wie ihr beide euch hier aufführt. Wir haben Wichtigeres zu tun, als uns gegenseitig ans Fell zu wollen und nun habt ihr die Wahl, entweder ihr bleibt friedlich und wir helfen euch, oder unsere Wege trennen sich auf der Stelle.“ Sie sah uns nacheinander tief in die Augen, als könnte sie ihren Worten damit noch mehr Nachdruck verleihen. „Also, wie entscheidet ihr euch, wollt ihr uns vertrauen, oder sollen wir gehen?“

Also von Vertrauen konnte nun gar keine Rede sein, dazu würde mich nicht mal meine Göttin bewegen können, aber bei all den andren Dingen, die sie gesagt hatte, musste ich leider zustimmen. Wenn sie uns im Stich ließen, hätten wir es schwerer, doch jede Faser an meinem Leib sträubte sich dagegen, sich in die Hände des Feindes zu geben.

Ich sah zu Aman hoch. Der knurrte zwar nicht mehr, sah aber nach wie vor so aus, als wollte er gleich jemanden in Stücke reißen. Und wie er Destina fixierte glich einem Jäger der seine Beute entdeckt hatte. Daher überraschten mich seine nächsten Worte auch umso mehr.

„Ich verstehe eure Welt nicht“, sagte er, „und ich weiß nicht, ob ich euren Worten Glauben schenken kann. Auch kann ich nicht verstehen, wie Lykaner sich mit dem Feind verbinden konnten, oder … andere Dinge tun …“ Er verstummte kurz. Wahrscheinlich hielt er die gleichen Geistreden wie ich. Wenn Destina nicht ganz Lykanthropin war und nach Hexe roch, dann war das Kind unter Janinas Herzen nicht das Einzige, was es so nicht geben sollte. „Aber Ihr scheint mir eine weise Frau zu sein“, fuhr er fort. „Außerdem habt Ihr Recht. Bei uns werden die Alten für ihr Wissen und ihre Erfahrung geehrt. Ich entschuldige mich für mein Benehmen und möchte Euer Angebot annehmen. Ich vertraue auf Euer Wort.“

Heilige Göttin, das hat er jetzt nicht gesagt.

Destina nickte zufrieden und wandte sich dann an mich: „Und was ist mit dir?“

Sag es einfach, sprich. „Ich vertraue Euch nicht.“ Ich schüttelte den Kopf. Das konnte ich nun wirklich nicht. „Aber ich werde versprechen, keinem ein Leid zuzufügen, solange uns keiner ein Leid zufügt.“ Das war das Höchste, was ich schwören konnte. Mein Vertrauen würden sie nie bekommen, dafür waren sie einfach viel zu sehr Feind für mich. Alle, außer Aman. Mehr oder weniger.

Destina nickte. „Das reicht mir schon. Also, wo war ich noch mal stehen geblieben?“

„Bei den Polizisten, der die Waffe gezogen hat“, half Luan ihr weiter. Er hatte sich halb vor Destina gestellt und behielt uns wachsam im Auge.

„Ah ja, danke. Also, der Polizist hat sich erschrocken und die Waffe gezogen. Genaueres weiß ich nicht, doch er hat wohl erwischt, auf was er gezielt hat. Wie mir scheint, ist das gesuchte Tier ein Ailuranthrop, aber dadurch dass die ganze Gegend mehr oder weniger abgesperrt ist, kommen wir hier nicht weiter.“

„Eure Krieger haben mein Volk angegriffen?“, grollte ich tief aus der Kehle und kniff die Augen zusammen.

„So scheint es und bevor du jetzt etwas Unüberlegtes tust, hör mir erst einmal zu“, sagte Destina streng und sehr eindringlich. „Die Polizisten wissen nichts von uns. Sie wissen nicht was sie getan haben, daher kannst du sie dafür nicht zur Rechenschaft ziehen. Es liegt jetzt an uns, zu finden, wer auch immer hier gelandet ist.“

„Hört sich irgendwie nach ALF an“, murmelte Luan und erntete dafür einen strengen Blick von Destina.

Ich musste es einfach tun: „Was ist ALF?“

„Das tut jetzt nichts zur Sache“, bestimmte Destina. „Warum wir hier sind, ist klar und ich glaube, dass wir mit euch beiden eine bessere Chance haben den Ailuranthrop zu finden. Euch wird er vertrauen, zu euch beiden wird er kommen. Dann können wir ihn in Sicherheit bringen.“

Die Menschen in der Nähe wandten sich nach und nach wieder ab.

Luan sah nachdenklich zu ihnen hinüber. „Fragt sich nur noch, wie wir an all den Menschen vorbeikommen, ohne allzu große Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen.“

Destina winkte ab. „Das ist doch ganz einfach. Ich werde sie ablenken, dann könnt ihr hindurch schlüpfen.“

Langsam erschien ein schelmisches Lächeln in Luans Gesicht. Ihm schien der Vorschlag zu gefallen. „Das wird bestimmt … einmalig.“

 

°°°

 

Die Schatten um Aman und Luan waren so dicht, dass selbst ich sie mit meinen guten Augen kaum ausmachen konnte. Daher glaubte ich auch, dass es unmöglich sei, dass sie mich sehen konnten, aber der Wind stand schlecht für mich. Das war für mich die einzige Erklärung, warum Aman es trotzdem schaffte, mich in der Dunkelheit unter den Bäumen auszumachen. Mehr noch, ich glaubte, dass er mir in die Augen sah, was ich unheimlich fand.

Dieser Krieger schien besser zu sein, als ich geglaubt hatte. Vielleicht hatte er aber auch nur zugesehen, wie ich an den Rand des Geschehens geschlichen war, um mich möglichst unauffällig in der Nähe dieses gelben, sogenannten Absperrbandes zu begeben, wo ich in dem Schatten auf meinen Einsatz wartete. Das war schließlich der einzige Grund, warum auch ich wusste, dass er sich mit Luan genau auf der Menschenansammlung in dem Schatten versteckt hielt.

Trotzdem fand ich es merkwürdig.

Der Plan, den Destina hatte, war einfach. Sie sagte, dass wir uns bereithalten sollten, während sie die Menge ablenkte. Wir würden schon merken, wann es soweit war. Ich war gespannt.

Eine ganze Zeit geschah nichts.

Menschen kamen an mir vorbei. Ich drückte mich tiefer in die Dunkelheit, um mit ihr zu verschmelzen. Niemand bemerkte mich. Es war das erste Mal, dass es wirklich wichtig war, dass ich meine Ausbildung richtig anwandte. Ich war aufgeregt und auch nervös. Was, wenn ich etwas falsch machte? Es hieß, dass diese Polizei uns nicht durchlassen würde und wenn sie uns erwischten, wie wir versuchten, hinter das Absperrband zu gelangen, würden sie uns nicht nur aufhalten, sondern wir könnten auch richtig Ärger bekommen.

Das hier war kein Spaß, das hier war ernst. Und mit jeder verstreichenden Sekunde wurde mir das klarer.

Ich hörte einen Schrei. Das war Destina Stimme. Zuerst glaubte ich, etwas sei passiert, aber dann fing sie an zu Schimpfen und zu Meckern. So laut, das alle Aufmerksamkeit innerhalb von Sekunden auf sie gerichtet war. Das war unser Zeichen.

Ich ließ die Flip Flops wo sie waren, glücklich darüber, sie endlich los zu sein – der Göttin sei es vergolten, sie drückten nämlich unangenehm zwischen den Zehen – und fuhr meine Krallen aus. Schnell und ohne ein Geräusch zu machen, kletterte ich an den Baum, unter dem ich mich verborgen gehalten hatte, hinauf in die Äste. Es war gut, dass hier überall an der steinernen Platte welche standen. Große, starke Bäume. Alte Bäume. So kam ich schnell weiter. Ich wusste nicht genau, wo ich suchen musste, nur eine ungefähre Richtung und auf jeden Fall hinter dem gelben Band.

Aman und Luan sollten meinem Geruch folgen, von der Erde aus. Sie würden mir Rückendeckung geben. Das hieß, dass ich sie führen musste. Ich musste die richtige Richtung finden.

Halt nicht so viele Geistreden, schalt ich mich, du weißt, wie das geht, du hast es zu Hause tausend Male gemacht, im Unterricht und mit deinen Amicus, also tu es einfach.

Zu Hause war das ein Spiel, dass ich schon als kleines Kind mit meinen Brestern gespielt hatte und auch, wenn hier die Gerüche anders waren, das Ziel war das gleiche: finde die Beute. Und es lag nur ein Geruch in der Luft, der mir vertraut war, der Geruch eines anderen Ailuranthropen.

Ich folgte der Spur instinktiv, fand meinen Weg durch die Bäume, ließ die Menschen und die Gerüche hinter mir. Hier standen die Häuser nicht so dicht aneinander, waren von Gärten umgeben und mir unbekannten Dingen, was ich aber nur nebenbei mitbekam. Ich war auf mein Ziel konzentriert. Finde ihn, war mein einziger Gedanke.

Der Wind drehte und für einen Moment war die Spur fort. Ich hockte im Baum und wartete. Mein Atem ging leise, mein Herz gleichmäßig und meine Ohren fingen jedes Geräusch in der Nacht ein. Die Rinde drückte mir so vertraut in den Fuß, dass ich mir für einen Moment vorstellte, dass gar nichts von all dem geschehen war, dass mir mein Geist nur einen Streich gespielt hatte, dass ich schlief und in Bastets Land wanderte, wie jede Nacht, aber ein zu großer Teil von mir wusste, dass es nur Wünsche waren, die mir im Kopf umhergingen.

Das dies hier alles real war.

Und ich konnte nichts dagegen tun.

Ich schlief nicht, ich war nicht bei meiner Göttin. Ich saß auf einem fernen Planeten in einem Baum und war auf der Suche nach jenen, denen das Gleiche widerfahren war wie mir.

Von weit hinten konnte ich noch die Menschen hören, jene Wesen, die dieses Land bewohnten. Destina Stimme war schon verstummt. Aman und Luan waren nicht auszumachen, aber ich wusste, sie waren in der Nähe. Sie sollten mir folgen, um eventuelle Komplikationen zu beseitigen. Und selbst, wenn ich auf mich allein gestellt gewesen wäre, ich würde tun, weshalb ich gekommen war.

Der Wind wollte nicht wieder drehen, aber da ich die ungefähre Richtung wusste, machte ich mich trotzdem auf den Weg. Balancierte die Äste entlang, sprang von Baum zu Baum. Meine Kleidung verhakte sich mehrere Male in den Zweigen, was ärgerlich und hinderlich war. Nur Luans Warnung hinderte mich daran, sie abzulegen. Ich durfte nicht auffallen, um keinen Preis.

Blätter raschelten und Zweige knackten unter meinem Gewicht. Die Luft war kalt und nur mein aufgeheizter Körper hinderte mich daran, vor Kälte zu zittern.

Der nächste Baum war ein wenig weiter entfernt. Ich nahm Maß und wollte grade springen, als mir der Geruch von Blut in die Nase stieg. Ganz deutlich. Er kam von unter mir, von der Steinpalette. Durchdringend und unverwechselbar.

Ich verhielt mich still, harrte einen Moment aus und sondierte die Umgebung, aber da ich weit und breit niemanden sehen konnte, ließ ich mich hinunterfallen und kam auf leisen Pfoten auf.

Ja, hier war es noch deutlicher.

Ein Stück vor mir, mitten auf der Steinplatte, sah ich es. Einen kleinen Fleck. Ich lief hin und tunkte meinen Finger hinein. Rot und der Geruch sagte eindeutig Blut, Werblut. Ein Stück weiter war noch ein Fleck. Und noch einer. Blutstropfen, eine Spur. Über dem Blutgeruch war ganz deutlich der Duft eines Ailuranthropen. Und er war nicht allein. Ein Sermo begleitete ihn, ein Luchs, ein Junges, das noch nicht alt genug für seine Wandlung in einem Armentum war. Das alles roch ich durch den Schmutz in der Luft.

Ich wollte der Spur schon folgen, als ich es hörte. Schritte. Schwere Schritte. Ein ähnlicher Klang wie von allen Menschen. Als seien sie nicht fähig, leise zu sein. Sie kamen von vorn, traten aus einem Wäldchen heraus, das sehr künstlich aussah, als sei jeder Baum und jeder Busch ein einem bestimmten Muster gewachsen. Seltsam.

Es waren mehrere paar Füße, die auf mich zukamen. Zwei Männer. Beide schlank, mit seltsamen Kopfbedeckungen, ganz in grün. Als sie mich auf dem Boden hocken sahen, blieben sie stehen. Wachsam beobachtete ich sie.

„Was tun Sie hier?“, fragte der ältere, dessen Gesicht von Falten durchzogen war. „Dieses Gebiet ist abgesperrt. Hier läuft eine gefährliche Raubkatze herum. Sie hat schon jemanden angegriffen. Ich muss Sie bitten zu gehen, hier ist es nicht sicher.“

Langsam richtete ich mich auf. Wie hatten mir die beiden bloß entgehen können? Sie bewegten sich so laut. Wieder hatte ich versagt, ich wurde entdeckt.

„Junge Dame, haben Sie mich verstanden?“, sprach er mich erneut an. „Sie dürfen hier nicht sein.“

Gehen oder bleiben. Was war der klügere Ausweg? Ich konnte später wieder kommen, aber das wollte ich nicht. Der Ailuranthrop, der hier vorbei kam, war verletzt und diese Krieger hatten das zu verantworten. Nein, ich würde nicht gehen, ich würde meinen Weg beibehalten. Und wenn die Krieger es verhindern wollten, würde ich ihnen zeigen, wozu ein Ailuranthrop fähig war.

Langsam näherten sich die beiden, angespannt in Gesicht und Haltung. Sie waren nervös. „Junges Fräulein, verstehen Sie mich?“

„Ja das tue ich.“

Die beiden schienen aufzuatmen und sich etwas zu entspannen.

„Dann werden Sie sicher verstehen, was ich gerade …“

„Aber ich werde nicht gehen.“ Ich sah von dem Alten zu dem Jungen. Sie sollten keinen Zweifel an meiner Entschlossenheit sehen. „Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen.“

Der jüngere tauschte einen Blick mit seinem Amicus aus, bevor er ihn auf mich richtete. „Es tut mir leid, aber dieses Tier ist gefährlich. Es hat mich angegriffen. Wir können nicht zulassen, dass sie den Park betreten.“

„Den Park?“ Ich neigte den Kopf zu Seite. Was war das nun wieder?

„Den Park“, sagte der Jüngere und deutete hinter sich auf das angelegte Wäldchen. Dann runzelte er die Stirn. „Ihre Augen … haben sie Drogen genommen?“

„Ich weiß nicht, was das sein soll.“ Die beiden kamen immer näher. Gut so. Nur noch ein kleines Stück.

Die beiden Männer wechselten einen weiteren Blick. Ihre Hände legten sich fast zeitgleich auf etwas an ihrer Hüfte. Ich konnte nicht erkennen, was das war, da es in einer Lederhalterung steckte, aber so, wie sich ihre Muskeln anspannten, konnte es nichts Gutes sein. Ich zog meinen Dolch.

Nur einen Wimpernschlag später hielten sie etwas auf mich gerichtet. Ich glaubte, es sei aus Metall, sicher war ich mir da aber nicht, sowas war mir nämlich noch nie vor die Augen gekommen. Und obwohl ich bei dem Jüngeren vor Anspannung die Sehnen am Hals sehen konnte, blieb ich ganz ruhig. Solange ich sie nicht an mich ranließ, konnten sie mir nichts tun. Luan hatte gesagt, Menschen konnten keine Magie wirken und dem Geruch nach, waren diese Beiden durch und durch Menschen.

„Lassen Sie die Waffe fallen und heben Sie die Hände über den Kopf!“, befahl der Alte und trat einen Schritt zur Seite. Er war ruhiger als sein Amicus.

Über den Kopf? „Warum sollte ich das tun?“

„Ich werde mich nicht wiederholen. Tun Sie, was ich gesagt habe, oder wir eröffnen das Feuer.“

Ich brauchte dringend einen Übersetzer. Diese ganzen Worte die die Menschen benutzten, waren doch zu seltsam. Und dann erst der Akzent. „Was ist Feuer?“

Sie kamen nicht mehr näher, hielten Abstand. Das war nicht gut. So würde ich Schwierigkeiten beim Vorbeikommen haben.

„Sie machen es mit ihrem Verhalten nur noch schlimmer. Lassen Sie die Waffe fallen“, forderte mich der Alte auf.

„Das geht nicht, ich brauche sie.“ Ich hob den Dolch hoch …

Ein Knall.

„Ahhh!“

Ich wurde von etwas an meinem Arm zur Seite geschubst, bevor ich in die Knie ging. Und dann kam der Schmerz.

 

°°°°°

Kapitel Zehn

Ich fauchte. 

Die beiden Männer rissen erschrocken ihre Augen auf. Etwas hatte mich in den Arm gebissen. Ich sah das Blut, fühlte den Schmerz und roch etwas, wie ich es noch nie gekannt habe. Es kam von den Dingern, die die grünen Krieger in ihren Händen hielten.

Oh Göttertod, tat das weh. Ich drückte die Hand auf die Wunde, um der Blutung entgegenzuwirken und zog mich ein Stück von den beiden zurück. Nur mit viel Mühe war es mir gelungen den Dolch nicht fallen zu lassen, als der Schmerz in meinem Arm explodierte. Wachsam behielt ich die beiden in den Augen. Es war weniger der Schmerz, der mich verunsicherte, als mehr … „Wie haben sie das gemacht?“

Der Alte kniff nur die Augen zusammen. „Lassen Sie die Waffe fallen, sonst sehen wir uns gezwungen einen weiteren Schuss abzugeben.“

Schuss, so also nannte man diese Waffe. Sie war fürchterlich und ich konnte genau fühlen, wie sich etwas in meinen Unterarm gebohrt hatte. Gut, jetzt wusste ich es besser, sie konnten also doch von weitem angreifen. Höchste Zeit zu gehen.

Langsam ließ ich den Dolch wieder in meine Leggins verschwinden, durchstach dabei aus Versehen den Stoff. Die grünen Krieger ließen keine meiner Bewegungen aus den Augen. Dann sprang ich. Den Schmerz ignorierend und die Zähne zusammenbeißend stieß ich mich vom Boden ab. Erst nach links und dann gegen den Polizist. Der war so überrascht, dass er nicht reagieren konnte. Er riss den Schuss hoch und fiel auf seinen Kameraden. Die beiden krachten zu Boden. Ich hielt mich nicht lange mit ihnen auf, spurtete los, in den Park, hinauf auf den nächsten Baum. Mein Arm pochte, war zum Klettern ungeeignet und so brauchte ich länger als normal, erreichte die Baumkrone, als die Beiden an meinen Stamm gerannt kamen.

Wieder ein Knall. Ich spürte wie etwas an mir vorbei flog und eins wurde mir sofort klar. Hier konnte ich nicht bleiben. Ich musste sie abhängen. Sowohl, damit sie mich nicht erwischten, als auch, um meine eigentliche Aufgabe zu erfüllen.

Also rannte ich die dicken Äste entlang, hinein in den nächsten Baum und in den folgenden. Hier standen sie dichter, als an der Steinplatte. Die Krieger in grün blieben mir so gut es ging auf den Fersen, doch in der Dunkelheit und dem dichten Blätterdach hatte ich den Vorteil auf meiner Seite.

Ich kletterte im Zick Zack, machte immer wieder Pause und lauschte auf die Schritte und Rufe, um dann in die entgegengesetzte Richtung zu huschen. Sie konnten mir nicht lange folgen. Ich war zu leise, zu gewandt. Die Bäume waren mein Element.

Bald schon hörte ich sie nicht mehr. Ich kauerte auf irgendeinem Baum im Park, hielt mir den schmerzenden Arm an die Brust gedrückt und lauschte in die Nacht hinein. Nein, sie waren weg, aber da waren noch andere. Ich konnte sie hören, den Lärm, den sie versuchten zu vermeiden, ihre Schritte. Nicht allzu nahe, aber sie waren da. Das würde noch schwieriger werden, als ich geglaubt hatte.

Auf leisen Pfoten schlich ich durch die Äste. Meine Ohren fingen jedes noch so kleine Geräusch der Nacht ein. Aber davon durfte ich mich nicht ablenken lassen. Der Ailuranthrop, der hier war, nur der zählte. Ich war gekommen um ihn zu holen und das würde ich auch tun – mit oder ohne verletzten Arm.

Ich schloss die Augen und sog die Luft tief in meine Lungen, nahm die Witterung auf und tatsächlich, über den Duft meines Blutes nahm ich den anderen wahr. Er war hier in der Nähe. Es war so stark, dass ich plötzlich mein Ziel vor Augen hatte. Nichts konnte mich noch aufhalten. Immer weiter durch die Bäume und dann … ja, da war es ganz nahe. Direkt vor mir.

Ich verlagerte mein Gewicht, um durch die Blätter nach unten zu spähen, sah aber nichts, außer einer Menge Büsche. „Bist du da unten?“

Keine Antwort.

„Ich bin Lilith, Kriegerin der Bastet und hier, um dir zu helfen. Wenn du da bist, sag etwas.“

Alles blieb ruhig.

Ich biss mir auf die Lippe. Was sollte ich nur machen? Ich hörte die Menschen, sie waren nicht mehr weit und mit meinem verletzten Arm, glaubte ich nicht, dass ich unbeschadet nach unten und wieder nach oben kam. Aber ich war mir so sicher, dass er da unten war. Vielleicht hatte er zu viel Angst, um zu antworten, vielleicht glaubte er, dass es eine Falle sei.

Oh Heillos, blieb mir denn gar nichts erspart? „Gut, ich komme zu dir runter.“ Langsam kletterte ich hinab, bis ich den untersten Ast erreicht hatte. Dann ließ ich mich in die Tiefe fallen. Der Aufprall erschütterte meinen Arm und sandte den Schmerz durch meinen ganzen Körper. Ich biss die Zähne fest zusammen. Ich war eine Kriegerin, eine Kriegerin mit einer Aufgabe und alles andere kam später.

Auch der Schmerz.

Der Blutgeruch war hier sehr stark, kam direkt von vor mir. Aus den Büschen. Ich lauschte noch einmal auf die Menschen, schob dann Blätter und Zweige von mir und riss die Augen auf. „Nein. Oh, bitte Bastet, nein.“ Direkt vor mir, tief versteckt im Strauch, in eine silberne Robe gehüllt, lag eine gewandelte Ailuranthropin und … „Nein das darf nicht sein.“

Sie bewegte sich nicht mehr.

Ich stürzte neben sie, gab auf das Pochen in meinem Arm keine Acht.

Ein Werluchs, ein junges Mädchen, kaum älter als ich. Ihr Blick war leer. Zwei Wunden bluteten stark. Eine im Bauch, eine am Bein. Vorsichtig zog ich ihre Mütze zurück, beschmierte mich dabei mit ihrem Blut. Doch das war nichts im Vergleich zu dem, was hier vor mir lag. Ich kannte dieses Mädchen. Sie war Schreiberlehrling am Tempel gewesen. Ich Name war Naaru und jetzt war sie tot, getötet von den Kriegern dieser Welt.

Wut packte mich. Über dieses Unrecht, über diese Brutalität und über mein Versagen. Warum hatte das nur so kommen müssen? Warum war ich nicht schneller gewesen? Oh Bastet, warum nur war das geschehen? Das war nicht gerecht. Sie war hier weit entfernt der Heimat, keine Familie, keine Amicus, keine Priester. Niemand sollte so einsam sterben. Und schon gar nicht von der Hand grüner Krieger aus fremden Welten.

Das war so ungerecht, dass ich die grünen Krieger am liebsten sofort zur Rechenschaft gezogen hätte. Das wäre meine Aufgabe gewesen, um dieses Verbrechen zu sühnen, aber ich war verletzt, ich würde es niemals mit ihnen aufnehmen können.

Langsam begann ich diese Welt zu verachten. Ja, es mochte stimmen, auch auf Silthrim gab es Ungerechtigkeiten. Jahrtausende hatte Krieg geherrscht, aber dafür hatte es einen Grund gegeben. Das hier war einfach nur eine Hinrichtung an einem wehrlosen Mädchen gewesen, die nicht wusste, was um sie herum vor sich ging.

Bedächtig schloss ich Naarus Augen. Dabei streifte ich etwas, das in ihrem Arm steckte. Etwas kleines, halb verdeckt von ihrer Kleidung. Stirnrunzelnd drehte ich es heraus und drehte es in meinen Fingern. Es hatte Ähnlichkeit mit einem Pfeil, war aber doch ganz anders. Vorn war es spitz, wie bei einer Nadel und der Mittelteil bestand aus Glas, mit roten, plüschigen Federn am Ende. Dieser Pfeil, wenn es denn einer war, war hohl und er roch seltsam.

Ich sah mir ihren toten Leib genauer an und entdeckte noch zwei weiteren von diesen Bolzen. Was auch immer es war, ich war fest davon überzeugt, dass es mit an Naarus Tod schuld hatte. Und dass es von den Kriegern der Menschen kam.

Was sollte ich jetzt tun? Luan hatte mir verboten, die grünen Krieger anzugreifen, weil sie nichts von uns wusste, aber gab ihnen dass das Recht, einen der Unsrigen zu töten? Oh Bastet, hilf. Ich wusste nicht mehr, auf welche Worte im Geist ich achten sollte. Das alles war so verwirrend.

Hinter mir knackte es. Ich wollte schon angreifen, als ich auf einen Geruch aufmerksam wurde, der mir bisher entgangen war. Da hockte ein kleiner Luchs. Natürlich, der Sermo. Ich hatte ihn vorhin schon gerochen, aber völlig vergessen.

Ich ließ die Pfeile auf den Boden sinken und drehte mich leicht herum. Da, aus dem Gebüsch war das Geräusch gekommen und auch, wenn ich niemanden sah, so roch ich den Sermo. „Hallo mein Hübscher“, flüsterte ich, um ihn herauszulocken. Bei diesen Worten tat mir das Herz weh. Das hatte ich immer zu Sian gesagt. Was wohl mit ihm passiert war? Ob er auch in das Portal gezogen wurde? „Komm raus, du brauchst keine Angst haben.“

Zwischen dem Gestrüpp sah ich nur zwei Augen aufblitzen.

„Du bist Naarus Sermo, oder? Du bist …“ Wie hieß er noch gleich? Göttertod, warum passte ich nur nie richtig auf? Ich suchte in meiner Erinnerung. So viele Luchse gab es im Tempel nicht. Ich musste mich nur erinnern. Er hieß … nein warte, Naarus Sermo war eine Kätzin. „Nebka. Du bist Nebka, richtig?“

„Ja“, antwortete mir ein zartes Stimmchen. In diesem einen Wort schwang so viel Schmerz mit, dass sogar ich ihn spüren konnte.

„Ich bin Lilith“, sagte ich vorsichtig und rutschte etwas näher.

„Ich weiß. Ich kenne dich aus dem Tempel.“

Erst jetzt fiel mir ein, das Nebka noch ein Kleinkind war, nur wenig älter wie Mochica. Oh Mochica, ob mit ihr wohl alles in Ordnung war? Und  mit Jaron? Das letzte, was ich von ihm gesehen hatte, war, wie er blutend am Boden lag und sich nicht mehr bewegt hatte. „Sag mir Nebka, was ist passiert?“

„Ich … ich weiß nicht, da … da war so viel Wind und …“ Sie verstummte und schluchzte leise.

„Ist schon gut. Jetzt bin ich ja hier, dir wird nicht mehr passieren.“ Ich rückte etwas näher an den Strauch heran und breitete die Arme aus. Sie folgte diese Einladung, kroch in meine Arme und rollte sich zu einem festen kleinen Ball. Ihr helles Fell war von Naarus Blut rot und bräunlich verfärbt, aber ansonsten war sie unverletzt – zumindest äußerlich. Die Wunden in ihrem Inneren, die dieses Übel ihr zugefügt hatten, würden wahrscheinlich noch lange bluten und es gab keinen Verband oder Trank, der diese heilen könnte. Das könnte nur der Segen der Göttin und die Zeit – natürlich nur, wenn  Nebka diesen Verlust verwinden würde.

Ihre kleinen Tatzen krallten sich in mein Bein, als versuchte sie, bei mir geistigen Halt zu finden. „Da war im Tempel so viel Wind. Ich … ich konnte nichts sehe … hen, weil Naaru mi … mich so fest gehalten hat“, schluchzte sie. „U … und dann waren w … wir hier und dann ha … haben sie uns gejagt. Na … naaru hat versucht s … sie zu verjagen und dann hat sie ge … ge … geblutet und wir haben uns versteckt. Doch sie ka … kamen auch da hin und Naaru wurde von di … diesen Pfeilen getroffen. Wir ha … haben uns hier versteckt und dann ist sie … sie einfach umgefallen und nich … nicht mehr aufgestanden.“

Also hatte ich recht. Diese Glaspfeile hatten sie getötet. Mein Sieg schmeckte bitter. Naaru war tot und Nebka eine Weise.

Die Geräusche der Menschen wurden lauter. Mir wurde wieder bewusst, in welcher Gefahr wir hier eigentlich steckten. „Wir müssen hier weg. Kannst du dich an mir festhalten?“

„I … ich weiß nicht“, weinte sie, als hätte sie Angst, dass ich sie zurücklassen könnte.

„Schsch, ist ja schon gut. Ich passe auf dich auf.“ Nur, wie sollte ich das machen? Ich musste klettern. Mit einem Arm ging das, aber ich musste Nebka auch festhalten. Ich brauchte einen Babybeutel wurde mir klar, aber wo sollte ich den hernehmen? Mein Blick fiel auf den leblosen Körper. Vielleicht hatte sie ja einen bei sich getragen. Mit schnellen Griffen untersuchte ich Naaru, aber da war nichts. Göttertod noch ein.

Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. Ich brauchte einen Beutel, sonst kam ich hier nicht weg, aber … meine Geistreden waren verwerflich, ich konnte doch nicht … doch wie sollte ich sonst. Mir blieb keine andere Wahl, es ging nicht anders.

Ich riss ein Großteil ihrer Robe ab, faltete den Stoff und knotete die Ecken hastig zusammen. Dann riss ich einen weiteren Streifen Stoff ab, den ich als Henkel daran festband. Das hing ich mir um den Hals und steckte Nebka hinein. Sich an Toten zu vergehen, war das schlimmste Verbrechen, dass es gab, aber ich musste Nebka und mich hier rausbringen, bevor uns das Gleiche wie Naaru widerfuhr. Oh Bastet, verzeih mir meine Schandtat.

Mit dem Beutel vor dem Bauch hatte ich zwar mehr Gewicht, aber es würde schon gehen – es musste einfach gehen. Ich hatte schon ganz andere Dinge mit hinauf in die Bäume genommen. Nur war da mein Arm nicht verletzt gewesen.

Die Geräusche von Schritten im Unterholz kamen immer näher. Blätter raschelten und Äste knackten. Diese Geschöpfe hatten wirklich keine Ahnung, wie man sich lautlos bewegte. Zum Glück für mich.

Es waren mehrere Menschen. Ich witterte, vergewisserte mich, dass sie noch weit genug weg waren und kroch dann aus dem Gebüsch. Einen Moment zögerte ich, dann nahm ich einen von den Glaspfeilen und steckte ihn vorsichtig mit zu Nebka in den Beutel. Wenn diese Waffe Naaru getötet hatte, dann würde sie mir im Notfall auch gegen die grünen Krieger helfen.

Und jetzt nichts wie weg.

Den Baum, den ich zuvor verlassen hatte, kletterte ich empor. Es war schwer und mehr als einmal drohte ich abzurutschen. Ich musste vorsichtig sein, musste auf meine Arm aufpassen und gleichzeitig auf Nebka achten, um sie nicht zu zerdrücken, aber ich schaffte es.

Mit aller Kraft zog ich mich auf einen breiten Ast, der unser Gewicht tragen konnte. Dabei stieß ich mit dem Arm gegen den Stamm. Blitzartiger Schmerz machte sich breit. Ich zischte, verharrte einen Moment, bis er wieder etwas nachließ und schwor mir, dass die grünen Krieger dafür noch büßen würden.

Schweratmend hockte ich mich in die Äste und lauschte auf meine Umgebung. Nebka hielt ganz still. Ich wusste, es war besser, sich gleich wieder auf den Weg zu machen, aber ich brauchte einen Moment um mich auszuruhen. Erst jetzt merkte ich, wie nass und klebrig das Longshirt war. Ich hatte mehr Blut verloren, als mir bewusst war. Und auch Naarus Blut klebte an mir. Hoffentlich konnten sie mich nicht wittern.

Die Menschen kamen näher. Ich konnte es hören, riechen. Die Nervosität dieser Wesen lag in der Luft und wehte zu mir nach oben in den Baum. Bevor ich mich wieder in Bewegung setzen konnte, sah ich den ersten, wie er sich durch die Büsche schlug. Dann noch einen und noch einen. Sie hielten auf uns zu, durchforsteten das Gestrüpp. Einer ließ auch seinen Blick durch die Baumkronen wandern, aber er konnte mich nicht entdecken, dafür hatte ich mich zu tief in die Schatten gesetzt.

Tröstend strich in Nebka über den Rücken, während ich beobachten musste, wie diese Mörder Naaru fanden. Heiß kochte die Wut in mir. Am liebsten hätte ich mich auf sie gestürzt und sie für ihre Tat büßen lassen, aber sie waren so viele und ich war verletzt. Ich hätte keine Chance gegen sie gehabt. So musste ich hilflos mit ansehen, wie sie die Sträucher absuchten und auf den leblosen Körper stießen. „Hier, guckt mal, ich hab etwas gefunden.“

Sofort kamen die anderen angelaufen. Einen Moment herrschte Schweigen. Dann fragte einer: „Meine Güte, was ist das denn?“

„Vielleicht ein Kostüm?“, überlegte der Erste.

Dann kam der jüngere Mann, der Polizist von der Steinplatte. „Oh Gott!“

Ich hörte ihnen schweigend zu, entsetzt über das Geschehene. Die Menschen wussten nicht, was Naaru war und das machte ihnen Angst, ich konnte es riechen, aber, dass sie nicht verkleidet war, wurde ihnen schnell klar. Doch nicht, was sie jetzt machen sollten. Sie berieten und mit jedem weiteren Wort von ihnen, wuchs ein Knoten in meiner Brust, wurde größer und härter, bis ich es nicht mehr aushielt. Ihre Worte schmerzten in meinen Ohren.

Ich sah in den Himmel, hinauf in das Land der Götter. „Bastet, Göttin der Liebe, Mina der Ailuranthropen. Geleite Naarus Geist zurück in die Macht, weise ihr den Weg, auf dass sie im Licht badet. Schütze sie und erinnere dich an sie.“ Das war das Letzte, was ich für Naaru tun konnte, die letzten Worte, die jedem Ailuranthropen mit auf seinen Weg gegeben wurden.

Ich wandte Naaru und den Menschen den Rücken zu und machte dass ich hier weg kam.

 

°°°

 

Mist, das konnte doch einfach nicht wahr sein. Die ganze Steinplatte, da wo vorhin noch keiner war, war nun voll mit Menschen. Der ältere, grüne Krieger war auch unter ihnen. Jetzt hatte ich es so weit geschafft, den ganzen Weg durch den Park unentdeckt zu bleiben und konnte hier nicht weiter. Zurück konnte ich auch nicht. Die Polizei suchte noch immer den Park ab, auch in den Bäumen. Zwei Mal hätten sie mich beinahe entdeckt.

Ich kam nicht weiter und zurück konnte ich auch nicht.

Ich war eingekesselt.

In ihrem Beutel bewegte sich Nebka. Sie hatte die ganze Zeit keinen Ton von sich gegeben. Das war ein schlechtes Zeichen, besonders für ein so kleines Kind. Ich hoffte nur, dass sie es überleben würde. Es passierte nicht selten, dass ein Sermo aus Trauer starb, wenn der Leiter zurück in Bastets Macht ging.

„Keine Angst, ich bring uns schon hier raus“, beruhigend strich ich über den Beutel. Nur wusste ich nicht, ob ich sie oder mich damit beruhigen wollte. Aber es war auch egal, es half sowieso nicht viel.

Ich kletterte einen Baum weiter, von dort hatte ich eine bessere Sicht. Balancierte den Ast entlang und sprang. Die Blätter raschelten leise. Ich duckte mich in der Dunkelheit in die Schatten. Selbst wenn die grünen Krieger mich gehört haben sollten, sehen konnten sie mich nicht.

Einen Moment verharrte ich einfach still, dann noch einen. Erst als ich mir wirklich sicher war, dass man mich nicht bemerkt hatte, wagte ich es, die Äste auseinander zu ziehen und einen Blick hinunter auf die Steinplatte zu werfen, um nach einer Möglichkeit zu suchen, diesen Ort hinter mir zu lassen.

Eine kühle Brise schlug mir entgegen, eine. Dann schnappte ich einen wohlvertrauten Geruch auf. Aman. Er war hier irgendwo. Oh Göttin, vergelts. Ihn zu riechen war schon eine Erleichterung für mich, aber als ich ihn dann noch entdeckte, war es, als würde ein zentnerschweres Gewicht von meinen Schultern fallen. Ich war nicht allein, ich hatte Hilfe. Der Göttin sei es vergolten.

Aman hockte im dunklen Schatten eines Hauses, halb verborgen hinter Sträuchern und sah in meine Richtung. Er wusste genau, wo ich war, konnte aber von dort aus auch nicht viel tun. Selbst mit ihm zusammen konnte ich es nicht wagen, die grünen Krieger anzugreifen, es sprach zu viel dagegen. Wir waren zahlenmäßig unterlegen, ich war verletzt und dann war da noch Nebka. Nein, ich musste hier ausharren und auf eine Gelegenheit warten, hier wegzukommen. Hoffentlich würden sie mich nicht vorher entdecken. Denn mir ging langsam die Kraft aus und ich wusste nicht, was ich dann tun sollte.

Eine schöne Kriegerin gab ich ab.

Aman suchte meinen Blick und deutete mit dem Kopf immer wieder nach links. Ich brauchte einen Moment um zu verstehen, was er von mir wollte und als ich mit meinen Augen in die Richtung folgte und wäre vor Schreck fast vom Baum gefallen. Luan hockte neben mir. Zur Sachmet noch mal, diese Vampire! Waren völlig geruchlos und leise wie Schatten. Es gab kaum eine Chance ihre Anwesenheit zu bemerken, besonders, wenn sie nicht bemerkt werden wollen.

Wie er sich da an den Baum krallte, brachte mich selbst in dieser Situation fast zum Lachen. Es war einfach lächerlich, als hätte er Angst, der Ast würde jeden Moment brechen. „Hast du den Ailuranthropen gefunden?“, flüsterte er.

„Ja.“ Ich wandte mich ab, fixierte die grünen Krieger mit einem solchen Hass, dass es mich nicht gewundert hätte, wenn sie meinen Blick gespürt hätten. „Sie ist tot.“ Und sie trugen die Last der Schuld, nur war ihnen wahrscheinlich gar nicht bewusst, was sie getan hatten. Doch das minderte ihre Schuld nicht, nahm ihnen nicht die Verantwortung ab. Jedes Leben war wertvoll, selbst im Krieg und diese Leute hatten es vergoldet. Ich sah zurück zu Luan. „Die Menschen haben sie getötet.“

Auf dem Gesicht des Vampirs zeichnete sich tatsächlich etwas ab, was ich nie für möglich gehalten hätte: Kummer. Mitgefühl für einen Ailuranthropen. „Das tut mir leid.“ Einen Moment schwieg er, dann sagte er: „Du bist verletzt.“

„Auch das waren die Menschen.“ In meiner Stimme schwang so viel Bitterkeit mit, dass der Kummer auf Luans Gesicht sich noch vertiefte.

„Sie wissen nicht, was sie da getan haben“, sagte er leise.

„Das gibt ihnen aber noch lange nicht das Recht, es zu tun.“

Langsam ließ er die Luft aus den Lungen entweichen. „Da muss ich dir zustimmen.“ Er stand wacklig auf und streckte den Arm in die Luft. Daraufhin trat Aman aus den Schatten der Häuser direkt auf die grünen Krieger zu.

Ich riss die Augen auf. „Was macht er da?“

„Lenkt die Polizisten ab, damit ich dich hier rausbringen kann.“

Die grünen Krieger wurden sofort auf ihn aufmerksam. Aman blieb ganz ruhig, als sie auf ihn zukamen. Das Gemurmel der Stimmen drang zu mir, aber ich konnte nicht verstehen, was gesagt wurde.

„Komm, lass uns verschwinden, solange er sie ablenkt.“ Luan ließ sich von Baum fallen. Ich tat es ihm gleich.

 

°°°

 

Immer in den Schatten der Häuser waren wir weggeschlichen. Luan hatte mich sofort zum Auto gebracht. Aman war kurz danach zu uns gestoßen. Die grünen Krieger hatten ihn einfach zurück zum gelben Band geleitet und ihn dann ziehen gelassen. Auch Destina tauchte nur wenig später am Auto auf.

Ich berichtete ihnen mit knappen Sätzen, was geschehen war, beobachtete ihre Reaktionen genau. Trauer bei Luan, Empörung bei Destina und Unglaube und Wut bei Acco. Aber eins hatten sie alle gemeinsam. Kummer und Mitgefühl, wie ich es für einen Ailuranthropen nicht erwartet hätte. Aman dagegen zeigte keinerlei Regung. Aber es schien ihn nicht egal zu sein. Es war eher, als wäre er nicht fähig, Gefühle zu zeigen.

Ich saß bereits im Auto, Nebka im Schoss, während sie sich noch besprachen, wie es weitergehen sollte. Die kleine Luchsin zitterte am ganzen Leib und ich machte mir Sorgen. Das alles zu verkraften war für sie noch schwerer, als für uns. Ohne Naaru war sie ganz allein auf der Welt. Doch ich würde nicht zulassen, dass der kleinen Luchsin etwas geschah. Das hatte ich ihr versprochen.

Und mir auch.

 

°°°°°

Kapitel Elf

Es war Wärme die mich empfing, als ich durch die Tür ins Innere trat. Das Haus fühlte sich seltsam einladend an. Es war nicht mein Zuhause und das würde es auch niemals sein, doch es tat auf seltsame Art gut, zurück zu sein. Wahrscheinlich, weil es in dieser Welt der einzige Ort war, den ich als eine gewisse Zuflucht ansehen konnte.

Im Hauptraum saßen Janina und John. Beide an jeweils anderen Enden des Sitzmöbels, so weit wie möglich voneinander entfernt. Meine Geistreden sagten mir, dass er es war, der die Nähe zu Janina nicht ertragen konnte. Ob er jetzt wohl auch wusste, was sie war? Hatte sie es ihm gestanden? Es hatte den Anschein, da er sich nicht sonderlich wohl in seiner Haut zu fühlen schien.

Als John uns sah, drückte er sich deutlich tiefer in den Stoff, alle Muskeln angespannt. Besonders bei meinem blutigen und zerschundenen Anblick. Auch Destina bemerkte es und musterte uns alle scharf.

„Na, hab ihr noch einen dämlichen Idioten gefunden, der uns das Leben schwer machen kann?“, war Janinas Begrüßung.

Destina wollte etwas sagen, aber in dem Moment brach meine Wut hervor, die in mir kochte, seit ich hatte Naaru hatte zurücklassen müssen. Wie konnte sie es wagen, so abfällig mit uns zu sprechen? Naarus toten Leib vor Augen stürzte ich auf sie zu, so schnell, dass ihr keine Zeit zum Aufspringen blieb. Links und rechts von ihr krallte ich eine Hand in das dicke Polster. Meine Wunde pochte. Der Schmerz zuckte bis hinauf in meine Schulter.

Direkt vor ihrem Gesicht hielt ich an, so nah, dass ich ihren Atem auf der Haut spüren konnte. „Ja“, grollte ich, „ich habe sie gefunden und sie ist tot. Getötet von den Menschen, von jenen, die ihr beschützt. Durchbohrt mit gläsernen Pfeilen, tiefe blutende Wunden in ihrem Körper. Sie liegt an diesem Ort, Park, begafft von ihren Mördern, den Leib ihnen ausgeliefert und lässt eine Weise zurück.“

Ihre Augen wurden mit jedem Wort größer.

„Ich weiß, dass du mich nicht hier haben willst und glaub mir, ich wäre auch lieber in meiner Heimat, in einer Welt, die ich verstehe, aber das Schicksal und meine Göttin haben mich hierher geführt und nun werden wir nun beide daraus das Beste machen müssen. Also, wenn es dich nicht stört, behalt deine Feindseligkeit vorerst für dich, weil es mich nämlich danach dürstet jemanden fürchterlich wehzutun und wenn du nicht aufpasst, könnte es sein, dass ich diesem Bedürfnis in deiner Gegenwart nachgebe. Habe ich mich deutlich ausgedrückt?“

Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. „Wenn du glaubst, mir drohen zu können, hast du dich aber verrechnet. Ich …“

„Was sind das für gläserne Pfeile, von denen du da sprichst?“, unterbrach Luan sie.

Wir drehten beide die Köpfe zu ihm. Ich wusste nicht, ob er das gesagt hatte, um mich von Janina abzulenken, oder ob es ihn wirklich interessierte, jedenfalls richtete ich mich auf und zog den gläsernen Pfeil aus dem Babybeutel heraus und  knallte ihn auf den Tisch, bevor ich wütend aus dem Raum stampfte, durch den Flur in das Bad. Im Moment war es besser, wenn ich etwas Abstand zu Janina bekam. Nur leider war dort drin kein Licht und ich hatte vorhin nicht gesehen, wie dieser Raum beleuchtet wurde. Die Kristalle im Tempel und bei mir zu Hause, leuchteten auf, wenn ich den Raum betrat. Hier war das wohl nicht so.

Nun gut, musste der Sternenschein, der durch das kleine Fenster fiel, halt reichen.

Ich nahm den provisorischen Babybeutel ab, legte ihn vor die Wanne und ließ mich schwer daneben sinken. Mein Arm sande immer noch Schmerzen, ein gleichmäßiges Punkern, das bis in meiner Schulter hochzog. Ich musste mich darum kümmern, bevor es schlimmer wurde, aber erst mal wollte ich einen Moment ausruhen.

Nebka steckte vorsichtig das Köpfchen aus dem Beutel. Sie zitterte noch immer und hatte Angst. Die Geräusche, die Gerüche, die Wesen, alles war so fremd. Die Augen groß, die Ohren angelegt. Sie sah so winzig aus, so zerbrechlich.

„Alles wird gut.“ Sanft strich ich ihr über den Kopf. „Ich muss mich nur kurz um meinen wunden Arm kümmern.“

Ihre Augen wurden noch größer und ich sah die Angst darin. Oh Bastet, kein Kind sollte so leiden müssen. „Du gehst aber nicht weg?“

„Nein, ich bleibe bei dir. Das verspreche ich dir.“

Leise Schritte näherten sich. Kurz darauf erschien Aman im Türrahmen.

Seufz. Mit ihm wollte ich jetzt nicht sprechen, wirklich nicht. Ich wollte allein sein, meine Wunden lecken und im Geiste reden zu können. Ich richtete mich auf. „Was willst du?“ Es kam unfreundlicher raus, als ich beabsichtigt hatte, aber für Freundlichkeiten hatte ich einfach keine Kraft mehr.

Er schwieg für eine ganze Weile, sah mich nur an. Er war deutlich sauer und warum erfuhr ich, sobald er seinen Mund öffnete. „Sie haben uns ihre Gastfreundschaft angeboten. Es ist nicht recht, dass du auf sie losgehst. Auch nicht, wenn Janina sich dir gegenüber feindlich verhält. Dies ist ihr Haus und wir haben genug Unruhe hineingebracht. Sie hat jedes Recht, es schützen zu wollen.“

Jetzt war ich also an allem schuld? Er hatte sich wirklich den falschen Moment ausgesucht, um mir ungerechtfertigte Vorwürfe zu machen. „Du bist ein Heuchler“, warf ich ihm vor und verengte die Augen zu Schlitzen.

„Wie bitte?“

„Du hast mich schon verstanden. Du bist ein Heuchler. Seit du erfahren hast, dass sie das Kind eines Vampirs trägt, ist es dir zuwider auch nur in ihrer Nähe zu stehen. Du tust alles, um aus ihrer Reichweite zu gelangen. Ich habe gesehen, wie du vor ihrer Berührung zurückgezuckt bist, wie du nach Möglichkeit suchst das Wort nicht direkt an sie richten zu müssen und ausgerechnet du sagst mir, dass ich mich falsch verhalten habe?“

Mit jedem Wort wurde sein Gesicht verkniffener. Nun war er nicht nur sauer, sondern richtig wütend. Auch wenn er seine Stimme ruhig hielt, so war es ihm deutlich anzusehen. „Ja, das tue ich und ich sage dir noch etwas. Das du verletzt bist, ist allein deine Schuld. Ich habe gesehen, wie es geschah. Du warst nicht vorsichtig. Du hast sie provoziert, die Situation falsch eingeschätzt.“ Er bedachte mich mit einem scharfen Blick. „Du solltest keine Kriegerin werden. Du bist nicht gut genug dafür.“

Das traf. Tiefer, als er vermutlich vorgehabt hatte. Worte halten durch meinen Kopf, Worte von meinem Fafa, Worte, die mich in meinen schwersten Zeiten begleiteten und mich daran erinnerten, warum ich das tat und mich dazu anstachelten, weiter zu machen, auch wenn es mir manchmal sehr schwer fiel. „Nasan“ hatte er gesagt, „du hast das, was eine Kriegerin braucht, das Herz und den Willen. Wenn es das ist was du tun willst, lass dich von niemand aufhalten. Ich werde immer stolz auf dich sein.“ „Doch, bin ich“, sagte ich fest. „Ich bin gut genug.“

„Nein, bist du nicht. Dir fehlt die Kraft, das Durchhaltevermögen und die Ruhe“, widersprach er.

Oh, dieser überhebliche Lykanthrop. Wie er selbstgefällig dort stand, würde ich ihm am liebsten einmal meine Krallen zeigen, dann würde er nicht mehr so geringschätzig reden. „Ich besitze den Willen und das Herz“, brachte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

„Das reicht nicht“, konterte er ruhig.

„Das kann nur jemand sagen, der so kalt und berechnend ist wie du. Und jetzt lass mich allein.“ Ich wandte mich von ihm ab. Meine Wut schnürte mir die Kehle zu.

Er bedachte mich mit einem letzten Blick. „Wie du wünschst. Wenn du Hilfe mit deinem Arm brauchst, sag Bescheid.“

„Raus!“, schrie ich.

Mit steifer Haltung wandte er mir den Rücken zu und verließ das Bad, ohne ein weiteres Wort an mich zu verschwenden.

Während ich noch hörte, wie er sich entfernte, riss ich ungeduldig an meinem Ärmel. Ich musste den Stoff loswerden, um an die Wunde zu kommen. Es tat weh, doch der Schmerz lenkte mich ab. Du bist nicht gut genug dafür. Ach, zur Sachmet noch mal! Er wusste ja nicht wovon er da sprach. Wer war er schon? Ein einfacher Krieger, mehr nicht.

Welches Recht nahm er sich heraus, sauer auf mich zu sein? Ich war verletzt worden, von meinem Volk musste jemand sterben, weil ich nicht schnell genug war. Und ich war es auch, die Janina am liebsten fortjagen würde. Er hatte kein Recht, so auf mich herabzusehen. Nur weil er ein fertiger Krieger war, stand es ihm noch lange nicht zu, so mit mir zu reden. Er war nicht besser als ich. Er war nur ein Lykanthrop, ein ahnungsloser Hund, was wusste er schon? Gar nichts. Er hatte keine Ahnung, von nix. Er war einfach nur arrogant. Dummer Hund.

Du bist nicht gut genug dafür. Ich drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Er hatte ja keine Ahnung von was er da sprach. Ich wusste, ich war nicht gut. Nicht so gut wie meine Brestern und niemals so gut wie mein Fafa. Aber ich war gut genug. Ich würde eine Kriegerin der Bastet werden und es damit allen beweisen. Auch ihm. Dann würde er nicht mehr so reden.

 „Ich finde, du bist eine gute Kriegerin“, ertönte Nebkas leise Stimme neben mir. Die großen Augen unter dem ganzen Stoff kaum zu sehen.

Ich hielt inne, senkte dann meine Hand und strich ihr über den Kopf. „Vergelts.“ Sie war nur ein kleines Kind, hatte keine Ahnung von was sie da sprach und dennoch bedeuteten mir ihre Worte etwas. Es gab also außer meinem Fafa noch einen Geist, der an mich glaubte. Nicht wie meine Mina. Sie hatte gewollt, dass ich Zuhause blieb und ihr half, aber ich wollte Silthrim bereisen. Die Länder erkunden, mit anderen Wesen Kontakt haben und von ihnen lernen. Das hatte ich schon immer gewollt, solange ich mich zurück erinnern konnte. Das Leben als Frau eines angesehenen Mannes auf seinem eigenen Hof, wie sie es sich für mich wünschte, hatte mich noch nie interessiert. So war ich nicht und so würde ich auch niemals sein. Der Weg meines Fafas und meines Brestern, das war auch meiner. Eines Tages würde ich so sein wie sie.

Wieder näherten sich Schritte. Schwerer dieses Mal und zögernder. Schon bevor er im Türrahmen auftauchte, wusste ich, dass es nur John sein konnte. Die Menschen hatten alle diesen schweren Tritt, es konnte also kein anderer sein.

Ich gab meinen Versuch auf, mir das Longshirt abzustreifen und sah zum Türrahmen. Es tat sowieso nur weh.

John kam nicht in den Raum, stand davor, als wollte er nicht hier sein.

Ich wartete einfach, weil ich mir nicht vorstellen konnte, was er wollte. Und seltsamerweise hatten viele Geschöpfe die Angewohnheit, eine bedrückende Stille mit einem Gespräch zu füllen. Sinnlose Worte, nur um etwas zu hören. Auch er hielt es nicht sehr lange aus. „Ähm … ich …“ Schweigen. „Warum sitzt du im Dunkeln?“

„Weil ich nicht weiß, wie dieser Raum zu beleuchten ist.“

Er bewegte sich nicht. Dann langsam, ja fast vorsichtig – als hätte er Angst, dass ich ihm bei der kleinsten Bewegung den Arm abreiße – griff er in den Raum an der Wand entlang. Es gab einen leisen Klick und der Raum war hell beleuchtet. Meine Augen brauchten einen Moment, um sich umzugewöhnen. Er hatte sich nicht weiter herein bewegt.

Ich blieb auf dem Boden, mit der Hand auf Nebkas Kopf.

„Hm … äh … ist das ein echter Luchs? So wie der Wildhund? Ein …ähm, wie habt ihr die nochmal genannt?“

„Ein Sermo.“ Ich senkte den Blick auf sie. Nebka beobachtete John ängstlich von dem Beutel aus, bewegte sich unruhig und nur meine Hand verhinderte, dass sie sich gänzlich darin verbarg. „Ihr Name ist Nebka. Sie ist Naarus Waise.“ Ich sah wieder zu ihm auf. „Aber ich bin sicher, du bist nicht zu mir gekommen, um über Nebka zu sprechen. Oder mir den Raum zu beleuchten.“

„Nein.“ Unsicher schwankte sein Blick zwischen mir und dem Korridor hin und her, so als wollte er ganz schnell wieder weg. „Aber Gran hat mich gebeten, mal nach dir zu sehen.“ Er verstummte kurz. Rieb sich unsicher über den Arm, ließ sie dann wieder fallen. „Sie sagt, du seist verletzt und ich bin Arzt. Naja, Tierarzt, aber das nötigste krieg ich auch bei einem Menschen hin. Aber, du bist ja gar kein Mensch. Naja, irgendwie schon … verdammt, das muss ich erst mal in meinen Kopf bekommen.“

Arzt? Das hatte ich schon einmal gehört, aber bei der ganzen Aufregung, war mir die Bedeutung entfallen. „Was ist das? Arzt?“

Sein Mund ging auf, dann zögerte er aber, als sei er sich nicht sicher, ob ich diese Frage ernst gemeint hatte. „Ähm … naja, ich mache Tiere wieder gesund, wenn sie krank oder verletzt sind, verstehst du?“

Ah, jetzt erinnerte ich mich wieder. „Du bist ein Heiler.“

Er nickte.

„Aber du willst gar nicht hier bei mir sein.“

Sein Blick huschte zu dem Dolch, dessen Spitze aus dem Stoff ragte. Natürlich bemerkte ich es.

„Du hast Angst vor mir.“

„Ich …“

„Ich kann es riechen“, unterbrach ich ihn, bevor er mir eine Lüge auftischen konnte, die ihn mutig wirken lassen sollte. „Du brauchst es gar nicht zu leugnen.“

Wieder sah er mich eine Zeit lang stumm an. „Naja, es ist einfach ziemlich viel auf einmal, was ich da verdauen muss, verstehst du? Ich meine, dass, was ihr könnt … ihr seid. Und meine Schwester auch.“ Er schnaubte. „Da lebe ich jahrelang mit diesen Menschen zusammen und dann stellt sich durch einen dummen Zufall heraus, dass sie alle Monster sind.“

Janina hatte ihm also alles gesagt. Ob es nun besser war als die Lüge, die sie gelebt hatten, würde nur die Zeit zeigen. „Ich kenne dieses Wort nicht, Monster. Was bedeutet es?“

Wieder ein Zögern. Es schien, als wollte er seine Worte alle erst überdenken, bevor er sie aussprach. „Äh … naja, wie soll ich sagen. Ungeheuer, Wesen, die schreckliches, unvorstellbares können. Macht und Fähigkeiten besitzen, die unmenschlich sind.“ Eine kurze Pause. Dann fügte er flüsternd leise hinzu. „Böse Wesen.“

Das ließ ich mir durch den Kopf gehen. Wesen, die Schreckliches tun, wie einen Tempel angreifen und ein Portal zerstören. Wegen Macht töteten. Unvorstellbar. Böse und feindlich. Ich nickte. „Ja, das sind sie, Monster.“ Vampire, Magier und selbst die Lykanthropen hier waren keine Verbündeten. Sie waren alle Monster.

John runzelte die Stirn. „Du stimmst mir zu?“

„Sachmets Brut hat meinen Tempel angegriffen, natürlich sind es Monster.“

„Okay. Ich glaube, du hast da was falsch … ach egal.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust. Eine schützende Haltung. Ob er überhaupt wusste, wie viel er mir von sich allein durch seine Körpersprache verriet? „Brauchst du nun Hilfe? Ich weiß ja nicht, was passiert ist, aber wenn es nicht so schlimm ist …“ Er ließ den Satz unbeendet ausklingen, aber es war offensichtlich, was er damit sagen wollte.

„Es tut weh. Sie haben einen Schuss benutzt. Ich glaube, da steckt etwas in meinem Arm.“

Seine Augen wurden ein Spur größer. „Sie haben auf dich geschossen?“, fragte er ungläubig.

„Nennt ihr das so?“

„Ja wir …“ Er rang mit sich, biss sich auf die Lippen. „Verdammt.“ Dann kam er hinein und hockte sich vor mich. „Zeig deinen Arm her.“

Ich tat wie mir geheißen, verzog das Gesicht, als der Schmerz wieder zuschlug.

Mit zarten Berührungen untersuchte er die Wunde, das Gesicht konzentriert, aber die Angst war noch da. Er strömte sie aus, wie diesen Geruch nach reiner Natur. „Die Kugel steckt im Knochen, aber sie scheint keine lebenswichtigen Blutgefäße getroffen zu haben.“

„Da steckt eine Kugel drin?“

„Ja, so nennen wir … ach egal. Ich muss sie da rausholen, bevor …“

„Dann tu es.“

Zweifelnd sah er mich an und wieder huschte sein Blick auf den Dolch. Als ich danach griff, wich er hastig zurück, rutschte aus und fiel auf seine Kehrseite.

„Du brauchst keine Angst haben, ich tu dir nichts, das wollte ich nie.“

„Ach ja?“, fragte er argwöhnisch. „Und was sollte dann die Aktion draußen im Hof?“

Ich brauchte wirklich dringend einen Übersetzter. „Du meinst, als ich dich aufgehalten habe?“ Ich hielt ihm den Dolch mit dem Griff voran entgegen. Er starrte ihn nur an.

„Ich meine, als du mir das Ding an die Kehle gehalten hast.“

„Du hast mich geschlagen, direkt ins Gesicht“, verteidigte ich mich. „Da wurde ich sauer. Ich wollte dir nichts tun, ich wollte nur nicht noch mal geschlagen werden, das tat nämlich weh.“

„Du bist über mich hergefallen.“

„Genau genommen bist du in mich hineingelaufen. Janina hat gesagt, dass wir dich aufhalten müssen und mehr hatte ich auch nicht vor. Ich habe keinen Grund, dich anzugreifen. Außerdem wäre es ein ziemlich ungerechter Kampf, du bist viel schwächer als ich.“

„Autsch.“ Ein vorsichtiges Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.

„Autsch? Hast du auch Schmerzen?“

„Nein, ich … das sagt man so, wenn man einen Schlag unter die Gürtellinie abbekommt.“

„Ich habe dich nicht geschlagen.“

„Nein, das meinte ich auch nicht. Ich meinte … ach, nicht so wichtig.“

Es war schon seltsam. Wir glichen uns in unserer Sprache so sehr, redeten dann aber wieder ganz verschieden.

„Okay. Ich werde kurz meine Tasche holen und dir dann die Kugel aus dem Arm ziehen.“

Ich nickte und ließ den Dolch zu Boden sinken.

 

°°°

 

Ganz vorsichtig schnitt John mir den Ärmel mit einer gebogenen Schere auf und hielt meinen Arm dann unter den Wasserstrahl. Die Kälte tat gut, vertrieb die Hitze und linderte den Schmerz. „Ich werde die Stelle betäuben, dann spürst du nichts mehr.“

„Ihr sagtet, ihr könnt Magie nicht wirken“, wunderte ich mich. Wie wollte er mich schmerzfrei bekommen, wenn er keine Magie ausübte?

Er stellte das Wasser an dem metallenen Rad ab und tupfte vorsichtig mit einem Handtuch um die wunde Stelle. Der Schorf war aufgerissen und es blutete wieder schlimmer. „Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?“

Seit der Dolch aus meiner Reichweite entfernt lag, war John deutlich entspannter. Er hatte immer noch Angst, das roch ich, nur war sie schwächer geworden. Und sein vorsichtiges Lächeln war ganz nett.

„Zaubertränke funktionieren nur mit Magie.“ Das wussten schon die Kleinsten unter uns. Dass er es nicht wusste, ließ mich an seinen Fähigkeiten als Heiler leicht zweifeln.

„Zauber … auch so. Nein. Das ist keine Zaubertrank, es ist eine Medizin.“ Er sah mich einen Moment prüfend an. „Wenn ihr keine Medizin kennt, dann kannst du mir sicher auch nicht sagen, ob du auf etwas allergisch reagierst.“

Falten zogen sich über meine Stirn. „Ich verstehe nicht, was du mir sagst.“

„Das hatte ich befürchtet. Also dann weiß ich nicht …“

„Dann mach es einfach ohne.“

„Einfach so? Ohne Betäubung?“ Skeptisch zog er die Augenbrauen nach oben. „Aber es wird höllisch wehtun.“

„Ich kenne Schmerz.“ Ich war ein Kriegerlehrling, ich musste einiges aushalten können, sonst würde ich das tägliche Training nicht meistern.

Er sah zweifelnd aus, auch ein wenig blass, wenn das bei dieser dunklen Hautfarbe möglich war. „Okay. Dann setzt dich auf den Boden. Ich will nicht dass du mir umfällst. Soll ich vielleicht deinen Freund holen? Der kann dich unterstützen.“

„Meinen Freund?“ Was war das nun wieder für ein Wort?

„Der Kerl mit dem Hund. Der heißt … irgendwas mit A.“

„Aman.“ Meine Stimmung wurde gleich finsterer.

„Ja, genau. Soll ich Aman holen?“

„Nein.“ Kurz und knapp und mit einer Stimme, die selbst einem Bären das Fürchten lehren würde.

„O-kay. Ihr seid wohl doch keine Freunde.“

„Was bedeutet das, dieses okay? Du sagst es ständig.“

„In dem Fall bedeutet es Zustimmung. Ich stimme dir in deiner Aussage zu. Auch gut, oder in Ordnung kann es bedeuten. Es ist sehr umgangssprachlich, wird auch für andere Dinge eingesetzt, aber das jetzt zu erklären würde zu lange dauern. Ich würde das hier erst mal gerne hinter mich bringen, wenn du so weit bist, also setzt dich.“

„Okay“, antwortete ich mit einem Lächeln, das auch ihm eins entlockte. Nicht so schüchtern wie sonst, sondern ein richtiges. Es stand ihm noch besser, als das andere. Dann ließ ich mich an Ort und Stelle auf den kalten Boden sinken.

„Okay.“ Er nahm eine Pinzette aus seiner schwarzen Ledertasche, die er geholt hatte, goss eine klare Flüssigkeit darüber und kniete sich neben mich. Dann nahm er ganz vorsichtig meinen Arm. „Dann mal los.“ Schon als er die Pinzette an meine Wunde kam, brüllte der Schmerz auf. Ich biss die Zähne zusammen und krallte meine andere Hand in mein Bein. Es tat weh, mehr als ich geglaubt hatte.

Die Pinzette streifte an der Kugel entlang. Ich zuckte zurück. „Tut mir leid“, sagte ich, als ich sein erschrockenes Gesicht über meine Reaktion sah.

„Vielleicht sollte ich doch lieber …“

„Nein, mach einfach. Kümmere dich nicht weiter um mich.“

Er zögerte, aber etwas in meinem Gesicht brachte ihn dazu, die Pinzette erneut anzusetzen. Wieder kam der Schmerz. Schlimmer als zuvor. John biss sich auf die Lippe, wackelte die Pinzette hin und her. „Das haben wir gleich, ist gleich vorbei.“

Ein weiterer Ruck. Das war zu viel. Ich stieß einen kleinen Schrei aus, meine Krallen fuhren heraus, bohrten sich in mein Bein. Am liebsten hätte ich ihn weggestoßen, aber das hätte nicht zu meiner Heilung beigetragen, also ertrug ich es, kniff die Augen zusammen, spannte die Muskeln an. Ich würde das aushalten, ich war eine Kriegerin und kein kleines, verängstigtes Kätzchen.

Er ruckelte noch ein letztes Mal und dann ließ der schlimmste Schmerz nach. „Hab ich dich.“ Er ließ sie in eine metallene Schale fallen, die er zuvor bereitgestellt hatte. „Sie steckte nur leicht im Knochen. Ich muss das jetzt noch säubern, aber vielleicht wäre es doch besser …“ Er brach ab.

„Du brauchst nichts weiter tun. Vergelts. Der Rest wird von allein heilen. In spätestens zwei Tagen wird davon  nichts mehr zu sehen sein.“

Seine Augen waren auf meine Finger gerichtet, auf die Finger, die zu einer Faust geballt auf meinem Bein lagen. Doch es war nicht die Hand, die seine Aufmerksamkeit gefangen nahm, sondern meine ausgefahrenen Krallen. Der Geruch von Angst stieg wieder. Mist, das hatte ich nicht gewollt. Vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken, zog ich meinen Arm zurück, fuhr die Krallen ein und wandelte meine Hände wieder zurück.

„Tut mir leid“, sagte ich, obwohl ich nicht genau wusste, wofür ich mich eigentlich entschuldigte. Dann stieg mir der Geruch von Wildhund in die Nase. Aman stand in der Tür, angespannt und grimmig. „Was willst du?“, fuhr ich ihn an. Ich wollte ihn nicht sehen, nicht nach seinen Worten. „Ich hab dir gesagt, dass du verschwinden sollst.“

„Du hast geschrien. Ich wollte nur wissen warum.“

Machte er sich etwas Sorgen um mich? Nein, entschied ich. Er war nur gekommen, um sich an meinem Leid zu erfreuen, um mir wieder zu zeigen, dass ich für eine Kriegerin nicht stark genug war. „Geh und lass mich in Ruhe. Ich brauche dich nicht.“

Seine Augen verengten sich. Mit Blick auf John sagte er: „Das sehe ich.“ Dann wandte er sich ab und ließ uns wieder allein.

„Wow, der verhält sich aber ganz schön besitzergreifend.“

„Das liegt daran, dass er ein Krieger ist und glaubt, dass er mich beschützen muss, weil wir zusammen hierhergekommen sind.“ Ich wandte mich ihm wieder zu. „Warum schaust du mich so an?“

„Naja, deine Krallen … die sind …du hast deine Krallen …“

„Das passiert manchmal. Es war der Schmerz. Ein Instinkt hat mich dazu veranlasst. Ich wollte dir nichts tun. Wirklich nicht“, fügte ich bei seinem zweifelnden Blick hinzu. „Ich kann es meistens kontrollieren, aber … halt nicht immer“, gab ich widerwillig zu. Es gab nur wenige Ailuranthropen, die die völlige Kontrolle über ihre Verwandlung hatten, so wie mein Fafa. Leider gehörte ich nicht dazu. Ich war nur Lilith, der Kriegerlehrling, einfach nur Lilith.

Er sah mich nur an und seine Augen erinnerten mich in dem Moment an die eines Frosches. Eines Frosches, der kurz davor stand, mit Gemüse in einem Topf zu landen. Der Vergleich belustigte mich und ich konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken.

„Was ist so lustig?“

„Du“, antwortete ich ganz wahrheitsgemäß. „Der Ausdruck in deinem Gesicht.“

Er zog eine gespielt hässliche Grimasse. „Das ist aber nicht sonderlich nett, junge Dame“, sagte er mit einem seltsamen Tick in der Stimme.

Dieses Mal schmunzelte ich ganz deutlich. „Du bist echt lustig, wenn du nicht gerade versuchst vor mir davonzulaufen.“

„Und du ziemlich normal, wenn du deine Krallen nicht zeigst.“ Er zog seine Tasche heran und holte Verbandzeug heraus, das er systematisch neben sich ausbreitete.

„Die Krallen sind ein Teil von mir“, sagte ich, während er meinen Arm nahm und vorsichtige eine Binde darum band. „Ein Teil den ich verbergen kann, aber sie gehören zu mir.“

„Aber du kannst es mir nicht übel nehmen, dass mich das umhaut. Ich meine, für dich ist das sicher ganz normal. Da wo du herkommst gibt es sicher noch andere wie dich. Aber hier? Nein. Hier seid ihr Mythen. Vampire, Werwölfe, Magier, nichts weiter als Legenden. Wenn so jemand dann plötzlich vor dir steht, ist das im ersten Moment ein ganz schöner Schock. Ich meine, was würdet ihr sagen wenn … wenn, ach was weiß ich, die Seen und Flüsse sich plötzlich rot färben würden?“

„Wir würden darauf vertrauen, dass unsere Götter einen guten Grund dafür hätten.“

Für einen Moment hielten seine Finger still. Er sah mich an und schüttelte dann den Kopf. „Ihr glaubt also wirklich an diese Götter?“ John sagte das so zweifelnd, als würde er wirklich glauben, dass etwas Derartiges nicht existiert.

„Luft kannst du nicht sehen, aber sie ist vorhanden. Du atmest sie, fühlst sie. Ob nun in einer sanften Brise, oder in einem starken Sturm. Selbst wenn sie still steht, du weißt dass sie da ist, dich umgibt.“

„Ja schon, aber … verdammt!“ Er ließ die Schere fallen mit der er den Verband hatte kürzen wollen. Auf seinem Finger war ein roter Schnitt. Ein Tropfen fiel auf den Boden.

Ohne um seine Erlaubnis zu bitten griff ich seine Hand und zog sie zu mir. Der Schnitt war nicht besonders tief, er würde leicht verheilen. Und doch nahm ich seinen Finger in den Mund. John zog seine Hand so schnell zurück, dass er sich damit am Waschbecken stieß. Er fuhr hoch. Dieses Mal war ich mir sicher, er war bleich, hatte mehr als nur ein bisschen Farbe verloren. Fassungslos und unwissend was er sagen sollte. Sein Mund öffnete sich. Schloss sich und öffnete sich wieder. „Warum hast du da getan?“

„Ich wollte nur helfen.“ Ich legte meinen Kopf schief. „Sieh deinen Finger an, ich habe ihn geheilt.“

Er sah auf seinen Finger, dann zu mir und wieder zurück. Hin und her gerissen, zwischen seiner Angst und seinem Erstaunen. „Okay.“ Er verstummte kurz. „Okay, gut. Das ist … gut, aber mach das nie wieder!“

„Nicht ohne deine Erlaubnis.“

„Das ist …“ Er fuhr sich mit den Fingern übers Gesicht, ließ sie wieder fallen und sah mich an. Kam aber nicht wieder näher. „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.“

„Wie wäre es mit Vergelts“, piepste ein schwaches Stimmchen aus dem Babybeutel.

John richtete seinen Blick auf Nebka. „Äh … was?“

„Ein Wort, mit dem wir uns für gute Taten vergelten“, erklärte ich ihm.

„Ah, du meinst Danke … ähm … ja …okay. Danke, äh vergelts. Das war seltsam, aber danke.“

Ich neigte meinen Kopf leicht. „Du hast mir geholfen, also helfe ich dir.“ Das war für mich ganz selbstverständlich.

„Ja, in Ordnung, aber tu das trotzdem nie wieder, okay?“

In diesem Fall wollte er mit dem Okay wohl meine Zustimmung haben. Ich nickte. „Und nun würde ich mich gerne waschen und dabei brauche ich deine Hilfe.“

„Du willst dass ich dich wasche?“ Mehr überrascht als ängstlich weiteten sich seine Augen.

Mein Mundwinkel zuckte. „Nein, ich denke das bekomme ich allein hin.“

Nebka kicherte.

„Aber ich brauche Hilfe um diese Sachen auszuziehen. Mit meinem Arm schaffe ich das nicht allein.“

„Hilfe beim Ausziehen?“

Ich nickte.

John zog eine Grimasse, sah überall hin, nur nicht zu mir. „Ähm, vielleicht sollte ich da lieber Janina holen. Die kann …“

„Nein!“

„O-kay. Versteh ich. Dann vielleicht lieber Gran?“

Ich wusste nicht wer Gran war und ich wollte auch nicht dass ein anderer kam. Woran es lag wusste ich nicht, vielleicht an seiner ängstlichen Art, aber bei ihm fühlte ich mich wohl. Wenigstens etwas. Vor ihm brauchte ich keine Angst haben, er war mir unterlegen, zu schwach um mir gefährlich werden zu können. Darum wollte ich dass er mir half. „Warum willst du das nicht machen?“

„Weil ich ein Kerl bin. Und auch, wenn ich dich schon ohne … naja, aber ich sollte das trotzdem nicht tun.“

„Kerl?“

„Ich bin ein Mann. Und Frauen ziehen sich nicht einfach so vor Männern aus. Die meisten zumindest nicht.“

„Wegen dem Schamgefühl“, erinnerte ich mich. Auch wenn ich nicht immer aufpasste, ich hatte zugehört.

John wirkte erleichtert. „Genau deswegen. Du siehst also …“

„Machst du es trotzdem?“

„Ich mach das!“, sagte Nebka voller Zuversicht. Sie kroch ein Stück aus dem Beutel und zog an dem Stoff an meinen Beinen. Aber es klappte wohl nicht so wie sie sich das vorgestellt hatte. Sie rutschte auf dem glatten Boden aus und landete auf der Nase.

„Lass nur. Ich bin sicher dass John mir helfen wird.“

 

°°°

Kapitel Zwölf

Er half mir dann auch. Zögernd nur und mit vielen Entschuldigungen, wenn er irgendwo meine Haut berührte. Ich war mir nicht sicher ob es die Angst war die ihn auf Abstand hielt, Eckel vor dem was ich war, oder wirklich das Schamgefühl, das ich nicht verstand. Ich meine, was war schon dabei? Menschen waren schon sonderbare Wesen. Ihre Riten so seltsam und die Sprache mit merkwürdigen Worten gespickt, die selbst ein Gelehrter nicht verstehen würde.

Während ich mich von Blut und Dreck am Waschbecken säuberte, hielt ich im Kopf Geistreden. Noch waren wir nicht lange hier, aber Luan war es dreihundert Jahre und in dieser ganzen Zeit war es ihm nicht gelungen, zurück nach Silthrim zu gelangen. Bedeutete das, dass auch ich hier in einer fremden Welt gefangen war, oder dass er sich nicht genug bemüht hatte? Ich wusste es nicht zu sagen. Oh meine Göttin Bastet, sagt mir, was ich tun soll. Welchen Weg sollte ich gehen, um zurück nach Hause zu gelangen? Ich wollte nicht hier auf einem Planeten fern der Heimat bleiben. Alles war so fremd, so seltsam. Nein, hier wollte ich nicht sein. Irgendwie musste ich einen Weg zurück nach Hause finden, weg von diesen fremden Ufern, zurück in die vertraute Heimat.

Während ich mich säuberte verschwand John mit den Worten: „Ich besorge mal neue Klamotten“ eilig aus dem Bad. Er war so schnell weg, dass ich gar nicht dazu kam nachzufragen, was das sein sollte. Aber als er wieder erschien und mir, ohne auch nur einen Blick auf mich zu riskieren, ein weiteres von diesen T-Shirts zu mir warf, konnte ich es mir ausmalen.

„Es ist zu groß“, sagte ich, nachdem ich es mir mit schmerzenden Arm umständliche übergezogen hatte. Die Hinweise die Nebka mir dazu gegeben hatte waren dabei auch nicht sonderlich hilfreich gewesen.

Vorsichtig steckte John seinen Kopf durch die Tür, musterte mich in dem weißen T-Shirt, das mir bis zu den Knien ging und um mich herum schlackerte. Es war so groß, dass ich samt meiner ganzen Amicus hineingepasst hätte. Seine Mundwinkel hoben sich leicht. „Es ist auch eines von meinen. Ich wollte nicht in Janinas Schrank rumwühlen, deswegen hab ich dir das gegeben.“

Ich ließ die Augen über seinen Oberkörper wandern. „Aber so groß bist du doch auch nicht. Das würde einem Zentauren passen.“

Er verzog das Gesicht. „Ich weiß nicht, ob ich das jetzt als Kompliment, oder als Beleidigung auffassen soll.“

„Ich wollte dich nicht beleidigen“, sagte ich sofort.

Von draußen hörte ich ein böses Knurren. Was hatte der große Krieger denn nun schon wieder?

John wandte den Kopf in den hölzernen Gang. „Ah, Pascal ist zurück.“ In seinem Gesicht machte sich Unsicherheit breit und der Hauch von Angst, der ihn umgab, wurde wieder stärker.

„Fürchtest du dich vor … Pascal?“ Seltsamer Name. Der Dolch vom Boden wanderte wieder in meine Leggins, den würde ich nicht zurück lassen, wer wusste schon, ob ich ihn nicht vielleicht noch brauchen könnte.

 „Vor Pascal?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein … ich meine … ach keine Ahnung.“ Er strich sich mit den Händen über den Kopf, sodass seine Haare zu allen Seiten abstanden. „Bisher hab ich das nicht, aber nach heute weiß ich nicht wirklich wie ich ihm gegenübertreten soll. Ich meine, er und Janina und dann auch noch Luan und Gran … ich weiß einfach nicht, wie ich das in meinen Kopf kriegen soll.“

Ja, für ihn musste das alles sehr verwirrend sein. Ich konnte es ihm nachfühlen, mir ging es im Moment auch nicht anders. Die ganzen Eindrücke, die Welt um mich herum, alles war … so verwirrend. „Egal wer dieser Pascal ist, er war schon immer das was er ist. Das du heute etwas über ihn erfahren hast, was du nicht wusstest, macht ihn noch lange nicht anderes. Viel besser ist es doch das Wissen zu besitzen, dass euch nun keine Geheimnisse mehr trennen.“ Ich hob Nebka, die mit den Pfoten nach einer seltsamen Bürste neben dem sogenannten Klo schlug, auf den Arm. „Lass uns zu ihm gehen und dann wirst du erfahren, dass ich Recht habe.“

„Dein Wort in Gottes Ohr.“

Ich zog die Stirn in Falten. „Mir wurde gesagt, ihr hättet keine Götter.“

John lachte. Ein wunderbares Geräusch, das mir ein seltsames Kribbeln über den Rücken jagte. Was hatte dies nun wieder zu bedeuten?

 

°°°

 

Wir gingen zurück in den großen Raum mit der L-förmigen Chaiselongue und dem Papier an der Wand. Den Sinn dahinter hatte ich noch immer nicht verstanden. Alle – und das schloss Aman und eine männliche Gestalt, die ich vorher noch nicht gesehen hatte, mit ein –, drängten sich um einen großen schwarzen Kasten, der in dem großen Schrank an der Wand stand. Niemand redete und trotzdem konnte ich eine Stimme hören.

„… ereignete sich heute um kurz nach neun. Ein Anwohner in der Nähe hatte sofort zur Videokamera gegriffen und konnte uns so diese unglaublichen Aufnahmen zukommen lassen.“

Irgendwas quietschte, Rufe wurden laut. Die Geräusche kamen aus dem schwarzen Kasten. Aman knurrte.

Ich drückte Nebka gerade John in die Hand um mich zu den anderen zu gesellen, als ich es hörte. Ein Fauchen, so vertraut, wie mein eigenes. Und es kam aus der Kiste.

Mein Kopf fuhr herum. Das war doch nicht möglich. Ich drängte mich zwischen Luan und Aman. Der schwarze Kasten hatte ein Fenster, durch das ein Steinweg zu erblicken war. Das Quietschen kam von Autos und die Rufe von den Menschen. In mittendrinn in diesem Chaos saß Gillette auf Kaios Rücken.

Oh Bastet, gelobt sei die Göttin und ihre Macht. „Gillette, Kaio!“ Sie reagierten nicht auf meinen Ruf, nahmen nicht einmal wahr, dass ich hier war, direkt vor ihren Augen. Sah er mich denn nicht? „Gillette!“ Warum hörten sie mich denn nicht?

„Kannst du mal aufhören, hier so rumzukeifen?“, schimpfte Janina.

Der Armentum fauchte, sprang auf eins der Autos. Es knirschte unter seinen Pfoten. Das Fell gesträubt, die Muskeln angespannt, grollte er leise in seiner Brust. Gillette auf seinem Rücken sah sich wild um und suchte einen Ausweg. Er trug noch die Festkleidung vom Tag der Schöpfung. Ich hatte den Lehrling noch nie so ängstlich gesehen, so verwirrt. Und dann hörte ich ihn, einen Knall. Sie benutzten einen Schuss! Kaios Hinterlauf knickte weg, dann waren die Krieger in grün da …

„Nein!“ Ich zog meinen Dolch. Ich würde es nicht zulassen, dass die Krieger einen weiteren Ailuranthropen töteten, egal ob sie sich im Recht sahen, weil sie nichts von uns wussten. Ein Toter pro Nacht war genug. Der Dolch flog aus meiner Hand, zielgenau auf den Kopf des grünen Kriegers. Ein weiterer Knall – noch ein Schuss? – dann waren Gillette und Kaio verschwunden. Alles war verschwunden. Der Steinweg, die Autos, die Menschen, das Fenster war schwarz. „Nein!“ Ich machte einen Satz nach vorn, griff in den schwarzen Kasten, aber da war niemand drin. „Wo sind sie hin? Was ist mit ihnen passiert?“ Hatte ich den Krieger in Grün erwischt? Nein, mein Dolch steckte in dem schwarzen Kasten, vorn im Fenster. Das Glas war gesprungen, hatte den Dolch aber nicht hindurch gelassen. Ich packte den Kasten und zog in aus dem Schrank, ließ ihn einfach auf den Boden fallen. Sie mussten hier irgendwo sein, ich hatte sie doch gerade gesehen. Aber da war nichts, nur die Wand, kein Gillette, kein Kaio. Ich tastete alles ab, Holz unter den Pfoten, aber kein Fenster. „Was ist das für ein Zauber? Wo sind sie?“

Nebka fauchte leise, was das einzige Geräusch war. Bis zu dem Moment als Janina vor Wut rot anlief und den Mund öffnete. „Sag mal, tickst du noch ganz richtig?!“, schrie sie. „Hast du eigentlich eine Ahnung davon, was ein Fernseher kostet?! Du kannst doch nicht ständig mit deinem Messer rumfuchteln, wir sind doch hier nicht Indiana Jones! Du bist ja gemeingefährlich! Nicht nur, dass du meine Familie angreifst …“

„Janina, sie versteht das doch nicht“, wandte Luan sanft ein. Mit wenig Erfolg.

„… jetzt zerstörst du auch noch meine Sachen. Du hast sie doch nicht mehr alle beisammen …“

„Janina.“

„… aber das eine sage ich dir, den wirst du mir ersetzten und dann werde ich deinen mageren Hintern mit einem gepfefferten Tritt auf die Straße befördern, dann kannst du sehen wo du bleibst …“

„Mein Herz, es ist genug.“

„… ich habe dich jetzt schon satt! Wir hätten dich niemals ins Haus …“

„Janina, das reicht!“, sah Destina sich gezwungen einzuschreiten. Der resoluten, alten Dame widersprach wohl auch Janina nicht, sie verstummte sofort.

Die Werfüchsin warf mir einen feindlichen Blick zu und stampfte dann aus dem Raum, aber nicht ohne noch einmal den fremden jungen Mann anzufauchen, der ihr nicht schnell genug aus dem Weg ging – das musste dieser Pascal sein. Vorbei an John, der noch immer Nebka im Arm hielt, aber nicht recht wusste, was er mit ihr anfangen sollte.

„Blöde Zicke“, schimpfte der junge Neuankömmling und ließ sich dann auf das gepolsterte Möbelstück fallen. Sein Blick fiel auf das Essen auf dem Tisch und er stürzte sich darauf, als hätte er seit Tagen nichts mehr in den Magen bekommen. Ein typischer Junge. Ich musste es wissen, ich hatte schließlich fünf Brestern und nach einem langen Tag haben sie sich ganz ähnlich so verhalten.  Das hatten alle Jungs im Blut.

„Pascal!“, mahnte Destina und warf ihm einen strengen Blick zu, den er nicht weiter beachtete. Dem Geruch nach war auch er ein Magier. Das gefiel mir nicht.

„Ich werde mal nach ihr sehen“, sagte Destina und folgte Janina aus dem Raum.

Das gab es doch wohl nicht. Was kümmerte es jetzt, dass Janina ihrer Feindseligkeit Ausdruck verlieh? Gillette war in Gefahr, wir mussten ihm helfen. „Wo ist er hin?“, verlangte ich zu erfahren. „Ich muss ihm helfen!“

Luan strich sich übers Gesicht. Er wirkte müde, geschafft vom Tag. „Das, was du da gerade gesehen hast, war nicht real, zumindest nicht in diesem Augenblick.“

Damit konnte ich nun gar nichts anfangen. „Was bedeutete das?“

„Das bedeutet, dass du gerade völlig umsonst unseren Fernsehern zerlegt hast“, lächelte dieser Pascal und hielt sich ein Brot vor den Mund, als könne er der Versuchung kaum widerstehen. „Aber mach nur weiter. So viel Aktion gab es hier noch nie.“

„Was?“ Seine rätselhafte Sprache verstand ich nicht. Deswegen wandte ich mich Luan zu. Er würde es wahrscheinlich besser verstehen mir zu erklären, wie ich zu Gillette und Kaio in die Kiste kam. Wie waren die nur da hineingekommen? Sie war doch viel zu klein für sie. Und die ganzen Menschen und Autos. War die Kiste verflucht, auf dass sie einen schrumpfen ließ? Von einem solchen Zauber hatte ich noch nie etwas gehört.

„Dieses Gerät nennen wir Fernseher“, sagte Luan mit einem Fingerzeig auf den schwarzen Kasten, aus dem Schwänze ragten, wie mir erst jetzt auffiel. Zwei Stück. Wozu brauchte ein Kasten Schwänze? „Mit ihm ist es uns möglich, bewegte Bilder abzuspielen. Was du gerade gesehen hast, ist bereits vor Stunden passiert, noch bevor wir euch gefunden haben. Ein Mann hat diese bewegten Bilder gemacht, so dass die ganze Welt sie sehen kann.“

Ich verstand nicht. „Was soll das heißen, wo ist mein Amicus?“

„Er wurde eingefangen, zusammen mit seiner Reitkatze.“ Pascal legte das fast aufgegessene Brot auf den Tisch, lehnte sich zurück und sah mich an. „Man hat sie in einen staatlichen Stützpunkt gebracht. Ich habe es beobachtet, konnte aber nichts mehr dagegen tun. Mir blieb nur noch die Möglichkeit, einen kleinen Ortungszauber an dem Wagen anzubringen. Ich bin ihnen gefolgt, bis sie an ihrem Ziel waren – ich und hunderte von anderen Menschen, die scharf auf ein bisschen Aktion waren.“ Er schüttelte den Kopf. „Deswegen bin ich auch erst jetzt nach Hause gekommen. Ich mussten noch in Erfahrung bringen, wohin sie ihn geschafft haben.“

Luan seufzte schwer. „Das sie einen von uns gefunden haben, ist nicht gut.“

Nein, das war nicht gut. „Du weißt, wo er ist?“

Er nickte. „Aber er wird gut bewacht. So einfach werden wir nicht an ihn rankommen, wir müssen …“

„Zeig mir, wo er ist“, forderte ich ihn auf. Ob er bewacht wurde oder nicht, war mir gleich. Er brauchte meine Hilfe und ich würde sie ihm nicht verwehren. Er hatte niemanden, der ihm diese Welt erklären konnte. Er wusste wahrscheinlich noch nicht mal, dass er auf einem anderen Planten war. Er brauchte mich und wenn er bei mir war konnten wir zusammen nach einem Weg suchen um die Heimreise anzutreten. Ich würde Aman dann nicht mehr an meiner Seite dulden müssen und könnte seiner herrischen Ader entkommen.

Pascal schüttelte den Kopf. „Das geht nicht so einfach.“

„Warum nicht?“, wollte Aman wissen.

„Er ist in einer Einrichtung, die sehr gut geschützt ist. Keiner kommt so einfach an ihn heran.“

„Was Pascal damit sagen möchte“, warf Luan an, „ist, dass er auf ein Gelände gebracht wurde, auf dem es hunderte von Kriegern gibt, die alle mit Gewehren und ähnlichen Waffen ausgerüstet sind. Sie werden ihn nicht herausgeben wollen.“

„Mit einem Schuss“, erklärte John, auf meinen fragenden Blick hin.

Gillette und Kaio waren bei den grünen Kriegern und sie wollten ihn behalten? Eher würde ich in die Macht meiner Göttin eingehen. Sie hatten kein Recht auf ihn! „Wir müssen ihn da sofort rausholen.“

„Das geht nicht. Zuerst müssen…“

Ich packte Pascal bei der Kehle, hob ihn auf die Beine und knallte ihn mit dem Rücken gegen die Wand, was ihm ein Ächzen entlockte.

„Lilith, nein!“, rief Luan.

Ich wollte nichts davon hören, dass es nicht ging, oder was wir zuerst machen mussten. „Sag mir, wo ich ihn finde, Magier, sonst wirst du nie wieder etwas zu sagen haben!“, fauchte ich in sein Röcheln hinein. Etwas erwischte mich an der Schulter, Krallen. Ich machte einen Satz zurück und sah mich Destina gegenüber. Wo kam sie jetzt wieder her? Sie hatte mir die Schulter zerkratzt.

Pascal rutschte hustend an der Wand herunter. Sofort war Luan bei ihm.

„Gottloses Monster“, fauchte ich Destina entgegen. „Das wirst du büßen!“ Doch bevor ich ihr zeigen konnte, wie scharf die Krallen von Bastets Kinder sein konnten, packte Aman meinen Arm, wirbelte mich herum und drückte mich mit dem Gesicht voran auf den Boden. Dabei war er so schnell, dass ich keine Zeit hatte zu reagieren.

Mein verletzter Arm pochte stärker, ich konnte fühlen, wie die Wunde wieder zu bluten begann, den Verband tränkte. Ich fauchte, wand mich unter Aman, doch er packte einfach meinen Nacken und hielt mich unten, drückte mein Gesicht in das kurze, bunte Fell auf dem Boden.

Irgendwo konnte ich Nebka Fauchen hören und dann einen Fluch von John.

„Oh nein, Kleines, du bleibst schön hier.“ Acco.

Nebka fauchte wieder.

„Lass von mir ab, du faulige Makrele!“, schimpfte ich. „Ich werde dir die Haut in Streifen schneiden und mir daraus einen Gürtel machen! Du hast nicht das Recht mich zu berühren! Also lass …“

„Es reicht!“, knurrte Aman dich an meinem Ohr. „Du bist zu Gast in diesem Bau und du hast nicht das Recht, die Anwohner anzugreifen.“

„Ich muss zu Gillette und Kaio, sie brauchen mich, also lass von mir ab, wenn du mir schon nicht helfen willst!“

„Es ist zu gefährlich“, mischte sich Luan ein. „Wenn du dort hingest, wäre das als würdest du mitten in den Tempel Sachmet marschieren.“ Er rieb Pascal über den Rücken, der sich vorgebeugt hatte, um wieder zu Atem zu kommen.

„Das ist mir gleich! Ich muss ihm helfen. Sie haben Kaio verletzt, sie brauchen mich. Ich muss zu ihnen, ungeachtet der Gefahren!“

„Und du willst dich einst Kriegerin nennen?“, höhnte Aman. „Ohne im Geist zu reden möchtest du in das feindliche Lager marschieren?“

„Wenn du Angst hast, musst du mich ja nicht begleiten!“, fauchte ich ihn an. „Ich mach das allein, ich brauchte dich nicht!“ Glaubte er ein Geschenk der Götter zu sein, dass ich keinen Schritt ohne ihn wagen konnte? Er war nichts weiter als ein einfacher Krieger, ein Krieger des Seth. Ich brauchte ihn nicht, um meinen Amicus zu helfen!

„Aber etwas Verstand, den könntest du gebrauchen!“, knurrte er. „Du willst eine Kriegerin werden, was bedeutet, dass du ihn jeder Lage deinen Geist beisammenhatten musst. Wie ein kopfloses Huhn drauf loszurennen bringt nicht nur dich, sondern auch jene in Gefahr, denen du beistehen sollst. Kein Krieger würde so handeln.“

„Was weißt du schon. Du bist nichts weiter als ein herzloser Lykanthrop! Dich interessiert es doch gar nicht, was mit meinem Amicus geschieht. Du willst nur die Fäden in der Hand halten und als großer Krieger dastehen, aber das bist du nicht. Du bist ein kalter und berechnender Hund!“

Er knurrte. Die Bezeichnung Hund, war für ihn mehr als nur eine Beleidigung. Kein Lykanthrop mochte es mit diesem Namen betitelt zu werden. „Und du bist nichts weiter als ein steinköpfiges Kind, das seinen Willen durchsetzen will. Du bist nur Ballast und zu nichts zu gebrauchen! Am besten wäre es, wenn du deinen Bauernhof niemals verlassen hättest, im Tempel der Bastet sollte es keinen Platz für dich geben. Wenn eure Priester nur solche Krieger wie dich ausbilden, dann wundert es mich gar nicht, dass ihr auf Hilfe von anderen angewiesen seid.“

Ich fauchte. Das hatte er nun nicht gesagt. „Pass auf, wie du mit mir sprichst. Du weißt nicht, mit wem du es zutun hast! In mir fließt das Blut des großen Zaho, mein Brestern ist der Ailuranthrop Licco, der den Kindern des Seth schon oft beigestanden hat, ein hervorragender Krieger, dem nicht nur die Ehre unseres, sondern auch die vieler anderer Völker zuteil ist!“

Aman verzog angewidert die Lippen. „Das ist also der Grund. Nicht das Können einer Kriegerin, sondern die Verwandtschaft hat dir Einlass zum Tempel verschafft.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, du wirst nie eine Kriegerin sein. Du bist nur ein kleines, dickköpfiges Mädchen, das unter allen Umständen ihren Willen durchsetzen will.“

Das saß. Du bist nur ein kleines, dickköpfiges Mädchen. Zu klein, zu schwach, die Jüngste, der nie etwas zugetraut wurde. Ich erstarrte einfach unter ihm. Zu jung, immer die Letzte, zu nichts zu gebrauchen. Immer im Schatten meines Fafa, meines BresternLicco. Ich würde Gillette nicht retten, ich war keine Kriegerin und auch wenn es mein größter Wunsch war, würde ich nie eine sein. Schon lange hatte ich das gewusst, wollte es aber nie wahrhaben. Du besitzt das Herz und den Willen. Aber was nützte mir das? Aman hatte Recht, ich war nichts weiter als ein kleines Mädchen, das zu nichts zu gebrauchen war. Im Tempel war ich einfach erstarrt, hatte meinen Amicus nicht helfen können, hatte Naaru nicht retten können, hatte es nicht mal geschafft Sian zu retten. Oh Sian. „Lass mich frei“, sagte ich schwach.

„Wirst du dich nun benehmen und die Regeln des Bundes und der Gastfreundschaft beherzigen?“

„Bitte, geh von mir runter.“

Er zögerte, nur einen Augenblick, bevor er von mir abließ. „Wir werden uns etwas überlegen um den Ailuranthrop zu befreien.“

„Du wirst das schon machen.“ Ich rappelte mich auf die Beine, mied die Blicke der anderen.

Zwischen Amans Augenbrauen erschien eine Falte. „Was meinst du damit?“

„Du bist ein Trottel!“, schimpfte John.

Aman knurrte.

„Du kannst dem Mädel doch nicht an den Kopf werfen, das …“

Mehr hörte ich nicht. Ich ging einfach hinaus, raus aus dem Haus. Hier wurde ich nicht mehr gebraucht. Aman war ein Krieger, er wusste was zu tun war, er würde Gillette befreien. Ich dagegen war nur ein kleines, steinköpfiges Mädchen und würde nur stören. Es war besser, ihm einfach aus dem Weg zu gehen und ihn machen zulassen.

 

°°°

 

Oh Bastet, warum nur hast du mir diese Aufgabe auferlegt, warum hast du nicht jemanden geschickt, der deinen Wünschen folgen kann? Ich bin dafür zu schwach. Gib mir ein Zeichen, bitte, sag mir was ich tun soll, wonach soll ich mich richten?

Ich sah hinauf in die Welt der Götter, dessen Sterne so düster waren, als wollte der Himmel sie vor mir verbergen. Wo war meine Göttin, warum gab sie mir keine Antwort? Ich war nicht für die Aufgabe geschaffen, die hier auf mich wartete, ich war für keine Aufgabe im Tempel geeignet. Mein Weg in diese Richtung fand hier ein Ende, hier auf einem fremden Planeten, ohne meine Göttin.

Die Tür hinter mir schlug auf. Schwere Schritte, das konnte nur John sein. Warum nur bewegten sich die Menschen so laut? Damit waren sie für die feindlichen Völker leichte Beute. „Hey, ähm … Lilith, richtig oder? Lilith, warte.“

„Lass mich bitte allein.“ Ohne meinen Schritten Einhalt zu gebieten, entfernte ich mich weiter vom Haus. Ich wollte ihn nicht sehen, ich wollte niemand sehen.

John eilte mir hinterher. „Warte doch mal. Das, was der Schwachkopf da gesagt hat … das … nimm dir das nicht so zu Herzen, okay? Er hat doch keine …“

„Bitte John, ich brauche deine Worte nicht, ich brauchte nur etwas Zeit für mich.“ Und den Rat meiner Göttin, die mir nicht antworten würde, weil sie mir fern war, weil sie niemals zu mir sprach. Nur ein einziger Ailuranthrop konnte sie hören und der war weit weg in der Heimat. Das zumindest hoffte ich. Sie durfte nicht auch in Gefahr sein, das Volk brauchte sie.

Hinter mir knurrte es. „Und jetzt? Ein paar harsche Worte und du gibst einfach auf?“, hörte ich Aman fragen. Er stand schon in der Tür, da war sie noch gar nicht richtig zugefallen.

John fuhr zu ihm herum. „Verzieh dich, du hast schon genug angerichtet!“

Ohne ihn weiter zu beachten, kam Aman aus dem Haus. Mit schnellen Schritten erreichter er mich, packte mich am Arm und wirbelte mich herum, so dass ich ihn ansehen musste. „Und du willst eine Kriegerin werden? Als Kriegerin brauchst du ein dickeres Fell, so wirst du es nie weit bringen.“

Ich machte mir nicht einmal die Mühe, mich von ihm loszureißen. Einem Krieger hatte ich nichts entgegenzusetzen. „Lass mich bitte“, bat ich. Mir war es egal, dass er in meiner Stimme hören konnte, wie sehr seine Worte mich getroffen hatten. Dass sie meinen Wunsch, der in Bastets Land weilte, für mich unerreichbar gemacht hatten.

Er betrachtete mich abschätzend. Das Gesicht verschlossen, um niemanden die Möglichkeit zu geben, darin zu lesen. „Du bist wirklich nichts weiter als ein kleines Mädchen.“

„Jetzt reicht’s aber langsam mal!“, mischte sich John ein. „Wenn du mit dir und deinem Leben nicht klar kommst, ist das dein Problem. Lass es nicht an dem Mädel aus!“

Ich senkte den Blick auf den Boden. „Du hast es doch selbst gesagt, ich werde nie eine Kriegerin sein, niemals.“ Warum konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen? Nun hatte er doch was er wollte, ich beugte mich seinem Willen. Ich würde nicht nach Gillette und Kaio suchen, auch wenn mir das Herz in der Brust schmerzte. Ich war keine Kriegerin, ich war ein Lehrling und noch dazu ein schlechter der keine guten Aussichten darauf hatte jemals den Status eines Kriegers zu erreichen. Ich würde nie wie mein Fafa werden. Ich werde immer stolz auf dich sein. Das hatte er einst zu mir gesagt. Wenn er mich jetzt sehen könnte würde er seine Worte sicher bereuen. Warum sollte er auch stolz auf mich sein? Ich hatte nichts geleistet, die Krieger brauchten mich nicht, ich war nur Ballast. „Ich werde niemals Bastets Kriegerin.“

„Nein, mit dieser Einstellung sicher nicht.“ Er stieß mich so grob von sich, als ekelte er sich davor mich zu berühren.

Ich stolperte, verlor das Gleichgewicht und fiel auf meine Kehrseite. Als ich versuchte meinen Sturz abzufangen sandte mein verwundeter Arm Wellen des Schmerzes durch mich hindurch. Aua, das tat wirklich weh.

„Hey! Jetzt bekomm dich mal langsam in den Griff!“, schritt John ein.

Ich sah fassungslos zu Aman hinauf. „Warum hast du das getan?“ Er konnte mich doch nicht einfach so herum schubsen. Vielleicht war ich keine Kriegerin, aber ich war immer noch ein Ailuranthrop und ein Ailuranthrop ließ nicht so mit sich umgehen. Das würde ich mir nicht gefallen lassen!

Aman bedachte mich mit einem eiskalten Blick, in dem nur Verachtung für mich stand. „Du hast den Willen?“, höhnte er. „Das Herz? Davon sehe ich nichts. Ein wenig verletzter Stolz und du fliehst in die Nacht hinaus. Kein Krieger würde sich von so etwas aufhalten lassen. Du musst mutig sein und deinen Verstand nutzen, nur so kannst du in dieser Welt bestehen.“

„Ich bin kein Krieger“, zischte ich. Hatte er das nicht selber gesagt?

„Das sehe ich, Kätzchen.“

So, das reichte nun. Bis hier hin und nicht weiter. „Was glaubst du wer du bist, dass es dir zusteht, so mit mir zu reden?“

„Ich?“ Selbstgefällig verschränkte der die Arme vor der Brust. „Ich bin das, was du begehrst, etwas, dass du nicht erreichen kannst, nicht wenn du dort auf dem Boden sitzt. Kein Krieger würde sich dies gefallen lassen, das machen nur kleine Kätzchen!“

Er sagte das so überheblich, so anmaßend, dass ich plötzlich von meiner Wut verzerrt wurde. Ja, er mochte ein Krieger sein, dennoch gab ihm das nicht das Recht so abfällig auf mich niederzusehen. Ich fauchte ihm eine Warnung zu.

Er hob die Augenbraue. „Ist das alles was du zu bieten hast?“

Das war zu viel. In einer Bewegung stieß ich mich vom Boden ab und sprang ihn an, wandelte mich im Flug. Meine Krallen waren ausgefahren, scharf, bereit in ihr Ziel einzudringen. Er war darauf vorbereitet und trat einfach einen Schritt zur Seite, so dass ich an ihm vorbeisegelte. Ich fauchte wieder, zeigte ihm die Zähne, doch er blieb einfach ruhig stehen und wartete ab. Das machte mich so wütend. Ich war ein Ailuranthrop und kein kleines Kätzchen, er sollte mich fürchten, oder wenigstes Achtung vor mir haben. Aber da war nichts, als diese Überheblichkeit. Die würde er noch bereuen, dafür würde ich sorgen. Ich hatte Krallen, ich war gefährlich, er sollte mich nicht unterschätzen. Niemals!

Ich stieß mich erneut vom Boden ab, machte einen Satz, der mich einen halben Meter neben ihn brachte und trat mit dem Hinterbein zu, wollte ihm damit in die Knie zwingen, um mich auf ihn stürzen zu können. Nur ein Hauch daneben.

Er brachte sich mit einer Drehung auf Abstand. „Du musst dich besser auf dein Ziel konzentrieren.“

Ich war sofort zu Stelle, schlug in einer Doppelkombination nach ihm, die ihn nach links trieb. Ich schlug und trat nach ihm, sprang ein paarmal, aber ich erwischte ihn nicht. Er wich immer aus. Vor Frustration fauchte ich. War er ein Hase, dass er die ganze Zeit vor mir davonlief? Er sollte angreifen, damit ich ihn zwischen die Krallen bekam.

„Du lässt dich von deiner Wut leiten, das ist falsch.“ Er sprang, erwischte mich am Arm und riss mich zu Boden, das ich nur so auf den Rücken krachte, bevor er sich wieder auf Abstand brachte. „Du musst ahnen, was mein Geist als nächstes plant. Achte auf meine Bewegungen.“

Ich sprang auf die Pfoten, setzte ihm nach, als er zurückwich. Und wieder vorbei. Heillos, das konnte doch nicht sein! „Die einzige Bewegung die ich sehe, ist, das du immer wieder wie ein feiger Hase zur Seite springst!“ Ich stieß mich ab. Auf halben Weg sprang mir Aman entgegen. Ich war so überrascht, dass ich nichts gegen den Aufprall tat und einfach rücklings auf den Boden knallte – schon wieder. „Uff!“

„Du bist eine leichte Beute.“ Aman griff nach meinem Arm, wich dabei meinen Krallen aus und drehte mich ruckartig auf den Bauch, so dass der Schmerz durch meine Schulter schoss.

„Ah!“

„Hey, sachte, ja?“ John blieb ungehört.

„Lass dich nicht von deiner Wut lenken. Du musst dir einen klaren Geist bewahren, sonst hast du schon verloren bevor der Kampf beginnt.“ Er ließ meinen Arm los, doch bevor er sich mit einem Satz aus meiner Reichweite retten konnte, hatte ich ihm schon die Krallen ins Bein geschlagen. So viel dazu, dass ich eine leichte Beute wäre. Leider hielt mein Erfolg nicht lange. Aman drehte sich einfach herum und biss mir in den Arm. Dann trat er eilig ein paar Schritte zurück. „Das war schon besser, aber es war nur Glück, dass du mich erwischt hast. Du musst …“

„Das war Können!“, fauchte ich. „Du weißt gar nichts, wurdest von ein paar einfachen Magistern ausgebildet, ich dagegen habe bei dem Besten gelernt!“ Zeitweise zumindest. „Ich weiß genau, was ich tun muss um zu bestehen.“

„Dein Stolz wiegt schwer. Vielleicht ist das der Grund, warum du immer wieder auf dem Boden landest.“

Er verhöhnte mich schon wieder! Meine Wut interessierte ihn gar nicht, er machte sich nichts aus ihr, ich amüsierte ihn einfach nur, wurde mir klar. Er glaubte nicht daran, dass ich ihm gefährlich werden könnte. Das war der Fehler den er beging. Ich rollte mich auf die Füße, mein Ziel genau im Auge, umkreiste meine Beute. Vielleicht war ich keine Kriegerin und würde niemals eine sein, aber mit einem überheblichen Lykanthropen kam ich zurecht.

Angespannt stand Aman da, achtete auf jede meiner Bewegungen, richtete sich nach mir aus.

Auf der Veranda konnte ich die Bewohner des Hauses sehen, wie sie unserem Kampf folgten. Acco lag davor, den Schwanz von Nebka in der Schnauze, um sie daran zu hindern, sich ins Geschehen zu werfen. Sie fauchte und kratzte ihn an der Schnauze, wovon er sich nicht sonderlich beeindrucken ließ. Er zog sie einfach mit einem Ruck zu sich heran und ließ dann seinen Kopf auf sie plumpsen. Eingeklemmt zwischen ihm und dem Boden, kam sie nicht mehr vom Fleck.

Dies bekam ich nur am Rande mit, war ganz auf Aman fixiert, die Worte meines Fafa im Kopf. „Kläre deinen Geist, Nasan. Leere ihn. Nichts außer deinem Gegner zählt, du musst alles andere ausblenden.“ Das mache ich Fafa. Er konnte stolz auf mich sein. Ich täuschte nach links an, sprang aber nach rechts. Natürlich folgte Aman meiner Bewegung, aber womit er nicht gerechnet hatte war, dass ich in der Luft mit Hilfe meines Schwanzes die Richtung wechseln konnte. Ein kleiner Trick, den mit Licco beigebracht hatte. Zwar war er ansehnlich, brachte im Kampf aber nicht viel, wenn man nicht wusste, wie er einzusetzen war. Ich wusste es, dank meines Brestern und dieses Wissen nutzte ich.

In dem Moment, in dem er einfach wegspringen wollte, ruderte ich mit dem Schwanz. Er war so überrascht, dass er nur ganz knapp ausweichen konnte, meinen Arm packte und mich auf den Boden schleuderte. Ich krallte mich in seine Menschenkleidung und riss ihn mit mir hinunter. Der Aufprall war hart und drückte meine Lungen zusammen, so dass mir das Atmen schwer fiel. Doch ich konnte darauf keine Rücksicht nehmen, nicht in diesem Moment. Ohne mir die Zeit zu geben, zu Luft zu kommen, rollte ich mich herum, auf ihn rauf und versenkte meine Zähne tief in seiner Schulter. Der Schmerz in meinem Arm heulte auf, der Verband hatte sich gelockert. Ich roch Blut, mein eigenes und das von Aman.

Nun war es vorbei mit der Überheblichkeit. Seine Wandlung setzte ein, er knurrte, schnappte nach mir, nach meiner Kehle und dann waren wir beide nichts weiter als ein wütendes Knäuel, das Fauchend und Knurrend über den Boden rollte. Beide bissen und kratzten wir, versuchten die Oberhand zu gewinnen, den anderen mit unserem Gewicht auf den Boden zu zwängen. Aman war dafür im Vorteil, er war schlank, hatte aber mehr Muskeln und war größer. Dafür war ich wendiger und ließ mich nicht so einfach einfangen.

Ich biss in seine Hand, als er nach meinem Arm griff, zog die Beine an, um ihm mit den Krallen die Oberschenkel zu zerkratzen. Er rutschte halb von mir runter, um dem zu entgehen, so schaffte ich es, ihn auf den Rücken zu werfen, mich fauchend auf ihn zu stürzen, aber nur für einen kurzen Moment. Er wuchtete mich einfach von sich runter und stürzte sich auf mich, nahm meine Beine in eine Beinklammer, die es mir unmöglich machte, sie weiter einzusetzen.

Knurrend schaffte er es mein rechtes Handgelenk zu packen, mich daran auf den Rücken zu rollen und sich über mich zu werfen, mich so am  Boden zu halten. Meine freie Pfote zog ich ihn einmal quer übers Gesicht und das war  mein Fehler. Er drehte seinen Kopf einfach zur Seite und biss mit seinen starken Kiefern so fest zu, dass ich sie nicht mehr losreißen konnte. Das tat weh.

Seine Augen glänzten auf seltsame Art. Er genoss dieses Zwischenspiel von uns beiden. Es machte ihn Spaß, mich zu erniedrigen, mich zu unterwerfen, einem Ailuranthropen zu zeigen, dass es Lykanthropen gab, die ihnen überlegen waren. Dieser Hund. Er packte den Arm aus seiner Schnauze mit seiner freien Hand und drückte sie neben meinem Kopf auf dem Boden.

Gefangen.

Ich bocke wie ein sturer Zentaur, den man versuchte zu besteigen, fauchte, versuchte mich unter ihm rauszuwinden. Es nützte nichts. Er war zu schwer, sein Griff zu hart. Er hatte mich fest in seiner Gewalt und das machte mich wütend.

Er hockte keuchend über mir, meine Beine unter seinen eingezwängt, meine Arme auf den Boden gedrückt und hatte mich damit bewegungsunfähig gemacht. Zumindest glaubte er das, aber im Gegensatz zu einem Lykanthropen konnte ich die Krallen an meinen Vorderpfoten ausfahren und das bekam er auch zu spüren, als sie in seine Hände eindrangen.

Sein Knurren wurde drohender. „Genug.“

„Warum? Weil du gemerkt hast, dass ich doch nicht so eine leichte Beute bin?“, spie ich ihm entgegen. Auch ich keuchte. Es gab keine Stelle an meinem Körper, die nicht wehtat. Das hier war härter gewesen, als das Training im Tempel. Hier war es wirklich darum gegangen, den anderen zu verletzten. Und das hatte ich getan. So oft ich die Möglichkeit dazu bekommen hatte und ich würde weiter machen, sobald er mich freigab. Früher oder später musste er das schließlich tun.

„Du hast mir noch immer nichts entgegenzusetzen“, sagte er ruhig, „doch ich sehe gute Ansätze, aus denen sich etwas machen lässt.“

„Was?“ Hatte ich seine Worte richtig vernommen? War das ein Kompliment gewesen?

„Dein größtes Problem ist deine Selbstbeherrschung.“ Langsam ließ er meine Handgelenke los, als fürchtete er, dass ich ihn sofort wieder attackieren könnte. Als das nicht geschah, weil seine Worte mich immer noch verwirrten, rollte er sich auf die Fußballen, sodass ich wieder Luft zum Atmen hatte. „Wenn du an deiner Selbstbeherrschung arbeitest und deinen Starrsinn zu bezwingen lernst, kann aus dir eine Kriegerin werden, auf die ihr Volk stolz sein kann. Wir werden deinen Amicus befreien, darauf gebe ich dir mein Wort.“ Er richtete sich auf, wischte sich dabei Blut von der Stirn und ließ mich ohne ein weiteres Wort auf der Wiese liegen. Auch den andren gegenüber bleibt er stumm, als er zurück in den Bau der Füchse ging.

Und zum ersten Mal fragte ich mich, warum er eigentlich nach draußen gekommen war.

 

°°°°°

Kapitel Dreizehn

Auch wenn die Sonne bereits hoch am Horizont stand, war das Haus noch still wie in der Nacht. Alle lagen noch in ihren Betten und schliefen. Auch ich hätte das getan, wenn die Natur sich nicht gemeldet hätte.

Luan hatte mir, Aman und Acco das einzige leere Zimmer im Haus gegeben, Gästezimmer nannte er es. Ein großes Bett stand darin. Aman hatte nicht darin liegen wollen, weil ich das sollte, schließlich war ich ein Mädchen und sollte nicht auf dem Boden schlafen. Ich hatte ihm mitgeteilt, dass ich mich nicht von ihm bevormunden ließ und mir ein Lager auf den Boden bereitet, auf dem ich mich zur Ruhe gebettet hatte. Da Aman aber glaubte, dass ich irgendwann nachgeben und doch in Bett steigen würde, hatte er sich auf die andere Seite auf dem Boden gelegt, um für die Nacht das Land der Götter zu besuchen. Nur Acco hatte es sich nicht nehmen lassen, bequem zu liegen. So lag er noch jetzt weich gepolstert, halb um Nebka gekuschelt. Aman schief auf der einen Seite des Bettes und ich hatte es auf der anderen getan, bis zu dem Moment, als ich das Klo aufsuchen musste, um meine Notdurft zu verrichten.

Ich war immer noch müde, ging auf leisen Sohlen zurück, um mich noch ein wenig in mein Lager zu kuscheln. Mir tat alles weh, aber es war ein guter Schmerz.  Er zeigte mir wie hart ich kämpfen konnte. Ich hatte noch in der Nacht alle Wunden geheilt, die es nötig hatten und war dann trotz der fremden Umgebung schnell ins Land der Götter zu Bastet gereist, wo ich mich in meinem Wunsch wiederfand und genau das hatte ich jetzt wieder vor.

Die Türen in dem hölzernen Gang waren alle geschlossen, doch es war so still, dass ich die seltsamen Laute aus einem der Räume sofort hörte, als sie erklangen. Ein Wimmen und stöhnen, als leide jemand schwere Pein. Ich blieb vor der Tür stehen. Der Geruch sagte mir, dass John hier wohnen musste. Sollte ich nachsehen? Vielleicht brauchte er ja Hilfe. Es hörte sich so an.

Nach kurzem Zögern öffnete ich leise die Tür. John lag in seinem Bett und schlug wild mit den Armen um sich. Er schien im Land der Götter gefangen zu sein, an einem dunklen Ort, aus dem er nicht entkommen konnte. Die wollene Decke war ihm bis auf die Hüfte gerutscht, um seine Beine geknotet. Auf seiner Brust, neben dem Herzen hatte er eine große Narbe. Er schwitzte und dünstete den Geruch von Angst aus. Nun war ich mir sicher, dass er meine Hilfe brauchte. Allein war er nicht fähig, dem Land der Götter zu entkommen.

Ohne die Tür zu schließen, bewegte ich mich auf leisen Füßen zu seinem Bett und legte ihm sacht eine Hand auf die Schulter. „John?“

Er bewegte hastig die Lippen, sprach undeutliche Worte die ich nicht verstand. Die Augen unter den Gliedern bewegten sich hektisch von einer Seite zur anderen. Sein Atem ging nur stoßweise und der Geruch von Angst wurde immer stärker. Ein feiner Schweißfilm überzog seinen ganzen Körper.

„John.“ Ich rüttelte ihn vorsichtig. „John, komm zu dir. Du musst das Land der Götter verlassen, komm zu mir, John.“

Mit einem panischen Schrei fuhr er auf, sah sich wild um Raum um, ohne wirklich etwas zu sehen und fasste sich dann an die Brust, als suchte er dort etwas. Aber da war nichts. Nichts außer der verheilten Narbe.

„John?“

Er wirbelte so schnell herum, dass er fast aus dem Bett fiel.

„Ganz ruhig“, sprach ich leise, um ihn nicht zu verschrecken. Egal im welchen Teil des göttlichen Landes er gewesen war, dort musste es schrecklich gewesen sein. Ich hockte mich neben sein Bett, streckte vorsichtig meine Hand aus um ihn beruhigend übers Bein zu streichen und schnurrte leise. Das hatte meine Mina immer bei mir getan, wenn es mir schlecht ging und es hatte geholfen – jedes Mal. „Alles ist gut, hier kann dir nichts passieren, alles okay.“

Seine Brust hob und senkte sich hastig, aber außer mich schreckensstarr anzusehen, tat er nichts. Sein Oberkörper war genauso braun wie sein Gesicht und seine Arme. Woher kam das nur? War er krank? Vielleicht hatte das etwas mit dem dunklen Land der Götter zutun, in dem er sich befunden hatte.

Langsam beruhigte er sich. Der Geruch von Angst klang kriechend ab und ließ nur den Hauch von Natur zurück, den er immer ausströmte. „Was …“ Seine Stimme war so rau und kratzig, dass er schlucken musste. „Was machst du hier?“

„Dich beruhigen.“ Ich bettete meinen Kopf auf den freien Arm auf seiner Matratze, strich sein Bein hinauf und hinunter, gleichmäßig, in einem ruhigen Rhythmus, der sich auf ihn übertragen sollte. Mein Schnurren behielt ich bei, ließ es ein wenig tiefer werden.

John sah zu der offenen Tür, dann zu mir und dann zu seinem Bein, als wüsste er nicht was er tun, oder wie er die Reden im Geist einschätzen sollte. Aber ansonsten machte er immer noch keine Anstalten sich zu bewegen.

„Leg dich hin. Ich werde dafür sorgen, dass du zurück in Land der Götter findest, an einen schönen Ort, der dir Frieden bringt.“

Er runzelte die Stirn. „Land der Götter?“

„Der Ort, an dem unser Geist wandert, wenn wir schlafen.“

„Du meinst träumen.“

„Nennt ihr das hier so?“ Seltsames Wort. Aber schließlich hatten sie hier keine Götter und irgendwo musste der Geist des Nachts ja ruhen. „Dann leg dich hin und ich sorge dafür, dass du ins Land Träumen kommst.“

Sein Mundwinkel zuckte. „Nein, das ist …“ Er rieb sich mit der Hand übers Gesicht. „Also, unser Geist verlässt unseren Körper nicht wenn wir schlafen. Wir träumen nur, sehen Bilder, die uns unser Kopf phantasiert.“

„Ihr bleibt in eurem Kopf? Aber was macht ihr den dort? Das ist doch langweilig.“

„Wir träumen nicht immer.“ Langsam lehnte er sich zurück, bis er wieder auf dem Rücken lag. Dabei ließ er mich aber nicht aus den Augen. Sein Bettzeug raschelte. „Manchmal schaltet unser Kopf sich auch ganz einfach ab.“

„Abschalten?“

„Das ist … hm, wie soll ich das erklären.“ Er rieb sich erneut übers Gesicht. „Das ist … dann … es wird einfach schwarz im Kopf. Wir denken nichts, wir sehen nichts, wir hören nichts. Wir sind einfach nicht mehr da.“

Das verstand ich nicht. „Aber wo seid ihr denn dann, wenn nicht im Land der Götter, oder in Träumen?“

„Wir sind einfach weg, bis wir wieder aufwachen.“

Ich schauderte. „Das wäre mir zu unheimlich. Ich weiß ganz gerne, wo ich gerade bin, ob ich nun schlafe, oder wache.“

„Ich weiß ja auch, wo ich bin. Ich bin da, wo ich eingeschlafen bin.“

„Also ist Träumen in deinem Bett?“

Er gab ein Geräusch von sich, das sich wie ein unterdrücktes Lachen anhörte. „Träumen ist kein Ort an den wir gehen, sondern etwas, dass wir tun, wenn wir schlafen.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Und ich weiß nicht, wie ich es dir besser erklären soll.“ Er seufzte und dann war für eine ganze Zeit Ruhe. Unter halb geschlossenen Augen beobachtete er mich, horchte auf das gleichmäßige Schnurren in meiner Brust und ließ sich meine wandernde Hand gefallen, die über der Decke gleichmäßig sein Bein hinauf und hinab fuhr, immer und immer wieder.

Ich selber wurde von dieser Bewegung auch schläfrig. Die kurzen Stunden, die ich in meinem Nachtlager verbracht hatte, waren zu wenig gewesen und eigentlich drängte es mich dahin zurückzukehren und noch ein wenig im Land der Götter zu verweilen, aber ich wollte John nicht allein lassen, nicht bevor er wieder schlief. Das hatte meine Mina mit mir auch nie getan. Egal wie lange es gedauert hatte, sie war an meiner Seite geblieben. Ich gähnte, dass mein Kiefer nur so knackte. Göttertod, jetzt wurde ich von meinem eigenen Schnurren schläfrig, hatte einer schon mal davon gehört?

„Du bist müde“, sagte John leise.

Ich legte den Kopf ein wenig zur Seite. „Ich bleibe bei dir, bis du wieder schläfst. Ich passe auf, dass du nicht ins falsche Land reist.“

„Alptraum“, sagte er.

„Wie bitte?“ Wieder etwas, dass ich nicht verstand.

„Das was ich hatte nennt sich Albtraum.“ Er überlegte kurz. „Willst du …“ Er biss sich auf die Lippe. „Ich meine, mein Bett ist groß genug, du könntest …“ Er schloss den Mund.

„Was könnte ich?“

„Du kannst dich hier reinlegen. Das Bett ist breit und ich lasse meine Finger ganz sicher bei mir.“

„Was haben deine Finger mit deinem Bett zu tun?“

„Dass du … damit meine ich, dass du … Gott!“ Er rieb sich mit der Hand über seine Augen und seufzte. „Wenn du müde bist, legt dich hier hin. Dann kannst du auch schlafen und brauchst keine Angst haben, dass ich wieder einen Alptraum bekomme.“ Er ließ die Hand sinken und rückte zum Rand des Bettes, sodass meine Hand hinunterfiel. „Ich komm auch nicht kuscheln oder so.“

„Warum nicht? Magst du mich nicht?“ Also ich kuschelte sehr gerne und John war nett und ungefährlich. Es würde mich sicher nicht stören.

„Warum … weil es sich nicht gehört einer eigentlich Fremden auf die Pelle zu rücken.“

„Von welcher Pelle sprichst du?“

„Ich … auch vergiss einfach, dass ich etwas gesagt habe.“ Er verstummte.

Ich wusste nicht wie, aber ich glaubte, ihn verärgert zu haben. Vielleicht störten ihn meine vielen Fragen ja doch. Aber er roch nicht ärgerlich, eher … frustriert? Störte es ihn, dass ich ihn nicht richtig verstand? Vielleicht hatte er aber nur Angst davor, dass ich ihn verließ und ihn nicht vor seinem Alptraum schützen könnte. Er hatte mich doch gebeten neben ihm zu schlafen. Wenn er Schutz suchte, konnte er mich doch direkt bitten, ich würde es ihm nicht verwehren. Zwar war er kein Ailuranthrop, aber er hatte mir auch geholfen und das obwohl er Angst vor mit hatte. Doch nun schien er diese überwunden, oder einfach vergessen zu haben.

Ich erhob mich aus der Hocke, legte mich zu ihm ins Bett und packte ihm vorsichtig, damit er nicht erschrak, die Hand auf die Brust, direkt auf die große Narbe und strich sanft darüber um ihn zu beruhigen. Ich würde aufpassen, dass er nicht zurück nach Alptraum ging.

John schien davon so überrascht, dass er einen Moment nichts anderes tat, als mich einfach nur anzusehen. Dann hob er die Decke und legte einen Teil davon über mich.

„Darf ich mich an dich kuscheln?“ Ich mochte es, einen Herzschlag zu hören, wenn ich ins Land der Götter reiste. Das fand ich schön.

John schwieg eine ganze Weile, bevor er antwortete: „Wenn du möchtest.“

Ich rückte näher an ihn heran, bettete meinen Kopf an seiner Schulter, spürte die Wärme seines Körpers und genoss den Geruch von Natur, der ihn umgab. Sein Herz schlug schnell, aber ich roch keine Angst. Das war gut. Er brauchte mich nicht zu fürchten, ich würde ihm nichts tun.

Zart zog ich Kreise über seinen Bauch, schnurrte bis ihm die Augen zufielen. Im Schlaf legte er den Arm um mich, zog mich an sich. So schlief auch ich wieder ein.

 

°°°

 

Langsam wurde mein Geist zurück in meinem Körper geschickt. Es war an der Zeit zu erwachen. Ich roch Natur und spürte eine unbekannte, aber angenehme Wärme. Das war nicht meine Hütte, also wo war ich? Sachte blinzelte ich ins Tageslicht. Ich lag, dich an einen Mann gekuschelt. Seine Haut war so braun wie das Erdreich im Wald von Ailuran. John.

Im Land der Götter war das wohl meinem Geist entfallen. Ich war nicht mehr auf Silthrim, ich war auf einem anderen Planeten, weil unser Portal zerstört wurde. Wenn John hier war, sann befand ich mich auf der Erde. Es war also kein Streich gewesen, den mir die Götter gespielt hatten. Oh Bastet, warum nur muss ich hier sein? Hol mich zurück in die Heimat, ich erflehe deine Hilfe. Ich schloss die Augen. Wenn ich es nicht sah, musste ich nicht daran glauben. Doch dann spürte ich etwas, ich wurde beobachtet.

Ich schlug die Augen wieder auf. John war es nicht. Er war noch in Träumen. Ich drehte den Kopf, bis ich die Tür sah. Dort stand Aman. Das Gesicht ohne jede Regung, die Hände zu Fäusten geballt, stand er da ohne etwas zu tun, oder etwas zu sagen. Stumm wie eine Statur.

Was hatte er nur? „Gegrüßt sei der Morgen und die Götter“, begrüßte ich ihn.

Sein Kiefer spannte sich an. Das waren wohl nicht die Worte, die ihm an diesem Morgen besänftigen konnten.

Neben mir regte sich John, blinzte schläfrig. Seine Hand strich dabei einmal über meinen Rücken. „Wie … was?“

Aman bedachte den Menschen mit einem dunklen Blick, knurrte ihn an, wandte sich dann ohne ein Wort ab und verschwand in einem anderen Teil des Baus.

John zog hastig den Arm unter mir raus, als hätte er sich an mir die Hand versengt. Das kränkte mich leicht. „Ähm … ich glaub, er kann mich nicht leiden.“

„Nicht leiden?“

„Er mag mich nicht.“

Das verstand ich. „Janina mag mich auch nicht.“

John schnaubte. „Meine Schwester mag niemanden.“ Er lehnte sich zurück, die Arme hinter dem Kopf. Die Sonne schien durch das Fenster auf seine braune Haut. Das fand ich faszinierend. Wie war er nur zu ihr gekommen? „Außer vielleicht Luan“, fügte er nachdenklich hinzu.

„Was ist das, Schwester?“

Er lächelte. Ein richtiges Lächeln, das mir sehr gut gefiel. „Beginnt jetzt wieder das Frage-Antwortspiel? Also gut, überlegen wir mal wie ich dir das erklären kann. Okay, das müsste … also im Normalfall haben Geschwister dieselbe Mutter. Das hieße in dem Fall …“

„Das Wort Mutter kenne ich auch nicht.“

„Hm … also … okay, dann halt anders. Von derselben Frau auf die Welt gebracht, geboren? Kannst du damit was anfangen?“

„Janina ist deine Brestern.“

„Brestern.“ Er ließ es auf der Zunge zergehen, als probierte er seinen Klang. „Interessantes Wort.“

„Aber das würde bedeuten … Mutter ist Mina. Ihr habt die gleiche Mina.“ Wie ging das nur? Nur war ich vollends Verwirrt. „Aber du bist ein Mensch und kein Lykanthrop.“ Vielleicht spielte meine Nase mir ja ein Streich. Ich beugte mich vor, legte die Hand auf seine Brust und schnupperte an seinem Bauch, sog den Geruch seiner Haut tief in mich ein. Er roch gut, aber nein, er war kein Lykanthrop. Da war nur dieser überragende Geruch von Mensch.

„Ähm … egal, was du da machst,  es wäre nett, wenn … ähm … könntest du das bitte lassen? Das ist … nicht gut.“

Nicht gut? Ich richtete mich wieder auf und musterte ihn. Hatte ich ihm wehgetan? Ich witterte, aber da war keine Geruch von Angst in der Luft. Was hatte er dann? „Was hab ich getan?“

„Ach nichts, alles okay.“ John zupfte seine Deckte zurecht, bis ein dickes Knäuel in seinem Schoss lag.

Ich folgte der Bewegung natürlich und verstand, wo das Problem lag. Ich war schließlich kein Kind mehr und hatte so einiges von Anima erfahren, seit sie Gillette ihr Herz nannte. Männer hatten das manchmal, ohne dass sie sich dagegen wehren konnten. So war ihnen das von den Göttern gegeben. „Das ist nicht schlimm, das ist normal, das weiß ich“, versuchte ich ihn zu beruhigen.

Er verzog das Gesicht. Plötzlich schien er sich in seiner Haut äußerst unwohl zu fühlen. „Äh ja. Themawechsel. Du wolltest gerade wissen, warum Janina meine … wie war das?“

„Brestern.“

„Genau, warum sie meine Brestern ist.“ Er sah mich fragend an. „Was bin ich für sie?“

„Du bist ihr Brestern.“

„Ah, ihr benutzt dafür also nur ein Wort. Auch gut. Meine … ähm …Mina? Also meine leibliche Mutter ist bei meiner Geburt gestorben, so bin ich die ersten paar Jahre bei meinem Vater aufgewachsen. Den Mann, den männlichen Elternteil.“

„Dein Fafa.“

„Fafa.“ Er sprach das Wort aus, als wollte er den Namen ausprobieren. „Interessant … aber egal. Als ich vier war, hat er meine Mutter, äh Mina kennengelernt, also Alexandra, nicht Desiree, meine leibliche Mutter. Die beiden haben zusammen Janina und etwas später dann Pascal bekommen. Sie ist also eigentlich nur meine Halbschwester, sie beide, also er wäre dann mein Halbbruder, weil er ein Junge ist und dafür danke ich allen, die es hören wollen. Die beiden sind also meine Halbgeschwister. Halbbrestern? Sagt ihr das so?“

„Nein, nur Brestern. Ich hab fünf Brestern. Alles Jungs, aber nur Licco, Cuver und ich haben den gleichen Fafa. Unisum, der Älteste von uns, hat einen anderen und Migin und Anadon haben noch einen anderen. Mein Fafa hat noch mehr Natis, aber Brestern werden an der Mina gezählt. Mein Fafa ist der Collusor meiner Mina, nicht ihr Gefährte.“

„Collusor? Natis?“

„Collusor ist ein zeitweiliger Partner, mit dem man sich nur vereint, um ein Natis zu bekommen. Das funktioniert ohne das Gefühl des Herzens. Viele Krieger leben so, weil ihnen die Zeit für einen Gefährten fehlt. Sie leben nur, um dem Volk zu dienen. Und Natis sind Jungen und Mädchen vom Blut der Mina und des Fafa, von ihrem Fleisch, entstanden aus den Lenden der Männer, bei verschiedenen Minas.“

„Ah, okay, ich glaube ich habe das verstanden, Natis sind Kinder.“ Er lächelte. „Also sind Janina und Pascal meine Brestern.“

Seine Brestern? Nicht ganz. Wenn ich das jetzt richtig verstanden hatte, gehörte John ja gar nicht dazu, weil sie verschiedene Minas hatten, aber sie benahmen sich so. Ich kannte keinen von Fafas Natis, die nicht von meiner Mina waren. Hier war es anders. Irgendwie war John trotz verschiedener Minas der Brestern von Janina und Pascal. Von den Geistreden tat mir der Kopf weh. Das war alles so verwirrend.

„Und Gran ist … was ist Gran für mich?“

„Deine Romina.“ Das wusste ich ganz sicher, dass hatte Luan mir gestern gesagt. Destina war Janinas Romina und damit auch Johns.

„Romina, aha.“ Er lächelte mich offen an. „Klappt doch ganz gut mit uns. Noch zwei drei Tage und die Sprachschwierigkeiten sind behoben.“

Im hölzernen Gang kamen schnelle, kratzende Geräusche näher, die mich aufsehen ließen. Einen Moment später schoss Nebka ins Zimmer, verlor beim Abbiegen fast das Gleichgewicht und konnte sich nur mit viel Mühe und Not auf den Beinen halten. Sie jagte über den befellten Boden und versuchte aufs Bett zu springen. Leider waren ihre Beine dafür noch nicht kräftig genug, so dass sie sich stattdessen einfach nur die Nase am Gestell stieß und wieder hinunterfiel. Niesend rieb sich mir der Pfote darüber. Das hatte bestimmt wehgetan.

„Warum jagst du hier so rum, als sei Sachmet höchst selbst hinter dir her?“, wollte ich von ihr wissen.

Sie sah mich mit großen Augen an. „Acco will  mich waschen. Ich will mich nicht waschen.“

Also nichts Schlimmes. So etwas hatte ich nämlich schon befürchtet. Aus eigener Erfahrung kannte ich das zwar nicht, Sian war immer artig und stellte nie etwas an, aber ich hatte so einiges bei Eno mitbekommen. Ich griff Nebka in ihr Nackenfell und zog sie aufs Bett zwischen John und mich. „Und da bist du gelaufen wie der Wind, um ihm zu entkommen.“

Sie nickte eifrig. „Ich will mich nicht waschen“, wiederholte sie.

Das hatte Sian auch nie gewollt. Die Erinnerung versetzte mir einen Stich. Wie es ihm wohl ging?

Krallen klackten auf dem Holz draußen und dann tauchte Acco auf. „Gegrüßt sei der Morgen und die Götter.“

„Gegrüßt seist du“, erwiderte ich. Seufz, war wohl an der Zeit, dem Tag entgegenzutreten. „Darf ich euren Baderaum nutzen?“

„Natürlich“, sagte John sofort.

Ich legte den Kopf schief. „Ich würde dich ja fragen, ob du mir Gesellschaft leisten möchtest, aber euer Badebecken ist so klein, dass ich kaum allein hineinpasse.“ Normalerweise badete ich nicht allein, aber hier blieb mir wohl nichts anderes übrig.

John riss die Augen auf. „Ob ich … nein, nein, geh du nur. Ich geh später.“

„Ich will mit baden“, piepste Nebka.

Hatte sie nicht eben noch gesagt, sie wollte sich nicht waschen?

„Katzen mögen kein Wasser“, teilte Acco ihr mit und sprang aufs Bett. Der weiche Untergrund senkte sich unter seinem Gewicht.

„Ich will baden!“, beharrte sie.

„Du gehst jetzt frühstücken“, erwiderte Acco. „Du schimpfst schon die ganze Zeit, dass du Hunger hast.“

„Aber jetzt will ich baden!“

Kinder konnten so stur sein, besonders Wildkatzen.

Acco beachtete ihren Einwand nicht weiter und schnappte sie mit der Schnauze einfach im Nackenfell. Nebka fauchte ihn an und zappelte, aber er ließ sich davon nicht beirren, sprang von Bett und trug sie aus dem Raum. Er hatte wohl ein wenig Erfahrung mit kleinen Kindern.

„Sie ist niedlich“, sagte John, als er den beiden nachsah.

Das war sie und trotzdem gefiel es mir nicht. Sie hatte gerade erst Naaru verloren und tat so, als sei es ein ganz normaler Tag. „Ich mache mir Sorgen um sie. Ihr Leiter ist in der letzten Nacht verstorben und sie trauert nicht, das kann nicht gut sein.“

John sah mich nur an. Was sollte er darauf  auch für Worte für mich haben?

 

°°°

 

Das Bad hatte mir gut getan, die Wunde von dem Schuss an meinem Arm war schon fast verheilt und von dem Kampf mit Aman waren auch keine Spuren mehr zu finden, nur war es ein wenig einsam gewesen. Noch nie war ich ganz allein zum Baden gegangen. Die Riten der Menschen waren schon eigenartig. Ich hatte die letzten Perlen aus meinem Haar entfernt, die ich mir für den Schöpfertag hinein geflochten hatte. Wie hatte in so kurzer Zeit nur alles so anders werden können? Ich musste auf meine Göttin vertrauen, sie würde wissen, was sie tat und mir den Weg weisen.

„Gegrüßt sei der Morgen und die Götter“, sagte ich, als ich in den großen Raum mit dem Papier an der Wand kam. Bis auf mich waren bereits alle anwesend. Manche saßen, wie Pascal, auf dem großen Polstermöbel, oder standen, so wie Aman, der mir nicht den Hauch von Aufmerksamkeit zukommen ließ. Er lehnte an der Wand und tat so, als würde er meine Anwesenheit nicht bemerken. Und trotzdem spürte ich seinen Blick auf mir. Das war … komisch.

Der Tisch war beladen mit Essen, in einer Art und Weise, wie es mir noch nicht untergekommen war. Manche Speisen konnte ich an den Gerüchen ausmachen, aber andere sagten mir gar nichts.

„Gegrüßt seist du.“ Luan Lächelte mich an. „Das habe ich schon sehr lange nicht mehr gesagt.“

Nebka lag auf dem Boden, ihr Frühstück zwischen den Pfoten und versuchte unter Accos Augen ein Stück Fleisch daraus zu reißen. Wer hatte ihr das denn gegeben? Sie war doch noch viel zu klein, um es so kauen zu können, es musste kleingeschnitten werden.

Janinas Augen funkelten feindlich. Die Stunden des Schlafs hatten ihre Meinung über mich wohl nicht geändert. „Seid ihr Banane im Hirn? Wir haben es schon nach zwölf.“

Acco, der sich das Leid nicht länger mir ansehen konnte, biss ein kleines Stück aus dem Fleisch raus und spukte es Nebka vor die Nase, die es sofort gierig verschlang.

„Da wir aber alle erst irgendwann heute Morgen schlafen gegangen sind, ist es für uns noch Morgen“, widersprach John ihr, der noch immer in dem Beinkleid war, in dem er die Nacht verbracht hatte.

Ich trug das kurzes Beinkleid und das Shirt, das mir Janina gestern gegeben hatte, bevor ich mein Lager aufgeschlagen hatte.

Janina schnaubte. „Das sagst du doch nur, wie du auf ihre Titten stehst.“

„Janina!“, tadelte Destina. Luan wirkte leicht beschämt und Pascal rieb sich über die Augen, als wäre er ihrer einfach nur leid. Alle wichen mir mit ihren Blicken aus, auch John.

Ich war verwirrt. „Was sind Titten?“

Pascal, der gerade in etwas biss, das wie Brot mit Schlamm aussah, verschluckte sich.

„Beachte Janina gar nicht“, riet mir John. In seiner Hand hielt er einen Becher, aus dem Dampf aufstieg.

Neugierig beugte ich mich vor und schnupperte. Der Geruch war angenehm, doch völlig unbekannt. „Was ist das?“

„Kaffee.“ Er hielt mir den Becher so hin, dass ich einen Blick hineinwerfen konnte.

Eine dunkelbraune Brühe. Ich spürte ihre Wärme im Gesicht. „Bist du so braun, weil du das trinkst?“

Zum zweiten Mal verschluckte Pascal sich. Dieses Mal so schlimm, dass ihm die Tränen in die Augen schossen. Er hustete und musste einen Schluck trinken, um wieder zu Atem zu kommen. „Gott, wo ist die Videokamera wenn man sie brauch?“

„Lass den Blödsinn und iss dein Frühstück“, ordnete Destina an, die eine weise, cremige Substanz aus einem Becher löffelte. Der Becher war bunt mit Früchten bemalt, sah aber nach nichts aus, dass ich schon einmal gesehen hätte. Er war sehr dünn und schien mir nicht sonderlich stabil.

Luan lächelte mitfühlend. „John ist mit dieser Hautfarbe geboren.“

„Also ist er kein Mensch?“ Ich musterte ihn mit neuen Augen.

Janina schüttelte den Kopf. „Die weiß aber auch gar nichts, oder?“

Luan legte ihr besänftigend eine Hand auf den Arm. „Auf Silthrim gibt es keine andersfarbigen Wesen, dort sind alle weiß. Se kann es also nicht kennen.“

„Es gibt blaue Nymphen“, warf Nebka in den Raum. „Ich hab ein Bild gesehen.“

„Ja und auch grüne“, stimmte der Vampir ihr zu. Er wandte sich zu mir. „John ist ein Mensch, ein Schwarzer. Es gibt unter den Menschen verschiedene Hautfarben.“

„Rothäute, Schlitzaugen, Weißbrote“, sagte Pascal und lächelte frech. „Wir sind sehr vielfältig.“

„Wie bei den Zentauren“, kam mir der Vergleich in den Sinn. Die hatten viele verschiedene Farben in ihrem Fell, so viele wie bei keinem anderen Wesen der Götter.

Doch Luan schüttelte den Kopf. „Nein. Du musst dir die Menschen vorstellen, wie die Ailurana, bei ihnen gibt …“

„Ailuranthropen“, verbesserte ich automatisch. Mein Volk mochte diesen umgangssprachlichen Ausdruck nicht.

„Natürlich. Bei euch gibt es auch verschiedene Arten, Tiger, Luchse und Pumas. So ist das auch bei den Menschen. John ist ein Schwarzer, eine eigene Rasse unter der Spezies Mensch.“

Ich beäugte das dampfende Getränk misstrauisch. „Dann kann ich es also trinken ohne braun zu werden?“

Lächelnd hielt John mir seinen Bescher hin. „Kannst du“, versicherte er mir.

„Schmeckt es?“ Der Geruch jedenfalls war wundervoll. Noch nie war mir etwas Vergleichbares in die Nase gestiegen.

„Mir ja.“ Er drückte mir den Becher in die Hand. Er war aus gehärtetem und versiegeltem Ton. „Probier’s einfach, aber sei vorsichtig, er ist noch heiß.“

Das tat ich. Ich nahm einen vorsichtigen Schluck und spuckte ihn sofort wieder zurück in den Becher. „Oh Göttin, was ist das denn?“ Das schmeckte bitterer, als das bitterste Kraut, das ich kannte. „Und das trinkst du freiwillig?“ Wie konnte er nur? Das Zeug war widerlich. Igitt.

John warf einen wehmütigen Blick in seinen Kaffee. „Nachdem du rein gespuckt hast, nun nicht mehr.“ Ohne den lachenden Pascal auf dem gepolsterten Möbel zu beachten, stellte er seinen Becher auf den Tisch. Er nahm sich ein Brot von Janinas Teller, das mit dem gleichen Schlamm beschmiert war, wie das von seinem jüngsten Brestern.

„Hey!“, beschwerte sich die trächtige Füchsin, mit dem großen runden Bauch. Lange konnte es bis zu ihrer Niederkunft nicht mehr dauern. „Mach dir gefälligst dein eigenes.“

Ohne Janina weiter zu beachten, hielt John mir das Brot vor die Nase. „Hier, probier das, das wird dir sicherlich schmecken.“

Ich verzog angewidert die Nase. „Ich esse keinen Schlamm.“

Seine Mundwinkel zuckten. „Das ist Nutella. Es ist süßes Essen. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass es dir schmeckt.“

Ich blieb misstrauisch, nahm das Brot aber entgegen. „Und davon werde ich auch nicht braun?“

„Gott ist die dämlich“, kam es von Janina.

Niemand schenkte ihr Aufmerksamkeit. Es war, als wenn alle gespannt mein Urteil abwarteten.

„Du kannst es gefahrenlos essen“, versicherte John mir.

Nun gut. Vorsichtig biss ich die Ecke vom Brot ab und … „Oh Göttin!“ Das schmeckte phantastisch. Etwas Vergleichbares war mir noch nie untergekommen. Es war süß wie Honig, aber in Konsistenz und Geschmack ganz anders und es schmolz auf der Zunge. „So etwas Köstliches habe ich noch nie gekostet.“ Ich biss noch ein Stück ab, ein großes, so viel wie auf einmal in meinen Mund passte.

John lächelte schüchtern. „Es schmeckt dir also?“

Ich nickte und eilte zu Aman, der die ganze Zeit schweigend zugesehen hatte. „Hier, das musst du probieren. Das muss Ambrosia sein, die Speise der Götter.“ Anders konnte ich mir diesen Geschmack nicht erklären. Wer sonst würde etwas solches essen, wenn nicht die Götter selbst.

Aman zögerte einen Moment, beugte sich dann aber vor und biss ein Stück aus direkt meiner Hand ab. Er ließ sich von mir füttern. Das war …

„Ich will das auch kosten“, piepste Nebka.

Mein Blick richtete sich auf sie. Das wollte ich nicht. Es war nicht mehr so viel da und ich wollte es gerne weiter essen, aber die Kleine sah mich so flehentlich an, dass ich mich seufzend zu ihr hockte, ihr ein Stück abbrach und es ihr vor die Nase hielt. Sie verschlang es so schnell, dass ich auf meine Finger achtgeben musste.

„Hmm“, machte sie.

Auch Acco beugte sich neugierig vor und schnüffelte daran. Natürlich wollte er auch probieren. Sehnsüchtig sah ich zu, wie mein Ambrosia in seiner Kehle verschwand.

„Hier.“ John hielt mir ein weiteres vor die Nase. Er hatte wohl bemerkt, dass ich noch mehr wollte. Davon abgesehen, dass mein Magen knurrte wie ein hungriger Wolf, schmeckte es einfach wunderbar.

„Vergelts.“

„Nichts zu danken.“

Janina zog eine Augenbraue hoch. „Du verstehst den Quatsch, den sie da von sich gibt?“

„Da ich im Gegensatz zu dir nicht den lieben langen Tag meiner eigenen Stimme lauschen muss, sondern auch zuhöre, wenn mir jemand etwas erzählt, ja. Lilith hat mir einiges erklärt, Brestern.“

Ich schmunzelte mit vollem Mund. So viel hatte ich ihm nun auch nicht erklärt.

Janina plusterte sich auf. „Ich quatsche nicht …“

„Das reicht jetzt“, schritt Destina ein, bevor die beiden in einen ernsthaften Streit gerieten. „Es ist an der Zeit, dass wir uns mit einem Problem befassen das keinen weiteren Aufschub gewährt. Setzt euch, alle.“

Keiner wagte es ihr Widerworte zu geben. Da aber das gepolsterte Möbelstück schon so gut wie voll war, setzte ich mich neben Aman vor den Tisch auf den befellten Boden. Pascal rutschte ein wenig auf, sodass John neben ihnen noch einen Platz fand. Ich hatte kaum den Boden berührt, da kroch Nebka auf meinen Schoss und kuschelte sich darin ein. Sie war noch so klein, kaum älter als ein Jahr. Aber vielleicht war das ihr Glück und ihre Jugend half ihr über den Verlust ihres Leiters hinweg. Sanft strich ich ihr über den Kopf und schnurrte leise. Ich würde für sie da sein und ihr helfen, ich würde auf sie aufpassen, das schwor ich im Namen meiner Göttin.

Destina stellte den bunten Becher auf den Tisch und nahm mich in Augenschein. „Falls wir etwas sagen, dass dir nicht gefällt, möchte ich dich bitten, nicht wieder meine Familie anzugreifen. Tu das was Aman dir gestern geraten hat, übe dich in Selbstbeherrschung.“

Mein Gesicht verdüsterte sich und mein Kiefer spannte sich an. „Wenn mir keiner einen Grund gibt werde ich friedlich bleiben.“ Ich war schließlich keine kleine Wildkatze mehr, die alles angriff was ihr vor die Nase kam. Mir etwas solches zu sagen war unnötig. Das gestern war ein Fehler gewesen, das gab ich zu, aber mein Geist war von allem so überfordert gewesen, dass er leicht getrübt war und ich nur aus dem Instinkt heraus gehandelt hatte, mein Training völlig vergessen hatte. So was konnte vorkommen. Heute war ich ruhiger, heute würde das nicht passieren.

„Gut.“ Destina nickte, als hätte sie nichts anderes erwartet. „Also, da gibt es noch diesen Ailuranthropen, wie war noch sein Name?“

„Wie der Rasierer“, half Pascal ihr.

„Ah ja, genau, danke. Gillette, so hattest du ihn doch genannt?“, fragte sie mich.

„Mein Amicus.“ Ich nickte. „Ja, Gillette. Gillette und Kaio. Wir müssen sie retten.“

„Im Augenblick sind sie nicht in Gefahr“, sagte Destina. „Die Polizei hat sie nur eingesperrt um die Menschen vor ihnen zu schützen. Sie sind nicht böse und werden ihnen so schnell nichts tun.“

„Sie meint die grünen Krieger“, erklärte Luan.

Ich fauchte. „Sie haben getötet!“ Ein unschuldigen Ailuranthropen, eine Schreiberin, die nicht die Chance hatte sich gegen ihren Schuss und die gläsernen Pfeile zu wehren.

„Aber nur weil sie die Menschen beschützen wollten“, fauchte Janina zurück. „Bekommst du das nicht in dein Spatzenhirn hinein? Die grünen Krieger, wie du sie nennst, sind da um uns zu beschützen. Sag selbst, wenn du glaubst dass deine Leute in Gefahr sind, würdest du dann nicht alles daransetzten, um sie zu beschützen, wo du doch eine so tolle Kriegerin werden willst?“

„Natürlich würde ich das!“

„Na, dann mach mal hier nicht so einen Aufriss. Nicht alles was anders ist als du, ist automatisch böse.“ Sie drückte Luans Hand und ich glaubte zu wissen, worum es ihr eigentlich ging. Ich hatte Luan angegriffen, zwar weil ich sie schützen wollte, aber ich hatte ihn angegriffen. Weil ich ihn für böse hielt, einen Sohn des Anubis.

Es war schwer zu glauben, dass die Krieger der Erde nicht böse waren, aber ich verstand, was sie versuchte, mir zu erklären. „Sie würden also nicht angreifen, wenn ich ihnen nichts täte?“

„Natürlich nicht“, sagte sie abfällig. Ihre Abneigung gegen mich wuchs mit jeder Frage die ich stellte, aber ich wusste nicht was sich dagegen tun sollte. Es war ja nicht so, dass ich versuchte sie zu ärgern, ich wollte das alles nur verstehen. „Dann würden sie riesigen Ärger bekommen. Einfach so in der Gegend rumballern ist nicht drin.“

Auch wenn ich nicht alles verstand, nahm ich das Nein in ihren Worten deutlich wahr.

Destina beugte sich vor. „Wir müssen uns überlegen wie wir die beiden dort heraus bekommen.“

„Das eigentliche Hindernis ist nicht das Heraus, sondern das Hinein“, tat Luan die Reden im Geist kund. „Hineinzukommen ist das Schwierigste. Sie werden uns schließlich nicht mit einer einfachen Bitte zu Gillette bringen, oder ihn gehen lassen. Andererseits brauchen wir ihre Hilfe, damit wir ihn finden. Die Anlage ist groß. Nein, hinaus ist nicht weiter das Problem. Ein kleines Ablenkungsmanöver, das für Verwirrung sorgt und wir könnten verschwinden. Wir müssen uns mit dem Hinein befassen“

„Das mach ich“, sagte Pascal mit vollem Mund. „Das Ablenkungsmanöver meine ich. Ich bin gut, wenn es um ein großes Boom geht.“

Das verstand ich nicht, aber ausnahmsweise fragte ich nicht nach.

„Also, wenn ich irgendwo rein will, dann kratze ich an der Tür“, sagte Nebka.

„Wir können aber nicht einfach kratzen“, erklärte Acco.

In meinem Geist machte sich ein ganz verrückter Plan breit. „Warum nicht?“ Ich lächelte über die verwirrten Gesichter der anderen. Was ich vorhatte, war riskant, aber es würde uns leichten Zugang verschaffen und uns vielleicht sogar direkt zu Gillette und Kaio führen. Wenn die Krieger in grün wirklich friedlich waren, dürfte es da keine Probleme geben. „Klopfen wir doch einfach an die Tür.“

 

°°°°°

Kapitel Vierzehn

„Sei vorsichtig.“ Janina küsste Luan auf die Lippen, was Aman dazu brachte, demonstrativ den Kopf abzuwenden und sich die Straße auf der wir standen, näher vor Augen zu führen. Sie lächelte ihr Herz an. Ich verstand immer noch nicht wie das geschehen konnte, aber es war deutlich dass sie ihn liebte. „Und wenn du nach Hause kommst, möchte ich, dass du dieses Ding anbehält“, sagte sie ein wenig verspielt und zupfte an dem Stück Stoff um seine Hüften. „Vorerst zumindest.“

Luan sah auf den Lendenschurz hinunter, den er notgedrungen tragen musste, damit er mich und Aman begleiten konnte. Destina hatte ihn aus einer alten Kiste hervorgekramt und Pascal hatte ihn und auch die beiden von mir und Aman mit Magie wieder in Ordnung gebracht. Wir mussten sie tragen, um authentisch zu wirken. Das war das Wort, das Luan benutzt hatte, was auch immer das sein sollte. Ich war nur glücklich wieder meine eigene Kleidung am Leib tragen zu dürfen.

Die Magie in dieser Welt war wenig, aber vorhanden, an den heiligen Orten, wie sie uns erklärt hatten. Sie mussten sie nur einsammeln, um sie nutzen zu können, wenn sie zum Beispiel unsere Kleidung in Ordnung bringen wollten. Hier war es nicht wie in Silthrim, wo die Magie einen wie der Wind umschloss und durchdrang, hier wollte sie gejagt werden.

Unter der Fassade aus Gleichmut war Aman angespannt, aufgeregt. Er fieberte dem entgegen, was uns erwartete. Das war an dem Glänzen in seinen Augen zu erkennen, der gleiche Glanz, den er auch gestern schon gezeigt hatte, als wir miteinander gekämpft hatten.

Meine Überlegung sah genau das vor, was ich gesagt hatte. Wir würden an die Tür gehen und klopfen. Derweil würde Janina den Magier Pascal zu einem anderen Teil des Geländes bringen, wo sie um eine bestimmte Uhrzeit ein Ablenkungsmanöver starten sollten, damit wir mit Gillette fliehen konnten. Wie sie hier die Zeit zählten, verstand ich nicht ganz, aber solange sie das wussten, konnte es mir egal sein. Luan würde schon wissen was er zu tun hatte. Ich betete nur bei meiner Göttin, dass ich mein begrenztes Vertrauen an sie nicht bereuen würde.

Destina war mit John auf dem Bauernhof zurückgeblieben. Er hatte Nebka in seine Obhut genommen und mir versichert, dass er auf sie aufpassen würde. Es tat mir leid sie ohne meinen Schutz zurücklassen zu müssen, aber sie war ein kleines Kind, hatte noch nicht mal die Reife von Sian erreicht. Das war zu gefährlich für sie, auch wenn sie das nicht verstehen wollte. Ich hatte ihr versichern müssen, heil zu ihr zurückzukehren, bevor sie mich hatte widerwillig gehen lassen.

Janina sah Luan noch einmal verschmitzt an und stieg dann samt ihrem großen Bauch schwerfällig zurück in das Auto, das gleich danach zum Leben erwachte und auf dem Steinweg davon fuhr. Ich hatte noch immer nicht das Ende, oder den Anfang gefunden. Doch mittlerweile war mir klar, dass es nicht aus einem Teil bestand, sondern aus vielen. Sehr vielen und sehr großen. Und das …

„Wir sollten gehen“, unterbrach Aman die Reden in meinem Geist.

Ich sah zum Himmel hinauf, der so strahlend und blau war wie der auf Silthrim, ließ mir die Sonne auf den freien Oberkörper scheinen und spürte die angenehme Wärme. Das Himmelswasser war verschwunden und getrocknet. Wenn ich die Augen schloss und die Luft anhielt, konnte ich mir vorstellen, daheim im Tempel zu sein, wo meine größte Sorge war, nicht zu spät zum Unterricht von Magister Damonda zu kommen. „Das sollten wir.“

„Aber seht zu, dass die Menschen euch nicht zu früh bemerken. Wir wollen keinen Aufruhr“, mahnte Luan. „Und genau das würde passieren, wenn wir erkannt werden. Nur die Polizei darf wissen wer wir sind, alle anderen sollen uns nur für ein paar durchgeknallte Anhänger halten.“

Acco stellte die Ohren auf und lauschte in die Ferne.

„Das haben wir schon verstanden, wir sind ja nicht dumm“, zischte ich. Ich verstand warum er bei uns sein musste, er kannte diese Welt einfach besser und könnte uns in gefährlichen Situationen bestimmt helfen. Trotzdem musste er nicht glauben, dass wir im Geiste schwach waren, nur weil uns diese Welt unbekannt war. So überheblich konnten nur die Töchter und Söhne des Anubis sein.

Ohne weiter auf die drei zu achten, marschierte ich los. Die Richtung zu finden, war nicht schwer. Noch über den Lärm im Auto hatte ich die Menschen hören können, die bei dem Haus der grünen Krieger standen. In dieser schwarzen Kiste, den Fernseher in der Küche, den Janina unter Schmerzensdrohungen an mich eingeschaltet hatte, bevor wir losgefahren waren, konnten wir in den sogenannten Nachrichten den Aufruhr verfolgen, der an diesem Ort seit gestern herrschte. Auch hatte ich ein weiteres Mal Gillette gesehen, wie er in der Nacht auf Kaios Rücken versucht hatte zu fliehen, wie der Armentum mit einem Schuss getroffen wurde und wie die beiden von den grünen Kriegern gefangen genommen wurden. Sie waren einfach über meinen Amicus hergefallen und hatten ihn in ein großes Auto gesteckt. Es waren so viele gewesen, dass Gillette sich nicht hatte wehren können. Ich hatte mich wirklich beherrschen müssen nicht einen weiteren Fernseher zu erdolchen. Am liebsten wäre ich durch das Glas gesprungen, um ihm beizustehen. Doch ich hatte verstanden, dass es nicht in dem Moment passierte in dem ich es sah, sondern schon vergangen war, wenn ich auch nicht verstand, wie es möglich war, die Vergangenheit in einem schwarzen Kasten mit zwei Schwänzen gefangen zu halten. Auch Luans hilfreiche Erklärungen hatten mir dabei nicht sehr geholfen. Ich verstand diese Welt einfach nicht.

Je näher wir unserem Ziel kamen desto deutlicher wurden die Laute der Menschen. Soweit ich das verstand, hatten sich unter den Menschen zwei Parteien gebildet. Die einen wollten Gillettes Amicus sein und die anderen wünschten ihn zurück in die Mächte.

„Da vorn um die Ecke ist es“, teilte Luan uns mit. Er schien sich in seinem Lendenschurz nicht wohl zu fühlen. Zupfte unentwegt an dem wenigen Stoff herum, als hoffte er ihn damit länger zu bekommen, um mehr verdecken zu können.

Acco hob den Kopf und sah zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren. „Da kommt was.“

Ich hörte es auch, einen Hund. Laut bellend kam er angerannt. Ein heller Hund, mit … hängenden Ohren? „Er sieht seltsam aus.“ Ich neigte den Kopf. „Solche gibt es auf Silthrim nicht.“

Hinter dem Hund folgte eine Frau, die immer wieder nach ihm rief, doch er hörte nicht auf sie.

„Das ist ein Golden Retriever, eine sehr beliebte Rasse bei den Menschen. Bekannt für ihre Treue und Gutmütigkeit“, erklärte  Luan.

Der Hund hatte uns fast erreicht. Er schien es auf den Sermo an unserer Seite abgesehen zu haben. Acco legte die Ohren an und knurrte.

„Ruhig“, mahnte Aman, begann dann aber selber zu Knurren, als der Hund laut kläffend vor ihm hin und her sprang.

„Wie war das mit der Selbstbeherrschung?“ Diese Worte mussten einfach gesprochen werden. Auch das Lächeln konnte ich mir nicht verkneifen.

Er verstummte sofort und funkelte mich an. Von einem Lehrling zurechtgewiesen zu werden, war bestimmt nichts, dass seiner Laune förderlich war.

Die Frau kam angerannt, blieb dann aber ein paar Meter von uns entfernt abrupt stehen. Sie sah von Aman zu mir und weiter zu Luan, blieb ein paar Mal an unseren Lendenschurz hängen. Ihr Gesicht verzog sich spöttisch. „Noch mehr Fans von diesem Monster?“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist kaum zu glauben was alles für Freaks aus ihren Löchern kriechen wenn etwas passiert.“

Ich fauchte. „Pass auf wen du hier Monster nennst. Mein Amicus ist ein Krieger der Bastet, der nichts Böses im Leib träg!“

„O-kay.“ Ohne mich aus den Augen zu lassen, griff sie nach dem Halsband ihres Hundes. Sie fürchtete wohl, dass wie ihr gefährlich werden konnten und wollte schnell weg. Doch der Golden Retriever hatte anderes im Sinn, sprang einfach zur Seite und stürzte auf Acco zu.

Der wich aus und knurrte wieder. „Geh Hund, spiel mit jemand anderen.“

Die Frau riss überrascht und erschrocken zugleich die Augen auf, stolperte zwei Schritte zurück und begann dann hastig in dem ledernen Beutel an ihrem Arm zu kramen. Welch seltsame Form er hatte, eckig. Ich hab einen solchen Beutel noch nie gesehen. Er war so klein, das kaum etwas hineinpasste. Warum trug jemand nur einen solchen Beutel mit sich herum? Nach einigem Suchen holte sie einen flachen Schwarzen Kasten hervor. Einen Ähnlichen hatte ich gestern schon bei Luan gesehen. Was das wohl war?

„Komm, lasst uns gehen.“ Luan legte die Hand an meinen Rücken.

Sofort machte ich einen Satz auf das nächste Auto, der die Augen der Frau noch größer werden ließ. „Du hast nicht das Recht mich zu berühren, Brut des Anubis!“, fauchte ich. Welches Recht nahm er sich heraus? Glaubte er nur weil ich ihn nicht getötet hatte, dass er das durfte? Nur einem Ailuranthropen war es gestattet mich anzufassen, keinem anderen Wesen der Göttermächte.

„Verzeih, aber wir sollten trotzdem gehen.“ Er warf der Frau, die den kleinen Kasten ans Ohr drückte einen kurzen Blick zu. „Und wir sollten uns beeilen.“

Etwas in seiner Stimme veranlasste mich dazu, genau das zu tun. Ich setzte vom Wagen über den ganzen Steinweg hinweg und eilte sofort weiter, immer Richtung der Menschen, die alle an den Ort zu strömen schienen, der auch unser Ziel war. So viele Menschen, wo kamen dir nur alle her? Und warum rochen viele von ihnen so dreckig? John war da ganz anders, bei ihm wurde ich nicht von dem Wunsch beseelt, mir die Nase zuzuhalten.

Luan  kam an meine Seite, Aman hinter mir. Die Menschen bekamen große Augen, als sie uns sahen und ein paar schrien auf, als Acco nieste und sagte: „Hier stinkt es.“

„Das tut es in dieser Welt überall“, teilte ich ihm mit.

Luan drängte uns weiter zu gehen und meine Neugierde auf diese Welt auf einen anderen Zeitpunkt zu verschieben. Wir bogen um die Ecke und … oh Göttin. Der ganze Steinweg zwischen den Häusern war voll mit Autos in allen Größen und Varianten, die ich mir vorstellen konnte und Gebilden, die mich an Zelte aus der Heimat erinnerten. Nur waren diese hier rundlich geformt. Doch das sie aus Tuch waren, war nicht zu verkennen. Und überall zwischen ihnen standen, saßen und liefen Menschen umher. So viele. Die meisten von ihnen trugen normale Menschenkleidung, wie es auch bei Luan im Haus gegeben war. Andere hatten sich in Kleidung gehüllt, die entfernt an die aus Silthrim erinnerte. Aber wie es schon bei Janina Tradition war, hielten die Frauen hier sich dabei komplett bedeckt. Als wäre es ein Frevel zu zeigen wer sie waren. Dieses Schamgefühl konnte ich wirklich nicht verstehen.

Einige von ihnen bemerkten uns sofort und starrten uns an, andere kamen erst nach und nach dazu.

„Einfach weitergehen“, sagte Luan und drängte einen Mann zur Seite, der so dick war, als hätte er ein ganzes Schwein verschlungen. „Wir müssen ganz nach vorn, da ist das Polizeirevier.“

„Und dort finden wir Gillette und Kaio.“ Die meine Hilfe brauchten. Ich lief weiter, ließ mich von Amans Anspannung nicht anstecken, der jeden wachsam im Auge behielt, der uns nahe kam und sah mir die Menschen genauso neugierig an, wie sie uns. Es gab so viele von ihnen. Die meisten hatten eine helle Haut, so wie ich, aber es gab auch gebräunte und ich sah sogar ein paar, die wie John aussahen. Braun. Tranken sie auch Kaffee? Vielleicht lag es ja doch an dem bitteren Gebräu. Ich war mir da noch nicht so ganz sicher. „Warum sind sie alle hier?“

„Das sind Schaulustige“, erklärte Luan und gab mir mit einer Geste zu verstehen, das Zelt vor uns von der Seite zu umrunden, wo nicht so viele Menschen saßen. Als wenn mir nicht ohne ihn diese Geistesrede gekommen wäre. Er musste  mich wirklich für dumm halten. „Menschen, die etwas erleben wollen und hoffen, dass sie das hier können.“

„Aber haben sie den gar nichts zu tun?“ Ich konnte es mir nicht leisten, den Tag damit zu verbringen, irgendwo zu sitzen und zu warten. Das würden unsere Magister und Priester nicht zulassen. Außerdem würde mein Wunsch so nie Erfüllung finden. Auch wenn es für mich schwer war, ihn zu erreichen und ich nicht mehr wusste, ob ich das schaffen würde, hatte ich diesen Wunsch noch. Ich wollte eine Kriegerin sein. Ich sehe gute Anlagen, aus denen sich etwas machen lässt.

Ich warf Aman einen heimlichen Blick zu. Das waren seine Worte gewesen. Aber gleichzeitig hatte er auch gesagt, dass ich nichts weiter als ein Kätzchen wäre. Was davon hatte er denn nun ernst gemeint?

Luan setzte zu einer Antwort an, doch bevor er die hervorbringen konnte, ereilte uns der Ruf eines Mannes, an dem wir vorbeiliefen.

„Hey Puppe, schöne Möpse!“ Er hob und senkte die Augenbrauen, bedachte mich mit anzüglichen Blicken. „Komm her, dann zeige ich dir auch was Schönes.“

Ich blieb neugierig stehen und neigte den Kopf leicht. „Etwas Schönes?“

„Natürlich.“ Er machte eine Bewegung mit seinem Becken, vor und zurück, vor und zurück. Die Menschenmänner um ihn herum begannen zu lachen.

Aman knurrte tief aus der Kehle. 

Ich zog verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Ich versteh nicht, was willst du mir zeigen?“

„Komm her, dann wirst du es sehen.“ Mit dem Finger machte er die Geste, zu ihm zu kommen.

Meine Neugierde war entfesselt. Ich machte einen Schritt, doch sofort packte Luans Hand meinen Arm. „Nein, du …“

Meine Krallen fuhren aus. Ich kratzte ihm über die Hand, machte einen Satz, der ein Auto zwischen uns brachte und fauchte was die Lunge hergab. „Zur Sachmet, ich hab dir gesagt, du sollst mich nicht berühren!“ Er war ein Sohn des Anubis, ein Vampir, er hatte dieses Recht nicht, also warum nahm er es sich ständig? War das bei den Menschen erlaubt? „Das nächste Mal spürst du meine Krallen im Gesicht!“

Die Menschen um uns herum wurden so still, dass ich hörte wie der Wind um uns herum wehte.

„Oh mein Gott, sie gehören zu ihm!“, rief eine Frau und schlug die Hände vors Gesicht. Tränen liefen ihr über die Wangen. „Seht sie euch an, ihre Haare, ihre Kleidung. Sie müssen zu dem Katzenreiter gehören.“

Meine Haare? Ich nahm sie in die Hand. „Was ist mit meinen Haaren.“

„Das ist jetzt egal, wir müssen weiter.“ Luan folgte mit einem Sprung über das Auto. „Kommt, wir sind gleich da.“

„Nein wartet!“, rief die Frau. „Bleibt doch hier, kommt zurück!“

Aman landete auf dem Auto, Acco auf dem Rücken, den er mit einem Arm unter der Kehrseite des Wildhundes hielt, um den zudringlichen Menschen zu entkommen. „Was wollen sie von uns?“

Ein paar weitere Menschen drängten heran und alle riefen etwas Ähnliches wie die Frau.

„Sie wollen unsere Amicus werden“, erklärte Luan finster und rettete sich auf einen anderen Wagen. Zum ersten Mal zeigte er etwas von dem Vampir, der er war.

Ich sprang in den Baum hinauf, der gleich daneben stand, schlug meine Krallen in die Rinde, um mich am Stamm zu halten. Hände griffen nah mir und einer versuchte den Baum zu erklimmen, rutschte aber immer wieder ab. Sie waren keine Ailuranthropen, sie konnten nicht in Bäume klettern, nicht so wie ich. „Was sollen wir tun?“ Wir durften sie nicht angreifen, das hatte Luan uns erklärt, sonst würden die grünen Krieger uns auch als Gefahr betrachten. Das wäre widersinnig.

„Folgt mir.“ Luan sprang über die Köpfe der Menschen hinweg. Von Auto zu Auto flog er durch die Luft. Seine Schritte machten keine Geräusche und schnell war er, dass er mit dem Auge kaum wahrzunehmen war. Ich wartete nicht erst auf Amans Erlaubnis, folgte ihm sogleich. Meine Ohren waren taub für die Rufe der Menschen, als ich mich fallen ließ und schon vom Boden abstieß, kaum dass ich ihn berührt hatte. Dieser Teil meines Plans war gescheitert. Nur die Krieger in Grün hatten von unserer wahren Natur erfahren sollen, aber das taten die Menschen nun auch. Sie blickten uns hinterher, manche versuchten uns gar zu folgen, doch es waren so viele von ihnen, dass sie sich gegenseitig behinderten. Sie wussten nicht, wie sie sich zu bewegen hatten, um ihrem Wunsch nachzukommen. Und ich musste mich von Janina als dumm benennen lassen. Diese Menschen waren nichts anderes als Herdenvieh, das ohne ihre Geistreden zu benutzen, drauf losrannte. Das war mir nicht begreiflich.

Ich berührte kaum das Metall der Dächer von den Autos, bevor ich auch schon zum nächsten sprang. Hinter mir konnte ich Aman hören. Er knurrte und stieß einen Fluch aus, den selbst ich kaum wagte in den Mund zu nehmen. Ich sah zurück und musste feststellen, dass er einige Probleme hatte. Ein Mensch hatte ihm am Bein gepackt und versuchte ihn nun hinunterzuziehen. Dadurch, dass er Acco auf dem Rücken hielt, hatte er nur eine Hand um sich zu wehren. Ich drehte mich im Sprung, landete auf allen vieren und fauchte tief aus der Lunge. „Göttertod noch mal, lass von ihm ab!“

Der Mann sah mich verblüfft an, was Aman die Gelegenheit gab, seinen Fuß wegzuziehen und zu mir zu springen. Dort gab er mir einen Stoß. „Weiter.“

Das hätte er mir ruhig vergelten können. Aman war wirklich der Sohn eines Hundes. Ich zeigte ihm die Zähne und sprang dann wieder Luan hinterher, der weiter vorn auf uns wartete.

„Wir müssen hinter das Absperrband, dann haben wir es geschafft“, rief Luan.

Was hatten die Menschen nur ständig, dass sie alles mit einem Band absperren mussten? Waren sie nicht in der Lage Grenzen zu berücksichtigen. Ich schüttelte den Kopf. Etwas wie Menschen war mir wirklich noch nie untergekommen.

Luan sprang auf einem großen weißen Wagen, mit langem dicken Bauch, auf dessen Dach eine Schüssel auf einem Stock festgemacht war. Wozu diente das nun wieder? Aßen die Menschen auf ihren Autos? Aber die Schüssel war schräg, so würde das ganze Essen doch rausfallen.

„Geh, Lilith“, wies mich Aman an.

„Du hast mir keine Befehle zu geben.“ Ich drehte mich um und ging, sprang auf den großen weißen Wagen mit der Schüssel auf dem Dach, rannte zwei Schritte und machte dann einen Satz, der mich weit hinter das Absperrband und die grünen Krieger brachte, die es sicherten. Auf allen vieren kam ich neben Luan auf, sah zu den Kriegern in Grün, die vor dem Haus standen und bemerkte sofort, was sie da auf uns gerichtet hatten. „Nehmt den Schuss weg, wir wollen euch nichts tun“, beteuerte ich sofort, Luans Worte im Ohr, dass wir uns harmlos geben sollten.

Aber es fiel mir schwer. Die verheilte Wunde in meinem Arm begann zu pochen, kaum dass ich diese Waffe sah. Die Erinnerung an den Schmerz war noch frisch und es behagte mir gar nicht, sie nicht wegschlagen zu dürfen.

Aman landete neben mir. Er ließ Acco auf den Boden und baute sich hinter mir auf. Allein seien Ausstrahlung sandte schon eine Drohung aus.

Luan hatte auf eine seltsame Art die Arme gehoben, als wollte er den Kriegern in Grün zeigen, dass er nichts in der Hand hielt. Welch seltsame Begrüßung. „Wir wollen nur reden“, sagte er. „Ihr habt unseren Freund und wir wollen euch bitten, ihn uns herauszugeben. Er ist nicht so gefährlich wie ihr glaubt und gehört nicht hierher.“ Er sprach so, das seine Reißzähne nicht zu sehen waren, dass die Menschen ihn für einen von uns halten mussten.

„Nicht gefährlich?“ Der größte von den drei Kriegern, ein junger Bursche mit blondem Haar, lachte Spöttisch. „Spinner gibt’s.“ Er schüttelte den Kopf.

„Lasst uns zu Gillette“, forderte ich. „Er gehört euch nicht, nur die Göttin selbst hat einen Anspruch auf ihn, also lasst ihn zu uns kommen.“

Acco knurrte, bis Aman ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen brachte. Ihm behagte diese Situation nicht. Zu viel Leben, zu viele potentielle Gefahren, zu viel Feindliches. Er wusste nicht, auf was er zuerst achten sollte und das machte ihn nicht weniger nervös als mich und Aman. Nur Luan schien ruhig – zumindest nach außen.

„Ihr habt hier nichts zu suchen“, sagte der große Bursche, „also geht wieder hinter das Absperrband.“ Er hob den Schuss höher.

Ich fauchte, weswegen alle drei die Augen weit aufrissen. „Nehmt den Schuss weg. Ich habe euch doch gesagt, dass wir friedlich sind.“ In einer geschmeidigen Bewegung kam ich auf die Beine. „Und jetzt wünsche ich meinen Amicus zu sehen. Lasst uns ein, oder bringt ihn heraus.“

„Wir sollen dieses Monster herausbringen?“ Der Große schüttelte den Kopf. „Das könnt ihr Spinner gleich mal abhaken.“

„Gillette ist kein Monster!“, fauchte ich und trat einen Schritt nach vorn. Sofort richtete der grüne Krieger seinen Schuss auf mich. Und dann ging alles ganz schnell. Aman stieß mich zur Seite, als der Schuss knallte. Er knurrte und verwandelte sich. Ein seltsamer, rauchiger Geruch stieg mir in die Nase, vermischt mit Blut. Sie hatten ihn getroffen. Luan sprang dazwischen, stieß den Schuss weg und hielt mich mit der Hand auf, als ich den grünen Krieger fauchend anspringen wolle, bereit ihn meine Krallen spüren zu lassen. Ich hatte gewusst, dass sie nicht friedlich sein würden, ich hatte es gewusst! Sie waren wie Sachmets Kinder, konnten den Frieden einfach nicht akzeptieren.

Ein paar Menschen schrien. Ich hörte einen weinen.

„Halt!“ Luan streckte beide Arme aus, hielt uns und die Krieger in Grün auf Abstand. „Nicht schießen, wir sind friedlich.“

Die Menschen um uns herum begannen zu rufen und nach vorn zu drängen. Die Krieger brauchten all ihre Kraft um die Menge zurückzuhalten.

„… sie gehören zu ihnen …“

„… er ist wie der andere …“

„… hey, lasst uns Freunde sein …“

„… erschießt die Bestien, bevor sie …“

„… sie wollen uns töten …“

„… weiß, dass ihr nicht böse seid …“

„… Monster …“

„… du da, ich bin …“

„… hört mich an …“

„… tötet sie …“

„… ich will euch nichts tun …“

Der Blutgeruch um mich verstärkte sich. Aman. Ohne die Krieger der Menschen aus den Augen zu lassen, stellte ich mich an die Seite des Lykanthropen, um zu sehen, wo er gebissen wurde. Weit oben am Arm. Noch immer knurrte er und Acco schlich wachsam um uns herum.

„Verdammt Jürgen!“, schimpfte der älteste der Krieger mit dem Großen. „Bist zu wahnsinnig? Du kannst doch hier nicht deine Waffe abfeuern!“

Dieser Jürgen bekam die Augen gar nicht mehr zu. Weit waren sie aufgerissen und starten Aman ängstlich und erschrocken an, der leise in den Brust grollte. „Sie wollte mich angreifen.“

„Niemand will hier angreifen“, sagte Luan sofort. „Wie wollen nur zu unserm Freund.“

„Das sind … das ist … genau wie der Junge …“, stotterte der mit dem dunklen Haar, der bisher nichts gesagt hatte. „… und das Tier … das ist … oh mein Gott!“

Was redeten die hier ständig von einem Gott? Luan sagte doch, dass es in dieser Welt keine gäbe. Später, jetzt musste ich mich erst mal um Amans Wunde kümmern. Sie war am Arm, das Fell verklebt und rot. Ich strich vorsichtig daran entlang. „Der Schuss hat dich gebissen, aber nicht so tief wie mich.“ Ich zog die Wunde ein wenig auseinander. „Ich glaube nicht, dass da eine Kugel drin ist.“

„Mach sie zu“, sagte er kaum hörbar.

Überrascht sah ich ihn an.

„Wenn wir da rein gehen, will ich nicht verletzt sein“, flüsterte er eindringlich.

Schon, aber die Wunde schließen? Das hieße … das wollte ich nicht. Ich war kein Lykanthrop, also wie konnte er das von mir verlangen?

„Bitte“, sagte Luan zu den grünen Kriegern mit den großen Augen. „Vielleicht können wir mit einem ihrer Vorgesetzten sprechen.“

Sollte ich das wirklich tun? Er war ein Lykanthrop. Ein Verbündeter, ja, aber kein Kind der Bastet. Es stand ihm nicht zu von mir geheilt zu werden.

„Ihr wollt zu unserem Vorgesetzten?“ Die drei Krieger in Grün sahen sich ratlos an. „Einfach da rein, ohne Widerstand?“

„Warum sollten wir Widerstand leisten?“ Luan neigte unschuldig den Kopf zur Seite. „Wir wollen doch nur reden.“

„Tu es, Lilith“, zischte Aman.

Mein Gesicht verdüsterte sich. „Du könntest auch einfach mal um etwas bitten und nicht nur mit Anweisungen um dich werfen.“ Ich senkte die Lippen auf den Riss im Arm, den der Schuss hinterlassenen hatte, leckte mit der Zunge darüber. Dabei war ich nicht allzu sanft, weswegen er mir die Zähne zeigte und mich anknurrte.

„Oh Gott, was macht sie da?“, fragte Jürgen erschrocken.

Sein Blut schmeckte anders, als das der Ailuranthropen und trug seinen wilden Eigengeruch mit sich. Ich griff nach seinen Arm, obwohl er nicht mal gezuckt hatte. Ihn so nah zu wissen, seine Wärme zu spüren, war … angenehm. Welcher Geist war nur in mich gefahren?

Luan, der mich und Aman bisher nicht weiter beachtet hatte, warf einen Blick über die Schulter und zog missbilligend die Augenbrauen zusammen. „Sie haben ihn verletzt. Lilith heilt ihn.“

„Sie leckt ihn ab!“, rief Jürgen entsetzt. „Sie trinkt sein Blut.“

„Seien sie nicht albern“, sagte Luan sofort. „Sie ist doch kein Vampir.“

„Aber …“

„Sie steht in der Sonne, oder?“ Er schüttelte den Kopf, als hielte er Jürgen für närrisch.

Ich fragte mich was das alles mit der Sonne zu tun hatte, verschwendete aber nicht viele Reden im Geist daran. Viel zu sehr war meine Aufmerksamkeit von Aman gefangen, der mir genau in die Augen blickte, als meine Zunge über die Wunde glitt. Ich wusste nicht warum, aber ich wollte mich nicht von ihm entfernen. Doch die Blicke der grünen Krieger, die ich spürte, machen mich nervös. Ich drehte den Kopf, wischte das Blut an meinem Kinn mit dem Arm weg. „Macht das nicht nochmal, wir haben euch nichts getan und wollten es auch nicht.“ Und ich wusste nicht, ob ich mich beim nächsten Mal wieder von Luan zurückhalten ließe.

„Ich rufe jetzt den Chef“, sagte der Älteste der Krieger. Über den Lärm, den die Menschen machten, war er kaum zu verstehen. Er griff an den kleinen schwarzen Kasten an seiner Schulter und sprach mit ihm. Dazu fielen mir zwei Fragen ein. Erstens: warum trugen alle Menschen kleine schwarze Kästchen bei sich und zweitens: warum sprachen sie mit ihnen? Das ergab keinen Sinn.

Luan kam zu uns. „Verwandle dich zurück. Ihr Geistreden darf ihnen nicht verraten, dass wir gefährlich werden könnten. Sie müssen uns für harmlos halten. Keine Zähne, keine Krallen.“

„Wir müssen uns schützen“, zischte ich.

Er schüttelte den Kopf. „Aber so geht das nicht. Bitte, ihr müsst mir vertrauen.“

„Du hast gesagt, dass die Krieger uns nicht angreifen würden, solange wir friedlich bleiben.“ Ich sah ihm abschätzend an. „Ich vertraue keinem Sohn des Anubis, auch nicht, wenn er schon seit dreihundert Jahren nicht mehr unter seinem Gott lebt.“

„Dann tut es wenigstens für euren Amicus“, redete er weiter auf uns ein.

„Mein Amicus“, verbesserte ich sofort. „Aman kennt ihn nicht einmal.“

„Aber ihr seid verbündete.“ Er sah Aman an. „Kehre in deine menschliche Seite zurück.“

Acco knurrte. Als ich zu den Kriegern in Grün sah, näherten sie sich uns gerade vorsichtig.

„Der Chef möchte mit euch sprechen, wenn ihr uns also begleiten würdet“, sagte der Älteste von ihnen. Er wirkte ruhig, nicht ängstlich wie die anderen, nur wachsam. Der mit den hellen Haaren wirkte auffallend nervös, strömte den Geruch von Angst aus allen Poren aus, dass es mich in den Krallen juckte. Beute, riefen meine Instinkte. Ich beherrschte mich.

„Natürlich.“ Luan neigte leicht den Kopf. „Das ist es, was wir wollen.“ Er folgte dem älteren Krieger.

Ich sah zu Aman, der seinen Wildhund gerade von sich abfließen ließ und zurück in seine humane Seite fand. „Hinein ist das schwerste“, flüsterte ich, nicht wissend, ob ich mich damit selber beruhigen wollte, oder mir einfach nur das Bedürfnis danach stand, mich mitzuteilen.

„Seth gib, das es wahr ist.“

Da konnte ich ihm nur zustimmen. Oh Bastet, halte deine Hand über uns, auf das sie uns zu schützen vermag. Ohne die Rufe der Menschen in unserem Rücken weiter zu beachten, ließ ich mich von dem hohen Haus verschlucken.

 

°°°°°

Kapitel Fünfzehn

Ungeduldig streifte ich an der Wand des Raums entlang, in den die grünen Krieger uns gebracht hatten. Er war klein und grau, mit Fell auf dem Boden und einer Wand die aus Spiegelglas bestand. Es gab keine Fenster, nur eine Tür und längliche Lichtkristalle, die an der Decke befestigt waren. Nur ein Tisch mit mehreren Stühlen stand hier drin. Luan hatte sich auf einen von ihm niedergelassen. Acco lag wachsam darunter, Aman stand am Rand, die Arme verschränkt, das Gesicht starr. Er war zum Zerreißen angespannt. Mir selber ging es kaum anders. Hier im feindlichen Lager zu sein und einfach zu warten, war nicht gut für meine Nerven.

An der Tür standen zwei Krieger in grün, die bei uns zurückgelassen wurden, um uns zu bewachen. Sie besaßen beide einen Schuss, den sie griffbereit an ihrer Hüfte trugen.

Ich umkreiste den Tisch und kam erneut an dem Spiegel vorbei, als ich das Flüstern hörte. Sofort blieb ich stehen und lauschte. Da, ganz deutlich, Stimmen. Ich streckte die Hand nach dem Spiegel aus, nach der Stelle, wo sie am lautesten waren. „Dahinter sind Menschen.“

Luan hob den Kopf. „Sie beobachten uns. Sie können uns durch das Glas sehen.“

Durch einen Spiegel? Das war seltsam. „Warum?“ Ich wandte ihm den Kopf zu. „Warum kommen sie nicht her und reden mit uns, sondern verstecken sich?“

„Ich schätze, weil sie neugierig auf uns sind und hoffen, auf diese Art etwas über uns zu erfahren.“

„Wenn sie etwas über uns wissen wollen, sollten sie fragen.“ Ich sah genau ins Glas. Augenblicklich verstummten die Stimmen dahinter. „Es ist unhöflich die Regeln des offenen Hauses nicht zu beachten. Sie bitten uns ihn ihr Heim und lassen uns dann warten. Wir sind hier, um mit ihnen zu reden und nicht, um eine Ewigkeit in einem ihrer Räumen zu warten.“ Meine Mina hätte mir für ein solches Verhalten in die Nase gebissen.

Luan lächelte geduldig. „Wir sind hier nicht in Ailuran, hier gelten andere Regeln.“

„Ich bleibe dabei, es ist unhöflich. Ich möchte wissen was sie mit Gillette gemacht haben und …“

Amans Kopf ruckte Richtung Tür.

„Da kommt jemand.“ Leise erhob sich Acco auf die Pfoten.

Die grünen Krieger rissen überrascht die Augen auf, als sie den Wildhund sprechen hörten.

Auch an meine Ohren drang das Geräusch, Schritte die sich näherten, schwere Schritte, viele. Nun war es an der Zeit. Entweder stellte mein Plan sich als große Narrheit heraus, oder ich würde bald mit Gillette hier hinaus können.

Die Tür öffnete sich und ein großer, breitschultriger Mann mit dunklen, angegrauten Haaren trat hinein. Sein Rücken war so grade, als wäre dort ein dicker Ast befestigt und er hatte eine Ausstrahlung, die einem sofort mitteilte, wer hier das Wort hatte. Aber es war nicht wie bei Priesterin Tia, dieser Mann hatte etwas Herrisches an sich, das mich sofort dazu veranlasste, vor ihm in Achtung zu gehen, was durch sein breites Kinn noch gefördert wurde. Auch das Lächeln in seinem Gesicht, mit der vom Wetter gegerbten Haut, wollte mir nicht gefallen. Es wirkte aufgesetzt und listig, wie bei einer Schlange. Seine Augen lauerten, hatten etwas Gieriges an sich. Die Kleidung die er trug, war grün, sah aber ganz anders aus, als die seiner Krieger. Lag das an seinem Stand?

Dieser Mann sah mächtig aus und ich konnte mich nicht dem Gefühl erwehren, eine Schlange vor mir zu haben. Faszinierend in ihrem Antlitz, doch zugleich tödlich in ihrem Biss.

Instinktiv rückte ich näher an Aman Seite, der Einzige in diesem Raum, dem ich bis zu einem gewissen Grad traute, der Einzige aus der Heimat, bis ich Gillette in die Arme schließen konnte.

Hinter diesem Mann kamen noch ein halbes Duzend grüne Krieger herein – die ein wenig anders aussahen, als die Krieger in diesem Raum –, bevor die Tür geschlossen wurde. Das alles nahm ich in der Sekunde wahr, in der er hineintrat und ich wusste sofort, dass ich ihn nicht mochte. Und noch etwas fiel mir sofort auf. Der einzige Geruch der hineingetragen wurde, war der von Menschen. Kein Ailuranthrop, kein Sermo.

Es wurde ziemlich eng und das machte mich leicht nervös. Aman wurde so angespannt, dass seine Muskeln hervortraten. Acco behielt alle wachsam im Auge, nur Luan blieb ganz ruhig, stand auf und stellte sich mit ausgestreckter Hand dem großen Krieger entgegen. „Luan.“

Der große Krieger ergriff die ihm dargebotene Geste. „Hallo. Ich bin General Silvano Winston. Ich bin der Leiter des Teams, das die Kreaturen eingefangen hat.“ Sein Blick glitt interessiert über mich, was mich veranlasste, noch einen Schritt an Aman heranzurücken. Ich war kein verängstigtes Kätzchen, aber dieser Mann hatte etwas an sich, dass mir das Bedürfnis gab, mich ganz schnell zu ducken und möglichst aus seiner Reichweite zu gelangen.

Ein Gefühl, das ich nicht mochte.

Leise aus der Kehle heraus knurrte Aman. Ich war mir nicht ganz sicher, wem das galt.

„Mir wurde mitgeteilt“ – ein weiteres Mal ließ er seine Augen über mich wandern – „dass Sie mich sprechen wollten.“

Ich streckte das Kinn vor, zeigte ihm, dass ich keine Angst vor ihm hatte – nur einen Maß an Respekt. Ich würde einmal eine Kriegerin der Bastet werden und als solche durfte ich keine Angst haben. „Im Namen der Göttin Bastet verlange ich, dass Sie meinen Amicus und sein Geleit entlassen.“

General Silvano Winston zeigte keine Regung, weder im Gesicht noch in der Gestik. Nur in seinen Augen funkelte es. Amüsiert, listig, gierig. „Ich gehe wohl Recht in der Annahme, dass wir hier über den Panther und sein Haustier sprechen, die ich in der vergangenen Nacht in meine Obhut genommen habe.“

„Ja, Kriegergeneral“, stimmte ich zu. „Sie haben kein Anrecht auf diesen Krieger.“ Was damit zu tun hatte, dass er Animas Krieger war. Nicht mal Priester und Magister durften ihm befehlen. „Er gehört unserer Göttin Bastet, nur sie hat ein Recht, ihn nach ihren Wünschen zu lenken, also geben sie ihn auf der Stelle frei!“

„Bastet, hm?“ Er ließ die Augen ein weiteres Mal wandern, besonders über unsere Kleidung. „Wir reden hier über den Mythos der ägyptischen Götter, wenn ich mich recht entsinne, oder?“ Sein Lächeln war tückisch, es gefiel mir nicht.

Ägyptische Götter? „Was…“ Bevor ich meine Frage zu Ende ausführen konnte, hob Luan seine Hand zu einer Geste des Schweigens. „Zur Sachmet, wage es nie wieder, mir den Mund zu verbieten, Brut des Anubis, sonst bekommst du meine Krallen zu spüren!“, fauchte ich. Langsam trieb er es wirklich zu weit. Vielleicht sollte ich ihm einmal deutlich zeigen dass ich kein Kind mehr war, sondern eine Kriegerin in Ausbildung, dann würde er es nicht mehr wagen so mit mir umzugehen. Es würde ihm eine Lehre sein und ihn auf seinen Platz verweisen.

„Anubis?“ General Silvano Winston musterte Luan mit neuem Interesse. „Ein … Vampir“, sagte er  dann sehr langsam, als müsste er sich über diese Tatsache erst mal selber klar werden.

Aber … woher wusste er das? Unsere Götter und ihre Völker sollten im nicht sagen dürfen, so wurde es uns erzählt. Wurden wir belogen? Ich tauschte einen misstrauischen Blick mit Aman. Er hielt im Augenblick wohl dieselben Geistreden.

Nun war es auch mit Luans gespielter Gelassenheit vorbei. Deutlich wuchs seine Anspannung. „Wie kommen Sie auf einen solchen Gedanken?“

Der Krieger General winkte ab. „Ich bin einfach nur gerne informiert.“ Gemächlich, als gehörte ihm die Welt und jeder der darauf wohnte, schlenderte er zum Tisch und nahm auf einem der vier Stühle Platz.

Acco grollte leise, als der Mann an ihm vorbeischlenderte. Sofort griffen die grünen Krieger zu ihrem Schuss und richteten ihn einvernehmlich auf den Sermo.

„Bitte meine Herren, das soll doch ein friedliches Gespräch werden“, beschwichtigte General Silvano Winston. „Bitte stecken sie ihre Waffen wieder weg.“ Seine Worte wurden sanft gesprochen, doch sein kalter Blick ließ keine Widerrede aufkommen. So abgestumpft, so berechnend. Ich mochte diesen Kriegergeneral nicht und mir lief es kalt den Rücken runter, als sein Blick auf mich und Aman glitt, bevor er auf Luan hängen blieb. „Vielleicht wollen sie drei sich setzen? Dann redet es sich doch gleich viel besser.

Nicht mal meine Göttin persönlich hätte mich dazu veranlassen können. „Vergelts, aber wir stehen lieber.“ Zumindest galt das für mich, wie es mit den beiden anderen aussah, wusste ich nicht. Aber auch sie rührten sich nicht.

„Nun gut, wie Sie wünschen.“ Der Kriegergeneral schlug entspannt die Beine übereinander und beförderte mit einem Griff in seine Kleidung eine kleine, bunte Schachtel zutage, aus der er ein längliches Stäbchen zog. „Sie erlauben doch?“ Noch bevor wir die Gelegenheit bekamen zu antworten, schob er sich das Stäbchen zwischen die Lippen und griff ein weiteres Mal in seine Kleidung. Dieses Mal kam etwas Kleines, Silbernes raus, das mich an Metall erinnerte. Er ließ es aufschnappen, dann machte es zipp und ein rötlicher Schein tauchte darüber auf.

Fasziniert sah ich dabei zu, wie er das Licht an das Stäbchen hielt. Ein feiner Rauchfaden entstand, der langsam der Decke entgegen schwebte.

„Feuer“, sagte der Kriegergeneral Silvano Winston, als er bemerkte, dass ich meinen Blick nicht von dem rötlichen Schein losbekam. „Ein viertes Element.“ Er ließ das Licht erlöschen und machte irgendwas mit dem Stäbchen in seinem Mund, so dass der Rauch einen Moment verschwand und dann aus seinem Mund kam. Er aß Rauch? Warum das denn? „Hier auf der Erde haben wir vier davon. Erde, Luft, Wasser, und“, – er ließ das rötliche Licht wieder erscheinen – „Feuer.“

Luan runzelte die Stirn. Seit dem Eintreten von dem Kriegergeneral war seine Anspannung deutlich gestiegen, was auch mich wachsam werden ließ. „Warum reden Sie von der Erde, als gehörten wir nicht dazu?“

Der Kriegergeneral ließ das silberne Metallding wieder zuschnappen und verstaute es in seiner Kleidung. „Lassen wir doch die Spielchen und legen unsere Karten offen. Ich weiß nicht wie sie drei hier hergekommen sind, aber dass Sie aus einer anderen Welt stammen ist mir durchaus bewusst. Das ist schon seit Jahrhunderten nicht mehr vorgekommen und so etwas wie ihn“ – er richtete seinen Blick auf Acco – „ist mir noch nie vor die Augen getreten.“ Einen Moment schwieg er nachdenklich. „Zumindest nicht bis gestern Abend. Wirklich interessante Wesen.“

Acco zeigte ihm die Zähne, ein deutlicher Kommentar zu seinen Worten.

Luan sah irgendwie nicht mehr so gesund aus. So blass und nervös. „Was meinen Sie mit seit Jahrhunderten?“

Sein berechnender Blick legte sich auf den Vampir. „Eine Welle von Außerirdischen, die auf die Erde gekommen sind. Laut meinen Unterlagen ist sie nun bereits dreihundert Jahre her. Naja, zumindest die eine. Sagt ihnen der Roswell-Zwischenfall etwas?“

Luan schluckte sehr deutlich. „Das hat nichts mit uns zu tun, das ist 1974 passiert.“

In den Augen vom Kriegergeneral Silvano Winston blitzte es. „Sie wissen aber ausgesprochen gut darüber Bescheid.“

Göttertod noch eins, wovon sprachen die beiden da nur? Ich warf einen Blick zu Aman, doch der schien genauso verwirrt wie ich, nur dass er es nicht so deutlich zeigte. Die Wächter dagegen strömten ihre Ruhelosigkeit in Wellen nur so ab, aber ich glaubte weniger, dass es mit diesem Roswell-Zwischenfall etwas zu tun hatte, als vielmehr mit unserer Anwesenheit.

„Das ist weltweit bekannt“, verteidigte Luan sich, „und wurde bereits vor Jahren als Lüge und Irreführung der Regierung enttarnt. Es war nichts weiter als ein gescheitertes Projekt der Regime, ein Ballon der abgestürzt ist.“

„Ja, so sagt man“, bestätigte Silvano Winston kryptisch und nahm erneut das Stäbchen in den Mund, um den Qualm zu essen.

Moment, dreihundert Jahre? Vor dreihundert Jahren war Luan doch auf die Erde gekommen. Laut seinen Worten waren Aman und ich die Ersten, die seit diesem Vorfall aus Silthrim gekommen waren, aber was wenn er sich irrte, oder mich und den Lykanthropen mit Absicht in die Irre führte? Er schien wirklich sehr genau über diesen Vorfall Bescheid zu wissen. Gab es in dieser Welt noch mehr von uns? 1974, wie lange war das wohl her?

Kriegergeneral Silvano Winston legte den Kopf leicht schief. „Aber das müssten Sie ja wissen, oder? Sie scheinen nicht wie die beiden anderen zu sein und auch nicht wie die Kreatur, die ich gestern eingesammelt habe. Sie sind bereits länger hier, vielleicht sogar schon seit dreihundert Jahren, Vampir?“

Luans Kiefer spannte sich deutlich an. „Ich weiß nicht wie Sie darauf kommen.“

„Ihr Verhalten und ihre Art zu sprechen verrät Sie. Sie sind nicht der erste Vampir an dem ich dieses Verhalten feststellen konnte.“ Er lächelte hintergründig. „Nun stellt sich mir natürlich die Frage, sind sie allein?“ Er richtete seinen Blick auf mich – ein intelligenter, kaltberechnender Blick. Oh Göttin, lass mich nie allein mit diesem Kriegergeneral. „Natürlich abgesehen von diesen beiden. Ich denke, diese beiden sind am vergangenen Abend, genau wie die andere Kreatur – wie wird es in den Nachrichten so schön in der Welt verbreitet? – einfach vom Himmel gefallen.“

War das Furcht in Luans Augen, oder entsprang diese Geistrede dem Land der Götter? Ich konnte es nicht riechen, der Qualm vernebelte mir den Geruchssinn.

„An dieser Stelle stellt sich mir natürlich die Frage, wie haben Sie drei zusammengefunden?“ Er sah von einem zum anderen, als könnte er die Antwort in unseren Gesichtern lesen. „Waren sie verabredet, oder kommunizieren sie anderweitig?“

In der aufkommenden Stille schlich Acco hinter Aman, der noch kein Wort gesprochen hatte, seit wir diesen Raum betreten hatten. Meine Geistreden teilten mir mit, dass er keine Furcht hatte, er wollte nur in der Nähe seines Leiters sein um ihm im Notfall beistehen zu können.

„Ich denke es ist Zeit zu gehen“, sagte Luan dann plötzlich.

„Was? Nein!“, widersprach ich sofort. „Wir können noch nicht gehen, sie haben uns Gillette und Kaio noch nicht gegeben!“

„Das werden sie auch nicht“, sagte Luan ganz ruhig. Nur seine Augen verrieten, dass er nervös war. „Hab ich nicht recht?“, fragte er den Kriegergeneral persönlich.

Der lächelte nur listig. „Selbst wenn ich es wollte – was nicht so ist – ich könnte es nicht tun. Die Kreaturen sind nicht mehr hier.“

Nicht mehr hier? Aber Pascal und Luan hatten mir doch versichert, dass ich meine Amicus hier finden würde. „Aber wenn sie nicht hier sind, wo sind sie dann? Warum wurden sie überhaupt weggebracht?“ Das konnte er doch nicht einfach tun, wer gab ihm das Recht dazu?

„Zum einen ist das hier ein normales Polizeirevier und nicht der richtige Ort um solche Wesen zu beherbergen, aber noch viel wichtiger, ihr Amicus – wie sie ihn nennen – ist chronisch krank und musste in ärztliche Behandlung.“

„Krank? Was habt ihr mit ihm gemacht, ihr gottlosen Monster?!“, fauchte ich ihn an, doch bevor er darauf reagieren konnte, sandte Bastet mir die Erleuchtung. „Sein Fluch, er hat seinen Trank nicht bekommen.“

„Fluch?“ Der Kriegergeneral zog eine Augenbraue hoch, während er das qualmende Stäbchen mit dem roten Schimmer voran auf den Tisch drückte. Ein beißender Geruch machte sich in dem kleinen Raum breit, noch schlimmer als vorher. Es kratzte unangenehm in der Nase.

Aman rückte ein Schritt näher. Ich konnte seine Wärme im Rücken spüren.

„Das ist kein Fluch, das ist eine Krankheit“, erklärte Kriegergeneral Silvano Winston ruhig. „Eine sehr verbreitete sogar. Primäre renale Glucosurie, oder auch Diabetes renalis genannt. Die Blutzuckerkrankheit. Wir behandeln sie mit Insulin und nicht mit irgendeinem Zaubertrank, aber nicht hier, dafür mussten wir ihn in eine spezielle Einrichtung bringen.“

„Einrichtung?“

„Anlage, Gebäude“, erklärte Luan. Dabei ließ er den Kriegergeneral nicht aus den Augen.

Ein spezielles Gebäude? „Und wo ist das?“

Silvano Winstons Augen blitzten auf. Dieser Blick gefiel mir gar nicht. „Ich kann es Ihnen gerne zeigen.“ Er griff erneut in seine grüne Kleidung und war er diesem Mal zu Tage förderte erkannte ich sofort: Einen Schuss. Ich fauchte. „Genaugenommen werde ich das sogar“, fügte er noch hinzu.

„Wir sind friedlich geblieben, haben die Regeln der Höflichkeit eingehalten, also tun Sie das auch!“, verlangte ich.

Die Wächter an den Wänden spannten sich deutlich an. Mehr als eine Hand lag plötzlich auf einem Schuss. Warum taten sie das nur?

„Oh, ich habe nicht vor, das hier zu benutzen.“ Er legte den Schuss auf den Tisch und rückte ihn ein wenig zurecht, bis die Spitze auf Aman ausgerichtet war. Warum? Hielt er ihn für gefährlicher als uns? Damit könnte er vielleicht sogar Recht haben. „Es ist nur als kleine … nennen wir es Beihilfe gedacht. Ich möchte doch nicht, dass sich einer von ihnen falsch entscheidet und etwas tut, dass er später vielleicht bereut.“

„So können sie uns nicht behandeln. Ich bin ein Staatsangehöriger, ein Bewohner dieser …“

„Sie sind extraterrestrisch“, unterbrach der Generalkrieger ihn sofort. „Oder besser gesagt, eine außerirdische Lebensform.“

Für einen Moment verstummte Luan, dann schnaubte er höhnisch. „Machen sie sich nicht lächerlich, ich bin kein Außerirdischer.“

„Ein Mitglied dieser Nation sind sie aber auch nicht und Sie sollten meinen Einwand nicht so schnell vom Tisch fegen.“ Wieder schob er den Schuss herum, jetzt zeigte er auf Luan. „Das Wort Außerirdischer beutet nichts anderes, als eine Lebensform, deren Ursprung und natürlicher Lebensraum nicht auf der Erde ist. Ein außerirdisches Wesen, wird auch kurz Außerirdischer, oder nach englischer Bezeichnung, Alien – was so viel wie Fremdling heißt – genannt. Wollen Sie etwa bestreiten, dass diese Punkte nicht auf sie zutreffen, Sohn des Anubis von Silthrim?“

Die Luft im Raum schien schlagartig still zu stehen. Ich glaubte das Luan selbst das Atmen für einen kurzen Moment vergaß. Er kniff argwöhnisch die Augen zusammen. „Woher zum Teufel wissen Sie so viel?“

Wieder lächelte der Kriegergeneral auf diese listige Weise. „Sie sind nicht die Ersten, mit denen ich zu tun habe.“

„Wollen Sie damit sagen …“

Eine Erschütterung ließ das ganze Gebäude erbeben. Ich verlor das Geleichgewicht, fiel zurück und genau in Amans Arme, der sich selber an der Wand abstützen musste, um nicht umzufallen. Den anderen erging es nicht besser. Jeder suchte da Halt, wo er sich gerade befand und dann gab es die zweite Erschütterung, noch heftiger als die erste. Alles wackelte, Staub rieselte von der Decke.

„Was zum Teufel war das?!“, verlangte Kriegergeneral Silvano Winstons zu erfahren.

Aman dagegen drängte mich Richtung Tür, wo sich die grünen Krieger unruhig ansahen. „Acco!“, rief er. Und dann geschahen viele Dinge zugleich. Aus dem Sermo wurde in nur wenigen Sekunden ein Amentrum. Er wuchs und wuchs, bis er die Größe eines Pferdes hatte und schnappte nach den Kriegern in Grün.

Luan währenddessen stürzte sich auf den Schuss vom Kriegergeneral und schlug ihn außer Reichweite, musste dafür aber einen Schlag ins Gesicht hinnehmen.

Irgendwer gab einen Schuss ab und dann noch einen.

Acco räumte mit seinem massigen Kopf die Tür frei.

„Benutzt den Betäubungspfeil!“, brüllte der Kriegergeneral.

Es gab eine weitere kräftige Erschütterung. Risse entstanden in der Decke, noch mehr Staub. Ich konnte nicht mehr richtig sehen und übersah so fast den grünen Krieger, der auf mich zugeeilt kam. Aman stieß mich einfach zur Seite, sodass ich mit dem Rücken gegen die Wand knallte.

Noch ein Schuss. Etwas drang in meinen Oberschenkel, etwas Spitzes, durchstach einfach die Haut. Es tat nicht weh, nicht so wie beim letzten Mal. Ganz im Gegenteil, es wurde alles irgendwie taub. Erst nur die Einstichstelle, einen Moment später spürte ich mein Bein nicht mehr und drohte einfach umzukippen.

„Nicht auf die Wandler, auf den Hund!“, brüllte der Kriegergeneral.

Die Taubheit breitete sich aus, meine Sicht verschwamm, ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten.

„Steig auf Acco!“, ordnete Aman an und schlug einen grünen Krieger nieder.

Acco? Wo war er denn, ich blinzelte, ich konnte nichts mehr klar erkennen.

„Lilith, auf Acco!“

„Aber …“

„Bei den Göttern, kannst du nicht einmal tun, was man von dir verlangt?!“

„Wir müssen sofort weg!“

War das Luans Stimme? Warum nur klang sie so verzerrt?

Jemand packte mich bei den Armen. „Lilith, was stehst du hier rum? Geh!“

„Ich kann nicht“, brachte ich noch über die Lippen. Dann erlosch mein Geist einfach und ich fiel ins unendliche Nichts.

 

°°°°°

Kapitel Sechzehn

Alles war dunkel. Mein Körper war heiß, Steine der Sonne schienen darin zu Glühen und ihre unermessliche Hitze durch meinen Körper zu schicken, auf dass sie meinem Körper Schmerz zufügte. Es tat weh, alles tat weh.

Oh Göttin, nimm diese Pein von mir! Bitte, ich erflehe deine Hilfe, ich will nicht sterben.

Die Finsternis wurde drückend, begann mich zu verschlingen, versuchte mich zu ersticken. Wo war ich, warum war ich hier? Ich schrie aus voller Kehle und blieb trotzdem stumm. Mein Geist schrie, mein Körper schrie …

Und dann wurde alles dunkel.

 

°°°

 

Ein weißes Licht, nur ein kleiner Punkt in weiter Ferne. Er lud mich ein näher zu kommen, lud mich ein ihm entgegen zustreben, so einladend, so warm, so hell.

„Göttin, bist du zu mir gekommen?“ Meine Stimme schien von überall und nirgendwo zu kommen.

Das Licht funkelte auf, als wollte es mir so antworten. Es wuchs zu allen Seiten, wurde größer und formte sich zu einem stolzen Ailuranthropen, der auf dem Rücken eines Amentrums thronte.

Ich konnte keine Züge ausmachen. Da war nur dieses Licht, diese formgebildete Helligkeit in der stockdunklen Finsternis.

„Nasan“, sagte eine ruhige Stimme mit Echo, die aus dem Licht zu kommen schien.

Oh Göttin, das war doch nicht möglich. „Fafa?“

„Nasan, hör mir zu. Der Weg der Kriegerin ist niemals einfach und wir stehen nicht selten vor Aufgaben, die wir nicht zu bewältigen glauben, doch Bastet, unsere Göttin hält schützend ihre Hand über uns. Mit ihrer Macht kann uns nichts passieren. Vertraue auf unsere Göttin, vertraue auf deine innere Stärke und auch auf deinen Geist. Als meine Natis hast du die Kraft, die vor dir liegende Aufgabe zu bezwingen. Du bist von meinem Fleisch und du wirst es schaffen.“

Die vor mir liegende Aufgabe? „Was meinst du, Fafa, sag es mir, bitte.“

„Vertraue auf unsere Göttin.“ Langsam wurde das Licht schwächer, wandelte sich in Dunst, der mit der Dunkelheit zu verschmelzen schien. „Und vergiss niemals, Bastets Macht ist unser Leben.“

Immer mehr schwand das Licht, löste sich auf und wollte mich allein in der Finsternis lassen. „Fafa, nein, bitte, bleib bei mir, geh nicht.“

„Nasan, du hast das, was eine Kriegerin brauch, das Herz und den Willen. Wenn es das ist, was du tun willst, lass dich von niemand aufhalten. Ich werde immer stolz auf dich sein.“

„Fafa, nein!“

„Du musst nur glauben. Alles was zählt, ist der Glaube.“

Die Dunkelheit schlang ein weiteres Mal ihre Klauen um mich.

 

°°°

 

Es war nicht meine Göttin, die mich zurück ins Sein riss, es war der Schmerz, der in meinem Körper tobte. Ich hörte meinen eigenen Schrei und nahm ihn doch nicht wahr.

„Verdammt, haltet sie richtig fest, sonst komme ich nicht an ihr Bein!“

Oh Göttin, warum tut es nur so weh? Meine Arme, meine Beine, mein ganzer Leib. Ich zitterte.

„Mist, sie krampft. Haltet sie fester! Pascal, schieb ihr etwas zwischen die Zähne, damit sie sich nicht die Zunge abbeißt!“

„Aber da ist Schaum. Mein Gott, ihre Augen, sie sind völlig verdreht!“

Woher kamen diese Stimmen? Warum konnte ich nichts sehen?

„Scheiße!“

Ein Druck an meinem Gesicht. Göttin, was war hier los?

„Ich verbiete dir in die Macht deiner Göttin zurückzukehren, du bleibst bei mir“, knurrte eine Stimme dicht an meinem Ohr.

Warum konnte ich mich nicht bewegen? Wer hielt mich da fest?

Etwas knallte, eine Tür?

„Luan, dein Bild ist im Fernsehen!“

„Was?“

„Dein Gesicht. Es läuft auf allen Sendern. Dir Polizei sucht nach dir!“

„Pascal, halte ihr Bein fest.“

„Aber …“

„Nun mach schon, du verwöhnte Pissnelke, sonst reiß ich dir die Ohren ab!“

Ein glühendes Eisen bohrte sich in mein Bein.

„Scheiße, kannst du ihr nicht irgendwas gegen die Schmerzen geben? Sie narkotisieren, oder so?“

„Wenn ich das könnte, hätte ich das schon längst gemacht, aber das würde ihren Zustand nur verschlechtern. Wegen diesem blöden Betäubungspfeil ist sie ja gerade in dieser Lage.“

„Aber …“

„Mann, ich bin nur ein verdammter Tierarzt. Und jetzt halt die Klappe, ich muss mich konzentrieren!“

Ich schrie. Ich schrie immer weiter, bis die Finsternis zurückkehrte und mich verschluckte.

„Gib nicht auf, kleine Kriegerin, komm zurück.“

Aman …

 

°°°

 

Warme Sonnenstrahlen auf meiner Haut lockten mich zurück ins Bewusstsein. Gras kitzelte mich an der Nase und irgendwo hörte ich den Ruf von ein paar Vögeln, die in den Kronen der Bäume fröhlich zwitscherten. Ein leichter Windhauch fuhr über meinen Körper, brachte den vertrauten Geruch vom Ailurafluss mit sich.

„Du solltest keine Kriegerin werden. Du bist nicht gut genug dafür.“

Was? Ich schlug die Augen auf und fand mich auf dem Tempelgelände der Göttin Bastet wieder, auf dem Hügel, auf dem ich so oft mit meinen Amicus gesessen hatte. Wir war ich hier her gelangt?

„Du bist nur Ballast und zu nichts zu gebrauchen!“

Ruckartig setzte ich mich auf. Woher kam diese Stimme? Der Wind schien sie zu mir zu tragen.

„Du bist wirklich nichts weiter als ein kleines Mädchen.“

Warum kam mir diese Stimme, diese Worte nur so bekannt vor? Mit zusammengekniffenen Augen ließ ich meinen Blick über den Hügel wandern. Wer wagte es da so mit mir zu sprechen? Das war unerhört!

Da am Baum, da lehnte doch jemand, oder entsprang dieses Gebilde dem Land der Götter? Nein, da war jemand, ein junger Mann mit geflecktem Haar.

Aman …

Wie hatte ich ihn nur vergessen können? Was machte er hier überhaupt? Was machte ich hier?

„Du bist eine leichte Beute.“

Ja, natürlich, das war Aman und er hatte all das bereits schon einmal zu mir gesagt. „Warum sagst du das?“

Er drehte seinen Kopf leicht, aber nicht so, dass er mich ansehen konnte. Sein Blick ging an den Fuß des Hügels, auf die kleine Weide hinter dem Tempel. „Ich habe nichts gesagt.“

„Doch, natürlich, ich habe dich doch gehört.“

„Dein Geist scheint verwirrt, kleine Kriegerin.“

Kleine Kriegerin? Wenn hier einer verwirrt war, dann er und … was machte er hier eigentlich? Das hier war das Tempelgelände der Göttin Bastet, außer in einer Zwangslage dürfte er es gar nicht betreten, das stand nur Ailuranthropen zu. Und im Moment bestand gerade keine Not. Aber … ich ließ meine Augen über das Gelände schweifen, über die Rundhütten, die mich immer an ein Nest voller Eier erinnerten, zu den Ställen, dem Tempel, das Theatrum und was ich noch alles von diesem Punkt aus sehen konnte. Verlassen, leer, niemand war hier, niemand außer mir und Aman.

Das konnte kein Zufall sein. Was war hier nur geschehen? Wo waren alle hin? Ich hatte das Tempelgelände noch nie so leer gesehen. Das alles wirkte so unwirklich, unecht. Langsam erhob ich mich auf die Beine und ging zu dem Lykanthropenkrieger hinüber. Vielleicht konnte er mir erklären, was hier los war.

Er sah nicht auf, änderte nicht mal seinen Blickwinkel, als ich mich direkt vor ihm aufbaute.

„Was machst du hier?“

„Ich sehe, was geschehen ist.“

Was?

„Ich sehe, was sein könnte. Und ich sehe deine Angst.“

Ich runzelte die Stirn, verstand nicht, was er mir damit sagen wollte. „Sprich in vernünftigen Worten und nicht dieses wirre Zeug“, forderte ich auf.

Dann hob er den Kopf und … seine Augen, sie schienen zu leuchten. Wie war das möglich? „Sieh selbst, sieh was geschehen ist, sieh was sein könnte, sieh deine Angst.“

Als ich immer noch nicht verstand, hob er den Arm und deutete auf einem Punkt hinter mir. „Sieh.“

Das tat ich auch und bei meiner Göttin, ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Dort unten am Fuß des Hügels lagen sie, sie alle. Priesterin Tia und Magister Damonda. Gillette, Jaron, Nim. Sian …

Sie alle lagen dort, sie alle und noch viele mehr und sie alle hatten eines gemeinsam, ihre leeren, toten Augen. Wie weggeworfener Abfall. Die Krähen kreisten über ihnen. Da war kein Zwitschern mehr, nur noch dieses Grauen.

„Nein“, hauchte ich. Meine Beine gaben einfach nach. Ich sank auf die Knie, konnte meinen Blick aber einfach nicht von diesem entsetzlichen Szenario abwenden. Rot, alles war rot. So viel Blut. Oh Göttin, wie hast du das zulassen können? Wie hatte das geschehen können? Warum war ich nicht hier gewesen? Oh Bastet, warum?

Tränen sammelten sich in meinen Augen, liefen über meine Wangen und tropften auf meine Hände. Tot, sie alle waren tot. Meine Amicus …

Am Rande lag ein kleiner Beutel, rotgetränkt vom Blut eines verstümmelten Wesens. Mochica. Oh Göttin, das war die kleine, quirlige Mochica.

„Dies ist das Unheil“, sagte Aman sehr leise.  

Ein Schluchzen entrang sich meiner Kehle.

„Dies ist die Bekümmernis deines Geistes.“ Eine Hand schloss sich um mein Kinn und drehte mein Gesicht weg von diesem Massaker. „Das Unheil“, sagte er noch einmal und berührte mit dem Daumen meine Lippe.

Vor dieser Berührung zuckte ich so heftig zurück, dass ich rückwärts fiel. Doch ich stürzte nicht auf den Rücken, ich stürzte zurück in die Finsternis.

 

°°°

 

Es rumpelte unter mir und mir war schlecht. Dieser Schmerz, wo kam nur all dieser Schmerz her?

Eine Hand lag auf meinem Kopf, ich konnte es fühlen. Ein gleichmäßiges Brummen lag in der Luft, hüllte mich von allen Seiten ein. Da waren Stimmen, doch es waren nur einzelne Worte, die durch meinen benebelten Geist drangen.

„… sie … an allem … sitzen wir  … diesem Wagen … der Flucht. Sie … Schuld. Nur …“

„… mehr ändern, Liebes … Beste …“

Es war, als würden sie immer lauter und wieder leiser sprechen.

Mein Magen rumorte, aber ich war zu schwach, um die Augen zu öffnen.

„… wir nicht … gewesen wäre!“

Donner lag in der Luft, nein, Knurren. „… nicht so!“

Meine Kehle krampfte sich zusammen. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber es kam nur heiße Luft heraus. Oh Göttin, warum war es hier nur so heiß?

„… reicht! Wir …“

„Schlecht“, brachte ich irgendwie heraus.

Augenblicklich verstummten alle Stimmen, nur das gleichmäßige Brummen blieb.

Die Übelkeit wurde stärker und mein Magen krampfte sich zusammen.

„Scheiße, ich glaub … Kotzen!“

„… rechts ran.“

„… John, du musst …“

„… ich selber … ich … Ratschläge nicht und …“

Ich wurde bewegt, Arme zerrten an mir. Warum bekam ich meine Augen nicht auf? Alles drehte sich. Mein Magen krampfte erneut. Jemand brachte mich in eine aufrechte Position. Die Übelkeit übermannte mich. Ich würgte. Krämpfe zogen meine Kehle zusammen. Ich würgte und würgte noch mehr. Oh Göttin.

„… ruhig, ganz ruhig … mich hören? … Lilith, kannst … hören? Ich … John … Lilith? …“

Wieder riss die Realität, verzerrte sich und schleuderte mich zurück in eine Welt, für die ich keinen Namen besaß.

 

°°°

 

Ich blinzelte ins Licht. Alles war weiß, die Böden, die Wände, die Decke. Strahlend weiß. Ich kannte diesen Ort. Da war das Klo und das Waschbecken mit dem Wasser aus der Wand. Auf dem Boden lag Verbandszeug neben einer offenen, schwarzen Tasche. Ich kannte diese Tasche, sie gehörte John. Er hatte sie geholt, um mich zu heilen.

„Ambrosia?“

Ich drehte mich zu der Stimme um. Da stand John. Er trug einen Lendenschurz, mit einem Brot in der Hand, das mit Nutella bestrichen war. Die Wanne hinter ihm war plötzlich größer als jedes Badebecken, dass ich bisher gesehen hatte. Aus unzähligen metallenen Gestängen floss Ambrosia ins Becken, so viel, dass ganz Silthrim davon satt geworden wäre.

„Hey, ähm … Lilith, richtig oder? Lilith, warte.“

Warten? Warum sollte ich warten? Ich hatte nicht vor, wegzugehen „Warte doch mal. Das, was der Schwachkopf da gesagt hat … das … nimm dir das nicht so zu Herzen, okay?“

„Okay“, sagte ich einfach, weil ich glaubte, dass er das erwartete.

Er lächelte, aber irgendwas stimmte nicht. Es war das gleiche Lächeln, das ich so an ihm mochte, doch etwas fehlte, nur was? „Wenn du müde bist, legt dich hier hin. Dann kannst du auch schlafen und brauchst keine Angst haben, dass ich wieder einen Alptraum bekomme.“

Ich runzelte die Stirn. „Ich soll hier schlafen?“ Was redete er da für einen Unfug?

Sein Lächeln wurde tiefer. „Hier, probier das, das wird dir sicherlich schmecken.“ Er hielt mir das Brot hin, kam dabei etwas näher, so dicht, dass wir uns fast berührten. „Hier, probier das, das wird dir sicherlich schmecken.“

„Das hast du schon gesagt.“ Diese Situation kam mir immer seltsamer vor, so völlig verzerrt von der Wirklichkeit. „Warum bist du so komisch?“

„Ich bin so, wie du es willst.“

Mit diesen Worten konnte ich nun gar nichts anfangen. „Wie ich will?“

Seine Hand legte sich an meine Wange und mein Herz setzte einen Moment aus, bevor es rasend weiter schlug. Wo war das Brot plötzlich hin? „So, wie du willst.“

„Ich will, dass du normal bist, ich will dass du wieder John bist.“

„Ich bin John.“ Er rückte noch etwas näher. Sein bloßer Oberkörper berührte meinen und dann wusste ich plötzlich, was mir so seltsam vorgekommen war. Sein Geruch, er roch nicht nach Natur, so wie sonst und … in dem Moment, als ich darüber im Geist redete, roch ich es doch, Natur pur. Frische Gräser, fallendes Laub, Wald und Wiese. Wie war das möglich?

Sein Kopf senkte sich, kam näher.

Mein Herz geriet ins Stottern. „Was machst du da?“

Er lächelte nur. „Lass dich einfach gehen.“

„Einfach? Das ist nicht so einfach.“ Warum ging mein Herz plötzlich schneller und mein Atem so unkontrolliert?

„Der Versuchung zu widerstehen ist niemals einfach“, flüsterte er. Seine Lippen trafen auf meine und mein Herzschlag setzte einfach aus.

 

°°°

 

 „Schnell, sie atmet nicht mehr, John!“

Schweben, ich schwebte. Alles fühlte sich so leicht an.

„Was?“

„Die Atmung, sie atmet nicht mehr!“

„Verdammt!“

War dies das Ende? So leicht?

„Der Herzschlag ist weg, aber ich fühle noch einen Puls, sie ist noch nicht tot!“

Keine Schmerzen, so einfach, ganz leicht.

„Wage es nicht in die Mächte zu gehen, kleine Kriegerin, wage es nicht, wenn du nicht willst, dass ich sauer werde!“

„Oh Gott, sie ist ganz blass.“

Ein Ruck, etwas zerrte an meinem Geist. War das die Göttin?

„Sie lebt, sie lebt, sie atmet wieder!“

Leben? Wozu war das gut?

Die Dunkelheit zerrte an mir, riss mich mit sich, bis ich wieder schwebte.

 

°°°

 

„Lilith? Lilith, wo bist du?“

Ich öffnete die Augen und fand mich in einem dunklen Verschlag im Stall wieder. Tränen rannen mir über die Wangen. Warum weinte ich? Warum war ich hier?

„Lilith, so antworte doch!“

War das Anima?

„Lilith!“

Zu klein, zu schwach, zu zart, immer die Letzte.

Schritte kamen näher, eine Tür wurde aufgerissen und Licht drang zu mir ins Innere. Ich musste blinzeln.

„Der Göttin sei es vergolten, da bist du ja endlich. “In der offenen Tür stand Anima. Sie war jung, noch ein Kind. So hatte sie ausgesehen, als wir uns vor sieben Jahren begegnet waren, wie war das möglich?

Ich wandte den Blick ab. Warum nur schämte ich mich, wollte nicht, dass sie mich so sah?

„Lilith?“

Erbärmlich, zu nichts zu gebrauchen. Ich würde niemals eine Kriegerin sein.

„Oh Lilith, nimm es dir doch nicht so zu Herzen, was Magister Damonda gesagt hat.“ Sie quetschte sich neben mich in den kleinen Verschlag zwischen Eimern, Seilen und anderem Rat und nahm mich in die Arme. „Diese alte Xantippe weiß doch nicht, was sie sagt, sie ist nichts weiter als ein unzufriedenes Weib, das ihren Frust gerne an den Lehrlingen auslässt.“

„Aber sie hat doch recht“, schluchzte ich. „Wer bin ich denn schon, dass es mir zusteht, eine Kriegerin der Bastet zu werden? Ich bin ein Nichts, zu nichts zu gebrauchen, immer im Weg, nur Ballast.“

Diese Worte kamen ohne mein Zutun über meine Lippen. Was war hier nur los?

„Ach Lilith.“ Sie drückte mich ein wenig fester an sich. „Du bist so viel mehr.“

„Ach ja? Bin ich das wirklich?“

„Natürlich. Du bist Lilith, die Lilith, die von dem Wunsch beseelt ist, eines Tages eine der größten Kriegerinnen zu werden, die es je gab.“

„Du sagst es, es ist nur ein Wunsch und er wird sich niemals bewahrheiten“, gab ich bitter von mir und schob Anima weg, um mir die Tränen von den Wangen zu wischen. Vielleicht würde ich keine Kriegerin werden, aber ich würde niemanden glauben lassen, dass ich schwach sei.

Anima neigte den Kopf leicht zur Seite. „Warum sagst du sowas?“

„Weil es wahr ist.“

Kopfschüttelnd spitzte sie die Lippen. „Wenn du glaubst dass es wahr ist, warum bist du dann in den Tempel gekommen?“

Das ließ mich innehalten und an das letzte Treffen mit meinem Fafa denken. Es schien schon so lange her zu sein, dass ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, dass er zu uns auf den Hof gekommen war. Es schienen Millennien vergangen zu sein, seit er damals zu mir sprach, Worte, die mein Herz tief berührt hatten und die ich niemals vergessen würde. „Mein Fafa hat gesagt, dass ich es schaffen könnte.“

„Und vertraust du nicht auf das Wort deines Fafas?“

„Natürlich tue ich das, sonst wäre ich gar nicht hier!“, gab ich sofort empört von mir. Mein Fafa bedeutete mir alles und ich würde alles tun, damit er stolz auf mich sein konnte.

„Warum sitzt du dann hier im Dunkeln? Was weiß Magister Damonda schon von dir? Du solltest nicht auf das hören, was sie sagt, sondern auf das, was dein Fafa dir gesagt hat. Vertraue ihm.“ Sie zog mich wieder etwas an sich und bettete ihren Kopf auf meinen. „Nur das Vertrauen lässt uns jeden Tag weitergehen und fortbestehen.“

Ich schloss die Augen und verbannte mich damit selbst in die Finsternis. Doch das kleine Licht der Hoffnung in meinem Herzen funkelte weiter.

„Du musst einfach nur Vertrauen haben, Lilith.“

 

°°°

 

„Ist sie immer noch nicht zu sich gekommen?“

„Glaubst du nicht, dass ich es euch gesagt hätte, wenn es so wäre?“

War das John, der da so gereizt klang?

„Ist ja gut, ich hab ja nur gefragt, spring mir nicht gleich an die Kehle.“

Schritte. Ich spürte Blicke auf mir, aber meinen Körper, den spürte ich nicht. Warum nicht? Was war hier los? Oh Göttin, was geschah hier mit mir?

„Ihr seht echt scheiße aus, wisst ihr das eigentlich? Wann habt ihr denn das letzte Mal geschlafen?“

„Wenn du nichts Gescheites zu sagen hast, dann verschwinde.“

Mein Herz, mein Herzschlag, wo war er? Ich konnte ihn nicht spüren.

„Eigentlich bin ich ja nur gekommen, weil Gran gesagt hat, du sollst rausgehen und essen. Und du auch.“

„Ich weiche nicht von ihrer Seite“, knurrte Aman.

„Bring uns das Essen her“, fügte John noch hinzu.

Meine Arme, meine Beine, ich spürte sie nicht. Meinen Kopf, meinen Körper, alles war weg. Warum war es weg?

„Sehe ich vielleicht aus wie ein Kellner? Holt euch euer Essen doch selber.“

„Pascal …“

„Ach ja und wenn ihr es nicht tut, soll ich euch von Gran ausrichten, kommt sie hier rein und zieht euch an den Ohren raus.“

Aman knurrte.

Oh Göttin, hilf! Ich war gefangen, gefangen in meinem Körper, gefangen im dunkeln Nichts. Ich schrie, doch niemand hörte mich. Ich schrie bis ich wieder von der Dunkelheit heimgesucht wurde.

 

°°°

 

„Lilith.“

Lilith?

„Lilith, wach auf.“

Diese Stimme, was war das für eine zauberhafte Stimme? Diese Wärme und Güte darin. Sie umschlang mich. So schön.

„Lilith, mach die Augen auf, es wird Zeit.“

Zeit? Wofür? Nur sehr langsam hoben meine Lider sich. Erst nur ein kleiner Spalt, dann etwas mehr, was mich blinzeln ließ. So viel Licht. Wo kam nur das ganze Licht her?

„Lilith?“

Vor mir in dem Licht schwebte eine Gestalt. Ich musste noch ein paar Mal blinzeln, um sie klar erkenne zu können. Das war … „Bastet?“

„So ist es, mein Kind.“

In strahlender Schönheit schwebte sie vor mir. Den edlen Kopf einer Katze majestätisch erhoben, das Fell glänzend, so schwarz wie die Nacht. Ihr Leib war verhüllt von einem leuchtenden Gewandt, das mit dem Licht zu verschmelzen schien.

Ich versuchte hastig aufzustehen, um mich vor ihr auf die Knie zu werfen, doch ich stand schon und konnte mich nicht bücken.

„Nein, das brauchst du nicht tun.“

Aber wenigstens meinen Kopf, den konnte ich senken, um ihr die Ehre zu erweisen, die sie als Mina unseres Volkes verdiente.

„Lilith, sieh mich an.“

Langsam kam ich ihrer Aufforderung nach. Ihr Antlitz blendete mich. So schön, so hell.

„Hast du es verstanden?“

„Verstanden?“

„Was die Wesen in deinem Leben dir mitteilen wollten.“

„Ich … ich verstehe nicht.“

„Dein Fafa, Aman, John und auch Anima. Sie alle haben dir etwas mit auf den Weg gegeben. Hast du dir das gemerkt?“

Sie hatten mir etwas mit auf den Weg gegeben? Ich verstand nicht. Was hatte das zu bedeuten? Aman, John und Anima? Meinen Fafa hatte ich schon seit Monaten nicht mehr gesehen und das Letzte, was ich von Anima gehört hatte, war ihr Schrei, kurz bevor ich in das Portal gesogen wurde.

„Du erinnerst dich also nicht.“

„Nein, ich … ich weiß nicht wovon Ihr sprecht.“ Demütig senkte ich wieder meinen Kopf. Es tat einfach zu sehr weh, sie die ganze Zeit anzusehen.

„Glaube, Unheil, Versuchung und Vertrauen.“

„Glaube, Unheil, Versuchung und Vertrauen?“

Sie nickte. „Ja, diese vier Worte werden dich immer begleiten. Vergiss das nicht.“

„Nein, mache ich nicht.“

Ihr Schnäuzchen zuckte zu einem Lächeln. „Jedenfalls nicht mit Absicht.“

Nein, ich würde es niemals vergessen. Noch nie hatte die Göttin persönlich zu mir gesprochen und …

„Ich bin nicht die Göttin.“

Mein Kopf ruckte hoch. „Was?“, fragte ich ungläubig. „Aber Ihr …“

„Du bist im Land der Götter, Lilith, ich bin nicht wirklich hier. Trotzdem darfst du das niemals vergessen.“

Im Land der Götter? Aber nein, das konnte nicht sein. Das musste meine Göttin sein!

„Vielleicht.“ Sie neigte den Kopf auf eine sehr anmutige Art zur Seite. „Und vergiss auch nicht die Wesen, die für diese Dinge stehen.“

„Wesen?“

„Zaho, Aman, John und Anima.“

„Sie stehen für diese Worte?“

„Ja.“

„Und wofür steht Ihr dann?“ Als mir meine Worte bewusst wurden, senkte ich schnell wieder den Kopf. „Entschuldigt, eine solche Frage steht mir nicht zu.“

Sie lachte. Ein klingendes Geräusch wie ein liebliches Glöckchen. „Ich bin die Hoffnung und auf gewisse Art ist alles in mir vereint. Der Glaube, das Unheil, die Versuchung und das Vertrauen.“

„Aber ist Vertrauen und Glaube nicht das gleiche?“, rutschte es mir wieder über die Lippen. Heillos, ich und mein Mundwerk.

„Manchmal.“

Das ließ mich wieder Aufsehen. „Nur manchmal?“

„Glaube ist etwas, dass du hast, Vertrauen etwas das du erlangst. Du glaubst an die Liebe deiner Mina, du weißt einfach dass es so ist. Selbst wenn sie dich schlecht behandeln würde, wäre da irgendwo das Wissen, der Glaube an ihre Liebe an dich, wenn auch auf einer seltsamen Ebene.“

„Du meinst, dass sie es nicht richtig zeigen könnte.“

„Wenn es so wäre, ja, aber deine Mina zeigt es dir.“

Das war wohl war.

„Vertrauen ist etwas, das du durch Arbeit und Verständnis erlangst. Als du in den Tempel kamst und deine Amicus zum ersten Mal trafst, hast du ihnen nicht vertraut, weil sie Fremde für dich waren. Heute jedoch würdest du ihnen blind folgen.“

„Also ist Glaube Familie und Vertrauen Amicus.“

„Manchmal.“

Dieses kryptische Gerede machte mich ganz wirr. Was wollte sie mir damit nur sagen?

„Es ist Zeit für dich zu gehen.“

„Was? Wohin?“

„Wach auf …“

Ihre Stimme wehte mir wie ein Windhauch mit goldenem Schein entgegen und stieß mich davon …

 

°°°°°

Kapitel Siebzehn

Es war ruhig, ganz still, als mein Geist kriechend aus der Dunkelheit erwachte. Ich hatte das Gefühl aus unendlich tiefen Wasser langsam an die Oberfläche aufzusteigen.

Mir war warm und ich wollte die Augen aufschlagen, doch sie waren so schwer. Ein Zucken bekam ich hin, noch ein Zucken. Sie wollten sich nicht öffnen, nicht freiwillig. Meine Kehle war trocken und mein Bein fühlte sich seltsam an, kribbelte, als liefen tausend Ameisen darauf herum. Seltsam. Warum fühlte ich mich nur so komisch? Oh Göttertot, was war hier nur los, warum fühlte ich mich so schwach?

Ich gab mir einen Moment, lauschte auf meine Umgebung. Da war noch jemand im Raum. Ich vernahm sein Atmen. Ganz leise klang er in der Luft. Wer war das? Wo war ich? Die Gerüche an diesem Ort … sie waren so fremd. Nein, einen von ihnen kannte ich. Es roch nach … Natur. Ja, das war es, Natur.

John …

Ich gab meine Augen erneut den Befehl sich zu öffnen und schaffte es. Sehr langsam nur. Anfangs einen Spalt, durch den ich nur unscharf Schemen ausmachen konnte. Ich befand mich in einem kleinen Raum mit dunklen Wänden. Ein Blinzeln. Nein, die Wände waren nicht dunkel, sie waren aus Holz, ganze Baumstämme aufeinander gestapelt. Ähnliche Gebäude hatte ich bereits auf Silthrim gesehen. Silthrim? Warum … ach ja, ich befand mich ja auf der Erde, weil … ich wusste nicht mehr genau warum. Mein Geist war irgendwie benebelt. Nur langsam wurden die Reden darin klar, genauso wie mein Blick.

Ich blinzelte erneut. An den Wänden hingen Bilder von Landschaften, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Mir gegenüber stand ein sehr großer Schrank, daneben eine Tür. Eine Kommode, eine Matratze auf dem Boden und noch ein seltsames Bett mit einem Metallgestänge, wie ich es noch nie gesehen hatte. Auch ich lag in einem Bett, einem viel größeren, unter einer dicken Decke. Und weich war es. So mussten sich die Götter fühlen, wenn sie im Himmel liefen.

Ich runzelte die Stirn. Wie war ich nur hierher gelangt? Dieser Ort war mir völlig unbekannt und das Letzte, woran ich mich erinnerte, war, wie wir in das Haus der grünen Krieger gingen. Was war geschehen?

Durch das kleine Fenster war die Sonne zu erkennen, die langsam am Äther versank. Es musste also Abend sein.

Langsam drehte ich meinen Kopf. Neben dem Bett stand ein großer, brauner Stuhl, in dem John saß. Er hatte eine Schrift auf seinen an den Knöcheln übergeschlagenen Beinen zu liegen und rieb sich angestrengt die Augen. Sein Mund wirkte irgendwie verkniffen. „Was hast du?“, fragte ich und wunderte mich über meine eigene Stimme. Warum war die nur so rau und kratzte im Hals?

John zuckte vor Schreck zusammen. Die Schrift polterte auf den Holzboden, als er mich mit geweiteten Augen ansah. Das war alles was er tat, er starrte mich mit aufgerissenen Augen an, als könnte er nicht glauben, was er sah, als wäre ich ein Geist in unendlicher Ferne.

Nanu, was hatte er nur? „John?“

„Du bist …“ Hastig stand er von seinem Platz auf und setzte sich neben mich auf das Bett. Seine Augen flogen dabei fahrig über mich, bis er sie schloss und einen tiefen Seufzer ausstieß.

„John?“ Was hatte er nur?

„Endlich bist du aufgewacht.“ Langsam öffneten seine Lider sich wieder. Er wirkte besorgt, fertig. „Wie geht es dir?“

„Gut.“

„Dir tut nichts weh? Keine Beschwerden?“

Was sollten nur diese Fragen? „Mein Hals, er ist ganz trocken und mein Bein, es fühlt sich komisch an, kribbelt unangenehm.“

Er warf einen Blick über seine Schulter, auf mein Bein, bevor er sich bückte und in der schwarzen Tasche neben dem Bett rumkramte. „Weißt du, was geschehen ist?“

Ich runzelte die Stirn. Wusste ich, was geschehen war? Irgendwie ja, irgendwie aber auch nicht. Das ergab keinen Sinn. Da waren Bilder in meinem Kopf, aber nur wenige stachen klar hervor. „Ein wenig“, sagte ich dann und beobachtete, wie er sich mit einem kleinen, schwarzen Kasten in der Hand aufrichtete. Er hatte also auch einen solchen. Was taten die Erdlinge nur alle mit einem kleinen, schwarzen Kasten? „Alles ist wie im Nebel, so verzerrt. Wir sind in das Haus der grünen Krieger gegangen und … da war ein Mann, ein …“ Was war das für ein Mann? Das Bild einer Schlange kam mir in den Sinn. „Der Kriegergeneral. Er hat Gillette und Kaio weggebracht und … oh Göttin, Gillette!“ Ich fuhr auf und musste mich mit dem Arm abstützen, als der Schwindel Besitz von mir ergriff.

John ließ hastig den kleinen Kasten in seinen Schoß fallen und griff nach meinen Armen, hielt mich gerade, damit ich nicht einfach wieder umkippte. „Hey, immer schön langsam. Eins nach dem anderen. Erst mal müssen wir checken, ob du wieder soweit auf dem Damm bist, dann befassen wir uns mit deinem Freund.“

„Aber …“

„Keine Widerrede.“

Ich klappte den Mund zu, als ich seinen strengen Blick sah.

„Gut“, er ließ mich vorsichtig los, um sicher zu gehen, dass ich nicht einfach wieder ins Schwanken geriet. „Und jetzt, trink das hier.“ An mir vorbei beugte er sich zu dem Beistelltisch vor und reichte mir ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit. „Wasser“, sagte er auf meinen fragenden Blick. „Trink es langsam.“

Das tat ich dann auch, leerte das ganz Glas unter seinen wachsamen Augen. Schluck für Schluck. Das tat wirklich gut. Ich hatte das Gefühl, dass meine Kehle schon seit einem ganzen Millennium nicht mehr befeuchtet worden war. Als ich fertig war, wollte ich noch eines, also schenkte John mir auf der Wasserkaraffe nach.

Dieses Glas leerte ich noch ein wenig langsamer und sah dabei zu, wie John wieder nach dem kleinen, schwarzen Kasten griff und mit den Finger darauf herumtippte.

„Was machst du da?“

„Ich gebe den anderen nur Bescheid, dass du aufgewacht bist und dass sie dir etwas zu essen bringen sollen“, sagte er, ohne den Blick zu heben.

Wie auf Befehl knurrte mein Magen bestimmend.

John lächelte, tippte noch ein bisschen weiter und ließ den kleinen Kasten dann wieder in seiner Tasche verschwinden. „So, geht es dir etwas besser? Hat das Wasser geholfen?“

Ich nickte. „Nur mein Bein, es ist noch komisch.“

John kniff die Lippen zusammen, nur ganz leicht, aber ich sah es. „Welches?“

„Das linke.“

Er wich meinen Blick aus.

„John?“

„Weißt du was geschehen ist? Warum du hier liegst?“

„Ich … nein.“ Warum fragte er das? Warum lag ich denn hier?

„Du wurdest von einem Betäubungspfeil getroffen, ähm … einem gläsernen Pfeil.“

Ich erstarrte. „Einem gläsernen Pfeil?“ Dieses Mordwerkzeug, das auch Naaru dahingerafft hatte?

Er nickte. „Ja und warst vier Tage ohne Bewusstsein.“

„Vier?“ Hatte er wirklich gerade vier Tage gesagt?

Er nickte wieder. „Ja, der Pfeil hat dich im Bein getroffen. Ich denke, dass es sich deswegen so komisch anfühlt.“

„Mein Bein?“ Ich beugte mich nach vorn und schlug die Decke zurück. Aber ich konnte nichts sehen, weil ich ein langes, kariertes Beinkleid trug, passend zu meinem Oberteil. „Wie …“

„Gran hat dir den Schlafanzug angezogen, nachdem du deine anderen Sachen vollgekotzt hast.“

Seiner Worte verwirrten mich. „Vollgekotzt?“

„Ja, im Wagen, als wir hergefahren sind. Du hast dich übergeben.“ Sein Mundwinkel zuckte. „Janina ist deswegen ziemlich sauer auf dich.“

„Dann hat sie jetzt wenigstens einen triftigen Grund für ihre Feindseligkeit.“ Ich zog mein Bein an, um den Stoff hochzukrempeln. Sofort wurde das unangenehme Kribbeln schlimmer.

„Moment, ich mach das.“ John drehte sich ein wenig herum und schob den Stoff ganz vorsichtig mein Bein hinauf. Als er dabei meine Haut streifte überlief mich ein seltsamer Schauer. Ein angenehmer Schauer. Was hatte das nun wieder zu bedeuten?

All diese Geistreden verschwanden aus meinem Kopf, als ich meine Haut sah. Dort, am Oberschenkel schimmerte ein dunkles Adernnetz durch die weise Haut. Fast schwarz war es, groß wie meine Hand und leicht erhoben, aber nicht geschwollen. Es erinnerte mich an eine Sonne. Alle Fäden strebten auf einen Punkt in der Mitte zu.

Vorsichtig tastete ich nach diesem Geflecht, aber es tat nicht weh, es war nur irgendwie taub.

„Es ist schon besser geworden“, sagte John und strich am Rand des Gebildes entlang. „Seit gestern ist es viel besser geworden. Davor …“ Er drückte die Lippen zusammen und schloss die Augen.

Erst jetzt fiel mir auf, wie müde er war. Dunkle Ringe hatten sich unter seinen Augen niedergelassen und ich glaubte, Falten um seinen Mund zu entdecken, die bei unserer letzten Begegnung noch nicht dagewesen waren. Auch schien seine Ausstrahlung irgendwie erschöpft. „Was war davor?“, fragte ich.

Er schüttelte nur den Kopf. „Nicht so wichtig.“ Der Versuch eines Lächelns misslang ihm gründlich und ich fragte mich, was er versuchte zu verbergen. „Kann ich dir sonst noch etwas Gutes tun? Ich meine, außer etwas Essen, das kommt nämlich gleich.“

„Ich weiß nicht.“ Ich neigte den Kopf leicht zur Seite. „Vielleicht … mein Bein, kannst du da was machen? Es fühlt sich so seltsam an.“ Und dieses Gefühl mochte ich nicht, das war nicht ich. 

John sah wieder hinunter auf dieses Geflecht. „Ich könnte …“ Er biss sich auf die Lippe. „Wenn du magst, könnte ich versuchen es zu massieren. Ich weiß nicht ob das etwas bringt, aber vielleicht kommt der Blutfluss so wieder zum Laufen.“

„Okay“, sagte ich, auch wenn ich nicht verstand, warum ein Blutfluss laufen sollte. Der sollte doch fließen. Und überhaupt, was war der Blutfluss? So wie sich das anhörte, wollte ich darin auf keinen Fall schwimmen gehen.

Einen Moment sah John mich nur schweigend an. „Okay“, kam es dann leise von ihm. „Dann … dein Bein …“ Er rutschte ein Stück zur Seite. „Ähm … leg dein Bein auf meinen Schoß. Kannst du das?“

„Ja“, sagte ich, obwohl ich nicht wusste, ob es stimmte. Aber so eine kleine Bewegung, wie mein Bein anheben, würde ich doch hinbekommen, oder? Ich war ein Ailuranthrop, also natürlich konnte ich das.

Ich spannte die Muskeln an und zog. Warum nur fühlte ich mich so schwach? Was war denn jetzt eigentlich genau geschehen? Die Erinnerungen waren irgendwie verschwommen, ließen sich nicht richtig greifen und das ärgerte mich. Mein Geist war doch sonst nicht so unklar und durcheinander.

Nur sehr langsam schaffte ich es, mein Bein zu heben und auch nur, weil ich meine Arme dabei zur Hilfe nahm.

„Warte, ich helfe dir“, sagte John, als er meine Schwierigkeiten bemerkte. Sehr sanft drapierte er es über seinen Schoß und begann damit, seine Hände vorsichtig in gleichmäßigen Bewegungen über meinem Schenkel zu führen. Das Kribbeln wurde stärker, anders, aber nicht unangenehm. Er rutschte etwas höher, so dass er genau zwischen seinen Beinen kam, und massierte vorsichtig um das dunkle Netz auf meiner Haut herum. Warum nur fühlte sich das so gut an?

Der Anblick seiner dunklen Hände gegen meine weiße Haut faszinierte mich. Weiß gegen schwarz. Sie sahen so ganz anders aus als meine eigenen. Kribbelten seine Berührungen deswegen so schön? „John?“

„Hmh?“

„Was genau ist mit mir geschehen? Warum war ich vier Tage nicht da und … warum sind wir in diesem Haus?“ Es war mir fremd. Nicht nur das Zimmer, auch die Gerüche in der Luft und die Aussicht vor dem Fenster. Es war nicht das Haus, in das Luan und Janina uns gebracht hatten, nachdem sie uns im Wald fanden. Da war ich mir sicher.

Er seufzte schwer. „Mach dir darüber keinen Kopf. Jetzt ist nur wichtig, dass du wieder auf die Beine kommst.“

Ich runzelte die Stirn. „Warum willst du es mir nicht sagen?“

„Weil du dich jetzt nur auf deine Genesung konzentrieren sollst. Du hast ein paar harte Tage hinter dir.“

„Harte Tage?“

Er antwortete nicht, bewegte nur seine Hände weiter.

„John?“

Er schloss die Augen.

Was hatte er nur? „John, sieh mich an.“ Als er nicht regierte, legte ich ihm ein Finger an sein Kinn und drehte sein Gesicht, bis ich ihm in die Augen sehen konnte. So nahe. Seine Finger stellten die Arbeit ein, als wir uns so dich voreinander wiederfanden. Sein Geruch nach Natur stieg mir in die Nase, seine Wärme drang  in meine Haut.

Er öffnete den Mund leicht, bewegte sich ansonsten aber nicht.

Versuchung.

Was? Woher kam dass den jetzt? Ich ließ meinen Daumen über den dunklen Ring seines Auges wandern, berührte dabei seine Lippen. „Du siehst müde aus.“

Das ließ ein kleines Lächeln auf seinen Lippen entstehen. „Ich hab die letzten Tage auch nicht viel geschlafen.“

„Warum?“

„Weil ich auf dich aufpassen musste.“

Waren unsere Gesichter jetzt noch näher als vorher? Wie war das geschehen? Und wie kam es, dass mein Blick so von seinen Lippen angezogen wurde, dass ich seinen warmen Atem willkommen hieß? „John?“

„Ja?“ Sein Atem war ein wenig schneller geworden. Er ließ mich nicht aus den Augen, keine meiner Bewegungen.

„Warum mag ich deine Berührung? Warum will ich …“

Die Tür wurde von außen geöffnet und Johns Kopf fuhr herum. „Ähm …“

Ich folgte mit meinem Bick nur langsam und erblickte Aman mit einem Tablett in der Hand. Er sah wütend aus. Aber das war gar nichts gegen das rotangelaufene Gesicht von Janina hinter ihm.

Acco dagegen machte einfach nur große Augen. „Huiuiuiuiuiuiui, was haben wir denn da gerade unterbrochen?“ Er zwinkerte mir zu und drängte sich an seinem Leiter vorbei in den Raum, um sich auf dem Bett mit dem seltsamen Metallgestänge niederzulassen.

Ich runzelte die Stirn. „Unterbrochen?“

Das war der Moment, in dem Janina explodierte. Also nicht wörtlich, sondern vor Wut. „Du verdammtes, kleines Flittchen! Reicht es nicht, dass du uns schon so tief in die Scheiße geritten hast? Musst du dich jetzt auch noch an meinem Bruder vergreifen?!“ An Aman vorbei stürmte sie in das Zimmer, direkt auf mich zu. „Ich werde diese ganze Scheiße jetzt ein für alle Mal …“

Bevor sie mich erreichten konnte, packte John sie mit festem Griff am Arm und funkelte sie an. „Geh, Janina.“ Ganz ruhig sagte er das.

Sie plusterte die Backen auf. „Das kannst du vergessen. Ich werde bestimmt nicht tatenlos dabei zusehen, wie diese kleine Schlampe …“

„Pass auf, was du sagst.“

„Warum? Mein Gott, John, da draußen gibt es so viele Mädels, warum willst du …“

„Wir besprechen das draußen.“

„Nein, wir …“

John stand einfach auf und zog sie am Arm mit sich hinaus. Janina zeterte die ganze Zeit weiter und ich verstand nicht, was das Ganze zu bedeuten hatte.

„Wow, ich hoffe nur, dass diese Füchsin niemals auf mich sauer ist“, ließ Acco verlauten.

Ich warf ihm nur einen kurzen Blick zu, bevor ich mich wieder Aman zuwandte, der mich nicht einen Moment aus den Augen ließ. Was hatte er nur? Er sah richtig wütend aus. Hatte ich was falsch gemacht? Oh Göttin, warum nur verstand ich diesen Lykanthropen einfach nicht? So schwer dürfte das doch eigentlich gar nicht sein.

Sehr bedächtig, als müsste er sich dazu zwingen, trat er einen Schritt in den Raum, stellte das Tablett mit einer köstlich dampfenden Suppe auf die Kommode ab und schloss die Tür von innen. Nun war ich mit ihm allein und irgendwie gefiel mir das nicht, nicht so, wie er mich dabei ansah.

„Was, in Seths Namen, glaubst du eigentlich hier zu treiben?“, begann er dann auch schon ohne Umschweife.

Ich öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder, weil ich darauf keine Antwort wusste. Mein Geist entsann sich nicht seiner Logik. „Was meinst du?“

„Bestreite es gar nicht, ich bin nicht blind, ich habe gesehen was ihr im Tun ward.“

Was wir im Tun waren? „Ich weiß nicht, wovon du sprichst.“

Irgendwie schaffte Aman es plötzlich, über mir zu stehen.

Ich wich ein Stück zurück, konnte aber nicht weit weg, da ich von ihm eingeschlossen wurde. War er schon immer so groß gewesen? „Weiche zurück, du hast nicht das Recht mir so nahe zu sein.“

Entgegen meiner Anweisung kam er sogar noch näher, ließ mich dabei keinen Moment aus den Augen. „Ich habe jedes Recht dazu.“

Das verschlug mir doch glatt die Sprache. Wie konnte er es wagen? Wer gab ihm das Recht dazu? „Du hast gar nichts!“, fauchte ich ihm entgegen und versuchte ihn wegzustoßen, doch ein Felsbrocken wäre wohl einfacher zu bewegen gewesen. „Du bist nur ein …“

„Ein Krieger, der dich in dem Moment unter seinem Schutz genommen hat, als wir durch dieses Portal gefallen sind und damit für dich verantwortlich.“ Er kam noch ein Stück näher, berührte mit seiner Nase fast die meine. Er bedrängte mich und das gefiel mir gar nicht. „Und wenn du dich zuchtlos benimmst, dann ist es meine Aufgabe einzuschreiten.“

„Zuchtlos?“ Ich glaubte mich verhört zu haben. „Bei Bastet, ich habe mich nicht zuchtlos verhalten!“

„Du sahst aber gerade sehr vertraulich mit John aus. Ich habe gesehen, wo seine Hand lag, ich habe gesehen, wo eure Lippen waren. Wäre ich nur einen Moment später gekommen, dann hättet ihr euch geküsst.“

Oh Göttin, hatte das wirklich den Eindruck gemacht? Ich hatte ihn doch gar nicht küssen wollen, ich hatte nur … seine Augen und dieses Gefühl seiner Berührung. Aber ich hatte doch gar nicht … oder? Hatte ich es doch? Wäre es geschehen, wenn Aman und Janina in dem Moment nicht reingekommen wären? Ich wusste es nicht. Warum wusste ich das nicht? Göttertod, war das anstrengend. „Und selbst wenn, es ginge dich nichts an.“

„Du gibst es also zu?“, fragte er mit leichter Überraschung in der Stimme.

„Ich gebe gar nichts zu!“, fauchte ich und versuchte erneut ihn wegzustoßen, drückte ihm gegen die Brust, aber er bewegte sich nicht. Göttertod noch eins, sturer Hund! „Und jetzt weiche!“

Aman knurrte. „Halt dich in Zukunft fern von ihm.“

Ich hielt inne und kniff die Augen zusammen. Er hatte mir gerade einen Befehl gegeben. Nicht, dass es etwas Neues wäre, aber er hatte es noch nie so deutlich getan und nicht mit dieser Stimme. „Sonst was?“, wollte ich wissen. Er sollte ruhig merken, dass seine Drohungen einfach an mir vorbeigingen.

Er kam noch ein Stück näher. Ich spürte seinen heißen Atem auf meinem Gesicht und irgendwie machte mich das wieder ganz kribbelig. Was war heute nur los mit mir, dass mein Körper ständig seltsame Dinge tat? „Das wirst du dann sehen.“

„Du machst mir keine Angst, Sohn des Seth.“

„Und trotzdem wirst du dich von ihm fernhalten.“

Unheil.

Ich runzelte die Stirn. Was bedeutete das nun schon wieder? „Warum benimmst du dich so seltsam?“

Er drückte die Lippen aufeinander, verschloss seinen Mund, als wollte er nicht antworten. Umso mehr erstaunten mich seine folgenden Worte. „Weil du mir gehörst.“

Mein Mund schnappte wie ein Fisch auf. Er hatte … er wollte … mir fehlten die Worte. „Was hast du gesagt?“

„Ich hab gesagt, du gehörst mir“, wiederholte er sehr deutlich, damit ich es auch ja nicht missverstehen konnte. „Seit du meine Hand im Tempel ergriffen hast, um mich vor den greifenden Winden zu retten.“

„Ich hatte dir nur helfen wollen!“, protestierte ich sofort. „Nach nichts anderem stand mir der Sinn.“

„Das tut nichts zur Sache. Ich habe es sofort gespürt, habe es in deinen Augen gesehen. Du gehörst mir!“

War das seine Wahrheit? Glaubt er das wirklich? Oh Bastet, warum nur mutest du mir all das zu? „Du sprich nur so, weil es dir nicht passt, was deine Augen dir vorgetäuscht haben.“

„Vorgetäuscht?“

„Bei Bastet, ja, vorgetäuscht. Ich habe John nicht küssen wollen. Ich habe mir nur seine Augen ansehen wollen, weil er so müde aussah. Genauso müde wie du!“ Mist, warum war mir der letzte Teil nur rausgerutscht? Er sollte gar nicht glauben, dass ich Geistreden über sein Befinden machte, nicht, wenn er sich so seltsam benahm. Aber vielleicht war ja genau das die Begründung für sein Verhalten. Er war müde, seine Geistreden waren unklar und er mehrte nur etwas in seinen Beschützerinstinkt als Krieger hinein. Alles andere wäre ja auch absurd. „Du siehst also, alles …“

Im nächsten Moment verschloss er meinen Mund mit seinem. Ich war so überrumpelt, dass ich einfach nur erstarrte, als er in meinen Nacken griff, um mich noch näher an sich zu ziehen, seine Lippen auf meinen bewegte, sie in Besitz nahm. Das Gefühl dabei … oh Göttin, dafür fand ich keine Worte. Aman küsste mich. Mein erster Kuss. Ich wurde von einem Lykanthropen geküsst. Oh Göttin, ich wurde von einem Lykanthropen geküsst!

Meine Krallen fuhren ohne mein Zutun aus. Auch dass ich sie ihm durchs Gesicht zog, konnte ich nicht verhindern.

„Ahhhr!“ Er ließ von mir ab und wich einen Schritt zurück.

Mein Herz schlug schnell, als ich beobachtete, wie er sich übers Kinn wischte und danach das Blut auf seiner Hand nur mit einen kurzen Blick bedachte. Mein Atem kam stoßweise und ich konnte mir nicht mal erklären, warum das so war. Was hatte er nur mit mir gemacht?

Schweigend starrten wir uns in die Augen. Und wieder sah ich sein Gesicht vor mir. So nahe, viel zu nahe. Er hatte mir einen Kuss gestohlen, meinen ersten Kuss. In meinem Magen machte sich ein dicker, wütender Knoten breit. Mein erster Kuss war mir von einem Lykanthropen gestohlen worden. Er hatte ihn sich einfach genommen, ohne zu fragen, ohne meine Zustimmung.

Mein Atem wurde immer schneller, doch jetzt wusste ich was es bedeutete: Wut. Er hatte mich bestohlen. Dieser Sohn einer läufigen Hündin, er hatte mich einfach beklaut! Mit einem Schrei sprang ich auf. Ich wollte ihn dafür bestrafen, wollte ihm das Gesicht zerkratzen. Sowas ließ ein Ailuranthrop nicht mit sich machen, aber mein Bein knickte weg, so dass ich in seine Arme fiel, anstatt ihn anzugreifen. Ich ließ ihm gar nicht erst die Gelegenheit ein Wort an mich zu richten, hielt mich an ihm fest, bohrte ihm meine Krallen in den Arm, fauchte. Ich war wie von Sinnen. Ich hörte ihn etwas sagen, als er versuchte sich gegen meine Wut zu verteidigen, verstand aber kein Wort. Da war nur noch ein Rauschen in meinen Ohren. Wie hatte er es wagen können? Was nahm er sich heraus? Dafür würde er büßen, das würde er kein weiteres Mal tun!

„… ist Schluss! Lilith … ahhh … hör auf sage ich.“

Ich hörte nicht auf, ich zog ihm meine Krallen über die Schulter.

Im nächsten Moment knurrte er, packte meinen Arm und drehte mich herum. Ich landete mit dem Gesicht in der Matratze, stieß mit dem Knie schmerzhaft auf den Holzboden, während er mich mit seinem Gewicht unten hielt.

„Lass mich, du elender Hund!“, fauchte ich. „Du hattest kein Recht dazu, dass zu tun, das stand …“

„Ruhig jetzt.“

„… dir nicht zu. Er gehörte mir, gib ihn mir zurück, das war meiner …“

„Lilith, jetzt beruhig dich.“

„… meiner! Verstehst du? MEINER!“

Er knurrte und drückte mein Gesicht ins Kissen, hielt mich mit dem Arm auf dem Rücken fest.

Ich zappelte, versuchte, mit der freien Hand nach ihm zu schlagen, aber er fing sie ein und drückte sie über meinem Kopf in die Decke. Ich kniete vor dem Bett auf dem Boden, den Oberkörper ins Bett gedrückt und konnte mich nicht wehren, weil er mich mit seinem ganzen Körper niederdrückte, meine Beine mit seinen gefangen hielt. Das war so erniedrigend. Und trotzdem gab ich nicht auf, bockte und versuchte meine Hand aus seinem Griff zu befreien. Es brachte nichts, sie waren wie Stahlfesseln.

Plötzlich erstarrte ich. Was war das gewesen, dieser Hauch in meinem Nacken. War das sein Atem? „Was tust du?“

Er drückte sein Becken fester gegen meines, klemmte mich so zwischen dem Bettgestell und sich ein. Dann führte er auch meine zweite Hand über den Kopf und hielt meine beiden Handgelenke mit nur einem Griff fest.

Was sollte das? Wozu diente es? „Aman? Was machst du?“ Ich versuchte den Kopf zu drehen, um über meine Schulter zu sehen, konnte aber gerade noch so sein Haar erkennen. Sein Kopf, er war auf Höhe meiner Schulter. „Aman?“

Nur langsam wurde mir bewusst, in welcher Situation ich mich befand. Ich lag halb auf dem Bett unter ihm gefangen, nicht fähig mich zu wehren. Er hatte sich dich an mich gedrängt, so dicht, dass ich seinen ganzen Körper an meinem spüren konnte. Ich konnte wirklich alles spüren. Es sollte mich ängstigen, oder wenigstens wütend machen, und, oh ja, wütend war ich, aber da war noch etwas anderes, etwas das ich nicht einordnen konnte. Ein Kribbeln, ein angenehmer Schauder, der durch meinen ganzen Körper zu ziehen schien.

Wieder spürte ich seinen warmen Atem, fühlte seine Hand, die fast zärtlich meine Haare aus dem Nacken strich und seine Lippen, seine warmen, vollen Lippen, die einen Kuss auf die empfindliche Haut hauchten.

„Nein, tu das nicht! Lass von mir ab!“ Ich zerrte an meinen Händen, aber sein Griff war wie eine eiserne Fessel, er wollte mich einfach nicht freigeben. Als er mir einen Kuss in den Nacken hauchte, der einen unglaublichen Schauder über meinen Rücken jagte, warf ich den Kopf hin und her, um ihn davon abzubringen.

Er knurrte, drückte meinen Kopf mit der freien Hand herunter und schob mit dem Kinn meinen Rückenausschnitt leicht zur Seite, so dass er mit den Lippen eine Spur von meinem Nacken bis zu meiner Schulter ziehen konnte.

„Aman, bitte, tu das nicht.“ Nein, oh Göttin, nein. Mein Geist schrie seine Verweigerung hinaus, doch mein Körper machte etwas ganz anderes, ihm … gefiel das. Was geschah hier nur? Ich verstand es nicht. „Bitte.“

„Bitte was?“, fragte er mit rauer Stimme, die mir eine Gänsehaut machte.

Muskeln in meinem Körper, die noch nie zum Einsatz gekommen waren, zogen sich zusammen.

Er bewegte sich, ließ meinen Kopf los und rückte etwas zur Seite. Dabei streifte etwas Hartes meinen Hintern. Oh bei meiner Göttin Bastet, ich wusste genau, was das war. Sein Oberkörper hob sich ein Stück und dann konnte ich spüren, wie er mein Oberteil nach oben strich und dabei zart mit den Fingern über meinen Rücken fuhr.

Ein heißer Schauer ergriff von mir Besitz und ließ mich am ganzen Körper erzittern.

„Rede mit mir, Lilith, was bitte?“ Sein Mund liebkoste meinen Rücken, als seine freie Hand langsam zu meinem Bauch wanderte, über die Haut strich, sie mit Berührungen liebkoste, bei denen mir ganz anders wurde. Immer höher schob seine Hand sich. Ich vergaß beinahe zu atmen, als sie sich um meine Brust wölbte, ihr Gewicht wog und mit dem Finger vorsichtig über die Spitze strich.

Gegen meinen Willen entrang sich meiner Kehle ein leises Stöhnen. Oh Göttin, was geschieht nur mit mir?

Auch Amans Atem ging nicht mehr ganz normal. Ich hörte seinen Herzschlag auf meinem Rücken trommeln, als er mein Oberteil mit der Nase immer höher schob, um eine Spur von Küssen auf meinem Rückgrat bis hinauf zu meinem Nacken zu hinterlassen. Seine Hand blieb auf meiner Brust, liebkoste sie mit den Fingern, massierte sie. „Lilith“, seufzte er.

Ich gab ein ähnliches Geräusch von mir. Halb stöhnen, halb wimmern. Wie hatte ich nur in diese Situation kommen können, und, oh Göttin, warum fühlte es sich so … so gut an? Was machte er nur mit mir? Ich hatte so etwas noch nie gefühlt.

Langsam, als hätte er Angst, dass ich mich wehren könnte, löste sich die Stahlklammer von meinen Handgelenken. Ich krallte meine Finger in die Bettdecke, als fürchtete ich darum, sonst etwas Unüberlegtes zu tun, wie ihn zu berühren. Er war ein Lykanthrop. Das durfte ich nicht. Ich durfte das alles nicht und konnte mich dem trotzdem nicht erwehren.

Seine Hand wanderte meinen Arm herunter, hinterließ eine prickelnde Spur, wo er meine Haut berührte. Er bewegte sich, erhob den Oberkörper, drückte sein Becken gegen das meine, was einen Blitz in unerforschte Tiefen jagte.

Noch immer eine Hand auf meiner Brust, die mich lieblich quälte, wanderte die andere über meinen Rücken zum Bund meines Beinkleides. Wieder drückte er sich gegen mich, reizte mich, dass meine Gefühle nur so durcheinander kamen. Wie machte er das nur? Was bezweckte er damit? „Sag, dass du es auch willst, sonst höre ich auf.“

Was? Das konnte er doch nicht verlangen! Oh Göttin, warum tat er das? Ich wollte es nicht sagen, wollte mich nicht dieser Schmach ergeben, wollte lieber so tun, als täte er es gegen meinen Willen, als sei ihr wehrlos und oh Göttin, irgendwie machten seine Berührungen mich auch wehrlos.

„Sag es, Lilith, ich werde es nicht gegen deinen Willen tun.“ Seine Hand verließ meine Brust, strich an meiner Seite entlang, hinauf auf meinen Rücken. Eine Liebkosung, bei der mir ganz anders wurde. „Sag es.“

„Ich …“ Nein, das konnte ich nicht.

Plötzlich waren seine Hände weg, er war ganz weg, ich spürte ihn nicht mehr. Oh Göttin, das konnte er doch nicht wirklich tun.

Ich krallte meine Hände tiefer in den Stoff, atmete schwer. Kehre zurück, flehte ich, tu es, bitte, aber er tat es nicht. Er war weg. Das konnte er doch nicht tun, nicht nach allem, was er bereits gemacht hatte. Mein Herz flatterte wild in der Brust. Ich wollte es, bei allem was mir heilig war, ich wollte es wirklich. Nur wenige Worte standen mir im Wege. Ich biss mir auf die Lippen, bevor ich „Hör nicht auf, mach weiter“ hervorstieß. Da, es war raus, ich hatte mich unterworfen. Aber Aman kehrte trotzdem nicht zu mir zurück. Ich spürte nicht wieder seine Wärme, spürte nicht seine Finger oder Lippen. Stattdessen hörte ich wie er sich hinter mir erhob.

Oh Göttin, nein, das tat er nicht. Er hatte das doch nicht wirklich getan, um mich zu erniedrigen. Ich hatte doch gespürt, dass er es auch wollte, sowas konnte ein Mann nicht vortäuschen.

„Du hast nichts gesehen“, sagte er plötzlich hinter mir.

Was? Seine Worte ergaben keinen Sinn und so sehr ich mich für das eben auch schämte, ich würde mich nicht vor ihm verstecken. Ich war ein Ailuranthrop und ein solches Verhalten würde ich mir nicht bieten lassen.

Die Wut kam, als ich den Kopf hob und sie war besser als die Scham. Doch Aman sah mich gar nicht an. Er stand hinter mir, als wäre nichts geschehen und hatte seinen Blick in die Ecke gerichtet. Als ich diesem folgte, riss ich entsetzt den Mund auf.

„Hast du verstanden, Acco? Du hast nichts gesehen“, wiederholte Aman.

Da, auf dem Bett mit dem seltsamen Metallgestänge lag sein Sermo. Die Augen weit aufgerissen, sah er zwischen mir und Aman hin und her. Oh Göttin, wie waren nicht allein gewesen. Wie hatte ich das vergessen können?

„Acco“, knurrte Aman ungeduldig.

Auf dem Flur wurden Stimmen laut. Waren die schon die ganze Zeit da gewesen, oder jetzt erst aufgetaucht?

Der Sermo schüttelte hastig den Kopf. „Ja … ich meine, nein … ich meine … was soll ich nicht gesehen habe? Ich habe gar nichts gesehen, ich  hab geschlafen, wieso, war etwas? Ist ja auch egal, kannst du mir später erzählen, ich will jetzt etwas essen gehen.“ Eilig sprang er von dem Bett und lief zur Tür. „Ich hab geschlafen und jetzt will ich essen. Ist doch ganz normal, nichts Außergewöhnliches. Ich hab nichts gesehen.“ Er stellte sich an der Tür hoch und schlug mit der Pfote ein paar Mal gegen die Klinke, bis sie sich öffnete. Den Rest schob er mit der Schnauze auf und schon war er weg.

Nun waren die Stimmen auf dem Flur ganz deutlich zu hören. Da stritt sich jemand. John und Janina. Waren die die ganze Zeit da draußen gewesen? Ich hatte es nicht mitbekommen.

Langsam rutschte ich von der Matratze auf den Boden und blieb einfach sitzen.

Amans Blick ruhte dabei auf mir. Wir sahen uns einfach nur an, als fragten wir uns beide, was da eben passiert war. Er öffnete gerade den Mund, als die Stimmen draußen lauter wurden und sich auf uns zubewegten.

„… nicht machen, sie hat dich angegriffen, dir ein Messer an die Kehle gehalten. Mein Gott, John, sie ist nicht ganz zurechnungsfähig, das musst du doch sehen. Sie ist …“

„Janina, es reicht, das ist meine Sache und geht dich absolut nichts an.“

„Natürlich tut es das, du bist mein Bruder und …“

Im Türrahmen blieb John stehen. Er sah verärgert aus, als er sich zu Janina umdrehte, ein Ausdruck, den ich in seinem Gesicht noch nie gesehen hatte. „Schluss jetzt. Geh und kümmere dich um deinen eigenen Kram“, schnauzte er sie barsch an. „Ich mische mich auch nicht zwischen dir und Luan ein, also lass mich auch in Ruhe. Du hast genug eigene Scheiße, um die du dich kümmern solltest und jetzt lass mich in Ruhe!“

Ich glaubte nicht, dass John schon einmal so mit ihr gesprochen hatte, nicht wenn ich ihren verletzten Blick sah. Sie machte sich wirklich Sorgen um ihn, doch er wollte das nicht hören.

Sie drückte die Lippen zusammen, warf mir noch einen hasserfüllten Blick, bevor sie sich abwandte und von der Tür verschwand.

John dagegen schüttelte nur verärgert den Kopf, doch als er mich auf dem Boden sitzen sah, wur

de der Ausdruck in seinem Gesicht besorgt. „Lilith!“ Er eilte zu mir, hockte sich vor mich. „Was machst du auf dem Boden, alles okay mit dir? Du bist so rot.“

Bei seinen Worten wurden meine Wangen gleich noch eine Spur wärmer. Ich konnte ihm nicht sagen was hier in seiner Abwesenheit geschehen war, das war zu schamvoll. „Ich … ich hab nur versucht, aufzustehen.“ Ich warf einen kurzen Blick zu Aman, der die Lippen fest aufeinander drückte. Die drei Kratzer an seinem Kinn leuchteten wie drei rote Mahnmale in seinem Gesicht. Und auch in der Schulter hatte er eine tiefe Wunde. Ich war das gewesen. „Ist nicht geglückt“, fügte ich noch an John hinzu.

„Bist du sicher, dass es dir sonst gut geht?“ Er legte eine Hand auf meine Stirn. „Mein Gott, du glühst ja förmlich.“

Oh Göttin, ging es noch peinlicher? Ich warf wieder einen Blick zur Tür, doch Aman war nicht mehr da. Er war gegangen, einfach so. Er hatte mir meinen Kuss geraubt, meinen Allerersten, mich dann zuchtlos berührt und jetzt verschwand er einfach, ohne ein Wort. Plötzlich fühlte ich mich beschmutzt, unwürdig. Ich hatte mich von einem Lykanthropen berühren lassen und nicht nur mit dem Körper, sondern auch mit Worten nach mehr verlangt. Oh Göttin, heilige Mina Bastet, vergib mir meine Schwäche, es wird kein weiteres Mal geschehen. Dieser Schmach würde ich mich nie wieder aussetzen.

„Lilith?“ John legte mir eine Hand an die Wange. „Was hast du, was ist los?“

„Ich …“ Wie sollte ich das erklären? Wie sollte ich meine Schande erläutern? Das konnte ich nicht.

„Ist das Blut?“, fragte er plötzlich und schob meine Haare leicht von der Schulter.

Oh Göttertod, blieb mir denn gar nichts erspart. „Ich habe mich mit Aman gestritten, das ist sein Blut.“

„Wie kann da sein Blut hinkommen?“

Das würde ich nicht erklären. „Das ist egal.“ Ich senkte die Augen einen Moment, bevor ich ihn wieder ansah. „Würdest du mir helfen zu baden?“ Vielleicht würde dieses befleckte Gefühl verschwinden, wenn ich mich gewaschen hätte.

„Ich … ich soll dir helfen?“

„Ich kann nicht laufen.“ Ich sah auf mein Bein. Seltsam, die ganze Zeit mit Aman hatte ich das unangenehme Ameisenkribbeln gar nicht wahrgenommen, doch jetzt wo er weg war, wo mir seine Wärme fehlte, war es wieder ganz deutlich da. „Ich brauche Hilfe.“

John biss sich auf die Lippe. „Soll ich nicht vielleicht lieber Gran holen? Sie könnte …“

„Ich vertraue Gran nicht“, unterbrach ich ihn. „Für dich mag sie deine Romina sein, doch für mich ist sie eine Fremde. Aber dir, dir vertraue ich.“ Ich sah ihm fest in die Augen und hoffte, dass er mir meine Worte glaubte, schließlich entsprachen sie der Wahrheit. Ich wusste nicht warum, oder wie es hatte geschehen können, aber ich vertraute John. Er war keiner von uns, hatte seinen Ursprung nicht wie die anderen in Silthrim und trotzdem war er der Einzige, an dem ich in dieser Welt nicht zweifelte. Er war eben John.

Wieder kaute er auf seiner Unterlippe herum und gab sich schließlich mit einem Seufzen geschlagen. „Okay, ich helfe dir.“ Er strich mir wieder über die Wange und im gleichen Moment knurrte mein Magen wie eine wütende Wildkatze. Er sah auf meinen Bauch. „Hast du noch immer nichts gegessen?“

Ich schüttelte den Kopf. Wie hätte ich auch dazu kommen sollen? Aman war auf mich zugestürmt und hatte … mir wurde ganz kalt. Nicht, weil ich mich vor dem fürchtete, was geschehen war, sondern weil ich mich davor fürchtete, was es bedeutete. Du gehörst mir! Das war nicht gut. Wie kam er nur auf diese Geistreden? Ein Blick im Tempel? Aber das war doch lächerlich.

Natürlich, auch Ailuranthropen wählten ihre Partner so aus. Ein Blick reichte. Wenn einem gefiel, was man sah, machte man ihm Avancen, oder versuchte ihn anderweitig zu überzeugen, aber ein Lykanthrop und ein Ailuranthrop? Nein, niemals. Amans Geist musste verwirrt sein. Das machte dieser Planet, er machte uns ganz wirr im Kopf. Warum sonst hätte ich zugelassen, dass Aman mich auf diese Art berührte?

„Okay“, sagte John dann. „Dann isst du jetzt etwas und danach helfe ich dir beim Baden.“

„Vergelts.“

 

°°°°°

Kapitel Achtzehn

Das Wasser plätscherte leise hinter mir, als John den Lappen in die Wanne tauchte, um mir damit vorsichtig über den Rücken zu wischen. Ich hatte mir ein kleines Handtuch um die Hüfte gewickelt und saß jetzt bis zum Bauch im warmen Wasser, doch die Kälte und die Flecken, die ich durch meine Tat bekommen hatte, wollten sich nicht so einfach vertreiben lassen wie der Schmutz.

Warum nicht? Warum blieben sie an mir haften? Ich wollte das nicht, wollte es nur verdrängen, vergessen, so tun, als wäre es nie geschehen.

Dieser Baderaum war länglich geschnitten und in dunklen Tönen gehalten. Es war so ganz anders, als das andere, genau wie das Zimmer, in dem ich erwacht war und … Sachen tat. Ich drückte die Lippen zusammen. Wenn ich nicht verrückt werden wollte, musste ich meinen Geist auf andere Dinge lenken, diese Bilder verscheuchen und die Gefühle verbannen. Das sollte doch zu schaffen sein. So grandios war es nun auch nicht gewesen, was Aman getan hatte. Eigentlich hatte er ja auch gar nichts getan, außer mir meinen ersten Kuss zu stehlen, dieser Schuft dieser. Heillos, andere Dinge!, tadelte ich mich selber. Nun gut, so schwer sollte das nun wirklich nicht sein. „Erzählst du mir, was geschehen ist? Die letzten Tage meine ich.“

Seine Bewegung verharrte einen Moment, bevor er den Lappen erneut ins warme Wasser tauchte und mir dann damit über die Schultern wusch. Er saß auf dem Wannenrand halb hinter mir, so konnte ich ihn nicht sehen, nur seine Nähe spüren und die war angenehm. „An was erinnerst du dich denn noch alles?“

„Ein wenig mehr als vorhin.“ Ich tauchte meine Finger in dem Schaum, um mit einer Seifenblase zu spielen. „Wir waren in so einem Raum und wollten gerade gehen, aber der Kriegergeneral Silvano Winston wollte das nicht. Dann gab es mehrere Erschütterungen. Danach ist alles irgendwie verschwommen.“

„Die Erschütterungen kamen von Pascal. Er hat die mehrere Außenwände hochgehen lassen. Auf der Rückseite, da wo kein Mensch war. Irgendein Zaubertrick. Er hat es nicht genauer erklärt.“

„Sein großes Bumm.“ Ich erinnerte mich, das hatte zum Plan gehört.

„Ja.“ Der Lappen bewegte sich über meinen Nacken auf die andere Schulter, die Schulter, die Aman geküsst hatte, wo sein Blut klebte. „Das war wohl das Einzige, was nach Plan verlaufen ist. Luan hat erzählt, dass gleich darauf ein großes Chaos ausgebrochen ist, in dem mehrere Schüsse gefallen sind. Dabei wurdest du von einem Betäubungspfeil getroffen. Acco hat es wohl geschafft die Tür aufzubrechen, wie weiß ich nicht.“

„Er hatte sich verwandelt.“ Die Blase platzte in meiner Hand. Ich tauchte meine Hände nochmal unter und sammelte einen Schaumberg, in den Handflächen, den ich wegpustete. Kleine Bläschen schwebten zurück in das Schaummeer.

„Sowas hat Luan auch gesagt“, stimmte er mir zu. Der Lappen glitt über meinen Arm. „Du bist wohl zusammengebrochen. Aman hat dich hinausgetragen, während Luan noch ein wenig Unruhe stiftete, damit euch niemand folgen konnte. Ihr seid wohl mit Ach und Krach aus dem Gebäude gekommen. Janina und Pascal haben euch dann eingesammelt und schnell die Fliege gemacht.“

Neugierig sah ich über die Schulter. „Die Fliege gemacht?“

„Das bedeutet abgehauen, verschwunden, sich aus dem Staub gemacht.“

„Seltsame Redewendung.“

Ein leichtes Lächeln zuckte über Johns Lippen, aber es erreichte seine Augen nicht. Er wirkte schon die ganze Zeit sehr nachdenklich und leicht verkrampft. Hatte das wieder etwas mit dem Schamgefühl zu tun? „Ist ja auch egal. Sie sind dann nach Hause gekommen und haben schon vor dem Haus nach mir geschrien. Ich … als ich dich gesehen habe … Aman …“ Er ließ den Lappen sinken und seufzte schwer.

Ich drehte mich ganz zu ihm herum. Er sah niedergeschlagen aus, fertig. Die Haare standen ihm wirr vom Kopf ab und ich glaubte, dass die Ringe unter seinen Augen noch schlimmer geworden waren. War das möglich?

„Aman hat dich an mir vorbei ins Haus getragen. Du sahst … du hast …“

„Was hab ich?“ Ich legte ihm meine Hand auf dem Arm. „Sag es mir John, bitte.“

„Du hast geschrien. Du hast vor Schmerz geschrien.“ Er drückte die Lippen aufeinander und wich meinem Blick aus. „Du hattest solche Schmerzen, dass du geschrien hast. Ich bin nur ein Tierarzt, weißt du und trotzdem wollten alle, dass ich dich rette. Aber du sahst so blass aus, hattest Schaum vor dem Mund und deine Augen … man konnte nur noch das Weiße sehen. Was, wenn ich dich nicht hätte retten können?“

Oh Göttin, es musste schlimm für ihn gewesen sein, mich so zu sehen. „Dann hättest du zumindest gewusst, dass du alles getan hast was in deiner Macht stand. Mehr darf niemand von dir erwarten, auch du nicht.“

Er schnaubte. „Wenn das nur so einfach wäre. Ich konnte das Mittel in deinem Blut nicht neutralisieren, es war bereits zu weit in deinen Kreislauf vorgedrungen. Jedem anderem hätte ich einfach ein Gegenmittel gegeben, aber bei dir bin ich mir nicht mal sicher, ob dir nicht vielleicht eine Kochsalzlösung schaden könnte.“

Kochsalzlösung, dieses Wort war mir unbekannt, trotzdem fragte ich nicht nach, ich wollte ihn nicht aus dem Konzept bringen. „Was hast du also getan?“

„Ich habe die Wunde gereinigt, versucht, mit Eis dein Fieber zu senken und darauf gehofft, dass die Schmerzen so groß werden, dass du einfach in Ohnmacht fällst.“ Sein Mundwinkel zuckte, nur wirkte es nicht sehr amüsiert. „Du hast dir sehr viel Zeit gelassen, bis du mir diesen Gefallen getan hast und dann … naja, dann stürmte Janina ins Zimmer. Oder vielleicht hat sie das auch schon vorher gemacht, ich weiß es nicht mehr genau.“

Er seufzte schwer und legte seine Hand auf meine. „Dieser General Silvano Winston hat es irgendwie geschafft, an Bilder von Luan, dir und Aman ranzukommen. Wir vermuten, dass ihr von einer Überwachungskamera aufgenommen worden seid. Er hat die Bilder über die Nachrichten veröffentlicht und euch drei als gemeingefährliche Verbrecher dargestellt, die man unbedingt einsperren muss. Für Hinweise auf Verbleib dieser Personen melden Sie sich bitte beim örtlichen Polizeirevier. Nähern Sie sich ihnen auf keinen Fall, sie könnten bewaffnet sein“, sagte er mit seltsamer Stimme, als versuche er jemanden nachzuahmen.

Ich konnte nur verwirrt den Kopf schütteln. „Ich verstehe nicht, was du da sagst.“

„Schon gut, vergiss es einfach.“ Er nahm wieder den Lappen und begann meinen Arm zu waschen. Es war, als müsste er seine Hände irgendwie beschäftigen, um nicht verrückt zu werden. Die Erinnerung schien ihm arg zuzusetzen. „Ihr werdet jetzt also polizeilich gesucht. Natürlich dauerte es keine zehn Minuten, bis die ersten Bekannten von Luan bei ihm anriefen und fragten, was da los sei. Luan lebt und arbeitet hier seit Jahren, natürlich gibt es viele Menschen die ihn kennen und natürlich war Luan sofort klar, dass es nicht lange dauern konnte, bis die Polizei bei uns auftauchte. Wir mussten also weg und das sofort.“

„Weg? Wie weg? Wohin?“

„Hier hin.“ Er machte eine kleine Bewegung mit seinem Arm, die wohl das Haus einschließen sollte. „Der einzige Ort, den keiner außerhalb der Familie kennt. Du warst kaum in Ohnmacht gefallen, da packten wir schon eilig unsere Sachen ein und fuhren hierher. Leider besserte dein Zustand sich nicht. Dieses Adergeflecht“, – er deutete auf mein Bein – „hat sich in den ersten Stunden rasend schnell über deinen ganzen Körper ausgebreitet, bis hinauf zu deinem Gesicht. Es war …“ Er stockte.

Ich sah die Angst in seinen Augen. Er hat geglaubt, dass ich sterben würde. Oh Göttin, war es mir wirklich so schlecht gegangen?

„Im Wagen sah es einen Moment so aus, als würde es dir besser gehen. Du bist sogar aufgewacht, aber danach … nachdem wir in dieses Haus gekommen sind, hat deine Atmung ein paar Mal ausgesetzt und einmal hat sogar dein Herz aufgehört zu schlagen. Ich konnte dich wiederbeleben, aber …“

Ich drückte seinen Arm. „Ist schon gut, mir ist ja nichts passiert. Du hast mich gerettet, nur daran solltest du denken.“

Er lachte düster. „Ich habe die ganze Zeit nicht einmal geschlafen, weil ich Angst hatte, dass du einfach sterben könntest, wen ich nicht aufpasse. Ich und Aman haben die ganze Zeit bei dir gesessen, haben dich nicht aus den Augen gelassen.“

Aman auch? Aber wo war er dann gewesen, als ich aufgewacht war?

„Erst gestern ging es dir plötzlich etwas besser. Eine Wunderheilung, so etwas habe ich noch nie gesehen. Ich konnte praktisch zusehen, wie das Adergeflecht sich bis auf die kleine Stelle an deinem Bein zurückbildet und Gran hat erst mich und dann Aman gezwungen, wenigstens ein paar Stunden zu schlafen. Deswegen war ich da, als du aufgewacht bist.“

Konnte er meine Geistreden hören? Das war unheimlich.

„Naja und jetzt sitzen wir hier in diesem Haus fest, weil ihr drei angeblich gesuchte Schwerverbrecher seid und den Rest von uns als Geiseln haltet.“

„Wie bitte?“ Das verstand ich nicht.

„Das wird in den Nachrichten gesagt, das Top-Thema momentan. Wenn jemand einen von uns sieht, soll er sich bitte sofort an die örtliche Polizei wenden.“

„Du meinst die grünen Krieger.“

Er nickte. „Genau. Und deswegen ist Janina momentan auch so schlecht auf dich zu sprechen. Sie gibt dir an allem die Schuld, weil du es warst, der die Idee zu diesem Plan hatte.“ Er lachte bitter. „Ich hatte zwar immer mal ins Fernsehen gewollt, aber sicher nicht so.“

„Aber … wie hätte ich wissen sollen, dass es so kommt? Das habe ich doch nicht mit Absicht getan! Sie hat kein Recht böse auf mich zu sein.“

„Ich weiß das und du weißt das und sie wird es irgendwann auch noch einsehen. Sie ist im Moment einfach nur ein bisschen neben sich. Die Schwangerschaft und so. In nicht mal einer Woche ist der Geburtstermin. Sie ist einfach nervös und aufgeregt und es macht sie fertig, dass sie ihr Kind unter solchen Umständen bekommen muss.“

Das verstand ich. Ich war hier aufgetaucht und seitdem war ihr geordnetes Leben durcheinander geraten. An ihrer Stelle hätte ich wohl auch mir die Schuld gegeben. „Es tut mir leid.“

„Das braucht es nicht, du hast es ja nicht mit Absicht gemacht. Hier.“ Er hielt mir den Lappen hin.

Als ich ihn nur fragend ansah, grinste er schief.

„Ich denke dass du dich vorn allein waschen kannst.“

„Natürlich kann ich das.“ Ich nahm den Lappen und tauchte ihn ins warme Wasser. „Und was passiert nun?“

Er zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Erst mal werden wir in diesem Haus bleiben müssen.“

„Wem gehört dieses Haus eigentlich?“ Es roch nicht nach John und auch nach keinem anderen. Es roch alt, unbenutzt.

John versteifte sich ganz leicht. „Ähm … mir.“

„Du hast ein eigenes Haus?“, fragte ich erstaunt. „Warum lebst du dann bei den anderen?“

„Weil ich dieses Haus nicht besonders mag. Es ist … ich mag es einfach nicht.“

„Warum nicht?“

Er drückte die Lippen aufeinander und wich meinem Blick aus.

„Du musst es nicht sagen, wenn du nicht willst.“

„Nein, es ist nur … es ist albern.“

„Dann sag es mir, ich werde auch nicht lachen“, versprach ich. „Das schwöre ich bei meiner Göttin.“

„Ich denke sowieso nicht, dass du lachen würdest. Es ist nur …“ Er seufzte und erhob sich vom Wannenrand. Zwei Schritte zur Tür, verschränkte Arme und Drehung und die beiden Schritte wieder zurück. Er wirkte nervös. „Dieses Haus ist verflucht, deswegen mag ich es nicht“, sagte er dann gerade heraus.

Mir entglitt jeglicher Gesichtsmuskel. „Verflucht?“

„Ich … nein, oh Gott, so hab ich das nicht gemeint.“ Hastig hockte er sich vor die Wanne und ergriff meine Hand. „Damit meinte ich nur, dass ich mit diesem Ort keine guten Erinnerungen verbinde.“

„Es liegt also kein Fluch auf diesem Haus?“ Ich kannte Flüche, ich hatte die Folgen von ihnen gesehen. Sie waren unberechenbar und konnten ungeahnte, grausame Dinge vollbringen. Es gab nicht viele Dinge vor denen ich mich fürchtete, aber ein Fluch war ein unsichtbarer Gegner, gegen den man nicht kämpfen konnte. Ich wollte bestimmt nicht in einem Haus sein das verflucht war.

„Nein, das Haus selber ist völlig in Ordnung, denke ich.“

„Was ist es dann, was dich von hier fernhält.“

Nach diesen Worten war es eine ganze Weile still im Bad. John hatte den Blick auf meine Hand gesenkt, die er noch immer festhielt.

„John?“

„An diesem Ort bin ich geboren.“

„Aber das ist doch nicht schrecklich, das ist wunderbar.“

Das zauberte ihm ein kleines Lächeln auf die Lippen, doch seine Augen blickten gequält. „Weißt du noch, was ich dir über meine Geburt erzählt habe? Über meine leibliche Mutter?“

„Deine Mina?“ Und ob ich mich erinnerte, sie war gestorben, als sie ihm das Leben schenkte. Bei meinen Geistreden daran verstand ich, was er sagen wollte. Dies war der Ort seiner Geburt, der Ort an dem seine Mina das Leben verlor, um ihm das seine zu schenken. „Oh John.“

„Ja, sie ist in diesem Haus gestorben. Danach lebten mein Vater und ich hier mehrere Jahre allein, bis er Alexandra kennenlernte.“ Er lachte bitter. „Es war wohl Liebe auf dem ersten Blick gewesen. Zumindest behauptet Luan das immer. Und, naja, die beiden haben geheiratet, ich wurde von Alexandra adoptiert und wir sind bei ihr eingezogen. Sie war eigentlich die einzige Mutter, die ich jemals hatte.  In dieses Haus sind wir dann nur noch selten gekommen. Und einmal …“

Er sah so gequält aus, dass es sogar mir wehtat. „Du musst es nicht sagen.“

„Nein, es ist nur … schwer.“ Er atmete tief durch. „Wir sind hergefahren, um das Haus für den Winter vorzubereiten. Alexandra, Papa und ich. Du musst wissen, dieses Haus liegt sehr weit draußen im Wald und nachts gibt es hier kein Licht. Wir waren gerade losgefahren, um zum Abendessen Zuhause zu sein, als wir von einem Regenschauer überrascht wurden. Es war so dunkel, dass man kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte. Damals war ich gerade mal neun Jahre. Janina und Pascal waren erst vier und zwei. Pascal hat überhaupt keine Erinnerungen an unsere Eltern.“

Wie schlimm das sein musste.

„Aber egal. Ich kann mich von dieser Nach nicht mehr an viel erinnern, nur das da plötzlich ein Reh vor den Wagen gesprungen war. Mein Vater versuchte noch auszuweichen und fuhr dabei frontal gegen einen Baum. Meine Eltern waren auf der Stelle tot, ich nicht. Mir hatte sich ein Metallstück von der Karosserie in die Brust gebohrt.“ Er zeigte auf die Stelle, auf der ich schon die lange Narbe gesehen hatte. „Ich weiß nicht mehr, was danach geschehen war. Ich muss Stunden bewusstlos in diesem Wagen gesessen haben, bevor Luan uns suchen kam. Für meine Eltern konnte er nichts mehr tun, mich aber brachte er ins Krankenhaus.“

„Oh John, ich teile deinen Schmerz.“ Ich beugte mich nach vorn und nahm ihn in die Arme, drückte ihn genauso fest an mich, versuchte ihn zu trösten. Er hatte nicht nur eine Mina bei seiner Geburt verloren, sondern auch noch seine andere Mina und seinen Fafa bei einem Unfall. Grausames Schicksal, warum strafst du immer die Falschen?

„Danach sind wir bei Gran und Luan aufgewachsen.“

Luan hatte ihn großgezogen? „Und du hast nie gemerkt, dass er nicht älter geworden ist?“

„Manchmal ist mir das schon seltsam vorgekommen, aber irgendwie habe ich das nie wirklich realisiert.“ Er löste sich leicht von mir und auch, wenn er glaubte, dass ich es nicht sah, bekam ich sehr wohl mit, wie er verstohlen eine Träne aus seinem Auge wischte. „Wahrscheinlich fällt einem das nicht so auf, wenn man immer mit der gleichen Person zusammenlebt.“

Ich glaubte eher, dass Gran ihn regelmäßig verzaubert hatte, damit er nichts bemerkte. Warum nur hatten sie ihm nie von ihrer Wahrheit berichtet? Das verstand ich nicht.

Er wich ein Stück zurück und sah an sich herunter. „Guck, du hast mich ganz nass gemacht.“

Irgendwie traf mich dieser eine Satz mehr als alles andere, was er gesagt hatte. Damit versuchte er, sich seinen Schmerz nicht anmerken zu lassen, doch auch wenn diese Tragödie bereits Jahre zurücklag, diese Wunde war noch lange nicht geheilt. Ich sah es in seinen Augen, sah den Schmerz. 

Oh Göttin, Mina meines Volkes, hilf John, damit sein Geist heilen kann.

 

°°°

 

Mit einem viel zu großen Shirt, das mir um die Beine schlackerte, klammerte ich mich an Johns Hals, als er mich vorsichtig die Treppe hinunter trug. Dieses Haus war sehr klein. Oben gab es zwei Zimmer und ein Bad, der Rest war unten.

„Soll ich nicht lieber selber laufen.“

„Nein, ich will nicht, dass du dein Bein zu sehr beanspruchst“, ächzte er.

Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich John ein wenig zu schwer war, trotzdem ließ er es sich nicht nehmen, mich auf dieser Art hinunter zu bringen. Ich ließ es mir gefallen und kuschelte mich an ihn. Obwohl ich vor noch nicht allzu langer Zeit erst aufgewacht war, kroch die Müdigkeit bereits wieder zurück in meine Knochen und dass hatte nichts damit zu tun, das langsam die Nacht über uns kam. Ich war einfach erschöpft, so seltsam das auch klang.

John ächzte, als er die letzten Stufen hinter sich gebracht hatte und nach links in einen gemütlichen Wohnraum trat. Genau wie die Wände war auch der Boden hier aus Holz. Zwei kleine Chaiselonguen standen um einen Tisch herum. Auf der einen saß Gran mit einer Tasse in der Hand. Luan hatte sich auf der anderen niedergelassen und las eine sehr dünne Schrift auf grauem Papier. Darauf waren auch Bilder. Wie konnte nur jemand so klein und gleichmäßig schreiben?

„Lilith!“ Nebka stürzte sich auf mich und John, kaum dass wir durch die Tür getreten waren. Gerade hatte sie noch einem Band hinterhergejagt, mit dem Pascal mit ihr gespielt hatte und nun versuchte sie, an Johns Beinen hinaufzuklettern.

Er verzog das Gesicht. Kein Wunder, trug er doch nur ein kurzes Beinkleid und sie hatte Krallen, die sich in seine Haut bohrten. 

„Lass das, Nebka“, maßregelte ich sie. „Du tust John weh.“

Mit einem erschrockenen Ausdruck im Gesicht, sprang sie zurück. „Aber … das wollte ich nicht.“ Und dann fing sie einfach an zu weinen. Dicke Tränen rollten ihr über das Fell.

Oh Göttin, was war denn nun los?

Pascal seufzte. „Nicht schon wieder. Hey, Kleines, das hat sie doch gar nicht böse gemeint.“ Er hockte sich neben sie und nahm sie in den Arm, aber sie weinte einfach weiter.

Nicht schon wieder? „Was hat sie denn?“

John lächelte verkniffen, als er mich zur Chaiselongue hinübertrug und mich neben Destina setzte. „Seit Aman dich vor vier Tagen ins Haus gebracht hat, ist sie so. Sie fängt ständig an zu weinen und lässt sich dann kaum noch beruhigen. Ich glaube, es war dein Anblick, den sie nicht verkraftet. “

Oh nein. Wenn sie mich so gesehen hatte war es nicht verwunderlich, dass sie das traumatisiert hatte. Erst verlor sie ihren Leiter und dann musste sie mich so sehen. „Gib sie mir mal“, sagte ich zu Pascal und streckte die Arme nach der Kleinen aus.

John ging aus dem Weg und setzte sich neben Luan, als sein kleiner Brestern mir Nebka übergab. Dabei fiel mir auf, dass wir gar nicht vollzählig waren. Janina war nicht da und Aman und Acco fehlten auch. Wo waren sie nur?

Was nur redete ich im Geist über sie? Nebka war doch gerade viel wichtiger. Dieses kleine Fellbündel, das sich zu einem festen Knäuel auf meinem Schoß zusammenrollte und leise weinte. „Meen-Suavis, nicht weinen, es wir doch alles wieder gut.“

Sie schien mich nicht zu hören.

„Es ist doch alles gut. Ich bin wieder da, ich bin gesund, du brauchst keine Angst haben. Ich lasse dich nicht allein, das habe ich doch versprochen. “

Wieder reagierte sie nicht und ich konnte nichts anderes machen, als sie fester in meine Arme zu ziehen und zu hoffen, dass sie das etwas trösten würde. Erst in diesem Moment, als ich sie im Arm hielt, wurde mir das Gesamtbild richtig bewusst. Alles war schiefgegangen. Gillette befand sich noch immer in der Gefangenschaft von Kriegergeneral Silvano Winston, mein Plan hatte dafür gesorgt, dass nun eine ganze Familie auf der Flucht war und zu allem Überfluss hatte mein Anblick die Kleine so traumatisiert, dass ihr Verhalten gestört war. Warum nur hatte das alles so kommen müssen? Warum hatten wir nicht wenigstens meine Amicus befreien können? Ich verstand es nicht. Es war so ungerecht.

„Warum ziehst du so ein Gesicht, Mädchen?“, wollte Destina wissen und nahm mit dem Blick auf mich einen Schluck aus ihrer Tasse.

„Meine Amicus, wir haben sie nicht gefunden.“ Sie waren noch immer fort, unerreichbar für mich.

„Mach dir keine Sorgen.“ Sie tätschelte rüde meine Hand. „Du lebst und alles andere wird sich finden.“

„Da kann ich vielleicht helfen.“

Ich war nicht die Einzige, die ihren Blick überrascht auf Pascal richtete.

„Was?“, fragte er argwöhnisch. „Warum guckt ihr mich alle so an? Nicht geglaubt, dass ich auch mal etwas Produktives zustande bringe?“

„Von dir? Auf keinen Fall“, sagte John gerade heraus. Dafür bekam er von seinem Brestern einen echt finsteren Blick.

„Hab ich aber. Ich musste nur darauf warten, dass Lilith aufwacht.“

„Ich?“

„Klar.“ Er lächelte mich an, dabei fiel mir zum ersten Mal auf, dass er einen angeschlagenen Zahn hatte, eine kleine Ecke, die fehlte. „Ich hab schon vor Jahren einen Findezauber entwickelt, weil meine Schlüssel sich irgendwie immer selbständig machen und …“

„Du meinst wohl, du bist ein Idiot, der sie ständig irgendwo verliert“, warf John ein.

Das wurde von Pascal schlichtweg nicht beachtet. „Und diesen Zauber habe ich nun ein wenig modifiziert. Jetzt sollte es mir damit möglich sein, deine … äh, wie nennst du den Typen immer?“

„Amicus, Freund“, half Luan ihm. Er hatte die Schrift in seiner Hand in der Zwischenzeit zusammengefaltet und auf den Tisch gelegt.

Pascal nickte. „Ja, genau den meine ich. Mit diesem Zauber sollte es mir nun möglich sein, diesen Ami-Typen zu finden – immer vorausgesetzt, du hast eine gute Beziehung zu ihm, also eine Verbindung gewissermaßen.“

Er strahlte mich an, doch ich war von seinen Worten nicht ganz so begeistert wie er. Durch einen Zauber seiner Magie und meinem Zutun wollte er meine Amicus finden? Nein, das wollte mir so gar nicht gefallen. „Wozu brauchst du mich dabei?“

„Naja, ich kenne den Kerl ja nicht, du schon. Um ihn zu finden brauche ich etwas – oder in diesem Fall jemanden – der eine Verbindung zu dem Gesuchten hat. Ich habe bereits Aman gefragt, ob er mir helfen kann, du weißt schon, als du bewusstlos warst, aber der kennt ihn ja auch nicht. Ohne dich geht es nicht.“

Ich bezweifelte, dass Aman es getan hätte, wenn es in seiner Möglichkeit läge. Mit der Magie eines Magiers in Berührung zu kommen widerstrebte ihm sicher genauso sehr wie mir. Obwohl, nachdem was er heute getan hatte, wusste ich gar nicht mehr wie ich ihn einschätzen sollte. Allein die Geistreden an diesen Moment riefen ein seltsam kribbelndes Gefühl an einer Stelle hervor, wo ich so etwas nicht fühlen sollte. Eigentlich sollte ich hinsichtlich dieses Mannes überhaupt nichts empfinden, außer einem angemessenen Maß an Misstrauen. Nicht, dass es sich nicht gut anfühlte, es war einfach … er war … ein Lykanthrop sollte sowas nicht bei mir auslösen können, das war alles.

Oh Göttin, wie hatte er es nur geschafft, mich so zu verwirren? Wie hatte das geschehen können? Das war doch …

„Lilith? Hallo, bist du noch anwesend?“ Pascal wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum, worauf ich vorsichtshalber meinen Kopf ein wenig zurückzog, da er gefährlich nahe an meiner Nase vorbeischlug.

„Ja, natürlich.“

Er zog eine Augenbraue nach oben. „Und warum reagierst du dann nicht?“

„Ich war nur vertieft in meine Geistreden.“ Ich seufzte und strich Nebka über das seidige Fell. Ihr kleiner Körper bebte noch immer, auch wenn sie nicht mehr weinte.

„Und was ist nun? Sollen wir es probieren?“

„Ich … ich weiß nicht.“ Die Verlockung mit seiner Magie in Berührung zu kommen, hielt sich bei mir in Grenzen. „Sag, wie soll das ablaufen.“

„Ganz einfach. Ich hole eine Karte auf die du deine Hand legst, dann lege ich meine Hand auf deine und lasse ein wenig Magie fließen. Es sollte wie ein Magnet funktionieren. Du wirst von deinen Amicus praktisch magisch angezogen.“ Er lächelte über einen Witz, den ich nicht verstand. „Mit meiner Hilfe kannst du uns dann zeigen, wo wir deinen Typen finden. Also, was ist?“

Ich biss mir auf die Lippe. Es hörte sich so einfach an, aber … „Warum haben wir es denn nicht gleich so gemacht? Dann wäre das alles nicht passiert. Warum erst jetzt?“

Pascals Lächeln erlosch. „Weil wir vorher alle der Meinung waren, genau zu wissen, wo sich dein Kumpel aufhält, es hätte also keinen Sinn gemacht. Hätten wir gewusst, dass er gar nicht mehr da ist …“ Er ließ das Ende des Satzes offen und kratzte sich seufzend am Kopf. „Ich habe einfach nicht daran gedacht, dass wir es vielleicht auf diese Art noch einmal überprüfen könnten, bevor ihr losgezogen seid.“

„Das hat keiner von uns“, sagte Destina und stellte ihre Tasse auf den Tisch. „Und sich jetzt Vorwürfe zu machen bringt uns auch nicht weiter.“ Sie richtete ihren Blick auf mich. „Du hast jetzt die Wahl. Hilfst du Pascal, damit er dir und deinem Amicus helfen kann, oder lässt du es. Aber sei dir dabei Gewiss, dass wir ihn vermutlich nicht anders finden werden.“

Nach diesen Worten lagen aller Augen im Raum auf mir. Sie hatte Recht, ohne diesen Zauber würde ich Gillette nur sehr schwer ausfindig machen können, wenn es überhaupt möglich war, aber … er war immer noch ein Magier. Seine Rasse war dafür verantwortlich, dass ich überhaupt hier war. Konnte ich ihm wirklich trauen?

In die folgende Stille hinein, wirkte das Öffnen der Haustür wie ein durchdringendes Donnern. Acco taperte, gefolgt von Aman, in den Raum und brachte einen Schwall kühler Nachtluft mit hinein. Er kam direkt zu mir und stupste Nebka an, doch mein Blick galt Aman. Die Kratzwunden an seiner Schulter hatte er geheilt, nur noch die drei Schrammen an seinem Kinn zeugten von dem, was geschehen war.

Er hatte nur einen kurzen Blick für mich übrig, bevor er sich abwandte und aus dem Raum ging.

Ach, so wollte er es jetzt also halten. Bitte, wie er wollte. Ich brauchte ihn nicht, auch nicht, um meine Amicus zu finden, „In Ordnung“, sagte ich dann zu Pascal und wandte ihm meinen Blick zu. „Tun wir es.“

Er lächelte. „Okay, warte hier, bin gleich mit der Karte zurück.“ Und schon war er weg.

„Was tun?“, kam es da von völlig unerwarteter Stelle. Aman stand wieder im Türrahmen.

War er nicht erst vor einem Moment gegangen? „Er hilft mir meine Amicus zu finden.“

„Der Zauber.“

Ich nickte. „Er wird mir helfen.“ Dich brauche ich nicht.

Aman kniff die Augen zusammen, kam wieder in den Raum und lehnte sich dort gegen die Wand.

„Du brauchst nicht zu warten, geh ruhig.“ So wie vorhin, als du ohne ein Wort verschwunden warst.

„Das werde ich nicht, du weißt warum.“

Du gehörst mir! Wütend verengte ich die Augen zu Schlitzen. „Wage es ja nicht“, warnte ich ihn im drohenden Ton. Er sollte nicht versuchen, mich zu bevormunden, oder all meine Taten auf Schritt und Tritt zu begleiten, denn ich gehörte ihm definitiv nicht. Das sich ein Lykanthrop diese Frechheit überhaupt heraus nahm war schon kaum zu glauben.

Wir beide lieferten uns ein Blickduell, das von den anderen fragend betrachtet wurde. Natürlich wussten sie nicht, worum genau es ging und ich dankte meiner Göttin dafür. Dieser Peinlichkeit wollte ich mich nun nicht auch noch aussetzen müssen.

„Aman“, kam es in einem seltsam tadelnden Ton von Acco, worauf der Lykanthrop unwillig knurrte.

Das fand sogar ich seltsam.

Mit einem „Ich hab sie“ kam Pascal zurück ins Zimmer gestürmt und ließ sich ungestüm neben mir auf dem Boden fallen. Unbedacht schob er die Gegenstände auf dem Tisch einfach zur Seite – und kippte dabei auch noch fast den Tee von Destina um – um Platz für die Karte zu schaffen. Eine solche Karte hatte ich noch nie gesehen. Sie war voll von geraden Doppellinien in verschiedenen Farben, mir unbekannten Schriftzeichen und seltsamen Symbolen. Mit welchem Stift konnte man so etwas zeichnen?

„Das ist eine Karte von der Stadt und der Umgebung“, erklärte Pascal und breitete sie zur Gänze aus. Oh Göttin, war dieses Papier riesig. Wie hatten sie es nur geschaffen so etwas herzustellen? Diese Welt barg wirklich mehr Wunder, als ein Ort voller Magie „Wenn dein Kumpel sich dort irgendwo aufhält, dann müssten wir ihn mit meinem Zauber finden.“

„Und wenn nicht?“, wollte ich wissen.

„Dann muss ich meinen alten Schulatlas rauskramen.“ Er grinste, doch ich verstand den Witz nicht. „Also, können wir loslegen?“

„Was muss ich tun?“

„Leg deine Hand einfach auf die Karte. Ich lege meine Hand dann auf deine und lasse meine Magie ein wenig fließen. Wenn alles klappt, müsstest du eine Art Sog in deinen Fingern spüren. Gib ihm nach und er wird dir zeigen, wo wir nach deinem Freund suchen müssen.“

Das hatte ich verstanden. „In Ordnung.“ Ja, in Ordnung. Ich musste noch einmal tief durchatmen, bevor ich meine Hand bewegen konnte. Ich wusste, dass es wichtig war und glaubte nicht mehr, dass Pascal etwas Listiges im Sinn hatte. Trotzdem kostete es mich einiges an Überwindung, die Handfläche auf das Papier zu legen, um mich seiner Magie auszusetzen.

Als er seine Hand dann auf meine legte, zuckte ich zusammen. „Ganz ruhig, ich fresse dich schon nicht“, lächelte er. „Da müsste ich wahrscheinlich mehr Angst haben, von dir verspeist zu werden.“

Ich fand an seinen Worten nichts Komisches, als ignorierte ich sie.

John und auch die anderen beugten sich ein wenig vor, um besser sehen zu können. Selbst Aman ließ sich dazu herab, seinen Platz an der Wand zu verlassen, um sich zu uns gesellen.

„Bereit?“, fragte Pascal dann

Ich nickte, auch wenn ich es nicht war.

 

°°°°°

Kapitel Neunzehn

„Gut, bleib einfach ganz entspannt und lass dich von der Magie führen. Es wird gleich etwas kribbeln, das ist normal, also keine Angst.“

„Ich habe keine Angst.“ Ich war eine angehende Kriegerin meiner Göttin Bastet, das Wort Angst existierte in meinem Wortschatz gar nicht. Dafür aber das Wort Nervosität und genau das war es, was ich verspürte, als meine Hand unter Pascals plötzlich warm wurde. Es war als strömte etwas in sie hinein und ich musste mich zwingen, sie nicht wegzuziehen.

„So ist gut. Schön locker lassen und dabei an deinen Ami-Typ denken. Lass dich einfach führen.“

„In Ordnung.“ Ich ließ in meinen Geist Bilder von Gillette fließen. Von unserer ersten Begegnung, unserer Zeit zusammen, das Essen im Theatrum und meinen Blick auf ihm, durch den großen Kasten mit dem Fenster. Meine Hand schien zu vibrieren. Ein Finger zuckte, ohne mein Zutun. Das war ein seltsames Gefühl.

Unsere Zuschauer neigten sich neugierig vor, doch viel zu sehen gab es nicht. Es tat sich nicht.

Pascal murmelte lautlos Worte, den Blick starr auf die Karte und … da spürte ich es. Vor Schreck riss ich meine Hand weg und barg sie an meiner Brust. „Oh Göttin, was war das?“

Die anderen schienen über meine plötzliche Reaktion nicht weniger erschrocken.

Pascal sah mich mit großen Augen an. „Ich … was meinst du?“

„Da war … ich weiß nicht. Es war, als hinge ich am Haken einer Angel. Es war … merkwürdig.“

„Dann hat es geklappt.“ Seine Augen leuchteten. „Leg deine Hand wieder hin, wir versuchen es gleich noch mal und nicht wieder wegzucken.“  Er wartete, aber ich rührte mich nicht. „Na was ist denn?“, fragte er leicht ungeduldig.

Wie sollte ich das erklären? Ich mochte dieses Gefühl einfach nicht. Es war, als würde ich von jemand anderen in Besitz genommen und das war unheimlich. Doch wenn ich mich weigerte, würde ich Gillette und Kaio keinen Schritt näher kommen. Warum nur musste das so schwer sein? Warum nur musste diese Last der Pflichten auf meinen Schultern ruhen? Jetzt reiß dich mal zusammen, du wolltest doch eine große Kriegerin werden und deine Geschichte zusammen mit der von Rolex und Sandrin in den Geschichtsschriften lesen. Das hier ist dein Weg. 

Wortlos legte ich meine Hand zurück auf die Karte und zog sie auch nicht zurück, als Pascal mich berührte. Wieder spürte ich diese Wärme, die meine Hand fast glühen ließ. Ich spürte das Zucken der Muskeln, spürte wie sie sich bewegen wollte und musste mich zwingen entspannt zu bleiben und mich von der Magie führen zu lassen. Dieses Gefühl war wirklich nichts für mich.

Noch ein Zucken und dann begann meine Hand sich ganz von selbst über die Karte zu bewegen. Das zu sehen war … seltsam. Ich wusste, dass es meine Hand war, sah wie sie sich langsam vorwärts schob und wusste doch gleichzeitig, dass ich nichts damit zu tun hatte. Mich dem nicht zu entziehen, verlangte meine ganze Selbstbeherrschung.

„So ist gut“, sagte Pascal, als der Sog stärker wurde.

Destina beugte sich ein wenig vor, um zu sehen, in welches Gebiet meine Hand rutschte.

„Genau so, gleich haben wir es geschafft.“

Ich wusste nicht ob Pascal mit mir, oder mit sich selber sprach, also schwieg ich und konzentrierte mich allein auf die Karte. Meine Hand wurde wärmer. Plötzlich zuckte sie zur Seite, strebte auf einem Punkt am Rand zu. Etwas wie ein Blitz zuckte durch meinen Finger, als ich eine grüne Fläche berührte. Ich reagierte, bevor ich darüber nachdenken konnte und riss meine Hand weg. „Heillos, das hat wehgetan!“, schimpfte ich und steckte meinen Finger in den Mund. Pascal bekam einen sehr vorwurfsvollen Blick. Das hatte er sicher mit Absicht getan. Diese Magier waren halt doch alle gleich, egal in welcher Welt sie geboren wurden.

Aman knurrte.

Pascal machte große Augen. „Aber … ich …“

„Wo?“, fragte Destina.

Ich verstand nicht.

„Auf der Karte. Zeig die genaue Stelle, an der es wehgetan hat.“

Ich sollte die Stelle zeigen? „Warum?“

„Es hat wehgetan, weil der Magiestrom dort am stärksten war. Die Verbindung hat sich geschlossen, wenn du so willst und es hat einen Rückstoß gegeben, um dir das zu verdeutlichen.“ Da ich sie weiter ansah, wie ein Hirsch in der Brunft, seufzte sie. „Da wo es wehgetan hat, werden wir deine Freunde finden.“

Das hatte ich verstanden. Ich beugte mich vor, hielt dabei Nebka fest, damit sie nicht runterfallen konnte und suchte die Stelle. Es widerstrebte mir, sie noch einmal zu berühren, also deutete ich einfach auf sie. „Hier“, sagte ich und zeigte auf einen großen, grünen Bereich, weit abseits der ganzen Linien. „Dort habe ich es gespürt.“

„Dann werden wir sie dort finden.“

„Das ist ein Wald“, sagte Pascal.

Auch Luan beugte sich vor. „Aber wir müssen damit rechnen, auch dort auf Widerstand zu treffen. General Winston hat sehr deutlich gemacht, dass er nicht gewillt ist, den Ailuranthropen gehen zu lassen.“ Er runzelte die Stirn. „Keine Straßen, keine nähergelegenen Siedlungen oder Wohngebiete.“

„Vielleicht ein geheimer, militärischer Stützpunkt, unter der Erde, damit er von Satelliten nicht erfasst werden kann und sie in Ruhe ihre perfiden Forschungen an unschuldigen Kreaturen vollziehen können?“, überlegte Pascal.

John zog eine Augenbraue hoch. „Du siehst definitiv zu oft in die Röhre.“

„Und du steckst deine Nase viel zu oft in Bücher.“

„Aus denen lernt man wenigstens etwas.“

„Ja, wie das Leben an einem vorbei zieht.“

Luan lehnte sich zurück. „Pascals Überlegung ist gar nicht so verkehrt. Zumindest der Teil mit dem militärischen Stützpunkt.“

John schaute überrascht und Pascal triumphierend.

„Überlegt doch mal selber“, erläuterte Luan weiter. „General Winston musste Gillette an einen Ort bringen der nahe und doch abgelegen ist. Außerdem hat er gesagt, dass er mit Wesen wie uns bereits zu tun hatte. Er muss eine Ort haben, an dem er Gillette bringen konnte und da er auch sehr schnell am Standort des Geschehens war, um ihn einzufangen, kann dieser nicht so weit weg sein.“

„Nicht weit weg?“, fragte Pascal skeptisch.  „Das ist mindestens vier Stunden entfernt.“

„Von diesem Haus aus, ja, aber von der Stadt? Das sind höchsten zwei Stunden und zwar bei starkem Verkehr.“

„Wie dem auch sei.“ Destina beugte sich vor und nahm ihren Tee. „Bevor wir die Gegebenheiten dort nicht erkundet haben, können wir gar nichts tun. Daher schlage ich vor, wir gehen jetzt alle zu Bett und brechen morgen sehr früh auf, um uns dort etwas umzusehen. Danach können wir weiter planen.“

Luan nickte. „Das ist wahrscheinlich das Beste.“

Ich runzelte die Stirn. „Das heißt, ihr wollt vorerst gar nichts unternehmen?“

„Nicht, bevor wir nicht wissen, womit wir es zu tun haben“, antwortete Destina. „Wir können nicht riskieren, dass so etwas wie beim letzten Mal noch einmal passiert.“

Das verstand ich. Es passte mir zwar nicht, aber ich verstand es.

„Du musst verstehen, Lilith“, sagte sie weiter, „wir sind keine Krieger, wir sind einfache Bürger. Außer Luan hatte niemand von uns je etwas mit solchen Dingen zu tun. Wir verstehen diese Welt weit besser als du oder Aman, aber auch uns sind Grenzen gesetzt und bevor wir nicht wissen womit genau wir es zu tun bekommen, können wir nichts unternehmen. Das hier ist nicht deine vertraute Heimat, hier herrschen andere Regeln und an diese müssen wir uns halten - zumindest in einem gewissen Maß.“

„Ich verstehe es und ich bin deiner Meinung“, stimmte ich ihr zu. Ich richtete meinen Blick wieder auf das grüne Fleckchen, das den Wald darstellen sollte. „Wir gehen morgen dort hin und erkunden das Gelände. Danach werden wir weiter sehen.“

„Du gehst nicht mit“, kam es da nicht sehr überraschend von Aman.

Ich verkniff mir ein leidliches Seufzen und beachtete ihn gar nicht. Seine herrische Ader konnte er an jemand anderem auslassen, aber nicht an mir. „Ich werde mitgehen“, sagte ich, ohne ihn anzusehen und studierte das Gelände, soweit das auf dieser Karte möglich war.

„Du gehst nicht mit und das ist mein letztes Wort. Dir mag es besser gehen, aber dein Bein ist noch nicht wieder geheilt.“

Als wenn ich mir von ihm etwas verbieten lassen würde. Aber nun gut, dann spielte ich sein Spielchen eben mit. Ich sah zu ihm auf. „Mein Bein? Nur deswegen soll ich nicht gehen? Wäre dies nicht, würdest du nichts dagegen sagen?“

Misstrauisch verengte er die Augen. „Ja. Ich will nicht, dass du ein Rückfall erleidest und es dir wieder schlechter geht. Dort wird niemand sein, der dir helfen kann.“

Sehr langsam breitete sich ein Lächeln auf meinen Lippen aus. Tja, Katzen waren ja bekannt für ihre List und Heimtücke, also würde Aman jetzt genau das bekommen, was er gesagt hatte. „Ich stimme dir zu.“

Er machte den Mund auf, nur um ihn gleicht wieder zuzuklappen und funkelte mich an. Er wusste, dass da etwas im Busch lauerte, konnte aber nicht mit dem Finger drauf deuten und dass störte ihn.

Er war auch nicht der Einzige, den ich mit meinen Worten mundtot bekommen hatte. Sie alle starten mich an, als sei ich eine Nixe, die an Land spazierte.

„Du stimmst mir zu?“, brachte der herrische Lykanthrop dann doch über die Lippen.

Ich lächelte lieblich. „Natürlich. Ich werde meine Gesundheit sicher nicht riskieren.“

„Aber?“

„Nichts aber“, gab ich völlig unschuldig zurück.

Aman musterte mich einmal von oben bis unten, verschränkte dann die Arme vor der Brust und sah auf mich herunter. „Ich glaube deinen Worten nicht.“

„Das ist dein Problem.“ Ich drehte mich auf dem Polster herum und lächelte John an. „Du kommst doch sicher mit, oder? Wenn unterwegs etwas ein sollte, dann kannst du mir helfen.“

John schien etwas verdutzt. „Ich … äh …“

„Ich habe gesagt, du kommst nicht mit!“, unterbrach Aman rüde.

„Nein, du sagtest, du willst nicht, dass ich mitkomme, weil dort niemand ist, der mir helfen kann, sollte es mir schlechter gehen. Aber John ist Heiler, er hat mir bereits das Leben gerettet und wird mir helfen können, sollte es mir schlechter gehen – was ich nicht glaube.“

Aman beugte sich vor, so dass sein Gesicht nur einem Hauch vor meinem war. Ich wich nicht zurück, diesen Gefallen würde ich ihm sicher nicht tun. Mit seiner Drohgebärde kam er bei mir nicht weiter. „Du weißt genau, dass ich das nicht gemeint habe. Wir werden Stunden unterwegs sein und solltest du einen Rückfall erleiden, kann dein toller Heiler dir auch nicht helfen.“

Ich kniff die Augen zusammen. Seine abfälligen Worte über John gefielen mir nicht. „Du bist doch nur sauer, weil er es gewesen ist, der mich geheilt hatte, während du nutzlos daneben saßest und nichts tun konntest.“ Sein Knurren ließ mich völlig ungerührt. „Und nur damit du es weißt, du bist nicht für mich verantwortlich, ich treffe meine eigenen Entscheidungen. Ich komme mit, ob es dir passt oder nicht und John wird mich begleiten, denn ich bin nicht so unbedarft, wie du immer behauptest.“ Ich stand auf. „Komm John, wir gehen schlafen.“

„Äh …“, machte der Mensch.

„Lilith, du gehst jetzt nicht!“, wütete Aman mir hinterher, als ich mit Nebka auf dem Arm den Raum verließ.

„Was sollte mich daran hindern?“, fragte ich spitz.

Die Antwort kam in Form eines wütenden Lykanthropen, der mir folgte, mich am Arm packte und  mich damit zwang stehen zu bleiben. „Du wirst nicht mitkommen!“

„Warum nicht? Nenn mir nur einen guten Grund und ich werde hier bleiben. Und fang jetzt ja nicht wieder mit meinem Bein an. John wird mitkommen und sollte es wirklich zum Schlimmsten kommen, kann er mir helfen. Also sag mir, was könnte mich sonst dazu bewegen, dass ich euch nicht begleite?“

„Ich“, sagte er und zeigte nachdrücklich auf sich selber. „Ich bewege dich dazu zu bleiben!“

„Du hast nicht das Recht dazu!“

Seine Augen funkelten wütend. „Doch, das habe ich.“

„Nein.“

Er knurrte. „Du gehst nicht.“

„Du wirst mich festbinden müssen, um mich daran zu hindern.“

„Lass es nicht darauf ankommen, Lilith.“

Ich kniff die Augen zusammen. „Drohst du mir etwa?“

„Äh … Leute?“ John drückte sich unbehaglich am Türrahmen herum. „Ihr solltet euch vielleicht mal ein wenig beruhigen.“

„Ich spreche keine Drohungen aus“, sagte Aman, ohne dem Menschen zu beachten, „nur Versprechen.“

„Du kannst deine Versprechen behalten, ich will sie nicht und ich werde mitkommen.“ Ich riss mich aus seinem Griff los, schnappte an ihm vorbei Johns Hand und zog ihn hinter mir her die Treppe hinauf. Das Knurren wurde einfach ignoriert.

„Lilith, vielleicht …“

„Kein Wort.“ Ich stieß die Tür zu dem Zimmer auf, in dem ich erwacht war und setzte Nebka auf das Bett. Wie konnte dieser Lykanthrop es nur wagen mir Vorschriften zu machen? Was bildete er sich ein, wer er war? Er konnte so oft behaupten, irgendein Recht an mir zu haben, wie er wollte, dadurch würden seine Worte nicht wahr, den er hatte es nicht und ich würde mich nicht daran hindern lassen, die Suche nach Gillette zu begleiten. „Wir sollten schlafen. Destina hat gesagt, dass wir morgen sehr früh aufstehen müssen und du bist müde.“ Ich schlug die Decke zur Seite und setzte mich aufs Bett.

John stand noch unschlüssig an der Tür. „Bist du sicher?“

Ob ich sicher sei? „Natürlich. Deine Augenringe könnte ich über Kilometer hinweg sehen.“

„Nein, ich meine, das mit Morgen, dass du sie begleitest.“

Meine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Willst du mir etwa auch sagen, dass ich hier bleiben soll?“

„Du bist fast gestorben und gerade erst aufgewacht. Ich meine ja nur …“ Er verstummte und rieb sich durch das Gesicht. „Versteh mich nicht falsch, ich …“

„Zur Sachmet noch mal, es soll nur ein Erkundungsausflug werden, einholen von Informationen. Was glaubt ihr nur alle was da geschehen kann?“

„Ich weiß es nicht“, sagte er müde. „Ich weiß nicht was dabei alles geschehen kann.“

„Ach John. Gar nichts kann dabei passieren, oder glaubst du, ich würde dich mitnehmen, wenn es gefährlich wäre?“

Bei meinen Worten verzog er das Gesicht. „Lilith, ich muss dir einmal sagen, dass du mit deinen Worten das unglaubliche Talent hast, immer ins Schwarze zu treffen.“ Er schüttelte den Kopf.

„Ins Schwarze treffen?“

„Vergiss es einfach.“ Er kam in den Raum und schloss die Tür hinter sich, bevor er sich bis auf ein kurzes Beinkleid entkleidete. Kurz stand er unschlüssig im Raum und sah sich die beiden anderen Lager an, nur um dann neben mich ins Bett zu klettern.

Ich zauderte nicht lange, kuschelte mich an ihn, kaum dass er lag und zog mir auch Nebka in die Arme.

John zog die Decke über uns und legte dann zögernd einen Arm um mich.

„Das Licht ist noch an“, murmelte ich.

„Das ist nicht schlimm, Pascal und Aman schlafen auch in diesem Raum, sie werden es ausmachen.“

Sie schliefen auch hier? „Die anderen Lager sind für sie“, stellte ich fest.

„Ja. In diesem Haus ist nicht so viel Platz wie in dem anderen. Wir vier müssen hier schlafen. Luan und Janina teilen sich das kleine Zimmer nebenan und Gran schläft auf der Ausziehcouch im Wohnzimmer.“

Ein paar der Worte verstand ich nicht, fragte aber nicht nach, dafür war ich einfach zu müde. Ich gähnte so laut, dass mein Kiefer knackte und kuschelte mein Gesicht dann an Johns Brust.

Er lachte leise.

„Was ist so witzig?“, fragte ich schläfrig.

„Du, ich. Wer hätte gedacht, dass wir …“ Er verstummte.

„Das wir was?“

„Ach nichts, schlaf jetzt.“

Das konnte ich nicht, nicht wenn seine Worte mich so neugierig machten. Ich schlug die Augen auf und bemerkte, dass er mich beobachtete. „Sag schon.“

Sein Mund blieb geschlossen, wenigstens für einen Moment. „Naja, vor ein paar Tagen hätte ich mir wegen dir fast in die Hose gemacht und jetzt … ähm, jetzt liegst du in meinen Armen.“

Ach, das meinte er. „Das ist doch nicht ungewöhnlich, ich mag dich.“ Ich schloss wieder die Augen.

Lange Zeit blieb es ruhig und ich war schon fast im Land der Götter, als er mir beinahe andächtig über das Gesicht strich. „Ich mag dich auch, Lilith.“

 

°°°

 

Seufzend lehnte ich meinen Kopf gegen das kühle Fenster. Draußen war es noch dunkel und ich hatte vorsorglich nichts gegessen, bevor ich ins Auto gestiegen war. Trotzdem war mir wieder schlecht. Mein Magen mochte dieses Gefährt einfach nicht. Warum nur hatten die anderen kein solches Problem damit? Das war ungerecht.

Ich schloss meine müden Augen an der kühlen Scheibe. Die Nacht war viel zu kurz gewesen und nachdem Aman in das Zimmer gekommen war, hatte der Schlaf mich einfach nicht umschlingen wollten. Die ganze Zeit hatte ich das Gefühl gehabt, von ihm beobachtet zu werden und weder das sanfte Atmen von John, noch das laute Schnarchen von Pascal hatten mich ablenken können. Das Nebka die ganze Nacht immer wieder um sich getreten hatte, war mir auch nicht gerade zum Vorteil gereicht.

Aber am schlimmsten war es kurz vor dem Aufbruch heute gewesen, als ich ihr erklärte, dass sie mit Janina und Destina zurückbleiben musste – dieser Ausflug war einfach nichts für einen kleinen Sermo wie sie. Erst hatte sie geweint und sich nicht beruhigen lassen, dann bekam sie einen Wutanfall, in dem sie Pascal gekratzt hatte und dann wurde sie einfach ganz ruhig und schlich mit hängendem Schwanz aus dem Zimmer.

Ich hatte die ganze Zeit befürchtet, dass so etwas passieren würde. Der Tod ihres Leiters war ein schwerer Schlag für so ein kleines und unschuldiges Geschöpf. Sie musste es erst noch verarbeiten, aber es war in den letzten Tagen so viel passiert, dass sie dazu noch gar keine Zeit hatte. Ich konnte nur hoffen, dass ihr Geist sich wieder erholen würde, aber das konnte uns nur die Zeit zeigen.

Langsam tauchte der Horizont in einen rötlichen Schein, der die Morgendämmerung ankündigte. Wir waren bereits seit Stunden unterwegs. So jedenfalls kam es mir vor – und auch meinem Magen.

Wir waren in dem Minivan von John unterwegs – so nannte er dieses silbergraue Gefährt. Er saß mit Luan vorn und unterhielt sich leise, doch das konnte mich nicht von der Anwesenheit Amans neben mir ablenken. Was war nur los mit mir, dass ich ihn seit gestern so stark wahrnahm? Göttertod, das war doch nicht normal! Auch Pascal, der mit uns zusammen im hinteren Bereich mir gegenüber saß und leise vor sich hin schnarchte, konnte die Nähe zu diesem Lykanthropen nicht weniger … naja, nah machen.

„´tschuldigung“, murmelte da plötzlich Acco, der im Fußraum zwischen unseren Sitzen lag.

Im ersten Moment wusste ich nicht wofür er sich entschuldigte, doch dann roch ich es. „Oh Göttin, Acco! Was hast du gefressen?!“ Ich wedelte mit der Hand vor der Nase, doch dieser anomale Geruch wollte sich nicht so einfach vertreiben lassen.

Auch Aman lehnte sich von seinem Sermo weg und verzog angewidert das Gesicht.

„Ich hab mich doch entschuldigt“, verteidigte sich der Wildhund und legte beleidigt die Ohren an. „Ich halte ihn schon eine ganze Weile zurück, aber jetzt ging es eben nicht mehr.“

Das wollte ich gar nicht so genau wissen. Ich tastete an der Scheibe entlang, um etwas frische Luft hinein zu lassen. Mir war schon schlecht und Accos Verdauungstrakt machte es nicht gerade besser, aber diese Scheibe ließ sich nicht bewegen. „Wie macht man das auf, John?“

Durch den kleinen Spiegel mittig an der Decke, warf er einen Blick nach hinten. „Da ist so ein kleiner Hebel, den musst du nach oben ziehen, dann kannst du das Fenster öffnen.“

Der Hebel war schnell gefunden, doch er wollte sich nicht ziehen lassen, egal wie viel Mühe ich mir gab. „Das geht nicht.“

„Ja, der klemmt ein wenig, musst du mehrmals versuchen.“

Das tat ich, aber es regte sich trotzdem nicht. Um einen besseren Halt zu bekommen, kniete ich mich sogar auf meinen Sitz, doch dieser Hebel wollte sich einfach nicht bewegen lassen.

Als ich hinter mir auf dem Poster plötzlich Bewegung spürte, drückte ich mich hastig zur Seite und sah Aman mit großen Augen an. Doch der griff einfach an mir vorbei zu dem Öffnungsmechanismus und zog. Es klickte und einen Moment später konnte er die Scheibe zur Seite schieben, um köstliche frische Luft einzulassen. Dabei ließ er mich die ganze Zeit nicht aus den Augen und kam mir für mein Verständnis viel zu nahe. Wieder spürte ich dieses namenlose Kribbeln, das ich aus meinem Körper verbannen wollte.

„Bitte“, sagte er sehr leise.

„Ähm … vergelts?“ Zur Sachmet, warum nur wackelte meine Stimme so nervös? Ich drückte mich tiefer in das Polster, als er seine Hand vom Fenster nahm. Warum rückte er denn nicht ab? War er noch näher gekommen, oder bildete ich mir das nur ein?

„Du solltest noch etwas schlafen bis wir da sind, du siehst müde aus.“

Ich spürte die Wärme seiner Berührung bereits, bevor seine Finger über meine Wange strichen und brauchte einen Moment zu lange, um seine Hand wegzuschlagen, ja, musste mich fast dazu zwingen. Und dann fing er meine Hand in der Luft auch noch ab. „Lass das!“, fauchte ich ihn an und zog an meinem Arm. Er verstärkte seinen Griff nur. „Du sollst das nicht tun, das habe ich dir bereits gesagt!“

Er kam noch näher und flüsterte mir Worte ins Ohr, die mir nicht nur einen heißen Schauer über den Rücken jagten, sondern mich bis unter die Haarwurzel erröten ließen. „Hör nicht auf, mach weiter.“ Etwas Feuchtes, Warmes berührte mein Ohrläppchen und ich brauchte einen Moment, um mir klar darüber zu werden, dass es seine Zunge war, die ich da spürte. „Das war es, was du gesagt hast.“

„Das war … da hatte ich … das hat nichts zu bedeuten!“ Ich stieß ihn von mir, zurück in seinen Sitz und fauchte. Am liebsten hätte ich ihm das selbstgefällige Lächeln aus dem Gesicht gekratzt „Komm mir nicht noch mal so nahe, oder du lernst meine Krallen kennen.“ Ich drehte mich von ihm weg und begegnete dabei Johns Blick in dem kleinen, länglichen Spiegel an der Decke. Er war nachdenklich, verschlossen. Ich wandte mich von ihm ab und sah aus dem Fenster, bis wir an unser Ziel gelangten. Nur Pascals Schnarchen störte hin und wieder die Ruhe.

Hör nicht auf, mach weiter. Das war es, was du gesagt hast. Es hatte nichts zu bedeuten.

 

°°°

 

Eine Berührung an der Schulter ließ mich langsam die Augen öffnen. Ich blinzelte. Wo war ich? Mir gegenüber streckte sich Pascal laut gähnend auf seinem Sitz. Vorn nestelte John unter dem großen Rad herum. Ach ja, der Minivan. Ich lag auf der Rückbank und … Moment, ich lag?

„Lilith, wach auf.“

Wieder eine Berührung, dieses Mal an meiner Wange. Oh Göttin, ich lag mit dem Kopf auf Amans Schoß! Hastig richtete ich mich auf und knallte mit dem Kopf gegen etwas Hartes.

„Ahhh! Zur Sachmet, sei doch vorsichtiger.“

„Mistiger Göttertod!“, fluchte ich, das tat wirklich weh. Ich hatte Amans Kinn getroffen. Bei dem Steinschädel wunderte mich der Schmerz in meinem Kopf nicht. „Warum soll ich vorsichtiger sein? Ich habe dir gesagt, du sollst mich nicht mehr berühren!“

„Du hast dich auf mich gelegt!“

„Das kannst du nur behaupten, weil ich geschlafen habe und das Gegenteil nicht beweisen kann!“

„Göttertod noch eins, warum sollte ich mir das ausdenken?“

„Woher soll ich das wissen?“, fragte ich spitz und drängte mich an ihm vorbei zur Schiebetür, die gerade von Luan von außen aufgezogen wurde. „Ich habe keine Ahnung, was in dem Kopf eines Hundes vor sich geht.“

Pascal lachte leise, verstummte aber sofort wieder, als Aman ihn anknurrte. „Nenn mich noch einmal Hund, dann lege ich dich wie ein kleines Kätzchen übers Knie!“

Acco sprang vor mir hinaus. Sofort war er mit der Nase am Boden und suchte nach hilfreichen Fährten.

„Dazu müsstest du mich erst mal bekommen!“ Mit erhobener Nase stieg ich aus dem Gefährt und beachtete sein Grollen gar nicht. Mich interessierte viel mehr die Umgebung. Hohe Bäume soweit das Auge reichte. Keine erkennbaren Straßen oder Wege. Mein erster Eindruck von diesem Ort war Einsamkeit, soweit das Auge reichte.

„Hier kommen wir mit dem Wagen nicht weiter“, sagte Luan und ließ seinen Blick schweifen. „Den Rest müssen wir zu Fuß gehen.“

„Das stört mich nicht, ich bin es gewohnt, meine Wege zu Fuß zu beschreiten.“ Frühestens in einem Jahr wäre das nicht mehr so gewesen, denn erst da hätte Sian sich in einen Amentrum verwandeln können. Ach Sian. Was mein Hübscher wohl gerade machte? Dachte er an mich?

„Wenn ich mich nicht täusche, müssen wir da entlang“, holte Luan mich aus meinen Geistreden und deutete nach links von uns. „Dort müsste das Gebiet sein, das du uns auf der Karte gezeigt hast.“

Auch John gesellte sich zu uns. „Die Gegend wirkt ziemlich verlassen und unzugänglich.“

„Ist doch klar“, sagte Pascal. „Oder glaubst du, dass ein geheimer militärischer Stützpunkt öffentlich gemacht wird?“

John verdrehte die Augen. „Fängt das schon wieder an.“

Ich trat einen Schritt zur Seite, als Aman aus dem Wagen stieg, um ihm nicht zu nahe zu kommen und ignorierte auch seinen bösen Blick. Die Witterung der Gerüche um mich herum interessierte mich im Augenblick viel mehr. Der Wind trug die einzigartige Mischung dieses Waldes zu mir. Wild und Natur. Zerfall und Geburt. Außergewöhnliche Düfte mir unbekannter Blüten und Tiere. Dieser Ort war voll von Gerüchen, die meine Sinne aufblühen ließen.

„An einem Ort, an den Menschen einen von uns hingebracht haben“, sagte da Aman, „müsste es doch eigentlich nach Menschen riechen.“

Nach Menschen? Ich spitzte die Ohren.

„Nicht, wenn sie einen anderen Weg nehmen, als den, den wir gewählt haben“, widersprach Luan, doch ich konnte seinen Worten nicht ganz zustimmen. Natürlich war der Geruch auf den Pfaden, die sie beschritten, stärker, aber der Wind trug ihn auch in die anderen Himmelsrichtungen davon.

Ich drehte mich zu der Gruppe Männern herum. „Wie weit sind wir von unserem Ziel eigentlich entfernt?“

„Nicht weit.“ Luan hatte wieder seinen kleinen schwarzen Kasten in der Hand und tippte konzentriert darauf herum. „In etwas mehr als zehn Minuten müssten wir den Bereich erreichen, den du uns gezeigt hast.“ Er ging los, ohne auf den Weg zu achten, oder auf uns zu warten. „Denkt immer daran euch ruhig und unauffällig zu verhalten und Pascal?“

„Ja?“

„Lass den Mund geschlossen, bis ich dir etwas anderes sage.“

„Hmpf“, machte der junge Magier und folgte mit verschränkten Armen.

Auch ich schlug die Richtung der anderen ein, behielt dabei nicht nur die Umgebung im Blick, sondern auch diesen aufdringlichen und herrischen Lykanthropen, der mir während des Laufs immer näher zu kommen schien und mich dabei ins Abseits drängte, da ich versuchte auf Abstand zu bleiben.

„Ihr beide benehmt euch echt albern“, kommentierte Acco und trappte an uns vorbei nach vorn, zu den anderen.

Der Wind wehte eine Strähne meines Haares in mein Gesicht, als ich dem Sermo böse hinterher schaute. Nicht ich verhielt mich hier albern, sondern nur dieser Krieger, der aus, wissen die Götter was für Gründen, immer …

Der Wind drehte und trieb einen Geruch in meine Richtung, der mich auf der Stelle erstarren ließ. Es war nur eine ganz schwache Note in der Luft, aber ich war mir sicher, dass das der Geruch eines Ailuranthropen war und die Witterung schien auch noch gar nicht so alt zu sein. Doch wir liefen in die falsche Richtung, der Wind kam von rechts.

„Was hast du?“, wollte Aman wissen, der mit mir zusammen gestoppt hatte.

„Ailuranthrop“, sagte ich nur, wirbelte herum und rannte los.

„Nein, Lilith, warte!“

Nein, ich würde nicht warten. Ich hatte meine Spur, konnte ihr folgen um an mein Ziel zu gelangen.

„Lilith, das ist nicht unauffällig!“, zischte Aman mir hinterher. Ich hörte wie er mir folgte, hörte seine schnellen Schritte auf dem laubigen Boden. Er konnte nicht mehr als eine Armeslänge von mir entfernt sein. „Lilith!“

Als wenn ich mir von ihm etwas sagen lassen würde. Ich hatte … abrupt blieb ich stehen, als mir eine andere Situation in den Geist kam, in der ich nicht auf meine Umgebung geachtet hatte. Ein Schuss, Schmerz und am Ende Naaru.

So plötzlich wie ich hielt, konnte Aman nicht mehr abbremsen und lief nicht nur in mich rein, sondern rannte mich gleich um. Fluchend gingen wir beide in einem Knäuel aus Armen und Beinen zu Boden und rollten durch den Schwung über das Laub, bevor ein Baum uns zum Halt brachte. Ein Glück nur für mich, dass er es war, der mit dem harten Holz kollidierte und ich ihn als Dämpfer benutzen konnte. Trotzdem behagte es mir nicht, ihm so nahe zu sein.

Ich schimpfte über ihn und fluchte, während ich versuchte, mich von ihm frei zu machen. Konnte er denn nicht aufpassen?

„Du bist plötzlich stehen geblieben, nicht ich“, verteidigte er sich.

„Du wolltest doch, dass ich stehen bleibe!“ Ich kletterte von ihm herunter und krabbelte ein kleines Stück weg. Mein Ellenbogen brannte und ein kurzer Blick darauf zeigte mir, dass ich ihn mir aufgeschürft hatte.

Auch Aman richtete sich auf und nahm einen Kratzer an der Wade in Augenschein. „Du hättest gar nicht erst loslaufen sollen!“

Von hinten näherten sich schnelle Schritte, schwere Schritte, unsere Begleiter, die wohl nicht sofort mitbekommen hatten, dass wir in die andere Richtung gelaufen waren.

„Ich habe nur etwas gerochen, dass ich überprüfen wollte. Du hättest nicht so nahe hinter mir laufen müssen. Das ist deine schuld!“ Ich zeige auf die kleine, unbedeutende Schürfwunde und schloss sie dann mit viel Tam-Tam unter seinen Augen. Ich hoffte, dass er sich deswegen schlecht fühlen würde, doch stattdessen bekam er wieder dieses Glitzern in den Augen. Das veranlasste mich dazu, meine Zunge sehr schnell wieder in meinem Mund verschwinden zu lassen.

„Mach nur so weiter, Lilith, dann wirst du schon sehen, was du davon hast.“

Was ich davon hatte? Was sollte das nun wieder bedeuten?

Hinter mir kamen Luan und die beiden Brestern an. Der Vampir war der Einzige von ihnen, der nicht keuchte. „Was ist geschehen?“

Aman deutete mit dem Kopf in meine Richtung. „Lilith hat einen Ailuranthropen gerochen.“ Er runzelte die Stirn. „Aber Menschen kann ich noch immer nicht ausmachen.“

Er hatte Recht. Was mir vorher nicht aufgefallen war, war nun so deutlich wie ein Warnsignal. Warum roch es hier nach Ailuranthrop, aber nicht nach Mensch, wenn doch sie es gewesen waren, die meine Amicus hier her gebracht hatten und … Moment. Waren das überhaupt meine Amicus? Ich wusste es nicht. Der Geruch war so schwach und durchsetzt mit den Düften der Natur, dass ich ihn nicht genau ausmachen konnte. „Wir sollten auf jeden Fall vorsichtig sein.“

„Ich war es nicht, der einfach losgelaufen ist, ohne die Umgebung zu sondieren.“

Das brachte Aman von mir einen giftigen Blick an. „Ja, oh großer Krieger. Deine Macht ist genauso erhaben wie du selber, was würde ich nur ohne dich tun?“ Ich rappelte mich wieder auf die Beine und zupfte Blätter von meiner Kleidung. Eine Jeans und einen Pullover, so hatte John das genannt. Ich mochte sie nicht.

Aman knurrte. „Spotte nicht, kleine Kriegerin.“

„Kleine Kriegerin?“ Ich hob eine Augenbraue. „Seit wann das denn? Das letzte Mal war ich für dich noch ein kleines, stures Kätzchen, dass …“

„Könnt ihr jetzt mal mit dem flirten aufhören und euch in Bewegung setzen?“, fragte Pascal genervt und ging an uns vorbei. „Ich habe Hunger und je länger das hier dauert, desto später bekomme ich etwas zwischen die Zähne.“

Ich schaute ihm verwirrt nach. „Flirten?“

„Vergiss einfach, was er gesagt hatte“, kam es von John, der seinem kleinen Brestern verärgerte Blicke hinterher schickte. „Er hört sich viel zu gerne selber reden und glaubt dann auch noch, dass er witzig ist.“

„Ja“, stimmte ich ihm zu. „Das ist mir auch schon aufgefallen.“

Auch Aman erhob sich auf die Beine, ließ den Blick dabei nach allen Seiten wandern, als suchte er etwas.

Ich wollte nicht fragen, es sollte mich nicht interessieren, aber ich musste einfach. In einer solchen Situation war jede Information wichtig. „Warum guckst du so?“

„Acco“, sagte er und richtete den Blick auf mich. „Er ist nicht hier.“

Er hatte Recht, von dem Sermo war weit und breit nichts zu entdecken. „Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?“, fragte ich und ließ meinen Blick über den Ring der Bäume wandern, die uns umschlossen.

„Als er dich als albern bezeichnet hatte“, sagte er gerade heraus, steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen lauten Pfiff aus, der in meinen Ohren nachhalte.

„Mich?“ Ich plusterte die Backen auf. „Du hast dich albern benommen, dich hatte er gemeint, nicht mich.“

Aman sagte nichts dazu, lauschte nur und einen Moment später drang ein lautes Jaulen durch den Wald.

John wirbelte vor Schreck herum. „Was war das?“

„Acco“, sagte ich und stellte mich an seine Seite, um ihn beruhigend über den Arm streichen zu können, denn der Geruch von Furcht ging wieder von ihm aus. Nur schwach, aber er war da. „Du brauchst keine Angst haben, ich passe schon auf, dass dir nichts passiert.“

Ein weiteres durchdringendes Jaulen.

Aman runzelte die Stirn. „Ich glaube er möchte, dass wir zu ihm kommen.“

„Aber die Spur“, widersprach ich sofort.

„Wird auch noch da sein, wenn wir später wieder kommen. Acco würde mich nicht rufen, wenn es nicht wichtig wäre.“

„Wir sollten auf jeden Fall zusammen bleiben“, sagte Luan da, als er mein störrisches Gesicht sah. „Wenn wir uns aus den Augen verlieren, kann sonst was passieren.“

Ich verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber für Pascal gilt das wohl nicht.“

Luan brauchte einen Moment um zu begreifen was ich meinte, drehte sich dann suchend um die eigene Achse und stöhnte. „Dieser Bengel. In Ordnung, ich gehe ihn suchen und ihr geht zu dem Sermo. Ich komme dann mit Pascal hinterher.“

Wieder durchdrang ein Jaulen die Geräusche des Waldes. Dieses mal länger und drängender.

Aman gab kein weiteres Wort von sich, sondern folgte dem Ruf einfach eilig. Ich zögerte noch. Meine Spur, ich konnte sie genau riechen und sie war schon schal. Wenn ich zu lange brauchte, würde sie bei meiner Rückkehr vielleicht verschwunden sein, aber Luan hatte Recht, wir sollten uns nicht unnötig trennen. Mit einem Fluch schnappte ich mir Johns Hand und folgte Aman. Sollte sich das als Fehler erweisen, würde ich diesem Lykanthropen zeigen, wie scharf die Krallen von Bastets Kindern waren. Dass er immer bestimmen wollte, machte mich einfach rasend.

Der Weg war nicht lang und bis auf ein weiteres Jaulen auch ruhig. Acco kam uns bereits auf halbem Wege entgegen gelaufen. „Göttertot, warum braucht ihr nur so lange. Folgt mir, ich habe etwas entdeckt.“ Und schon drehte er sich um und verschwand wieder im Unterholz.

Dieses Mal zögerte ich nicht, warf John nur einen kurzen Blick zu und rannte dann mit ihm zusammen los. Was auch immer den Sermo so in Aufregung versetzt hatte, es musste wichtig sein und ich wollte erfahren, um was es sich handelte.

Direkt hinter Aman brach ich durch ein hüfthohes Gebüsch und …

„Keinen Schritt weiter!“, ordnete der Sermo da an und brachte mich damit zu sofortigem Stehen.

Er stand auf einer Freifläche, die unter Laub begraben war und scharrte ein paar von den getrockneten Blättern beiseite. Ein Stück neben ihm stand ein einsamer, großer Baum, dessen Blätter im Wind raschelten. Diese Art war mir unbekannt, die gab es auf Silthrim nicht. „Hier, das müsst ihr euch ansehen, aber seid vorsichtig, sonst fallt ihr hinein.“

Hineinfallen? Ich runzelte die Stirn. „Bleib hier stehen“, sagte ich zu John und trat dann vorsichtig mit Aman zu Acco.

Dieser Ort war seltsam, irgendwas stimmte hier nicht und als ich mich neben den Sermo hockte, wusste ich auch genau was. Da lagen drei Stöcker, die gerade nebeneinander angeordnet waren. Ich drückte Aman an den Beinen zur Seite, um weitere Blätter wegzuwischen und noch mehr gerade Stöcker kamen zu Vorschein. Quer und diagonal, abgedeckt unter einer Schicht Laub. „Eine Grubenfalle.“ Wer da hinein trat, konnte sich alle Knochen brechen.

Aman ließ den Blick wachsam über die Umgebung gleiten. „Wer mag die hier gebaut haben?“

„Ich weiß nicht, aber sie riecht nach Ailuranthrop.“ Der Sermo setzte sich auf seinen Hintern. „Und das ist bereits die dritte Falle die ich entdeckt habe. Da hinten ist noch eine Würgeschlinge.“

„Würgeschlinge?“ Aman runzelte die Stirn. „Zum Fangen von Beute?“

„Na, um sich einen Gefährten zu fangen, ist sie sicher nicht gedacht.“

Ich ließ die beiden diskutieren und beugte mich etwas weiter vor, schob noch mehr Blätter zur Seite, um in die Grube reinzusehen. Sie war sehr tief, aber sie sah nicht aus, als wenn sie ausgehoben worden war. Sie war alt, musste also schon vorhanden gewesen sein und wurde von dem Fallensteller einfach nur für seine Zwecke genutzt.

„Was ist die Dritte für eine Falle?“, wollte Aman von seinem Geleit wissen.

John trat vorsichtig etwas näher, um auch etwas sehen zu können, passte dabei aber ganz genau auf, wo er seine Füße hinsetzte.

„Eine Stolperfalle.“

Was war das? Ich beugte mich noch ein wenig vor. Die langen Stöcke waren mit Rindenfasern zusammengebunden und … diese Knotentechnik, ich kannte sie. Magister Jelana hatte sie uns gelehrt.

Aman runzelte die Stirn. „Eine Stolperfalle?“

„Drücke ich mich heute irgendwie unklar aus?“ Acco lehnte sich zur Seite, um sich mit dem Hinterbein am Ohr kratzen zu können. „Sie ist da hinten, gespannt zwischen den beiden Kegelbäumen. Ich weiß nicht was passiert, wenn sie ausgelöst wird.“ Er ließ das Bein wieder sinken und schüttelte den Kopf aus. „Und um ehrlich zu sein, ich will es auch gar nicht wissen.“

Aman ging halb um mich herum. „Beug dich nicht so weit vor, sonst fällst du herein.“

Ich musste die Augen schließen und tief einatmen, um ihn nicht wieder anzufauchen. Wie glaubte er bitte, hatte ich es bisher ohne seine ständigen Befehle durchs Leben geschafft? Oh Göttin gib mir Kraft. „Ich weiß schon was ich tue und diese Knoten …“

„Widersprich nicht und tu was ich dir sage.“ Er machte noch einen Schritt zur Seite, direkt unter den Baum. „Ich will nicht, dass du … ahhh!“

Verdutzt riss ich die Augen auf und bewunderte einen Aman, der kopfüberhängend in einem Baum zappelte. Noch eine Falle. „Eine Schlinge.“

Acco neigte den Kopf leicht zur Seite. „Die hab ich wohl übersehen.“

Aman knurrte und versuchte sich nach oben zu hangeln, um an das Seil zu kommen, das ihn gefangen hielt. Das sah lustig aus.

„Warte, ich helfe dir.“ Dieses Leid konnte sich ja keiner mit ansehen. Vorsichtig erhob ich mich und folgte dem Verlauf des Seiles, um die Befestigung zu lösen. Wieder begegnete ich diesem vertrauten Knoten.

Ich hockte mich zu ihm, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Er war um eine Wurzel gebunden. Er verlief über Kreuz, einmal um das Seil, zweimal um die Wurzel und dann wieder über Kreuz. Die Enden waren ausgefranst.

Plötzlich knurrte Aman warnend und auch Acco erhob sich lauernd und wachsam.

Das nahm ich aus den Augenwinkeln wahr, bevor ich die Stimme hörte.

„Lilith?“

Bei dem vertrauten Klang fuhr ich so schnell herum, dass mein Nacken unangenehm knackte. Meine Augen weiteten sich, aber ich konnte trotzdem nicht ganz glauben, was – oder besser wen – ich sah. Das durfte nicht sein. Ich schlug die Hände vor den Mund. „Oh Göttin …“

 

°°°°°

Kapitel Zwanzig

Helles, blondes Haar, das sie erst vor kurzer Zeit kurz geschnitten hatte und die für Leoparden bezeichnenden gelben Augen mit der runden, schwarzen Pupille sahen mir entgegen. Mit ihren hohen Wangenknochen und dem Schmollmund war sie eine ausgesprochene Schönheit. Jeder Zug in ihrem Gesicht war mir so vertraut, wie mein eigenes und doch konnte ich kaum glauben, dass sie hier vor mir stand und mich mit genauso großen Augen ansah, wie ich sie.

„Lilith? Bist du es wirklich?“, fragte sie und kam einen Schritt näher.

„Nim“, wisperte ich ungläubig und ließ meine Hände langsam sinken. Seit unserem letzten Treffen hatte sie sich kaum verändert, doch das wenige fiel mir sofort auf. Ihre Festtagskleidung am Schöpfungstag war zerrissen und dreckig, das Haar nicht mehr so gepflegt wie sonst und die Erschöpfung hatte sich in jeden Zug ihres Gesichts eingegraben. Und doch, trotz all dieser Widrigkeiten, das war Anima.

Ich wusste nicht genau wie es geschah, aber in dem einen Moment lag noch die Grube zwischen uns und im nächsten fielen wir uns in den Armen, drückten uns aneinander, nur um uns zu vergewissern, dass der andere auch wirklich da war. „Oh Nim, Nim, oh Göttin, Nim.“ Ich strich ihr übers Gesicht, durchs Haar, über die Arme und konnte es kaum glauben, sie stand wirklich vor mir. „Was machst du hier, wie kommst du hier her?“

„Das Portal, ich wurde eingesogen.“ Sie wischte sich eine Träne von der Wange, aber es kam gleich eine Neue. „Ich bin hier gelandet, schon vor Tagen. Ich weiß nicht, was das für ein Ort ist und … was trägst du da für Kleidung?“

„Das trägt man hier. Jeans und Pulli. Auch Aman muss das tragen.“ Ich zeigte an mir vorbei auf den Krieger, der gerade versuchte, sich mit einem Messer aus seiner misslichen Lage zu befreien. Ein schneller Schnitt und im nächsten Moment knallte er mit dem Rücken auf dem Boden, dass das Laub nur so nach allen Seiten stob.

„Uhhh“, machte Acco. „Das hat bestimmt wehgetan.“

Aman knurrte nur verärgert. Er war vielleicht in seinen Bewegungen geschmeidig – nicht das mir das aufgefallen wäre –, aber sehr gelenkig war er nicht und war daher mit der Eleganz eines Holzstücks zu Boden gegangen.

Anima machte große Augen. „Ein Krieger.“

„Erinnere ihn bloß nicht daran“, murmelte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Er war schon eingebildet genug, da musste man ihm nicht auch noch verraten, dass auf den ersten Blick zu erkennen war, welchen Status er besaß.

„Aber wie …“

„Er wurde mit mir zusammen durch das Portal gesogen. Er und Acco.“ Ich zeigte auf den Sermo.

Animas Blick glitt auf John, der  sich scheinbar etwas überflüssig vorkam.

„Das ist John. Komm, ich zeig ihn dir.“ Ich schnappte mir ihre Hand und zog sie zu ihm rüber, doch sie bekam ihren Mund nicht auf. Nur ihre Augen, die wurden immer größer.

„Seine Haut.“

Ich lächelte. Das Gleiche hatte ich bei unserer ersten Begegnung auch gedacht. Diese dunkle Haut, von der ich mir immer noch nicht ganz sicher war, ober er sie nicht vielleicht doch vom Kaffee oder dem Nutella hatte. Vielleicht war der Grund aber auch eine Kombination von beidem?

„Ist er krank?“, wollte Anima wissen und ließ den Blick an ihm hinauf und hinab gleiten.

John lächelte leicht schief. „Nein, ich bin so geboren.“

Anima kniff die Augen zusammen, als vermutete sie eine Lüge hinter seinen Worten, schnappte sich seinen Arm und rubbelte auf der Haut herum. Als die Farbe da nicht wegging, schob sie seinen Ärmel etwas hoch und spähte darunter. „Da bist du auch dunkel.“

„Ja.“ Ich nickte eifrig. „Das ist er überall, guck.“ Ich nahm den Saum von seinem Pullover, um ihr seinen Bauch zu zeigen, doch Johns Hände schnellten vor, um mich aufzuhalten.

„Ähm … könntet ihr das lassen?“, fragte er mit einem schiefen Lächeln. „Ich komme mir hier gerade wie ein exotisches Haustier auf einer Auktion vor.“

Aman schnaubte. „Genau das bist du für sie“, sagte er leicht überheblich.

Das gefiel John nicht, ich sah es ihm an. Er kniff die Augen zusammen und fixierte Aman, der sich auf die Füße rappelte und das lose Blattwerk von seiner Kleidung zupfte. An der Wange hatte er eine kleine Schramme. Vom Sturz?

„Besser ein exotisches Haustier, als ein unliebsames Anhängsel“, ließ John dann verlauten.

Acco gab ein Geräusch von sich, das mich an ein unterdrücktes Lachen erinnerte, so als würde er halb daran ersticken.

Neben mir runzelte Anima die Stirn und ließ eine weitere Musterung über John ergehen. „Was bist du? Du riechst komisch.“

John sah sie an, schüttelte dann den Kopf und lachte leise. „Man könnte fast glauben, du seist mit Lilith verwandt, sie sagt auch immer so nette Dinge zu mir.“

„Wie …“ Animas Kopf schnellte herum, als sie ein Geräusch aus der Ferne auffing. Auch ich hörte es. Das Knacken von Ästen und Rascheln von Laub. Leise Stimmen, schwere Schritte. Einen Moment glaubte ich, dass das die grünen Krieger sein könnten, die Gillette und Kaio gefangen hielten, aber dann hörte ich das vertraute Lachen. Das waren Pascal und Luan, die uns suchten.

Anima fauchte wütend und einen Wimpernschlag später war sie im Unterholz verschwunden.

„Mist“, fluchte ich und setzte ihr sofort hinterher. Nicht nur, dass die beiden nichts  von den Fallen wussten, Anima kannte sie auch nicht und sie waren der Feind – zumindest auf Silthrim. Von den Gegebenheiten auf diesem Planten hatte sie noch weniger Ahnung als ich und wenn ich nicht einschritt, konnte etwas Unwiderrufliches geschehen. Das musste ich verhindern.

Ein Ast peitschte mir ins Gesicht, als ich ihr hinterher hetzte und da hörte ich auch schon den Schrei. Pascal. „Nein!“ Ich brach zwischen ein paar ausladenden Sträuchern hindurch und sah gerade, wie Luan meine Amicus von Pascal runterzerrte und ihr einen Stoß versetzte, der sie auf den Rücken warf. Aber so blieb sie nicht lange. Schon in der nächsten Sekunde hockte sie auf allen Vieren und fauchte. Sie hatte sie verwandelt und zeigte dem Feind ihre rasiermesserscharfen Zähne, jederzeit bereit, erneut auf sie loszugehen.

Ich sprang zwischen die Drei, als Anima zu einem weiteren Angriff ansetzten wollte und baute mich schützend vor dem Magier auf. „Nein, Nim, tue ihnen nichts, sie gehören zu mir!“

„Sie gehören …“ Anima stockte, ließ ihren Blick erst auf Luan und dann auf den am Boden liegenden Pascal wandern und kniff die Lippen zu Schlitzen zusammen. „Ist dir bewusst, was du da sprichst?“

„Ja, ich weiß, ein Magier und ein Vampir. Ich konnte es anfangs auch nicht glauben, aber sie sind keine Feinde, nicht hier. Sie haben mir und Aman geholfen.“

Wie aufs Stichwort tauchte er Krieger aus dem Dickicht auf, John gleich hinter sich. Accos Blick fiel auf Pascal. „Irgendwie haben unsere Mädchen es mit dir, was?“

„Geholfen?“ Anima kniff die Augen zusammen und fixierte Luan „Warum?“

„Ich erkläre es dir, aber erst musst du mir versprechen, dass du ihnen nichts tust.“ Göttin, wer hätte geglaubt, dass ich mich einmal schützend vor dem Feind stellte und ihn gegen die Meinen verteidigte? Ich sicher nicht. Nicht bis dieses ganze Desaster über mich zusammengebrochen war.  

Anima schwieg lange, bevor sie sich in einer geschmeidigen Bewegung erhob und wandelte sich zurück in ihre Humangestalt. „In Ordnung, sprich.“

„Gut, aber hör zu, bevor du mich unterbrichst, denn was ich zu sagen habe, ist nicht so leicht zu glauben, auch wenn ich wahr spreche.“ Ich ließ die Arme sinken und warf einen kurzen Blick hinüber zu John. „Du hast sicher schon bemerkt, dass hier ein paar Dinge anders sind als in Ailuran.“

„Das ist mehr als untertrieben.“ Sie ließ Pascal nicht aus den Augen, als der langsam zurück auf die Beine fand, sich dabei aber in meinem Rücken hielt. „Als ich hier landete, fiel Wasser vom Himmel und dieser Wald riecht so seltsam. Es gibt hier Pflanzen und Getier, das mir noch nie unter die Augen gekommen ist und als ich diesen Wald verließ, um meinen Weg nach Hause zu finden, stieß ich auf eine Siedlung, die so groß war, dass ich ihr Ende nicht fand. Und dann erst die Bauten.“

Ich nickte. „Ich weiß, Häuser so groß, dass sie bis zu den Göttern reichen.“

Anima schnaubte. „Die Götter sind das Einzige, was ich hier noch nicht gefunden habe.“

Bei diesen Worten riss ich erschrocken die Augen auf. So was ausgerechnet aus ihrem Mund zu hören, das war Blasphemie. Von ihr hätte ich das nie erwartet.

Meine Amicus beachtete mich gar nicht. „Diese Wesen, ich glaube sie sind wie er.“ Sie zeigte auf John. „Sie sind unvollkommen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Was ist das nur für ein Ort? Wo ist die Magie? Warum ist hier alles so seltsam? Ich verstehe das nicht. Kein Land, das ich je bereist habe, hat Ähnlichkeit mit diesem.“

„Ach Nim.“ Ich verstand sie ja. Für mich war die Ankunft hier nicht weniger seltsam gewesen und noch immer erschreckten und faszinierten mich Dinge in dieser Welt. Nur hatte ich das Glück gehabt auf einen Zusammenschluss zu treffen, der mir nicht nur einiges erklären, sondern auch helfen konnte. Dies war ihr nicht beschert gewesen. „Es tut mir so leid. Wenn ich dich nur früher gefunden hätte, dann wärst du nicht die ganze Zeit allein gewesen.“

„Aber ich bin nicht allein“, sagte sie zur allgemeinen Überraschung.

„Was? Es sind noch andere bei dir?“ Ich wandte den Kopf, als lauerten ihre Begleiter hinter der nächsten Ecke. „Aber wo?“

„In der Höhle“, sagte sie. „Nach meiner Rückkehr aus der Siedlung entdeckte ich ihn. Asokan, den Küchenjungen, du erinnerst dich sicher an ihn.“

Natürlich tat ich das. Jeder im Tempel kannte den Waisenjungen Asokan, der als Mündel dort lebte. Er war eine kleine Berühmtheit, wenn auch nicht ganz freiwillig, denn sein Status baute auf seiner Tollpatschigkeit auf. Wenn er nicht gerade über seine eigenen Füße fiel, ließ er immer alles fallen.

Es war bei uns nicht normal, dass jeder einen Küchenjungen kannte, auch keinen tollpatschigen, dafür war der Tempel einfach zu groß, aber Asokan hatte die Meisterleistung geschafft, Priesterin Tia eine heiße Suppe zu bringen und sie ihr dabei über die ganze Robe zu kippen. Natürlich im vollbesetzten Speiseraum, sodass es jeder sehen konnte. „Ich weiß von wem du sprichst.“ Und dass dieser Zehnjährige hier war, gefiel mir fast genauso wenig, wie Animas Anblick. Er brachte Probleme, wo er auch hinging. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was er hier schon alles angerichtet hatte.

„Und vor zwei Tagen, als er im Wald die Schlingen nach etwas Essbarem absuchte, fand er eine Kriegerin der Lykanthropen.“

Aman horchte auf.  „Eine Kriegerin? Wie heißt sie?“

„Ich weiß nicht.“ Anima schüttelte bedauernd den Kopf. „Sie ist schwer verletzt und ohne Bewusstsein. Noch lebt sie, aber nicht mehr lange. Ich kann ihr hier nicht helfen.“

Eine verletzte Kriegerin? War ihr das Gleiche widerfahren wie Naaru? Ein ungutes Gefühl machte sich in mir breit. Wenn es so war, dann brauchte sie dringend Hilfe. „John“, sagte ich und drehte mich zu dem Menschen herum. Er hatte mich gerettet, er würde sicher auch ihr helfen können. „John kann ihr helfen, er ist Heiler.“

„Äh …“, machte der Mensch. „Ich weiß nicht …“

„Doch, du kannst es.“ Ich lief zu ihm und nahm seine Hand. „Du kannst das, ich weiß es.“

Nervös trat er von einem Bein auf das andere. „Lilith, ich bin Tierarzt. Ich habe nicht die Ausbildung …“

„Aber du musst es versuchen. Nim sagt, sie wird nicht mehr lange leben, wenn sie keine Hilfe bekommt, das kannst du nicht wollen.“

„Nein, das nicht, aber …“ Mit der freien Hand strich er sich fahrig durchs dunkle Haar. „Du musst verstehen, ich …“

„Bitte.“ Ich drückte seine Hand. „Versuch es wenigstens.“

„Ja“, stimmte Pascal mir zu. „Sieh es so, wenn sie abkratzt, dann ist es nicht deine Schuld, sie wäre sowieso … Autsch. He, warum hast du das getan?“ Pascal rieb sich über den Hinterkopf und funkelte Luan böse an.

„Manchmal solltest du deinen Kopf gebrauchen, bevor du den Mund aufmachst“, tadelte ihn der Vampir.

Anima trat an meine Seite und sah zu John auf. Er war einen ganzen Kopf größer als sie. „Bist du nun Heiler, oder nicht? Kannst du ihr helfen?“

John kaute auf seiner Unterlippe herum, sah zu Aman, der in den letzten Minuten deutlich angespannter geworden war, dann zu Anima und schlussendlich zu mir. Seufzend gab er sich geschlagen. „Ich kann es versuchen, aber ihr dürft keine Wunder von mir erwarten.“

„Vergelts.“ Ich drückte ihn kurz an mich und wandte mich dann anima zu. „Zeig uns den Weg.“

Sie sah zu Luan und Pascal und dann wieder zu mir. „Euch allen?“

„Sie sind in Ordnung“, versicherte ich ihr. „Sie haben uns geholfen.“

„Du vertraust ihnen?“

Ich zögerte einen Moment zu lange und das fiel ihr sehr wohl auf. Aber Vertrauen war auch so ein großes Wort. „Ich glaube daran, dass sie Verbündete sind, wie die Lykanthropen.“

Sie warf den beiden einen abschätzenden Blick zu, machte sich dann aber kopfschüttelnd auf den Weg, als könnte sie das Ganze einfach nicht fassen. „Folgt mir, wir müssen hier entlang.“

Ich eilte an ihre Seite und zog John mit mir. Die anderen folgten uns still. „Wie schlimm ist sie denn verletzt?“

„Ich weiß es nicht. Sie will einfach nicht aufwachen.“ Anima schüttelte erneut den Kopf, als wollte sie ihre Geistreden.  loswerden. „Ich glaube, ihr Arm ist gebrochen und sie hat eine schwere Verletzung am Kopf. Ein Stock steckt in ihrem Leib.“

John riss die Augen auf. „Ein Stock?“

„Ja, hier.“ Sie zeigte auf eine Stelle seitlich neben ihrem Bauchnabel. „Ich glaube, sie ist in einen Baum gefallen und hat sich damit selber aufgespießt. Ich habe ihn nicht entfernt, weil uns das im Tempel so beigebracht wurde.“

John nickte. „Ich verstehe. Wenn du ihn entfernst, dann könnte sie einfach verbluten.“ Er hob einen tiefhängenden Ast, unter dem Anima bereits hindurchgeschlüpft war, damit ich mich nicht bücken musste. „Das war eine gute Entscheidung.“

„Ich weiß“, sagte sie selbstsicher. „Sie hat Fieber, aber außer sie mit nassen Lappen zu kühlen und die Wunden ein wenig zu säubern, konnte ich nichts tun.“

Das hörte sich alles andere als gut an, aber mir war es auch nicht gut gegangen und John hatte mir helfen können. Er würde auch diese Kriegerin retten, da war ich mir sicher. John konnte das, er brauchte nur ein wenig Vertrauen zu seinen Fähigkeiten. „John kann sie retten, ich weiß das.“

„Magie würde ihr sicher helfen zu heilen, aber hier gibt es keine.“ Mutlos drückte Anima ihre Lippen aufeinander. „Dieser Ort ist so unwirklich.“

Wenn sie nur wüsste wie unwirklich genau, würde sie mich für wirr im Kopf halten. Ich hatte ihr noch nicht gesagt, dass wir uns auf einem anderen Planeten befanden und im Augenblick hielt ich diese Information auch noch ein wenig zurück. Es gab Wichtigeres zu tun.

„Doch gibt es“, widersprach Pascal und blieb mit dem Fuß an einer Wurzel hängen, die ihn fast zu Fall brachte. „Blöde Pflanze“, grummelte er und sah zu Anima. „Magie meine ich, es gibt sie hier.“

Meine Amicus bedachte ihn mit zusammengekniffenen Augen. „Und wo? Ich fühle sie nicht.“

„Meist an religiösen Orten. Du musst sie sammeln. Hier.“ Pascal zog eine Kette mit einem kristallenen Anhänger daran unter dem Hemdkragen hervor. „Ich sammle sie und speichere sie dann hier drin. Das Ding ist voll. Wenn ihr Magie braucht, dann kann ich euch welche abgeben.“

„Du würdest deine Magie mit uns teilen?“, fragte sie ungläubig.

„Klar.“

Sie blieb abrupt stehen und wirbelte so schnell zu ihm herum, dass er vorsichtshalber einen Schritt vor ihr zurückwich. Ihr misstrauischer Blick war zum Fürchten. „Warum? Was willst du dafür, Magier?“

„Äh, nichts?“ Es klang wie eine Frage. „Wenn ihr sie braucht, könnte ihr sie nehmen, ich besorge mir einfach neue.“ Er versuchte es mit einem vorsichtigen Lächeln. „Und nenn mich Pascal, nicht Magier.“

Sie erwiderte nichts, drehte sich nur um und setzte ihren Weg fort.

 

°°°

 

„Gleich da vorn ist es.“ Anima zeigte auf eine kleine Baumgruppierung an einem Felsen, der mit Sträuchern und Kraut so zugewuchert war, dass es keinen Weg hindurch zu geben schien. Forschen Schrittes führte sie uns vorwärts. Luan und Pascal schienen sie nervös zu machen, oder … nein, es war nur Pascal. Ich runzelte die Stirn. Ja, er war ein Magier und das verunsicherte sie, besonders, da er praktisch in ihrem Rücken lief, aber trotzdem war ihr Verhalten leicht sonderbar.

Der Weg wurde von einzelnen Sonnenstrahlen bestrahlt und der Wind trug die seltsamsten Gerüche dieser Welt zu uns. Ich konnte kleines Getier im Unterholz rascheln hören und in den Bäumen zwitscherten Vögel. Alles wirkte so friedlich und … unwirklich.

Weit um die Baumgruppierung herum führte uns unser Weg und öffnete sich zu einem offenen Blattwerk und weit auseinanderstehenden Bäumen. Irgendwo in der Nähe roch ich abgestandenes Wasser. Das Dickicht wurde loser und öffnete einen Weg in die Baumgruppierung hinein.

„Passt auf die Dornenranken auf“, mahnte Anima uns und machte einen großen Schritt darüber.

Ich musste Johns Hand loslassen, um ihr zu folgen, so schmal war der Weg. Blätter streiften mich und ein kleiner Ast brach. Ich konnte Animas Geruch hier deutlich ausmachen, sie nutzte diesen Weg häufig.

Vor mir tat sich eine kleine Lichtung auf mit einem große Felsen auf, die zu allen Seiten von Bäumen und Sträuchern umgeben war. Genau in deren Mitte lag ein dunkler Schlund hinunter ins Erdreich, der uns einlud seine Finsternis zu erkunden. Wie eine kleine Bastion, ging es mir durch den Kopf. „Wie hast du diesen Ort gefunden?“

„Ich bin auf ihn gefallen.“ Sie warf mir über die Schulter ein kleines Lächeln zu. „Als ich aus dem Portal fiel, bin ich hier gelandet.“

Die Göttin musste sie geführt haben. Einen solchen Ort in dieser Welt zu finden, einen so geschützten Flecken, der ihr auch noch einen Unterschlupf und Wasser in der Nähe bieten konnte, das …

Ich blieb so abrupt stehen, dass es den Anschein hatte, vor mir sei eine Mauer aus dem Nichts gewachsen. Meine Augen weiteten sich. Wie … aber …. Oh Göttin, das durfte nicht auch noch sein. Blieb mir hier denn gar nichts erspart? „Nim!“

Sie blieb kurz stehen, sah zu dem gefesselten Magier am Baum zwischen den Sträuchern und setzte ihren Weg dann einfach fort. „Beachte ihn gar nicht.“

„Aber … was ist mit ihm?“ Er sah aus als würde er schlafen, doch in dieser Position könnte wahrscheinlich nicht mal Jaron schlafen und der betrat das Land der Götter, wann immer er die Gelegenheit dazu bekam.

„Er hat mich beschimpft, da habe ich ihn bewusstlos geschlagen.“

Pascal gab ein krächzendes Geräusch von sich. „Also ihr Mädels macht echt keine halben Sachen, wie?“ Neugierig sah er zu dem Gefesselten, machte aber keinerlei Anstalten, sich ihm zu nähern.

Anima blieb direkt vor dem Eingang stehen und musterte den jungen Magier. „Du bist nicht wütend? Du willst ihn nicht retten?“

„Ähm … ich weiß nicht, bindest du mich dann auch an einen Baum?“ Er ließ die Augenbrauen verspielt hüpfen, was Anima verwirrt die Stirn kräuseln ließ.

John dagegen schien das alles andere als amüsant zu finden? „Du hast ihn niedergeschlagen und dann an einen Baum gebunden?“, fragte er, als könnte er es nicht glauben, auch wenn er die Worte aus seinem eigenen Mund hörte. Fassungslos schüttelte er den Kopf. „Das ist Körperverletzung und Freiheitsberaubung. Kidnapping. Das ist …“

„Nein“, sagte Anima. „Ich habe ihn erst festgebunden und dann niedergeschlagen. Hätte ich es nicht getan, säße ich jetzt wahrscheinlich an diesem Baum und niemand wäre da, der auf die Kriegerin und Asokan aufpassen könnte, oder Nahrung beschafft.“

Da hatte sie Recht. Dieser Mann war ein Magier und eindeutig aus Silthrim. Die Kleindung, die schwarzen Runen, die seinen ganzen Körper zierten, das alles zeigte das deutlich und Magier aus Silthrim waren unsere Feinde. Anima hätte von Glück reden können, wenn er sie nur an einen Baum gebunden hätte.

Acco lachte hämisch. „Welch ein Debakel. Er und seinesgleichen versuchen uns zu schaden und dann wird er in seine eigene Falle gesogen und landet als ein Schnürpaket an einem Baum.“

„Tja“, sagte Pascal. „Das Schicksal hat nun mal einen schrägen Sinn für Humor. Und wenn er sich an hübschen Mädchen vergreifen will, ist er selber schuld, wenn er an einem Baum landet.“

„Wie kannst du das sagen?“, fragte John bestürzt. „Das hier ist ein Verbrechen und wir …“

„John“, sagte Luan ruhig. „Du verstehst das falsch. Dieser Magier ist nicht wie Pascal oder Gran. Auf Silthrim herrscht Krieg, dort heißt es sie oder er.“

„Aber …“

„Lass es einfach gut sein“, beschwor er ihn mit festem Blick.

Pascal runzelte die Stirn. „Warum ist der überall bemalt?“

„Das sind magische Zeichen, die ihn stärken und schützen sollen“, erklärte Luan. „Und …“

Accos Kopf schnellte herum. Er steckte die Nase in die Luft, sog die Witterung, die uns umgab ein und bekam große Augen. „Riechst du das?“, wollte er von Aman wissen.

Ich sah zu dem großen Krieger, der auf einmal sehr bleich wirkte. „Vinea“, hauchte er, stürmte los und drängte sich an Anima vorbei in den Schlund der Höhle. Acco verschwand gleich hinter ihm.

Anima warf mir nur einen kurzen, unergründlichen Blick zu und folgte den beiden dann.

„Vinea?“, fragte Pascal. „Was soll das sein?“

„Ein Frauenname“, sagte Luan.

Pascal neigte den Kopf. „Seine Freundin?“

„Freundin?“, wollte ich wissen.

„Sein Herz“, erklärte Luan.

Sein Herz? Plötzlich wurde mir ganz kalt. Konnte das sein? Aman hatte ein Herz? Aber …

Ich zögerte, riss mich dann aber zusammen und kam ihnen in die Höhle nach. Es war albern, dass Pascals Worte meine Geistreden anstachelten. Und wenn sie sein Herz war, dann ging mich das nichts an. Nur ärgerte es mich. Wenn er eine Frau sein Herz nannte, warum bitte hatte er mich dann berührt? Und die Sache mit dem „Du gehörst mir“, was sollte das dann? Er war halt doch nur ein mieser Hund und ich sollte mich gar nicht lange damit aufhalten, ihn zu erklären, dass brachte nur Kopfschmerzen mit sich.

Ich schüttelte den Kopf in der Hoffnung, meinen Geist wieder rein zu bekommen und ließ mich von der schlundähnlichen Öffnung verschlucken. Das hier war jetzt wichtiger, alles andere konnte warten.

Meine Augen brauchten einen Moment, um sich an das diffuse Licht zu gewöhnen, dass durch kleine Spalten und Ritzen in den Hohlraum der Höhle drang. Sie war nicht groß und mit uns bereits so voll, das John, der mir nachkam, kaum noch reinpasste.

Der kleine Küchenjunge Asokan saß unweit vom Eingang entfernt und beobachtete das weiche Lager aus Blättern und Gräsern, in der hinteren Ecke, um das sich bereits Aman, Acco und Anima geschart hatten. Zwischen ihnen lag der Körper einer jungen Frau, mit langen, bunten Haaren. Die braunen, rötlichen, gelben und weißen Flecken auf dem schwarzen Grundhaar, zeichneten sie deutlich als Wildhund aus. Sie hatte ebenmäßige Gesichtszüge, lange Wimpern und einen hübschen Mund, in dem leicht spitzen Gesicht. Der Körper war der einer Kriegerin, durchtrainiert und sehnig, doch im Moment lag er dort, als hätte ihr Geist ihn bereits verlassen.

Sie lag auf dem Rücken und ein Ast ragte aus ihrer Mitte in die Höhe. Das Fleisch um die Wunde war dick und gerötet und wäre ihr Geist wach, so würde sie sicher vor Schmerz schreien. Ihre Haut wirkte in dem dunklen Lederlendenschurz und der Lederschnürung um ihren Oberkörper noch blasser. Ihr Arm war mit einem Ast und Stoffstreifen gerade gebunden.

Es tat mir leid, um sie, aber bei dem Anblick, wie Aman ihr beinahe zärtlich eine Strähne aus dem verschwitzten Gesichts strich und sich leise murmelnd über sie beugte, verspürte ich einen schmerzhaften Stich, der mich einen Moment den Wunsch ereilen ließ, sie möge nie wieder die Augen aufschlagen.

Ich erschrak so sehr über meine eigenen Geistreden, dass ich einen Schritt rückwärts stolperte und aus der Höhle verschwunden wäre, nur um diesem Anblick zu entgehen, hätte John nicht hinter mir gestanden. So musste ich weiter beobachten, wie er ihr liebevoll über die Arme und das Gesicht strich und ihr beschwörende Worte zuraunte, sie möge die Augen öffnen.

Selbst Acco schien es einmal die Sprache verschlagen zu haben. Er stand nur daneben und wirkte mehr als nur erschrocken, ja fast erschüttert. Er kannte sie. Sehr gut sogar, wenn ich sein Verhalten richtig deutete.

Und Aman auch.

„Du weißt wer sie ist?“, fragte Anima und befeuchtete den Lappen aus ihrem Gesicht in einer Pfütze neu, um ihn ihr wieder auf die Stirn zu legen.

„Sie ist meine Brestern.“ Er drückte die Lippen zu einem festen Strich zusammen.

Seine Brestern? Aman hatte eine Brestern?

„Meine kleine Sicuti“, fügte er noch hinzu.

Oh Göttin, nein. Wie schrecklich.

„Sicuti?“, flüsterte Pascal Luan zu.

Auch der Vampir wirkte sehr betroffen. „Zwillinge. Sie ist seine Zwillingsschwester.“

Entschlossen drehte Aman den Kopf zu uns. „Du, John, heile sie.“

„Ich … äh …“

Auch ich wandte mich zu dem jungen Heiler herum.

„Komm hier her und mach sie gesund!“, befahl Aman nachdrücklich. Seine Stimme klang kräftig, doch darunter verspürte ich etwas wie Furcht.

John sah ziemlich blass aus, trotz seiner dunklen Farbe irgendwie käsig. „Ich … ich weiß nicht, ich … ich brauche meine Tasche.“

„Und wo ist die?“, knurrte er fast.

„Im Wagen.“

„Ich hole sie“, sagte Pascal hinter uns und machte bereits kehrt zum Wagen.

„Nim“, sagte ich, „begleite ihn, damit er nicht in eine deiner Fallen läuft.“ Sie wusste selber am besten, wo sie sie platziert hatte.

Anima riss erst die Augen auf und sah mich dann unwillig an. Die Geistreden mit einem Magier allein dort draußen zu sein, behagte ihr ganz offensichtlich nicht. Trotzdem erhob sie sich und folgte Pascal hinaus. Aber nicht ohne Luan im Vorbeigehen anzugrollen. Ihr war dieses Bündnis, das ich eingegangen war, unheimlich und ich konnte es ihr nicht nachtragen. Auf Silthrim waren sie nun einmal die Feinde.

Aman beobachtete genau, wie John sich langsam seiner Brestern näherte und sich neben sie kniete. Ein kurzer Blick auf sie sagte dem jungen Heiler bereits alles, ich sah es ihm an. Es sah nicht gut um sie aus.

Seine Hand tastete nach Vineas Handgelenk um den Aderschlag darunter zu überprüfen. Seine Augenbrauen zogen sich so sehr zusammen, dass sie zu einer wurden, als er konzentriert zählte. Er legte ihre Hand zurück an die Seite und nahm die Bauchwunder näher unter Betracht. „Ich brauche mehr Licht, so sehe ich nichts.“

„Ich … sollen wir sie nach draußen tragen?“, fragte ich. Hier drinnen war es einfach nicht möglich für mehr Licht zu sorgen. Für ein Lagerfeuer war der Raum zu klein und es gab auch keinen Abzug.

John schüttelte den Kopf. „Nein, sie sollte besser nicht bewegt werden.“ Seine Augen huschten kurz hoch zu ihrem Gesicht, verharrten da einen Moment, nur um dann wieder zu dem Ast zu gleiten. „In meiner Tasche habe ich eine Taschenlampe.“

„Taschenlampe?“

„Ein kleines, tragbares Licht.“

Ah, ich verstand, so etwas wie unsere Leuchtkristalle.

Aman strich wieder durch ihr Gesicht. „Tu endlich etwas.“

„Ich muss auf meine Tasche warten, oder soll ich sie noch schlimmer verletzten, als sie es bereits ist?“

Er knurrte, sagte aber nicht mehr dazu.

Die Anspannung bis zu Pascals und Animas Rückkehr, wuchs in der kleinen Höhle so sehr an, dass sie mit Händen zu greifen war. Die Luft war dick und gesättigt davon.

Alles war still, als der abgehetzte Pascal seinem Brestern die schwarze Tasche überreichte und auch nur Asokan wagte es sich zu bewegen. Er regte den Hals, um besser sehen zu können, als John hektisch in seiner Tasche kramte und ein dünnes Seil mit langen metallenen Bügeln herauszog, die er sich in die Ohren steckte. Am anderen Ende war eine flache, silberne Scheibe, die er auf ihre Brust drückte. Und weiter tat er gar nichts. Nun gut, hin und wieder bewegte er die kleine, flache Scheibe über ihren Brustkorb, aber das war auch schon alles.

Aman beobachtete dieses Verhalten mit Adleraugen. „Was tust du da?“

„Ich horche ihren Herzschlag ab.“ Er schloss die Augen und seufzte dann. „Es hört sich nicht gut an.“

Aman knurrte. „Tu etwas!“

„Das könnte ich vielleicht, wenn du nicht ständig danebenstehen würdest, um mich anzuknurren.“ Er nahm die Metallbügel wieder aus den Ohren und funkelte Aman wütend an. „Falls du dich erinnerst, das hat bei Lilith auch nichts gebracht.“

Schlagartig veränderte sich die Luft um uns. Aman schien zu allen Seiten Kälte auszuströmen, die mit Wut durchtränkt war. „Du hast Lilith fast sterben lassen“, warf er ihm vor.  

„Sie ist gestorben“, hielt er dagegen und begann wieder in seiner Tasche zu kramen. Ein länglicher, silberner Stock kam zum Vorschein. Es klickte und im gleichen Augenblick sande der kleine Stock einen Lichtstrahl ab, der in einem kleinen, runden Kegel an der Wand endete. „Und ich habe sie ins Leben zurückgeholt, also hör auf mich von der Seite anzuknurren und rutsch, damit ich sehe, wie ich ihr helfen kann!“

Oh Göttin, warum mussten die beiden gerade in einem solchen Moment so feindselig zueinander sein? So würden sie ihr nicht helfen können.

„Wenn du …“

„Ach, halt den Mund!“, unterbrach John Aman, bevor der aussprechen konnte, was ihm auf der Zunge lag. Er beugte sich über Vinea, zog ihr Augenlid nach oben und leuchtete mit dem Strahl hinein. Das wiederholte er auf der anderen Seite und ließ das Licht dann auf die Bauchwunde gleiten.

„Ach du Kacke“, tönte es hinter mir von Pascal. Er sah ziemlich blass um die Nase aus.

„Wenn du dich übergeben musst, dann geh raus“, sagte John und drückte leicht gegen die Wunde. Vinea stöhnte und drehte den Kopf auf die andere Seite, aber erwachen tat sie nicht. „Ich kann ihn hier nicht rausziehen, sie muss in ein Krankenhaus, wenn sie überleben soll.“ Als John von der anderen Seite die Wunde abtastete, begann Vineas Körper zu zittern.

Aman knurrte im gleichen Moment, als Vinea begann sich zu verwandeln. Dunkles Fell mit bunten Flecken überzog ihren Körper, ihr Gesicht verlängerte sich zu einer Schnauze und ihre Ohren verschoben sich leicht.

John schreckte zurück und landete auf dem Hintern. Seine Augen waren weit aufgerissen und wie bei meinem Anblick vor ein paar Tagen dünstete er den Geruch nach Angst aus allen Poren.

Pascal neigte den Kopf leicht zur Seite. „Ich glaube nicht, dass wir sie so ins Krankenhaus schaffen können.“

Vinea keuchte. Ihr ganzer Körper zitterte wie die Flügel eines Kolibris und dann ganz plötzlich stieß sie einen Schrei aus, der nicht nur mich erschrocken zusammenfahren ließ. Als sie dann auch noch begann, unkontrolliert um sich zu schlagen, stürzte Anima vor, um sie festzuhalten und sie zurück auf den Boden zu drücken.

„Tu endlich etwas, Heiler!“, forderte Aman wieder und stich seiner Brestern beruhigend über die Arme, aber es half nichts. Sie stöhnte weiter vor Schmerz, aber sie wachte nicht auf. In seinen Augen stand … Panik?

„Und was bitte soll ich tun? Ich kann keine Wunder bewirken!“, fuhr er ihn an. „Pascal, komm her und halte sie fest.“

Es sah fast so aus, als wollte Aman John schlagen. „Aber du bist ein Heiler, also heile sie, sonst …“

„Es bringt nichts, wenn ihr beide euch streitet“, schritt ich ein. „Damit helft ihr beide ihr nicht.“

Wieder knurrte Aman. Dann erhob er sich urplötzlich und rauschte an mir vorbei aus der Höhle. Bei meiner Göttin, das durfte nicht wahr sein. Erst knurrte er Befehle und machte einen Aufstand und dann verschwand er einfach!

„Aman …“, versuchte Luan ihn aufzuhalten, doch er grollte den Vampir nur warnend an und marschierte an ihm vorbei.

Ich kniff die Augen zusammen. „John, bitte tu was du tun kannst.“ Ich musste jetzt erst mal einem Lykanthropen den Kopf waschen. Diesen Verhalten war haarsträubend.

„Lass ihn“, sagte Luan noch zu mir, aber ich ignorierte es einfach, rauschte an ihm und Pascal vorbei, über die Dornenranken herüber, hinter Aman her. „Warum tust du das?!“, rief ich ihm verärgert hinterher, aber er blieb nicht stehen. Mit wütenden Schritten marschierte er in den Wald hinein, ohne darauf zu achten, wohin er seine Füße setzte. „Aman, ich rede mit dir!“

„Geh zurück!“

„Das werde ich nicht!“ Da dieser steinköpfige Hund nicht anhalten wollte, lief ich etwas schneller und packte ihm am Arm, um ihn zum Stehen zu zwingen. „Wie kannst du jetzt weglaufen? Sie ist deine Brestern, sie braucht dich!“

Wütend fuhr er zu mir herum. „Sie braucht einen Heiler und nicht diesen Stümper dort! Du hast doch gehört, er kann ihr nicht helfen!“

Amans Worte fand ich so ungerecht. Vinea war schwer verletzt und John hatte gleich gesagt, dass er keine Wunder vollbringen konnte. „Er hat noch gar nicht richtig angefangen. Er hat seine Untersuchung gerade erst begonnen. Im Gegensatz zu dir, hat er etwas getan und nicht nur rumgeknurrt“, warf ich ihm vor. „Und jetzt läufst du auch noch weg. Wäre das meine Brestern, ich würde sie nicht im Stich lassen!“

Sein ganzer Körper spannte sich an. „Ich lasse sie nicht im Stich, ich … ich …“

„Ich was?“

Er kniff die Lippen zusammen. „Ich kann das nicht“, sagte er fast reuig.

Verwirrung machte sich bei mir breit. „Was kannst du nicht?“

Ein hektischer Atemzug, ein Blick zur Seite, dann riss er sich aus meinem Griff los. „Ich kann nicht bei ihr bleiben.“

„Das sehe ich.“ Abwehrend verschränkte die die Arme vor der Brust. „Aber weglaufen wie ein Feigling, dass kannst du.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich hätte niemals geglaubt, dass du so bist.“

„Ich bin kein Feigling“, grollte er.

„Natürlich bist du das. Sie ist Familie und du rennst weg, wenn sie dich braucht. Warum? Sonst bist du doch auch …“

„Ich habe dich schon schreien hören, bei ihr kann ich das nicht auch noch ertragen!“, brach es dann plötzlich aus ihm heraus. Sein Atem schien immer hektischer zu werden.

Diese Worte ließen mich überrascht die Augen aufreißen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, als er mich wütend und ein wenig ängstlich, ja fast verzweifelt anfunkelte. In seinen Augen lag ein Schmerz, den ich nicht verstand und dessen Bedeutung sich mir nicht erschloss.

Ich bekam nicht mehr die Gelegenheit, tröstende Worte zu sprechen, oder mein Verständnis für ihn auszudrücken, denn er drehte sich einfach herum und marschierte mit langen Schritten davon.

 

°°°°°

Kapitel Einundzwanzig

Eine Berührung an der Schulter ließ mich überrascht herumfahren, doch es war nur Anima, kein Grund zur Beunruhigung.

Leider war es nicht gut, dass ich mich so schnell entspannte, denn sie wirkte ziemlich böse auf mich und als sie sich dann auch noch vorbeugte und mir in die Nase biss, machte ich einen perplexen Satz zurück. „Göttertod noch eins, warum hast du das getan? Das tut weh!“

„Das sollte es auch.“

„Ach und warum bitte? Was hab ich getan, dass du mich beißt?“ Vorsichtig tastete ich über meinen Nasenrücken. Aua, sie hatte mich richtig erwischt. Dass es nicht blutete, wunderte mich, denn es tat wirklich weh.

Sie funkelte mich böse an und verschränkte die Arme dabei vor der Brust. Ich kam mir fast vor, als stände ich vor meiner Mina. Sie hatte das auch immer getan, wenn ich etwas ausgefressen hatte – einschließlich des Nasebeißens. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du fast gestorben bist? Was soll das? Was verheimlichst du mir noch?“

Ich klappte den Mund auf, nur um ihn gleich wieder zu schließen. Mist, das hätte sie gar nicht erfahren sollen. Und wieder konnte ich mich bei diesem herrischen Krieger dafür bedanken, dass er mir das Leben ein klein wenig schwerer machte. „Warum bist du hier und nicht der Höhle?“, versuchte ich sie abzulenken, nur leider schlug dieser Versuch fehl. Ihre Augen kniff sie bis auf einen dünnen Spalt zusammen. So, wie sie mich fixierte, hatte ich wirklich das Gefühl, dass ich vor meiner Mina stand. „Es war halb so schlimm wie es sich angehört hat.“

„Was bedeutet halb so schlimm genau?“

Mist, warum nur wollte sie es so genau wissen?

„Und wag es ja nicht mich anzulügen, ich sehe dir das an der Nasenspitze an.“

Das war leider wahr. Im Lügen war ich ein Versager. Nicht mal kleine Notlügen kamen mir über die Lippen, ohne dass ich mich verriet. Ich konnte einfach nicht Lügen und dass war manchmal sehr anstrengend. „Es war … es …“ Wie sollte ich ihr das erklären? Oh Bastet, hilf! „Hör zu, mir geht es gut, dass kannst du doch sehen, also vergiss doch einfach, was er gesagt hat.“

Animas Fixierung wurde so intensiv, dass ich begann mich darunter zu winden. „Sag es mir, Lilith.“

„Ich war … ich … okay, du hast …“

„Okay? Was ist Okay?“

„Das ist …“ Oh Göttin. Ich ließ mich wenig elegant auf meinem Hintern plumpsen. Es war wohl an der Zeit, ihr einiges zu erklären. „Setzt dich, ich erzähle es dir.“

„Und keine Lügen.“

„Keine Lügen“, bestätigte ich und sah zu, wie sie mir gegenüber auf dem laubigen Boden Platz nahm. Und dann begann ich ihr von dem Moment an zu erzählen, als ich Amans Hand im Tigersaal packte. „Die greifenden Winde haben uns in einen Wald geschleudert, in einen Wald, der so ganz anders ist, als alles, was wir kennen. Die Gerüche, die Bäume und dann auch noch der Regen, das Wasser vom Himmel fiel.“ Und das war nur der Anfang. Nach und nach erzählte ich ihr sehr genau, was Aman und ich erlebt, gesehen und über diese fremde Welt gelernt hatten. Ich erzählte ihr, wie wir Luan und Janina kennenlernten, wie die beiden und ihre Familie lebten, wie ich John das erste Mal begegnete, den ersten und einzigen Menschen, den ich nicht nur aus der Ferne kannte.

Mit der Tatsache, dass wir uns in einer anderen Welt befanden, konnte sie sich nur schwer abfinden und ich glaubte, sie akzeptierte sie auch nur, weil das so vieles hier erklären konnte. Doch einige Zweifel blieben. Ich konnte sie spüren, in ihren Augen sehen. Wer sollte ihr das verübeln? Ich hatte daran auch noch zu knabbern, obwohl ich in der Zwischenzeit daran glaubte. Es war einfach so unfassbar. Nicht nur, dass Ailuran für uns in unerreichbare Ferne gerückt war, wir befanden uns auch noch in einer ganz anderen Welt. Einer Welt ohne Magie und Götter, einer Welt fern der Heimat.

Ich sprach auch über das Schamgefühl dieser Welt, über das Essen, das Bad, Licht das einfach aufleuchtete, wenn man sich bewegte und über die seltsame Kleidung, in die Aman und ich uns hüllen mussten, als Destina uns zu sich in die Stadt gerufen hatte, damit wir nach dem verlorenen Ailuranthropen suchen konnten. Auch musste ich ihr von Naaru berichten und dass ich versagt hatte. „Nebka ist nun in meiner Obhut, aber es geht ihr nicht gut. Jedenfalls glaube ich das.“

Anima hatte die Hände zu Fäusten geballt, dass die Knöchel nur so weiß hervorstachen. Eine Träne kullerte ihr über die Wange. „Ich hätte ihr helfen können“, flüsterte sie wie für sich selbst.

„Nein, hättest du nicht“, widersprach ich ihr. „Es war schon zu spät. Die Waffen der grünen Krieger haben sie getötet, die gläsernen Pfeile. Niemand hätte ihr noch helfen können.“

„Doch“, widersprach sie mir, „ich hätte ihr helfen können, ich hätte nur da sein müssen.“ Wütend wischte sie sich die Träne von der Wange. „Aber ich saß nur nutzlos in diesem Wald und schaffe es kaum, mich und Asokan zu ernähren.“

„Nim.“ Ich legte ihr eine Hand auf die geballte Faust. „Es war zu spät. Nicht mal die Priester hätten sie mit Hilfe des Tigerauges noch retten können.“

„Das kannst du nicht wissen. Ich hätte es probieren können, aber nun ist es zu spät.“

„Nein, Nim, das …“ Ich verstummte und bekam große Augen, als mir die Bedeutung ihrer Worte plötzlich klar wurde. „Du … du hättest es probieren können?“

Anima kniff die Lippen zusammen, sah sich dann einmal um, ob wir denn auch allen waren und stand entschlossen auf. „Folg mir“, ordnete sie an und kletterte hinauf in den nächsten Baum, einem riesigen Gewächs, das seine Äste wie Arme weit über die anderen Bäume ausgebreitet hatte und ein Zuhause für zahlreiche Geschöpfe des Waldes bot.

Als ich noch klein war, war ich oft in solche Bäume geklettert und so zögerte ich auch jetzt nicht meine Krallen in der Rinde zu versenken, um Anima zu folgen. Nur ihr plötzlicher Aufbruch verwunderte mich ein wenig. Was hatte sie nur? Und warum kletterte sie immer höher, bis die Äste ihr Gewicht kaum noch tragen konnten? „Nim, was tust du?“

„Komm einfach her.“ Sie suchte sich noch einen halbwegs stabilen Ast, auf dessen Gabelung sie sich niederlassen konnte und warf einen prüfenden Blick in die Tiefe. Alles war ruhig. Aman war noch immer im Wald verschwunden und die anderen befanden sich noch in der Bastion. Wir waren allein. „Es gibt einen guten Grund dafür, dass ich die ganzen Fallen aufgestellt habe.“ Nervös blickte sie mir entgegen, bis auch ich einen geeigneten Platz gefunden hatte, der mein Gewicht tragen konnte. „Einen sehr wichtigen sogar.“

Als sie in den Ausschnitt ihrer Tunika griff, befürchtete ich schon das schlimmste und konnte es trotzdem kaum glauben, was dort in ihrer Hand zum Vorschein kam. Oh Göttin, das ist … nein … das … oh Göttin. „Das Tigerauge.“ Wie ein Hauch kamen diese Worte über meine Lippen.

„Priesterin Tia hat ihn mir gegeben, kurz bevor die greifenden Winde mich durch das Portal gezerrt haben.“ Sie drückte die Lippen zusammen. In ihrem Blick stand Schuld und Kleinmut. „Ich hätte mich mit ihm in den Schutz der Lykanthropen begeben sollen, aber dann bin ich hier gelandet. Verstehst du jetzt?“ Sie sah mir in die Augen. „Wäre ich nur da gewesen, dann hätte ich Naaru retten können.“ Ihre Hand schloss sich fest um den Stein. „Ich hätte nur da sein müssen.“

„Nein“, widersprach ich ihr. „Auch wenn du da gewesen wärst, es war zu spät. Ich habe Naaru gesehen, niemand hätte ihr noch helfen können, nicht einmal die Macht von Bastet.“

„Das kannst du nicht wissen.“

„Nein, kann ich nicht“, gab ich zu. Wie sollte ich auch? Ich besaß nicht die Fähigkeiten, die Anima zu Eigen waren, ich besaß nicht mal die Fähigkeiten einer Kriegerin. Ich war nur ein kleiner Lehrling. „Weiß noch jemand von dem Stein?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nur du und ich. Ich habe es Asokan nicht erzählt. Warum auch?“ Sie lachte bitter. „Es war nicht nötig, da ich mit dieser Macht die Lykanthropin nicht heilen konnte. Das vermag Bastets Macht nur bei einem Ailuranthropen.“

Warum erzählte sie mir das? Das wusste ich doch. Aber vielleicht wollte sie einfach nur ihr Gewissen ein wenig beruhigen. Sie war nicht da gewesen, um Naaru zu retten und Vinea konnte sie damit nicht helfen. Welch grausame Welt

„Und, es erschien mir auch viel zu gefährlich es Asokan zu erzählen.“

Erleichtert stieß ich die Luft aus. Das war gut. Die anderen durften es nicht wissen, dafür war das Tigerauge zu wertvoll, eine zu große Verlockung. Nicht mal unseren Verbündeten durften es wissen. Noch gaben sie sich nett, aber wer wusste schon, wie das Enden konnte? Es war besser so, es für uns zu behalten, genau wie Animas wahres Sein.

„Der Stein muss zurück nach Ailuran“, sagte Anima plötzlich. „Ich muss ihn unbedingt zurück in den Tempel bringen.“

Oh nein, warum hatte ich daran noch nicht gedacht? Bei Bastet, dies durfte doch einfach nicht wahr sein. Das Tigerauge, der Stein meiner Göttin, bedeutete nicht nur ein mächtiges Artefakt in den Händen zu halten, das Tigerauge war Leben – so wurde es uns gelehrt. Ich wusste nicht genau, was das hieß, aber dass es wichtig war, das wusste ich sehr wohl.

„Ich muss ihn unbedingt zurückbringen“, wiederholte Anima, als sei sie sich nicht sicher, ob ich sie beim ersten Mal richtig verstanden hatte.

„Sei nicht besorgt.“ Ich legte meine Hand auf ihre, genau auf das Tigerauge und eine angenehme Wärme durchflutete mich. Das mochte ich, auch wenn diese Wärme nicht die aufkommende Unruhe zum Versiegen brachte. Anima hatte Recht, das Tigerauge musste auf dem schnellsten Weg zurück in den Tempel. „Wir bringen ihn zurück.“

„Aber wie? Wenn deine Worte stimmen, befinden wir uns in einer magie- und gottlosen Welt, weit entfernt von unserer Heimat. Wie sollen wir von hier nach Silthrim kommen?“

„Ich … ich weiß nicht“, gestand ich zögernd. „Wir müssen einen Weg finden.“ Es musste einfach einen Weg geben, einen, den Luan in dreihundert Jahren nicht gefunden hatte. Oh Bastet, wie sollte uns das gelingen? „Wir werden einen Weg finden, wir müssen nur danach suchen“, sprach ich mir selber Mut zu und versuchte, die Geistreden in meinem Kopf zu ignorieren, die mich fragte, was war, wenn wir keinen fanden, wenn wir für immer hier bleiben mussten? Wenn wir das Tigerauge nicht zurück in den Tempel bringen konnten? Das wäre ein Unglück von ungeahnten Ausmaßen. Noch nie war es geschehen, dass eine Göttermacht mehr als ein paar Tage aus ihrem Tempel entfernt worden war, keiner wusste was es auf Dauer bedeutete.

Und wie lange war ich nun hier? Sechs Tage? Sieben? In der wenigen Zeit konnte in unserer Heimat doch nicht viel geschehen sein, oder?

„Und wenn wir keinen finden?“, sprach Anima die Zweifel aus, die sich in meinem Kopf einnisten wollten. Ihr Blick lag auf dem Tigerauge, in ihrer offenen Hand. Das Innere des Steins bewegte sich wie ein blasser, windender Nebel, schimmerte leicht wie Morgentau auf einer Wiese, das von den ersten Sonnenstrahlen des Tages gestreichelt wurde. „Wenn es keinen Weg nach Hause gibt?“

„Das  … wir …“ Ich drückte die Lippen aufeinander und nahm Animas Hand fest in meine. „So darfst du nicht denken. Ich dich habe gefunden, gemeinsam werden wir auch einen Weg nach Hause finden.“

Anima seufzte schwer und befreite sich von meiner Hand, um das Tigerauge wieder unter ihrer Tunika zu verstauen. Sie schien meinen Worten nicht recht glauben zu wollen, aber, was sollte ich den sonst sagen? Es war die einzige Hoffnung, die wir noch hatten, der Glaube.

Du musst nur glauben. Alles was zählt, ist der Glaube.

Ich runzelte die Stirn. Woher nur kannte ich diese Worte? Ich kannte sie, konnte mich aber nicht an ihre Herkunft erinnern. Seltsam.

Urplötzlich wollte Anima wissen: „Wie hast du mich eigentlich gefunden?“

Ich wirbelte so schnell zu ihr herum, dass ich fast vom Baum fiel. Anima musste mich blitzschnell packen und festhalten, sonst wäre ich mit Sicherheit sieben Meter in die Tiefe gestürzt und erst vom Boden aufgefangen worden. Eine Erfahrung, die ich bereits gemacht hatte und auf deren Wiederholung ich verzichten konnte.

„Göttertod, Lilith, was tust du nur?!“

„Ich … ich habe mich nur erschrocken.“

Wirrsal legte sich auf ihr Gesicht. „Wovor?“

Wovor? Na vor ihrer Frage! Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wie sollte ich erklären, dass ich hier eigentlich auf Gillette und Kaio hatte treffen wollen? Wie sollte ich ihr sagen, dass zu all dem Unglück, das bereits auf uns lastete, noch ein weiterer Punkt hinzukam?

So wie Anima ihre Augen verengte, sah sie mir wohl an, dass hier etwas nicht stimmte. „Was verschweigst du mir, Lilith?“

„Ich … wie kommst du darauf, dass ich dir etwas verschweige?“

So wie sie versuchte, mich mit Blicken zu erdolchen, war das wohl das Dümmste gewesen, was ich hatte fragen können.

„In Ordnung“, gab ich mich geschlagen, aber anstatt ihr alles zu erzählen, biss ich mir auf die Zunge in der Hoffnung, dass mir noch irgendein Ausweg einfiel. Ich wollte sie damit einfach nicht belasten. Doch die Idee blieb aus, mir blieb nichts anderes übrig, als ich seufzend zu berichten, was geschehen war. „Der Grund, warum ich hier bin, ist der, dass ich jemand suche.“

„Nicht mich, wie es mir scheint. Du warst viel zu überrascht mich hier zu sehen, als das es so sein könnte.“

Das war ein wahres Wort. „Nein, nicht dich. Ich … ich …“ Göttertod noch eins, sag es einfach!

„Was ist? Sprich es aus.“

In Ordnung, mir blieb wohl keine andere Wahl, wenn ich nicht wollte, dass sie mich in naher Zukunft vom Baum schubste. „Ich habe Gillette und Kaio gesucht.“

„Du hast …“ Als ihr die Bedeutung meiner Worte klar wurde, riss sie ihre Augen überrascht auf. „Er ist hier? Gillette ist auch hier?“

„Ja und nein.“

„Zur Sachmet noch mal, Lilith, sprich endlich und lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“

Ich hatte wohl wirklich keine Wahl mehr, keinen Ausweg. „Nachdem wir wieder zurück waren, von Naaru, da sah ich Gillette in einem Kasten der Menschen, der Bilder der Vergangenheit zeigt.“ Damit begann ich ihr alles zu erzählen, was ich bisher für mich behalten hatte. Von Gillette und Kaio in dem Kasten mit den zwei Schwänzen, unseren Versuch, ihn aus der Gefangenschaft von Kriegergeneral Silvano Winston zu befreien, meiner Verwundung, die mir fast das Leben gekostet hatte und auch von dem Weg, der mich zu ihr in diesen Baum geführt hatte.

Anima wurde mit jedem Wort deutlich blasser und konnte mich nur mit weit aufgerissenen Augen ansehen. Sie war nicht fähig, etwas anderes zu tun, als mir still zuzuhören und darauf zu hoffen, dass ich ihr auch noch eine gute Nachricht überbringen konnte. Doch das geschah nicht. „… und jetzt weiß ich nicht wo ich noch nach ihm suchen soll. Der Zauber hätte mich eigentlich zu ihm bringen müssen, aber du hast gesagt, dass es hier keine Menschen gibt, dass dieser Wald bis auf dich unbewohnt ist und das bedeutet, dass weder Gillette noch Kaio hier sein können.“

„Aber … aber … wo sind sie dann?“ Anima packte mich bei den Schultern und bohrte ihre Finger fast schmerzhaft in mein Fleisch. „Wo ist Gillette? Was will dieser Kriegergeneral von ihm?“

Ich konnte nur schwach den Kopf schütteln. „Ich weiß keine Antwort. Es tut mir leid.“

„Nein, das kann nicht sein.“ Unwillig schüttelte sie den Kopf. „Wir müssen ihn suchen, wir … das war dieser Pascal, das war sein Zauber“, kam es ihr plötzlich über die Lippen. Sie schien ganz aufgeregt.

Vorsichtig nickte ich.

„Du sagtest, dass er dich brauchte, um Gillette zu finden, weil du ihn kennst, weil du eine Verbindung zu ihm hast.“

„Ja.“

„Aber meine Verbindung ist viel stärker.“ Sie ließ mich so abrupt los, dass ich ein weiteres Mal in Gefahr geriet, einfach vom Baum zu fallen. „Er ist mein Herz, natürlich habe ich eine stärkere Verbindung.“ Noch während sie die Worte sprach, begann sie bereits hastig den Baum hinabzuklettern. Allerlei Äste brachen dabei und fielen mit Blättern nach unten auf den Boden.

„Nim, was hast du vor?“

„Er muss es noch einmal probieren.“

„Was?“ Schnell machte ich mich daran, ihr zu folgen, doch als ich den Boden erreichte, war sie schon wieder halb auf dem Weg in die Bastion, sodass ich mich sputen musste, um an ihre Seite zu kommen. „Nim, nun warte doch, was hast du vor?“

„Dein Magier, er muss den Zauber noch einmal sprechen, mit mir. Dann finden wir Gillette.“ Sie stürmte durch das dornenbewachsene Dickicht und achtete gar nicht darauf, als sie sich dabei selber verletzte. „Mit meiner Hilfe finden wir ihn.“

Ich folgte ihr etwas vorsichtiger. Mein Bein war noch nicht wieder ganz hergestellt und ich konnte auf weitere Verletzungen verzichten.

Kaum in der Bastion, sahen wir Pascal schon, wie er sich vor der Höhle aufhielt und ins Innere spähte, wo John noch dabei war, Vinea zu versorgen.

„Du, Magier!“

Neugierig drehte Pascal sich zu uns herum und zeigte mit den Daumen auf sich, als wollte er stumm fragen, ob die herannahende Anima ihn meinte.

„Ja, du. Mach den Zauber noch einmal.“

„Zauber?“

„Den Zauber um Gillette zu finden.“ Sie kam vor ihm zum Stehen und hielt ihm ihre Hand vor die Nase. „Tu es.“

„Ähm …“ Er sah fragend zu mir und dann wieder zu Anima, die ein wenig bedrohlich wirkte. „Das geht nicht so einfach, dafür brauche ich … ahhh!“

„Nim!“

Anima hatte ihn am Kragen und mit dem Rücken an den Fels geknallt. „Ich will keine Ausreden, ich will dass du Gillette findest, sofort!“

„Nim, lass ihn runter!“ Ich packte ihre Hände, doch ihr Griff wollte sich nicht so leicht lösen lassen. „Nim!“

Pascal schluckte angestrengt, die Augen waren leicht panisch geweitet.

„Sonst werde ich dir wehtun, darauf kannst du dich verlassen“, drohte sie ihm und grollte dabei gefährlich aus der Kehle.

„Nim, es reicht, lass von ihm ab!“

Sie funkelte mich an, dann Pascal und dann stieß sie den jungen Magier mit einer leichten Drehung von sich. Der Aufprall auf dem Boden sah schmerzhaft aus und auch das Geräusch, das er von sich gab, ließ auf keine sanfte Landung schließen.

„Göttertod, Nim, reiß dich ein wenig zusammen!“

„Verdammt!“, murrte Pascal und stützte sich langsam auf den Ellenbogen auf. „Mann, was hat dieser Kerl nur an sich, dass ihr Weiber ständig auf mich losgehen müsst? Das muss ja ein Mordshecht sein.“ Er funkelte Anima missmutig an. „Ein einfaches Bitte hätte es auch getan – nur damit du es weißt.“

„Du …“

Ein markerschütternder Schrei hallte aus der Höhle zu uns hinaus. Vinea.

Unser aller Köpfe fuhren zur Höhle herum, doch außer dem dunkeln Schlund war nichts zu sehen. Was hatte John nur getan?

Anima schien hin und hergerissen, konzentrierte sich aber sehr schnell wieder auf Pascal. Sie öffnete den Mund, nur um ihn gleich wieder zu schließen, rang mit sich. Ich stellte mich vorsichtshalber so hin, dass ich sie aufhalten konnte, sollte sie ein weiteres Mal auf Pascal losgehen wollen, doch zu meiner Überraschung kam es ganz anders. „Bitte, hilf mir Gillette zu finden.“

Mit verengten Augen musterte Pascal meine Amicus, seufzte dann und erhob sich langsam. „Klar, kein Problem. Vorher muss ich aber noch mal zum Wagen, um eine Karte zu holen, sonst geht es nicht.“

„In Ordnung.“

Für einen Moment schien es so, als wollte Pascal noch etwas sagen, doch dann wandte er sich einfach kopfschüttelnd ab, um die Bastion zu verlassen.

„Pass auf die Fallen auf“, rief ich ihm noch hinterher und überlegte einen Moment ihm zu folgen, damit ihm nichts geschah. Doch ich blieb an Animas Seite, sie brauchte mich im Moment mehr.

 

°°°

 

Ungeduldig lief Anima vor der Bastion auf und ab. Hin und wieder warf sie einen Blick in die Richtung, in die Pascal verschwunden war, oder zu Luan, der vor ein paar Minuten aus der Höhle gekommen war und nun wieder mit dem kleinen, schwarzen Kasten sprach. Er wollte Janina und Destina Bescheid sagen, was hier geschehen war, damit sie sich keine Sorgen machen mussten.

„Nim.“ Ich packte sie am Arm und zwang sie damit anzuhalten. „Wenn du hier Gräben in den Boden läufst, dann kommt Pascal auch nicht schneller zurück.“

„Was heißt hier schneller? Was macht er denn so lange? Versteht er denn nicht, dass das wichtig ist?“

„Pascal ist erst seit ein paar Minuten weg. Du wirst dich noch ein wenig gedulden können.“ Ich ließ ihren Arm los und setzte mich auf ein weiches Stücken Moos. „Der Wagen ist ein Stück weg, er braucht halt ein wenig, um hin und zurück zu laufen.“

„Das dauert viel zu lange.“ Ungeduldig verschränkte sie die Arme vor der Brust und nahm ihren Lauf wieder auf.

Da konnte ich reden wie ich wollte, es würde nicht helfen, also ließ ich sie einfach laufen und beobachtete Luan, der ähnlich wie Anima auf und ab lief, doch im Gegensatz zu ihr, strahlte er dabei nichts als Ruhe aus.

„Dieser merkwürdige Ort ist mir so fremd, das hab ich noch nie gesehen. Die ganze Welt scheint Kopf zu stehen.“

Und dabei hatte sie nur einen kleinen Teil davon gesehen, noch viel weniger als ich.

Abrupt kam Anima zum Stehen, den Blick nun auch auf Luan. „Mit wem spricht er da?“

Das würde sie mir nie glauben. „Siehst du den kleinen schwarzen Kasten in seiner Hand?“

Sie nickte.

„Manchmal glaubt er, das sei sein Herz Janina, dann wieder Gran, oder Pascal. Wenn er jemanden zum Reden braucht, stellt er sich wohl vor, dass dieser Kasten jemand aus seiner Familie ist und dann redet er mit ihm.“

Überrascht sah sie auf mich hinunter. „Sprichst du wahr? Er glaubt der Kasten sei seine Familie?“

Ich nickte. „Ich glaube, das macht dieser Planet. Luan lebt schon so lange hier, dass er verrückt geworden ist. Aber nicht nur er macht das, auch viele Menschen reden mit kleinen schwarzen Kästen.“

Wir beobachteten, wie Luan sich noch ein kleines Stück entfernte. Einen Schritt nach links und noch einen.

„Ist er ein Krieger?“, wollte Anima wissen.

Ich zuckte mit den Schultern. „Vielleicht war er mal einer gewesen, aber seine Eignungen haben ihn verlassen.“

„Sollten wir ihm vielleicht sagen, dass er geradewegs auf eine meiner Fallen zuläuft?“

Gute Frage. Sollten wir es ihm sagen? Oder sollten wir lieber schweigen, um zu sehen, ob er sie selber bemerkte? „Wenn er noch ein guter Krieger ist, wird er sie sehen.“

„Du willst ihn testen“, stellte sie fest.

Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich will dir zeigen, dass er ungefährlich ist.“

„Du glaubst also nicht, dass er die Falle bemerkt.“ Keine Frage, eine Feststellung.

„Nicht, bevor er sie ausgelöst hat“, bestätigte ich ihr.

Schweigend beobachteten wir ihn.

Luan richtete den Blick in den Himmel, den kleinen Kasten am Ohr. Er lief einen Schritt nach links, drehte sich herum und sah uns zwei. Lächelnd nickte er uns zu, bevor er sich wieder herumdrehte und nach links ging – genau auf die Falle zu.

„Er sieht sie wirklich nicht“, stellte Anima fest.

Nur einen Moment später wischte Luan mit dem Fuß ein paar Blätter zur Seite. Der Auslöser reagierte, zog die Schlaufe zusammen …

„Ahhh!“

… und dann hing Luan kopfüber an einem Seil im Baum. Der kleine schwarze Kasten fiel zu Boden und Luan saß fluchend in der Falle.

„Er hat sie nicht gesehen.“

Ich nickte. „Hab ich dir doch gesagt.“ Langsam stand ich auf und trat an Animas Seite näher an den Vampir heran, der fuchtelnd versuchte, sein Bein aus der Schlaufe zu befreien. „Brauchst du Hilfe?“, wollte ich wissen.

Er stellte sein Zappeln ein und schaute uns an. Sah irgendwie witzig aus, wie er da kopfüber hing. „Wie viele von diesen Fallen gibt es in dieser Gegend?“

„Viele“, kam es ohne Zögern von Anima.

Luan schloss die Augen. Er sah irgendwie genervt aus. „Lilith? Könntest du mir mal bitte das Handy geben?“

„Handy?“

„Mein kleiner, schwarzer Kasten. Er muss irgendwo da unten liegen.“

Der kleine, schwarze Kasten hatte sogar einen Namen? Ich würde diese Welt wohl niemals verstehen.

„Da liegt er“, sagte Anima und deutete auf ein Fleckchen neben einer blassgelben Blume.

Ich bückte mich danach und war mehr als erstaunt, als ich eine Stimme daraus hörte. Nur sehr leise, aber sie war deutlich. Das war Janina. Und sie war wütend. „Aber wie …“ Wie war das möglich? Ich drehte mich einmal um meine eigene Achse, konnte die trächtige Füchsin nirgendwo entdecken. Die Stimme kam wirklich aus dem kleinen, schwarzen Kasten. „Was ist das für ein Zauber?“

Luan lächelte milde. Es sah irgendwie komisch aus, wie er da hing und auf mich herab lächelte. „Das ist kein Zauber, das sind die Errungenschaften des einundzwanzigsten Jahrhunderts.“

Mit diesen Worten konnte ich nichts anfangen. Ich reichte es ihm wortlos, nahm mir aber vor, ihn später dazu noch auszufragen.

Er hielt sich das Handy – welch seltsamer Name – wieder ans Ohr. „Liebes? … ja … nein … schweig einen Moment, mein Herz und hör mir zu … ja … pass auf, geh nicht in den Wald, ich hole dich und Gran dann am Wagen ab … ja … weil es sicherer ist … weil es so ist … Janina.“ Er seufzte schwer und schloss die Augen. Wie hielt er es mit dieser Füchsin nur aus? Er musste wirklich eine Engelsgeduld haben. „Hier liegen überall Fallen herum und ich will nicht, dass einer von euch beiden dort hineintritt … ja Fallen … weil ich gerade in einer drinhänge.“

Du tust was?!

Das hatten sogar ich und Anima sehr deutlich gehört.

„Ich befinde mich gerade in einer Falle und ich würde jetzt gerne auflegen, um mich daraus zu befreien … ja … nein, mir geht es gut, ich hänge hier nur gerade ein wenig rum … ja … gut. Melde dich, wenn ihr da seid, ich hole euch dann ab … ja … ja … ja, Janina … bis nachher … ich liebe dich auch … ja mein Herz … bis dann.“ Er nahm das Handy vom Ohr, tippte mit dem Finger darauf und sah mich dann an. „Würdest du mir bitte einen Moment deinen Dolch leihen?“

„Willst du dich losschneiden? So wie Aman?“

Luan lächelte. „Nicht ganz so, ich habe vor auf den Beinen zu landen.“

Da war ich ja mal gespannt. Er hätte auch einfach darum bitten können, dass Anima und ich ihn vorsichtig  runterließen, aber wenn er es selber machen wollte … ich reichte ihm meinen Dolch.

„Danke.“ Er nahm ihn entgegen, zog sich etwas umständlich an seinem Bein hinauf und setzte den Dolch an. Zwei Versuche brauchte er. Mit einer Hand hielt er sich am Seil fest, während er mit der anderen darunter schnitt. Nur eine kleine Bewegung, dann war das Seil durch. In einem Wimpernschlag fiel er, hielt sich noch kurz am Seil fest und drehte sich dabei. So gelang es ihm wirklich, auf den Beinen zu landen. Ich hätte es nicht besser machen können.

Lächelnd reichte er mir meinen Dolch zurück. „Danke.“

„Mann, was war das denn gerade für eine Aktion?“

Gemeinsam drehten wir uns zu Pascal um, der Luan mit großen Augen bestaunte. In der Hand hielt er die gleiche Karte, die er schon gestern bei mir benutzt hatte.

„Na endlich.“ Anima ging gar nicht auf Pascal ein, schritt nur auf ihm zu und reichte ihm wie vorhin erneut die Hand. „Nun hast du alles, jetzt zaubere.“

„Du hast es aber ganz schön eilig.“ An Ort und Stelle ließ er sich auf den Boden plumpsen und breitete die Karte vor sich aus.

Luan hielt damit inne, seine Kleidung zu richten und blickte hinüber zu Anima, die sich gegenüber von Pascal nieder ließ. „Was macht ihr?“

„Pascal wiederholt den Zauber von gestern.“ Ich drehte mich zu dem Vampir herum. „Wir haben Gillette noch nicht gefunden, ich bezweifle, dass er in dieser Gegend ist. Nim hat die stärkere Verbindung zu ihm. Wenn der Zauber gelingen kann, dann nur mit ihr.“

„Ich fürchte du hast Recht, ich glaube auch nicht, dass wir deinen Amicus hier finden werden – nicht mehr.“

„Du meinst, er war in dieser Gegend gewesen?“

„Nein, ich meinte, dass ich es nicht mehr glaube. Er war sicher nicht hier.“

Leider. Zwar hatten wir Anima und Asokan gefunden, aber von Gillette und Kaio fehlte weiterhin jede Spur und ich würde mich hüten noch ein weiteres Mal den Kriegergeneral aufzusuchen. Das würde nichts bringen.

Schweigend setzte ich mich an Animas Seite und verfolgte, wie Pascal seine Hand auf ihre legte und leise Worte murmelte.

Ein Knistern lag in der Luft, als wäre um uns herum alles mit starker Magie aufgeladen. War das bei mir auch so gewesen? Ich konnte mich nicht daran erinnern.

Unter Pascals Shirt drang ein leichtes Glühen nach außen. Das musste dieser Stein sein, den er uns vorhin gezeigt hatte.

Nur langsam begann Animas Hand sich unter Pascals zu bewegen. Würde es bei ihr funktionieren? Ich hoffte es. Wir mussten Gillette finden und wenn dazu einer die Verbindung hatte, dann Anima. Sie war sein Herz, sie waren so oft zusammen, dass es mich manchmal sogar nervte, aber jetzt wünschte ich mir nichts inständiger, als die beiden wieder zusammen zu sehen – ich wünschte es mir für meine Amicus.

Nur sehr langsam schob sich Animas Hand über die Karte und ich fragte mich, ob es bei mir auch so lange gedauert hatte, oder mir das warten jetzt einfach nur so lang vorkam. Ungeduldig verlagerte ich mein Gewicht, sah hoch zu Luan, der konzentriert auf die Karte blickte, sah zu Pascal, der die Augen zu Schlitzen verengt hatte und sah zu Anima, der vor Anspannung Schweißperlen auf der Stirn standen.

Dann gab es plötzlich einen kleinen Blitzt zwischen Animas Finger und der Karte – ich sah es ganz genau, ein magischer Blitz.

Zischend riss Anima die Hand zurück und funkelte Pascal böse an. „Was sollte das?“

„Das war …“ Er beugte sich weiter zur Karte hinunter, zu der Stelle, an der Anima reagiert hatte. „Mist verdammter. Gib mir noch mal deine Hand, wir müssen es noch einmal versuchen. “

Anima runzelte misstrauisch die Stirn. „Nochmal?“

„Was?“ Ich beugte mich auch vor. „Aber ist das nicht …“

„Ja.“ Luan nickte. „Das ist die gleiche Stelle, die du uns gestern gezeigt hast, der Ort, an dem wir uns bereits befinden.“

Aber … wie war das möglich? „Warum zeigt uns der Zauber schon wieder diese Stelle?“ Ich sah zu Pascal. „Ist er kaputt?“

Pascal schüttelte den Kopf. „Nein, ich … lasst es uns einfach noch mal versuchen.“

Von dieser Idee war Anima nicht sehr angetan – ich konnte es ihr nachfühlen, dieser magische Blitzt tat wirklich weh – dennoch reichte sie Pascal ein weiteres Mal ihre Hand. Sie wollte Gillette finden und dazu würde sie alles tun, was nötig war.

Fast schon verbissen sah Pascal aus, als er seine Hand wieder auf Animas legte, genau in die Mitte und ich konnte sofort sehen, dass sich die Hände wieder in die gleiche Richtung bewegten, wieder auf diesen Punkt zu. Aber … warum? Machte Pascal etwas falsch? Hier war doch weiter gar nichts und Anima dachte sicher nicht daran, sich selber zu finden. Es musste einen anderen Grund geben.

Der Zauber hatte mich hergeführt, weil ich schon immer eine starke Verbindung zu Anima hatte, aber warum … oh nein, das konnte doch nicht sein. Eine starke Verbindung, die stärkste Verbindung, die ein Ailuranthrop haben konnte. Anima trug ein Objekt bei sich, mit dem jeder Ailuranthrop verbunden war. War das der Grund, warum wir immer hier landeten? Nicht bei Anima, nicht an diesem Ort, sondern beim Tigerauge. Bitte, nein, Göttin, das darfst du nicht zulassen. Lass Anima Gillette finden. Wie sonst sollten wir ihn in dieser Welt ausmachen?

Bitte, lass mich unrecht behalten, betete ich zu meiner Göttin und beobachtete angespannt, wie sich Animas Hand immer weiter auf diesen einen Punkt zubewegte, der sie nichts an Ziel bringen würde. Nein, nein, nein, bitte nicht.

Unaufhaltsam schob ihre Hand sich voran. Dann kam wieder der kleine Blitz und Anima biss die Zähne zusammen.

„Verdammt noch mal, das gibt´s doch gar nicht!“, fluchte Pascal und zog die Stirn tief in Falten. „Warum funktioniert das denn nicht?“ Er funkelte die Karte an, als sei sie an dem Misslingen schuld. Dann griff er noch einmal nach Animas Hand. „Wir versuchen es noch einmal.“

„Das wird nichts bringen“, sagte ich leise. Jetzt war ich mir sicher, dass es an dem Tigerauge lag.

„Warum sagst du das?“, wollte Anima wissen. Sie wollte nicht aufgeben, wollte Gillette finden und wenn sie dazu Stunden hier sitzen würde.

„Es wird nicht funktionieren.“ Ich drückte kurz die Lippen aufeinander.

„Natürlich wird es funktionieren“, widersprach Pascal. „Wie müssen es einfach noch einmal versuchen.“

Ich beachtete ihn nicht, richtete meinen Blick nur auf das, was Anima unter ihrer Tunika verbarg. „Eine starke Verbindung“, sagte ich nur.

Der Augenblick des Begreifens in Animas Augen wurde rasch von Hoffnungslosigkeit überschattet. Sie hatte verstanden, auch ohne dass ich es ihr sagen musste. Wortlos erhob sie sich und ging.

 

°°°°°

Kapitel Zweiundzwanzig

„Nim, so warte doch.“

Tat sie nicht. Sie lief einfach weiter, ohne darauf zu achten, wohin sie trat. Äste der Sträucher zerrten an ihrer Kleidung, rissen an ihrem Haar, als sie unaufhaltsam vorwärts stürmte.

„Nim!“

„Lass mich!“

„Nein, das werde ich nicht.“ Ich wollte nach ihr greifen, doch im gleichen Moment setzte sie zu einem Sprung über einen kleinen Strauch an. Ihr Fuß verhedderte sich in dem Geäst und brachte sie zu Fall. Es knackte und knisterte unter ihr und dann blieb sie einfach zusammengekauert auf dem Boden hocken.

„Nim!“ Eilig rannte ich zu ihr, doch sie reagierte auch nicht, als ich ihr die Hand auf die Schulter legte. Blieb einfach nur in dieser Haltung und erst jetzt ging mir auf, dass sie weinte.

Still liefen ihr die Tränen über die Wangen. Sie hatte nicht gewollt, dass ich es sah, hatte sich eilig davon gemacht, um mit ihrem Schmerz allein zu sein. Gillette war hier irgendwo gefangen und sie konnte ihm nicht helfen. Ihre Qualen konnte ich wahrscheinlich gar nicht nachvollziehen.

„Ach Nim.“ Tröstend zog ich sie in die Arme und strich ihr beruhigend über den Rücken. „Wir werden ihn finden“, versprach ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie ich dieses Versprechen halten sollte. „Ich weiß noch nicht wie, aber wir werden nicht aufgeben, bist du ihn wieder in die Arme schießen kannst.“

Sie sagte nichts dazu, glaubte nicht an meine Worte, auch wenn sie darauf hoffte, weinte nur still an meiner Schulter, während ich versuchte, ihr ein wenig Zuversicht zu geben.

Ich richtete mein Haupt zum Himmel, denn auch, wenn ich wusste, dass dies hier nicht Silthrim war und die Götter nicht über uns hausten, so war es doch das, was ich immer tat, wenn ich einen Rat oder Hilfe suchte. Bastet, bitte lass mich mein Versprechen halten, mach, dass wir Gillette finden und zurück in die vertraute Heimat können.

Meine Hand gilt bei meiner Bitte weiter über Animas Rücken. Ich runzelte die Stirn. Meine Haut fühlte sich feucht an, genau wie Animas Tunika und als ich mir meine Hand näher ansah, weiteten sich meine Augen vor Schreck. „Blut“, flüsterte ich. An meiner Hand klebte Blut. Hastig rutschte ich ein wenig zur Seite und … „Bei Bastet, du blutest!“

Anima reagierte kaum darauf, auch nicht, als ich von ihr ließ, um mir ihren Rücken unter der Tunika anzusehen. Die Tränen liefen ihr noch immer über die Wangen.

Langsam und so vorsichtig ich konnte, hob ich den Stoff von ihrer Haut und schob ihn nach oben. „Oh Göttin“, entfuhr es mir.

„Nicht schlimm“, sagte Anima leise.

„Wie ist das passiert?“ Hastig sah ich mich nach einem Lappen, oder einem Stück Stoff um, um das Blut wegzuwischen, aber wir befanden uns in einem Wald und wie nicht anders zu erwarten, wuchsen Lappen hier nicht gerade an den Bäumen. Kurzentschlossen riss ich mir den Ärmel vom Arm und begann vorsichtig damit, das Blut um die Wunde herum abzutupfen. Der aufgeplatzte Schorf war dabei das größte Hindernis. Es war wirklich böse aus.

„Es geschah, als ich durch das Portal fiel. Ich bin mit dem Rücken halb auf der Höhle gelandet.“ Mit dem Handballen wischte sie sich die Spuren der Tränen aus dem Gesicht, doch die leichte Schwellung unter den Augen ließ diese Geste nicht so einfach verschwinden. „Die Wunde heilt nicht richtig, sie öffnet sich immer wieder.“

„Aber warum hast du denn nichts gesagt?“ Achtsam rieb der Stoff über ihre Haut und als ich feststellte, dass es nur halb so schlimm war, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte, war ich mehr als erleichtert.

Anima zuckte nur nichtssagend mit den Schultern. „Ich habe nicht daran gedacht, mein Kopf war mit anderen Dingen gefüllt.“

„Du bist töricht“, maßregelte ich sie. „So etwas vergisst man doch nicht einfach, das muss versorgt werden.“

„Sprich nicht so mit mir, du hast mir schließlich auch nicht sagen wollen, dass du fast gestorben bist. Und das ist viel schlimmer, als mein kleiner Kratzer.“

Dagegen kam ich nicht an, sie hatte ja Recht. Obwohl dieser Kratzer alles andere als klein war. Der Riss ging von der Hüfte gut zwei Hände breit schräg nach oben und endete erst kurz vor der Wirbelsäule, die mit dem vertrauten Zeichen des Occino versehen war. Ein verschlungenes Gebilde, das sich von ihrem verlängertem Rücken über das Rückgrat bis hinauf in den Nacken schlang. Wenn man genau hinsah, konnte man das Antlitz unserer Göttin Bastet darin ausmachen.

Ja, Anima war das größte Geheimnis unseres Volkes, ein ausgewähltes Kind der Bastet, die Verbindung zu unserer Göttin und dass sie hier vor mir saß, war beinahe genauso schlimm, wie, dass sie das Tigerauge bei sich trug. Der Verlust eines von beidem könnte mein Volk vielleicht noch verkraften, aber beides? Wie mussten schnell zurück nach Ailuran – koste es, was es wolle.

Ich schob die Tunika noch ein wenig höher über ihre Schulter, sodass der ganze Rücken frei lag. Ich brauchte beide Hände, um die Wunde zu versorgen. „Warum hast du Asokan nicht gebeten, die Wunde zu schließen?“, fragte ich vorwurfsvoll und drückte sie ein wenig tiefer, damit ich über die Wunde lecken konnte.

„Das habe ich“, sagte Anima ruhig und zuckte leicht zusammen, als meine Zunge sie berührte. „Aber er verträgt den Anblick von Blut nicht, wird ohnmächtig, wenn er es sieht. Zwei Mal habe ich es versucht, dann habe ich es aufgegeben.“

Ohnmächtig? War das ihr ernst? Um den Occino zu heilen, hätte er sich wohl ein wenig zusammenreißen können. Und was war mit Vinea?, fragte ich mich, als ich die Wunde zur Gänze schloss. Er hatte mit ihr seit Tagen in einer Höhle gehaust und allein die Wunde an ihrem Bauch musste stark geblutet haben. Ich hatte diesen kupferartigen Geruch in der Nase gehabt, kaum dass ich in den dunklen Schlund getreten war. Kein Wunder, dass er kein Krieger war, sondern nur ein Küchenjunge. Der Kleine konnte einem wirklich leidtun.

Ich richtete mich wieder auf und wischte das restliche Blut so gut es ging von ihrer Haut. Nur eine kleine blassrosa Linie war geblieben, von der spätestens morgen nichts als eine feine Narbe zurückbleiben würde. „Du hättest es mir gleich sagen sollen.“

Das Knacken eines Astes hinter mir, ließ nicht nur meinen Kopf hastig herumfahren. Da stand Aman, nur ein kurzes Stück hinter mir, aber sein Blick lag nicht wie sonst auf mir, sondern ging an mir vorbei und hatte sich auf Animas Rücken gerichtet.

Das verschlungene Muster.

Occino.

Hastig riss ich die Tunika wieder über ihren Rücken. Ich war über sein Auftauchen nicht weniger erschrocken als Anima. Aman war ein Lykanthrop, er hätte dies niemals sehen dürfen. Wenn die anderen Völker wussten, wer der Occino war, konnten sie ihm habhaft werden und somit unsere einzige Verbindung zu den Göttern stehlen. Früher, in den Zeiten des Krieges war das hin und wieder geschehen, um sich einen unlauteren Vorteil zu verschaffen. Ohne den Occino konnten die Götter uns nicht helfen und ohne ihre Hilfe … ich wollte mich gar nicht daran erinnern, was alles ohne ihre Hilfe geschehen war. Die Geschichte von Sithrim war voll davon, eine Geschichte, deren Tinte aus Blut bestand.

Die Stille zwischen uns breitete sich ins Unermessliche aus. Keiner wusste, was er sagen sollte. Dann wandte Aman sich einfach ab und ging davon.

„Warte!“, rief ich noch und sprang auf die Beine. Ich musste etwas tun. „Bleib hier“, sagte ich noch zu Anima und dann rannte ich Aman in den Wald hinterher. Ich wusste nicht, was genau ich vorhatte, doch ich wusste, dass ich ihn nicht so einfach gehen lassen konnte, nicht mit dem Wissen, dass er sich durch unserer Unachtsamkeit angeeignet hatte. Doch auch als ich das zweite und das dritte Mal nach ihm rief, blieb er nicht stehen. Es war nicht so, dass er vor mir wegrannte, er ging einfach nur, trotzdem musste ich noch einige Meter rennen, bevor ich ihn eingeholt hatte. „Aman!“ Ich packte ihm am Arm und hielt ihn damit auf. Nicht das ich mir einbildete, ihn festhalten zu können, wenn er nicht wollte, aber er hielt an.

„Ich hab nichts gesehen“, sagte er leise.

„Was?“

Er drehte sich halb zu mir herum, schüttelte dann den Kopf und lehnte sich seufzend mit dem Rücken gegen den nächsten Baum. Meine Hand rutschte kraftlos von seinem Arm ab, als ich sein verhärmtes Gesicht bemerkte. „Ich habe nichts gesehen“, wiederholte er etwas leiser. Ein paar Strähnen seines Haares fielen ihm in die Stirn und überschatteten seine Augen.

Sollte das heißen, er hatte wirklich nichts gesehen, oder wollte er mir damit sagen, dass er es für sich behalten würde? Ich war misstrauisch, wusste nicht recht, was ich mit seinen Worten oder ihm anfangen sollte. Natürlich, er war ein Verbündeter, aber er gehörte zu einem anderen Volk und das durfte nicht wissen, wer Anima wirklich war. Ich wusste, was ich eigentlich tun müsste, aber einmal davon abgesehen, dass ich es schlicht nicht über mich brachte, es zu tun, waren wir auch auf einem anderen Planeten und hier galten andere Regeln. „Du kannst jetzt nicht mehr zu den Lykanthropen zurückkehren.“

Still schloss er die Augen. Er sah so müde aus. Seine Augen waren umschattet, die Schulter hingen und seine sonstige Stärke schien ihm entschwunden zu sein.

„Ich meine es ernst, Aman, du kannst nicht zu den Lykanthropen zurück.“ Sollte er es dennoch versuchen, gab es nur eines was ich tun konnte, tun musste und davor graute es mir am allermeisten – wobei ich über die Gründe keine Geistreden halten wollte.

„Das ist mir egal.“ Langsam öffnete er wieder seine Augen und sah mich durch die Strähnen seines bunten Haares durchdringen an. Kummer, wurde mir klar, es war Kummer, den ich da in seinem Blick sah. „Im Moment ist mir das völlig egal.“

Und mir wurde auch sofort klar warum. Vinea, sein Sicuti. Wie hatte ich das nur verdrängen können? Sie lag gerade in der Bastion und rang um ihr Leben. „Sorg dich nicht, John ist bei ihr, er wird sie retten.“

Er schwieg einen Moment, musterte mich eindringlich, „Du hast großes Vertrauen in ihn.“

Vertrauen in ihn? Nein, ich vertraute niemanden, der nicht zu meinem Volk gehörte. „Er hat mir das Leben gerettet“, sagte ich sanft und gab dem plötzlichen Impuls nach, ihm die Strähnen aus dem Gesicht zu streichen, um seine Augen besser sehen zu können. Meine Fingerspitzen berührten seine Haut, ließen sie kribbeln und anstatt meine Hand wieder wegzuziehen, kam sie auf seiner Wange zur Ruhe. „Aber Vertrauen in ihn? Nein. Ich habe Vertrauen in seine Fähigkeiten und das solltest du auch haben. Er wird sich gut um Vinea kümmern, das weiß ich.“

Langsam hob Aman die Hand, legte sie auf meine und seufzte leise, als sein Gesicht sich daran schmiegte. „Das hoffe ich“, sagte er leise.

Irgendwas passierte da zwischen uns. Ich konnte es nicht benennen, spürte nur seinen Blick, der meinen nicht mehr loslassen wollte. Ich bekam kaum mit, wie er das Gesicht in meiner Hand drehte und einen zarten Kuss in die Innenfläche hauchte, sah nur diese Augen, die mich nicht mehr loslassen wollten.

Warum schlug mein Herz nur plötzlich so schnell? Wie kam es, dass mein Puls raste und es da wo seine Lippen mich berührten, heiß glühte? Und warum wollte ich diese Lippen woanders spüren, als er jede Fingerspitze einzeln küsste? Oh Göttin, das war … was tat ich hier? Warum ließ ich das zu?

Er ist ein Lykanthrop! schrie mir mein Verstand zu. Ein Lykanthrop, der dir schon deinen ersten Kuss geraubt hat. Willst du nur tatenlos dastehen und einfach zulassen, was er da mit dir tut?

Nein. Nein, das würde ich nicht. Mit einem Ruck zog ich meine Hand zurück, doch Aman schien damit gerechnet zu haben. Sein Griff wurde augenblicklich fester und ehe ich es mich versah, hatte er mich zurückgerissen. Ich prallte gegen seine Brust und konnte gar nicht so schnell reagieren, wie seine Lippen auf meinen lagen. Seine freie Hand fasste in meinen Nacken, um mich an Ort und Stelle zu halten, mit der anderen hielt er mich noch immer am Handgelenk gepackt. Gefangen.

Fast verzweifelt bewegten sich seine Lippen auf meinen und er schien gar nicht zu merken, wie ich versucht mich von ihm loszumachen. Er war ein Lykanthrop, ich durfte das hier nicht. Ich durfte nicht fühlen, was ich fühlte, ich sollte nicht im Begriff sein, den Kuss zu erwidern, auch wenn meine Lippen danach schrien, sich danach verzehrten.

Mit der freien Hand schlug ich gegen seine Schulter, damit er von mir abließ. Ich versuchte den Kopf wegzudrehen, doch er packte einfach meine Haare und hielt ihn damit, wo er war. Er schien einfach nicht zu verstehen, dass ich das nicht durfte, dass ich es nicht wollte.

Wirklich nicht?

Göttertod!

Seine Lippen waren verführerisch, die Bewegung lud ein ihm zu folgen, doch mein Verstand schrie mir zu, dass ich mich dagegen wehren musste. Ich zog ihm sogar die Krallen meiner freien Hand über den Arm, aber auch das brachte nichts.

In einem letzten Versuch mich gegen seine Annäherung zu wehren, tastete ich nach dem Baum, an dem er noch immer lehnte und stieß mich mit aller Kraft daran ab. Von meinem Manöver überrascht, rutschte seine Hand aus meinem Nacken und riss mir dabei sogar ein paar Haare aus. Er hatte mein Handgelenk noch nicht losgelassen und das wurde mir zum Verhängnis. Ich stolperte einen hastigen Schritt nach hinten, blieb irgendwo mit dem Fuß hängen und als ich fiel, riss ich ihn zu meinem Entsetzen mit mir zu Boden.

Die Landung war hart und ich fand die Antwort auf eine Frage, die ich niemals gestellt hatte: Ja, so ein sehniger Körper konnte ganz schön schwer sein, wenn er auf einen raufkrachte. Das tat echt weh und einen Moment musste ich um Atem ringen. Natürlich, Aman war eher sehnig, als kräftig, aber er hatte trotzdem Gewicht.

Daran, dass dies passieren konnte, hatte ich natürlich keine Geistreden verschwendet. Eigentlich herrschte in meinem Kopf gerade nur gähnende Leere, bis auf das Wissen, dass ich von ihm loskommen musste. Doch jetzt lag er auf mir, drückte mich mit seinem Gewicht in den Boden und gab mir das Gefühl, noch näher als vorher zu sein. Doch wenigstens hatte er mich losgelassen, um den Sturz ein klein wenig abzufangen – schwacher Trost, wenn ich mich darauf besann, wie nahe er mir nun war und genau das war es, was mir durch den Kopf ging.

Nun ruhte sein Gesicht an meiner Halsbeuge und sein warmer Atem an meinem Hals ging nicht weniger hektisch als meiner.

„Was tust du nur, Lilith?“

War das eine ernstgemeinte Frage? „Ich habe versucht, von dir loszukommen, weil du dich schon wieder angenähert hast, obwohl ich dir gesagt habe, dass du das nicht tun sollst!“

Sein Atem stockte einen Moment, bevor er ihn sehr langsam entließ und sich halb über mir aufrichtete. „Warum?“, fragte er da auf einmal. „Warum kannst du nicht zulassen, was du spürst?“ Bei jedem seiner Worte steifte sein Atem mein Gesicht. War er wieder näher gekommen, oder bildete ich mir das ein, weil er noch auf mir lag? „Warum verweigerst du dich?“

„Warum? Verstehst du es wirklich nicht? Ist das nicht offensichtlich?“ Ich zwängte meine Arme zwischen uns.

„Stoß mich nicht wieder weg.“ Sein Blick war so eindringlich, dass ich in meinem Vorhaben wirklich inne hielt und es sogar zuließ, dass er seine Hand hob und an mein Gesicht legte. „Und nein, ich verstehe es nicht, kleine Kriegerin.“ Seine Hand glitt an meinem Gesicht entlang, zu meiner Kehle, zu dem wild schlagendem Herz in meiner Brust. „Ich sehe es in deinen Augen, in jedem Blick von dir.“

Stoß ihn weg! schrie eine Stimme tief in mir, doch entgegen dem, krallten sich meine Hände in den Stoff seines Pullovers. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Warum war er mir so nahe? So konnte ich keine Geistreden halten. Sein Geruch betäubte mich geradezu. „Was siehst du?“, wollte ich wissen und dann auch wieder nicht, weil ich mich vor der Antwort fürchtete. Was konnte er in meinen Augen sehen, dass ihn so handeln ließ?

„Ich sehe dich, Lilith, sehe deine Angst, vor dem, was sein könnte.“ Zart fuhren die rauen Hände wieder hinauf zu meiner Wange. Sein Daumen strich über meine Unterlippe und ein nie gekanntes Gefühl breitete sich in mir aus. Was tat er nur mit mir? „Ich sehe die Sehnsucht einer Frau.“ Sein Gesicht kam meinem wieder näher und ich wusste genau, was gleich geschehen würde, also drehte ich meinen Kopf blitzschnell zur Seite.

Der zarte Kuss traf mich auf der Wange und meine Haut begann sofort zu glühen. Wie war das nur möglich?

„Warum lässt du es nicht zu?“ Ein Hauch an meiner Haut, sein Gesicht, das über meines strich. „Lass es doch einfach zu.“

Mein Herz schlug wie wild in meiner Brust und irgendwas verhinderte, dass ich mich wehrte, als er mein Gesicht zurückdrehte und einen Kuss auf meinen Mundwinkel hauchte. Meine Hände krallten sich nur noch fester in dein Stoff und ich zog ihn entgegen besseren Wissen näher an mich heran. Warum tat ich das?

„Du muss nicht ein Wort sagen.“ Seine Nase rieb über meine, sein Blick hielt meinen gefangen und ich fühlte mich ihm ausgeliefert. Warum verhinderte ich seine Nähe nicht? Warum stieß ich ihn nicht endlich von mir? und warum fühlte ich mich so … so aufgeregt? Nervös? Gespannt?

„Tu einfach, wonach es dir beliebt“, flüsterte er. Unsere Lippen waren nur noch einen Hauch voneinander getrennt und in mir machte sich so etwas wie gespannte Erwartung breit. Wie er wohl schmecken würde? Wie so ein Kuss wohl war? Ich meinte, so ein richtiger, den ich auch erwiderte? Bei Bastet, was redete mein Geist da nur? Ich überlegte doch nicht gerade wirklich, einen Lykanthropen zu küssen, oder? Das ging doch nicht. Er war … er war … Aman.

Jetzt gerade war er einfach nur Aman, niemand sonst.

Hauchzart streiften seine Lippen über meine, „Tu es“, raunte er, als wüsste er ganz genau, welcher Zwiespalt gerade in mir herrschte.

Nun gut, warum auch sollte ich es nicht tun, wenn es da doch etwas in mir gab, das so sehr danach verlangte? Es würde nur ein Kuss sein, nur eine Berührung der Lippen. Ich würde einfach nur sehen, wie es sich anfühlte. Nur einmal und niemand würde davon erfahren. Nur ein einziges Mal, ein Geheimnis, das ich für mich behalten würde, eine Tat, mit der ich nichts als meine Neugierde befriedigte.

Langsam beugte ich mich vor, um die geringe Distanz zwischen uns zu schließen. Meine Augen schlossen sich wie von selbst. Eine Berührung der Lippen, nicht mehr als ein Hauch …

Ein Knacken im Unterholz neben uns ließ mich die Augen nicht nur wieder aufreißen, sondern mit dem Kopf auch so schnell herumfahren, dass meine Wirbel zum zweiten Mal an diesem Tag gefährlich knackten.

Asokan.

Der Junge stand dort in seinem zerrissenen Lendenschurz mit einem Schmierfleck an der Wange und trat nervös mit einem Bein auf das andere. Auch mit seinen Händen wusste er wohl nicht recht wohin, als er scheu zu uns sah und dann schnell wieder weg, als sei es ihm unangenehm, uns so zu sehen.

Und mit einem Mal wurde klar, wie er uns hier sah. Ich auf dem Boden, Aman über mir, der den Jungen mit Blicken erdolchte und ihn leise anknurrte. Wie vom Blitzt getroffen stieß ich Aman von mir und robbte eilig ein Stück von ihm weg, als der Lykanthrop überrascht auf seinen Hintern fiel.

Oh Göttin, was war hier gerade geschehen? Warum hatte ich das zugelassen? Plötzlich fröstelte ich und das kam nicht nur von den Blicken, die Aman und ich uns zuwarfen. Noch immer ging mein Atem schwer, doch nun wusste ich auch genau warum. Wut. Ich wusste nicht wie und konnte mir auch nicht das Warum erklären, aber irgendwie hatte dieser Hund es geschafft, dass ich ihn fast geküsst hätte. So wie gestern, nachdem ich erwacht war. Hör nicht auf, mach weiter. Das war es, was du gesagt hast.

Wie konnte er nur? Wie konnte er es wagen, mich schon wieder in eine solche Situation zu bringen? Was versprach er sich davon?

Die Wut über dieses unverschämte Verhalten fraß mich fast auf. Ich griff das Erstbeste, dessen ich habhaft werden konnte – ein kleiner Stein – und warf ihn nach diesem aufdringlichen Krieger, der einfach nicht verstehen wollte, dass er sich von mir fernhalten soll.

„He!“, protestierte Aman und riss schützend den Arm vors Gesicht. „Was soll das?“

„Du glaubst wohl, du kannst dir alles erlauben!“, fauchte ich ihn an, griff erneut zu und warf eine Handvoll Blätter nach ihm, die auf ihn niederrieselten. „Ich habe dir gesagt, du sollst mir fernbleiben!“ Ein Stock flog in seine Richtung.

Aman kniff die Augen leicht zusammen. „Eben wolltest du es aber nicht, oder irre ich mich da?“

Empört schnappte ich nach Luft. Dass er sich erdreistete, jetzt auch noch so herablassend das Wort an mich zu richten. „Natürlich irrst du dich, du dreckiger Hund!“

Ein warnendes Knurren entrang sich seiner Kehle, als erneut Blätter und Äste auf ihn niederrieselten. In einer drohenden Geste kam er auf die Beine. Er fand es wohl nicht sonderlich witzig die ganze Zeit beworfen zu werden. „Ich habe dich zu nichts gezwungen.“

„Natürlich hast du das!“, warf ich ihm vor und schickte erneut eine Ladung totes Blattwerk in seine Richtung. Da ich aber nicht wollte, dass er über mir stand und auf mich herabsehen konnte, sprang auf ich auf die Beine – natürlich nicht, ohne mir einen weiteren Ast zu schnappen, den ich in seine Richtung schleudern konnte. „Ich weiß nicht, wie du es schaffst, mich willenlos zu machen, aber du bist daran schuld!“

Der angeflogene Ast wurde mit einer einfachen Bewegung seines Arms in eine andere Richtung abgelenkt. Es waren kaum mehr als zwei Meter, die uns voneinander trennten und so bemerkte ich nur zu deutlich, wie das drohende Funkeln seiner Augen, in etwas anderes umschlug.

„Willenlos?“, fragte er vorwitzig. Und dann begann er doch tatsächlich, äußerst selbstgefällig und süffisant zu grinsen. „Ich möchte dich ja nicht enttäuschen, aber ich habe dich zu nichts gezwungen. Ich habe dir die Wahl gelassen. Was du da getan hast, geschah aus deinem eigenen Antrieb und …“

„Ich habe nichts getan!“, fauchte ich ihn an. Asokan war noch gerade rechtzeitig erschienen, um mich wieder zur Besinnung zu bringen. Das vergolt ich meiner Göttin. „Ich habe mich aus deinem Zauber gelöst – rechtzeitig!“

Aman schnaubte nur. „Das war kein Zauber, jedenfalls nicht so, wie du glaubst.“ Sein Blick wurde so intensiv, dass mein Körper wieder dieses Kribbeln bekam, das jede Zelle von mir einzunehmen drohte. „Was du fast getan hast, das ging einzig von dir aus. Ich habe dir nur gesagt, was du hören wolltest, was du brauchtest, um loslassen zu können. Mehr habe ich nicht getan, nur …“

„Kein Wort mehr!“ Hastig bückte ich mich, um ein neues Wurfgeschoss in meine Hand zu bekommen. Leider war es nur ein kleiner, knochiger Ast, kaum länger als mein Finger, an dem kläglich ein einzelnes, abgestorbenes Blatt hing, das traurig im Wind schaukelte. Trotzdem hielt ich es drohend wie ein Schwert zwischen uns. „Dein Mund spricht nur Lügen und die will ich mir nicht länger anhören!“

Aman warf einen Blick auf meine armselige Waffe und zog nur eine Augenbraue hoch. „Du kannst leugnen so viel du willst, aber es wird nichts an der Wahrheit ändern. Du wolltest es.“

„Wollte ich nicht!“, schrie ich und warf meinen knochigen Ast nach ihm. Er sollte einfach endlich still sein, ich wollte seine Lügen nicht hören. Die traurige Waffe schaffte es nicht mal die Hälfte der Strecke zu überbrücken, bevor sie wie ein verletzter Vogel zwischen uns in das Laub fiel. Bei Bastet, konnte denn gar nichts klappen?

„Doch“, widersprach Aman mit fester Stimme. „Du hast es gewollt, du kannst es dir nur nicht eingestehen. Und wenn dieses Kätzchen da nicht aufgetaucht wäre, wüsstest du das auch.“

Wie eine Einheit wandten Aman und ich uns dem immer noch wartenden Asokan zu, der sich reichlich unwohl in seiner Haut zu fühlen schien. Göttertod. Hatte er das wirklich alles mit angesehen? Ich wollte vor Scham im Erdboden versinken. Wie hatte ich mich nur mit diesem Zauber belegen lassen können?

Asokan räusperte sich schüchtern, als unsere Blicke auf dem Jungen liegen blieben. Er sah sich um, als suchte er einen Weg zur schnellen Flucht, zwang sich dann aber den Mund zu öffnen. „Ähm … der Heiler schickt mich.“ Nervös sah er von einem zum anderen. „Ich sollte euch holen, die Lykanthropin ist aufgewacht.“

 

°°°

 

Luan, Pascal und Anima waren schon da, als ich hinter Aman in die Höhle stürzte. Vinea lag noch immer auf dem behelfsmäßigen Lager, dass ihr von Anima bereitet worden war, doch war sie nun nicht mehr still und reglos. Wie Asokan gesagt hatte, war ihr Bewusstsein zurückgekehrt. Die Augen glänzend im fiebrigen Schein, hatte sie die Hände in Accos Fell vergraben und verzog leicht das Gesicht, als John vorsichtig auf ihre Schulter drückte.

„Hier?“

Sie stöhnte nur.

„Vinea!“ Aman war so schnell bei seiner Sicuti, dass er fast den Stein übersah und auf sie raufgefallen wäre. John hatte sich schon halb schützend über seine Patientin gebeugt, um das Schlimmste zu vermeiden, da fing Aman sich wieder, knallte aber neben ihr mit den Knien auf den Stein. Oh, das tat ja schon von zusehen weh. „Vinea“, sagte er erneut und griff nach ihrer Hand und drückte sie sich gegen die Stirn. „Du bist wach.“

„Aman?“ Ihre Stimme klang rau, schwach und sehr leise. Außerdem schien sie ihren Blick nicht richtig fokussieren zu können. Ja, sie war vielleicht wach, aber es schien ihr nicht wirklich besser zu gehen, als vor einer Stunde noch. „Bist du es wirklich?“

„Ja, Meen-suavis, ich bin es.“ Seine Augen schlossen sich und ich bekam das Gefühl, dass er sich stark zusammenreißen musste, um keinen Gefühlsausbruch zu bekommen. Nicht einmal, seit ich ihn kannte, hatte ich ihn so niedergebeugt erlebt. „Ich bin es wirklich.“

„Aber …“ Ihr Blick ging von ihm zu Acco, der sich halb um ihren Kopf gelegt hatte, über all die anderen Gesichter die von dem spärlichen Licht dieser Höhle beleuchtet wurden. „Wer sind all diese …“ Sie zischte, als sie versuchte sich zu bewegen.

Sofort war John da und drückte sie wieder zurück auf das Lager. „Nicht bewegen, hab ich gesagt.“

Ihre Augen schienen ein wenig an Kraft zu verlieren, als sie versuchte, den Heiler zu fokussieren. „Was bist du eigentlich?“

„Ein Mensch.“ Er seufzte schwer und richtete seine Worte dann an Aman, doch sein Blick blieb auf der Verletzten liegen. „Ich habe ihren Arm geschient und die Wunde an ihrem Kopf versorgt, so gut es eben ging, aber ich kann keine Medikamente verwenden. Ich weiß nicht, was euer Organismus verträgt und was nicht. Den Ast kann ich auch nicht entfernen, ich besitze nicht das nötige Material.“ Müde rieb er sich über die Augen. „Es tut mir leid, ich kann nicht mehr für sie tun.“

„Natürlich kannst du, Lilith konntest du auch retten und ihr ging es viel schlechter!“, fuhr Aman ihn an.

John ließ sich auf seinen harschen Ton nicht ein und blieb völlig unbeeindruckt von ihm. „So leid es mir tut, ich habe alles getan, was in meiner Macht stand.“

„Nein hast du nicht!“ Als John ihm schon wieder widersprechen wollte, packte Aman ihn über Vinea hinweg am Kragen. „Du willst es nur nicht tun, weil du mich verabscheust. Aber Vinea kann nichts dafür, also hilf ihr richtig!“

„Ich verabscheue dich nicht“, presste John zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus. „Ich habe getan, was ich konnte. Das, was uns Menschen hilft, scheint für euch pures Gift zu sein. Ich kann ihr nicht mal etwas gegen die Schmerzen geben. Ich will ihr nicht schaden und jetzt nimm deine Pfoten weg!“

Und dann tat er etwas, womit wohl niemand gerechnet hatte, er schlug Aman auf den Arm, genau auf die Stelle, die leicht mit Blut verschmiert war. Das war ich gewesen, erinnerte ich mich. Dass waren meine Kratzspuren, von dem Moment, als ich versucht hatte seiner Nähe zu entkommen.

Aman und John töteten sich gegenseitig mit Blicken, keiner wollte nachgeben, beide fühlten sich im Recht, aber niemand von den beiden schien zu bemerken, dass es hier nicht um sie und ihre Streitigkeiten, sondern um Vinea ging. Ich wollte schon den Mund öffnen und den beiden gehörig den Marsch blasen, als die aufkommende Stille aus völlig unerwarteter Ecke gebrochen wurde.

„Schlafmohn“, sagte Asokan und sicherte sich damit die plötzliche Aufmerksamkeit aller. Dies schien ihm nicht sonderlich zu gefallen, denn er versuchte, halb hinter Anima in Deckung zu gehen. „Ich meinte ja nur“, sagte er leise und schämte sich offenbar dafür, dass er es gewagt hatte den Mund zu öffnen. Vielleicht war er aber auch einfach nur schüchtern.

„Natürlich“, kam es da von Luan. „Es ist so lange her, aber … ich hätte daran denken müssen, Opium.“

„Opium?“, fragte ich. Mit diesem Begriff konnte ich nichts anfangen.

„Ja, Opium. Das ist eine Substanz unter den Menschen, die aus dem Schlafmohn hergestellt wird, ein Rauschmittel. Natürlich gibt es in der Zwischenzeit modernere Drogen, wie Marihuana, LSD, Crystal Meth, Speed und dieses ganze Zeug, das die Leute kaputt macht …“

„Mann, du kennst dich aber ganz schön gut aus“, warf Pascal dazwischen. „Sollte ich mir deswegen vielleicht Gedanken machen?“

Luan beachtete ihn gar nicht und sprach einfach weiter, als hätte der junge Magier nichts gesagt „… sodass Opium kaum noch genutzt wird, hauptsächlich im klinischen Bereich bei Tumoren, oder Gallen- und Nierenerkrankungen.“

Ich verstand nicht, was er damit sagen wollte. „Und was hat das mit Vinea zu tun?“

„Nichts“, sagte er etwas verwirrt und sah auf die Lykanthropin hinunter. „Es geht um den Schlafmohn, der wächst auch hier auf der Erde. Mohnblumen.“

„Mohnblumen?“, fragten John und Pascal wie aus einem Munde. Sie sahen sich kurz an und dann war es der junge Magier, der das Wort erneut ergriff. „Redest du von diesen roten Blumen, die überall auf dem Feld wachsen?“

„Nein, was du meinst ist Klatschmohn, ich aber rede von Schlafmohn. Der gehört auch zu den Mohngewächsen, enthält aber, im Unterschied zu Klatschmohn, viel Morphin. Schlafmohn ist auf Silthrim so etwas wie ein Betäubungsmittel, ein Narkotikum.“

„Es gibt hier Schlafmohn?“, wollte ich aufgeregt wissen. Zwar konnte es Vinea nicht zur Heilung verhelfen, aber es würde ihr wenigstens die Schmerzen nehmen.

„Nicht um diese Jahreszeit“, murmelte Luan und legte die Stirn angestrengt in Falten.

„Das mit der Jahreszeit sollte kein Problem sein“, sagte Pascal. „Ich muss nur wissen, wie diese Blumen aussehen, dann kann ich welche besorgen.“

„Aber natürlich.“ Hastig zog Luan seinen kleinen schwarzen Kasten, dieses Handy aus der Hosentasche und begann wild darauf herumzutippen. Seine Augenbrauen waren konzentriert zusammengezogen, während wie anderen versuchten uns in Geduld zu üben. „Da ist sie.“ Triumphierend hielt Luan Pascal sein Handy unter die Nase und zwinkerte mir zu. „Internet“, sagte er.

Ich sparte mir dieses eine Mal einfach die Frage, was das nun wieder war und sah Pascal einfach über die Schulter.

Die gläserne Oberfläche des Handys hatte sich verändert. Da wo vorhin noch seltsame Symbole gewesen waren, wurden sie nun von einem gestochen scharfem Bild einer Blume ersetzt. Eine relativ große Blüte mit lavendelfarbenen Kelchblättern, in denen ein gelber Blumenstempel thront. Neben der Blüte waren kapselförmige Früchte, in denen – wie ich wusste – sich zahlreiche Samen befanden. Krautartige Blätter bevölkerten den haarigen Stiel. „Das ist Schlafmohn, ich kenne ihn von zuhause.“

„Na dann.“ Pascal reichte Luan das Handy zurück, griff unter sein Hemd und zog den kristallenen Anhänger von vorhin hervor. Als er die Finger darum schloss, verschwand der kleine Stein komplett in seiner Hand. Mit der geschossenen Faust berührte er das kalte Gestein der Höhle und murmelte etwas wie: „Komm schon, komm schon, konzentrier dich.“

Im ersten Moment geschah gar nichts. Auch im zweiten blieb die Höhle wie sie wahr und langsam zweifelte ich an seinen Fähigkeiten. Vielleicht hatte es gar nichts mit dem Tigerauge zutun, dass seine anderen Zauber nicht funktioniert hatten, sondern einfach mit seiner Unfähigkeit. Auf Silthrim wäre er nicht mehr als ein kleiner Lehrling. Er besaß nicht einmal die Magierzeichen, die die Kinder der Sachmet so stark machten. Er war einfach nur …

Plötzlich kribbelte es an  meiner Hand, die ich an dem Gestein abgestützt hatte. Blitzartig riss ich sie weg und konnte dabei zusehen, wie sich eine kleine Knospe durch die harte Oberfläche bohrte. Erst nur ein wenig, dann immer größer. Nur langsam erblickte sie das Licht der Welt – oder der Höhle – und sie war nicht die Einzige. Überall aus den Wänden und aus dem Boden sprossen plötzlich kleine Knospen, die langsam aber sicher wuchsen und sich vor unseren Augen zu voller Blüte entwickelten. Eine Handvoll, zwei Dutzend, unzählige. Plötzlich standen wir inmitten eines Meeres aus Schlafmohn.

Das war unglaublich.

Pascal seufzte und rutschte dann erschöpft an der Felswand herab. Augenblicklich hörten die Mohnblumen auf zu wachsen. „Puh, das war anstrengend gewesen.“

Das glaubte ich ihm sofort. Auf seiner Stirn standen feine Schweißtröpfchen und sein Gesicht war ein wenig gerötet. Auch schien sein Atem etwas härter als vorher, aber was mich im Moment viel mehr interessierte, war der Schlafmohn. Vorsichtig pflückte ich eine Pflanze von der rauen Felswand. „Und die ist genauso wie echter Mohn?“

Pascal stieß ein bellendes Lachen aus. „Das ist echter Mohn. Ich kann nichts zaubern, was es nicht gibt, sonst wäre Scooby Doo schon längst mein Haustier. Oder Bugs Bunny, den find ich auch ganz witzig.“

„Wer?“

„Vergiss was er sagt“, unterbrach Luan uns. Er riss eine Handvoll Pflanzen vom Boden und reichte sie John. „Gib ihr die.“

„Alles?“

„Nein!“, kam es da entsetzt von Asokan und wieder lag die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihm. „Ich meine, nein, nicht alles. Nur die Blüten, nicht die Kapseln, die sind giftig.“

John fragte nicht weiter nach, sondern stutzte die Blumen geschäftig auf die Blüten. „Wie viel muss ich ihr davon geben?“

„Gib ihr eine, sie soll die ganze Blüte essen.“

„Nur eine?“, fragte ich.

Er nickte. „Ja, eine gegen die Schmerzen, zwei um den Körper zu betäuben, drei um den Geist ins Land der Götter zu schicken.“

Nach diesen Worten war es einen Moment still in der Höhle, in der John Vinea eine Blüte in den Mund stecken wollte, doch auf halbem Wege entriss Aman sie ihm und gab sie selber seiner Brestern zu essen.

„Woher weißt du das alles?“, wollte Anima wissen.

Gute Frage, die hatte ich mir auch gerade gestellt.

„Naja“, druckste er herum. „In meiner Muße bin ich viel mit Heiler Horion zusammen und er erklärt mir einiges.“ Kurz schloss er den Mund. „Manchmal helfe ich ihm auch, wenn er jemanden kuriert.“

Stimmt. War der Kleine nicht auch am Schöpfertag beim Heiler gewesen, als Sian sich die Kralle eingerissen hatte? Ich hatte gedacht, dass ihm wieder einmal ein Missgeschick unterlaufen war und er zur Behandlung da war, aber wenn ich mich jetzt recht erinnerte, schien er wohlauf gewesen zu sein.

Ich seufzte schwer bei den Geistreden an diesen Tag. Da war noch alles in Ordnung gewesen. Wie es Sian wohl ging? Was er gerade machte? Ich hoffte nur, Sachmets Kinder waren aus dem Tempel vertrieben worden und meinem Kleinen fehlte nichts.

Ich versuchte, jegliche Rede im Geist an diesen Tag von mir zu schieben und konzentrierte mich stattdessen lieber auf Vinea, die durch angestrengtes Schlucken versuchte, die Blüte hinunterzuwürgen. Aman reichte ihr sogar etwas Wasser, aus einer Rindenschale, damit sie es leichter hatte. Es war einfacher, sich mit dem Hier und Jetzt zu befassen, als um das, was sein könnte. Ich wusste es sowieso nicht und die Geistreden daran würden mich nur verrückt machen.

Dies ist die Bekümmerns deines Geistes, das Unheil.

Oh Göttin, was waren das für Worte?

„Besser?“, fragte Aman besorgt.

Hatte ich ihn schon je so fürsorglich erlebt? Irgendwie versetzte mir dieser Anblick einen Stich, doch ich konnte mir nicht erklären, warum.

„Ja.“ Vinea schluckte noch einmal. „Viel besser.“

„Das Schlafmohn braucht ein wenig Zeit, um zu wirken“, sagte Asokan und zog gleich darauf den Kopf ein, als Aman ihn mit Blicken durchbohrte. „Ich dachte nur, ihr solltet das wissen“, fügte er leise hinzu und nun versteckte er sich wirklich hinter Animas Rücken. Er war so schmächtig, dass er tatsächlich hinter der schlanken Ailuranthropin verschwand.

„Es wird nicht helfen“, warf John einfach in den Raum. „Zwar wird es ihr ihre Schmerzen nehmen, aber ihr Zustand wird sich dadurch nicht bessern.“

Aman funkelte den Heiler wütend an. Er sah aus, als wenn er ihm am liebsten an die Kehle springen würde. „Dann tu endlich etwas, damit es ihr besser geht!“

„Ich kann nichts tun.“

„Du bist Heiler, du musst etwas tun können!“

„Ich bin Tierarzt.“ Er seufzte schwer und ließ den Blick auf die entzündete Bauchwunde sinken. „Und nicht einmal ein besonders guter.“

„Du willst es ja nicht einmal versuchen!“, warf Aman ihm vor.

„Ich habe es bereits versucht“, konterte John sofort.

Da ich befürchtete, Aman würde gleich etwas Unüberlegtes tun, sah ich mich gezwungen, dazwischen zu gehen. „John“, sagte ich, durchmaß das kurze Stück, dass uns trennte mit wenigen Schritten, um mich neben ihn zu knien. „Bitte, tu etwas. Ich weiß, du kannst ihr helfen, mir konntest du doch auch helfen.“

John schnaubte und sah dabei etwas verzweifelt drein. „Das bei dir war etwas ganz anderes und da hatte ich mehr Glück als alles andere.“

„John.“ Ich nahm seine Hand in meine und drückte sie leicht. „In dir steckt mehr als du glaubst, du musst es nur versuchen.“

Er drückte die Lippen aufeinander, wich meinem Blick aus und schnalzte dann ungeduldig. „Verdammt, warum wollt ihr eigentlich nicht verstehen? Ich bin Tierarzt, kein Chirurg. Selbst, wenn ich wollte, könnte ich ihr nicht helfen, weil ich gar nicht das nötige Material besitze.“

„Dann besorgen wir es dir“, ereiferte ich mich.

Etwas ungläubig verzog John das Gesicht. „Das ist nicht so einfach, wie du dir das vielleicht vorstellst. Chirurgenbesteck bekommt man nicht einfach im Laden an der Ecke. Wo sollen wir es auf die Schnelle also herbekommen?“

„Aus dem Krankenhaus“, kam es da von Pascal.

John funkelte seinen Brestern an. „Ich glaube kaum, dass die uns mal kurz in ihr Lager lassen, damit ein Tierarzt ihre Vorräte plündert, um eine Notoperation an einem Menschen durchzuführen.“ 

„Mann, John, stell dich doch nicht dümmer als du bist“, gab Pascal etwas unwirsch zurück. „Ich habe nicht vom Fragen, sondern vom Klauen gesprochen.“

Bildete ich mir das nur ein, oder lag Pascals Zunge schwer in seinem Mund? Auf jeden Fall war sein Übermut verschwunden. Er sah so aus, als würde er jeden Moment einschlafen. Der Zauber musste ihn sehr mitgenommen haben.

„Klauen?“ John sah beinahe entsetzt aus. „Ich beklau doch kein Krankenhaus!“

Ich verstand ihn. Auch wenn es mir im Moment nicht zusagte, so verstand ich ihn nur zu gut. Mir unrechtlich etwas anzueignen widerstrebte mir zutiefst. Aber … Moment. Einer plötzlichen Eingebung folgend, wandte ich mich zu Pascal um. „Wir müssen nicht klauen, wir können zaubern. Wie mit den Blumen. Du kannst herzaubern, was John braucht.“

Pascal lachte schnaubend. „Ich will dich ja nicht enttäuschen, aber das Einzige, was ich im Moment wohl noch zustande bringe, ist so laut zu schnarchen, dass der ganze Wald um uns herum abgesägt wird.“ Müde rieb er sich übers Gesicht. „Etwas aus dem Nichts heraufzubeschwören ist nicht gerad einfach. Und dann auch noch der Findezauber von vorhin. Das war ziemlich anstrengend. Ich kann zaubern, aber ich brauche danach immer ein wenig Erholung. Momentan bin ich ziemlich geschlaucht, vor morgen wird das nichts. Sorry.“ 

„Sie hat aber nicht mehr bis morgen.“ Anima richtete ihren Blick genau auf John. „Vinea ist schwach, kaum noch bei Kräften und wenn ihr nicht schnell geholfen wird, dann bezweifle ich, dass sie das Tageslicht noch einmal sehen wird.“

„Sprich nicht so“, knurrte Aman sie an. „Vinea ist stark.“

„Das bezweifle ich nicht“, erwiderte sie völlig unbeeindruckt. „Aber sie hat seit einer Woche nichts mehr gegessen und an Wasser nur das zu sich genommen, was ich ihr einflößen konnte. Außerdem ist ihr Körper sehr geschwächt. Dass sie noch nicht zurück in die Mächte gefahren ist, grenzt für mich schon beinahe an ein Wunder.“

Diese Worte bewirkten eine drückende Stille, die sich wie ein schweres Tuch über uns legte. Aber Anima hatte Recht, Vinea sah wirklich nicht gut aus. Ihr Fell war stumpf und ungepflegt, die Augen fiebrig und ihre Brust hob und senkte sich unregelmäßig unter ihrem Atem.

Vielleicht nahm ihr die Blüte ja wirklich die Schmerzen, aber zu einer Besserung konnte sie nicht beitragen. „Bitte John“, versuchte ich es noch einmal. „Bitte, du musst ihr helfen.“ Ich konnte einfach nicht dabei zusehen, wie noch jemand aus Silthrim starb, während ich unnütz daneben saß. Und wenn die einzige Möglichkeit ihr zu helfen darin lag, John zu überzeugen, dann war es halt so. „Bitte, tu es für mich.“

Ich konnte sehen, wie er ins Schwanken geriet, wie er die Lippen aufeinander drückte, den Blick zu Vinea gleiten ließ und weiter auf Aman.

„Bitte“, drang ich weiter in ihn. „Ich werde dich auch begleiten und dir helfen zu klauen, nur bitte rette sie.“

„Lilith …“

„Ich weiß dass du es kannst, wir brauchen nur dieses Besteck, von dem du gesprochen hast.“

„Es ist nicht so einfach, es ist …“

„Ich weiß dass es nicht einfach ist, aber ich weiß auch, dass du es kannst. Bitte John, lass uns die Sachen besorgen und versuch es wenigstens.“

 In der ganzen Höhle wurde es nach diesen Worten ruhig. Jeder wartete auf Johns Entscheidung und als er dann ergeben seufzte, konnte ich nicht anders, als ihm um den Hals zu fallen. „Vergelts.“

„Ich weiß aber nicht, ob ich ihr helfen kann, nicht mal wenn ich die Sachen habe.“

„Niemand erwartet ein Wunder von dir“, beruhigte ich ihn, „nur, dass du dein Nötigstes versuchst.“

Dies schien ihn nicht wirklich zu beruhigen. Ich verstand ihn ja. Mit dieser Entscheidung hatte er sich nicht nur dazu entschlossen, etwas Verbotenes zu tun, sondern auch eine schwere Last auf seine Schultern geladen, derer er sich nicht gewachsen fühlte. Aber ich glaubte an ihn, ich wusste, dass er es konnte, er brauchte einfach nur ein wenig mehr Vertrauen in seine Fähigkeiten. Deswegen zögerte ich auch nicht mehr viel länger, sondern zog ihn mit mir auf die Beine. „Dann lass uns gleich gehen, wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.“

„Ihr könnte nicht gehen“, kam es da zu unserer aller Überraschung von Luan.

„Natürlich können wir“, fuhr ich ihn an. „Wer will uns daran hindern? Du?“

„Darum geht es nicht. Ihr werdet immer noch von der Polizei gesucht. Die Nachrichten sind voll mit euren Gesichtern. Da könnte es Schwierigkeiten geben, wenn ihr einfach im nächsten Krankenhaus auftaucht.“

„Ich fürchte mich nicht vor Schwierigkeiten“, erklärte ich ziemlich unwirsch. „Ich kann damit umgehen. Vinea braucht Hilfe und das ist alles, was im Augenblick zählt.“ Ich konnte einfach nicht noch jemanden sterben lassen, nicht so wie Naaru.

„Natürlich, natürlich, das bestreite ich auch gar nicht, aber wir müssen uns vorbereiten, um die Gefahr der Entdeckung so gering wie möglich zu halten. Wenn ihr erwischt werdet, hilft das Vinea auch nicht und ich bin nicht bereit, John in Gefahr zu bringen.“ Er grinste leicht schief. „Tut mir leid, Lilith, aber das werde ich nicht zulassen.“

Leider musste ich mir eingestehen, dass er da durchaus Recht hatte. Sollten wir, durch welche Umstände auch immer, gefangen genommen und Kriegergeneral Silvano Winston ausgeliefert werden, dann war Vinea damit nicht geholfen. „Was schlägst du also vor?“

„Ich denke, ich werde Janina noch mal anrufen und sie bitten, einige Besorgungen auf dem Weg hier her zu machen.“

„Besorgungen?“

„Ja, Besorgungen.“ Sein Mundwinkel kletterte ein wenig höher. „Wir werden euch einfach verkleiden.“

 

°°°

 

Jetzt verstand ich, warum Anima vorhin einfach nicht hatte still stehen können, dieses Warten raubte einem wirklich den letzten Nerv.

Unruhig bewegte ich mich vor der Bastion auf und ab. Wo blieb Janina nur? Luan war schon vor einer Ewigkeit aufgebrochen, um sie am Wagen abzuholen. So lange konnte das doch nicht dauern. Verstanden sie denn nicht, dass wir es eilig hatten? Jede Minute, die verstrich, konnte die entscheidende sein und ich war nicht bereit, noch ein Leben vergehen zu sehen. Die Ungeduld begann langsam aber sicher mich aufzufressen.

„Lilith?“

Ich blieb stehen und sah zu dem Eingang der Höhle, obwohl ich schon an der Stimme erkannte, wer mich da gerufen hatte. Zur Sachmet mit diesem Lykanthropen! Warum nur reagierte ich überhaupt auf ihn? Ich sollte ihn ignorieren. Immer wenn er in meine Nähe kam, erkannte ich mich selber kaum wieder und das wollte ich nicht. Also setzte ich mich einfach wieder in Bewegung. Weg von ihm. Abstand halten, so vermied ich unliebsame Begegnungen. Die letzte hing mir noch nach.

„Lilith, warte.“

„Geh weg, ich will nicht, dass du mir noch einmal nahe kommst.“

„Warte doch, ich …“ Seine Hand packte mich am Arm und zwang mich zum Stehen. „Ich wollte es dir nur vergelten, dass du dich so für Vinea eingesetzt hast, ich … vergelts.“

„Ich habe das nicht für dich getan und nun lass mich gehen.“

Und das tat er wirklich. Zu meiner Überraschung ließ er meinen Arm los. „Trotzdem. Vinea ist meine Familie, ohne sie … ich … was ich sagen will … vergelts.“ Er verstummte einen Augenblick. „Das war es wohl, was ich sagen wollte, vergelts.“

„Behalt dein Vergelt“, entkam es mir etwas schärfer als beabsichtig, aber seine Worte, sein Verhalten verwirrten mich irgendwie. Ich wollte das nicht, ich wollte weg von ihm und trotzdem bewegte ich mich nicht. Warum nicht?

„Ich werde euch begleiten.“

„Was?“

„An diesen Ort, Krankenhaus, ich werde mit dir und John mitgehen.“

„Und was ist mit Vinea?“

„Sie schläft, Acco wird auf sie aufpassen und wenn ich nur hier rumsitze, werde ich noch verrückt. Ich muss ihr helfen, egal wie.“

Das verstand ich, das waren die gleichen Geistreden, die mir selber durch den Kopf gegangen waren. Trotzdem bereute ich meine nächsten Worte schon, bevor ich sie überhaupt ausgesprochen hatte. „Dann kümmere dich aber vorher um deinen Arm, das blutet ja immer noch.“

Er drehte seinen Kopf leicht und blickte über seine Schulter. „Ich komme nicht ran, die Wunden sind zu weit hinten.“

Wollte er mich damit bitten, dass ich die Kratzer versiegelte? Niemals! „Dann verbinde ihn eben.“

„Aber …“

„Sie kommen!“ Aufgeregt  brach Asokan durch den Wall aus Dornengestrüpp und Bäumen und fiel dabei fast noch auf die Nase. „Der Vampir, er kommt zurück!“

Dann war es wohl endlich Zeit für den Aufbruch.

Der Göttin sei es vergolten.

 

°°°°°

Kapitel Dreiundzwanzig

„Das ist nicht so einfach.“ Nervös trommelte John mit den Fingern auf dem Steuerrad des Autos und hielt seinen Blick dabei stur durch das vordere Fenster, auf das große, kahle Gebäude. Krankenhaus nannte John es.

Dieser hohe Komplex aus blassen Sandstein und mit zahllosen Fenstern war so groß wie die Tempelanlage der Ailuranthropen und der sollte voll von kranken Menschen sein? Das war unglaublich. Wie viele Menschen es wohl gab?

„Natürlich ist es einfach“, grollte Aman vom Rücksitz. Janina hatte ihm ein Kappi verpasst – das war eine Art Hut, wie die Menschen ihn trugen – und dazu einen modischen, grauen Schal, wie sie ihn genannt hatte. Ich war ähnlich verändert worden. Etwas dezente Farbe im Gesicht – Make-up war die Bezeichnung – ließ mich gleich ganz anders aussehen. Meine Haare waren nun zu einem Zopf hochgebunden und eine Sonnenbrille thronte auf dieser Frisur. Ich mochte sie nicht, davon tat mir der Kopf weh.

Mehr war nicht nötig, so hatte Janina gesagt. Allein schon, dass wir Kleidung trugen, ließ uns ganz anders als beim letzten Mal aussehen, als wir in der Öffentlichkeit aufgetreten waren.

John dagegen musste seine Sonnenbrille auf der Nase tragen – ob ihm der Kopf davon genauso weh tat?

„Wir schleichen rein und besorgen was wir brauchen“, fügte Aman noch hinzu.

John lachte bellend auf. „Na du hast vielleicht Vorstellungen. Das Material das wir benötigen, befindet sich wahrscheinlich im OP-Bereich und da hat nicht jeder Zutritt. Wenn man uns bemerkt, schmeißen die uns sofort raus. Wenn sie nicht sogar die Polizei holen.“

„Na, dann passen wir halt darauf auf, dass sie uns nicht bemerken“, warf ich von der Seite ein. Ich war ungeduldig, wollte endlich aus dem Wagen aussteigen und etwas tun. Stattdessen waren wir schon seit einer Ewigkeit auf dem sogenannten Parkplatz und berieten unser weiteres Vorgehen. Natürlich, Vorbereitung war wichtig, aber Rumsitzen brachte uns nicht weiter und wir hatten auch nicht die Zeit, weiter Diskussionen zu führen – Vinea hatte diese Zeit nicht. „Als Krieger lernt man es, sich unauffällig zu bewegen“, fügte ich noch hinzu.

„Nein, ihr versteht nicht“, widersprach John sofort. „Der Bereich, in den wir müssen, ist nicht nur für Unbefugte verboten, er ist auch … naja, irgendwie bewacht. Da laufen Ärzte und Krankenschwestern herum. Die würden sofort bemerken, wenn wir versuchen, da hinzukommen.“ Er klammerte seine Hand um das Steuerrad. „Es sei denn, man ist verletzt und braucht ärztliche Versorgung, die eine OP erfordert, dann kommt man da ohne Probleme rein. Aber so? So haben wir kaum eine Chance.“

„Na dann verletze ich mich halt.“ Ich drehte mich auf meinem Sitz herum und beachtete den entsetzten Ausdruck in Johns Gesicht nicht weiter. „Ist doch nichts dabei. Ich kann mit Schmerz umgehen. Ich schneide mich einfach in den Arm, dann müssen sie uns reinlassen und während der Heiler mich versorgt, suchst du nach allem, was du brauchst, damit wir schnell zurück zu Vinea können.“ Ich legte ihm beruhigend eine Hand auf das Knie. „Sorge dich nicht, ich kann die Wunde später selber schließen. Da ist nichts weiter dabei. Du wirst sehen, das wird ganz einfach.“

„Das ist ein guter Einfall“, kam es von der Rückbank. „Nur wirst du es nicht machen, ich mache es.“

Oh Göttin, wollte er mal wieder den großen Krieger mimen? Das würde ich nicht zulassen. Es war meine Idee gewesen, also würde ich sie auch in die Tat umsetzen. „Und warum du und nicht ich? Glaubst du, nur weil ich kein Mann bin, kann ich keinen Schmerz vertragen?“ Herausfordernd funkelte ich ihn an. „Oder hat es wieder etwas damit zu tun, dass ich noch ein Lehrling bin und du der ach so große Krieger, der alles besser weiß?“

„Das hat damit gar nichts zu tun“, verteidigte Aman sich sofort. „Vinea ist meine Sicuti, also obliegt es auch mir, etwas für sie zu tun. Ich werde mich schneiden.“

„Nicht wenn ich schneller bin.“ Ich fasste schon nach dem gläsernen Dolch in meinem Gürtel, als Aman halb zu mir auf den Vordersitz sprang, um meinen Arm festzuhalten.

„Das wirst du nicht, ich tue es!“ Er versuchte nach dem Dolch zu greifen, doch ich war schneller. Nur kam ich nicht mehr dazu mich zu schneiden, weil er mein Handgelenk packte.

„Lass mich los!“

„Nein!“

„Nimm deine Hände fort!“

„Das werde ich nicht.“ Aman hängte sich noch mehr über den Sitz, ja lag schon beinahe auf mir drauf. „Gib mir den Dolch!“

„Nein!“

„Du wirst dich nicht schneiden!“

„Doch, das werde ich.“ Ich riss die Hand mit dem Dolch zur Seite, aber das Einzige was ich damit erreichte, war das Auto mit einem langen Kratzer zu beschädigen. „Lass endlich los!“

„Das werde ich nicht, lass du los!“

Wir rangelten wild um den Dolch. Keiner wollte nachgeben. Er nicht, weil er ein sturer Hund mit Steinen im Kopf war und ich nicht, weil ich mich im Recht befand. Es war mein Einfall gewesen, also würde ich es auch sein, die uns hineinbrachte. Dieser Krieger sollte sich nur nicht so aufspielen.

„Zur Sachmet, Lilith, gib mir den Dolch!“

„Das werde ich nicht, lass von mir ab!“

John verfolgte unseren Streit mit wachsenden Entsetzten. Er konnte uns nur aus großen Augen ansehen und musste uns schier für verrückt halten, wie wir uns darum stritten, wer von uns sich verletzten durfte. „Spinnt ihr?! Ihr seid ja wohl von allen guten Geistern verlassen!“ Er beugte sich vor und versuchte nun auch dem Dolch habhaft zu werden, doch Aman und ich rissen gleichzeitig die Arme hoch, um ihn aus seiner Reichweite zu bringen, was er mit einem finsteren Blick quittierte.

„Du bekommst den Dolch sichern nicht“, knurrte Aman und kämpfte gegen mich an. „Du tust dir damit nur selber weh – nicht, dass das weiter schlimm wäre, nur … uff.“

Nach vielen Fehlversuchen war es mit gelungen, ihm mein Knie in die Seite zu rammen. Trotzdem, er wollte einfach nicht loslassen und langsam machte mich das wütend. Und dann knurrte der Kerl mich auch noch an, das war nicht zu fassen.

„Euch scheint gar nicht bewusst zu sein, wie sehr ihr euch verletzten müsstet, um in den OP-Bereich zu kommen“, schimpfte John. „Und nicht nur, dass ihr euch dann selber handlungsunfähig machen würdet, ihr würdet auch noch Gefahr laufen, Medikamente zu bekommen, die ihr nicht vertragt und damit unweigerlich auf einen längeren Aufenthalt hier zusteuern!“

Einen Moment war ich von seinen Worten abgelenkt. Dabei war es weniger das, was er gesagt hatte, sondern wie viel. Wenn ich so Geistreden daran hielt, dann war das wohl der längste Wortschwall, den ich je hatte aus seinem Mund kommen hören. Außerdem, wo war der schüchterne, verschreckte John hin? Den ganzen Tag über wirkte er schon sehr gereizt. Was hatte er heute nur?

Aman nutzte meinen unaufmerksamen Moment sofort aus und schlug meinen Arm weg, mit dem ich ihn auf Abstand hielt. Doch das Einzige, was diese Aktion brachte, war, das sein Kopf gegen meinen knallte.

„Bei Bastet, pass ein wenig auf!“, fuhr ich ihn an.

„Hört ihr mir überhaupt zu?!“, wütete John. „Versteht ihr was ich sage?“

„Natürlich verstehen wir das“, sagte Aman und ließ mich nach einem intensiven Blick in meine Augen endlich los, um seinen Platz auf der Rückbank endlich wieder einzunehmen. Dabei rieb er sich mit der Hand über die Stirn, aber in seine Augen blieb wieder dieses seltsame Funkeln bestehen. Dummer Hund. „Wir sind ja nicht dumm“, fügte er noch hinzu.

„Bei mir stimmt diese Aussage wohl“, murrte ich und ordnete mich auf meinem Sitz neu. Der Dolch verschwand wieder unter meiner Jacke im Gürtel. „Bei dir bin ich mir da nicht so sicher, Steinkopf!“

Den Blick, der sich mir in den Hinterkopf bohrte, beachtete ich nicht weiter. Stattdessen wandte ich mich John zu. „In Ordnung, aber wenn es so nicht funktioniert, was sollen wie dann tun?“

„Wenn ich das nur wüsste.“ Kraftlos lief John seinen Kopf auf das Steuerrad fallen. Einmal, zweimal, dreimal.

„John?“, fragte ich vorsichtig. „Geht es dir gut?“

„Ich hätte nicht hier her kommen sollen, das ist doch Irrsinn.“

„Aber wir müssen doch Vinea helfen.“ Wollte er etwa aufgeben? Das konnte ich nicht zulassen. „Oder willst du sie sterben lassen.“

Er schwieg eine ganze Weile und ich sorgte mich schon vor der Erwiderung – warum musste er überlegen, die Antwort war doch klar – da seufzte er. „Nein, natürlich nicht, aber …“

„Wie wäre es mit einem Ablenkungsmanöver?“, fragte da Aman. „Lilith und ich lenken die Heiler ab und du schlüpfst in den verbotenen Bereich, um zu holen, was du brauchst.“

Diese Idee war … gar nicht so schlecht. „Und wie genau stellst du dir das vor?“, wollte ich erfahren.

„Du fällst in Ohnmacht.“

„Bitte was?“ Hatte ich mich gerade verhört? Ich war doch keine von diesen empfindsamen Weibchen, die eine starke, männliche Schulter brauchten, um nicht nach jedem Schritt zusammenzubrechen. Fast schon empört blies ich die Backen auf. „Warum fällst du nicht in Ohnmacht?“ Ich wollte sicher nicht arm und schwach wirken, während Aman dabei war. Er glaubte jetzt bereits, dass ich ohne ihn keinen Schritt gehen konnte.

„Weil es albern wäre, wenn ein Mann in Ohnmacht fällt“, konterte er. „Eine Frau ist dafür viel besser geeignet.“

„Wer behauptet das?“, wünschte ich zu erfahren.

„Niemand, das ist einfach so.“

„Dann kannst du es genauso gut machen, denn ich werde nicht umfallen.“

„Ich auch nicht. Allein die Geistrede daran ist lächerlich.“

„Gut, dann fällt halt niemand in Ohnmacht, dann überlegen wir uns etwas anderes.“

Aman knurrte. „Wir geben den Plan doch jetzt nicht auf, nur weil du so ein Steinkopf bist!“

„Steinkopf?“ Hatte er das wirklich gerade gesagt? „Der einzige Steinkopf hier bist du. Du bist zu stolz um auch mal eine niedrige Rolle zu spielen und deswegen soll ich das jetzt tun?“

„Wer hier zu stolz ist, um etwas zuzulassen, ist ja wohl eine ganz andere Frage!“, knurrte er mich an.

Ich schnappte nach Luft. Dass er das jetzt zur Sprache brachte, würde er noch bereuen. „Ich bin nicht zu stolz, um etwas zuzulassen, nur bist du einfach nicht würdig!“

Das ließ ihn gefährlich aus der Kehle knurren.

John saß schon beinahe fassungslos neben mir und konnte über unseren Disput nur noch den Kopf schütteln. „Sagt mal, was ist heute eigentlich mit euch los? Erkennt ihr gar nicht den Ernst der Lage? Ich fass es nicht. Ihr lotst mich extra hierher und dann macht ihr so einen Kinderkram!“ Er sah uns beinahe ungläubig an. „Wenn ihr nur zum Streiten hier seid, dann kann ich auch einfach wieder zurück fahren!“

„Nein“, grollte Aman. „Wir tun, wozu wir gekommen sind. Lilith muss nur endlich zustimmen.“

„Dir stimm ich bei gar nichts zu, du selbstverliebter Hund!“

„Und so eine Beleidigung kommt ausgerechnet von dir? Von einer Katze, die zu eingebildet ist, um sich einzugestehen, was sie wirklich will, nur weil die Gesellschaft es anders von ihr erwartet?!“

„Ich bin nicht eingebildet, du …“

„Jetzt reicht es aber!“, schritt John aufgebracht ein. „Wenn ihr euch nicht einigen könnt, dann werde ich jetzt sagen was geschehen wird. Wir fahren zurück!“ Er fasste unter das Steuerrad und einen Moment später erwachte der Wagen aus seinem Schlaf.

„Nein!“ Ich sprang fast auf ihn herauf, um seine Arm zu packen. „Das kannst du nicht tun, wir müssen Vinea helfen.“ Als ich seinen wütenden Blick sah, wurde mir erst bewusst, wie das zwischen mir und Aman auf ihn gewirkt haben musste und er hatte Recht. Anstatt unsere Zeit mit Streitigkeiten zu verschwenden, sollten wir schon längst unterwegs sein.

Ich warf einen Blick zu Aman, der nicht minder wütend als ich oder John wirkte. Warum nur musste er so … so … halt so sein? Es würde vieles einfacher machen, wenn er nicht immer versuchen würde, mir Befehle zu erteilen. Leider musste ich einsehen, dass seine Worte der Wahrheit entsprachen. Aber einfach so umfallen? Das … Moment, da kam mir ein Einfall. „In Ordnung, ich mache es“, gab ich widerwillig nach. „Ich werde das feinnervige Weibchen spielen, dass den Anblick des Blutes nicht verkraftet und einfach in Ohnmacht fällt.“

„Blut?“, fragte Aman leicht misstrauisch.

„Natürlich, oder glaubst du, ich werde einfach so umfallen? Das kannst du vergessen. Du wirst dich schneiden und ich werde diesen Anblick nicht verkraften.“

Aman wollte gerade den Mund öffnen, als John mit strenger Stimme befahl: „Kein Wort mehr. Wir machen es jetzt so, oder ich fahre zurück!“

Der sture Hund sah nur etwas mürrisch zu uns nach vorn, behielt seine Worte dann aber für sich.

„Dann lasst uns jetzt endlich gehen.“ Ich stieß die Wagentür auf und trat als erstes auf den Parkplatz.

 

°°°

 

„Und passt auf, dass sie Lilith nichts spritzen.“

„Das habe ich verstanden“, knurrte Aman den Heiler an.

„Es ist wichtig. Hier wimmelt es nur so von Ärzten … äh Heilern, die euch sofort zur Hilfe eilen werden. Wenn sie ihr etwas geben wollen, dann behaupte einfach, dass sie auf alles Mögliche allergisch reagiert, du aber nicht genau weißt, auf was alles.“ Er schwieg kurz und runzelte die Stirn. „Und es kann auch sein, dass sie versuchen Lilith wegzubringen, um sie zu behandeln. Lass das auf keinen Fall zu.“

Dafür bekam er nur einen unwirschen Blick. „Natürlich nicht.“

„Vielleicht wollen sie ihr auch Blut abnehmen. Das können sie ruhig, da passiert ihr nicht. Aber spätestens dann musst du aufwachen, verstanden?“

„Was?“ Ich war viel zu beschäftigt damit, mir die Umgebung anzusehen, als mich auf Johns Worte zu konzentrieren. Es gab hier viele Gänge, alle irgendwie aseptisch und weiß. Um uns herum herrschte eine eigenartige Atmosphäre. Ruhe und Hektik miteinander vereint. Wie die Ruhe vor dem Sturm, irgendwie eigenartig. Sowas hatte ich noch nie erlebt. Und die Luft, sie roch seltsam. Nicht krank, wie sonst überall, sondern … seltsam halt. So etwas hatte ich noch nie gerochen und ich mochte es nicht. Es juckte in der Nase und ich konnte nur schwerlich an mir halten, sie nicht mit der Hand zu verschließen. Hauptsächlich deswegen, weil John gesagt hatte, es sehe merkwürdig aus, wenn ich so durch die Gegend liefe.

John sah äußerst gereizt aus. Es gefiel ihm wohl gar nicht, dass ich nicht jedem seiner Worte lauschte. „Ich habe gesagt, dass du spätestens aufwachen musst, wenn sie versuchen, dir Blut abzunehmen. Versuch dich desorientiert zu stellen, als wüsstest du nicht genau wo du bist, aber verhindere um jeden Preis, dass sie versuchen dir Medikamente zu geben.“

Ich runzelte die Stirn. „Preis? Muss ich dafür bezahlen?“

„Du … nein.“ John rieb sich über die Stirn. „Vergiss es einfach. Passt nur auf dich auf.“

„Natürlich tu ich das.“

„Nein.“ Er blieb stehen und nahm meine Hand. „Ich meine es ernst, pass auf dich auf. Das was beim letzten Mal passiert ist … das … ich möchte dich nicht noch mal so sehen.“

Er machte sich Sorgen. Das fand ich lieb von ihm. „Ich werde einmal eine Kriegerin der Bastet sein, ich wurde darin geschult auf mich acht zu geben. Es besteht für dich kein Grund zur Sorge.“ Ich legte meine Hand an seine Wange, genoss den Hauch von Natur, den er immer ausströmte. „Tu einfach nur, was du tun musst, damit wir schnell zu Vinea zurück kommen. Okay?“

Dass ich das Wort dieses Landes benutzte, ließ ihn leicht schmunzeln. „Okay.“

Als ich mich wieder zum Gehen wandte, fiel mein Hand zurück an meine Seite. Dabei bemerkte ich Amans Blick, bemerkte, wie er mich und John genau beobachtete. Sollte er doch, das störte mich nicht. „Dann kommt jetzt, bevor Aman verblutet.“ Denn den Schnitt am Arm hatten wir ihm schon draußen auf dem Parkplatz zugefügt. Er hatte ihn sich zwar halb in der Jacke eingewickelt, aber langsam sickerte das Blut durch den Stoff und wir durften nicht auffallen – noch nicht.

John zeigte uns den Weg, folgte Schildern und der Beschreibung eines Heilers, den er gefragt hatte und wurde mit jedem Schritt sichtlich nervöser. Er umklammerte den Rucksack, den er von Janina bekommen hatte, als würde er damit irgendwie aus dieser Situation entkommen. Doch er drehte nicht um und lief davon, schritt immer weiter, auch wenn seine Nervosität aus jeder seiner Poren strömte und mir in der Nase kitzelte. Er war entschlossen, wie ein Krieger.

„Gleich sind wir da“, sagte er, als sprach er mit sich selber.

Das Bild, das uns umgab, änderte sich nur gering. Überall standen seltsame Betten mit Rollen. Menschen in weißer Kleidung liefen umher und versuchten dabei, sehr leise zu sein. Die wenigen Gespräche wurden nur flüsternd geführt und jeder schien auf irgendetwas zu warten.

Die Anspannung, die in der Luft lag, trug nichts zu meiner Beruhigung bei. Ganz im Gegenteil, mit jedem Schritt schien Johns Nervosität auf mich überzugehen und ich konnte mir nicht mal erklären, woran das lag. Vielleicht, weil ich mich wissentlich in Gefahr brachte, vielleicht, weil ich mich Aman schwach präsentieren musste, oder vielleicht auch, weil John etwas passieren konnte, wenn ich etwas falsch machte – so wie immer.

Ich biss mir auf die Lippe, während ich dem Tierheiler folgte und verbot mir, solche Geistreden zu halten. Es würde nichts schief gehen, ich würde kein weiteres Mal so versagen, wie mit Naaru, oder im Tempel, als ich zu einer Säule erstarrt war. Nein, dieses Mal würde ich alles richtig machen.

John bog um die Ecke und blieb dann stehen. Vor uns lag ein offener Bereich mit einer großen Nische voller metallener Sitzgelegenheiten. Zwei Frauen befanden sich dort und schienen, wie auch alle anderen hier, auf etwas zu warten. Ein paar bunte Bilder mit seltsam losgetrennten Motiven hingen an den Wänden. Durch das große Fenster schien das Zwielicht der Dämmerung herein und begrüßte den kommenden Abend. So viel war heute geschehen, doch dieser Tag war noch lange nicht zu Ende.

In der Ecke stand ein seltsames, rundes, längliches Behältnis, dass ich nicht näher identifizieren konnte, doch Johns Ziel lag bei der einzigen Tür, die hier zu finden war. Direkt davor blieb er stehen, atmete einmal tief durch, als müsste er sich selber beruhigen und trat dann ein Stück zur Seite, so dass Aman herankam. „Da musst du draufdrücken, das ist die Klingel“, sagte er zu ihm. „Du weißt, was du zu tun hast?“

„Nein, weiß ich nicht, weil ich ja nur ein dummer, steinköpfiger Hund bin“, knurrte er.

Oh Göttin, was hatte er denn nun wieder?

John schien die gleichen Reden im Geist zu haben, blieb aber kommentarlos. „Dann los.“ Er wich noch ein Stück zur Seite, sodass man ihn von der Tür aus nicht sofort sah.

Ganz in meiner Rolle der besorgten Frau, trat ich an Amans Seite und klammerte mich an seinen unverletzten Arm. Dann drückte ich auf diese Klingel.

Als folgendes geschah … nichts. Die Tür blieb geschlossen, niemand erschien und wir standen einfach nur rum. Einen Augenblick wartete ich noch, dann betätigte ich sie noch einmal.

„Geduld“, mahnte Aman mich und drückte etwas zu vertrauensvoll meinen Arm. „John hat doch gesagt, dass es etwas dauern kann, bis jemand reagiert.“

Ich funkelte ihn an. „Nutze die Situation nicht aus!“, zischte ich leise. Ihm so nahe zu sein war auf eine seltsame Art aufregend und doch hätte ich mich am liebsten von ihm losgerissen. Das war zu nahe, zu viel. Er war immer noch ein Lykanthrop und als er dann auch noch meinen Arm hinab strich, bis er meine Hand zuversichtlich in seiner halten konnte, hätte ich ihm am liebsten die Zähne gezeigt, doch genau in diesem Moment öffnete sich die Tür vor uns und eine müde Frau mit hellen Haaren, die ihr strähnig ums Gesicht fielen, erschien vor uns.

„Ja bitte?“ Wie all die anderen Heiler trug sie weiße Kleidung. Das war wohl die Arbeitskleidung.

„Ähm … ja, er hat … beim Schneiden … sein Arm …“, ich schluckte übertrieben und hoffte, dass ich verstört genug aussah, um meine baldige Ohnmacht zu rechtfertigen. Ganz ehrlich? Der Anblick von Blut hatte mir noch nie besonders zugesetzt. Auf diesem Posten wäre Asokan wohl angebrachter gewesen. Obwohl, hätte doch ziemlich albern ausgesehen, wenn er hier an Amans Arm gehangen hätte. Bei diesen Geistreden musste ich aufpassen, nicht los zu kichern und weiter die Besorgte mimen. Gar nicht so einfach.

„Bitte?“, fragte die Frau. Sie verstand nicht, was ich von ihr wollte. War bei meinem Gestotter auch nicht weiter verwunderlich.

„Sein Arm, er hat … sein Arm …“

„Lass nur, mein Herz“, kam es in so einem sanften Ton von Aman, dass ich fast dem Glauben verfiel, diese Worte waren ehrlich gemeint. Aber das war doch absurd, schließlich führten wir hier nur ein Schauspiel auf. Doch wie er es gesagt hatte. Mein Herz. Warum nur gefiel mir dieser Klang? Das sollte nicht so sein.

Vorsichtig befreite Aman sich aus meinem Griff und löste die Jacke von seinem Arm. In der Zwischenzeit hatte sich darauf ein rötlicher Fleck ausgebreitet, der sehr stark darauf hin deutete, was darunter zu erwarten war. Trotzdem sog die Frau geräuschvoll den Atem ein, als sie den tiefen Schnitt in Amans Unterarm erblickte.

„Ich weiß nicht genau wo ich hin muss“, sagte Aman ganz ruhig. Er musste Schmerzen haben, aber die ließ er sich nicht anmerken. „Ich kenn mich in Krankenhäusern nicht so gut aus.“

Oh, das machte er sehr gut. Wer hätte das geglaubt? Andererseits wiederholte er nur genau das, was John ihm gesagt hatte. War wohl sicherer so.

Die Frau trat einen Schritt nach vorn, um sich die Wunde näher anzusehen und wehte damit den kupferartigen Geruch des Blutes stärker zu mir. Sollte ich jetzt in Ohnmacht fallen? Ich war mir nicht sicher.

„Hier sind Sie falsch. Mit dieser Verletzung müssen sie in die Notaufnahme.“

„Und wo finde ich …“ Sein Blick richtete sich auf mich. „Geht es dir nicht gut? Du bist so blass.“

In Ordnung, das war wohl mein Stichwort. „Nein, mir …“ Ich atmete ein paar Mal hektisch ein. „ … mir …“

„Lilith!“

Und dann ging ich augenverdrehend einfach zu Boden. Meine Beine knickten ein und die Adhäsion tat das Restliche. Doch entgegen meiner Erwartungen schlug ich nicht auf dem Boden auf. Auf halben Wege schlang sich ein starker Arm um mich und ließ mich dann langsam zu Boden gleiten. Mein Kopf wurde auf etwas weichem gebettet, auf einem Schoß. Aman. Ich brauchte es nicht zu sehen, ich erkannte es am Geruch. Dieser Hund, so war das nicht geplant gewesen!

Das alles ging so schnell, dass ich das Rufen der Frau fast überhörte. Er galt einem Mann, der schnell kommen sollte, weil hier eine Frau zusammengebrochen sein. Wenigstens benutzte sie nicht das Wort Ohnmacht, denn das befand ich für mich als Beleidigung.

In einer sanften, fast zärtlichen Geste strich Aman mir über den Kopf, durchs Gesicht, über die Arme. Er nutzte es aus, dass ich mich nicht rühren durfte, wurde mir klar. Das würde er später noch bereuen. „Lilith? Lilith, wach auf“, sagte er dabei. „Lilith.“ Immer wieder meinen Namen.

Schnelle Schritte näherten sich. Mehrere Personen. Die Frauen auf den metallenen Sitzen tuschelten leise, ich konnte sie hören. Ob John schon in den verbotenen Bereich eingedrungen war? Ich wagte es noch nicht, die Augen zu öffnen, das war noch zu früh. Oh Göttin, bitte lass es funktionieren. Gib John die Kraft seine Aufgabe zu erfüllen, um Vinea retten zu können und hilf uns die Menschen zu täuschen, damit wir nicht versagen.

„Sie hat einen Schock“, sagte die blonde Frau.

Es kamen mehrere Leute und kniete mich neben sie. Ich spürte ihre Anwesenheit. Spürte, wie Hände begannen, mich zu untersuchen und musste an mich halten, mich gegen diese Berührungen nicht zu wehren. Ich mochte es nicht, von Fremden berührt zu werden, doch das war jetzt gleich. Wenn ich diese Aufgabe erfüllen wollte, musste ich es zulassen und ich wollte sie erfüllen – mit Bravur!

„Nein, sie verträgt nur nicht den Anblick von Blut“, erklärte Aman ruhig. Wieder strich seine Hand über mein Gesicht, so als dürfte er es und hätte es schon tausend Mal getan und jedes Recht dazu – aber das hatte er nicht. „Das hat sie noch nie.“

„Blutphobie“, diagnostizierte eine männliche Stimme, die mir unbekannt war.

Hände fühlten nach meinem Puls, jemand zog mein Augenlid nach oben und ich musste schwer an mich halten, nicht zu zucken, oder zu blinzeln. Bei meiner Göttin, das war wirklich kein schönes Gefühl.

Und die ganze Zeit, als fremde Hände mich anfassten, hielt Aman mich im Arm und redete leise auf mich ein, strich mir übers Gesicht, übers Haar, über die Arme. Das … er sollte damit aufhören. Diese Berührungen, sie machten irgendwas mit mir, etwas, dass ich nicht benennen durfte.

„Puls stabil“, hörte ich eine Frau sagen.

„Keine Sorge, sie wird sicher gleich wieder zu sich kommen“, kam es von einer anderen weiblichen Stimme, irgendwo in der Nähe meines Kopfes. „Vielleicht sollten wir uns in der Zwischenzeit mal ihren Arm ansehen, das sieht nicht gut aus.“

„Nein.“ Aman drückte mich ein wenig fester. „Erst muss sie aufwachen.“ Ich spürte seinen Atem auf meinem Gesicht, seine Stirn an meiner. Sofort waren die Bilder vom Nachmittag in meinem Kopf. Er über mir, so nahe, wie ich zuvor noch keinem war, nicht auf diese Art. Die gespannte Erwartung, das Kribbeln und die plötzliche Deutlichkeit seiner Gegenwahrt. So Nahe …

„Wach auf, kleine Kriegerin“, flüsterte er. „Komm zurück, komm zu mir zurück, erwache.“

Wie er das sagte … alle meine Sinne waren mit einem Mal auf ihn ausgerichtet und ich konnte gar nicht anders, als die Augen aufzuschlagen. Zwei tiefe Hazelseen direkt vor mir. So tief, dass man in ihnen versinken möchte, dass man bis in die Unendlichkeit der Seele blicken konnte.

„Lilith.“ Mein Name, nichts als ein Hauch aus seinem Mund. Seine Hand an meinem Gesicht, schützend, zärtlich.

Warum nur war er wieder so nahe? Warum nur konnte er nicht endlich fern bleiben, wenn ich doch so auf ihn reagierte, wenn mein Körper geradezu nach seinen Berührungen, seinen Lippen, schrie?

Ich wusste nicht genau, wie es geschah, doch plötzlich lagen seine Lippen auf meinen und … dieses Gefühl, es war nicht zu beschreiben. Jedes Nervende meines Körpers war plötzlich aufgewühlt. Sein Griff um mich wurde stärker, als meine Lippen begannen sich im Einklang mit seinen zu bewegen. Dieses Gefühl, es war göttlich. Oh Göttin, das war … das war ein Lykanthrop!

Mit einem Schlag kehrten meine Geistreden zurück und mir wurde nur allzu deutlich, was ich hier gerade tat. Ich küsste einen Lykanthropen!

Wegstoßen, das war alles, was ich noch geistreden konnte, weg, er musste weg von mir, also versetzte ich ihm einen kräftigen Schlag gegen den verletzten Arm. Er zischte vor Schmerz und ließ sofort von mir ab. Es war mir egal, dass ich ihm damit wehtat, ich wollte ihm wehtun.

„Das du dich das wagst!“, fauchte ich ihn an und wich eilig vor ihm zurück. Dabei stieß ich gegen eine unbekannte Frau, kümmerte mich aber nicht weiter darum, sondern brachte mich schnell auf die Beine. Ich wollte so viel Abstand wie möglich zwischen mir und diesem Hund. Er hatte es geschafft. Irgendwie war es ihm gelungen, mich dazu zu bekommen, ihn zu küssen. Wie war das möglich? Ein schwacher Moment und er hatte ihn sofort ausgenutzt.

Aman blieb nur stumm am Boden sitzen und hielt sich seinen blutenden Arm. Seine Augen lagen dabei auf mir, wie ich schwer atmend vor ihm stand und nach etwas suchte, dass ich … ich wusste nicht wonach ich suchte. Nur sein Blick, der hatte sich verändert. Ärger. Enttäuschung. Wut.

Welches Recht nahm er sich heraus, wütend auf mich zu sein? Er hatte es doch getan, er war mir wieder zu nahe getreten, obwohl er genau wusste, dass ich das nicht mochte. Ich wollte das nicht. Nein wirklich, ich wollte das nicht. „Ich will das nicht!“, schrie ich ihm noch einmal laut entgegen, damit er es auch wirklich verstand. „Hörst du? Ich will das nicht!“

Er blieb ganz ruhig, so wie immer. Nie schien ihn etwas zu bewegen und das regte mich auf. „Du hättest es nicht tun müssen“, sagte er ganz schlicht.

Mein Mund ging auf, aber nichts kam heraus. Warum kam da nichts? Warum schlug mein Herz immer noch wie wild? Und warum wollte ich dass er es noch einmal tat, dass er mich küsste? Das war doch Irrsinn, das … das … es konnte nicht funktionieren.

„Lilith“, sagte Aman leise und kam schwerlich auf die Füße. Der Blutverlust und die Wunde mussten ihm doch zusetzen. Er streckte die Hand nach mir aus. „Ich …“

„Nein!“ Sofort wich ich weiter zurück. „Bleib weg von mir, sonst tu ich dir weh!“ Ich sah zwischen den Heilern hin und her, die etwas ratlos wirkten, überfordert, suchte nach einem Fluchtweg, aber noch konnte ich nicht gehen. John war noch da drin und meine Ehre als Kriegerin verbot mir, ihn einfach im Stich zu lassen. „Bleib einfach weg von mir“, sagte ich nochmal schwach und dankte meiner Göttin dafür, dass er wirklich nicht näher kam.

Er seufzte nur schwer. „Lass und gehen, kleine Kriegerin.“

„Was? Nein, wir müssen noch …“

„Lilith“, sagte er fest und sah mir tief in die Augen. „Lass uns gehen, wir müssen nicht mehr hier sein.“

Nicht mehr hier? Ich sah mich noch einmal um, aber von John sah ich nichts. Doch ich konnte seinen Geruch wahrnehmen. Er muss eben hier gewesen sein. War er an mir vorbeigegangen, ohne dass ich es bemerkt hatte? Das konnte doch nicht sein. Was machte dieser Lykanthrop nur  mit mir?

„Lilith, lass uns …“

„Bleib fern von mir!“, fauchte ich ihn an und folgte der Witterung von John, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Lief den Weg, den wir gekommen waren, um die Ecke, außer Sichtweite. Und dann rannte ich.

„Nein, warten Sie, ihr Arm!“

„Darum kümmere ich mich selber.“

„Aber … so bleiben Sie doch stehen!“

Hinter mir wurden schnelle Schritte laut, aber ich achtete nicht auf sie, hatte ich doch gerade John entdeckt, der nervös an der Wand lehnte und auf uns wartete. Ich geistredete erst gar nicht lange darüber nach, schlang direkt meine Arme um seinen Nacken und vergrub mein Gesicht an seiner Brust. Hier fühlte ich mich sicher, hier drohte mir keine Gefahr, weil John nicht so war wie Aman.

„Lilith? Alles in Ordnung?“ Vorsichtig, ja beinahe zögernd, nahm auch er mich in die Arme.

Genau das war es, was ich brauchte. Er würde es niemals wagen, etwas gegen meinen Willen zu machen, wie dieser Hund. So war John einfach nicht. Er war einfach nur wie meine Amicus, einfach da, wenn ich ihn brauchte.

Die Schritte kamen näher, jetzt langsamer. Ein tiefes Grollen lag in der Luft. Ich reagierte gar nicht darauf.

„Hast du alles?“, fragte Aman und konnte das Knurren dabei kaum aus seiner Stimme halten.

„Ja, ich … ich glaube ja.“

„Und dich hat auch niemand gesehen?“

„Nein, ich habe aufgepasst.“ Er drückte mich ein wenig fester an sich. „Was war da gerade zwischen euch los?“

„Ich wüsste nicht, was dich das angeht.“

„Lasst uns gehen“, sagte ich und löste mich von John. Nur seine Hand, die nahm ich in meine, wollte ihn gerade nicht loslassen. Dabei streifte ich Aman nur kurz mit dem Blick, sah wie er über die Wunde leckte, um sie zu verschießen, bevor ich John mit mir mit den Gang hinunter zog. Weg, nur weg. Vielleicht konnte ich dann vergessen, was ich gerade getan hatte.

Meine Mina, oh Göttin, sie würde sich für mich schämen, wenn sie davon wüsste. Und meine Amicus, wie würden sie darüber geistreden? Und erst mein Fafa. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was er oder meine Brestern davon halten würde. Eine Ailuranthropin, die den Kuss eines Lykanthrops erwiderte? Bei Bastet, wie hatte ich das nur tun können?

„Lilith“, sagte Aman und versuchte zu mir aufzuschließen, doch ich lief mit John an der Hand eilig um die nächste Ecke. „Lilith, nun …“

„Sprich nicht mit mir“, zischte ich ihn an. Ein Zauber, dass musste ein Zauber gewesen sein. Wie sonst hätte er mich so blenden können, dass ich ihm verfiel? „Sieh nicht mal in meine Richtung, bleib mir einfach nur fern.“

Er schwieg. Für ungefähr zwei Sekunden. „Warum nur bist du so stur? Warum kannst du nicht …“

„Bist du taub? Ich habe gesagt, du sollst nicht mit mir sprechen!“ Ich ließ Johns Hand los und eilte allein weiter. Ich musste dringend hier raus, raus an die frische Luft, um meinen Geist zu klären. Genau, dass war es, was ich jetzt brauchte.

Vor mir öffnete sich der Gang zu einer großen Halle. Die Atmosphäre war wie überall in diesem Gebäude, daran konnten auch die Menschen nichts ändern, die hier vermehrt rumliefen. Männer und Frauen in Kleidung, wie wir sie trugen. Heiler und seltsame Leute in mintgrünen Überanzügen. Die sahen wirklich seltsam aus.

„Wenn du mir nur mal einen Moment zuhören würdest, du sture Katze!“, zischte Aman.

„Nie mehr höre ich dir zu, also bleib weg von mir.“

„Lilith, bleib stehen!“

Auch der Geruch in der Luft, löste in meiner Nase wieder dieses Kitzeln aus. „Du hast mir keine Befehle zu erteilen!“, fuhr ich ihn an.

„Doch, habe ich, denn du benimmst dich mal wieder wie ein steinköpfiges Kind, anstatt wie eine angehende Kriegerin.“

Das reichte. Ich ließ mir ja eine Menge bieten, aber diese Beleidigungen hatte ich bei weitem satt. Wütend fuhr ich zu ihm herum, achtete nicht auf die Menschen in den seltsamen Anzügen, die auf uns zukamen, sondern hatte nur Augen für diesen selbstverliebten Lykanthropen, der glaubte, sich alles rausnehmen zu dürfen. „Besser ein steinköpfiges Kind, als ein überheblicher Lykanthrop, der einfach zu dumm ist, um Grenzen zu beachten! Ich habe dir gesagt, dass ich das nicht will, ich habe dir gesagt …“ Ich verstummte, als die merkwürdigen Menschen in der mintgrünen Kleidung an uns vorbeiliefen. Bei Bastet, das war doch nicht möglich. Aber wie … es war der Geruch, der mich verstummen ließ, der Geruch, den der Mann in der seltsamen Kleidung verströmte.

„Lilith?“, fragte John und trat einen Schritt näher. „Was ist los?“

Aman prüfte mit den Augen wachsam die Umgebung.

„Wir müssen dem Mann folgen“, sagte ich leise, dann rannte ich ihm hinterher.

 

°°°°°

Kapitel Vierundzwanzig

„Halt, warte“, rief John.

Eine Hand packte mich am Arm und riss mich zu sich herum. Aman.

„Fass mich nicht an!“, fauchte ich und schlug seine Hand weg. Dass er es nach allem, was gewesen war, auch noch wagte Hand an mich zu legen. Verstand er denn nicht, dass ich das absolut nicht wollte?

„Dann renn nicht einfach los und sag mir, was plötzlich in dich gefahren ist!“, fuhr er mich etwas zu schroff an. Ich bemerkte es kaum.

„Kaio!“, rief ich und zeigte dem Mann hinterher, der in Begleitung seiner Gesellen langsam durch die große Halle schritt. Wenn wir noch lange zögerten, würde er uns entwischen. „Er riecht nach Kaio! Der Geruch ist ganz frisch. Wir müssen ihm hinterher!“

„Kaio?“

Hatte er heute Steine im Kopf? „Der Sermo von Gillette. Wo Kaio ist, ist auch Gillette!“ Wieder wollte ich loslaufen und wieder hielt er mich fest. „Göttertot, ich habe dir gesagt …“

„Wenn du blind drauf losläufst, bringst du Gillette nur in Gefahr, wann verstehst du das endlich?

„Werde ich nicht, ich werde ihn retten!“ Ich schlug erneut nach seiner Hand, doch dieses Mal ließ er nicht so einfach von mir ab. „Nimm deine Hand weg.“

„Nicht bevor du im Geist geredet hast“, grollte Aman verärgert. „Wie du sehen kannst, ist Gillette nicht hier und diesen Mann und seine Amicus anzugreifen, würde gar nichts bringen. Wir müssen vorsichtig sein und sie verfolgen, dann führen sie uns vielleicht zu ihm.“

Ich drückte die Lippen fest aufeinander. Was er da sagte, klang richtig, aber diese Worte kamen von Aman und mir widerstrebte es deswegen, ihnen zu folgen. Aber ich würde die Spur zu Gillette sicher nicht riskieren, weil er so ein dummer Hund war, der immer alles besser wusste.

Es glich sowieso einem Wunder, dass ich diese Fährte gefunden hatte. Dieser Zufall war einfach zu groß, um nur ein Zufall sein zu können. Sicher hatte da unsere Göttin ihre Hände mit im Spiel. Sie wollte, dass wir Gillette fanden, sie wollte, dass er zu uns zurückkehrte. Ihre Macht war wirklich einzigartig.

Oh meine Göttin Bastet, wie soll ich dir dies nur je vergelten?

„Du sprichst wahr“, gab ich äußerst widerwillig zu. „Wir verfolgen ihn.“

„Und was ist mit Vinea?“, fragte John. Er stand neben uns, sah von einem zum anderen, als könnte er sich nicht entscheiden, auf wen er seine Aufmerksamkeit richten sollte.

Zur Sachmet noch mal, das war mir völlig entfallen. Wir konnten Vinea nicht im Stich lassen. Zeit hatten wir bereits genug vergeudet, sie brauchte dringend Hilfe und bekam sie nur von John. „Dann fahren du und John zurück ins Lager und ich verfolge den Mann“, entschied ich schnell. „Wenn sich die Gelegenheit ergibt, dann werde ich Gillette und Kaio befreien und wenn du Vinea geheilt hast, dann kommt ihr wieder her und holt uns hier ab.“

John schüttelte schon den Kopf, bevor ich geendet hatte. „Und was ist, wenn dieser General hier irgendwo rumhängt? Beim letzten Mal seid ihr ihm mit Ach und Krach gerade so entkommen. Du bist danach fast gestorben. Das kannst du nicht allein machen.“

„Ich schaffe das schon.“

„Nein“, schaltete sich nun auch noch Aman ein. „Du humpelst vom letzten Mal noch immer. Bestreite es nicht, ich hab es gesehen.“

Das war ihm aufgefallen? „Und was soll ich deiner Meinung nach dann tun? Einfach zurück zur Bastion gehen und den Mann vergessen?“ Den Mann, der übrigens gerade hinter einer der Türen verschwunden war. Ich hatte seinen Geruch noch in der Nase, deswegen sorgte ich mich nicht allzu sehr, aber ich musste ihm dringend hinterher, bevor ich ihn doch noch verlor. Wenn dieser sture Hund mich nur endlich loslassen würde.

„Genau das wirst du tun“, erwiderte Aman schlicht. „Ich …“

Empört riss ich den Mund auf. „Nein, das werde ich …“

„Lass mich aussprechen!“, fuhr er mich an und erregte damit die Aufmerksamkeit einiger Menschen um uns herum, was ihn dazu brachte, die nächsten Worte flüsternd hervorzubringen. „Ich werde den Mann ausspähen, du fährst mit John zurück, um dich um Vinea zu kümmern. Sobald ihr im Lager seid, schickt Luan her. Er kann mir helfen und mich anschließend zurückbringen. Danach, wenn wir über die Begebenheiten Bescheid wissen, werden wir alle einen Plan machen, um Gillette zurückzuholen.“

„Und wenn sie ihn bis dahin wieder weggebracht haben?“, fragte ich. So viel Zeit wollte ich nicht riskieren. Ich hatte ihn schon einmal verloren, weil ich nicht gleich gehandelt hatte, das würde mir kein zweites Mal passieren. „Wenn ich seine Spur erneut verliere, nur weil …“

„Willst du noch lange diskutieren, oder kannst du einmal tun, was ich sage?!“, zischte er mich an. „Du bist keine fertige Kriegern, versteh das endlich. Du hast weder das Gefühl, noch die Ausbildung zu so einer Observierung. Außerdem, warst du es nicht, die zu mir gesagt hat, ich soll es machen, weil du dich lieber wie ein kleines, trotziges Kind im Selbstmitleid gebadet hast? Dann halt dich jetzt an deine eigenen Worte und geh zurück. Ich kann dich hier nämlich nicht gebrauchen, wenn ich deinen Amicus finden soll!“

Er hatte es schon wieder getan. Mit jedem seiner Worte fühlte ich mich kleiner. Ich kann dich hier nämlich nicht gebrauchen. Als wäre ich irgendein Gegenstand, der ihm immer im Weg stände.

„Lilith“, sagte er. Sein Griff wurde sanfter. „Ich meine das doch nicht …“

„Ich weiß ganz genau, wie du das meintest!“, zischte ich. „Ich bin zu dumm, um einen Schritt geradeaus zu gehen. Immer im Weg. Unfähig, unnütz, zu klein, zu dumm, die Letzte.“ Ich kniff die Lippen zusammen.

„Was redest du da für einen Unsinn?“, fragte Aman mit einem kleinen Stirnrunzeln. „Ich habe nie gesagt, dass du …“

„Vergiss es einfach. Ich hab verstanden und werde dir nicht länger im Weg stehen.“ Denn ich war ja keine Kriegerin, wie er mir immer und immer wieder sagen musste. Ich war nur Ballast, den er nutzen konnte, wenn ihn die Langeweile quälte.

John warf Aman einen wütenden Blick zu. „Wie immer bist du ein riesen Idiot, der genau im richtigen Moment die falschen Worte findet.“

„Halt dich da raus, Mensch.“

„Besser ein Mensch, als so ein Vollpfosten wie du!“, schnauzte er ihn an und legte mir die Hand auf die Schulter. „Ignorier den Mistkerl einfach. Du bist eine tolle Kriegerin.“

Aman knurrte. „Ich habe nicht gesagt, dass sie keine gute Kriegerin ist, ich habe nur gesagt …“

„Doch“, widersprach John ihm sofort. „Genau das waren deine Worte und zwar nicht zum ersten Mal.“ Er legte mir den Arm um die Schultern. „Komm, lass uns gehen, damit der tolle, fertige Krieger seiner Arbeit nachkommen kann.“

Ich ließ mich wortlos einfach mitnehmen, hinaus aus dem Gebäude, über den Parkplatz, zurück zum Wagen. Was hätte es auch für einen Sinn gemacht, weiter gegen Aman zu kämpfen? Er schickte mich weg, um es allein zu tun und ließ mich auch nicht gehen, wenn ich es allein tun wollte. Das war nur Verschwendung von Zeit, die wir nicht hatten, weder Vinea noch Gillette. Ich bin ein Nichts, zu nichts zu gebrauchen, immer im Weg, nur Ballast. Einfach nachgeben, das war wohl das Beste. Also blieb ich auch noch stumm, als John den Wagen erwachen ließ und lehnte mich einfach ins Polster zurück.

 

°°°

 

„… werdet ihr bereuen!“, hörte ich eine unbekannte, männliche Stimme brüllen, noch bevor ich die Bastion erreicht hatte. „Wenn ich nur frei bin, dann werdet ihr alle …“

„Wenn du nicht gleich still bist, werde ich dich noch einmal niederschlagen und jetzt trink, oder verdurste!“

Diese Stimme hingegen kannte ich nur zu genau. Anima.

„Bevor ich etwas von der Brut der Bastet annehme, verdurste ich lieber!“

„Dann sei es halt so.“

Gerade als ich hinter John durch den Pflanzenwall in die kleine Bastion trat, sah ich noch, wie Anima eine Rindenschale voll Wasser direkt vor dem feindlichen Magier auskippte, die Schale dann einfach vor seiner Nase fallen ließ und sich von dem Mann abwandte. Dabei bemerkte sie John und mich. „Den Göttern sei Dank, ihr seid wieder da.“ Sie kam uns auf halbem Wege entgegengelaufen, um mich in die Arme zu schließen. „Ich hab mir schon Sorgen gemacht.“

„Das war unnötig.“

John entfernte sich von uns beiden, ging hinüber zu Luan und Janina, die unweit vom Magier vor einem Zelt standen und sich mit dem darin sitzenden Pascal unterhielten – wo kamen nur die Zelte her? Die mussten Destina und Janina hergebracht haben.

Anima ließ von mir ab und runzelte die Stirn. „Und wenn es unnötig war, warum rieche ich dann Blut?“

„Blut?“ Ich runzelte ebenfalls die Stirn und sah an mir herab. Wann war ich … ach ja. „Das ist nichts weiter, es ist von Aman, er hat sich geschnitten.“

„Geschnitten? Wo?“ Sie sah an mir vorbei. „Und wo ist er?“

„Das erzähle ich dir später. Anderes ist jetzt wichtiger.“ Außerdem hatte ich jetzt kein Interesse daran, mich mit den Eskapaden dieses Lykanthropen zu befassen. „Vielleicht haben wir eine Spur zu Gillette gefunden“, sagte ich dann ohne weitere Umschweife gerade heraus.

Anima riss erst die Augen und dann den Mund auf. „Gillette?“, fragte sie ungläubig. „Aber wie …“

„Es muss eine göttliche Fügung gewesen sein“, erzählte ich ihr. „Dort, wo wir waren, in diesem Krankenhaus, habe ich an einem Menschenmann die Witterung von Kaio aufgenommen. Aman ist zurückgeblieben, um ihn zu verfolgen, aber John und ich mussten wieder herkommen, wegen Vinea.“ Nicht, dass ich freiwillig gegangen war, doch Amans Worte halten noch immer in meinem Inneren wieder und auch wenn ich es nicht gerne zugab, sie taten weh. Du bist keine fertige Kriegern, versteh das endlich. Ich drückte die Lippen aufeinander, versuchte diese Worte zu verdrängen, doch sie hallten wie ein Echo in meinem Kopf wieder. Immer und immer wieder. Du bist keine fertige Kriegern, versteh das endlich.

„Und du“, fragte Anima plötzlich kritisch, „was ist mit dir?“

„Was soll mit mir sein?“

Sie kniff die Augen leicht zusammen. „Versuch nicht, dich dumm zu stellen, dafür kenne ich dich zu lange. Irgendwas hast du.“ Musternd ließ sie den Blick über mich gleiten, blieb an meinem Gesicht hängen. „Etwas geht in dir vor, ich sehe es dir an.“

„Ach.“ Ich winkte ab. „Das ist nichts. John!“, rief ich etwas zu laut, um von mir abzulenken. Er stand noch immer bei dem Vampir, wandte sich mir bei meinem Ruf jedoch zu. „Anima wird dir bei Vinea helfen, sie wurde in sowas unterwiesen.“ Als Occino musste sie viel lernen, auch so etwas. Die Kriegerlehre gehörte nur zu ihrer Grundausbildung.

„Ähm …“ Unschlüssig sah er zu der Höhle, rang sich dann aber noch ein „okay“ ab, als Luan ihm aufmunternd auf die Schulter schlug.

Anima währenddessen funkelte mich böse an. „Nur, weil du mich wegschickst, werde ich noch lange nicht vergessen, dass du mir etwas verschweigst.“ Für einen Moment verstummte sie und etwas wie Sorge breitete sich in ihrem Gesicht aus. „Es hat doch nichts mit Gillette zutun, oder?“

„Nein“, konnte ich sie beruhigen. „Verschwende nicht deine Geistreden an mich und sorg dich nicht, es ist wirklich völlig belanglos.“ Du bist keine fertige Kriegern, versteh das endlich. Ich kann dich hier nämlich nicht gebrauchen.

„Ich glaube dir nicht“, sagte sie mir geradezu ins Gesicht. „Du hast diesen Ausdruck im Gesicht, den gleichen, den du früher schon immer hattest, wenn du an dir und deinen Fähigkeiten gezweifelt hast.“ Beruhigend legte sie ihre Hand auf meine. „Egal was geschehen ist, rede dir keinen Unsinn ein. Wenn du nur willst, kannst du alles schaffen. Hab nur Vertrauen in dich und deine Fähigkeiten, dann kannst du alles schaffen.“

Du musst einfach nur Vertrauen haben, Lilith.

Was war das für eine Stimme? Woher kamen diese seltsamen Worte? In den letzten Tagen hörte ich sie immer wieder, seit ich aus der Vergiftung erwacht war. Was hatte da nur zu bedeuten? Da waren eindeutig zu viele Stimmen in meinem Kopf.

„Hörst du, was ich sage, Lilith?“

„Es ist wirklich nichts“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Und jetzt geh und hilf John. Er und Vinea brauchen dich jetzt dringend.“

Sie sah mich zweifelnd an, wandte sich dann aber ab. „Ich glaube deinen Worten nicht“, sagte sie noch kaum hörbar, dann verschwand sie im Eingang der Höhle. John folgte ihr kurz darauf.

Ich hoffte nur, es war noch nicht zu spät. Wir hatten wirklich viel Zeit gebraucht, um wieder hierher zurückzukehren. Es war bereits dunkel und die Bastion wurde nur von seltsamen kleinen Gebilden erleuchtet, für die ich keinen Namen hatte – Janina und Destina mussten sie mitgebracht haben. Die beiden Zelte wurden von ihnen erhellt und warfen seltsame Schatten in der kleinen Bastion, aus denen sich plötzlich zwei Schemen lösten.

„Lilith!“, rief da ein kleines Stimmchen und gleich darauf kam Nebka angesaust. Sie hatte zu viel Schwung, konnte nicht mehr anhalten und krachte in meine Beine.

Acco folgte ihr etwas gesitteter. „Sie wartet schon die ganze Zeit auf deine Rückkehr.“

Ich sah in die Richtung, aus der sie gekommen waren. „Wo seid ihr gewesen?“

„Jagen.“ Acco leckte sich die Lefzen. „Hier gibt es auch Kaninchen und Mäuse, aber sie haben einen seltsamen Nachgeschmack.“

„Ich habe eine Maus gegessen!“, erzählte Nebka stolz. „Und auch fast allein gefangen.“

„So so, fast also.“ Ich bückte mich zu ihr hinunter, um sie auf meinen Arm zu heben. „Dann kannst du ja stolz auf dich sein.“

Sie nickte eifrig. „Ja, das hat Acco auch gesagt.“

„Wie kannst du nur!“, zischte der Magier da über die Lichtung. „Diese Brut ist nicht nur gottlos, sie ist auch noch der Feind!“

„Ähm“, machte Pascal, der nur ein kurzes Stück entfernt halb in einem der Zelte hockte und deutete auf sich selber. „Redest du mit mir?“

„Du bist ein stolzes Kind der Sachmet und treibst dich hier mit diesem Ungeziefer herum!“

„Hey, pass mal auf, was du da so von dir gibst“, kam es empört von ihm. „Dieses Ungeziefer ist nämlich meine Familie!“

„Verräter an ihren Göttern, das sind sie!“ Er spuckte vor Luan auf den Boden. „Und du schließt dich ihnen auch noch an. Verräter!“

„Beachte ihn einfach nicht“, riet Luan ihm und zog Janina etwas von dem Magier weg. „Am besten redest du gar nicht erst mit ihm.“

„Und jetzt lässt du dir auch noch Befehle von einem Vampir geben?“, höhnte er. „Du bist eine Schande. Eine Schmach für unsere ehrenvolle Göttin!“

Bei Bastet, Anima hätte ihn wirklich noch einmal niederschlagen sollen.

„Ich mag ihn nicht“, sagte Nebka in meinen Armen leise. „Er schimpft die ganze Zeit nur und beleidigt alle.“

„Er hat Angst“, erklärte ich ihr ganz ruhig. „Er ist in unserer Gewalt und weiß nur zu gut, dass er an dieser Situation Schuld trägt. Er weiß nicht, was mit ihm passieren wird. Sieh ihn dir doch nur mal richtig an. Vor ihm musst du dich nun wirklich nicht fürchten.“

Meine Aussage stimmte. Der Mann sah aus, als hätte er in den letzten Tagen viel durchgemacht. Das braune Haar hing ihm strähnig und fettig ins Gesicht, die Augen waren unterlaufen und die Lippen aufgesprungen. Auch das restliche Bild machte nicht viel mehr her. Dreckige und zerrissene Kleidung und die helle Haut wirkte unter den dunkeln Magierzeichen, die seinen Körper entstellten, blass und wässernd. Er war wohl noch nie eine sonderliche Augenweide gewesen, aber im Moment sah er wirklich einfach nur schäbig aus.

„Guck nicht so dumm, du missratene Katze!“, fuhr er mich an.

Nebka zuckte in meinen Armen zusammen, doch ich beachtete ihn nicht weiter. „Luan“, rief ich. „Kann ich wohl kurz mit dir sprechen?“

„Natürlich.“ Noch ein wachsamer Blick zu dem Magier, dann kam er mit Janina an der Hand zu mir herüber. Wo war eigentlich Destina? Ich hatte sie seit unserem Aufbruch nicht mehr gesehen. „Es geht um Aman, richtig?“, fragte er mich sogleich.

Da ich diesen Namen nicht hören wollte, schüttelte ich schnell den Kopf. „Nein, es geht um Gillette.“

Luan nickte. „Ja, John hat mit schon erzählt, dass ihr den Geruch im Krankenhaus aufgeschnappt habt. Zufälle gibt’s.“

„Das war kein Zufall“, widersprach ich sofort. „Das war eine Schicksalsfügung, die die Götter arrangiert haben. Sie haben unsere Wege gelenkt, damit wir wieder zueinander finden.“

„Schicksalsfügung?“ Janina verzog verächtlich das Gesicht. „So ein Blödsinn kann auch nur wieder von dir kommen.“

„Das ist kein Blödsinn, du dummer Hund!“, fuhr ich sie an. Ich hatte es so satt, wie die Lykanthropen versuchten mich nieder zu machen. Mit welchem Recht taten sie das? Was brachte es ihnen? „Nur weil dir nicht das Glück beschert war, die Wunder der Götter erleben zu können, brauchst du es nicht gleich als Unwahr abtun.“

Ein Schnauben war alles was ich zur Antwort bekam.

Bevor ich etwas erwidern konnte, ergriff Luan schon das Wort. „Ich werde auf jeden Fall gleich zum Krankenhaus fahren, um dort nach dem Rechten zu sehen.“ Er hob die Hand, als wolle er mir die Schulter tätscheln, ließ sie aber wieder kraftlos an seine Seite fallen, als ich vorsichtshalber eine Schritt vor im zurückwich. Ja, ich hatte mich in der Zwischenzeit mit der Geistrede arrangiert, dass dieser Vampir nicht zu meine Feinden gehörte und auch, dass er eine hochschwangere Lykanthropin sein Herz nannte, aber deswegen wollte ich noch lange nicht von ihm berührt werden. Genaugenommen wollte ich von keinem anderen als Ailuranthropen berührt werden.

Lügnerin.

Ich biss die Zähne fest zusammen und verfluchte diese aufdringliche Stimme in meinem Inneren.

„Ich werde auf jeden Fall gleich losfahren“, sagte Luan. „Falls irgendwas sein sollte, werde ich anrufen und Bescheid sagen und ihr sagt mir, was mit Vinea ist, wenn es etwas Neues gibt.“

„Sagen?“ Wie sollten wir es ihm den sagen? Er würde doch gar nicht hier sein.

„Mit dem Handy.“ Er zog den kleinen, schwarzen Kasten aus der Jackentasche, um ihn vor meiner Nase hin und her zu schwingen. „Keine Sorge, meine Familie weiß, wie das funktioniert.“

Das interessierte mich im Moment nicht besonders. „Werdet ihr Gillette und Kaio gleich retten?“

„Wenn sich eine Möglichkeit ergibt, sicher. Wenn nicht, dann komme ich mit Aman zurück und wir machen einen Plan, um deinen Amicus zu retten.“

Einen Plan. Weil der letzte Plan ja auch so gut funktioniert hatte, der Plan, den ich mir überlegt hatte. Es war meine Schuld gewesen, dass alles so schief gelaufen war, meine Idee war daran schuld gewesen. Vielleicht hatte Aman mit seinen Worten ja doch Recht und ich sollte mich einfach aus allem heraushalten.

Ich kann dich hier nämlich nicht gebrauchen. Ja, weil ich nur Ballast war, der jedem im Wege stand. Du bist keine fertige Kriegern, versteh das endlich.

„Keine Sorge“, sagte Luan. „Es wird schon alles gut werden.“ Einen Moment schwieg er. „Obwohl du dich vielleicht auch mit den Geistreden vertraut machen solltest, dass diese Spur bereits kalt ist und wir gar nichts ausrichten können.“

„Nein“, widersprach ich sofort und schüttelte energisch den Kopf. Ich wollte gar keine Geistreden daran verschwenden, dass wir Gillette vielleicht erneut verloren hatten. „Bastet hat meine Schritte gelenkt. Er ist da, das weiß ich. Meine Göttin würde mich nicht in die Irre führen. Wir müssen ihn nur finden.“

Wieder ein Schnauben von Janina, das Nebka ein leises Fauchen entlockte. Ich drückte sie fester an mich.

Luan dagegen enthielt sich jeden Kommentars. „Gut, ich werde dann mal zu Aman fahren.“

„Sei vorsichtig“, sagte Janina und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn mit einem Kuss zu verabschieden.

Ich sah dezent weg. Vielleicht hatte ich die Liebschaft zwischen beiden in der letzten Zeit langsam akzeptiert, aber deswegen musste ich sie noch lange nicht vor Augen haben.

„Ich werde mir ein wenig die Füße vertreten“, teilte ich Acco mit. Ja, das war jetzt genau das, was ich brauchte, um meinen Kopf ein wenig klar zu bekommen. „Sag es Anima, wenn sie herauskommt, damit sie sich keine Sorgen macht.“

Er nickte zur Bestätigung.

„Ich will mit!“, piepste Nebka neben mir.

„Natürlich nehme ich dich mit.“ 

 

°°°°°

Kapitel Fünfundzwanzig

So gut es ging, versuchte ich die Worte und die Geschehnisse der letzten Zeit aus meinem Kopf zu verdrängen und geistredete stattdessen darüber nach, was geschehen sollte, sobald Gillette wieder an unserer Seite war, während ich an einem kleinen Tümpel saß und einen Käfer beobachtete, der geschickt über das sumpfige Wasser huschte.

Du bist keine fertige Kriegern, versteh das endlich.

Am liebsten hätte ich meinen Kopf irgendwo gegengeschlagen. Sich etwas vorzunehmen und dies dann auch noch zu tun, war wie Tag und Nacht, unterschiedlicher ging es gar nicht. Oh Göttin, bitte reinige meine Geistreden, ich flehe dich an. Es ging doch wirklich nicht an, dass dieser Lykanthrop nicht aus meinem Kopf verschwand, dass seine Worte sich in meinen Geist gefressen hatten und mir mehr wehtaten, als sie sollten.

„Das tut weh!“, beschwerte sich Nebka. „Lass mich los.“

„Ich …“ Ach zur Sachmet, ich hatte kaum gemerkt, wie ich meine Arme immer fester um den kleinen Leib gedrückt hatte. „Es tut mir leid“, entschuldigte ich mich und ließ die Kleine vor dem sumpfigen Tümpel auf den Boden gleiten.

Du bist keine fertige Kriegern, versteh das endlich.

Nein, jetzt reichte es. Ich würde mich von seinen Worten nicht fertig machen lassen. Es gab Wichtigeres. Mitunter die Frage, wie es weitergehen sollte, wenn Gillette und Kaio wieder bei uns waren. Natürlich, wir mussten einen Weg zurück nach Hause finden, nur wie? Am einfachsten wäre die Reise durch ein Portal, doch die Erdlinge besaßen keines.

Ein Stück entfernt raschelte es im Unterholz. Über das Zirpen der Grillen war es kaum zu hören, doch meine empfindlichen Ohren fingen das leise Geräusch auf. Nebka sah kurz auf, wandte sich dann aber wieder dem Schilf zu, nach dem sie spielerisch schlug, in der Hoffnung, einen Frosch aufzuschrecken. Gab es auf der Erde überhaupt Frösche? Ich hörte jedenfalls nicht das vertraute Quaken, dass zuhause auf Silthrim bei der Dämmerung immer von Ailurafluss hinauf zum Tempel getragen wurde.

Hinter mir kamen leise Schritte auf, vertraute Schritte. Keine Gefahr. Anima. Sie musste direkt von Vinea kommen.

„Ach hier steckst du“, sagte sie, kam näher und ließ sich neben mir auf den alten Baumstamm am Tümpel nieder. „Ich habe dich bereits gesucht.“

Ich traute mich kaum zu fragen, doch wenn sie jetzt hier war, hieß das, dass sie mit Vinea fertig war. Ob sie es geschafft hatte? Würde sie überleben? „Wie geht es der Lykanthropin?“

„Besser“, sagte sie, rupfte einen Grashalm vom Boden und zerpflückte ihn zwischen den Fingern. „Sie schläft noch. John hat ihr drei Blüten des Schafmohns gegeben.“ Kleine Grasstückchen fielen achtlos zu Boden. „Den Ast hat er entfernt und auch die Blutung hat aufgehört.“

„Das ist gut.“

„Ja.“ Anima nickte und zerrieb ein letztes Stück Grün zwischen den Fingern. „Er ist ein guter Heiler. Wie er die Wunde gesäubert und verschlossen hat … ich habe selten ein so hervorragendes Handwerk gesehen. Jetzt können wir nur noch hoffen.“

„Hoffen?“ Ich verstand nicht. Hatte sie nicht eben noch gesagt, dass alles wieder in Ordnung käme? „Was meinst du mit hoffen?“

„Naja …“ Sie warf mir einen kurzen Blick zu, bevor sie ihn auf Nebka gleiten ließ, die munter auf einem Schilfhalm herumknabberte. „Soweit ist alles in Ordnung, nur muss sie jetzt noch erwachen.“

„Was meinst du damit?“ Ich konnte es mir zwar bereits vorstellen, doch ich musste es aus ihrem Mund hören.

„Sie wird heilen, vorausgesetzt sie erwacht.“

Das hatte ich befürchtet. Es war einfach zu viel Zeit vergangen, wir hatten zu oft gezögert. Aber nach der ganzen Arbeit … sie musste einfach erwachen. Und Aman? Was würde geschehen, wenn seine Sicuti nicht mehr erwachte. Göttertod noch eins, warum interessierte es mich überhaupt? Nicht, dass ich Vinea den Tod wünschte – auf keinen Fall tat ich das –, aber sollte es doch geschehen, dann war es eben so. Sie war eine Lykanthropin, es ging mich nichts an.

Und auch nicht, was aus Aman wurde.

Ach Göttin, das war alles so verwirrend. Ich beneidete Nebka um ihre Unbeschwertheit. Natürlich, sie hatte viel durchgemacht und ich erwartete jeden Moment, dass ihr Gemüt wieder umschlug. Aber jetzt im Augenblick, wie sie dort im Schilf spielte, sich auf dem Rücken wälze und mit den kleinen Pfoten nach den Halmen schlug, ja, in diesem Moment beneidete ich sie um ihre kindliche Unschuld.

Du bist keine fertige Kriegern, versteh das endlich.

Geh weg aus meinem Kopf! Beinahe hätte ich es laut geschrien. Warum nur wichen diese Worte nicht von mir? Warum nur mussten sie so wehtun? Ich musste mich anderen Dingen widmen, musste mich ablenken, bis ich sie vergessen hatte. „Nim, was ist alles von Nöten, um mit einem Portal zu reisen?“

„Ein Portal?“ Sie wandte mir ihren Blick zu. „Warum fragst du?“

Weil ich vielleicht einen Einfall hatte, der es uns ermöglichte zurück nach Silthrim zu reisen, sobald Gillette und Kaio wieder an unserer Seite waren. „Sag es mir bitte einfach.“

„Nun ja, ein Priester, oder jemand anderes, der im Umgang mit der Macht der Götter geschult ist und sie lenken kann“, sagte sie und rupfte einen weiteren Halm, den sie in den Fingern wand. „Und natürlich eine Göttermacht.“

„Du wurdest darin geschult“, sagte ich leise.

Zögern, dann: „Ja.“

„Und wir haben eine Göttermacht bei uns.“

„Das stimmt wohl.“ Sie seufzte und richtete den Blick wieder auf Nebka. „Aber das hilft uns nichts, solange wir kein Portal haben.“

„Dann sollten wir uns eines bauen.“.

Sie stutzte und sah mich dann mit geweiteten Augen an. „Was hast du gesagt?“

„Ich habe gesagt, dann sollten wir uns eins bauen. Ein Portal. Wir haben dich, die Göttermacht und jetzt fehlt uns nur noch das Portal. Das können wir auch selber bauen“, erklärte ich ruhig, aber entschlossen. „Sobald Gillette dann wieder an unserer Seite ist, können wir zurück nach Silthrim.“

Sie verstand nicht, schüttelte nur ungläubig den Kopf. „Ich glaube, du stellst dir das ein wenig zu leicht vor. Das Portal an sich ist nur ein steinerner Durchlass, erst die Zeichen der Götter machen ihn zu einem machtvollen Objekt, doch diese müssen authentisch sein. Wenn nur ein Zeichen ein wenig vom Urbild abweicht, dann …“

„Dann würde das Portal nicht funktionieren“, beendete ich ihre Worte.

„Im besten Fall“, stimmte sie mir zu. „Im Schlimmsten könnten wir ganz woanders landen, als wir wollen.“

„Du meinst in einem anderen Tempel der Götter?“

„Ich meine in einer anderen Welt, so wie diese hier.“ Sie machte eine ausschweifende Armbewegung, die alles um uns herum mit einschloss.

Noch eine andere Welt? Sprach sie wahr? „Aber … wie kann das sein?“ Ich schüttelte den Kopf, nicht gewillt ihren Worten Glauben zu schenken. „Ich habe davon noch nie gehört.“

„Es ist ja auch nur unter den Priestern bekannt.“ Einen Moment verfiel sie in Schweigen. „Eigentlich dürfte ich dir das auch gar nicht erzählen, aber ich muss dir verdeutlichen, was passieren könnte.“ Sie rieb die Hände in ihrem Schoß aneinander, um sie zu wärmen. In der letzten Stunde war es auch wirklich kalt geworden. Die Sterne dieser Welt erwärmten nicht die Nacht, so wie ich es aus meiner Heimat kannte.

„Weißt du“, sagte Anima dann. „Das Portal ist nicht nur ein Mittel, um dich von einem Ort zum anderen zu bringen. Es bringt dich auch durch den Steg der Welten in andere Mitwelten, Parallelwelten, Dimensionen. Nenn es wie du möchtest. Es gibt sogar eine Schrift, die besagt, dass man durch ein Portal auch in den Zeiten wandern kann. Natürlich ist das unwahr. Es gibt keine Beweise dafür, noch ist es je jemandem gelungen. Wir wissen auch nicht, woher der Text stammt, oder wer ihn verfasst hat, was es noch mysteriöser macht, es ist nur ein einfacher Satz, der frei übersetzt so viel bedeutet wie, so wandere durch Raum und Zeit.“ Sie schwieg einen Moment. „Was ich dir damit eigentlich sagen möchte, die Gefahr, in einer noch ferneren Welt zu landen und nicht auf Silthrim, ist einfach zu groß, um es zu riskieren.“

Diese Worte … ich konnte es kaum glauben sie von ihr zu hören. Was machte diese Welt nur mit ihr? Nicht nur, dass sie hier an den Göttern zweifelte, auch in ihrem Benehmen wurde sie für mich mehr und mehr zu einer Fremden. Früher hätte Anima niemals so gesprochen. Immer voller Tatendrang, niemals aufgeben. Aber hier? Ich verstand sie einfach nicht. „Und was willst du stattdessen tun?“, fragte ich ein wenig angriffslustig. „Nur rumsitzen und auf etwas warten, dass nicht kommen wird?“ Ich rutschte vom Baumstamm und kniete mich vor sie. „Nim, solange wir alle zusammen sind, du, Gillette, ich und auch Asokan …“

„Und ich“, piepste es neben mir.

„Ja, auch du und Kaio.“ Ich nahm Animas Hände. „Solange wir zusammen sind, ist es gleich wo wir landen. Und wenn wir in einer noch entfernteren Welt stranden, dann versuchen wir es erneut, solange bis wir wieder zu Hause sind. Was haben wir schon zu verlieren?“

Ein Blick, ein Seufzen. „Wenn du es so ausdrückst, dann nichts.“

Das ließ mich lächeln. „Da siehst du es. Also lass es uns versuchen.“

„Aber die Zeichen …“

„Die wurden dir gelehrt, das weiß ich. Als Occino musst du sie einfach kennen.“

„Das ist schon wahr“, gab sie widerstrebend zu, „aber wenn mir nur ein Fehler unterläuft …“

„Niemand wird dich dafür verurteilen, jeder macht Fehler. Wir machen sie und lernen daraus, dies hast du mir selber beigebracht.“

Sie lächelte verzagt. „Wirklich? So schlaue Worte haben einst meinen Mund verlassen?“

„Ja, diese und noch viel mehr.“ Ich drückte ihre Hand. „Du musst nur Vertrauen haben.“

Da waren sie wieder, diese Worte, doch dieses Mal waren sie aus meinem Mund gekommen und nicht einer unbekannten Stimme in meinem Geist entsprungen. Sie fühlten sich so richtig an, dass ich gar nicht falsch liegen konnte.

„Glaubst du wirklich, dass das funktionieren kann?“, wollte sie noch wissen.

Ich zuckte die Schultern, genau wusste ich es ja auch nicht, aber … „Es gibt nur einen Weg das herauszufinden.“ Und ich wusste auch schon ganz genau, an wen wir uns wenden mussten. 

 

°°°

 

„He, nun renn doch nicht so“, keuchte Anima. Sie kam kaum hinterher.

Ich hörte nicht, drückte Nebka nur an meine Brust und lief weiter. Schneller und schneller. Die Aufregung hatte mich gepackt und ich konnte es kaum erwarten, in die Bastion zu kommen. Vielleicht war das wirklich die Lösung und wir konnten endlich zurück nach Silthrim gelangen. Aman würde Augen machen, doch … Aman war gar nicht da.

Du bist keine fertige Kriegern, versteh das endlich.

Zur Sachmet mit diesem Lykanthropen! Warum nur verschwanden seine Worte nicht endlich. Geistrede jetzt nicht darüber nach!, befahl ich mir selber. Jetzt war es nur wichtig meinem Ziel zu folgen. Vielleicht würde endlich alles gut werden.

Ich stürmte die Bastion, direkt auf das kleinere der beiden Zelte zu, das, in dem ich vorhin Pascal hatte sitzen sehen. Er war Magier und genau das war es, was wir nun brauchten. Natürlich gab es noch einen anderen Magier, doch bevor ich den um Hilfe bat, würde ich lieber in dieser Welt verrotten. So beachtete ich ihn auch nicht weiter, als ich vor den Eingang des Zeltes stürzte, Nebka etwas unsanft neben mich setzte und versuchte den Stoff zu öffnen. „Pascal“, rief ich und riss den Reißverschluss beinahe aus dem Stoff, als ich ihn runterzerrte. „Pascal, wach auf!“

Es ritschte. Der Stoff klaffte zur Seite und gab das Bild auf zwei verschlafene Männer frei, die sich müde die Augen rieben. Pascal und John.

„Was´n los?“, nuschelte der junge Magier und richtete sich halb auf, sodass die Decke an ihm runterrutschte. „Ich hab gerade so schön geträumt.“

„Du kannst später wieder nach Träumen gehen, jetzt brauchen wir deine Magie.“

Er gähnte so herzhaft, dass sein Kiefer knackte. „Kann das nicht bis morgen warten?“

„Nein.“ Entschlossen zwängte ich mich in das Zelt zwischen die beiden Männer. Anima drängte sich hinter mir auch noch hinein. Es wurde ganz schön eng.

„Kannst du Stein zaubern?“, fragte ich ihn ganz direkt.

„Natürlich“, sagte er und ließ sich der Länge nach wieder auf den Rücken fallen. Die Augen waren bereits zu, bevor er das Kissen berührte.

„He!“, machte Anima und rüttelte ihn an dem Beinen. „Nicht schlafen. Hör uns zu.“

John rutschte ein wenig herum, da ich halb auf seinen Beinen niedergelassen hatte. „Warum wollt ihr wissen, ob er Stein zaubern kann?“

„Weil das Portal aus Stein sein muss. Wir könnten es natürlich auch schlagen, aber das würde Wochen und Monate dauern und …“

„Einen Moment mal“, unterbrach John mich. „Immer schön der Reihe nach. Um was geht es hier eigentlich genau?“

„Es war meine Idee“, sagte ich aufgeregt und griff nach seiner Hand. „Wenn Pascal ein Portal fertigen kann, so wie Nim es ihm sagt, dann können wir zurück nach Hause!“

„Und darum musst du aufwachen“, forderte Anima die Schlafmütze auf, doch der grummelte nur unwillig, drehte sich auf die Seite und ignorierte uns. „Aufwachen habe ich gesagt.“ Eiskalt zog meine Amicus dem Magier die Decke weg und warf sie aus dem Zelt. Auch das überraschte „Hey!“ von Pascal hinderte sie nicht daran. „Hör uns jetzt zu!“, forderte sie ihn auf.

„Ihr Weiber könnt ganz schön anstrengend sein, hat euch das schon mal jemand gesagt?“ Er zwinkerte verschlafen dem Zelteingang zu, durch den Nebka vorsichtig ihr Köpfchen geschoben hatte, um auch nichts zu verpassen.

„Also was ist nun?“, fragte ich Pascal. „Kannst du ein Portal aus Stein zaubern, so wie Nim es dir sagt?“

„Klar kann ich das.“ Er streckte sich einmal, bis die Knochen knackten und verschränkte dann die Arme hinter dem Kopf. Dabei schubste er Anima fast noch aus dem Zelt und zeigte dabei keine Reue. „Aber nicht mehr heute. Schon vergessen? Ich bin vom letzten Zauber noch ziemlich ausgelaugt – den ich übrigens auch für euch gewirkt habe.“ Nachdenklich sah er uns beide an. „Habe ich dafür nicht eigentlich eine kleine Belohnung verdient?“

Darauf ging ich gar nicht ein. „Und wann kannst du wieder zaubern?“

„Auf jeden Fall nicht vorm Aufstehen.“

„Dann steh auf“, forderte Anima ihn auf.

Er grinste sie schelmisch an. „Damit meinte ich eigentlich, nachdem ich ausgeschlafen und neue Kräfte getankt habe. Würdest du mir bitte meine Decke geben? Mir wird nämlich langsam kalt.“

Anima schüttelte den Kopf. „Nein.“

„Moment“, sagte John. „Ich dachte du brauchst ein Bild um etwas zu erschaffen.“

„Jup, das brauche ich.“

„Das ist kein Problem“, warf ich ein und verkniff mir die Frage, was „Jup“ bedeutet. „Nim fertig dir Zeichnungen an nach denen du arbeiten musst. Sie brauch nur Papier und einen Pinsel.“ Ich beugte mich halb über ihn und ergriff seinen Arm. „Aber du musst sehr genau arbeiten, sonst kann es gefährlich sein.“

„Gefährlich?“, fragte John.

Ich nickte. „Nur ein Fehler und das Portal könnte uns in eine falsche Welt führen.“

„Okay, geht klar.“ Pascal gähnte erneut so herzhaft, dass sein Kiefer knackte. „Aber jetzt lasst mich schlafen, damit ich …“

„Nein.“ Ich zog ihm am Arm in eine sitzende Position. „Du gehst jetzt mit Anima die achtzehn Zeichen durch, um zu sehen, ob du das auch hinbekommst.“

„Hast du es schon mal mit einem Bitte probiert? Das kann manchmal wahre Wunder wirken.“

Ich hörte ihm gar nicht mehr zu, hatte mich schon zu John umgewandt. „Hast du Papier und Pinsel?“ 

Im Augenwinkel beobachtete ich Nebka, die sich ins Zelt schlich und leise in eine Ecke kauerte, um ja auch alles gut im Blick zu haben.

„Ähm … ja. In meiner Tasche habe ich eine Kladde für Notizen. Moment.“ Er beugte sich über mich rüber und zog seine Tasche heran, in der er geschäftig herumkramte. Einen Moment später beförderte ein gebundenes Buch zutage, das er Pascal in den Schoß warf. „Hier.“

„Danke, äußerst liebenswürdig von dir.“

„Und einen Pinsel?“, fragte ich, aber da flog er dem Buch schon hinterher, doch … was war das? Neugierig nahm ich das Ding an mich. Als ich es mir an die Nase hielt, roch ich einen seltsamen Geruch, der mich entfernt an Blei erinnerte. Irgendetwas Metallisches. Als ich es drehte, kam ich auf einen Druckmechanismus. Aus dem Ende schoss etwas Spitzes heraus.

Vor Schreck ließ ich das Ding einfach fallen und machte einen Satz zurück. Leider lag John im Weg, so dass ich halb auf ihm landete.

„Au! … Mist“, ächzte er und krümmte sich zusammen.

„Volltreffer“, kommentierte Pascal breit grinsend.

Ich achtete nicht weiter auf die beiden, behielt dieses fremdartige Ding im Blick. „Es wollte mich angreifen.“

Auch Anima blieb wachsam. „Was ist das? Warum hast du es uns gegeben?“

„Das ist ein Stift, genaugenommen ein Kuli“, antwortete Pascal an Stelle von John – der sein Gesicht ins Kissen gedreht hatte – und griff nach dem Teil. Einen Handschlag später hatte er das Buch geöffnet und den Kuli angesetzt.

Ich folgte den Bewegungen aufmerksam, beugte mich leicht rüber, um zu verfolgen, was Pascal dort trieb und konnte dabei zusehen, wie er blaue Linien über das weiße Papier führte. Das Ding malte! „So einen Pinsel habe ich noch nie gesehen.“

„Ich auch nicht.“ Auch Anima hatte sich leicht vorgebeugt. „Ist das Magie?“

„Ne, nur eine kleine Kugel, die Tinte gleichmäßig aufs Papier bringt.“

Neben mir stöhnte John, weswegen ich mich besorgt zu ihm runter beugte. „Ist alles in Ordnung mit dir?“

„Wenn du mir noch einen Moment gibt’s, dann ja.“

Ich sollte ihm einen Moment geben? Was hatte er nur?

„In Ordnung“, sagte Anima. „Ich verstehe wie das funktioniert. Gib mir denn Pinsel.“

„Und das Buch“, fügte ich hinzu.“

„Nur wenn du ganz lieb bitte, bitte, sagst“, schäkerte Pascal, gab die Sachen dann aber doch heraus, als er Animas bösen Blick bemerkte. „Spielverderber“, meckerte er, rutschte dann aber so weit herum, dass er Anima beim Zeichnen beobachten konnte. „Na schön, dann mal an die Arbeit.“

 

°°°°°

Kapitel Sechsundzwanzig

Langsam wurden meine Augen schwer. In der Ferne konnte ich schon den Ruf aus dem Land der Götter hören, der mich zu verführen versuchte, doch meine Geistreden wollten einfach nicht zur Ruhe kommen. Es würde klappen, dass sagte ich mir immer wieder, während ich Anima und Pascal im Mondlicht arbeiten sah. Wir würden Gillette vor dem Kriegergeneral retten und dann alle gemeinsam durch das Portal zurück nach Silthrim reisen.

Endlich würde ich eine Antwort auf die quälende Frage, was im Tempel geschehen war, erhalten. Ich würde Sian wiedersehen. Und Jaron. Selbst auf Magister Damonda freute ich mich insgeheim – noch vor ein paar Tagen hätte ich das nicht für möglich gehalten. Ob mein Fafa wusste, was mit mir geschehen war? Ich würde ihn wieder in die Arme schließen können. Genau wie meine Mina und meine Brestern. Alle würde ich wiedersehen, jeden einzelnen von ihnen und in Zukunft würde ich einen großen Bogen um jedes Portal machen, das mir auf meinem Weg begegnete.

John hinter mir war sehr ruhig, war tief in seine Geistreden versunken, während Anima Pascal jedes Zeichen in allen Einzelheiten erklärte. Ihr Aussehen, ihre Bedeutung und ihre Macht und Herkunft. Ich glaubte nicht, dass der junge Magier all diese Informationen in sich aufnahm, sah er doch so aus, als würde er jeden Moment im Sitzen einschlafen.

„Du freust dich sicher“, sagte John leise hinter mir. Seine Hand wanderte sachte über meinen Arm und ließ die Haut angenehm prickeln.

„Natürlich. Du glaubst gar nicht wie sehr ich mich freue.“ Ich wandte mich zu ihm herum und lächelte auf ihn herab. „Nirgends ist es schöner als Zuhause.“

Meine Euphorie ließ ihn leise lächeln, doch schwand es sehr schnell, als er zu mir nach oben sah. Die Zeltwände sperrten das Licht der Sterne weitgehend aus, nur durch den Eingang drang etwas von dem fahlen Schein der Nacht. Trotzdem konnte ich es sehr gut erkennen.

„Und was ist mit der Gefahr?“, wollte John wissen. „Was, wenn ihr in einer falschen Welt landet?“

„Das wird nicht geschehen.“ Da war ich sehr zuversichtlich. „Anima weiß, was sie tut und sie ist Perfektionistin.“

„Und wenn nicht?“, zweifelte er.

„Sorg dich nicht“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Sie versteht etwas von ihrem Werk und wird nicht eher Ruhe geben, bis es ihr geglückt ist.“

Pascal, der unseren Worten gelauscht hatte, verzog das Gesicht. „Und was ist mit meinem Schlaf? Ich werde jetzt sicher kein Portal zaubern. Das bekomm ich gar nicht hin, dafür bin ich viel zu müde.“

„Mäkel nicht so rum“, mahnte Anima ihn. „Es sind doch nur noch drei Zeichen, dann kannst du ins Land der Götter reisen.“

„Ins Land der Götter reisen? Ich will nirgendwo hinreisen, ich will schlafen. Und jetzt gib mir endlich meine Decke, mir ist kalt.“ Er griff über Anima rüber, doch die schlug sanft, aber bestimmt seine Hand weg und drohte ihm mit dem Finger.

„Ins Land der Götter reisen bedeutet Träumen“, sagte John geistesabwesend. Dann seufzte er und richtete sich auf, sodass die Decke sich um seine Hüfte raffte und den Blick auf die lange Narbe auf seine Brust freigab. Jetzt wusste ich, woher sie stammte, von dem Unfall, bei dem seine Eltern gestorben waren. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, wie es sein musste, sowohl Fafa als Mina zu verlieren.

Ich streckte die Hand aus und fuhr die Narbe lang. „Ich leide mit dir und gebe dir auch Hoffnung“, sagte ich leise und hoffte er verstand.

John sah mir nur stumm in die Augen, griff nach meiner Hand und drückte sie leicht. „Leg dich hin.“

„Wie?“

„Du sollst dich hinlegen.“ Er rutschte ein Stück zur Seite, um mir Platz zu schaffen. „Wenn wir sowieso noch wach sind, dann kann ich mir auch noch mal dein Bein ansehen.“

Bei diesen Worten sah Anima sofort an. „Ihr Bein? Ich glaubte, es sei wieder alles in Ordnung damit.“

Oh dieser Blick, warum nur konnte ich mich nicht einfach in Luft auflösen?

„Sie humpelt noch leicht“, sagte John. „Und auch, wenn das schwarze Adergeflecht bis heute Morgen zurückgegangen ist, würde ich es mir gerne noch einmal ansehen. Einfach nur sicherheitshalber zur Kontrolle, damit ich rechtzeitig reagieren kann, sollte es doch wieder schlimmer geworden sein.“

Vier paar Augen waren auf mich gerichtet – ja, auch die von Nebka – sodass ich mich mit einem Seufzen in mein Schicksal ergab. Ein „Ich humple gar nicht mehr, Aman hat nur Steine im Kopf“ konnte ich mir allerdings nicht verkneifen, als ich die Hose öffnete und sie mir über die Beine abstreifte. „Es tut auch gar nicht mehr weh.“ Schweigen. „Ehrlich.“

Sie sahen nicht überzeugt aus, aber das war ihr Problem.

Ich setzte mich mit ausgestreckten Beinen zwischen John und Pascal und warf selber einen Blick auf das Gebilde – ich hatte es seit dem Morgen nicht mehr gesehen. Aber … oh Göttin, was war das denn? Es war wieder größer geworden. Das untere Ende wickelte sich einmal ums Bein bis zum Knie. Zur anderen Seite zog es sich hoch bis zur Hüfte. Feine filigrane Linien.

Für einen Moment bekam ich Panik. Das war nicht gut. Das war ganz und gar nicht gut. Würde ich wieder krank werden? Konnte ich … oh Göttin, nein, nein, nein, bitte ich nicht. Meine Hände begannen zu zittern, nur ganz leicht, aber ich spürte es deutlich. Hatte das Gift meinen Körper doch nicht verlassen? Ich wollte nicht zurück in die Mächte. Oh Göttin, bitte nicht, noch nicht, bitte.

Stimmen wurden neben mir laut, jemand berührte mich, doch ich bemerkte es nur wie durch dicken Nebel. Es schien nicht real, weit fort in einer Welt ohne diese schwarzen, verschlingenden Linien, die mich zu verhöhnen scheinen. Linien, Striche, Wellen, ein … Auge? Aber was …

„… mir zu? Lilith? So hör doch. Komm zu dir!“

Grobe Hände schüttelten mich an den Schultern. Das war Anima, ich sah ihr Gesicht, sah die Freude darin. Freude?

„Lilith, hörst du mich?“

Ich konnte nur zaghaft nicken und zuckte daraufhin gleich kräftig zusammen, als sie einen spitzen Schrei ausstieß und mir um den Hals fiel. „Ich freu mich so für dich. Das ist phantastisch!“

„Phantastisch?“, fragte ich seltsam benommen. Alles war umnebelt und meine Geistreden schienen mit dickem Sirup verklebt und sich nur zäh zu bewegen. Nicht mal das Zittern konnte ich noch richtig spüren. Was war nur in sie gefahren? Warum freute sie sich denn so?

„Das Mal, das Mal der Göttin!“, rief sie euphorisch und hielt mich eine Armlänge von sich, um mich breit lächelnd anzustrahlen. „Du wurdest berührt! Oh Lilith, warum hast du das nicht erzählt?“

„Berührt?“ Ich verstand immer weniger. Was … oh Göttin, sie meinte doch nicht Aman, oder? Konnte man es mir ansehen? Zeigte dieses Zeichen, was der Lykanthrop mir angetan hatte? Was ich selbst tat? Dass ich es … gewollt hatte?

„Ja, berührt!“ Anima nickte eifrig. „Von der Göttin höchst selbst.“ Sie strahlte auf das schwarze Adernnetz hinab. „Das Auge der Bastet, siehst du? Und dort, die eleganten Linien. Du wurdest von unserer Göttin gezeichnet, nur …“

„Nur?“, fragte ich. Irgendwie wollten ihre Worte in meinem Kopf nicht ganz Form annehmen. Ich verstand sie im Einzelnen, doch der Zusammenhang entglitt mir noch. Ich wurde von der Göttin gezeichnet? Warum nur? Und wann?

„Die Zeichnung ist noch nicht fertig, sie wird noch etwas größer werden.“ Ihr Blick richtete sich wieder auf mein Gesicht. „Bastet muss Großes mit dir vorhaben. In der Geschichte der Ailuranthropen ist das bisher nur ein Dutzend Mal geschehen, ich habe die Schriften studiert, ihre Geschichte gelesen. Sandrien und Rolex gehörten zu ihnen und du nun auch. Auch sie trugen diese Zeichen an ihrem Körper. Du bist die Dreizehnte Auserwählte.“

„Ich bin eine Auserwählte?“ Diese Geistrede wollte in meinem Kopf einfach keine Form annehmen. „Ich? Aber warum? Ich bin doch nur … Lilith.“ Langsam ließ ich den Köpf hängen, sah das Zeichen. Warum wählte die Göttin jemand wie mich?

Du bist keine fertige Kriegern, versteh das endlich.

Warum?

Anima schüttelte langsam den Kopf. „Auf diese Frage kann ich dir auch keine Antwort geben, das weiß nur Bastet selber.“ Sie schwieg einen Moment. „Vielleicht würden wir die Antwort in den Schriften des Tempels finden, in den Prophezeiungen. Ich weiß es nicht.“

Eine Prophezeiung? Über mich? Das wurde ja immer absurder. „Es kann nicht stimmen“, beharrte ich, weil es einfach zu abwegig war, dass ich für Größeres bestimmt sei. „Das ist das Gift, es breitet sich wieder in meinem Körper aus.“ So musste es sein. Die Göttin hatte kein Interesse an mir. Ich war nur irgendwer, nichts Besonderes.

„Siehst du es denn nicht?“, wollte Anima ungläubig wissen. „Siehst du nicht die Ähnlichkeit zu Occino? Hast du dir nie die Bilder an den Wänden im Tempel richtig angesehen? Die Zeichen der Auserwählten?“

„Natürlich hab ich das“, musste ich zugeben. Bei weiten nicht so oft und intensiv wie Anima, aber ich hatte sie gesehen und ja, sie hatten auch eine gewisse Ähnlichkeit mit dem schwarzen Gebilde auf meinem Körper, aber … „Das muss ein Fehler sein. Du musst dich täuschen. Ich kann nicht …“

„Ich täusche mich nicht“, sagte Anima fest. „Vielleicht war das mal eine Vergiftung, aber jetzt ist es das Zeichen der Göttin.“ Sie richtete ihren Blick fordernd auf John, der die ganze Zeit nur schweigend zugehört hatte. „Sag doch auch mal etwas, Heiler. Sieht das so aus, als würde es ihr schaden?“

„Ähm … was? Ähm … Nein. Das ist … es hat Ähnlichkeit mit einer Tätowierung.“ Er schüttelte den Kopf, als könnte er es selber nicht glauben. „Aber nur sehr entfernt.“

„Also ich finde es cool“, mischte sich Pascal ein und zwinkerte mir zu. „Übrigens, hübsche Beine.“

„Pascal!“, tadelte John seinen Brestern.

Nebka traute sich aus ihrer Ecke heraus, um sich das Ganze einmal aus der Nähe anzusehen. Sie schnupperte daran. Erst nur vorsichtig, dann schlug sie mit der Pfote danach, um mich danach mit großen Augen anzusehen. „Es ist hübsch.“

„Hübsch?“ Ich sah erneut darauf. Naja, irgendwie hatte sie Recht, aber ich war mir immer noch nicht sicher, ob Animas Worte wahr waren. Was, wenn sie sich irrte und es doch die Vergiftung war? Und was, wenn nicht? „Ich versteh das nicht“, sagte ich zu mir selber.

Pascal gähnte herzhaft. „Na, wenn ihr jetzt nur noch rumgrübelt, dann hau ich mich aufs Ohr.“ Er krabbelte halb über Anima, um sich seine Decke reinzuziehen. Dabei war er viel flinker, als ich es ihm zugetraut hätte – er hatte wohl dazugelernt.

„He!“, machte Anima und hielt die Decke auf halbem Wege fest. „Wir sind noch nicht fertig!“

„Aber ich bin müde!“, protestierte der junge Magier. „Und wenn ich jetzt keinen Schlaf bekomme, dann werde ich morgen zu erschöpft sein, um irgendetwas zu zaubern.“

„Aber …“ Anima sah ihn mit großen, glitzernden Augen flehend an. „Es sind doch nur noch drei Zeichen.“

Oh weh, diesen Blick kannte ich. Den setzte sie auch immer auf, wenn sie etwas von mir wollte. Ich sah seine Niederlage schon kommen, denn, wenn ich mich nicht mal dagegen wehren konnte – und ich wusste ja bereits, was dieser Blick für Folgen hatte – dann war er hoffnungslos verloren. „Bitte“, setzte sie noch weinerlich hinzu und somit war es entschieden.

Ergeben seufzte er und ließ von der Decke ab. „Na gut. Aber dann lässt du mich in Ruhe!“ Er drohte ihr sogar mit dem Finger.

Anima strahlte und drückte ihm einen schnellen Kuss auf die Wange, was mich wohl noch mehr überraschte als ihn. Immerhin war er ein Magier und vor Kurzen wollte sie ihn noch meucheln.

„Ich hab das starke Gefühl, gerade voll in die Falle getappt zu sein“, murmelte Pascal.

Anima lächelte nur und widmete sich dann wieder den Zeichen.

Die beiden plänkelten miteinander, wurde mir klar. Das war … seltsam. Aber noch viel seltsamer waren die verschlingenden Linien, die sich über mein Bein bis zur Hüfte zogen. War ich wirklich eine Auserwählte? Ich konnte es mir nicht vorstellen.

Bastet muss Großes mit dir vorhaben.

Ausgerechnet mit mir? Da musste ein Irrtum vorliegen. Bastet musste einen Fehler gemacht haben, aber … waren Götter nicht eigentlich unfehlbar? Das war so … irreal, das war … oh Göttin, ich konnte keine klaren Geistreden mehr halten. Alles war so verwirrend und die Müdigkeit hatte sich schleichend in meine Knochen gesetzt. Pascal hatte recht, es war wirklich spät und Zeit zum Schlafen. Vielleicht würde ich ja im Schlaf Antworten bekommen, wenn ich im Land der Götter unterwegs war.

„Macht es dir Angst?“, fragte John leise. „Das Zeichen, meine ich.“

„Ich … ich weiß nicht.“ Ich nahm seine Hand, spielte geistesverloren mit seinen Fingern. „Ich kann es mir nicht vorstellen. Warum sollte mich die Göttin erwählen? Wofür?“

„Wenn du das nicht weißt, dann ich erst recht nicht.“ Er lächelte schief. „Ich habe davon noch weniger Ahnung als du.“

„Ja, das stimmt.“ Ich ließ seine Hand los und bette meinen Kopf in seinem Schoß. Er roch so vertraut, roch nach Natur. Das beruhigte mich und das brauchte ich jetzt. Ruhe, um Ordnung in meine Geistreden zu bekommen. Auch Johns Hand, die sanft über mein Haar strich half mir dabei.

Ich lauschte den leisen Stimmen von Pascal und Anima, als ich langsam in den Schlaf abdriftete.

„Du freust dich sicher darauf, nach Hause zu kommen“, sagte John leise.

„Nichts könnte mich davon abhalten.“ Mit dem Kopf in seinem Schoß driftete ich langsam ab in das Land der Götter. Ja, sprach ich noch im Geist, meine Heimat ist der schönste Ort, den es gibt.

 

°°°

 

Ein Arm war um meine Taille geschlungen und sanfter Atem blies mir in den Nacken. Doch das war nicht der Grund, warum ich erwachte. Es war der Blick, der mich aus dem Land der Götter zurückholte. So intensiv, dass ich mich unter ihm zu regen begann.

Nur langsam öffnete ich meine Augen, viel zu gerne hätte ich noch einige Zeit im Land der Götter verbracht, doch die Intensität dieses Blickes ließ sich einfach nicht ignorieren.

Das Erste, was ich sah, war Animas Fuß, an dem sich Nebka zu einem kleinen, haarigen Ball zusammengerollt hatte. Hinter ihr ragte die Silhouette von Pascal in der Morgendämmerung auf und gab leise, schnarchende Geräusche von sich. Auch er hatte Animas Fuße fast im Gesicht.

John sah ich nicht, aber ich spürte ihn in meinem Rücken. Seinen Arm um meine Taille, der warme Atem in meinem Nacken. Er schlief nicht mehr, ich spürte es an seinem Herzschlag, der gleichmäßig gegen meinen Rücken pochte.

Doch all das hatte nichts mit dem Grund zu tun, der mich trotz der wenigen Stunden Schlaf hatte erwachen lassen. Der stand draußen vor dem offenen Zelt – oh weh, ich hatte den Stoff des Eingangs in meiner gestrigen Hast ja beinahe aus den Nähten gerissen. Ob sich das überhaupt noch schließen ließ? – und starrte zu uns hinein.

Aman.

Der Gruß, der mir schon auf den Lippen lag, verschwand genauso schnell wie er gekommen war, als seine gesprochenen Worte erneut über mich kamen.

Du bist keine fertige Kriegern, versteh das endlich.

Ja, ich verstand, aber das änderte nichts daran, dass ich ihn nicht sehen und nicht sprechen wollte, denn auch, wenn ich es mir nicht eingestand, hatten seine Worte mich verletzt. Doch was ich wollte, war etwas über Gillette zu erfahren, weswegen ich Anima am Bein rüttelte, bis sie verschlafen die Augen öffnete, um dann auf Aman zu deuten. Dabei spürte ich die ganze Zeit seinen stummen, bohrenden Blick auf mir. Konnte er seine Augen nicht einmal abwenden? Ich wollte nicht, dass er mich ansah.

Anima blinzelte ein paar Mal verschlafen, bis ihr klar wurde, was Amans Anwesenheit bedeutete. „Gillette!“, rief sie und sprang sogleich in die Hocke. Dabei riss sie Pascal aus Versehen die Decke weg, doch er bekam nichts mit. Er schlief einfach seelenruhig weiter. „Was ist mit Gillette?“, forderte Anima zu wissen. „Sag es mir!“

Er schwieg einen Moment, sah von ihr zu mir, als erwartete er etwas von mir. Aber da kam nichts. Erst dann schenkte er seine volle Aufmerksamkeit Anima, die bereits nach zwei Sekunden schon sichtlich unruhig wurde. Zögern bedeuteten immer schlechte Nachrichten. Sie konnte nicht wissen, dass es sich dabei um eine Sache zwischen mir und Aman handelte. „Ich habe ihn nicht gesehen, doch den Ort ausfindig gemacht, dem der Geruch anhaftet, den Lilith glaubt, zu erkennen.“ Sein Blick richtete sich erneut auf mich, aber da ich nicht länger in dieser niederen Position vor ihm verharren wollte, setzte ich mich auf. Dabei behielt ich Johns Hand fest in meiner. Mir war vollauf bewusst, dass er das mitbekam. Sollte er doch, mir war das gleich.

„Lasst uns zu Luan gehen und mit ihm den weiteren Ablauf planen.“ Ja, mir war bewusst, dass ich einen Vampir ihm vorzog, aber alles war besser, als sich mehr als nötig mit diesem Lykanthropen abzugeben.

„Lilith“, sagte Aman.

Ich schaute demonstrativ weg. „Komm, Anima. Lass uns hören, was Luan zu sagen …“

„Ich weiß genau, was du da tust“, unterbrach Aman mich. „Das ist kindisch, also hör auf damit und rede mit mir wie ein gesittetes Wesen.“

„Verschwinde einfach“, zischte ich, ohne ihn dabei anzusehen.

Johns Hand schloss sich fester um meine.

„Was soll das?“, fragte Anima und schwankte mit ihrem Blick zwischen mir und diesem dummen Hund hin und her. „Was ist los mit euch?“

„Lilith kann ein paar ehrliche Worte nicht vertragen.“

Wenn er geglaubt hatte, Anima so ruhig zu stellen, dann hatte er den Weg aber in die völlig verkehrte Richtung eingeschlagen. „Was hast du zu ihr gesagt?“, forderte sie zu wissen und durchbohrte ihn dabei mit ihrem Blick. „Wenn du sie …“

„Ich habe nur die Wahrheit gesagt.“

John schnaubte. „Du hast ihr groben Unfug an den Kopf geknallt, weil du einfach nicht fähig für zwischenmenschliche Beziehungen bist. Ganz ehrlich, dein Sozialverhalten ist so ichbezogen, dass selbst ein Kleinkind das besser hinbekommt.“

Aman kniff die Augen zusammen. „Halt dich daraus, Mensch, du weißt nicht, wovon du sprichst. Du hast keine Ahnung von unserer Welt, oder dem Leben dort. Du weißt nicht, was es bedeutet, ein wahrer Krieger zu sein, also behalt deine Worte für dich. Du bist nichts weiter als ein dummer Mensch.“

Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Ich konnte förmlich fühlen, wie der Ärger in John wuchs. Und wie die beiden sich fixierten, als wollten sie es gleich ausfechten. Selbst die Luft in Zelt schien vor Anspannung erstarrt. Sie war so dick, das man kaum atmen konnte und der Testosterongehalt darin, ich glaubte, ich müsste ersticken.

Pascal bekam von dem ganzen immer noch nichts mit. Friedlich verweilte er in Träumen und regte sich selbst dann nicht, als Nebka über ihn rüber kletterte, um hinter seinem Körper Schutz zu suchen. Anima dagegen sträubten sich die Nackenhärchen.

„Vielleicht bin ich dumm“, sagte John dann, „aber ich darf ihre Hand halten.“ Wie um seine Aussage zu untermauern, hob er seine mit mir verschränkten Finger und führte sie zu einem hauchzarten Kuss an seine Lippen. Dabei ließ er den knurrenden Lykanthropen nicht aus den Augen.

Was bitte waren das für Frechheiten? Ich setzte gerade dazu an, ihnen mal gründlich den Kopf zu waschen, um sie beide auf ihren Platz zu verweisen, da hallte ein angstvoller Schrei durch den Wald.

Die folgende Stille hallte dröhnend in unseren Ohren. Selbst der Wald um uns herum war verstummt. Keiner bewegte sich, die Anspannung stieg.

„Das war Asokan“, rief Anima entsetzt und war bereits aus dem Zelt verschwunden, bevor ich reagieren konnte.

 

°°°°°

Kapitel Siebenundzwanzig

Ich stürmte aus dem Zelt, riss es dabei fast noch aus der Verankerung. Zeitgleich kamen Luan und Janina hastig aus dem anderen Zelt gerannt. Destina tauchte aus der Höhle auf, Sohto stand bereits lauschend davor und sah sich aufmerksam um.

„Wo ist er?“, rief Anima. „Wo ist Asokan?“

Hier war er jedenfalls nicht. Die Lichtung lag ruhig vor uns. Alle waren da, nur der Küchenjunge fehlte. Blicke flogen umher, nur nicht von dem feindlichen Magier, der schien noch zu schlafen.

„War er es, der geschrien hat?“, wollte Janina wissen. „Ich hab mich voll erschrocken!“

„Er wollte nur kurz für die Morgenwäsche vor die Höhle“, sagte Acco.

„Asokan!“, rief Anima aus voller Kehle, doch nur die Stille des Waldes antwortete. „Asokaaan!“

Aman presste die Lippen aufeinander. „Kannst du seine Fährte aufnehmen, Acco?“

„Ich versuche es.“

Nebka drückte sich ängstlich in die Ecke des Zeltes, als Acco die Nase auf den Boden senkte und versuchte die Spur zu finden, die Asokan beim Hinausgehen hinterlassen hatte. Still folgten wir ihm mit den Blicken, wie er erst hinter der Höhle verschwand und kurz danach wieder auftauchte. Er stutzte, blickte kurz hoch und setzte die Nase dann wieder auf den Boden, um der Spur weiter zu folgen. Dabei lief er einmal quer über die kleine Lichtung, an uns vorbei direkt auf den schlafenden Magier zu.

Ganz nah. Zu nah.

Der Magier merkte nichts, schlief einfach weiter. Er musste von den letzten Tagen sehr erschöpft und ausgelaugt sein.

„Geh nicht zu dicht ran“, warnte Aman.

Ich runzelte die Stirn. Warum führte die Spur dort hin? Asokan wäre doch niemals so nahe an den feindlichen Magier rangegangen, oder? Nein, er fürchtete sich ja schon vor Pascal und der war fast harmlos.

Acco hob den Kopf und starrte den Magier an. „Ich kann ihn nicht riechen“, sagte er.

„Was kannst du nicht riechen?“, wollte Pascal wissen. Er war aufgewacht und steckte den Kopf aus dem Zelt. Natürlich war er aufgewacht. Wer konnte denn jetzt noch schlafen?

„Den Magier“, sagte Acco. „Ich kann ihn nicht riechen.“ Er hob die Pfote, um damit gegen den schlafenden Mann zu stupsen, doch … da war kein Widerstand. Die Pfote ging glatt durch die Haut, fuhr in den Körper des Magiers hinein, was den Wildhund dazu veranlasste, überrascht einen weiten Satz zurück zu machen.

Anima keuchte auf. „Was bei Bastet …“

„Eine Illusion.“ Aman stieß ein wütendes Knurren aus. „Das ist nicht der Magier, das ist nur eine Illusion die uns täuschen soll.“

„Aber …“ Ich sah mich wild auf der Lichtung um. „Wo ist dann der echte Magier?“

„Und Asokan?“ Anima wirkte fast verzweifelt. „Wo ist Asokan?“

Das war der Moment in dem ein zweiter Schrei durch den Wald schallte. Ein panischer, angstvoller Schrei, der so abrupt endete, wie er begonnen hatte.

Meine Kriegerausbildung übernahm die Führung. Ich reagierte bevor ich mich bewusst dazu entschieden hatte und stürmte aus der Bastion tiefer in den Wald hinein. Die Richtung kannte ich nur ungefähr, aber ich wusste genau, ich musste mich beeilen. Dieser Laut, er war von Asokan gekommen und wie er geendet hatte … ich wollte mir gar nicht genau ausmalen, was das zu bedeuten hatte. Der Schrei hallte noch immer in meinen Ohren nach, der Schmerz darin.

„Acco!“, rief Aman. „Lauf voraus und zeig uns den Weg!“

Der Krieger war direkt hinter mir. Auch Anima konnte ich hören und Luan. Pascal und John. Wir alle rannten tiefer in den Wald, als Acco an uns vorbei hetzte, die Witterung in der Nase, um uns den Weg zu deuten. Immer tiefer rannten wir in den Wald, vorbei an alten, knochigen Bäumen, Wurzel und grünen Pflanzenbärten. Wir waren schnell und doch schienen wir kaum vorwärts zu kommen.

Und dann, ganz abrupt hielt Acco an, so plötzlich, dass ich fast über ihn fiel.

„Was?“, keuchte ich. „Warum bleibst du stehen?“

„Er ist hier“, sagte der Wildhund wachsam und ließ seinen Blick über die Bäume gleiten. Der Wald schien hier dunkler, fast finster. Es lag etwas Eigenartiges, Unbestimmtes im Äther.

Anima steckte die Nase in die Luft. Sie hatte ihre zweite Form angenommen, ein wunderschönes Wesen aus Human und Leopard. So elegant, so wunderschön, dass es fast wehtat, sie zu beobachten. „Blut“, haucht sie. „Ich rieche Blut.“

„Wo?“

Sie deutete in die Büsche rechts von sich.

Mich hielt nichts mehr. Ohne auf Amans Warnruf zu achten stürmte ich durch das dürre Geäst …

Etwas traf mich mit so großer Wucht in die Seite, dass ich gegen den nächsten Baum geschleudert wurde. Mein Kopf knallte schmerzhaft gegen den Stamm. Die Luft wich aus meinen Lungen und mein Ellenbogen knallte gegen die harte Rinde. Ich spürte wie die Haut aufplatzte, bekam keine Luft und vor meinen Augen verschwamm das Bild, bis es fast schwarz war. Schmerz. Oh Göttin, das tat so weh.

Mein Sichtfeld wurde dunkler und wieder heller. Ein Wechsel, über den ich keine Kontrolle hatte. Nicht ohnmächtig werden! befahl ich mir, bleib bei Sinnen. Echte Krieger wurden nicht ohnmächtig, egal was ihnen widerfuhr. Sie ertrugen alles still und standen danach wieder aufrecht. Das versuchte ich auch, doch ich sackte einfach wieder in mir zusammen, meine Beine wollten mich nicht tragen. In meinen Ohren war ein seltsames Surren. Ich blinzelte, konnte aber kaum etwas erkennen. Knurrte da jemand? Schnelle Schatten bewegten sich vor mir hin und her. Ich hörte einen Schmerzenslaut. Anima fauchte.

Göttertod, was war nur mit meinen Augen los? Ich sah alles nur schemenhaft. War das … Aman? Ich blinzelte erneut. Ja, Aman. Und er kämpfte gegen den Magier.

Erneutes Blinzeln. Da lag eine leblose Gestalt auf dem Boden. Anima hockte über ihr, Pascal direkt daneben. Meine Sicht wurde besser, wenn auch nur langsam. Ein Schatten kam auf mich zu. Das war … John, ja John. Ich erkannte seinen Gang.

Langsam drangen auch wieder Geräusche an meine Ohren. Das Surren war noch da, doch es wurde schwächer. Luan, auch ihn konnte ich sehen. Er stieß Aman zur Seite, als der Magier einen grellen Blitz auf ihn abfeuerte. Acco knurrte, huschte als Schatten zwischen den Bäumen entlang, um sich dem Magier von hinten zu näheren.

„Kommt mir nicht zu nahe!“, rief Sachmets Brut. „Bleibt weg!“ Er wirkte panisch, verzweifelt.

Aman knurrte nur und ging wieder zum Angriff über.

Eine Hand berührte mich am Rücken. „Lilith, kannst du mich hören? Lilith?“

Ich versuchte es mit einem „Ja“, was aber in einem rauen Krächzen endete. Mit tat alles weh, trotzdem versuchte ich mich aufzusetzen und sackte nur nicht wieder in mich zusammen, weil John mich stützte.

In der Sonne des Morgens blitzte ein Dolch in Amans Hand auf, der haarscharf dem Magier vorbeizischte. Mit einer Drehung brachte der Magier sich außer Reichweite und krachte mit dem Gesicht direkt in Luans Faust. Damit hatte er nicht gerechnet. Der Magier fiel einfach wie ein gefällter Baumstamm um und im nächsten Moment hockte Aman auch schon über ihm. Eine Hand fest um die Kehle gekrallt, in der anderen den einsatzbereiten Dolch, bereit jeden Moment zuzustechen. Das Gesetz der Krieger, nur einer konnte überleben. In seinen Augen glühte die Mordlust, sein Gesicht schien von Hass zerfressen. So hatte ich den Lykanthropen noch nie gesehen. Dieser Anblick … ich verspürte Furcht. Das war so gar nicht der Aman, den ich kannte.

„Du wirst dafür büßen, dass du Lilith angegriffen hast“, grollte er. Die Klinge in seiner Hand blitzte gefährlich auf. Es dürstete sie nach dem Blut des Magiers, nach dem Blut des Feindes. „Niemand rührt sie ungestraft an. Dafür schicke ich dich zurück in die Mächte.“ Wie in Zeitlupe hob er den Dolch über den Kopf. Seine Augen blitzten genauso, wie die scharfe Klinge, die zum Töten geschaffen wurde.

„Das kannst du nicht tun!“, rief John plötzlich.

Aman wandte nicht mal den Kopf, als er John antwortete. „Er hat sie angegriffen und damit sein eigenes Schicksal besiegelt. Niemand vergreift sich an jemandem unter meinem Schutz. Niemand greift sie an und überlebt das.“ Der Griff um den Hals des Magiers wurde fester, bis der Mann röchelte. Die nackte Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Niemand“, sagte Aman noch einmal und dann …

„Halte ein!“

Alle Gesichter wanden sich zu der fremden, klangvollen Stimme herum, die bis tief in unsere Körper vorzudringen schien. Diese Stimme, die reine Kraft vibrierte darin. Oh Göttin …

Dort stand Anima. Ihr Körper war in einen weichen Schein getaucht, der sie von innen heraus leuchten ließ. Doch das war nicht Anima. Ihre Augen, es waren die einer Katze, es waren die Augen meiner Göttin Bastet.

„Occino“, hauchte Luan und im nächsten Moment sank er mit gebeugtem Kopf in eine unterwürfige Haltung, um ihr die Anerkennung zu zollen, die jeder Gott der Schöpfung verdient hatte.

„Meine Göttin“, flüsterte ich ehrerbietend und auch ich versuchte ihr meine Demut zu zeigen. Meine Schmerzen ignorierte ich einfach, so gut wie es ging und ich ignorierte auch John, der mich ermahnte mich nicht unnötig zu bewegen. Aber das war mir egal. Meine Göttin, die Mina meines Volkes, die Schöpferin unserer Rasse, stand hier direkt vor uns, da hatte ich mich einfach zu verneigen.

Aman ließ den Magier nicht los, auch wenn dieser im Angesicht der Göttin keinen Angriff wagen würde, doch er konnte immer noch versuchen zu fliehen. Das wollte der Lykanthrop nicht riskieren und senkte nur ehrerbietend den Kopf.

„Äh …“, machte Pascal. „Was is´n hier los?“ Verwirrt sah er zu Anima, die neugierig den Kopf geneigt hatte. Ihre Pupillen waren zu Schlitzen zusammengezogen, die von der Unendlichkeit ihrer Weisheit zeugten. Sie musterte den jungen Magier lächelnd, ging aber nicht weiter auf seine Frage ein. Ihr Ziel war Aman. „Gib mir den Dolch“, befahl sie ihm.

Er zögerte, kniff die Lippen zu einem wütenden Strich zusammen, gehorchte ihr aber. Ja, Bastet mochte nicht seine Göttin sein, aber sie war eine Göttin, eines der uralten Wesen, die für das Leben auf Silthrim verantwortlich waren.

Der Dolch schien in ihren Händen zu leuchten, bevor sie ihn schwungvoll von sich warf und er vibrierend in einem Baumstamm stecken blieb. Ja, Bastet mochte die Göttin der Liebe, Feste und Fruchtbarkeit sein, aber sie war auch eine Kriegerin und verstand ihr Handwerk.

„Magus“, sprach sie den Magier nun direkt an. Unter dem wohltuenden Klang ihrer Stimme zuckte er zusammen, als hätte ihn eine Peitsche getroffen. „Du hast Schande über dein Volk und deine Göttin gebracht und viel Leid und Unheil über das meine“, warf sie ihm vor. „Du und die deinen habt verbotene Zauber benutzt. Sachmet ist enttäuscht von euch.“

Leid und Unheil? Was sollte das heißen? Ich wagte es, den Kopf ein wenig zu heben und folgte ihren eleganten Bewegungen, wie sie um die beiden Männer herum schritt.

„Dieser Krieg gehört nicht in eine fremde Welt. Ihr habt gewusst, was passieren würde, habt die Folgen gekannt. Nun musst du die Folgen deiner Tat tragen, so hat Sachmet entschieden.“

Die Augen des Magiers weiteten sich angstvoll, doch Bastet verriet nicht, wie diese Folgen aussahen. Stattdessen wandte sie sich an Luan, der seltsamerweise am ganzen Körper zitterte. „Luan, Sohn des Anubis, sie mich an.“

Nur langsam kam Luan dieser Aufforderung nach und … oh Göttin, er weinte.

„Du hast so lange gewartet, so lange ausgeharrt und gehofft und nun steht das Ziel deiner Reise kurz bevor.“ Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, wodurch er ganz ruhig wurde. „Ihr befindet euch auf dem richtigen Weg. Vertraue auf das Wissen des Occino meines Volkes und die Fähigkeiten des jungen Magiers und schon bald wirst du zurück in deine Heimat können.“

Luan schluckte angestrengt. „Heimat?“

Sie nickte. „Nimm die Deinen, sammle deine Familie um dich und reise zurück nach Silthrim, dorthin, wohin du gehörst. Dein Platz ist nicht hier.“ Mit einer schwungvollen Geste wirbelte sie herum. „Keiner von euch darf hier sein, ihr gehört alle nach Silthrim.“

Auch John?, fragte ich stumm ihm Geist, traute mich aber nicht, den Mund aufzumachen.

Bastet schritt zwischen den Bäumen entlang, vorbei an dem staunenden Pascal und kniete sich neben dem leblosen Asokan nieder, der stark aus einer Wunde am Kopf blutete. Ihre Hände waren sanft, als sie über das verschmutzte Haar strichen, der Blick liebevoll. „Mein armes Natis“, flüsterte sie und der Klang, er drang bis tief in mein Herz. Sie liebte ihre Natis, sie alle, ohne Ausnahme. Doch ihr Blick veränderte sich von einem Moment zum anderen. Das liebevolle Antlitz schwand hinter einer hasserfüllten Maske. Plötzlich war sie von dem dunklen Schatten einer fauchenden Katze umgeben. Ihre Augen blitzten und zeigten die Stärke einer machtlosen Göttin.

Nein, sie war nicht mehr das Wesen, das sie einst gewesen war, aber sie war trotzdem nicht zu unterschätzen. Sie war immer noch eine Göttin.

„Magus, Sohn der Sachmet, deine Strafe wurde von deiner Göttin festgelegt. Mit ihr wirst du deine Tat verbüßen und von Sachmet mit offenen Armen empfangen werden.“ Sie erhob sich anmutig und blickte mir genau in die Augen. „Ihr werdet wissen, wann ihr ihn töten dürft.“

Mit diesen Worten schwand ihr Sein aus Animas Körper und nur Occino blieb an ihrer Stelle zurück.

Nein! wollte ich schreien, als mein Geist noch eine dringende Frage durch meinen Kopf sandte. Warum hast du mich ausgewählt? Warum ich? Was soll ich für dich tun? Aber es war schon zu spät. Bastet war aus Occino gewichen und ließ mich mit meinen Fragen zurück.

Anima blinzelte ein paar Mal, als müsste sie sich neu orientieren, blickte dann zu Aman und befahl: „Fessle ihn, aber so, dass er kein zweites Mal entwischen kann.“

„Das wäre deine Aufgabe gewesen!“, knurrte Aman und drehte den Magier grob auf den Bauch, um ihm die Arme auf den Rücken zu verschnüren. „Hättest du es gleich richtig gemacht, hätte er Lilith nicht angreifen und Asokan nicht töten können!“

Töten?

„Asokan ist nicht tot“, grollte Anima. „Er hat einen Schlag auf den Kopf bekommen und ist bewusstlos. Und ich habe ihn richtig festgebunden.“

„Und warum ist er dann entkommen?!“, forderte er zu wissen und zog den Magier heftig auf die Beine, um ihn dann mit einem Stoß in den Rücken Richtung Bastion zu schubsen. Auch John stand auf, half mir auf die Beine. Zwar konnte ich in der Zwischenzeit wieder klar sehen und auch das Surren in meinen Ohren hatte stark nachgelassen, trotzdem war ich noch ein wenig wacklig.

Luan und Pascal wandten sich Asokan zu, um ihn zurück in die Bastion zu tragen.

„Ich kann mich nur wiederholen“, fauchte Anima stur, „ich habe ihn richtig gefesselt. Ich weiß nicht wie er loskommen konnte!“

„Streitet euch nicht“, mischte sich Luan ein, den bewusstlosen Asokan halb tragend, halb stützend über der Schulter. „Schuldzuweisungen bringen uns jetzt nicht weiter. Viel wichtiger ist doch, was wir nun tun werden.“

Und dann, völlig unpassend für diese Situation, begann Pascals Magen lautstark zu knurren. „Ähm … können wir das vielleicht beim Frühstück besprechen? Ich verhungere sonst.“

Ich blinzelte und blinzelte und konnte nichts dagegen tun, dass ein kleines Kichern meine Kehle hinaufkroch. Es war nicht wirklich witzig, eigentlich war es das genaue Gegenteil, doch ich konnte mich nicht dagegen wehren. Bis mein Kopfschmerz mir diese Tat zollte, dann hörte ich ganz schnell auf. Bei Bastet, das tat wirklich weh.

Luan ging nur kopfschüttelnd weiter.

Ich klammerte mich an John und verfluchte meine Beine dafür, dass sie mich nicht tragen wollten. Dass mir das passiert war … ich schämte mich richtig. Und das alles nur, weil ich meine Deckung hatte fallengelassen. Ich hatte überhaupt keine Geistreden daran verschwendet, was hinter dem Busch auf mich warten könnte.

Und du willst dich einst Kriegerin nennen? Ohne im Geist zu reden möchtest du in das feindliche Lager marschieren? Etwas Verstand, den könntest du gebrauchen! Du willst eine Kriegerin werden, was bedeutet, dass du ihn jeder Lage deinen Geist beisammen halten musst. Wie ein kopfloses Huhn drauf loszurennen bringt nicht nur dich, sondern auch jene in Gefahr, denen du beistehen sollst. Kein Krieger würde so handeln.

Das hatte Aman am ersten Abend in dieser Welt zu mir gesagt.

Du bist keine fertige Kriegern, versteh das endlich.

Die Geistrede gefiel mir nicht, aber vielleicht hatte er ja doch Recht. Natürlich, ich wusste dass ich noch viel zu lernen hatte, ich war noch nie sehr gut oder herausragend gewesen und … ach zur Sachmet, das alles war so verwirrend. Mehr denn je glaubte ich, dass Bastet einen Fehler begangen hatte, als sie mich zu ihrer Auserwählten machte. Das eben Geschehene zeigte es doch mal wieder. Wie ein kopfloses Huhn. Wäre Aman nicht gewesen, dann hätte es viel schlimmer für mich enden können und mir das einzugestehen, war wohl noch viel schwerer zu ertragen, als meine überaus niederschmetternde Niederlage.

Schweigend kehrte unsere kleine Gruppe in die Bastion zurück. Janina und Destina erwarten uns bereits und kamen uns aufgeregt mit Fragen entgegen, die Luan alle geduldig beantwortete, während er mit Pascals Hilfe Asokan in die Höhle brachte.

Aman dagegen stieß den Magier sehr heftig gegen den Baum, an dem er schon die letzten Tage gebunden gewesen war und war auch nicht allzu sanft mit ihm, als er ihn an den Stamm schnürte. Der Magier ächzte mehr als einmal, traute sich aber nicht, etwas zu sagen, oder sich gar zu beschweren. Er sah niedergeschlagen aus, verzweifelt. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie es für ihn sein musste, von seiner Göttin auf diese Art bestraft zu werden. Verstoßen und dem Feind ausgeliefert. Zum Tode verurteilt.

Magus, Sohn der Sachmet, deine Strafe wurde von deiner Göttin festgelegt. Mit ihr wirst du deine Tat verbüßen und von Sachmet mit offenen Armen empfangen werden. Ihr werdet wissen, wann ihr ihn töten dürft.

Sie hatte ihn uns überlassen, damit wir ihn töteten. Im richtigen Moment, aber wann war der? Woher sollten wir das wissen? Nur das er jetzt noch nicht gekommen war, war uns klar, sonst hätte Bastet Aman nicht daran gehindert, seinen Dolch zu benutzen.

Oh weh, der Dolch, der steckte noch in dem Baum.

„Glaubst du wirklich das hält?“, fragte John plötzlich Aman. „Das sind doch nur Stofffetzen.“

„Glaubst du, du kannst es besser?“

„Natürlich. Wir haben wesentlich bessere Methoden jemanden festzuhalten.“

Aman hielt einen Moment inne, knotete dann aber unbeirrt weiter. „Weißt du John, du darfst vielleicht ihre Hand halten, aber ich bin es, der sie mit zurück nach Silthrim nehmen wird.“

Damit spielte er auf die Szene im Zelt an, als John so provozierend meine Hand geküsst hatte.

John kniff die Augen zusammen und funkelte ihn wütend an, doch Aman sah es gar nicht. Sorgfältig band er den wimmernden Magier an den Baum und erhob sich dann, ohne den Heiler eines weiteren Blickes zu würdigen. „Ich werde nach Vinea sehen.“

 

°°°

 

„Ja, sie ist schon seit den frühen Morgenstunden wach. Zwar noch ein wenig desorientiert und schwach, aber sie befindet sich auf dem Weg der Besserung. Das Mädchen ist stark“, erzählte Destina, während sie in einer sogenannten Kühlbox herumwühlte und dann einen bunten Becher mit aufgemalten Früchten rausfischte. Sowas hatte sie schon einmal gegessen. „Sie wird wieder genesen, da bin ich mir sicher.“

„Na wenigstens eine gute Nachricht heute“, seufzte Janina.

Ich zischte, als Anima die Wunde an meinem Ellenbogen auswusch. „Sei doch vorsichtig!“

„Ich müsste nicht vorsichtig sein, wenn du besser auf dich achtgegeben hättest“, gab sie völlig ungerührt zurück.

„Hmpf“, machte ich und stützte meinen Kopf etwas zu heftig in meine Hand. Oh weh, Kopfschmerz. Der Zusammenstoß mit dem Magier hatte mir wohl doch heftiger zugesetzt, als ich das für möglich gehalten hatte. Ich sah hinüber zu Pascal, der mit Nebka in seinem Schoß sein Frühstück teilte. Immer ein Happen für ihn und dann einer für sie.

Daneben saßen Luan und Janina. Sie hatte sich mit den Rücken an seine Brust gelehnt und genoss es sichtlich, dass er geistesverloren ihren runden Bauch streichelte. Soweit ich wusste, waren es bis zur Niederkunft ihres Kindes nur noch wenige Tage. War sie deswegen immer so gereizt? Obwohl sie im Augenblick ziemlich sanft, ja fast unschuldig wirkte.

Ja, wie wir hier so saßen, erinnerte schon beinahe an ein Frühstückspicknick. Es war … bizarr.

John kam aus dem Zelt und ließ sich zwischen mir und Destina auf der Decke in den Schneidersitz fallen. In seiner Hand hielt der Heiler das dünne Buch, in das Anima in der Nacht die Zeichen der Götter gemalt hatte und überreichte es seiner Gran. Sie hatte höflich gefragt, ob sie sie sehen dürfte und da sie kein Geheimnis waren, sprach nichts dagegen.

Was allerdings ein Geheimnis war: Occino. Bisher hatte niemand ein Wort darüber verloren, aber ich sah die neugierigen Blicke, die immer wieder zu Anima flogen. Nur nicht von Luan, der wirkte schon die ganze Zeit leicht abwesend und tief in seine Geistreden versunken.

Ich zischte, als ein weiterer Schmerz durch meinen Ellenbogen zuckte, enthielt mich aber jeglichen Kommentars und sah stattdessen hinüber zur Höhle. Aman und Acco fehlten noch, was wohl nicht verwunderlich war. Vinea war laut Destina in der Nacht erwacht. Ich lohnte meiner Göttin dafür. Zwar wusste ich nicht, wie John dieses Wunder vollbracht hatte, doch ich war froh, dass es ihr besser ging – froh um Amans Willen.

„Au! Hey, das waren meine Finger“, beschwerte sich Pascal, als Nebka ihm ein wenig zu voreilig das Essen aus der Hand schnappte.

Sie sah nicht schuldbewusst aus, guckte nur mit großen Augen zu ihm herauf und freute sich wie ein kleines Kind, als er ihr den nächsten Bissen gab. In Ordnung, sie war ja auch noch ein kleines Kind.

„Halt deinen Arm höher, damit ich die Wunde schließen kann“, forderte Anima mich auf. Ich gehorchte, auch wenn ich viel lieber endlich anfangen würde, unsere nächsten Schritte zu planen. Alle waren da, nur Aman fehlte noch. Ich hatte Luan bereits aufgefordert, ohne den Lykanthropen zu beginnen, doch der wollte warten, bis wir alle beisammen waren.

Erneut flog mein Blick ungeduldig zur Höhle, als Anima über die Wunde leckte und endlich – endlich – tauchte Acco in dem dunklen Schlund auf. Aman folgte ihm auf dem Fuße. Er wirkte übernächtigt, wie ich feststellen musste, als er sich zwischen Anima und Luan auf der Decke niederließ. Das war aber auch nicht verwunderlich, wo er doch die ganze Nacht auf der Suche nach Gillettes Aufenthaltsort gewesen war. Natürlich hätte ich ihn begleitet, aber …

Du bist keine fertige Kriegern, versteh das endlich.

… ich verstand es, doch ich wollte es nicht einsehen. Er war mein Amicus, das Herz von Anima, es wäre meine Aufgabe gewesen, ihn zu finden.

„Gut, da wir nun endlich vollständig sind“, sagte Destina und rührte mit ihrem Löffel in dem bunten Becher herum, „was habt ihr im Krankenhaus herausgefunden?“

„Eigentlich eine ganze Menge“, antwortete Luan. Seine Finger strichen dabei ununterbrochen über Janinas Bauch. Diese Bewegung war irgendwie hypnotisierend. Wie es wohl war, einem anderen Wesen so blind zu vertrauen, ohne nach Wenn und Aber zu fragen?

Ich wagte einen vorsichtigen Blick zu Aman und … nein, das durfte nicht sein. Er war ein Lykanthrop und damit unwürdig. Schon als kleines Kätzchen hatte meine Mina mir beigebracht, dass nur ein Ailuranthrop ein wahrer Gefährte sein konnte. Man suchte den Partner in der eigenen Rasse und dabei war es völlig egal, was für seltsame Gefühle einem in der Nähe eines anderen aufkamen. Er war kein Sohn der Bastet und daher waren jegliche Geistreden in diese Richtung auch völlig unnötig.

Oh Göttin, warum beschäftigte sich mein Geist überhaupt immer wieder mit diesem Thema? Ich sollte jetzt alle Sinne beisammen halten und auf das Gespräch lauschen. Auch wenn ich nichts sehen konnte, weil Anima gerade meinen Kopf nach unten drückte, um die Wunde an der Schläfe zu reinigen.

„Liliths Instinkt scheint richtig gewesen zu sein“, sagte Luan weiter.

Janina schnaubte. „Die kann etwas richtig machen?“

Wie hatte ich vorhin noch im Geist geredet? Unschuldig? Ich nahm alles zurück. Diese Füchsin war ein Biest, versteckt hinter dem Gesicht der Unschuld!

Luan sprach einfach weiter, als hätte er Janinas Einwurf nicht gehört. „Als ich ins Krankhaus kam, war Aman den Laboranten bereits bis zu einem etwas abseits gelegenem Gebäude gefolgt. Es weist starke Sicherheitsvorkehrungen auf. Kameras, Kartenscanner für den Zutritt, Fingerabdruck, Augenscan und natürlich ein Tastenfeld für die Kombination.“

Ich verstand … rein gar nichts. „Was ist das? Ein Kartenscanner?“

„Das ist ein Gerät, mit dem man sich Zutritt zu dem Gebäude, in das wir müssen, verschafft. All diese Dinge, die ich gerade aufgezählt habe, sind dazu nötig.“

„Fort Knox“, kommentierte Pascal und gab Nebka das letzte Stück von seinem Brot, bevor er sich ein neues schmierte.

Ich sparte mir die Frage, was das nun wieder war und hörte einfach weiter zu.

„Die Laboranten und Laborgehilfen, die in diesem kleinen Gebäude arbeiten, haben alle Zugangsdaten, die wir benötigen, um in das Gebäude zu kommen.“

„Und das heißt?“, wollte John wissen.

„Wir werden einen von ihnen dazu benutzen, um in das Gebäude zu kommen, denn das der Geruch, den Lilith gewittert hat, von dort kommt, ist eindeutig. Daran lässt sich nicht rütteln.“

Pascal hielt mitten in der Bewegung inne und sah überrascht zu dem Vampir. „Du meinst … wir sollen jemand kidnappen?“

„Wir werden es nicht riskieren, das noch einmal so etwas wie beim letzten Mal geschieht“, sagte Luan ausweichend.

„Das kann nicht dein ernst sein“, protestierte John. „Das sind immerhin Menschen. Du kannst sie doch nicht einfach …“

„Ihnen wird nichts geschehen“, beschwichtigte Luan ihn. „Niemanden wird etwas passieren. Aber wir brauchen einen Weg hinein und das ist die einfachste Möglichkeit.“

Die Wunde an meiner Stirn kribbelte leicht, als Anima mit der Zunge darüber fuhr.

Das passte John nicht, absolut nicht. Er wollte nicht, dass Unschuldige in dieses Drama mit hineingezogen wurden. „Und wie soll es dann weiter gehen?“

Luan schwieg einen Moment und zögerte dann mit seinen nächsten Worten merklich. „Die bessere Frage an dieser Stelle lautet, was werden wir danach tun.“ Er richtete sich etwas auf und sah seiner Familie nacheinander in die Augen. „Es gibt … es wird einen Weg nach Silthrim geben und … es ist meine Heimat. Wenn wir also Liliths Amicus befreit haben, werden sie durch das Tor in ihre Welt zurückkehren.“ Er schwieg kurz und flüsterte dann nur noch. „In meine Heimat.“

Janina richtete sich auf und sah ihr Herz verwundert an. „Was willst du damit sagen?“

„Ich will damit sagen, dass … vielleicht ist es das Beste, wenn wir dann mit ihnen gehen.“

Nach diesen Worten herrschte erst einmal Stille. Selbst Anima hatte aufgehört, meinen Kopf zu malträtieren und wandte sich neugierig zu dem Vampir um.

„Was ich meine“, fuhr Luan fort. „Wir gehören eigentlich nicht in diese Welt, unser Ursprung liegt auf Silthrim und … und hier sind wir auch nicht mehr sicher. General Silvano Winston weiß, wer ich bin und wird sich denken können, dass meine Familie auch anders ist. Warum würde sie sich sonst mit mir verstecken?“ Er strich sich nervös durch die Haare und sah von Destina zu Janina. „Hier müssen wir uns und unser Kind verstecken. Selbst wenn ich den General unschädlich machen würde“, – bei diesem Wort schnappte John hörbar nach Luft – „hieße das noch lange nicht, dass wir wieder sicher wären. Es wissen in der Zwischenzeit bestimmt auch andere Personen auf ähnlichen Posten von uns.“ Er drückte die Lippen aufeinander. „Wir sind hier nicht mehr sicher.“

„Und das alles ist nur deine schuld!“, fauchte Janina mich an. „Nur weil du aufgetaucht bist …“

„Lass sie in Ruhe“, grollte Aman. „Ansonsten müsstest du mir genauso die Schuld geben, denn ich war an ihrer Seite, als ihr uns gefunden habt.“

Janina presste die Zähne aufeinander.

„Natürlich können wir auch in ein anderes Land gehen und darauf hoffen, dass wir dort nicht gefunden werden“, fuhr Luan fort. „Aber falls doch … was ich damit sagen will, jetzt werden wir ein Portal haben und einen Occino, der es öffnen kann.“ Er runzelte leicht die Stirn, als fragte er sich, wie sie dieses Meisterstück vollbringen wollte. Er wusste ja nicht, dass Anima außerdem noch die Macht der Bastet bei sich trug und das würde weder sie noch ich ihm sagen. Es widerstrebte mir ja schon, dass er wusste, dass sie Occino war.

Destina legte ruhig und gelassen ihren Becher zur Seite. „Ich verstehe, was du sagen willst, Luan. Jetzt haben wir die Möglichkeit uns in Sicherheit zu bringen und in Ruhe weiter zu leben. Vielleicht können wir das auch hier, aber dessen können wir uns leider nicht sicher sein und wenn die Krieger erst einmal zurück in ihre Heimat gegangen sind, wird es für uns keinen Weg geben, ihnen zu folgen.“ Sie blickte ihm fest in die Augen. „Und außerdem möchtest du zurück nach Hause.“

„Ja.“ Schlicht und direkt.

„Dann ist es doch ganz einfach“, fuhr die magische Füchsin fort. „Die Frage lautet, ob wir mit nach Silthrim gehen, oder nicht.“ Sie sah ihrer Familie einen nach dem anderen in die Augen. „Denkt gut darüber nach, wollt ihr hier bleiben in der Hoffnung, dass alles gut wird, oder wollt ihr nichts riskieren und lieber in eine fremde Welt gehen, die eigentlich unsere Heimat ist? Ich werde mich der Mehrheit anschließen, denn mir ist es egal wo ich lebe, Hauptsache ich kann bei meiner Familie sein.“

Sie überlegten, ob sie mit nach Silthrim kamen? Diese Geistrede war … seltsam. Ich hatte nicht daran geglaubt, dass sie daran ein Interesse haben könnten. „Aber Silthrim ist so ganz anders als diese Welt“, warf ich ein. „Es gibt nur wenig Dinge, die sich ähneln.“

„Und doch ist es ein wunderschöner Ort“, sagte Luan leise.

Janina sah ihn schweigend an, legte ihm zärtlich eine Hand an die Wange und blickte ihm tief in die Augen. „Du willst wirklich dorthin?“

„Ich vermisse meine Heimat“, gab er zu. „Den Ort, an dem ich geboren wurde.“ Er drückte kurz die Lippen aufeinander. „Aber wenn du nicht gehen willst, dann bleibe …“

Mit dem Finger auf seinen Lippen verschloss sie seinen Mund. „Das will ich nicht hören. Was ich aber wissen will, denkst du, dass wir hier wieder friedlich leben können?“

Irgendwie kam mir dieser Moment ziemlich intim vor und ich wandte hastig meinen Blick ab, um sie nicht zu stören. Doch mein Gehör konnte ich nicht so einfach abstellen.

„Ich … ich weiß nicht. Vielleicht.“

Sie drückte kurz die Lippen aufeinander, schaute dann zu Destina, die ihren Blick ruhig erwiderte und seufzte dann. „Das ist mir zu wenig. Ich will mein Baby nicht in einem Vielleicht hinein gebären. Das ist einfach … ich weiß nicht was ich sagen soll. Das ist mir zu unsicher, aber … wie wird das Leben in einer anderen Welt? Ich kann es mir nicht vorstellen.“

Ein leichtes Lächeln zeigte sich auf Luans Lippen. Er nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. „Du musst es dir nicht vorstellen, ich werde dir alles zeigen. Silthrim ist wunderschön.“

„Aber … was ist mit diesen Kriegen, von denen die da drüben ständig faseln?“

Wie konnte ein Wesen in einem Moment nur so liebevoll und herzerweichend sein und im nächsten Augenblick so abfällig reden. Talent, sagte ich mir, das musste ein Talent sein.

„Der Krieg ist beendet“, sagte er zärtlich. „Und ich würde es auch niemals zulassen, dass dir etwas geschieht.“ Ein kleines Lächeln ließ seine Mundwinkel zucken. „Außerdem war ich in Silthrim nicht nur ein angesehener Krieger, ich war zudem noch ziemlich gut betüncht.“

„Gut betüncht?“

„Reich.“

Skeptisch zog sie eine Augenbraue hoch. „Davon mal abgesehen, dass das dreihundert Jahre her ist, glaubst du wirklich, dass du mich mit so etwas locken kannst?“

„Ja“, grinste er. „Denn ich verspreche dir ein Hausmädchen einzustellen. Nie mehr putzen.“

Destina unterbrach das Geplänkel durch ein Räuspern. „Deine guten Absichten mal hinten angestellt, Janina, was willst du tun?“

„Ich werde ihn begleiten“, sagte sie ohne Zögern, als hätte sie sich schon längst entschieden. „Er wünscht es sich bereits solange ich ihn kenne.“ Zärtlich strich sie ihm eine Strähne aus dem Gesicht. „Ich werde ihn begleiten.“ Dieser Entschluss wurde mit einem Kuss besiegelt.

Sie vertraute seinen Worten ohne nachzufragen, glaubte ihm. Zum ersten Mal verstand ich, was Luan an der Füchsin fand. Aber … nein, das ging mich nichts an. Ich zog Anima am Arm und deutete ihr sich weiter um meinen Kopf zu kümmern.

Pascal gab seltsame Würgegeräusche von sich, als er seine küssende Brestern beobachtete.

„Lass den Unsinn und sag mir lieber, was du tun möchtest“, ordnete Destina an.

Er hielt augenblicklich inne und sah zu seiner Gran hoch. „Bevor ich mich hier irgendwo von einem Verrückten einsperren lassen, der was-weiß-ich-was von mir will, sehe ich mir lieber an, was an Siltim …“

„Silthrim“, verbesserten Anima und ich unison.

„Dann eben Silthrim. Da komme ich doch lieber mit. Außerdem soll es da ja von Magie nur so wimmeln.“ Erwartungsvoll rieb er sich die Hände. „Das kann ich mir unmöglich entgehen lassen.“

Das waren drei. Destina hatte gesagt sie schloss sich der Mehrheit an. Also hatten jetzt Vier von Fünf zugestimmt nach Silthrim zu reisen.

„Dann ist es entschieden“, verkündete Destina, „wir werden die Krieger nach Silthrim begleiten.“

Das John sich dazu nicht geäußert hatte, schien von den Erdlingen keiner zu bemerkten.

Aber ich tat es. Ich bemerkte, dass er nichts dazu beigesteuert hatte. Unter Animas Arm hindurch sah ich zu ihm rüber und musste feststellen, dass er nicht sehr glücklich mit der Entscheidung wirkte. Aber, wenn er es nicht wollte, warum sagte er dann nichts? Seine Familie konnte doch nicht wissen …

„Zieh das Oberteil aus, damit ich an deinen Rücken versorgen kann“, sagte Anima da in meine Geistreden hinein.

Ich sah sie an, blinzelte einmal und sagte dann: „Kann ich nicht.“

„Warum, hast du Schmerzen?“ Besorgt musterte sie mich, doch ich schüttelte sogleich den Kopf.

„Nein, aber das Schamgefühl verlangt, dass ich es anlasse.“

Pascal verschluckte sich an dem Brot, in das er gerade herzhaft hineingebissen hatte – dieser Junge konnte wirklich in jeder Lebenslage essen. Hustend klopfte er sich gegen die Brust und lief dabei ganz rot an.

Janina verdrehte die Augen. „Du musst es doch nicht ganz ausziehen, zieh es einfach bis zu den Schultern hoch.“ Abwertend musterte sie meine Beine. „Und danach schaffst du es vielleicht endlich dir eine Hose anzuziehen, damit nicht jeder deinen Slip sieht.“

Eine Hose? Ich hatte sie mir in der Nacht ausgezogen, damit John mein Bein sehen konnte und seitdem keine Veranlassung dazu gesehen, sie wieder überzustreifen. War das falsch gewesen? „In Ordnung“, sagte ich, um nicht wieder einen Streit vom Zaun zu brechen.

Janina öffnete den Mund für eine schlagfertige Erwiderung, aber dann schien ihr wohl aufzufallen, dass ich ihr zugestimmt hatte. Das schien sie im ersten Moment zu irritieren, aber Janina wäre nicht Janina, wenn sie sich nicht gleich wieder im Griff hätte. Sie schnaubte nur und lehnte sich wieder mit dem Rücken an Luans Brust.

„Gut“, sagte Destina dann. „Dann lasst uns jetzt überlegen, wie wir weiter vorgehen sollen.“

„Du meinst, wenn wir in Silthrim sind?“, wollte Pascal wissen. Er konnte wieder atmen, wenn auch nur an mehreren Brotkrümeln vorbei.

„Nein, ich meine bevor wir dorthin gehen.“

„Wir müssen auf jeden Fall noch mal nach Hause“, kam es von Janina. „Wenn ich schon in eine andere Welt ziehe, dann will ich wenigsten noch ein paar Sachen mitnehmen.“

„Ich auch“, sagte Pascal.

„Das lässt sich sicher einrichten.“ Luan hatte wieder damit begonnen, sein Herz zu streicheln. „Jetzt stellt sich natürlich die Frage, wer alles mit zum Krankenhaus geht, um Gillette zu befreien.“

„Nim nicht“, sagte ich sofort und zog den Pullover hoch bis zu meinen Schulterblättern.

Anima wollte schon protestieren, aber Luan ergriff zuerst das Wort. „Ich stimme dir zu. Sie ist Occino und darf sich nicht in Gefahr bringen. Außerdem brauchen wir sie hier, damit sie das Tor öffnen.“ Er warf ihr einen kurzen Blick zu, als fragte er sich wieder, wie sie das anstellen wollte. „Und auch Janina wird hier bleiben“, bestimmte er. „Ich will sie nicht in der Nähe von General Silvano Winston.“

„Wird er den vor Ort sein?“, fragte Pascal.

„Ich weiß es nicht, aber die Möglichkeit besteht. Ich werde es jedenfalls nicht zulassen, dass Janina sich in Gefahr begibt.“

„Ich werde euch begleiten“, sagte Aman und ergriff damit zum ersten Mal in diesem Gespräch das Wort. „Und auch Lilith und Pascal werden wir brauchen.“

„Mich?“, fragte der junge Magier überrascht.

Ich hörte es kaum, war von dem Gesagten viel zu überrascht. Hatte Aman gerade wirklich gesagt, dass er mich brauchen würde?

„Ich werde euch auch begleiten“, sagte Destina völlig ruhig und löste damit eine seltsame Stille aus, die von Luan nach kurzem Zögern unterbrochen wurde.

„Gran, ich weiß, dass du helfen willst, aber vielleicht bist du doch schon ein wenig zu …“

„Wenn du mich jetzt Alt nennst, dann zaubere ich dir Eselsohren an den Hintern, verlass dich drauf.“

Hastig klappte der Vampir seinen Mund wieder zu. So schnell, dass ich mich fragte, ob sie das vielleicht schon einmal getan hatte.

„Ihr braucht mich. Ich habe ein paar Tricks auf Lager, von denen ihr nur Träumen könnt. Pascal ist lange nicht so gut ausgebildet wie ich und auch wenn er jünger und kräftiger ist, bin ich es doch, die die Magie von uns am besten beherrscht.“

Keiner wagte es ihr zu widersprechen, auch wenn so einige zweifelnde Blicke aufkamen – auch von mir. Luan hatte nun mal Recht, sie war Alt.

„In Ordnung, dann fassen wir den Plan jetzt noch einmal zusammen“, bestimmte Destina. „Nach dem Frühstück werden Anima und Pascal sich daran setzten, mit Hilfe dieser Bilder“, – sie schwenkte einmal das dünne Buch – „das Portal zu fertigen. Wie lange braucht ihr dafür?“

„Nicht lange“, sagte Pascal schulterzuckend. „Vielleicht ein, zwei Stunden.“

„In Ordnung. Ich werde in dieser Zeit mit Janina zurück in Johns Haus fahren und die Sachen holen, die wir mitnehmen werden. Ich möchte dass ihr drei“, – sie zeigte auf den männlichen Teil ihrer Familie – „mir Listen macht, was ich euch mitbringen soll, aber übertreibt nicht. Und denkt daran, Elektrizität gibt es dort nicht. Also keine Handys, Laptops, oder sonstiges in dieser Richtung.“ Alle nickten, was sie zufrieden zu stellen schien. „Gut, dann weiter. In der Zwischenzeit will ich, dass ihr anderen euch ausruht. Das wird ein anstrengender Abend und wenn ihr die Zeit findet, solltet ihr noch ein wenig schlafen. Wir werden dann in der Dämmerung aufbrechen, um euren Freund zu finden.“ Sie nickte mir und Anima zu. „Wenn wir im Krankenhaus sind, möchte ich, dass Janina und Anima alles für die weitere Reise vorbereiten, damit wir direkt nach unserer Rückkehr aufbrechen können. Das bedeutet, ihr packt nicht nur die Sachen und bereitet das Portal so weit vor, ihr kümmert euch auch um Vinea und Asokan. John?“

Als sein Name aufgerufen wurde, schreckte John aus seinen Geistreden auf. Er sah wirklich nicht glücklich aus. „Ja?“

„Wirst du mit zum Krankenhaus fahren, oder bleibst du hier?“

„Ich …“ Er warf mir einen fragenden Blick zu, doch das war etwas, bei dem ich ihm nicht helfen konnte. Dies musste er für sich selbst entscheiden. „Ja, ich … ich komme mit zum Krankenhaus.“

„Bist du sicher“, fragte Destina noch einmal unsicher nach und bekam ein Nicken zur Antwort. Das schien sie seltsam zu finden. Vielleicht aber auch nur deswegen, weil er bis vor kurzem aus allem herausgehalten wurde, weil er ja nur ein Mensch war.

„Nun gut, dann ist auch das entschieden. Wenn wir am Krankenhaus sind, werden wir tun, was Luan und Aman uns sagen – und ja, das schließt mich mit ein. Die beiden haben die Gegebenheiten ausgekundschaftet und wissen am besten, wie wir vorgehen müssen. Sobald wir Gillette und sein Haustier befreit haben …“

Hatte sie einen Sermo gerade wirklich als Haustier bezeichnet? So beleidigt und empört wie Acco guckte, ja, hatte sie!

„… werden wir hierher zurückkommen und durch das Portal gehen. Wie es dann auf der anderen Seite weiter geht, das müssen uns dann Luan und die Krieger zeigen. So, hab ich noch etwas vergessen?“

Anima zog meinen Pullover wieder runter und erlöste mich damit endlich von der Tortur ihrer Heilerkunst. Ganz ehrlich, ich liebte meine Amicus, aber für solche Dinge hatte sie einfach kein Händchen. Sie war viel zu grob.

„Ja“, kam es von Aman. „Was hat Bastet damit gemeint, als sie sagte: ihr werdet wissen, wann ihr ihn töten müsst?“

Alle Blicke richteten sich auf den feindlichen Magier, der unter so viel Aufmerksamkeit sichtlich nervös wurde.

„Na dass er für seine Taten büßen wird“, sagte Anima kalt. „Er muss sterben. Das ist die Strafe seiner Göttin, dass hat Bastet verkündet.“

Diese Geistrede gefiel dem Lykanthropen. „Und wann?“

„Wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.“ Ich sah zu Aman. „Bastet hat gesagt, wir werden wissen, wann es soweit ist, bis dahin darf ihm nichts passieren.“

„Heißt das, wir nehmen ihn auch mit nach Silthrim?“ Diese Aussicht schien Pascal nicht sonderlich zu behagen.

„Wenn es sich nicht vermeiden lässt, dann ja.“

„Aber er wird sterben“, wiederholte Anima. „So wollen es die Götter.“

Ganz abrupt stand John auf und entfernte sich mit hastigen Schritten von uns. Ich glaubte, er war zu dünnhäutig, um solche Gespräche zu hören. Er war eben doch nur ein Mensch.

„Daran lässt sich wohl nichts ändern“, seufzte Destina und klatschte dann in die Hand. „Na dann, auf mit euch, wir haben viel zu tun. Luan, Aman, mit euch beiden möchte ich noch einmal reden.“

„Ich werde nach Vinea sehen“, verkündete ich. Im Gegensatz zu den anderen hatte ich nichts weiter zu tun und konnte mich vielleicht nützlich machen, wenn ich mich um die Verletzten kümmerte.

 

°°°

 

Unter ruhigen Atemzügen, hob und senkte sich Vineas Brustkorb. Ihre Augen bewegten sich unter ihren Lidern und ich fragte mich, durch welchen Teil des Landes der Götter sie wohl gerade reiste und welche Abenteuer sie dort erlebte. Sie sah entspannt aus, also musste es sich um einen ruhigen Teil handeln.

Asokan lag auf der anderen Seite der Höhle auf seinem Lager und schlief. Er hatte eine Blüte von dem Schlafmohn geschluckt, nachdem er aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht war, um dem Kopfschmerz entgegenzuwirken. Nur leider schien die Dosis ein wenig stark für ihn gewesen zu sein. Aber vielleicht war es besser so. Wir wussten immer noch nicht, wie der Magier es geschafft hatte, zu entkommen, da Asokan nur gesagt hatte, es wäre sein Fehler gewesen und es täte ihm leid, aber genau wollte er darauf nicht eingehen. Und jetzt hatte er nicht mal das Erscheinen unserer Göttin erlebt.

Ich bekam es immer noch nicht richtig zu fassen, dass Bastet zu uns gesprochen hatte, dass sie so stark war, dass sie uns sogar hier erreichen konnte und dass sie uns nicht vergessen hatte. Glück, das war es, was ich spürte, Hoffnung und Glück.

Wir hatten einen Plan, einen guten Plan und noch vor dem nächsten Tag würden wir zurück in Silthrim sein. Das war einfach fantastisch. Ein seliges Lächeln erschien um meine Lippen. Ich konnte es immer noch nicht richtig glauben, aber schon heute Nacht würde ich wieder zurück im Tempel sein – endlich. Schon in der nächsten Nacht würde ich wieder in meinem eigenen Bett schlafen und den vertrauten Geräuschen meines Landes lauschen können.

Ein Geräusch am Eingang ließ mich aufsehen, doch da es nur Aman war, wandte ich meinen Blick gleich wieder ab. Ich wollte ihn jetzt nicht sehen, konnte ich seine letzten Worte doch einfach nicht vergessen. Andererseits konnte ich mir endlich eingestehen, dass er irgendwie Recht hatte. Dennoch, ich wusste einfach nicht, wie ich ihm gegenübertreten sollte. Sein Verhalten machte alles so kompliziert.

„Ich habe dir und Vinea etwas zu Essen mitgebracht“, sagte er fast zögernd, bevor er langsam und irgendwie unsicher auf uns zukam. Was hatte er nur? Nicht, dass mich das interessierte.

 Er hockte sich neben mich und hielt mir einen Teller aus dickem Papier unter die Nase. „Iss, du hast beim Frühstück keinen Bissen zu dir genommen. Und leg dich schlafen, du siehst müde aus.“

Konnte dieser Lykanthrop eigentlich noch etwas anderes als mit Befehlen um sich zu werfen? „Ich hatte keinen Hunger.“

„Du brauchst aber die Kraft, wenn du uns zum Krankenhaus begleiten willst.“

Wollte er mich jetzt erpressen? Tu, was ich sage, oder du kommst nicht mit? „Sprich nicht so mit mir, ich bin kein kleines, dummes Natis und deine Befehle kannst du für dich behalten!“

Stumm sah er in meine vor Wut blitzenden Augen, seufzte dann und stellte den Teller neben mir auf den Boden. „Ich habe es nicht so gemeint“, sagte er leise. „Das in dem Heilerhaus, ich … habe es nicht so gemeint.“

Sollte das eine Entschuldigung sein? Ziemlich schwach. „Es war nicht das erste Mal, dass du es gesagt hast, also musst du es auch so gemeint haben.“

„Lilith …“

„Spar dir deine Worte, sie interessieren mich nicht.“

Er knurrte frustriert. „Sei nicht immer so stur, ich versuche mich zu entschuldigen!“, fuhr er mich in einem nicht sehr entschuldigenden Ton an.

„Dann solltest du aber noch einmal kräftig daran arbeiten und jetzt lass mich in Ruhe, ich bin nicht daran interessiert, jetzt oder irgendwann wieder ein Gespräch mit dir zu führen.“

„Warum nur bist du immer so widerspenstig und dickköpfig? Fällt es dir wirklich so schwer, dich wie ein zivilisiertes Wesen zu unterhalten?“

Ich funkelte ihn böse an. „Deine Entschuldigungen sind wirklich das Letzte. Und jetzt geh mir aus den Augen!“

„Das werde ich nicht, bevor du dich wieder …“

Ein Räuspern am Eingang der Höhle ließ und beide die Köpfe drehen. Acco stand dort, sichtlich nervös, als wollte er schnell wieder weg. In einen erneuten Disput zwischen uns hineinzugeraten, war wohl nichts, was er sich wünschte. „Ähm … Destina will noch mal mit dir sprechen, Aman.“

„Kann das nicht warten?“

„Ich … ich weiß nicht.“

„Nein kann es nicht“, sagte ich. „Es geht hier um Gillette und unsere Rückkehr nach Silthrim. Geh zu ihr und lass mich in Frieden.“ Demonstrativ wandte ich mich von ihm ab und sah stattdessen zu den kleinen Lichtern, die durch das Gestein in die Höhle schimmerten.

Knurrend erhob sich Aman. „Dieses Gespräch ist noch nicht beendet.“

Ich schnaubte nur und beachtete ihn nicht weiter, wie er Acco aus der Höhle folgte. Dieser Hund, was bildete er sich eigentlich ein? Eine einfache Entschuldigung und damit war alles wieder gut? Ha, dass ich nicht lachte. Allein die Vorstellung war lächerlich, besonders wenn ich die missratene Entschuldigung in Betracht zog.

Ein Kichern riss mich aus meinen Geistreden. Vinea, sie war wach und lächelte mich an. Das sah hübsch aus, wie die Sonne, die des Morgens am Horizont aufging. Instinktiv verglich ich sie mit ihrem Sicuti. Wo sie die Sonne war, war Aman ein tobendes Gewitter. Licht und Schatten. Hatte Aman jemals so gelächelt? Ich konnte mich jedenfalls nicht dran erinnern. Selbst wenn er gelächelt hatte, war da immer ein höhnischer Zug gewesen. Überheblicher Hund.

„Er mag dich“, sagte sie.

„Bitte?“

„Aman. Er hat dir Essen gebracht und dir befohlen zu schlafen. Er mag dich. Wäre es nicht so, dann würde er nicht mal das Wort an dich richten.“

Ich schnaubte nicht sehr weiblich. „Ich fürchte, du täuschst dich da. Aman glaubt er muss mich beschützen, weil er mit mir zusammen durch das Tor gefallen ist. Er ist der große Krieger und ich nur der kleine Lehrling, deswegen muss ich seiner Meinung nach alles tun was er verlangt. Das hat nichts damit zu tun, dass er mich mag. Er will einfach nur bestimmen können.“

Vinea blickte geistesverloren zu mir auf, angelte dann mit der Hand nach dem unberührten Teller und zog ihn zu sich heran. „Aber wenn ihr allein seid, dann ist er ganz anders, hab ich recht?“

„Ist er nicht. Er ist unausstehlich, arrogant, herrisch und aufdringlich.“

Ihr Blick schoss vom Teller zu mir hoch. „Aufdringlich?“

„Ja, aufdringlich. Er nimmt sich Dinge heraus, die ihm nicht zustehen. Und weil ich mit ihm nicht einer Meinung bin, muss ich mir anschließend auch noch anhören, dass ich stur und widerspenstig bin.“

„Ach darum war es in eurem Gespräch gegangen.“

Sie hatte uns belauscht? Dabei hatte ich geglaubt, sie schliefe.

Vinea nahm sich eines der belegten Brote von dem Teller, inspizierte es kritisch und biss dann vorsichtig eine Ecke ab, die sie langsam kaute. „Ich bin trotzdem der Meinung, dass er dich mag.“

„Ich möchte dich ja nicht desillusionieren, aber da täuschst du dich.“

„Das glaube ich nicht. Weißt du, Lilith … ähm, das ist doch dein Name, oder?“

Ich nickte.

„Weißt du Lilith, ich kenne meinen Sicuti sehr gut.“ Ein weiterer kleiner Bissen verschwand in ihrem Mund. Sie schien mit dem Schlucken Schwierigkeiten zu haben, weshalb ich ihr eine der Wasserflaschen reichte, die Janina und Destina mitgebracht hatten und sie stützte, damit sie sich beim Trinken nicht verschluckte. „Vergelts.“ Vorsichtig legte sie sich zurück auf den Rücken. „Ich weiß, dass Aman schwierig und sehr herrisch sein kann, aber er tut das nur, um sich zu schützen, sich und die, die er liebt.“ Sie lächelte leicht. „Glaub mir, er hat mich damit sehr oft zur Weißglut getrieben. Ich verstehe genau, wie du dich fühlst.“

Das konnte ich mir nicht vorstellen, da ich nicht glaubte, dass er versucht hatte, sie zu küssen – mehr als einmal –, aber ich schwieg und ließ sie reden.

„Weißt du, es wundert mich schon, dass er so ein Verhalten auch bei dir an den Tag legt, normalerweise tut er das immer nur bei mir, seit …“ Sie verstummte kurz. „Du musst wissen, früher war er anders, lebenslustiger, abenteuerfreudig und nicht so engstirnig, aber er gibt sich die Schuld an dem, was geschehen ist. Deswegen ist er heute so.“

„Geschehen?“, fragte ich, bevor ich mich daran hindern konnte. „Entschuldigung, das geht mich nichts an.“ Und es interessierte mich auch nicht. Nein wirklich. In Ordnung, ein bisschen schon, aber nur, weil ich wissen wollte, wie Aman zu so einem Steinkopf geworden war und nicht, weil ich irgendein anderes Interesse an ihm hatte – ehrlich.

„Nein, ist schon in Ordnung“, beschwichtigte Vinea. „Es ist ja kein Geheimnis was uns widerfahren ist.“ Sie seufzte schwer. „Wir waren damals noch ziemlich klein, gerade mal sieben Jahre alt, da geschah es.“ Ihr Blick ging in die Ferne an einen Ort der mir verborgen blieb. „Wir hatten mit unseren Eltern im Wald gespielt und Aman hat diese Höhle gefunden, dir wir erforschen wollten, doch unser Fafa hat es verboten. Es sei zu gefährlich, hatte er gesagt, doch davon hatten wir zwei uns noch nie von etwas abbringen lassen. Natürlich hatten wir im ersten Moment so getan, als würden wir gehorchen und sind artig mit ihnen nach Hause gegangen, aber in der folgenden Nacht, als alle schliefen, da liefen wir zurück in den Wald.“ Sie lachte kurz auf, doch dieser kleine Laut hatte nichts sehr amüsantes an sich. „Gefährlich war die Höhle gewiss nicht gewesen, nur nass, kalt und langweilig. Eine echte Enttäuschung.“

Ein Seufzen, das tief aus ihrer Seele zu kommen schien, kroch aus ihrer Kehle. „Danach hatten wir uns eilig auf den Rückweg gemacht, wollten wir doch nicht, dass unsere Eltern bemerkten, dass wir nicht unsere Betten hüteten, wie wir es eigentlich sollten. Doch als wir nach Hause kamen, war alles anders.“

„Anders?“, traute ich mich zu fragen, als sie schwieg.

„Vor unserem Haus waren Krieger des Seth, viele Krieger. Überall standen Laternen, die das Haus beleuchteten, die Nacht beinahe zum Tag machten und unsere Romina kniete weinend zwischen den Kriegern und schrie ihr Leid zum Himmel hinaus.“ Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie die Erinnerung daran vertreiben. „Ich werde diesen Augenblick niemals vergessen, wie sie dort saß und weinte und sich damit unsere ganze Welt veränderte, denn wir haben unsere Eltern nie wieder gesehen.“

„Warum? Was ist geschehen?“

Sie richtete ihren Blick auf mich. „Ich weiß es nicht. Niemand wollte es uns sagen und irgendwann haben wir aufgehört zu fragen, doch das etwas schreckliches geschehen war, das wussten wir.“

„Sind … sind sie tot?“

Vinea antwortete nicht sofort, geistredete erst über ihre nächsten Worte nach. „Weißt du, da war rote Farbe an den Fenstern. Ich habe sie gesehen als die Krieger uns von dem Haus wegbrachten und mich damals gefragt, warum Fafa und Mina die Scheiben der Fenster mit roter Farbe bemalt haben, wo sie mich und Aman doch ausgeschimpft hatten, als die Wände in unserem Zimmer mit Pinsel und Farbe aufgehübscht hatten.“ Sie kniff kurz die Lippen zusammen. „Heute bin ich mir ziemlich sicher, dass es keine Farbe war.“

Oh Göttin, das war grausam.

„Danach sind wir mit unserer Romina in die Stadt gezogen, weit weg von dem kleinen Ort, in dem wir geboren wurden, aber zur Ruhe kamen wir nie. Sie hat immer behauptet, dass unser Fafa an dem Unglück Schuld trug, dass er verflucht war und ihre Tochter deswegen hatte sterben müsste. Sie hat behauptet, dass unser Fafa das Unglück war und er sein schlechtes Blut an uns weitergegeben hat. Und irgendwann würden wir auch ihren Tod bedeuten. Das hat sie immer gesagt.“

„Das ist ja schrecklich.“

„Ja. Und nun stell dir einmal vor, du bist ein kleines Kind und musst dir jeden Tag von deiner Romina anhören, dass du ein Unglücksbringer bist. Auch wenn es unwahr ist, irgendwann fängst du an daran zu glauben.“ Sie seufzte schwer und richtete den Blick an die Höhlendecke. „Kurz darauf ist unsere Romina gestorben. Sie ist einfach nicht mehr aus dem Land der Götter zurückgekehrt und natürlich hat Aman sich die Schuld daran gegeben.“

„Oh Göttin.“

„Danach sind wir in die Obhut des Tempels gekommen. Da waren wir neun. Aman hatte sich dazu entschieden, als Krieger in den Dienst unseres Gottes zu gehen, um für seine Taten zu büßen. Natürlich durfte er erst, wie alle anderen auch, mit zwölf Jahren beginnen, aber er sah den anderen Kriegern oft heimlich bei ihren Unterweisungen zu und übte dann schon mal ohne das Wissen der Magister. Auch mir zeigte er einige Sachen, damit ich mich schützen konnte. Es hat Spaß gemacht und wenn wir nicht gerade bei unserem heimlichen Training waren, dann halfen wir in der Aufzucht.“

„In der Aufzucht des Tempels? Ich hab gar nicht gewusst, dass Natis der Zutritt zu diesem Gebäude gestattet ist.“ Zumindest war es bei uns im Tempel nicht so gewesen. In der Aufzucht kamen die Sermos zur Welt. Die Mina-Tiere waren meist sehr gereizt und mochten keine Unruhe und wenn sie dann gingen, dann kümmerten sich die Priester um die Jungen, bis sie an ihrer Kriegerlehrlinge gereicht wurden.

„Das ist eigentlich auch so, doch uns beiden wurde der Zutritt gestattet. Man war der Meinung, dass wir etwas brauchten – besonders Aman – das uns wieder aufbaute, nachdem uns so viel Unglück widerfahren war. Sie glaubten, dass uns die Arbeit mir den Sermos gut tun würde und anfangs hat es auch funktioniert.“

„Anfangs?“

Sie nickte. „Wir hatten einen Kriegerlehrling im Tempel, einen Wildhund, der sich seinem siebzehnten Jahr näherte.“

„Das Jahr, in dem er seinen Sermo erhalten sollte.“

„Genau. Und kurze Zeit später kam eine Sermowildhündin in die Aufzucht und gebar einen kleinen Rüden. Aman und ich waren dabei. Das war nichts Neues für uns, wir durften den Geburten öfters beiwohnen, doch dieses Mal war etwas anders. Aman sah den kleinen Welpen und äußerte still und heimlich den Wunsch, dass dieser kleine Welpe sein Sermos wird. Er wollte ein Krieger sein und jeder Krieger brauch einen guten Sermo. Dieser kleine Welpe hatte es ihm einfach angetan.“

„Das verstehe ich. Ich hatte es damals auch kaum erwarten können meinen Sian zu bekommen.“ Nein, jetzt nicht über ihn Geistreden halten. Das konnte ich später tun, heute Abend, wenn ich ihn wieder in die Arme schloss.

Sie seufzte. „Am nächsten Tag ist etwas Schreckliches passiert. Der Kriegerlehrling, der den Welpen erhalten sollte, hatte bei einer Unterweisung einen Unfall und starb an den Folgen. Aman gab natürlich sich die Schuld. Es war albern, aber er sagte immer wieder, weil er sich den Welpen gewünscht hatte, sei der Lehrling gestorben.“

„Da ist doch Unsinn.“

„Das habe ich ihm auch gesagt, aber er wollte mir nicht glauben. Doch nach diesem Unfall hielt er es für seine Pflicht, sich um den Welpen zu kümmern, bis ein geeigneter Lehrling kam, der ihn einst seinen Sermos nennen würde. Doch wieder kam alles anders, als erwartet.“

Wieder? Was konnte denn noch alles schief gehen?

„Es dauerte fast ein Jahr, bis wieder ein Wildhundlehrling so weit war, einen Sermo zu adoptieren. Doch der kleine Welpe wollte nicht zu dem Kriegerlehrling, zu sehr hatte er sich bereits an Aman gewöhnt und verweigerte dem Lehrling die Treue. Er riss ihm regelmäßig aus und an mehr als einem Morgen erwachte Aman mit dem Welpen in seinem Bett, obwohl er abends allein Schlafen gegangen war. Es wurde so schlimm, dass die Priester beschlossen, den Welpen bei Aman zu lassen und dem Lehrling einen neuen zu geben, sobald einer geboren war.“

„Aman bekam den Welpen?“

„Ja, er nahm den Welpen als seinen Sermo und gab ihm dem Namen Acco. Gleichzeitig verfluchte er sich aber dafür, dass er dem Lehrling seinen Sermo streitig gemacht hatte, obwohl er noch gar kein Anrecht auf ihn hatte.“

Kein Anrecht?

„Nach diesen Ereignissen hat er nie wieder auch nur einen Fuß in die Aufzucht gesetzt. Er hatte Angst für noch mehr Leid verantwortlich zu sein. Er hat hart trainiert um ein Krieger zu werden, härter als alle anderen und oft auch bis zur Erschöpfung.“

Das war … ich wusste nicht, wie ich es nennen wollte. „Wie alt wart ihr damals, als das alles geschehen ist?“

„Elf.“

Elf? Elf? Aman besaß Acco bereits seit er Elf war? Noch bevor die Ausbildung zum Krieger begonnen hatte? Das war unfassbar!

„Aman glaubt daran. Er glaubt die Worte unserer Romina auch heute noch und egal wie oft ich ihm sage, dass es Unsinn ist, er lässt sich nicht umstimmen. Aman glaubt, dass wir das Unglück in uns tragen und allen, die mit uns in Berührung kommen, ebenfalls Unglück bringen.“

Das war doch Unfug. Niemand trug das Unglück in sich. Was er erlitten hatte, waren einfach nur schreckliche Schicksalsschläge, aber deswegen war er noch lange kein Unglücksbringer.

„Deswegen ist er so streng mit mir. Er will mich beschützen und hat Angst, die Kontrolle zu verlieren, wenn er nicht aufpasst. Kontrollverlust ist für ihn Unglück und solange er die Kontrolle behält und jeden meiner Schritte plant, weiß er, was geschehen wird. Das ist seine Art mit dem Geschehen umzugehen. Er hat einfach Angst, dass ihm sonst alles entgleitet.“ Sie pulte mit dem Finger in dem Brot herum. „Und jetzt versucht er, auch dich zu schützen, indem er versucht, die Kontrolle über dich zu bekommen.“

„Was willst du damit sagen?“

„Ganz einfach, ich weiß nicht, wie es geschah, oder warum, aber er mag dich und das ist seine Art, dir das zu zeigen.“

„Indem er mich beschimpft? Indem er mich stur, widerspenstig und dickköpfig nennt?“

Ein kleines Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Eine Lykanthropin ist so ganz anders als du. Bei mir wusste er immer, wie er sich zu verhalten hatte, um seinen Willen zu bekommen. Er weiß sicher nicht, wie er sich dir gegenüber ausdrücken soll.“

Du gehörst mir! Bei der Erinnerung schnaubte ich. „Doch, das weiß er ganz sicher.“

Ein Geräusch am Eingang ließ uns aufsehen. Dort im Schatten, gerade außerhalb des Lichts stand jemand. Sein Gesicht musste ich nicht erkennen, um zu wissen, wer das war. Es war wie ein Gefühl des Erkennens, ich wusste ganz genau, wer das war. Wie lange stand er schon da?

„Bist du jetzt fertig damit, meine Verbindung zu Lilith zu erörtern?“, fragte Aman trocken.

„Vorläufig.“

Er schnaubte, kam dann zu uns und ließ sich neben seiner Schwester in den Schneidersitz fallen. „Du hast nicht gegessen.“

„Doch, ein paar Bissen.“

„Das ist nicht genug.“ Er griff nach dem zerpulten Brot und hielt es ihr vor den Mund. „Iss.“

„Nur, wenn du mir dabei eine Geschichte erzählst.“ Sie zwinkerte mir zu. „Das hat er immer gemacht, als wir noch klein waren.“

„Iss, jetzt“, forderte Aman seine Sicuti erneut auf und wandte sich dann an mich. „Und du auch.“

Ich kniff die Augen zusammen. „Glaub nicht, dass du mir irgendwelche Befehle geben kannst.“ Damit stand ich auf und verließ die Höhle. Was bildete sich dieser herrische Lykanthrop eigentlich ein? Gut, dann hatte er eben eine schwere Kindheit gehabt und eine verrückte Romina, die ihm Unsinn eingeredet hatte, aber das gab ihm noch lange nicht das Recht, so mit mir zu sprechen.

Oh Göttin, warum belastete ich mich überhaupt damit? Das ging mich doch gar nichts an. Außerdem wäre ich ihn heute Abend sowieso los. Sobald wir zurück auf Silthrim waren, würde jeder wieder seinen eigenen Weg gehen. Nur erfreute ich mich an dieser Geistrede seltsamerweise nicht so sehr wie er sollte.

Ich musste mich dringend ablenken, bevor ich noch verrückt wurde und sah deswegen kurz nach, wie weit Pascal und Anima waren – halbfertig.

Janina und Destina waren mit John zurück ins Haus gefahren, um ihre Sachen zu holen und Luan war nicht aufzufinden. Für mich gab es nichts zu tun und da ich die Nacht nur wenig geschlafen hatte und die Müdigkeit sich noch immer in meinen Kochen festgesetzt hatte, beschloss ich, mich mit Nebka ins Zelt zurückzuziehen und bis zum Abend die Zeit im Land der Götter zu verbringen.

 

°°°°°

Kapitel Achtundzwanzig

Wie bei meinem ersten Besuch an diesem Ort, saßen wir wieder im Wagen auf einem sogenannten Parkplatz, doch war es dieses Mal ein kleinerer, der etwas abgelegen lag und wohl nur von den Mitarbeitern des abseitigen Gebäudes genutzt wurde. Ein paar dürre Bäumchen trennten diesen Bereich vom Steinhaus und bildeten so einen Sichtschutz, der sowohl uns als auch den Menschen dort drinnen zugutekam. So hatten wir keinen Einblick in das Gebäude, aber auch sie konnten uns nicht sehen.

Es war dunkel, sowohl draußen, als auch hier drinnen, dunkel und unbelebt. Einzig der kalte Schein der Laternen zerriss die Nacht, in der jeder Schatten eine Gefahr bergen konnte.

„Das Labor hat einen eigenen Eingang“, erklärte Luan gerade leise. „Auf der Rückseite des Gebäudes.“

„Und wie kommen wir hinein?“ Das war die einzige Frage, die mich wirklich interessierte. Jetzt war ich Gillette so nahe und bald, schon sehr bald, würde ich meine Amicus wieder in die Arme schließen können, um ihn anschließend von diesem Ort wegzubringen.

„Wir müssen warten, bis wir einen Laborant oder anderen Angestellten dieser Einrichtung ausmachen können. Den müssen wir uns schnappen, um ein Zugangsrecht zu bekommen. Seht ihr die kleinen roten Lichter dort, die da so still vor sich hinblinken?“

Ich spähte zwischen den vorderen Sitzen hinaus durch die Windschutzscheibe und entdeckte ohne große Mühe was er meinte. „Ja.“

„Haltet euch von denen unbedingt fern. Das sind Videokameras. Ich will nicht, dass auch nur einer von euch auf einem Film zu sehen ist.“

„Und wie bitte sollen wir das machen?“, fragte Pascal. „Wir werden zwangsläufig damit aufgenommen, wenn wir uns dem Gebäude näheren. Die sind überall.“

„Kannst du das Signal nicht stören?“, fragte John. Er strömte wieder diesen Geruch nach Angst und Unruhe aus. Ich glaubte nicht daran, dass es eine gute Idee gewesen war, ihn mitzunehmen. Hoffentlich stand er uns nicht im Weg. „Ich meine, mit deiner Magie“, fügte er hinzu.

„Nein.“ Luan schüttelte energisch den Kopf, ohne dabei das Gebäude aus den Augen zu lassen. „Wenn wir die Kameraaufnahmen stören, könnten sie vermuten dass hier irgendetwas nicht stimmt. Wir müssen uns so unauffällig wie möglich verhalten. Ich will keine Zwischenfälle so wie beim letzten Mal.“ Er streifte den Ärmel an seinem Handgelenk hoch, um die Zeit auf einer seltsamen Uhr abzulesen. „In circa einer halben Stunde müsste die Spätschicht Feierabend machen. Dann müssen wir unsere Chance nutzen.“

„Ich finde es immer noch nicht richtig, dass ihr einfach jemanden überfallen wollt“, kam es etwas kleinlaut von John.

Das hatte er jetzt nicht gesagt. „Aber es ist richtig, dass diese Menschen meinen Amicus und seinen Sermo einsperren und weiß-ich-was mit ihm tun? Dass sie ihn gegen seinen Willen gefangen halten?“

John drückte die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. „Nein, natürlich nicht, aber es ist auch nicht richtig, was ihr vorhabt. Es muss einen besseren Weg geben.“

„Und der wäre?“, wollte ich von ihm wissen.

„Ich … ich weiß nicht, aber …“

„John“, unterbrach Luan ihn. „Vielleicht ist es besser, wenn du im Wagen wartest, wenn wir den Ailuranthropen holen. Es kann sein, dass wir schnell wegmüssen und da sollte das Auto schon bereit sein.“

„Du willst mich nicht dabei haben, weil du glaubst, dass ich es vermassle“, sagte John ganz direkt.

„Nein, darum geht es nicht. Ich glaube nur, dass dich diese Sache zu sehr belastet und hier draußen wärst du uns eine viel größere Hilfe als dort drinnen.“

Dort drinnen, wo er uns im Weg stehen würde. Nein, es war nicht gemein von mir, es war eine einfache Tatsache. John war einfach nicht dafür gemacht, an so einem Akt teilzuhaben.

Du bist keine fertige Kriegern, versteh das endlich.

Ob es Aman mit mir genauso ging? Das war jetzt egal, nur das Ziel jetzt, nur der Weg dorthin und dann der Weg in die Heimat.

„Da kommt ein Wagen“, flüsterte Pascal und folgte mit dem Blick in die Nacht.

„Vielleicht ist das schon unsere Gelegenheit“, sagte ich leise und sah zu, wie das andere Auto nicht allzu weit von uns entfernt, nahe der Bäume, hielt.

„Zu früh“, sagte Luan. „Es sind noch zu viele Leute in dem Labor, wir müssen auf den Schichtwechsel warten.“

Was war das eigentlich, ein Labor? „Und wenn wir keine weitere Möglichkeit bekommen?“

„Es wird noch eine kommen, vertrau mir.“

Nein, das würde ich nicht. Ja, Luan war ein Verbündeter geworden, aber ich würde ihm sicher nicht vertrauen – niemals.

Pascal machte ein anerkennendes Geräusch. „Ganz schön teure Karre.“

Angespannt beobachtete ich, wie der fremde Wagen einschlief und kurz darauf die beiden vorderen Türen geöffnet wurden. Und ich entkrampfte mich auch nicht gerade, als ich sah, wer da den Wagen verließ. Zwei Grüne Krieger. Was wollten die hier?

„Mist!“, fluchte Luan. „Das hat uns gerade noch gefehlt.“

Ich hatte keinen Blick für ihn, beobachtete sicherheitshalber, was die grünen Krieger taten. Waren sie gekommen um Gillette wieder fortzubringen? Wussten sie, dass wir heute kommen würden? Aber woher sollten sie das wissen? Nein, sagte ich mir, dass ist absurd. Ihr Auftauchen ist einfach nur ein Zufall. Es konnte gar nicht anders sein.

Einer der Grünen Krieger umrundete den Wagen und obwohl er im Licht der Laterne lief, konnte ich sein Gesicht unter der Mütze nicht erkennen. Sie tauchte es in Schatten, als er die hintere Wagentür öffnete. Doch, wen ich sofort erkannte, war der Mann, der dort ausstieg.

Nein, kein Zufall, eine göttliche Fügung, gleich dem Geruch, dem ich im Krankenhaus aufgeschnappt hatte. Bastet lenkte unsere Schritte, da war ich mir sicher.

Aman gab bei seinem Anblick ein leises Grollen von sich und Luan kniff die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen.

„Kriegergeneral Silvano Winston“, zischte ich. Wut brodelte in mir hoch. Er hatte Gillette und Kaio entführt, er verfolgte Luan und seine Familie. Er hatte mich fast getötet.

„Nein, Lilith, warte!“

Tat ich nicht. Ich hatte es satt zu warten, ich würde jetzt handeln. Meine Hand war schon an der Tür, bevor ich mich überhaupt dazu entschlossen hatte. Mich hielt nichts mehr auf meinem Platz. Hier und jetzt würde es ein Ende nehmen und ich würde siegreich mit Gillette an meiner Seite in die Heimat zurückkehren. Niemand würde mich daran hindern können.

Hinter mir hörte ich ein lautstarkes Fluchen, doch ich achtete nicht darauf, als ich entschlossen über den Parkplatz schritt. Dieser Mann würde nie wieder jemanden verletzten. „Kriegergeneral!“, rief ich so laut, dass er mich gar nicht überhören konnte.

Er und die beiden Krieger blieben stehen und wandten sich zu mir um. Die Überraschung in seinem Gesicht, ließ mich schon fast lächeln.

Ich blieb nicht stehen, lief weiter, bis uns nur noch wenige Meter voneinander trennten.

Sein Erstaunen wich schnell seiner kühlen Effizienz, die er bereits beim letzten Mal gezeigt hatte. „Welch eine Überraschung. Lilith, wenn ich mich richtig erinnere, oder?“ Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns noch einmal begegnen.“

„Sie haben wohl geglaubt, dass ihr Gift mich zugrunde richten würde, aber ich bin stärker als Sie vermuten.“

Hinter mir wurden Schritte laut. Die anderen folgten mir.

„Es war mir auf jeden Fall kein Bedürfnis.“ Langsam schweifte sein Blick über die anderen. Über Aman, der sich neben mir aufgebaut hatte und dessen Wut wohl zu gleichen Teilen dem General und mir galt, weil ich einfach so ausgestiegen war. Über Luan, der leicht hinter uns stand und auch über Pascal und Destina, die wohl so gar nicht in sein Weltbild passten. Zu jung und zu alt. „Seid ihr gekommen, um das Gespräch vom letzten Mal fortzuführen?“

Aman schnaubte. „Dieses Mal wird nicht mehr gesprochen.“

„Wir sind gekommen um Gillette zu holen“, fügte ich hinzu.

Der Mundwinkel des Kriegergenerals zuckte, als seine Grünen Krieger etwas dichter zu ihm traten. „Weil das ja beim letzten Mal auch schon so gut funktioniert hatte. Bastien?“

„Mischlinge“, sagte der rechte Krieger. Sein Gesicht war noch immer unter der Mütze versteckt, doch ich konnte den Schatten von dunklem, kurzrasiertem Haar ausmachen.

„Ah“, sagte der General und fixierte Destina und Pascal. „Das erklärt einiges.“

Mischlinge? Ich verstand nicht. Was sollte das heißen? Dieser grüne Krieger, dieser Bastien war mir suspekt. Irgendetwas stimmte mit ihm nicht.

„Und nun?“ Der Kriegergeneral breitete die Arme aus. „Worauf wartet ihr noch?“

„Auf mein Geleit“, sagte Aman.

Das war der Moment, in dem Acco dem General in den Rücken sprang und ihn auf den Boden katapultierte. Damit hatte er nicht gerechnet. Luan stürzte vor, um dem Sermo zu helfen, während ich diesen Bastien ansprang, um ihn zu Boden zu ringen, doch er wich einfach aus.

Ich kniff die Augen zusammen, sprang erneut, dieses Mal neben ihm, ließ mich dabei in die Hocke fallen, um ihm die Beine wegzutreten, doch er sprang einfach darüber und versetzte mir seinerseits einen Schlag gegen den Arm.

„Zur Sachmet!“, fluchte ich, rollte mich wieder auf die Beine und versuchte es mit einem Tritt auf seine Hüfte, doch schon wieder war er weg.

Nur ein paar Meter weiter schlug Aman gerade den anderen grünen Krieger nieder, doch auch der wollte sich nicht so leicht besiegen lassen

„Du bist schnell“, musste ich zugeben, „aber das wird dir nicht helfen.“ Ich sprang erneut, verwandelte mich dabei und tat das Einzige, was ich jemals richtig beherrscht hatte. Mitten um Sprung ruderte ich mit dem Schwanz und änderte so die Richtung. Dieses Manöver überraschte ihn so sehr, dass er sich nur noch fallen lassen konnte, um mir zu entwischen. Doch auf dem Boden war er eine leichte Beute für mich. Kaum war ich gelandet, trat ich nach hinten aus und traf ihn mitten im Rücken. Mit dem Gesicht voran knallte er auf den Parkplatz und gab einen Schmerzenslaut von sich. Dabei flog die Mütze von seinem Kopf und zum ersten Mal sah ich, was er die ganze Zeit darunter verborgen hatte. „Elf“, entschlüpfte es mir fassungslos. „Du bist ein Elf.“

Er richtete sich auf, hockte halb, als er mir das Gesicht zuwandte. So gefühlslos, so kalt. Aus seinem Mundwinkel lief ein Rinnsal Blut, das er genervt wegwischte. Doch ich hatte nur Augen für seine Ohren. Spitze, lange Ohren an einem schmalen, fast androgynen Gesicht.

„Aber wie …“ Ich sah gerade noch rechtzeitig, wie er den Schuss zog und damit eine Kugel in meine Richtung schleuderte. Nicht geistreden, nur reagieren. Mit einem Satz brachte ich mich hinter der teuren Karre – wie Pascal ihn genannt hatte – in Sicherheit. Das wäre fast schiefgegangen. Hastig ließ ich mich auf den Boden fallen, sah unter dem Wagen durch nach den Füßen von Bastien und konnte erkennen, welche Richtung er einschlug. Aufspringen und erneut zum Angriff übergehen war alles eins. Wir krachten zusammen, als er um die Ecke rannte. Sein Schuss fiel ihm aus der Hand und dann landeten wir auf dem Boden – ich hatte ihn überrascht, zum zweiten Mal. Doch ganz so einfach, wie ich mir das vorstellte, war es dann doch nicht. Ich war vielleicht flink und wendig, aber er war stärker und schwerer und er wusste genau, wie er seinen Körper einsetzen musste, um zu überleben. Dabei war es egal, dass ich auf ihm saß und kurz davor war, meine Krallen an seinem Gesicht zu wetzen. Er packte einfach meine Hände, zog die Knie an und schleuderte mich von sich herunter.

Ich schlug so hart auf dem Rücken auf, dass ich einen Moment brauchte, um nach Luft zu schnappen, doch den gab er mir nicht. Schon war er über mir, packte meinen Arm und riss mich daran auf den Bauch. Ich schrie vor Schmerz, als er mir den Arm hochhebelte und mich dabei fest auf den Boden drückte. Er hatte mich, er …

Plötzlich war der schmerzhafte Druck in meinem Arm weg, das Gewicht auf meinem Rücken fort. Ich hörte einen dumpfen Aufprall, ein schmerzhaftes Stöhnen und dann war Ruhe.

„Niemand fasst sie an“, knurrte Aman. „Niemand!“

Ein Blick über die Schulter genügte. Aman hatte den Elf von mir runtergezogen, gegen das Auto geschleudert und versetzte ihn noch einen gezielten Tritt in den Magen, als er wieder versuchte, auf die Beine zu kommen.

„Keine unnötige Gewalt“, kam es da von Destina.

Zur Sachmet mit diesem Lykanthropen! Das hätte er nicht tun dürfen, das war mein Gegner. Ich hätte das allein geschafft. Warum hatte er sich da eingemischt? Glaube er wirklich, dass ich ohne ihn völlig hilflos war? Glaubte er, ich konnte keinen Schritt ohne ihn machen?  Die plötzliche Wut über ihn, die in mir hochkochte, glühte in meinem Inneren, bis ich Rot sah.

Der zweite grüne Krieger lag auf dem Bauch und Pascal band ihm etwas um die Handgelenke, was er vorhin als Kabelbinder bezeichnet hatte – die sollen besser als Stricke sein. Der Kriegergeneral wurde von Luan in Schach gehalten. Die Arme auf den Rücken gedreht, ein Messer an der Kehle, wurde er zur Bewegungsunfähigkeit verdammt.

Aman knurrte nur und versetzte dem Krieger noch einen Handkantenschlag in den Nacken, als er wieder versuchte auf die Beine zu kommen. Dieses Mal blieb er liegen – bewusstlos.

„Ich hab doch gerade gesagt …“, begann Destina, unterbrach sich aber sofort, als ich wütend auf die Beine sprang und mich auf Aman stürzte und ihn mit mir auf den Boden riss. „Er gehörte mir!“, fauchte ich ihn an und packte ihn am Kragen. „Du hattest nicht das Recht dich einzumischen!“

„Lilith, das ist wohl nicht der richtige Moment, um …“

„Halt dich da raus!“, fuhr ich Luan über den Mund. Das ging ihn nichts an, war eine Sache zwischen mir und diesem überheblichen Lykanthropen. Nur zwischen uns.

Aman knurrte. In seinen Augen war wieder dieses Funkeln, diese Kampfelslust, die ihn bereits bei unserem letzten Duell gepackt hatte. Doch da war noch etwas anderes, etwas viel tieferes, dessen Bedeutung … oh Göttin, nein, das konnte nicht sein. Er konnte doch nicht …

Ich wich so schnell vor ihm zurück, dass ich auf meine Kehrseite fiel. Mit großen Augen starrte ich ihn an. Ich musste mich getäuscht haben, das war unmöglich. Allein die Geistreden daran war völlig absurd. Doch es würde alles erklären. Was, wenn Vinea recht hatte, wenn er …

Nein!

Ich verbot mir diese Geistreden. Sie waren unerwünscht, ich wollte sie nicht. „Halt dich von mir fern!“, fauchte ich und rappelte mich auf die Beine. Was ich geglaubt hatte zu sehen, konnte einfach nicht stimmen. Nein, das hatte ich mir sicher nur eingebildet. Er sollte einfach nur von mir wegbleiben.

Ich wich den Blicken der anderen aus, als auch Aman sich wieder auf die Beine begab. Ich konnte ihre Geistreden beinahe in meinem Kopf hören. Was sie von mir hielten, wie sie mein Verhalten einschätzten, doch was wussten die schon? Sie verstanden es nicht. Der Elf war mein Gegner gewesen, Aman hatte sich da einfach nicht einzumischen.

„Und jetzt?“, fragte der Kriegergeneral leicht überheblich. „Nun habt ihr uns. Was ist euer nächster Schritt?“

„Das werden Sie gleich sehen“, kam im gleichen Ton von Destina. Sie baute sich genau vor ihm auf, was schon ein wenig lächerlich wirkte, wo sie dem Mann doch gerade Mal bis zur Schulter reichte. „Pascal, stell dich hier hin, genau hinter mich.“

„Äh … okay.“ Etwas irritiert setzte er sich in Bewegung, tat aber, was sein Romina von ihm verlangte.

„Und du, halt ihn gut fest“, wandte sie sich an Luan. „Egal was passiert, du darfst ihn nicht verletzten.“

Misstrauisch verengte der Vampir die Augen. „Was hast du vor?“

„Das wirst du gleich sehen.“ Sie richtete ihren Blick wieder auf den Kriegergeneral. „Und halt ihm den Mund zu“, ordnete sie an, „ich will nicht dass seine Schreie Unbeteiligte anlocken.

Schreie? Was hatte Destina nur vor? Wollte sie ihn foltern? Hier?

„Sie machen mir keine Angst“, sagte der Kriegergeneral ganz ruhig. Seine Haltung war stolz, unbesiegbar. „Ich war früher im Nahen Osten stationiert gewesen und habe schon ganz anderes durchgemacht.“

„Ich habe nicht vor, ihnen Angst zu machen, ich schütze nur meine Familie vor übereifrigen Helfern, die Sie hören könnten. Pascal, halt mich an den Schultern fest.“

Ohne Widerworte – so ganz untypisch für den jungen Magier – gehorchte er seiner Romina. „Sagst du mir auch warum?“

„Das wirst du gleich sehen.“ Destina schloss die Augen und atmete tief durch. Einmal – ein, aus. Zweimal – ein, aus. Dreimal – ein, aus. Um uns herum schien es kälter zu werden, als würde die ganze Wärme abgesogen werden. Eine Art Aura schien sich um die Lykanthropin zu verdichten. Es war nichts, was man sehen konnte, nur ein Gefühl in der Luft, bei der sich mir die Nackenhärchen aufstellten. Eine Unstimmigkeit im Gleichgewicht der Natur.

Magier pur.

Greifbar lag sie in der Luft. Es war nichts, was ich schon einmal gespürt hatte. Alle mein Sinne schlugen Alarm und schrien: renn! Schnell, renn, solange du noch kannst! Unwillkürlich machte ich einen Schritt zurück. Auch Aman blieb nicht auf der Stelle stehen und Luan schien  es all seine Kraft zu kosten, nicht zurückzuweichen. Ihm standen die Schweißperlen auf der Stirn.

Destina schlug die Augen auf und … bei allen Göttern, das … was …

Ihre Pupillen hatten sich bis auf einen kleinen, finsteren Punkt in der Mitte verengt. Das Weiße war trüb, milchig, falsch. Wie in Trance hob sie ihre Hand. Ganz langsam, als bereite ihr diese Bewegung Probleme.

Angespannt folgten die Augen des Kriegergenerals dieser Bewegung. Sein Adamsapfel hüpfte in seinem Hals und auch sah so aus, als wolle er nur schnell weg.

Und dann berührten Destinas Finger die Schläfe des Mannes. Die alte Frau sackte sofort in sich zusammen und knallte nur nicht auf den Boden, weil Pascal sie auffing. Und der General? Der schrie. Er schrie als leide er Qualen der Untiefen. Selbst durch seinen verschlossenen Mund hallte dieses Geräusch so laut, dass ich mir die Ohren zuhalten wollte. Sein Gesicht war ganz rot, die Augen so sehr verdreht, dass nur noch das Weiße zu sehen war und seine Atmung ging so schnell, als kämpfte er um sein Leben.

Es war grauenhaft, dies mit anzusehen und ich konnte nicht anders als den Blick abzuwenden. Ich konnte das einfach nicht mit ansehen. Dabei entdeckte ich John in seinem Wagen. Er sah so entsetzt aus. Was immer Destina da auch tat, kein fühlendes Wesen sollte es erleiden, nicht mal der schlimmste Feind. Es war einfach nur schrecklich.

Das Schreien wurde zu einem Weinen. Er schluchzte unter seltsamen gutturalen Lauten, die nach einer ewig erscheinen Zeitspanne, in einem leisen Wimmern endeten. Dann bewegte sich Destina wieder. Die Hand zuckte, als Pascal seiner Romina besorgt über den Kopf strich.

Dem Kriegergeneral sackten die Beine weg. Das Messer kam gegen den Hals und ritze ihm die Haut an. Luan musste seinen Griff verändern, um den Mann nicht unabsichtlich zu verletzen. Gleichzeitig musste er ihn stützen, damit er nicht zu Boden ging.

Destina schlug die Augen auf und fuhr sich mit der Hand an die Stirn. „Ich hatte ganz vergessen, was das für Kopfschmerzen nach sich zieht.“

„Gran?“, fragte Pascal besorgt. „Bist du okay?“

„Ja, mit mir ist alles in Ordnung. Hilf mir mal hoch.“ Vorsichtig ließ sie sich von Pascal auf die Beine ziehen. Dann fiel ihr Blick auf Silvano Winston, der mit zugekniffenen Augen in Luans Armen hing und stumm ein paar Tränen über die Wangen laufen ließ. „Sie sind ein äußerst kranker Mann.“ Ungerührt von seinem Niedergang griff sie an die Brusttasche des Mannes und zog dort ein kleines, dickes Kärtchen heraus, auf dem das Abbild des Kriegergenerals prangte.

„Was hast du da getan?“, fragte Aman. Er war äußerst blass um die Nase und hatte die Hand in Accos Nacken verkrallt, als brauchte er etwas, an dem er sich festhalten konnte. Oder vielleicht hatte er auch nur dafür sorgen wollen, dass Acco nicht weglief.

„Ich war in seinem Kopf, um die Zugangsdaten zu dem Gebäude zu bekommen.“

„In seinem Kopf?“ Wie konnte sie in seinen Kopf?

„In seinen Gedanken, seinen Erinnerungen. Ich musste tief graben um alles zu bekommen, aber jetzt können wir gehen.“ Sie drehte sich zu ihrem Enkel um. „Pascal, nimm den beiden Soldaten doch bitte die Waffen ab und dann sollten wir sie wohl in ihren Wagen legen, dort sind sie nicht im Weg und werden auch nicht so schnell entdeckt.“

Die kühle Effizienz, mit der Destina all das sagte und tat, war schon leicht unheimlich. In Lakaien, dem Heimatland der Lykanthropen wäre sie wahrscheinlich eine wahrhaft große Kriegerin geworden.

Sie strich sich über die strenge Frisur, aus der sich mehrere Strähnen gelöst hatten. „Wir sollten keine Zeit mehr verlieren. Der Schichtwechsel beginnt bald und dann werden hier noch mehr Menschen rumlaufen. Wenn wir … Pascal!“, pflaumte sie den jungen Magier an, der sich gerade intensiv mit der Mechanik eines Schusses auseinandersetzte und damit auf einen imaginären Feind zielte. „Hör auf mit dem Ding rumzufummeln und gib es her.“ Mit zwei Schritten war sie bei ihm und hatte ihm den Schuss weggenommen. „Das ist doch kein Spielzeug!“

„Ich wollte es mir doch nur mal ansehen.“

„Gott, manchmal kann ich gar nicht glauben, dass du schon neunzehn bist.“

„Hey!“

„Mach dich lieber ein wenig nützlich. Aman, pack die Soldaten bitte in den Wagen und Pascal?“

„Ja?“

„Ich glaube es ist an der Zeit, Johns Vorschlag doch zu beherzigen. Bitte stör den Empfang der Überwachungskameras.“ Sie hob den Finger mahnend vor seine Nase. „Aber so, dass es niemand bemerkt.“

 

°°°

 

Von nahem sah das kleine, flache Gebäude aus weißem Stein nicht nur kalt und herzlos aus. Es besaß auch eine eigenartige Atmosphäre, die nicht gerade dazu einlud, es zu betreten.

„Da“, sagte Destina. „Drück seinen Daumen da drauf. Linke Hand.“

Luan tat wie ihm geheißen, nahm die Hand von dem Kriegergeneral, der nun von Aman festgehalten wurde und drückte seinen Daumen auf das kleine, flache Feld in der Wand. Es leuchtete auf, surrte und dann kam da grünes Licht aus der Wand.

Die kleine, dicke Karte, die Destina dem Kriegergeneral eben abgenommen hatte, wurde von ihr durch den Schlitz eines kleines Kästchens gezogen und daneben tippte sie auf Symbole, bis es ein durchdringendes Piepen gab, das mir in den Ohren schmerzte.

„Los“, sagte Destina, hob den Schuss und drückte die Tür auf. Ein Windhauch streifte mich, als Luan mit einer fürs Auge kaum zu erkennbaren Geschwindigkeit hineinstürmte. General Silvano Winston wurde hinterher geschoben, immer mit dem Messer an der Kehle.

„Tut nichts unüberlegtes“, wies Destina mich noch an und folgte dann. „Wenn ich einen Moment um ihre allgemeine Aufmerksamkeit bitten dürfte“, rief sie schon, bevor wie alle drinnen waren.

Ich beeilte mich hinterher zu kommen, wobei mich die extra Ermahnung schon ärgerte. Warum hatte sie das nicht zu Aman gesagt? Oder zu Acco, der auch einfach hineingestürmt war? Ich war doch wohl erwachsener als Pascal! Das war eine Unverschämtheit!

Halte deinen Geist zusammen, mahnte ich mich selber und durchschritt mit Pascal hastig die Tür. Konzentrier dich.

Der Geruch der mir sofort in die Nase stieg, war … scharf. Anders konnte ich es nicht beschreiben. Ein beißender Geruch, der in die Schleimhäute stach, als solle er etwas überdecken. Die Atmosphäre war entseelt, unangenehm. Steril. Weiße Regalreihen an den Seiten, mit allerlei unbekannter Gerätschaften darauf. Metallisch, kalt. Tische aus gehärtetem Eisen. Unpersönlich.

Die linke Seite war eine einzige Glasscheibe, abgeteilt in vier Zellen. Glaszellen, in denen nichts weiter als einzelne Matratzen lagen, keine Einrichtung. Die Front des Raumes wurde von einem großen, eisernen Schrank eingenommen, der seltsam dicke Türen hatte, hinter denen nur kleine Fächer verborgen sein konnten.

Destina ließ ihren Blick wachsam über die anwesenden Menschen gleiten. Acht Personen in diesen mintgrünen Anzügen, einer mit einem weißen Kittel und drei grüne Krieger. „Ich bitte die Herrschaften Ruhe zu bewahren, die Hände zu erheben und keine unnötigen Bewegungen zu machen, dann wird ihnen nichts passieren. Wir sind nicht hier, um jemanden zu schaden, wir möchten nur etwas holen, was meiner lieben Bekannten gehört.“

Völlig sachlich erklärte sie das, doch der Blick und der erhobene Schuss waren eine eindeutige Warnung. Destina meinte das völlig ernst und würde notfalls auch zu anderen Maßnahmen greifen, wenn sie es für nötig erachtete.

Nur sehr langsam und äußerst verwirrt wurden die Hände in die Luft gehoben. Die Augen flogen dabei zwischen den Schüssen in Destinas und Luans Hand und dem Kriegergeneral mit dem Messer an der Kehle hin und her. Selbst die grünen Krieger wagten es nicht, einzugreifen, nicht, wo wir doch ihren Oberkrieger in unserer Gewalt hatten. Nervosität, Angst und Verwirrung lag wie ein beißender Geruch in der Luft.

Und da war er, Kaio. Viel dünner als bei unserer letzten Begegnung, kränklich, schwach. In der letzten Zelle lag er in der hintersten Ecke und schien gar nicht zu bemerken, dass ich gekommen war. Er schien um sich herum überhaupt nichts wahrzunehmen. Oh Göttin, was hatten sie bloß mit ihm gemacht? Und wo, zur Sachmet, war Gillette? Ich konnte ihn nicht entdecken.

„Ich werde nicht noch mal darum bitten“, sagte Destina zu dem Mann in dem weißen Kittel, der seine Hände um die Tischkante geklammert hatte, nicht gewillt, der Aufforderung nachzukommen. Plötzlich stieß er sich ab, rannte zu einem eingelassenen, roten Kästchen in der Wand. Es sah aus, als wenn er es schlagen wollte, doch bevor er dazu die Chance hatte, schleuderte Destina eine Kugel aus ihrem Schuss, die knapp neben dem Mann in der Wand einschlug.

Jemand schrie und eine Frau ging hinter einem der Tische ängstlich in Deckung.

Zeitgleich wollte ein grüner Krieger die Unruhe ausnutzen, doch bevor er seinen Schuss aus dem Gürtel ziehen konnte, war Luan schon zur Stelle und hielt ihm seine Waffe an den Kopf.

Destina schnalzte missbilligend. „Ich glaube, ich habe mich nicht deutlich ausgedrückt.“

Knurrend schlich Acco an den Schränken entlang, auf den Mann in dem weißen Kittel, der hastig von dem roten Kästchen zurückwich, während ich mich zu den Glaszellen vorschob.

„So ist es gut“, grollte der Sermo. „Immer schon auf die nette Dame hören.“

„Pascal, sei bitte so nett, den Herren die Waffen abzunehmen und die Herren möchte ich fairerweise warnen, keine falschen Bewegungen zu machen.“ Sie hob den Schuss drohend höher und richtete ihn auf den Mann, der Pascal am nächsten war. „Wer meinem Enkel auch nur ein Haar krümmt, wird den kommenden Tag nicht mehr erleben.“

„Also ehrlich, Gran, ich entdecke gerade Seiten an dir, die es mich bereuen lassen, immer deine frischen Plätzchen stibitzt zu haben.“

Destina nahm das wohl zur Kenntnis, achtete aber nicht weiter darauf, sondern richtete den Blick nachdenklich auf die Glaszellen. „Ich denke, es wäre wohl das Sinnvollste, meine Damen und Herren, wenn sie alle dort hineingehen.“

Keiner bewegte sich, nur ein paar Blicke gingen hilflos zum Kriegergeneral.

Ich wusste nicht was Aman daraufhin mit ihm machte, es war nur eine kurze Bewegung, vorborgen hinter dem Rücken des Generals, aber nur einen Moment später stieß der Mann ein einen schmerzvollen Laut aus und atmete hektisch ein und aus. Er hatte kein Wort mehr verloren, seit Destina in seinen Kopf eingedrungen war. Bis jetzt. „Tut was sie sagt“, quetschte er angestrengt zwischen zusammengebissenen Zähnen aus. „Geht in die Zelle.“

Ich sah hinüber zu Aman. Völlig ungerührt erwiderte er meinen Blick.

Nur langsam kam Bewegung in die Menschen. Zögernd traten sie einer nach dem anderen an die mittlere Zelle, die von einer kleinen Frau im mintgrünen Anzug durch eine weitere dieser dicken, kleinen Karten geöffnet wurde. Das war … wie Magie. Wie machten die Menschen das nur?

Pascal hatte bereits alle Waffen eingesammelt und spielte damit rum, bis Luan sie ihm wegnahm. Das war wirklich nicht zu glauben.

„Ein bisschen schneller, wenn ich bitten darf.“ Destina war völlig erbarmungslos.

Auch der Kriegergeneral wurde von Aman in die Zelle hineingestoßen. Die Menschen fingen ihn auf, bevor er auf den Boden fallen konnte und dann, bevor die letzte Frau die Zelle betreten konnte, schlug Destina die Tür zu und richtete die Waffe genau auf ihren Kopf.

Sie wimmerte und machte einen Schritt zurück, doch da stand Aman.

„Sie“, sagte Destina, „sind sicher so nett und lassen unsere Freunde heraus.“

„Freunde?“, winselte sie.

„Gillette und Kaio, meine Amicus!“, rief ich und schlug gegen das Glas von Kaios Zelle. Das ließ ihn endlich den Kopf heben. Aus trüben Augen blinzelte er mich an und schien nicht recht annehmen zu können, was er hier sah. Nur sehr langsam erhob er sich, kam aber nicht zu mir ans Glas, als glaubte er noch immer, dass seine Augen ihm nur einen Streich speilten.

„Hier ist nur Kaio!“, fügte ich noch hinzu.

Pascal runzelte die Stirn. „Und die anderen Zellen sind leer.“ Sein Blick fiel auf die Menschen. „So mehr oder weniger.“

Destina Augen verengten sich leicht. „Wo ist der andere?“

„Der andere?“, fragte sie und wirkte so, als würde sie jeden Moment umkippen, weil sie den Stress nicht vertrug.

„Der Krieger“, sagte Aman. „Der junge Mann, der zu diesem Sermo gehört. Sie kamen doch sicher zusammen hier her.“

„Der … der Mann …“ Sie leckte sich nervös über die Lippen. „Er war krank.“

„Das wissen wir“, kam es leise und sehr drohend von Aman.

Ich stand vor Kaios Zelle, sah das Geleit meines Amicus, aber von ihm war weit und breit keine Spur zu finden. Hatten sie ihn wieder weggebracht? Waren wir wieder zu spät? „Wo ist er?!“, schrie ich die Frau an. „Wo habt ihr ihn jetzt wieder hingebracht? Wo ist Gillette?“

Ein Zögern, ein hilfloser Blick, völlige Überforderung. Dann, sehr langsam hob die Frau die Hand und zeigte zur Front des Raumes.

 

°°°°°

Kapitel Neunundzwanzig

Ich verstand nicht was sie mir sagen wollte. „Ist er in dem silbernen Schrank?

„In der Kühlzelle“, sagte sie tonlos.

„Oh Scheiße“, kam es da von Pascal.

Sein Ton machte mich nervös, genau wie das plötzlich sehr blasse Gesicht von Luan. „Was ist das, eine Kühlzelle?“

„Das … Lilith, ich …“ Luan fuhr sich rastlos durch die Haare und sah hinüber zu Destina, die langsam den Schuss sinken ließ, als sei er zu schwer. Doch sie blieb stumm.

Zelle. Kühlzelle. Sollte das bedeuten, dass Gillette in einem dieser kleinen Fächer war? Aber da passte er doch gar nicht rein, oder? Nein, das ging nicht, dafür war er einfach viel zu groß.

Mit einem unguten Gefühl trat ich langsam auf den Schrank zu. Keiner hielt mich auf. Die kleinen Türen wirkten eisig, matt, unberührt. Eine seltsame Kälte machte sich in mir breit, als ich meine Hand an den linken Griff legte, die einzige Tür, die mit einem kleinen, weißen Schildchen versehen war. Es war wie ein innerer Zwang, genau dieses Türchen zu wählen, ein Instinkt, der mich wissen ließ, dass ich hier genau richtig war und auch, wenn sich die Kälte des Metalls in meiner Hand langsam in mir breit machte und versuchte, meine Bewegungen zu lähmen, so konnte ich gar nicht anders, als die Klinke zu ziehen.

Mit einem flopp gab die Tür nach und entließ einen Schwall kalte Luft. Ich musste mich beinahe dazu zwingen sie ganz aufzuziehen. Lautlos schwang sie mir entgegen. Darin war ein Tuch, das etwas abdeckte.

„Du musst den Griff benutzen, um ihn rauszuziehen“, sagte die Menschenfrau.

Ich warf ihr über die Schulter einen Blick zu, erkannte dann den länglichen Griff, der von dem weißen Tuch halb verdeckt wurde.

„Nein, Lilith“, sagte Luan da plötzlich. „Tu es nicht.“

Ich hörte nicht auf ihn, zögerte zwar noch einen Moment, zog dann jedoch entschlossen und war überrascht, dass sich eine lange Barre aus dem schmalen Fach ziehen ließ. Ganz leicht ging es und jetzt erkannte ich auch was da unter dem weißen Tuch verborgen war. Es waren nur die Umrisse eines humanen Körpers, der mich erahnen ließ, was mich darunter erwartete und doch konnte ich es nicht glauben, ehe ich es mit eigenen Augen gesehen hatte.

Das durfte nicht sein. Oh Göttin, bitte. Bitte mach dass ich mich irre, bitte mach, dass er nicht dort liegt. Ich flehe dich an, das darf nicht sein. Bitte.

Meine Hände zitterten, als ich langsam nach dem Tuch griff. Es kostete mich all meine Überwindung es von dem Körper zu ziehen. Tu es einfach! Mit einem Ruck riss ich es weg und achtete gar nicht darauf, als es bedächtig zu Boden flatterte. Mein Blick war von dem gefangen, was ich vor mir sah. Schwarze Haare, ein leicht vorstehende Kinn. Seine Haut wirkte blass, wässrig.

Ganz allein stand ich am Rand des großen Etappengebiets und sah den anderen Lehrlingen meiner Gruppe dabei zu, wie sie ihre erste Unterweisung erhielten. Ich wusste nicht genau, was ich tun sollte. Mit meinem Fafa war das nie ein Problem gewesen, aber hier war alles so anders. Die vielen Fremden, der Tempel. Warum nur hatte mein Brestern Unisum nicht noch ein wenig bleiben können? Ich verstand ja, dass er zuhause auf dem Hof gebraucht wurde, aber er hätte doch wenigstens noch bis heute Abend im Tempel bleiben können. Nur kurz, damit ich nicht ganz so allein war.

Fafa und Licco hatten versprochen, mich zu besuchen, aber die waren auch noch nicht hier. Nicht mal meine Hausgenossen hatte ich bisher kennengelernt. Ich war zu spät gekommen, sodass mir nur schnell meine Ausrüstung gegeben wurde, um mich dann auf diesen Platz zu den anderen zu schicken.

Ich kannte hier niemanden und alles war so fremd.

Der Magister zeigte eine Stellung vor, die alle anderen nachmachten. Hinter mir wurde ein Kampfruf laut. Andere Lehrlinge, eine Gruppe der Älteren. Was sie taten sah ganz anders aus als das, was meine Gruppe tun musste. Natürlich sah es anders aus, sie waren in ihrer Ausbildung ja auch schon weiter. Sie wussten, was sie zu tun hatten.

„Hast du dich verlaufen?“

Erschrocken wirbelte ich herum und sah in das Gesicht eines Jungen. Er war älter als ich. Sein Kinn stand leicht hervor, die Haut war gebräunt und staubig vom Sand der Übungsplätze, genau wie der lederne Lendenschurz, den alle Lehrlinge zum Training trugen. Leopard, sagte mir meine Nase, als er mich von oben bis unten musterte.

„Weißt du nicht wohin?“ Seine gelben Augen funkelten freundlich und schienen zu lächeln, während ich ihn einfach nur wortlos anstarren konnte. Würden mich Cuver und Migin jetzt sehen, sie würden sich vor Lachen den Bauch halten.

„Kannst du nicht sprechen?“

Wie ich hier stand, so stumm, musste wirklich lächerlich wirken. Kein Wunder, dass er eine solche Frage stellte. Ich straffte die Schultern. „Doch, natürlich ich kann sprechen. Ich bin Lilith und nein, ich habe mich nicht verlaufen.“

„Dann weißt du also, wo du hin musst?“

Ich zeigte auf die Gruppe mit den neuen Novizen.

Er verzog leicht das Gesicht. „Dann solltest du dich lieber beeilen. Magister Damonda mag es gar nicht, wenn man ihren Unterricht verpasst. Übrigens“, – er hielt mir die Hand hin – „ich bin Gillette.“

Das war meine erste Begegnung mit ihm gewesen, damals, als ich gerade erst in den Tempel gekommen war. Er hatte mich sogar noch persönlich zu Magister Damonda gebracht, um zu erklären, warum ich so spät dran war – nicht, dass das etwas genützt hatte, aber er hatte es wenigstens versucht.

Nervös knetete er die Hände im Schoss. Ich verstand nicht was er hatte, er war älter als ich, also warum führte er sich so auf? „Sagst du mir nun, warum du mit mir sprechen wolltest, oder soll ich raten?“, fragte ich etwas ungehalten.

Verlegen schüttelte er den Kopf, sagte aber noch immer nichts.

Ich ließ mich langsam zurück ins Gras des kleinen Hügels neben dem Tempel sinken. Ich hatte diesen Platz kurz nach meiner Ankunft hier entdeckt und verbrachte fast täglich etwas Zeit hier, um mich von der Tagesarbeit zu entspannen. Das war nun schon fast zwei Jahre her. An manchen Tagen verging die Zeit viel zu schnell und an anderen fragte ich mich, wie lange ich noch hier bleiben musste, bis mein Fafa und Licco kamen, um mich zu holen, damit ich an ihrer Seite als Kriegerin das Land bereisen konnte. Natürlich fehlte mir dazu noch ein Sermo, aber auch den würde ich bekommen.

Als Gillette weiter schweigend neben saß und weiter mit den Händen in seinem Schoß rang, erbarmte ich mich. „Es geht um Anima.“

Ertappt riss er die Augen auf. Sein Mund öffnete sich, aber kein Ton kam heraus.

„Ich weiß, dass du sie magst“, sagte ich leise. „Und auch, dass ihr viel Zeit zusammen verbringt.“ Mehr noch, als es auf seinem Posten erforderlich war. Noch wurde Anima von einer erfahrenden Kriegerin geschützt, die auch Gillette in seiner Ausbildung unterstützte, doch bald müsste er allein auf sie aufpassen. Ob diese Geistrede ihn ängstigte? „Hast du Angst davor, ihrer nicht gerecht zu werden? Sie nicht schützen zu können?“

„Nein“, sagte er fest und sah hinunter auf die Wiese, wo sich ein paar Lehrlinge versammelt hatten, um unter der Aufsicht von Magister Lapal die ersten Sättel ihrer Sermos zu fertigen. „Ich würde mein Leben für sie geben und das nicht nur, weil ich ihr Wächter bin.“

Ich lächelte leicht vor mich hin. „Dann sag ihr doch genau das.“ Meine Augen suchten seinen Blick. „Nim spricht viel über dich, doch sie weiß nicht, wie du zu ihr stehst. In dem einen Moment bist du offen und herzlich, so wie zu mir und im nächsten distanzierst du dich von ihr. Das verunsichert sie.“

„Es ist meine Pflicht, ich …“

„Du liebst sie.“ Ich schloss die Augen und genoss die untergehende Sonne, die meinen Körper wärmte. „Geh zu ihr und sag ihr das. Ich bezweifle, dass sie dich abweisen wird.“

Unten auf der Wiese lachten die Lehrlinge. Der Klang wurde bis hinauf zu uns getragen. Vielleicht hörten sogar die Götter sie.

„Danke“, sagte Gillette leise.

Aber er war nicht zu ihr gegangen, jedenfalls nicht gleich. Er hatte noch Wochen und ein Dutzend weiterer Gespräche mit mir gebraucht, bis ich ihn überzeugt hatte, endlich mit ihr zu sprechen. Er hatte einfach nicht glauben können, dass sie ähnlich fühlte.

„Warum guckst du so verdrießlich?“, fragte ich und ließ mich neben Gillette auf den Boden der Messe gleiten. Dabei achtete ich sorgsam darauf, dass Sian in meinen Armen weiterschlafen konnte. Er fing an zu zahnen und hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Dabei war Schlaf für ein so kleines Wesen doch so wichtig.

„Deswegen“, sagte Gillette und zeigte auf einen Jungen zwei Reihen vor uns mit dunklen Rosetten im Haar. Er sprach mit einem etwas älteren Mädchen, zeigte ihr etwas in seiner Hand, woraufhin diese kreischend aufsprang und ihn dann wüst beschimpfte.

„Er muss neu sein, ich  habe ihn noch nie gesehen.“ Ich sah zu Gillette. „Kennst du ihn?“

Das Kopfnicken fiel eher mürrisch aus. „Er ist mein kleiner Brestern. Erst heute Morgen angekommen und schon macht er Ärger.“

„Ärger?“

„Jaron ist ein Unruhestifter.“ Gillette seufzte schwer. „Schon in seiner ersten Unterweisung hat er Ärger bekommen, weil er anstatt Magister Damondas Unterricht zu folgen ein Schläfchen gehalten hat.“

„Ein Schläfchen?“ War das sein ernst? Na der traute sich aber was.

„Ja, ein Schläfchen. Er sagte, dass die Anreise so anstrengend war, dass er sich erst einmal ausruhen müsste.“ Mit einem Stöhnen ließ er seinen Kopf in die Hände sinken. „Nim ist gerade bei Priesterin Tia, um für ihn ein gutes Wort einzulegen und er hat nichts Besseres zu tun, als schon wieder Ärger zu machen.“

Da musste ich ihm leider zustimmen. Aus der Verärgerung des Mädchens schien er sich nichts zu machen. Stattdessen lachte er nur.

„Hast du mal mit ihm geredet?“

„Ja, aber wie du siehst, bringt das nichts. Jaron hat seinen eigenen Kopf, er lässt sich von niemanden etwas sagen.“

Na, das wollten wir doch mal sehen. Ich zog meinen Dolch, zielte und warf. Vielleicht war ich eine der schlechtesten Lehrlinge des ganzen Tempels, aber zielgenau werfen, dass hatte ich schon immer gekonnte.

Wie von mir beabsichtig surrte der Dolch durch die Halle, vorbei an Tischen und Köpfen und landete zielgenau vor Jarons Füßen, wo er vibrierend im Boden stecken blieb. Jaron war nicht der Einzige, der überrascht einen Satz zurück machte und sich nach dem Verursacher umsah.

„He, warst du schon immer so dumm, oder hast du dafür auch noch etwas tun müssen?“, fragte ich ganz direkt, um ihn auf mich aufmerksam zu machen. „Und bring mir den Dolch wieder, ich hab davon nicht so viele.“

Bei dem Gesicht, das er machte, nicht loszulachen, fiel mir nicht leicht, doch die Selbstgefälligkeit, die die Überraschung ablöste, wollte mir so gar nicht gefallen. Er zog den Dolch aus dem Boden und schlenderte dann zu uns, wo er sich gelassen seinem Brestern gegenüber setzte, bevor er mir meinen Dolch reichte. „Zeigst du mir, wie man so wirft?“

„Warum sollte ich einem Steinkopf wie dir etwas zeigen?“

Jaron sah etwas verdutzt zu seinem Brestern und dann wieder zu mir. „Weil ich dich darum bitte?“

„Solange du Gillette Ärger machst, zeige ich dir höchstens, wie gut ich damit nach dir werfen kann. Und glaub mir, das nächste Mal treffe ich da wo es wehtut.“

Jaron blinzelte. Einmal, zweimal, doch sein Mund blieb geschlossen.

Neben mir gab Gillette ein ersticktes Geräusch von sich und fing dann lauthals an zu lachen, so herzlich, wie ich ihn selten gehört hatte.

Und so war es dann auch geschehen. Ich hatte mehr als einmal meinen Dolch nach ihm geworfen und seine Bitte, es ihm auch beizubringen, abgeschlagen. Erst als Gillette mir versichert hatte, dass sein Betragen sich besserte, gab ich nach. Naja, zumindest insoweit, dass ich ihm erklärte, er müsste seinen Brestern nach zusätzlichem Unterweisungen fragen, weil er es war, der es mir beigebracht hatte. Ja, Gillette hatte mir gezeigt, wie ich mit einem Dolch umzugehen hatte.

„Und dann versetzte er mir einen Tritt gegen die Hüfte“, regte sich Anima auf. „Verstehst du? Der Kampf war bereits zu Ende, aber Rochan war ja schon immer ein schlechter Verlierer gewesen.“

„Er wurde ja abgemahnt“, tröstete Gillette sein Herz und drückte sie ein wenig fester an seine Brust.

„Ja, aber es tut trotzdem noch weh“, beschwerte sie sich weinerlich.

„Du hast es doch überlebt“, kam es da von Jaron. „Also reg dich nicht so gekünstelt auf.“

„Misch dich da nicht ein!“, fauchte sie ihn an.

Ich lächelte still vor mich hin und lauschte Sians Schnurren.

Es war schon lange dunkel, aber wir hatten alle nicht schlafen können und uns deswegen ins weiche Gras auf dem kleinen Hügel neben dem Tempel gelegt, um noch ein wenig beisammen zu sein. Normalerweise würden die Magister das nicht dulden. Die Sperrzeit war bereits vorbei, aber morgen war Schöpfungstag, der erste in Sians Leben und da sahen sie ausnahmsweise über die Regeln hinweg. Schon den ganzen Tag war die Freude auf das morgige Ereignis wie eine Vibration in der Luft zu spüren gewesen. Viele waren zu ihren Familien nach Hause gefahren, um dieses Fest mit ihnen zu feiern. Wir vier nicht. Unsere Familien lebten zu weit weg, als dass es sich lohnen würde, den Tempel für einen Tag zu verlassen.

Ich streckte die Hand nach Sian aus, um sein weiches Fell zu berühren und beobachtete dabei, wie Anima über Gillette hinweg nach Jaron schlug. Eno und Kaio hatten sich in dem Baum über uns niedergelassen und dösten so vor sich hin, während Mochica nicht verstand, dass für sie eigentlich schon lange Schlafenzeit war und stattdessen lieber nach Grashalmen schlug.

„He, das tut doch weh“, beschwerte sich Jaron und rutschte näher an mich heran. Ich spürte die Wärme seines Körpers an meinen und fragte mich, ob ich auch jemals so etwas wie Gillette und Anima haben würde. Diese Vertrautheit, dieses Verständnis.

Ich wandte mein Gesicht Jaron zu, der mich spitzbübisch anlächelte.

„Beschützt du mich vor dieser Kratzbürste?“

„Pass auf, wen du hier als Kratzbürste bezeichnest, sonst kannst du was erleben!“, drohte Anima.

„Ja ja, aber sicher doch. Selbst, wenn du es versuchen würdest, müsstest du mich dazu erst mal bekommen, aber da ich doch leider viel zu schnell für dich bin …“ – er räkelte sich ganz genüsslich neben mir und streckte die Arme über sich aus – „wird das von dir wohl nur ein Wunsch bleiben, Kratzbürste.“

„Das hast du nicht umsonst gesagt“, wütete Anima und sprang über Gillette hinweg, doch bevor sie Jaron erwischen konnte, was der schon auf den Beinen und mehrere Meter entfernt.

„Zu langsam“, verhöhnte er sie und gab damit den Start zu einer wilden Verfolgungsjagd, in der Anima ihn über den Hügel jagte, während er sie dabei verspottete. Als sie dann an Mochica vorbei kamen, war die Kleine so begeistert von dem Spiel, dass sie von ihrem Grashalm abließ und sich den beiden anschloss. Zwar waren ihre kleinen Beinchen nicht so schnell wie die von meinen Amicus, aber das hieß nicht, dass sie sich nicht alle Mühe gab, ihnen hinterher zu kommen.

In diesem Moment wurde mir eines deutlich klar: Vielleicht würde ich eines Tages mal jemanden mein Herz nennen, aber sicher nicht Jaron, diesem Kindskopf – da blieb ich doch lieber allein. Anima würde ihre Verkupplungsversuche zwischen ihm und mir wohl aufgeben müssen.

Gillette seufzte schwer und richtete sich halb auf, um die beiden im Auge behalten zu können.

„Was hast du?“, wollte ich wissen.

„Ich verstehe nicht, warum er sie immer ärgern muss. Er weiß doch, dass sie sich dann nur aufregt.“

„Wenn Jaron jemanden gegen sich aufbringt, dann nur, weil er sich seiner Aufmerksamkeit bemächtigen will. So ist er halt.“ Das hatte ich schon vor langer Zeit gelernt. Dies war Jarons Art auf sich aufmerksam zu machen. Deswegen hatte er auch am Anfang so viele Probleme bereitet. Wo ich still blieb, wenn ich unsicher war, machte er Lärm.

„Also deswegen versucht er immer, dich zu ärgern“, überlegte er laut und lächelte leicht.

Dafür bekam er einen bösen Blick. „Dies ist nicht amüsant, nur damit du es weißt.“

„Vielleicht aus deiner Sicht, ich dagegen … he!“, unterbrach er sich, als ich ein Büschel Gras am Kopf traf.

„Nicht amüsant“, wiederholte ich.

Gillette sah dabei zu, wie Jaron fast über Mochica fiel, als er versuchte, Anima auszuweichen. Er hatte Mühe, ihr zu entwischen, schaffte es aber wie immer. „Weißt du, Jaron mag dich wirklich.“

„Er mag auch ausschlafen und trotzdem ist ihm das hier verwehrt.“ Ich wandte mich ihm zu. „Versteh mich nicht falsch, ich mag Jaron, er ist schon in Ordnung, doch er ist mir einfach zu … zu …“ Ich wedelte mit der Hand in der Luft, während ich das richtige Wort suchte.

„Zu kindisch?“, bot er an.

Das war zwar nicht ganz das, wonach ich gesucht hatte, aber ich ließ es einfach mal so stehen. „Wenn ich einmal mein Herz vergebe, dann nur an jemanden, der mich versteht.“ Nicht an so einen Steinkopf, der alles ins Lächerliche ziehen musste.

Gillette beugte sich zu mir rüber und legte mir eine Hand auf den Arm. „Sorg dich nicht, Lilith, auch du wirst dein Herz noch finden, auch wenn es nicht Jaron ist.“

„So, meinst du?“ Manchmal war ich mir da gar nicht so sicher, nicht, wenn ich die Auswahl hier im Tempel sah.

„Ja, ich bin mir sicher.“ Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen legte er sich wieder zurück ins Gras. „Und wer weiß, vielleicht wirst du ihm schon morgen begegnen.“

Das war der letzte Tag an dem wir in Frieden zusammen gewesen waren. Danach war alles anders geworden.

Alles.

Es musste erst so etwas geschehen, damit ich selbst diese unbedeutenden Momente zu schätzen lernte. Diese kleinen Gespräche, die wir zu hunderten geführt hatten und denen ich selten Bedeutung beigemessen hatte. Es war nichts weiter gewesen, wir hatten nur nach Sonnenuntergang auf dem kleinen Hügel gelegen und herumgealbert. Völlig belanglos. Doch jetzt würde ich alles dafür geben, um das noch einmal erleben zu dürfen. Alle zusammen. Auch Gillette.

All diese Momente und Erinnerungen füllten meinen Kopf, als ich ihn dort vor mir liegen sah. „Nein“, flüsterte ich. Meine Hand bewegte sich wie von selbst an seine Wange. Die Haut war kalt, kraftlos. „Oh Göttin, nein, bitte nicht.“

„Lilith.“

Ich hörte Aman kaum, spürte seine Hand auf meinem Arm, als gehörte er jemand anders. Ich konnte es nicht glauben, wollte es nicht glauben, obwohl ich es direkt vor mir sah. Aber es gab keinen Zweifel, Gillette war tot. Er atmete nicht mehr. Er war fort, für immer.

Fort.

Ein dicker Kloß bildete sich in meinen Hals und machte mir das Atmen schwer. Ich war zu spät. Gillette war zurück in die Mächte gegangen und ich hatte nichts dagegen tun könne, weil ich zu spät gekommen war. Wie bei Naaru.

Auch wenn ich wusste, dass es nutzlos war, fasste ich nach seiner Schulter und rüttelte ihn daran. „Gillette“, flüsterte ich mit erstickter Stimme. „Gillette, wach auf. Bitte, mach die Augen auf.“ Als er nicht reagierte, wurde ich energischer. Er musste aufwachen. Ich hatte ihn endlich gefunden, da musste er einfach aufwachen. Oh Göttin, bitte. „Bitte, öffne deine Augen, damit wir gehen können.“

„Lilith, er wird die Augen nicht mehr aufwachen.“

Ich ignorierte Aman. Was wusste er schon. „Bitte, wir müssen gehen. Wir kennen den Weg nach Hause. Du musst nur aufstehen.“ Meine Augen brannten, doch ich wollte nicht weinen und verfluchte die Träne, die sich da einen Weg aus meinem Auge bahnte.

„Lilith.“

„Steh auf, dann gehen wir nach Hause“, flehte ich verzweifelt und war kurz sogar versucht ihn zu kneifen, nur um endlich eine Reaktion von ihm zu bekommen. „Bitte.“

„Er ist tot, kleine Kriegerin.“

„Nein.“ Das durfte nicht sein. Er durfte nicht tot sein, das verbot ich.

„Doch, Wir können nichts mehr für ihn tun.“

„Nein, nein, nein, nein!“

„Lilith, wir müssen …“

„Nein!“ Ich schlug seine Hand von meinem Arm und stieß ihn von mir, sodass er einen Schritt zurücktaumelte. „Ich hasse dich, das ist deine Schuld! Allein deine!“

Amans Augen weiteten sich ungläubig, bevor er sie wieder zusammenkniff. „Du weißt nicht was du da redest, du …“

„Das weiß ich sehr wohl!“, schrie ich ihn an. Meine Stimme überschlug sich fast. Gillette war tot, er war weg und würde nie wieder kommen und daran war allein Aman schuld! „Ich hab auf dich gehört!“ Wieder schlug ich ihm gegen die Brust. „Ich wollte gleich gehen, aber du hast mich aufgehalten!“ Und noch ein Schlag. „Du hast gesagt, wir brauchen erst einen Plan!“ Und noch einer. „Wir müssen unseren Kopf benutzen!“ Und noch einer. „Wir dürfen nicht blind losrennen!“ Und noch einer. „Du hast gesagt, du bist der Krieger und wüsstest es besser!“ Und noch einer. „Ich bin zu nichts zu gebrauchen, das hast du gesagt!“ Und noch einer. „Nur ein nutzloses Kind!“ Und noch einer. „Dabei bist du es, der zu nichts zu gebrauchen ist.“ Und noch einer. „Du bist schuld!“ Und dann kamen die Tränen. „Wegen dir ist Gillette tot!“

Er stand einfach nur da als, ich weiter auf ihn eintrommelte.

„Nur deinetwegen, weil du mich aufgehalten hast!“ Meine Hände krallten sich in seinen Pullover, als meine Beine unter mir nachgaben und ich in die Knie ging. „Du bist schuld, du hast mich aufgehalten.“ Ich drückte mein Gesicht gegen seinen Bauch. Die Tränen wollten sich nicht aufhalten lassen. Wurden immer mehr, als mir klar wurde, was das bedeutete. Gillette würde nie mehr mit mir lachen, würde nie mehr Lächeln. Und Anima, was sollte ich ihr sagen? Ich hatte ihr versprochen ihr Gillette wieder zu bringen. „Du bist schuld an seinem Tod“, weinte ich in den Stoff. Nur weil er mich aufgehalten hatte, würde Gillette nun nie wieder den Morgen begrüßen, oder mit seinen Amicus herumalbern. Er würde nie wieder sein Herz in die Arme schließen können und das alles nur, weil ich auf Aman gehört hatte.

Warum nur war ich nicht ohne ihn losgezogen? Warum hatte ich mich von seinen Worten so beeindrucken lassen? Wäre ich gleich gegangen, hätte ich ihn sicher noch im Haus der grünen Krieger gefunden. Ich hätte ihn befreien können, wäre nicht zu spät gekommen, wenn ich nur auf mein Herz gehört hätte, wenn ich nur den Willen bewiesen hätte. Aber jetzt war Gillette zurück in die Macht gefahren und würde nie wieder bei uns weilen. „Nur du allein.“

Aman stand einfach nur da und ließ sowohl die Schläge, als auch die Anschuldigungen regungslos über sich ergehen. Er hatte sein Gesicht gesenkt. Die Haare verdeckten seine Augen und die Hände waren zu Fäusten geballt. „Es tut mir leid“, sagte er schwach. „Es tut mir leid.“

Danach herrschte eine düstere Stille, in der nur mein Schluchzen zu hören war. Gillette war weg, nicht mehr da.

„Lilith“, sagte Luan vorsichtig. Ich konnte ihn neben mir spüren. „Wir müssen gehen.“

Ich bewegte mich nicht, krallte mich nur noch fester in den Stoff. Warum sollte ich gehen? Wohin? Ich konnte Anima nicht mehr unter die Augen treten. Ich hatte ein zweites Mal versagt. Wieder war jemand gestorben und ich kam zu spät. Ich hatte es nicht verhindern können.

„Bitte, Lilith.“ Luan hockte sich neben mich und legte zögernd eine Hand auf meine Schulter. „Wir müssen zum Portal. Occino muss zurück in die Heimat. Ich weiß es ist schwer, aber das darfst du nicht vergessen.“

Occino, Anima. Das konnte ich nicht. Wie sollte ich ihr jetzt noch unter die Augen treten? 

„Verdammt, was …“, sagte da plötzlich Pascal.

„Ah!“

„Scheiße!“

Alarmiert erhob Luan sich und besah sich das kleine Gerangel, was Pascal mit der Frau hatte, bis Destina an die beiden herantrat und die Frau von hinten niederschlug. „Was ist los?“

„Hier, unter dem Schreibtisch ist ein Knopf, ich glaube das ist ein Alarmknopf. Die Tussi hat ihn gedrückt!“

Ich nahm mein Gesicht nicht von Amans Bauch, drückte es nur noch fester dagegen und wehrte mich auch nicht gegen die Berührung auf meinem Haar.

„Es tut mir so leid“, sagte Aman so leise, dass nur ich es hören konnte. „Das habe ich nicht gewollt, das musst du mir glauben.“

Ob ich ihm nun glaubte oder nicht, es änderte nichts. Gillette war und blieb tot.

„Du hast recht“, hörte ich Luan sagen. „Das war ein stiller Alarm. Holt endlich den Sermo aus der Zelle und dann lasst uns hier verschwinden.“

Jemand lachte. Diese Stimme ging mir furch Mark und Bein. „Ihr könnt nicht entkommen“, sagte Kriegergeneral Silvano Winston. „Gleich werden meine Männer hier auftauchen und dann gibt es für euch kein Entkommen mehr.“

Diese Worte, diese Stimme, das machte mich so wütend. „Was glauben Sie, wer sie sind?!“, fauchte ich. Wie in Trance drehte ich mein Gesicht und sah in dieses hämische Lächeln, das seinen Mund umspielte. Nicht mal die Tatsache, dass er sich in einem Glaskäfig befand schien ihm einen zur Vernunft zu bringen. „Ich werde ihn …“

„Du wirst gar nichts“, unterbrach mich Destina. Ihre Hand lag auf dem Verschluss zu Kaios Käfig und glühte leicht rot.

„Er hat Gillette getötet!“, fauchte ich. Plötzlich war ich auf den Beinen und wischte mir wütend die Tränen aus dem Gesicht. „Ich werde ihn auch töten!“

Das Glas um Destinas Hand herum schien zu schmelzen. Dünne Rauchschwaden schwebten in die Luft und verteilten einen bestialischen Geruch. „Dafür haben wir jetzt keine Zeit, wir müssen hier weg. Luan, geh mit den anderen schon mal zum Wagen, ich komme gleich nach.“

Ich schüttelte energisch den Kopf. „Nein, ich werde …“

„Du wirst gehen!“, fuhr sie mich wütend an. „Du und Aman, ihr werdet beide gehen.“

„Kaio ist …“

„Du bist gerade nicht in der Lage etwas Sinnvolles zu tun, also geht. Luan, sorg dafür, dass John den Wagen startet. Ich mach den Rest allein und komme dann nach.“

Ich mach den Rest allein. Diese Worte, sie hatten irgendetwas Seltsames an sich. Der Ton in dem sie sie sprach. Was hatte sie nur vor?

„Komm.“ Eine Berührung am Arm ließ mich aufsehen, aber es war nicht Aman, der da seine Hand auf mich gelegt hatte, es war Pascal. Aman stand noch immer vor dem Metallschrank, die Hände geballt, den Blick leer auf die verlassene Hülle von Gillette gerichtet. „Wir müssen ihn mitnehmen“, flüsterte ich und richtete meinen Blick auf Luan. „Ich habe es Anima versprochen. Ich … ich kann ihn nicht zurücklassen.“

Blicke aus vielen betretenen Gesichtern fielen auf mich, doch keiner bewegte sich.

„Wir müssen ihn mitnehmen!“, wurde ich energischer und als sich wieder niemand bewegte, schüttelte ich Pascals Hand ab und machte mich selber daran, den toten Leib von meinem Amicus von der Barre zu hieven. Er war schwer und mir wurde sofort klar, dass ich ihn niemals allein würde heben können. „Bitte.“ Mein flehender Blick schweifte durch den Raum zu Luan, Pascal und Destina. Eine verspätete Träne löste sich aus meinem Augenwinkel. „Bitte“, flehte ich erneut, „ich kann ihn nicht hier lassen.“ Er gehörte nicht hier her. Er gehörte zu Anima, nach Silthrim und wenn ich schon sein Leben nicht hatte retten könne, so wollte ich doch wenigstens seinen Leib in die Heimat bringen. Er sollte nicht hierbleiben, nicht bei diesen Menschen, die so frevelhaft mit ihm umgingen.

„Lass mich das machen.“

Als ich aufblickte, sah ich direkt in Amans Augen. Sie waren verzweifelt, verletzt, schuldig. Dieser Blick sprach so viele Worte, so viele Worte der Verzweiflung. Aber auch, wenn er erkannte, was er da getan hatte, konnte ich ihm nicht verzeihen. Das war nie wieder gut zu machen. „Du hättest mich niemals aufhalten dürfen.“

„Ich weiß.“

„Du bist schuld.“

„Lilith“, setzte Luan an. „Es hilft nicht, wenn …“

„Nein!“, fauchte ich. „Er ist schuld und er weiß es auch!“

Aman drückte die Lippen fest aufeinander.

„Ich will nicht, dass du ihn anfasst“, sagte ich kalt. „Du bringst Unglück!“

Und das war wohl das erste Mal, dass ich ihn mit meinen Worten wirklich verletzte. Ich sah es in seinen Augen, sah das Entsetzen darin. Vineas Worte kamen mir wieder in den Sinn. Aman glaubt daran, er glaubt die Worte unserer Romina und egal wie oft ich ihm sage, dass es Unsinn ist, er lässt sich nicht umstimmen. Aman glaubt, dass wir das Unglück in uns tragen und allen, die mit uns in Berührung kommen, ebenfalls Unglück bringen. Heute Morgen noch hatte ich es als Unfug abgetan, doch jetzt sah ich es anders. Er brachte das Unglück und ich wollte nicht, dass er Gillette nur ein einziges Mal berührte.

„Geht jetzt!“, ordnete Destina an und riss die Tür zu dem Glaskäfig auf.

Acco war schon an der Tür, als Luan zu mir rannte und mich unsanft zur Seite schob. Er packte Gillettes Körper mit beiden Händen und trug ihn dann eilig an mir vorbei zur Tür hinaus. Ich wartete noch auf Kiao, schloss in ihn den Arm, kaum dass er aus dem Käfig gesprungen war. „Es tut mir so leid, dass ich nicht früher gekommen bin“, flüsterte ich.

Er drückte nur still seinen Kopf in meine Halsbeuge.

„Nun geht endlich!“, fauchte Destina, rannte zu den weißen Schrankreihen und raffte eilig die Papiere auf ihnen zusammen. Es klickte und im nächsten Moment sah ich das Feuer, das sich rasend schnell durch die Papiere fraß, um dann eilig auf die Sitzmöbel überzuspringen.

Destina hatte Recht, hier hielt mich nichts mehr. Ich sah nicht zurück, als ich mit Kaio an der Seite aus dem Labor eilte. Ich achtete nicht darauf, was Destina dort an den Tischen trieb und zwang mich zu ignorieren, wie Aman sich langsam in Bewegung setzte und uns wie ein Entseelter hinaus folgte.

Er war schuld und das würde ich ihm nie verzeihen.

 

°°°

 

„Schnell, beeilte euch!“, trieb Luan uns an, als er Gillettes Leichnam sanft in dem Kofferraum des Wagens bettete.

Pascal riss die hintere Wagentür auf, ließ Acco zuerst reinhüpfen und folgte dann schnell. Ich kletterte zu Gillette in den Kofferraum, zog Kaio am Nacken, damit er mir folgte und in diesem Moment gab es eine Explosion, die alles um uns herum erschütterte. Erschrocken fuhr ich herum und konnte kaum glauben, was ich da sah.

Oh Göttin …

„Feuer“, sagte der Kriegergeneral Silvano Winston, als er bemerkte, dass ich meinen Blick nicht von dem rötlichen Schein losbekam. „Ein viertes Element.“

Ich erinnerte mich. Ja, Feuer. Das Gebäude in dem wir uns eben noch befunden hatten, war in Feuer getaucht. Noch nie in meinem Leben hatte ich so etwas gesehen, so grausam, zerstörerisch und wunderschön zugleich.

„Das wird sie eine Weile aufhalten“, sagte Destina zufrieden und schlüpfte auf den Vordersitz.

Ich konnte meine Augen nicht von diesem Abgrund abwenden, als Luan die Heckklappe zuschlug und so war ich wohl die Einzige, die die Menschen bemerkte, die aus dem rötlichen Inferno herausrannten, als John den Wagen zur Eile antrieb

 

°°°°°

Kapitel Dreißig

Die Dunkelheit umschloss uns, als wir mit schwerem Atem durch den Wald eilten.

Das Abbild der letzten Staffage, bevor wir vom Parkplatz des Forschungslabors geflohen waren, lag noch wie ein Negativ auf meiner Netzhaut.

Feuer.

Destina hatte irgendetwas gemacht, das nur Minuten nachdem wir aus dem Gebäude gerannt waren, dafür gesorgt hatte, dass die Flammen sich bereits durch die Wände fraßen. Noch nie in meinem Leben hatte ich eine solche Zerstörungswut gesehen. Nun wusste ich sehr genau, warum die Götter uns auf Silthrim kein Feuer gegeben hatten. Es war erbarmungslos, ungezügelt und nicht zu bändigen.

Selbst die Götter wären ihm nicht gewachsen.

Noch immer hatte ich das Geräusch der quietschenden Reifen in den Ohren, als wir hastig den Parkplatz verließen, noch immer sah ich die Menschen, die sich schnell ins Freie retteten, noch immer hatte ich den Anblick von dem Kriegergeneral vor Augen, als er mit den anderen hinaus ins Freie stolperte, diese mörderische Wut in den Augen, die von Dingen sprach, die ich lieber nicht benennen wollte. Der Kriegergeneral war fast schon fanatisch, er würde nicht so schnell aufgeben, das war mir in diesem Moment klar geworden.

Kaio rannte an meiner Seite, direkt hinter Luan, in dessen Armen Gillette schaukelte. Ich bekam es immer noch nicht richtig zu fassen, dass er uns verlassen hatte und auch, wenn wir gerade keine Zeit für so etwas hatten, bangte es mir vor dem Moment, in dem ich Anima gegenüber stand.

Hinter mir brachen ein paar Äste und Pascal fluchte lautstark. In der Dunkelheit konnte er kaum etwas sehen und war in einen Busch gelaufen.

Vor uns tauchte ein schwacher Schein auf, der nur sein direktes Umfeld beleuchtete. Die Bastion. Wir hatten es fast geschafft. Nur noch Minuten trennten uns von unserem Weg in die Heimat.

Im Gebüsch raschelte es und einen Moment später tauchte Nebka vor uns auf. Sie stoppte abrupt, strahlte mich an und rannte mit einem „Lilith!“, auf mich zu.

Anima folgte ihr auf dem Fuße, versuchte sie einzufangen, entdeckte uns dann aber.

Mein Herz schien plötzlich stehen bleiben zu wollen.

„Der Göttin sei es vergolten, da seid ihr ja endlich. Wir haben uns schon Sorgen …“ Sie verstummte, als sie im Schein der Laterne sah, was Luan in seinen Armen trug. Ein Blick reicht und sie wusste Bescheid. „Nein“, hauchte sie und schüttelte dabei ungläubig den Kopf. Ganz langsam von einer Seite zur anderen, als würde es damit unwahr werden, was ihre Augen ihr zeigten.

Ich wusste nicht was ich sagen sollte. Ich hatte ihr versprochen ihr Gillette zurückzubringen, hatte zu unserer Göttin gefleht, dieses Versprechen wahr machen zu können, doch ich hatte versagt – wieder einmal.

Unnütz, klein.

 „Nim, ich …“

„Nein!“, schrie sie in ihrer Verzweiflung und wich einen Schritt vor dem toten Leib zurück. Dann schlug sie die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich.

Ich sah hilflos zu ihr, wollte sie in den Arm nehmen, sie trösten, doch ich schaffte es nicht mich von der Stelle zu bewegen. Zu groß war die Schmach meines Versagens.

Es war dann Pascal, der sich an mir vorbei drängte und sich zu ihr hockte und leise beruhigende Worte murmelte. Warum konnte er das? Warum konnte er sich bewegen? Es war meine Aufgabe ihr beizustehen, doch ich hatte Angst. Angst vor ihren Anschuldigungen, Angst vor ihrer Zurückweisung. Ich hatte Angst davor, dass sie mich hassen könnte und konnte deswegen nichts anderes tun, als zuzusehen, wie Pascal sie zögernd in seine Arme zog, um ihr tröstend über den Rücken zu streichen.

„Nim“, krächzte eine befremdliche Stimme neben mir. Kaio. Er humpelte einen Schritt vorwärts, flüsterte noch einmal ihren Namen, doch sie schien ihn nicht zu hören. Gefangen in ihrer Trauer nahm sie nichts um sich herum wahr, auch nicht, wie Janina angelockt von den Geräuschen aus der Bastion kam und sich an Luans Hals hängen wollte. Doch der Anblick von meinem toten Amicus ließ sie auf der Stelle verharren.

„Oh Scheiße, was …“ Sie verstummte, wusste offensichtlich nicht wie sie den Satz beenden sollte.

„Wir waren zu spät“, sagte Luan leise.

„Was ist passiert? Warum ist er …“

Er schüttelte betrübt den Kopf. „Ich weiß es nicht, ich …“

Plötzlich stellte Acco die Ohren auf. „Hört ihr das?“

Das war wie das Startzeichen für das was folgen sollte. Es war wie am Tag der Schöpfung. Sie kamen aus dem Wald, leise, still, heimlich. Und auf einmal waren da überall Geräusche. Etwas schlug neben John in den Baumstamm ein. Ein erschrockener Satz nach hinten, eine Wurzel und er lag auf dem Boden.

„Janina“, sagte Luan. „Geh zum Portal, sofort!“

Sie zögerte, rannte dann aber. Er folgte ihr.

Acco knurrte und dann waren da plötzlich die grünen Krieger. Von überall her strömten sie in unsere Richtung. Oh Göttin, wie hatten die uns gefunden? „Wir müssen hier weg!“, schrie ich, schnappte mir Nebka vom Boden und packte Pascal gleichzeitig am Kragen, um ihn auf die Beine zu ziehen.

Destina war bereits dabei, Anima aufzuhelfen und schubste sie und ihren Enkel in die Bastion. Wieder knallte es. Holz splitterte, Blätter rieselten auf uns nieder. Aman hatte sich verwandelt und stand mit gezücktem Dolch kampfbereit da.

„Wir müssen das Portal öffnen!“, rief ich und stieß John etwas unsanft vor mir her. Er stolperte über ein paar Sträucher, eilte weiter.

„Das Portal geht nicht auf!“, rief Janina.

„Was?“ Das war doch sicher nur ein schlechter Scherz.

„Anima bekommt es nicht auf“, rief sie wieder und brach durch den Schutzwall.

„Was? Warum nicht?“ Ich stürmte auf die kleine Lichtung. Da war das Portal, Vinea hockte auf einer Tasche daneben. Sein innerstes erstrahlte in einem fahlen, gelblichen Licht. Das war falsch, es müsste bläulich sein.

„Ich weiß nicht.“ Janina kam zum Stehen und sah sich wild um. „Anima sagt, sie bekommt es nicht auf.“

Zur Sachmet. „Nim, warum bekommst du es nicht auf?“

Sie antwortete nicht, weinte nur.

Darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen, nicht, wo gerade wieder ein Schuss durch den Wald peitschte. Alle duckten sich erschrocken darunter weg. Ich drückte Asokan Nebka in die Arme und packte Anima an den Schultern. „Nim, wir müssen durch das Portal, Nim!“

Ein gebrochener Blick sah mich an, als sie zögernd den Kopf schüttelte. „Es … es geht … nicht“, schluchzte sie. „Es geht … nicht.“

„Warum? Göttertod, Nim, reiß dich zusammen, warum geht es nicht?“

Eine Explosion ließ mich zusammenzucken. Es krachte und ein Baum knickte unter großem Ächzen zur Seite. Destina stand mit erhobenen Händen da und feuerte einen weiteren Blitz in Richtung grüner Krieger ab. Sie kamen nicht näher, doch ich sah sie.

„Es … es verbindet sich nicht.“

Es verband sich nicht? „Was heißt das?“

„Es gibt keinen Weg nach … Silthrim. Da ist … da ist kein Weg und … und ohne Weg verbindet es … sich nicht.“

Kein Weg? Aber das konnte doch nicht sein.

Wieder ein Schuss. Pascal gab einen erstickten Laut von sich und drückte sich die Hand gegen die Schulter. Bei Bastet, das durfte nicht sein! „Versuch es noch einmal!“, befahl ich Anima und rannte zu dem jungen Magier. Zwischen seinen Fingern sickerte Blut hindurch. Die Kugel hatte ihn gebissen.

Ich pflügte seine Hand von der Schulter, riss mir dann einen Ärmel ab und drückte ihn auf die Wunde. Er stöhnte vor Schmerz.

„Geh zum Portal, schnell!“ Ich wartete nicht darauf, ob er meiner Aufforderung nachkam, stürzte weiter, wieder hinaus aus der Bastion. Ich musste die grünen Krieger aufhalten bis Anima das Tor geöffnet hatte. Warum nur ließ es sich nicht öffnen?

„Lilith, pass auf!“

Etwas sauste dicht an meinem Ohr vorbei. Einen Moment später wurde ich von den Füßen gerissen. Aman hatte sich auf mich gestürzt und mich unter sich begraben, nur um mich sofort ins nächste Dickicht ziehen zu können.

„Siebzehn Krieger und Silvano Winston, verborgen hinter den Bäumen. Einer davon ist der Elf. Acco schleicht sich gerade von hinten an“, haspelte er schnell herunter.

„Mist, das sind zu viele.“

„Wir müssen durch das Portal.“

„Es geht nicht auf. Nim brauch noch etwas Zeit.“

Er drückte die Lippen aufeinander, als der nächste Schuss knallte. „Dann müssen wir ihr die Zeit verschaffen. Du nimmst die rechte Seite.“ Und schon war er wieder weg.

Auch ich zögerte nicht lange und stürzte wieder hervor, direkt in einen grünen Krieger hinein. Wir fielen übereinander, rissen Laub und Sträucher mit uns. Etwas Hartes bohrte sich in meine Seite. Ich hörte Rufe und aufgeregte Stimmen. Eine Faust erwischte mich am Kinn, dass ich Sterne sah. Fauchend versuchte ich meinen Gegner von mir zu stemmen und zerfetzte ihm dabei die Kleidung mit den Krallen, bis ich die Haut traf und rotes Blut den Stoff benetzte, doch er schien es gar nicht zu spüren. Es war, als hätte er kein Schmerzempfinden.

Er bleckte die Zähne und mir wurde schlecht. Ein Vampir. Auf mir hockte ein Vampir, aber … erst der Elf und nun der Vampir. Wie war das möglich? Was hatten diese Wesen mit Kriegergeneral Silvano Winston zu schaffen?

Ich war von seinem Anblick so überrascht, dass er mich mit den Reisszähnen fast am Hals erwischte. Nur schnelles Kopfwegdrehen bewahrte mich vor schweren Verletzungen. Das und ein gezielter Schlag gegen den Hals, der ihn zur Seite kippen ließ. Göttertod, wir mussten hier weg! „Acco!“, rief ich dem Sermo zu, als er gerade an mir vorbeihetzte. „Hat Nim das Portal schon geöffnet?“

„Keine Ahnung.“ Er machte einen Hechtsprung zur Seite, als wieder ein Schuss die Luft zerschnitt.

Bei Bastet. Ich rollte mich hastig auf die Beine und sah gerade noch so, wie der Vampir versuchte, nach mir zu treten. Es war wohl ein Instinkt, der mich ausweichen ließ und eine Schicksalsfügung dabei genau vor dem Baum zu landen, in dem Bastet Amans Dolch versenkt hatte. Aber … das müsste doch viel tiefer im Wald gewesen sein. Wie war das möglich?

Halt nicht lange Geistreden, das ist doch jetzt gleich! Entschlossen packte ich den Dolch, wirbelte herum und zerschnitt dem Vampir den Oberarm. Aber auch davon ließ er sich nicht aufhalten. Er griff wieder an, immer wieder. Warum nur spürte er kein Schmerz? Warum fiel er nicht? Ich hatte ihm schon so viel Wunden zugefügt, dass allein der Blutverlust ihn niederstrecken müsste.

Ein Schlag traf mich am Arm, ein weitert an der Schulter. Ein Tritt gegen den Bauch. Ich versuchte so gut es ging auszuweichen, aber Vampire waren so verflixt schnell. Schwer atmend konnte ich nichts anderes tun, als immer wieder auszuweichen und seine Schläge abzuwehren. Er drängte mich in die Defensive, ich kam gar nicht erst zum Gegenschlag. Göttin, lange würde ich das nicht mehr durchhalten. Ich musste mir etwas einfallen lassen, ich musst … ja, fallen lassen. Das war die Idee.

Bei seinem nächsten Schlag ließ ich mich einfach zu Boden fallen. Den Luftzug seiner Hand spürte ich noch an meinem Kopf. Beim Fallen riss ich mein Bein hoch, doch leider erwischte ich nur seinen Oberschenkel. Er sprang einfach zur Seite und übersah dabei den wütenden Lykanthropen, der ihm von hinten auf dem Rücken sprang und seinen Kopf gegen den nächsten Baum schlug. Dieses Mal stand der Mann nicht wieder auf und dieses Mal beschwerte ich mich auch nicht über seine Hilfe, als er wieder in den Büschen verschwand.

Doch da war schon der nächste und da noch einer. Das waren zu viele Krieger, gegen diese Übermacht kamen wir zwei nicht an, auch nicht mit Accos Hilfe. Ja, wir konnten ein wenig Zeit schinden, aber wir würden nicht ewig durchhalten. Anima musste endlich das Portal öffnen. Warum nur ging es nicht? Wie konnten wir den Weg nach Silthrim ebnen? Es musste doch … aber natürlich, Bastets Worte. Ihr werdet wissen, wann ihr ihn töten dürft. Eine Seele fuhr immer zurück in seine Göttermacht und Sachmets Amethyst verweilte in Silthrim, wo er hingehörte. Der Geist eines Magiers würde sich nach seinem Tod den direktesten Weg in seine Herkunft suchen und der war nun mal das Portal. Wenn der Magier starb, dann würde er ihnen den Weg ebnen. Zumindest hoffte ich, dass ich mit meinen Geistreden richtig lag. Doch jetzt war nicht die Zeit sich weiter damit zu befassen. Entweder es funktionierte, oder … auf das Oder wollte ich nicht weiter eingehen. „Acco! Aman!“, rief ich und setzte mich schon in Bewegung. „Kommt zum Portal!“

In der Bastion stand Anima vor dem Portal, starr leuchtete sie von innen heraus, das Tigerauge in den Händen erhoben, wie ein Opfer dem Portal dargeboten, doch der durchscheinende, leuchtende Schleier war noch immer gelb.

Ich stürzte zu dem Magier, der mir mit großen Augen entgegen sah. Er wusste es, er wusste sofort, was gleich geschehen würde und obwohl ihm gewiss sein musste, dass er nicht entkommen konnte, zerrte er an seinen Fesseln, als ich den Dolch an seine Kehle setzte. „Willst du deine Göttin noch weiter verärgern?“

Unter seinem anstrengenden Schlucken, hüpfte sein Adamsapfel.

„Ich werde es schnell machen.“ Und noch bevor er die Gelegenheit hatte, ein Wort an mich zu richten, schnitt die scharfe Klinge in die weiche Haut. Sein Todeskampf dauerte nur Sekunden, Sekunden in denen sich alles veränderte. Die grünen Krieger stürmten in die kleine Bastion, als der Lichtschleier sich endlich bläulich färbte. Die Zeichen der Götter strahlten kurz auf, Destina schickte noch einen Blitz in die gegnerischen Reihen, der sie zerstreuen und ablenken sollte.

„Lauft!“, brüllte ich.

Luan packte Asokan einfach bei der Schulter und schubste ihn samt Nebka im Arm durch in das Portal. Janina musste er dazu nicht erst auffordern. Sie ergriff Pascals unverletzten Arm und Johns Hand und sprang schon beinahe in das Licht. Der Vampir folgte mit Gillette auf dem Arm sogleich.

Ich fuhr hoch, als wieder ein Schuss die gestörte Stille der Nacht durchschnitt. Aman kam mit Acco in die Bastion gerannt, Destina warf einen weiteren Blitz und eilte dann in Richtung Rettung. Vinea wartete auf ihren Sicuti, sie schaffte es nicht allein auf die Beine. Nur einer bewegte sich nicht, stand still wie eine Säule und tat gar nichts.

„Kaio!“, rief ich. „Kaio, geh in das Portal!“ Er schien meine Rufe gar nicht zu hören, war völlig auf einem Punkt vor sich fixiert, der nur Sekunden später durch die Büche brach.

Kriegergeneral Silvano Winston.

Das war wohl das erste Mal, dass ich das leibhaftige Antlitz dieses Mannes sah. Die Wut und der Hass, der seine Züge völlig verzerrte. Er rief Befehle, wies seine Leute an uns nicht entkommen zu lassen.

Ich zögerte nicht. Meine Fußballen gruben sich in den weichen Erdboden, als ich losrannte und Kaio so fest auf den Hintern schlug, dass er wieder zur Besinnung kam.

Er fauchte mich an, zeigte seine Zähne.

„Geh endlich in das Portal!“, schrie ich ihn an und packte ihn zusätzlich noch im Nackenfell, damit er sich in Bewegung setzte. Ich musste ihn halb zum Portal zerren, an dem nur noch Anima stand, alle anderen waren schon hindurchgegangen. Sie jedoch musste warten. Ohne das Tigerauge würde sich das Portal auf der Stelle wieder schließen, sie musste als letzte gehen, damit es offen blieb, bis alle hindurch waren.

„Geh!“, fuhr ich Kaio an, stieß den schweren Leopard in das Licht.

Hinter uns konnte ich den Kriegergeneral rufen hören. Er kam näher, hatte uns schon fast erreicht.

Hastig packte ich Anima am Handgelenk und rettete mich mit ihr ins Portal. Ihre Hand rutschte beinahe aus meinen Fingern. Etwas versuchte sie zurückzureißen, aber ich ließ nicht los und während wir vom Schleier der Welten verschluck wurden, glaubte ich einen Schrei von ihr zu hören.

„Neiiiiin!“ 

 

°°°°°

Epilog

In dem Wissen, endlich nach Hause zu kommen, strebte ich einen Moment in Licht und Wärme dem Tigersaal entgegen, Animas Hand fest mit meiner verschlungen. Nur einen Moment. Im nächsten schon schwand das bläuliche Licht um mich herum und ich prallte in Pascals Rücken. Dabei verlor ich Animas Hand aus meinem Griff.

„Bei Bastet“, schimpfte ich. „Geh zur Seite, wenn du aus dem Portal trittst.“ Ich wurde nach vorn, wieder gegen Pascals Rücken gedrängt, als Anima hinter mir folgte. Dann erlosch der bläuliche Schimmer im Tor.

„Sind alle da?“, fragte Luan. „Keiner verletzt?“

Das musste ein makabrer Scherz gewesen sein. Die Hälfte von uns war bereits verletzt gewesen, bevor wir in den bläulichen Schein eingetaucht waren. Mein Atem ging immer noch zu schnell, mein Herz schlug mir bis zum Hals. Der Kampf steckte mir noch in den Knochen, doch wir hatten es geschafft. Wir hatten einen Weg gefunden und waren endlich zurück auf Silthrim, zurück in der Heimat. Und trotz des Unheils der letzten Tage, hatte ich endlich das Gefühl, wieder einmal tief durchatmen zu können.

Wir waren endlich zurück, jetzt konnte es nur noch besser werden.

 „Seid ihr sicher, dass wir hier richtig sind?“, fragte da plötzlich Janina.

Ob wir hier richtig waren? Sollte das Portal uns jetzt auch noch an den falschen Ort gebracht haben? Doch erst als ich an Pascal vorbei einmal den Blick schweifen ließ, verstand ich, was sie gemeint hatte. „Oh Göttin, nein.“

„Nein, das ist Silthrim und das ist auch der Tempel der Göttin Bastet“, kam es da von Vinea. Sie ließ sich von John stützen, der ihr half, sich auf einen großen Marmorbrocken niederzulassen. „Ich erkenne ihn von meinen Besuchen, aber …“

Und das Aber war es, was mir in meiner Euphorie über die Rückkehr nicht gleich aufgefallen war. Der Tempel der Bastet, er war zerstört!

Nichts war mehr, wie es einmal war. Der Marmorboden aufgerissen, die Wände durchlöchert. Ich konnte hinaus ins Freie sehen und das durfte eigentlich nicht sein. Überall lagen Gesteinsbrocken und Schutt herum. Doch das schlimmste daran war die Vegetation. Pflanzen, Gras und Unkraut hatten sich in jeder Rille breitgemacht, dessen sie habhaft werden konnten. Durch das größte Loch in der Wand schlängelten sich Kletterpflanzen ins Innere und grüne Bärte bekleideten die Wände. In der Ecke huschte eine Echse eilig unter den nächsten Stein und verschwand aus unserem Blickfeld. Der ganze Tigersaal sah aus, als sei er schon vor Jahren in Schutt gelegt worden, um ihn anschließend der Natur zu überlassen, aber … „Wie ist das möglich? Wie waren doch nur acht Tage weg.“

Janina strich mit dem Finger über den Sockel, der einst als Aufbewahrung für das Tigerauge diente. „Acht Tage? Hier scheint aber schon seit Jahren niemand mehr gewesen zu sein.“

Acco lief mit der Nase am Boden herum, schnaubte. „Hier war schon lange keiner mehr gewesen“, bestätigte er Janinas Vermutung. „Der Geruch von Ailuranthropen ist völlig verschwunden.“

Aber … das ging doch nicht, wo waren die Priester? Die Magister und Lehrlinge? Wo war die Dienerschaft? Niemand schien noch hier zu sein. Alles wirkte leer und verlassen, so, als sei schon seit Jahren niemand mehr hier gewesen, wie Janina sagte.

Behutsam ließ Luan Gillettes toten Leib zu Boden gleiten. Sofort eilte Kaio zu ihm, rollte sich neben ihm zusammen, wie er es schon im Auto getan hatte. „Vielleicht sind wir im falschen Tempel gelandet“, überlegte er. „Ich glaube mich erinnern zu können, dass am Rande von Ailuran ein alter Tempel stand, der schon vor langer Zeit aufgegeben wurde, weil er im Krieg zerstört wurde.“

„Die alten Ruinen.“ Vinea nickte, als würde das alles erklären.

„Nein“, sagte ich und hockte mich auf den Boden. Vor mir im Marmor war ein Riss. Kratzspuren, Dreck, Steinchen und ein rostroter Fleck, denn ich nicht näher benennen wollte. „Das ist der Tigersaal.“ Ich erhob mich wieder und ließ meinen Blick zum Portal gleiten. „Hier habe ich Amans Hand gepackt, bevor wir von den greifenden Winden eingesogen wurden.“ Mein Blick glitt zu dem Lykanthropen hinüber. Er stand seitlich von uns, hatte den Blick abgewandt. Seine Körperhaltung war deutlich angespannt, doch ich konnte nicht genau sagen, woran das lag. „Bevor wir in den Wald geschleudert wurden“, fügte ich noch hinzu. Hätte ich nur damals geahnt, was passieren würde, vielleicht hätte ich dann anders gehandelt.

Allein die Geistreden daran tat mir weh. Hätte ich Aman wirklich im Stich lassen können? Ich wusste es nicht zu sagen. Trotz allem, was geschehen war, wusste ich es einfach nicht.

„Hallo!“, rief Pascal plötzlich so laut, dass es aus den Gängen zurückschallte.

Ich war nicht die Einzige, die vor Schreck zusammenzuckte.

„Hallo-ho ist da jemand?“

In der folgenden Stille bekamen wir keine Antwort.

„Alles ist verloren“, kam es leise von Anima. Im nächsten Moment gaben die Beine unter ihr nach. Sie schlug die Hände vors Gesicht, sackte in sich zusammen und begann hemmungslos zu weinen.

„Nim!“ Ich stürzte zu ihr, packte ihr Gesicht zwischen meinen Händen und zwang sie mich anzusehen. „Bei Bastet, Nim, was hast du?“

„Es ist weg.“

„Was ist weg?“

Sie hielt mir ihre offenen, leeren Hände hin. „Das Tigerauge, es ist weg.“

Das Tigerauge. „Was soll das heißen, es ist weg? Wo ist es? Eben hattest du es doch noch.“

„Er hat es mir entrissen.“ Sie schloss die Hände und drückte die Fäuste in ihren Schoß. „Dieser Mann hat ihn mir entrissen, als du mich durch das Portal gezerrt hast.“

„Du meinst …“ Die Erkenntnis überrollte mich mit einer Kraft, unter der auch meine Beine nachgaben. „Oh Göttin, nein.“ Das durfte nicht sein. Wir hatten es endlich zurückgeschafft und konnten doch nicht jetzt noch scheitern.

Sie nickte hoffnungslos. „Das Tigerauge befindet sich noch in der Welt der Menschen.“

Bitte, nein, nicht jetzt, nicht wo wir endlich glaubten, am Ziel zu sein. Doch jetzt schien alles noch schlimmer als zuvor. Der Tempel lag in Schutt und Asche, die Ailuranthropen waren verschwunden und nun war auch noch das Tigerauge in der Welt der Menschen verloren gegangen. „Das darf nicht wahr sein.“

„Draußen sieht es nicht viel besser aus“, teilte Luan uns mit. Er war an das große Loch in der Wand getreten und blickte hinaus auf die Ländereien des Tempels. Seine Hand hielt die von Janina umklammert. Neben ihnen stand Destina in ihrer resoluten Haltung und blickte starr hinaus.

„Was meinst du?“, fragte ich, obwohl ich eigentlich gar nicht wissen wollte, ob es noch schlimmer werden konnte.

„Sieh selbst.“ Mit einer einladenden Geste wies er mir den Weg zum Loch.

Ich zögerte, kam nur langsam auf die Beine und das nicht nur, weil ich Anima nicht allein lassen wollte. Ich fürchtete mich auch davor, was ein Blick ins Freie mir offenbaren würde. Dennoch zwang ich meine Beine zur Bewegung und ging langsam, Schritt für Schritt auf das Loch zu. Doch mit dem, was sich mir offenbarte, hätte ich niemals gerechnet.

Er war zerstört.

Der ganze Tempel und alles um ihn herum war vernichtet. Von der Zeit zerfressen, vom Alter zerfallen und von den Göttern vergessen, war er nur noch ein Schatten seiner einstigen Pracht. Das Leben war von hier gewichen und hatte nichts als ein zerfallendes Grab zurückgelassen.

Was sich da vor mir offenbarte, erkannte ich kaum wieder. Nur eine Stelle war genauso wie in meiner Erinnerung. Der kleine Hügel mit dem einzelnen Baum darauf, auf dem ich mit meinen Amicus so oft gesessen hatte, er war völlig unberührt und thronte auf seinem Platz, als verhöhnte er den abnormen Untergang seiner Umgebung.

Doch ansonsten war alles zerstört, einsam, verlassen. Der Tempel der Ailuranthropen, er existierte nicht mehr.

„Oh Göttin, was ist hier nur geschehen?“

 

°°°°°

 

Ende Buch Eins

Impressum

Bildmaterialien: Maneeya
Tag der Veröffentlichung: 09.08.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Meine Widmung gilt allen, die den Wunsch geäußert haben, dass ich dieses Werk schreibe

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