Von einer Zufriedenheit beseelt, die er schon lange nicht mehr verspürt hatte, saß Jegor in dem Sessel vor seinem Kamin und beobachtete den dünnen Rauchfaden seiner Zigarre. „Alles läuft genau nach Plan.“ Er mochte es, wenn alles nach seinen Wünschen verlief. „Wenn hast du bei Vivien abgestellt?
„Ein kleiner Omega, frisch angeworben.“ Fletcher nahm ein Schluck von seinem Wasser. Jegor hätte ihm einen Scotch angeboten, doch Fletcher trank kein Alkohol – eine weitere Eigenschaft, die er an dem Mann sehr zu schätzen wusste. „Er wohnt nun im Haus gegenüber.“
„Ausgezeichnet. Und Allon Kartal?“
„Tot. Ich habe es selber erledigt.“
Wie schon gesagt, alles verlief genau nach Plan. „Dann wird es langsam Zeit, sich um den nächsten Schritt zu kümmern.“
„Ich habe mich bereits ein wenig umgehört. Es gibt da eine talentierte Frau, die sehr versiert in solchen Dingen ist. Sie gehört zu Borks Leuten.“
„Bork.“ Dann musste sie sehr gut sein. Sein Freund Bork gab sich niemals mit Stümpern ab. „Ist sie interessiert?“
„Wenn der Preis stimmt.“
„Geld?“
Fletcher nickte.
„Engagiere sie, aber klär das vorher mit Bork. Ich möchte keine Probleme mit ihm.“
„Natürlich.“
„Und wenn du schon dabei bist, besorge mir doch bitte ein neues Mädchen. Vivien lässt sich zwar nicht ersetzen, aber … naja, ich hab nur noch Carla.“ Und das einzige Talent, dass er an dieser Frau schätzte, waren ihre Fähigkeiten in der Küche. Die Frau war eine wahre Künstlerin wenn es um Speisen ging. Vivien dagegen … wenn er ehrlich war, es war ihm nicht leichtgefallen sie gehen zu lassen. Er hatte so viel auf sich genommen, um sie zu bekommen. Aber es gab nun mal wichtige Dinge, die vorrangig waren und auch eine göttliche Frau wie Vivien konnte ihn nicht von seinen Zielen abbringen. Wenn es sein musste, würde er alles opfern, um seine Rache zu bekommen. Außerdem … es war ja nur für ein paar Jahre. Sobald er Cayenne aus dem Weg geräumt hatte, konnte er sich seine Vivien wiederholen.
„Ich werde mich sofort darum kümmern.“ Fletcher stellte sein Glas zur Seite und erhob sich aus dem Sessel.
„Und Fletcher?“
„Ja?“
„Ich möchte ein großes Feuerwerk. Es soll mich beeindrucken und die Leute umhauen, sodas es niemals in Vergessenheit gerät.“ Er lächelte. Oh ja, er würde dafür sorgen, dass es allen in Erinnerung blieb.
Fletcher deutete eine Verbeugung an. „Betrachtet es als erledigt, Sire.“
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„Die Blessuren sind nur oberflächlich.“ Doktor Malcolm Ambrosius steckte seine Stiftleuchte zurück in seinen Kittel und griff nach seiner Arzttasche. Das ihm dabei fast die Brille von der Nase fiel, schien er gar nicht bemerken. „Ich gebe Euch eine Salbe. Tragt sie drei Mal am Tag auf, dann dürfte von dem Veilchen schon bald nichts mehr zu sehen sein.“
Wenn sich nur alle meine Probleme sich so einfach lösen lassen würden.
„Ansonsten geht es ihr gut?“, wollte Alica wissen. Sie war eine Frau um die siebzig, sah aber kaum älter als Mitte dreißig aus. Ihr karamellbraunes Haar fiel ihr offen auf dem Rücken, während ihre braunen Augen mich keinen Moment … naja, aus den Augen ließen. „Keine Gehirnerschütterung?“
Doktor Ambrosius schüttelte den Kopf. „Ich kann nichts feststellen. Körperlich jedenfalls ist sie kerngesund. Was die mentale Verfassung dagegen angeht.“ Er machte eine vage Bewegung mit der Hand. „Ich denke, da sollte sie sich mit einem Speziallisten unterhalten. Ich kann einen empfehlen, wenn Ihr das wünscht.“
„Vielen Dank, aber mental geht es mir sehr gut“, erklärte ich, bevor Alica noch auf die Idee kam, mich zu einem Psychoklempner zu schicken. Okay, das war gelogen, aber auch ein Psychiater würde mir in meiner Situation nicht weiterhelfen können.
Doktor Ambrosius schaute mich einen Moment an, konzentrierte sich dann aber wieder auf Alica. „Ich werde ihr zur Sicherheit noch ein wenig Blut abnehmen.“
„Tun sie das.“
Die Frage, ob ich da auch noch ein Mitspracherecht hatte, sparte ich mir, denn, um das Leben eines kleinen Jungens zu retten, hatte ich meine Seele an den Teufel verkauft und war somit entmündigt worden. Ab sofort galt, ich tat was man von mir verlangte, ob ich nun wollte oder nicht.
Bei diesem Gedanken ließ ich die Schultern gleich noch ein wenig mehr hängen.
Ungefähr zwei Stunden war es nun her, dass ich nach drei Jahren auf der Flucht wieder dort angekommen war, wo ich niemals wieder hatte hinwollen: An den Hof der Werwölfe, wo der Tyrann König Isaac residierte. Mein Glück war nur, dass heute Montag war und wie es schien, waren auch Tyrannen Montags schwer beschäftigte Arbeitstiere.
Ich zweifelte nicht daran, dass er in der Zwischenzeit von meiner Rückkehr erfahren hatte, aber zu meinem Glück hatte ich ihn bisher noch nicht zu Gesicht bekommen. Das würde sich allerdings schneller ändern, als mir lieb war.
Im Moment jedenfalls waren von der Familie der Alphas nur meine Pseudo-Mutter Prinzessin Alica und meine meine Cousine/Schwester Prinzessin Sadrija anwesend.
Die Frau meines Cousins/Bruders war mit ihrem zweijährigen Sohn wohl auch irgendwo in diesem riesigen Schloss, aber die hatte ich bisher noch nicht zu Gesicht bekommen. Im Grunde hatte ich seit meiner Rückkehr noch gar nicht viel gesehen.
Die Neuigkeit meiner Ankunft hatte sich innerhalb von Minuten wie ein Lauffeuer am Hof verbreitet und so kam es, das Alica bereits völlig sprachlos im Schlossportal gestanden hatte, bevor ich den Wagen meines zukünftigen Verlobten Markis Nikolaj Komarow überhaupt verlassen hatte.
Um mich vor neugierigen Blicken zu verbergen und zu erfahren, was hier überhaupt los war, hatte man mich sofort in den kleinen Salon oben an der Galerie gebracht. Der Großwächter wurde gerufen, genau wie der Tribunus Umbra. Kurz darauf erschien dann auch noch Sadrija. Es war wohl das erste Mal, dass ich sie überrascht erlebt hatte.
Dann hatte die Fragerunde begonnen. Wo war ich die ganze Zeit gewesen? Was war passiert? Warum tauchte ich hier mit meinem Zukünftigen auf? Wie hatte ich nur so dumm sein können einfach wegzulaufen? Als Doktor Ambrosius dann dazugekommen war, hatte meine Mutter/Tante alle Männer des Raumes verwiesen und so war ich nun mit ihr, Sadrija und dem Arzt allein im kleinen Salon.
Der Raum war ganz hübsch. Zierliche Tische und Bänke. Ein paar Regale an der Wand, ein alter Teppich, bodenlange Vorhänge und überall war Gold verarbeitet. Ich kam mir vor wie in einem Museum für Rokoko Design.
Als Doktor Ambrosius eine Spritze an meinem Arm ansetzte, klopfte es.
Alica überprüfte mit einem Blick, ob ich nach der Untersuchung auch wieder züchtig bedeckt war, bevor sie sich erhob und zur Tür ging. Ein paar Worte wurden gewechselt, die ich nicht ganz mitbekam, weil in genau in diesem Moment gepikst wurde, dann wurde die Tür weiter aufgezogen und die Männer kamen wieder hinein.
Es war Markis Nikolaj Komarow, der als erstes über die Schwelle trat. Mit seinem braunen Haar und dem feinzügigen Gesicht, war er eigentlich recht nett anzusehen, doch jetzt und hier war er nur eine weitere Bürde, die mich an an diesem Ort fesselte.
Als er herein kam, schaute er wachsam von meiner Tante zu meiner Cousine, die am Fenster stand, als erwartete er, das man ihm jeden Moment für seine Vergehen den Kopf abriss. Wahrscheinlich befürchtete er, dass ich während seiner Abwesenheit etwas gesagt haben könnte.
Da niemand mit Mistgabeln und Fackeln auf ihn losging, kam er direkt zu mir und setzte sich mit einem Lächeln neben mich auf die Couch mit den Zahnstocherbeinchen. „Alles in Ordnung mit Euch?“
„Bestens“, sagte ich eine Spur zu fröhlich und hoffte das niemand bemerkte, wie aufgesetzt mein Lächeln war.
Als er mich an der Hand berührte, musste ich mich stark zusammenreißen, um sie nicht wegzureißen und ihm ein paar zu scheuern. Immerhin war er mein offizieller Retter, da machte sich sowas nicht gut. „Was hat der Arzt gesagt?“
Anstatt ihm zu antworten, wandte ich meine Aufmerksamkeit den beiden anderen Männern zu. Großwächter Edward Walker war schmal, lang und hatte schlohweißes Haar. Dagegen hatte Tribunus Umbra Drogan recht breite Schultern. Auch er hatte weißes Haar, doch lag es bei ihm nicht am Alter. Edward war bei weitem älter.
Die beiden Männer besprachen sich kurz mit Alica, dann waren mit einem Mal aller Augen auf mich gerichtet.
„Prinzessin Cayenne.“ Großwächter Edward trat ein wenig näher und machte dann eine leichte Verbeugung. „Fühlt Ihr Euch imstande, mir noch ein paar Fragen zu beantworten?“
Wenn ich ehrlich war, nein. Ich wollte nicht mit ihm oder einem anderen sprechen, aber ich würde nicht drumherum kommen, darum konnte ich es auch gleich hinter mich bringen. „Warum nicht?“ Ich verzog die Lippen bitter. „Besser wird es ja sowieso nicht werden.“
Er nickte, als würde er genau verstehen, was ich meinte. „Könnt Ihr uns dann berichten was geschehen ist? Von Anfang an?“
Die Wahrheit war, das ich die letzten drei Jahre mit meinem Freund Raphael durch die Welt gezogen war, um seine Schwester Vivien zu finden, die vor vier Jahren von den Fängern der Sklavenhändler entführt worden war. Aber die Wahrheit musste im verborgenen bleiben. „Es war … also, als ich damals weggelaufen bin …“ Ich schluckte, als würde es mir schwer fallen, über das Geschehene zu sprechen. „Ein paar Wochen bin ich herumgezogen und nie länger als ein paar Tage an einem Ort geblieben. Ich habe mir die Haare abgeschnitten und sie braun gefärbt, um unentdeckt zu bleiben.“ Hey, das entsprach sogar wirklich der Wahrheit. „Mein Weg führte mich nach Amsterdam, wo ich einem Mann in die Arme lief. Wie sich herausstellte, war er ein Fänger und zu meinem Pech erkannte er, wen er da vor sich hatte.“
„Er hat Euch mitgenommen.“ Keine Frage, eine Feststellung.
„Er hat mich verkauft.“
Edward nickte. „Könnt Ihr uns sagen wie er hieß?“
Ich schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Ich war nicht lange bei ihm gewesen. Ich weiß nur noch, dass er ein Vampir war.“
„Hatte er vielleicht ein auffälliges Merkmal, einen Akzent, oder eine ungewöhnliche Augenfarbe?“
„Kein Akzent und es ist mir auch nicht besonderes an ihm aufgefallen.“
Wieder nickte er. „Was geschah dann?“
„Er verkaufte mich an einen Mann Namens Dinwiddie.“
Sadrija, die die ganze Zeit schweigend aus dem Fenster geschaut hatte, wandte sich zu mir um. „Dinwiddie? Lord Russell Dinwiddie?“
Er war hier also kein Unbekannter. Da er ein Beta war, wunderte mich das gar nicht. Im Adel kannte man sich eben untereinander. „Ja, Russell Dinwiddie.“
Der Großwächter wechselte einen auffallenden Blick mit meiner Tante. „Seid Ihr Euch da sicher?“
„Wenn er mir gegenüber drei Jahre lang keine falsche Identität benutzt hat, dann ja.“
Das schien keinem der Anwesenden so wirklich zu gefallen. Das war ja auch ein Skandal, ein Beta der einen Alpha gefangen hielt. Undenkbar.
„Was ist mit dir bei Lord Dinwiddie geschehen?“, fragte Tante Alica. „Er hat doch nicht …“ Sie ließ den Satz offen.
Auf meinen Lippen erschien ein gequältes Lächeln. „Was glaubst du, was ein Skähn mit einer Prinzessin macht?“, stellte ich die Gegenfrage und senkte dann den Blick. „Ich war seine Trophäe. Er hat den Alphas sozusagen ein Schnippchen geschlagen und …“ Ich verstummte. Nicht weil ich vergessen hatte, was ich sagen sollte, sondern weil ich nicht lügen wollte.
In Wirklichkeit war ich vor drei Tagen in die Fänge des Skhän Markis Jegor Komarow geraten, Nikolajs Vater. Und nur weil dieser Mistkerl mich erpresste, saß ich nun hier. Er hatte gedroht den Sohn von Raphaels Schwester umzubringen, wenn ich nicht tat, was er von mir verlangte und sein Wunsch war es gewesen, dass ich an der Seite von Nikolaj zum Hof der Werwölfe zurück kehrte und seinen Sohn ehelichte.
„Ich glaube das ist genug“, schritt Nikolaj ein und drückte meine Hand. Keine Ahnung, ob er damit mich oder sich selber beruhigen wollte. „Das ist noch alles sehr frisch und sie muss es erstmal verarbeiten. Außerdem habe ich ihnen doch bereits alles Wichtige erzählt. Sie muss …“
Die Tür wurde plötzlich mit einer solchen Kraft aufgestoßen, dass alle Blicke dorthin herumwirbelten und mit einem Mal kroch mir das kalte Grauen über den Rücken.
Da war er, König Isaac, der erste Alpha des Rudels der Könige.
Sein Blick traf mich so zielsicher, als hätte er schon vor dem Betreten des Raumes gewusst, wo genau er mich finden würde. „Es ist also wahr.“ Seine Stimme war sehr leise, doch genauso gut hätte er mir diese Worte auch in Ohr brüllen können. „Das verlorenen Schaf ist zurückgekehrt.“
In mir glomm eine Wut, die ich schon seit Jahren nicht mehr gespürt hatte. „Ich bin kein Schaf“, erwiderte ich genauso ruhig. Vielleicht war es nicht klug, ihn bereits bei unserem Wiedersehen die Stirn zu bieten, aber ich konnte einfach nicht anders. Isaac wirkte vielleicht wie ein alter Mann mit breiten Schultern und einem Stock im Arsch, aber wenn man vor ihm auch nur den Hauch von Schwäche zeigte, konnte man sich gleich sein Grab schaufeln.
Isaacs Augen verengten leicht. Wenn es ihm möglich gewesen wäre, hätte er wohl Laserstrahlen auf mich abgeschossen. „Was genau ist geschehen? Und wage es nicht mir eine Lüge aufzutischen, sonst werde ich …“
„Isaac!“ In einem wallenden Seidenkleid kam Königin Geneva in den Raum gerauscht. Sie sah aus wie Ende vierzig, hatte kurzes, graues Haar und ein sehr aristokratisches Gesicht. Einen Moment schaute sie mich an, als sei ich ein Geist, dann fixierte sie ihren Mann mit eiserner Miene. „Untersteh dich ihr zu drohen.“
Okay, das war neu. Meine Großmutter war zwar nie wirklich gemein zu mir gewesen, aber eingetreten war sie für mich auch noch nie.
Isaac war absolut nicht erfreut darüber, von seiner Frau gemaßregelt zu werden. „Dieses Mädchen hat Schande über unsere Familie gebracht. Schau sie dir doch nur an!“
Das tat sie nicht. Ihr Blick war allein auf ihn gerichtet. „Privatsphäre“, knurrte sie in einem Ton, den ich ihr gar nicht zugetraut hätte.
Noch in der selben Minute erhob sich jeder der nicht irgendwie zur Familie gehörte und verließ wortlos den Raum. Nur Nikolaj brauchte ein wenig länger. Er war sich nicht sicher, ob auch er gehen musste, da er mir ja versprochen war, aber ein kurzer Blick von Geneva reichte aus, um ihm deutlich zu machen, dass auch er hier im Moment unerwünscht war, also verließ auch er das Zimmer.
Er war kaum aus dem Raum, als Geneva auch schon die Tür von innen zuschlug und dann ihrem Mann fixierte, als wollte sie ihm gleich den Kopf abreißen. „Du wirst mir jetzt genau zuhören. Vor drei Jahren habe ich wegen dir und deinen Praktiken eine Tochter verloren. Aus diesem Grund ist kurz darauf auch noch unsere Enkelin geflohen, weil sie sich einfach nicht mehr anders zu helfen wusste und das obwohl wir sie doch eigentlich schützen sollten.“ Sie machte einen Schritt auf ihn zu. „Ich will gar nicht daran denken, was sie deswegen alles hat durchmachen müssen.“
„Daran ist sie selber schuld. Wäre sie nicht weggelaufen, wäre sie in Sicherheit gewesen.“
„Es war dein Verhalten, dass sie in die Flucht geschlagen hat, aber jetzt ist sie wieder da.“ Sie warf mir einen kurzen Blick zu, bevor sie sich wieder auf ihren Mann konzentrierte. „Und ich möchte das sie bleibt. Sie ist alles was mir von Celine geblieben ist. Darum sage ich es dir nur ein einziges Mal. Vertreibst du sie ein weiteres Mal, werde auch ich gehen.“
„Was?!“ Isaac sah aus, als hätte ihn der Schlag getroffen und einen Moment befürchtete ich wirklich, er würde auf seine Frau losgehen, doch er rührte sich nicht vom Fleck.
„Du hast mich schon verstanden. Und wenn ich gehe, glaubst du wirklich, dass deine Töchter dann noch bei dir bleiben werden? Oder deine Enkel?“ Sie gab ihn einen Moment, um sich das durch den Kopf gehen zu lassen. „Wenn deine Familie geht, welcher Lykaner wird dir dann noch folgen?“
„Das ist unerhört!“ Gleich würde er vor Wut platzen. „Dieses Mädchen hat die Ehre dieser Familie beschmutzt und trotzdem schützt du sie?!“
„Irgendjemand muss es ja tun. Dank dir hat sie schließlich keine Mutter mehr, die das übernehmen kann.“
„Alica ist ihre Mutter!“
„Nein, das ist sie nicht und das weißt du genauso gut wie ich, also reiß dich zusammen, sonst wirst du alles verlieren, was dir etwas bedeutet.“
Eine ganze Weile taten die beiden nichts anderes, als sich anzustarren.
„Und glaub nicht, das ich dir etwas vorgaukle“, fügte sie noch hinzu. „Es ist mir absolut ernst.“
Also ich glaubte nicht, dass sie bluffte und so wie König Isaac mich einen Moment später anschaute, glaubte auch er es nicht.
„Sie wird der Untergang dieser Familie sein“, prophezeite er.
„Sie ist nur ein Mädchen, Isaac, ein Mädchen, dass zu uns gehört, deine Enkelin“, widersprach sie ihm. „Sie ist für niemanden eine Bedrohung, also hör auf in ihr einen Feind zu sehen.“
Seine Antwort bestand in einem wütenden Knurren.
„Bitte Isaac, mir zuliebe.Cayenne ist eine Tochter dieses Hauses, kein Eindringling. Es ist an der Zeit, das zu akzeptieren.“
Das Knurren erstarb, doch der wütenden Blick blieb. Er brannte sich geradezu in meinen Kopf, doch ich weigerte mich ihm auszuweichen. Ja vielleicht war ich gezwungen Dinge zu tun, die ich nicht wollte, aber ich war noch immer ich und daran konnte niemand etwas ändern.
„Ich hoffe du weißt was du tust, Geneva“, sagte er leise. Dann wandte er sich von uns allen ab und verließ den Raum.
Erst als er draußen war, merkte ich, wie angespannt ich wegen seiner Anwesenheit war. Doch auch als er weg war, wollten meine Muskeln sich nicht lockern. Was hier gerade geschehen war, war einfach nur schräg. Geneva die mich vor ihrem Mann in Schutz nahm. Auch hatten Alica und Sadrija der Königin in keinster Weise widersprochen. Das musste Isaac genauso aufgefallen sein wie mir.
Doch als Geneva nun aber ihr Aufmerksamkeit auf mich richtete, richteten sich mir die kleinen Härchen auf den Armen auf. Jetzt war ich wohl an der Reihe. „Alles was ich gesagt habe, meine ich auch genau so, aber auch du bist an dieser Situation nicht unschuldig. Auch für dich gilt, Isaac ist nicht dein Feind und wenn du dich nur darauf einlässt, kann auch er zu deiner Familie werden.“
Aber sicher doch. „Ich bin doch hier, oder?“
„Aber das reicht nicht.“ Nach einem kurzen Zögern setzte sich neben mich auf auf die Couch und nahm meine Hand. „Du bist genau wie Celine, du liebst deine Freiheit und verabscheust Regeln und Traditionen, die in deinen Augen unnütz und veraltet sind, aber all diese Dinge haben auch heute noch ihren Sinn.“
„Welchen Sinn hat es, Hosen zu verbieten?“
„Kleider sind ein Ausdruck der Weiblichkeit.“
„Das heißt, wenn ich eine Hose trage, bin ich ein Mann?“
Sie verzog die Lippen, bei so viel Sturheit. „Was ich eigentlich damit sagen möchte, auch du wirst an dir arbeiten müssen. Ich verstehe, dass du anders aufgewachsen bist und ich werde dafür sorgen, das Isaac dich nicht mehr so unter Druck setzt, aber du wirst lernen müssen. Nicht nur Regeln und Anstand, du wirst lernen müssen eine von uns zu sein. Als Prinzessin bist du kein Individuum, die bist ein Teil des Ganzen und alles was du tust, hat auch Einfluss auf uns. Verstehst du das?“
Ja, ich verstand es, aber es änderte gar nichts. „Ihr seid mir nie auch nur ein kleines bisschen entgegengekommen, keiner von Euch. Ihr habt mich immer und immer wieder belogen und Dinge vorenthalten, im Gegenzug aber alles von mir verlangt. Du willst, dass ich mich euch öffne und euch vertraue?“ Ich zog meine Hand unter ihrer weg. „Keiner von euch hat mir jemals vertraut.“
Einen Moment schaute sie mich nur schweigend an. „Du hast Recht und ich möchte mich dafür bei dir entschuldigen, aber Vertrauen ist etwas, das man sich verdienen muss.“
„Ganz meiner Meinung. Nun fragt sich nur, wer ist vertrauenswürdiger? Die Leute, die mich belügen, sobald sie den Mund aufmachen und mich mit jedem Wort ihre Verachtung spüren lassen, oder ich, weil ich zu dumm und naiv war, um zu erkennen, was um mich herum wirklich vorging?“
Ihr Blick wurde ein wenig weicher. „Wir haben versucht dich zu beschützen, Cayenne. Dies alles war neu und fremd für dich gewesen und wir wollten dir nicht zu viel auf einmal zumuten.“
Nicht zu viel auf einmal zumuten? Fast hätte ich geschnaubt. „Ihr habt mir meine Sachen geklaut, obwohl ich mich an eure Regeln gehalten habe. Ihr wolltet mich zur Verwandlung zwingen, die ich, nur so nebenbei, noch immer nicht kann. Ihr habt meinen Mentor verletzt, mir den Umgang mit meinen Freunden verboten, meine Mutter zu einer Aussätzigen gemacht und wolltet dann noch, dass ich ein wildfremden Mann heirate, um mich unter Kontrolle zu bekommen.“ In meinen Worten schwang meine ganze Verachtung mit. „Und dennoch sitzt du jetzt vor mir und verlangst, dass ich euch vertrauen soll?“
„Ja.“ Ganz schlicht. „Und im Gegenzug verspreche ich dir die Wahrheit. Immer.“
„Was ist das Versprechen eines Lügners wert?“
Die Einzige Antwort die ich darauf bekam, war schweigen.
„Genau, gar nichts.“
„Sie hat Recht, Großmutter“, kam es dann ganz überraschend von Sadrija. „In der Vergangenheit wurden viele Fehler gemacht und ich muss ihr zustimmen, die Meisten kamen von unserer Seite.“
„Sadrija“, mahnte Alica. „Das ist nicht hilfreich.“
Geneva jedoch hob die Hand, um ihre Tochter zum Schweigen zu bringen. „Du weißt, warum wir es getan haben.“
„Ja, aber das ändert nichts an dem Ergebnis. Ich an Cayennes Stelle würde euch nicht vertrauen.“ Sie wandte uns den Rücken zu und schaute wieder aus dem Fenster. „Aber vielleicht wäre sie zu einem Neuanfang bereit. Was geschehen ist, lässt sich nicht mehr rückgängig machen und selbst die Wahrheit wird das Misstrauen nur begrenzt überwinden können. Ich sage nicht, vergeben und vergessen, aber sie ist aus eigenem Antrieb zu uns zurückgekehrt. Ich denke wir sind es, die ihr zuerst vertrauen müssen. Wenn sie etwas sagt, müssen wir zuhören. Wir müssen ihr die gleichen Freiheiten und Privilegien zugestehen, die auch wir genießen. Und dann, wenn sie spüren kann, dass wir es ehrlich mit ihr meinen, dann wird sie vielleicht aufhören gegen uns zu kämpfen.“
Das war doch wohl ein Witz! Hätte sie damals so etwas gesagt, wäre ich vielleicht wirklich bereit gewesen über meinen Schatten zu springen und vielleicht – ganz vielleicht – hätte ich mich auf die ganze Sache eingelassen. Aber jetzt? Es war völlig egal ob sie mich belogen oder nicht. Es spielte keine Rolle, ob sie mich quälten, oder mit Abneigung behandelten. Die Fesseln die mir Markis Jegor Komarow angelegt hatte, unterwarfen mich seinen Wünschen und hielten mich an diesem Ort – ganz egal wie es mir dabei ging.
„Würdest du das tun?“, fragte Geneva mich ganz direkt. „Wärst du zu einem Neuanfang bereit?“
„Seid ihr es denn?“
Daraufhin bekam ich das erste ehrliche Lächeln, dass ich jemals bei Geneva gesehen hatte. Es machte sie um Jahre jünger und sogar ein kleinen wenig liebenswert. „Ja, ich würde es gerne versuchen. Ich möchte meine Enkelin kennenlernen und ich möchte das auch du uns kennenlernst.“
„Was ist mit meiner Mutter? Oder meiner Herkunft?“
Bedauern machte sich in ihrem Gesicht breit. „Es tut mir leid, dein wahres Naturell ist etwas, das niemals ans Licht kommen darf und was Celine betrifft …“ Sie verstummte, aber ich spürte genau die Trauer, die von ihr ausging. Sie vermisste ihr Kind.
„Wir wissen nicht wo sie ist“, erklärte Alica. „Als Vater sie aus dem Rudel ausschloss, verschwand sie von der Bildfläche. Seither hat niemand sie gesehen, oder etwas von ihr gehört.“
Das stimmte nicht. Sie hatte sich bei meiner anderen Tante Blair gemeldet und mir über sie eine Nachricht zukommen lassen, aber das war nun auch schon drei Jahre her. Wenn ich etwas über Mama erfahren wollte, würde ich wohl direkt mit Blair sprechen müssen.
„Eine Zeitlang haben wir sogar geglaubt, du seist bei ihr“, fügte sie noch hinzu.
„Nein“, sagte ich traurig und erinnerte mich an das letzte Mal, als ich sie gesehen hatte. Es war in dem Hotel in München gewesen. Sie hatte mich ermahnt artig zu sein. Ich vermisste sie. „Anfangs habe ich nach ihr gesucht aber … ich hab sie nie gefunden.“
„Es geht ihr bestimmt gut“, sagte Geneva hoffnungsvoll. „Ich muss einfach glauben, dass es ihr gut geht.“
„Ja, den mehr bleibt uns nicht.“
Darauf gab es nichts zu erwidern.
Tief einatmend strich Geneva sich eine Falte aus dem Rock. „Es ist bald Zeit fürs Abendessen, aber du möchtest sicher erstmal ein wenig zur Ruhe kommen, oder?“
„Wenn ich darf.“
„Natürlich.“ Sie versuchte es mit einem kleinen Lächeln. Fühlte sich wohl ein wenig ungelenk an. „Ich werde dir nachher etwas auf dein Zimmer schicken lassen, aber ich möchte dich bitten dem Essen nicht immer fern zu bleiben. Die Mahlzeiten sind oft die einzige Gelegenheit am Tag, bei der die Familie sich versammeln kann und du gehörst auch zu dieser Familie.“
Ja, leider. „Wenn du das wünschst.“
„Ja das tue ich. Sardija?“
„Ja, Großmutter?“
„Wärst du so freundlich Cayenne auf ihr Zimmer zu begleiten? Und schick doch bitte Umbra Drogan zu mir hinein, er muss zwei Umbras für Cayenne abstellen.“
„Natürlich. Begleite mich.“ Ohne auf mich zu warten, wandte sich sich vom Fenster ab und strebte auf die Tür zu.
Ich wusste nicht ob ihr froh sein sollte diesem Gespräch endlich zu entkommen, oder mich doch besser gleich aus dem nächste Fenster stürzen sollte. Genevas Worte waren zwar nett gewesen, aber es waren nichts weiter als Worte. Ich glaubte nicht eine Sekunde lang, dass sich irgendetwas ändern würde. Wahrscheinlich war das einfach nur ein weiteres Manöver, um mich unter Kontrolle zu bekommen. Als wenn das noch nötig gewesen wäre.
Mir blieb gar nichts anders übrig, als mich meinem Schicksal zu fügen, also erhob ich mich von der Couch und folgte Sadrija hinaus auf den breiten Korridor, wo sie gerade mit Umbra Drogan sprach.
Ja, das war auch etwas, dass ich die letzten Jahre nicht vermisst hatte: Umbras, die Leibgarde der Alphas. Speziell ausgebildete Soldaten, die jedem Mitglied der Königsfamilie auf Schritt und Tritt folgten. Der Einzige Ort an dem sie einen in Ruhe ließen, war das Schlafgemach. Allerdings lauerten sie dort direkt vor der Tür darauf, dass man wieder heraus kam.
Hier lauerte auch jemand auf mich: Nikolaj. Kaum das er mich erblickte, war er auch schon wieder an meiner Seite. „Alles in Ordnung?“
Warum fragte er sowas Dummes? Nichts war in Ordnung. Ich war hier. Mit ihm. „Natürlich“, zwang ich mich zu sagen und schaffte es sogar mir ein halbwegs glaubhaftes Lächeln auf die Lippen zu zaubern. „Nach allem was ich durchgemacht habe, ist das hier nur ein wenig … überwältigend. Du weißt schon, meine Gefangennahme durch einen Skhän.“ Ob er den Seitenhieb verstand? Er ließ sich auf jeden Fall nichts anmerken.
„Es wird alles wieder gut werden, da verspreche ich Euch.“
Oh, das hatte er jetzt nicht gesagt. „Du solltest keine Versprechen geben, die du nicht halten kannst.“ Ich wandte mich ab und schaute direkt in das Gesicht von Sadrija. Hatte sie gehört, wie ich mit Nikolaj gesprochen hatte? Sie wirkte jedenfalls nicht beunruhigt. „Du brauchst mich nicht auf mein Zimmer begleiten, ich kenne den Weg.“
„Großmutter möchte es aber. Du hast noch keine eigenen Umbra.“
Ja, weil mir hier im Schloss ja auch so viel passieren konnte.
„Lass uns gehen.“ Als auch Nikolaj sich in Bewegung setzten wollte, schaute sie ihn streng an. „Ihr nicht, Markis Komarow. Meine Schwester braucht Ruhe und Großmutter möchte sich sicher noch mit Euch unterhalten.“
„Natürlich.“ Er machte eine leichte Verbeugung. „Verzeiht meine Unverfrorenheit.“
Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie ihm verzieh, sie wandte sich einfach ab und machte sich auf den Weg in den Westflügel, wo unsere Gemächer lagen.
Alles sah noch genauso aus, wie an dem Tag, als ich es zurückgelassen hatte. Die holzvertäfelten Wände, das Parkett mit dem hässlichen Läufer, der goldverzierte Stuck. Augen vergangener Monarchen blickten aus ihren Ölgemälden auf uns herab. Bodenvasen mit frischen Blumen, um wenigstens ein wenig Farbe in diese triste Einrichtung zu bekommen.
„Das Leben geht schon seltsame Wege“, sagte Sadrija, kurz bevor wie nach rechts abbiegen mussten. „Du wurdest von genau dem Mann gerettet, der bereits bei seiner Geburt für dich ausgewählt wurde.“ Sie warf mir einen kurzen Blick zu. „Es macht fast den Anschein, als seid ihr vom Schicksal füreinander bestimmt.“
Bei diesen Worten geriet ich fast aus dem Tritt. Der und ich? Niemals. Aber das konnte ich nicht sagen. „Tut mir leid, aber im Augenblick möchte ich eigentlich nicht darüber nachdenken.“
„Natürlich, das verstehe ich.“
Nein, tat sie nicht. Niemand hier verstand es und das würde auch so bleiben, wenn ich keinen Ausweg aus dieser Situation fand. Und so wie die Dinge lagen … ich war mir nicht mal sicher, ob es überhaupt einen Ausweg gab. Ich konnte Jegor ausschalten, ja, aber was war mit seinen Freunden? Ich wusste nicht wem er alles von Vivien erzählt hatte, doch ich bezweifelte nicht, dass es im Falle eines Verrats von mir, ausreichte nicht nur sie und Anouk, sondern gleich noch die ganze Familie zu zerstören, bevor ich überhaupt verstand, was los war. Dann würden sie auch Raphael wehtun.
Oh Gott, das durfte niemals passieren.
Als wir vor meinem Zimmer ankamen, fühlte ich mich in eine Zeit zurückversetzt, die ich glaubte, für immer hinter mir gelassen zu haben. Und doch war ich jetzt wieder hier.
„Geh hinein und ruhe dich aus“, wies Sadrija mich an. „Heute wird dich sicher niemand mehr stören.“
Meine Freude hielt sich in Grenzen. „Okay.“ Einen verrückten Moment war ich wirklich versucht ihr zu danken, dann beließ ich es aber bei einem einfachen Blick und verschwand hinter der Tür. Der Raum dahinter war ungefähr drei Meter im Quadrat. Links und recht ging jeweils eine unscheinbare Tür zu den Quartieren der mir zugeteilten Umbra. Früher hatten Lucy und Diego hier gewohnt, jetzt waren die Zimmer leer und verwaist.
Wen sei mir wohl dieses Mal aufs Auge drücken würden? Lucy war schließlich nicht mehr da und Diego … naja, soviel ich wusste, war der noch immer Samuels Umbra.
Wie es wohl sein würde, ihn nach all der Zeit wiederzusehen? Er war immerhin auch einer von den Lügnern gewesen, die mich nach Strich und Faden hintergangen hatten. Aber bei meiner Flucht aus dem Schloss hatte es unten in der Kanalisation diesen kurzen Moment gegeben, in dem er …
Nein, daran wollte ich nicht denken. Wahrscheinlich hatte ich mir das sowieso nur eingebildet, weil ich gehofft hatte etwas von meinem alten Diego in diesem Fremden zu finden. Gott, am Besten dachte ich einfach nicht darüber nach.
Ich trat durch eine weitere Tür, die den Vorraum von meinen Räumen trennte und kaum dass ich in meinem Zimmer stand, strömten die Erinnerungen nur so auf mich ein. Dort auf der Couch hatte ich so oft mit Diego und Lucy gesessen. Oder das Bett auf dem Podest. Mehr als einmal hatte Samuel sich nachts heimlich in mein Zimmer geschlichen und sich zu mir gelegt.
Wenn mein kleiner Cousin erfuhr, dass ich wieder hier war, würde er vor Freude wohl … naja, wahrscheinlich einen altklugen Spruch ablassen – aber er würde sich freuen. Wahrscheinlich war er der einzige, der sich wirklich über meine Rückkehr freuen würde.
Gott, wie nur sollte ich das durchstehen? Wie konnte ich die Frau von einem Mann werden, den ich verabscheute? Und das noch an einem Ort, den ich hasste? Wie nur sollte es mir gelingen diese verdammte Scharade aufrecht zu erhalten und alles was mir wirklich etwas bedeutete hinter mir zu lassen? Mein Leben, meine Freunde, Raphael.
Zum ersten Mal seit Tagen gestattete ich es mir wirklich an ihn zu denken. Das letzte was ich zu ihm gesagt hatte, war, dass ich gleich zurück sein würde. Nein, das stimmte nicht. Nach meiner Entführung hatte ich noch einmal versucht ihn zu erreichen, aber ich war gefesselt und geknebelt gewesen, weswegen ich nicht wirklich mit ihm hatte reden konnte. Und jetzt … jetzt durfte ich nie wieder mit ihm sprechen. Er gehörte nicht länger zu meinem Leben und ich hatte mich nicht mal von ihm verabschieden können.
Ich merkte erst, dass ich weinte, als ich die Tränen auf meinen Wangen spürte. Nie wieder würde ich ihn küssen, nie wieder in seinem Armen liegen, oder mir Vorträge über meine Sicherheit anhören dürfen. Ich würde ihn nie wieder von meinem frischgebackenen Plätzchen wegscheuchen können, oder mit ihm auf seinem Motorrad durch die Gegend fahren. Ich würde nie wieder hören, wie er mich Bambi nannte, den ich war wieder Cayenne Amarok und Clementine gab es nun nicht mehr.
Nie war mir das klarer gewesen, als in diesem Moment, in dem ich ganz allein in meinem königlichen Gemach stand und zum ersten Mal seit langem Angst vor der Zukunft hatte.
„Ich habe keine Wahl.“ Wie ein Hauch fielen diese Worte über meine Lippen. Meine Beine gaben unter mir nach. Ich brach mitten in meinem Zimmer zusammen und dann weinte ich bitterliche Tränen. Dies war der Moment, in dem mir klar wurde, das niemals wieder etwas so sein würde wie es war.
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„Wie gefällt Euch das?“ Collette, meine ganz persönliche Kammerzofe, hielt mir ein Traum in einem sehr hellen Grün vor die Nase. Das Kleid war bodenlang, ärmellos und würde nur links an der Schulter oben gehalten. „Es ist aus Chiffon.“
Als würde es mir besser gefallen, nur weil es aus einem bestimmten Stoff war. „Ja, klar, warum nicht.“
„Dann suche ich noch die passenden Schuhe heraus.“ Sie hängte das Kleid an den Haken und machte sich sofort über die Regale in meinem begehbaren Kleiderschrank her. „Und Schmuck. Am Besten …“
„Kein Schmuck“, widersprach ich sofort und ließ mich mutlos auf einen der gepolsterten Hocker sinken. „Nur das Kleid und die Schuhe, den Rest mache ich selber.“
„Natürlich. Ich weiß doch wie wichtig Euch Eure Privatsphäre ist.“ Sie nahm ein paar Schuhe aus dem Regal und stellte sie vor mir ab. „Ich werde dann jetzt das Bett machen. Falls Ihr sonst noch etwas braucht, müsst Ihr nur nach mir rufen.“
„Danke.“
„Immer zu Diensten.“ Sie machte einen Knicks und verließ dann den kleinen Raum. Bevor sie allerdings die Tür schloss, wandte sie sich noch einmal zu mir um. „Es ist wirklich schön, dass Ihr wieder Zuhause seid. Ohne Euch hat in diesem Schloss etwas gefehlt.“
Es war nett das zu hören, nur leider konnte ich ihr da nicht zustimmen.
Die Nacht war lang gewesen, die Tränen getrocknet, doch das Gefühl in einer Falle zu festzusitzen, wollte einfach nicht weichen.
Wie Geneva gesagt hatte, hatte sie mir das Abendessen auf mein Zimmer bringen lassen. Es stand noch immer unberührt auf dem Tisch. Danach hatte man mich in ruhe gelassen. Naja, bis Collette heute morgen scheu an meine Tür geklopft hatte. Die braunäugige Frau mit dem auffälligen Muttermal an der rechten Schläfe, war schon vor drei Jahren meine Kammerzofe gewesen. Sie war nett, wenn auch ein wenig zu unterwürfig. Aber das brachte das Dasein als Alpha nun mal mit sich. Alle waren der festen Überzeugung, vor einem im Dreck kriechen zu müssen.
Im ersten Moment hörte sich das vielleicht nett an, aber wenn man nur etwas genauer darüber nachdachte, bemerkte man das Problem an der Sache. Wenn es einem alle Recht machen wollten, woher sollte man dann wissen, wer es ehrlich meinte? Mit wem konnte man sprechen, wenn es niemand gab, der sich traute einen zu kritisieren? Und mit wem sollte man lachen, wenn man immer Falschheit dahinter vermutete.
Nein, diese ganze Prinzessinnensache war noch nie etwas für mich gewesen.
Aber so wie die Dinge im Moment lagen, blieb mir gar nichts anderes übrig, als mich zu fügen. Also erhob ich mich von meinem Hocker und schlüpfte in das grüne Kleid, da die Familie mich zum Frühstück erwartete.
Nach all den Jahren wieder mit einem Kleid rumlaufen zu müssen, war ein seltsames Gefühl. Ich kontrollierte drei Mal, ob die Binde an meinem Bein auch wirklich die hässliche Narbe verdeckte und kam mir trotzdem noch entblößt vor. Leider ließ sich das nicht ändern, also schlüpfte ich einfach in die Schuhe und verließ dann meinen begehbaren Kleiderschrank. Genau in dem Moment klopfte es an meine Zimmertür.
Collette schaute auf, doch ich gab ihr mit einem Winken zu verstehen, dass ich mich schon darum kümmern würde. Egal wer da an der Tür war, er wollte sowieso zu mir. Vielleicht war es ja mein Zukünftiger, der mich zum Frühstück abholen wollte. Bei dem Gedanken wurde mein Herz gleich ein wenig schwerer, denn den einzigen den ich erhoffen würde dort draußen zu sehen, der würde dort niemals stehen.
Mit dem Handscanner neben der Tür entsicherte ich das Schloss. Draußen stand Umbra Drogan und deutete eine kleine Verbeugung an.
„Ich wünsche einen guten Morgen, Prinzessin Cayenne.“
„Morgen“, murmelte ich und musterte die beiden Leute hinter ihm. Den risiegen Kerl mit den grauen Haaren erkannte ich sofort. Das war Umbra Logen. Er war einer meiner Leibwächter gewesen, bevor ich abgehauen war. Die zierliche, junge Frau mit den blonden Haaren daneben war mir völlig unbekannt.
Drogan richtete sich zu seiner ganzen, eindrucksvollen Pracht auf. „Königin Geneva bat mich Euch zwei Umbras zuzuteilen. Umbra Logan ist Euch ja bereits bekannt.“
Ich nickte. „Ja, der große schweigsame Schatten, ich erinnere mich.“
Diesen Kommentar überging er. Vielleicht hielt er es auch einfach für ein Kompliment – was es definitiv nicht war. „Das hier ist Umbra Genevièv.“ Er zeigte auf das kleine Mädchen. War die überhaupt schon volljährig? Sie wirkte wie ein halbes Kind. „Sie hat ihre Ausbildung erst vor wenigen Wochen abgeschlossen.“
„Wirklich? Sie ist ein Umbra?“ Ich musterte sie zweifelnd. „Sind sie sich sicher?“
„Ja, ich selber habe sie ausgebildet und kann Euch versichern, dass sie für diesen Posten mehr als qualifiziert ist.“
Irgendwie konnte ich mir das nicht vorstellen, dafür wirkte sie einfach zu … niedlich. Je öfter ich sie musterte, umso schlimmer wurde es. Am liebsten hätte ich ihr den Kopf getätschelt und ihr erklärt, dass sie spätestens um sechs zuhause sein sollte, da sich nachts dunkle Gestalten auf den Straßen herumtrieben.
Drogan schien meinen Zweifel zu bemerken. „Lasst Euch von ihrem Äußeren nicht täuschen. Sie ist eine meiner besten Schüler. Und gerade wegen ihrem Aussehen ist sie eine Gefahr.“
„Ja, weil niemand auf die Idee käme, von einem kleinen Püppchen die Fresse poliert zu bekommen.“ Mein Blick huschte zu ihr. „Ähm … das sollte keine Beleidigung sein.“
Seltsamerweise begann sie zu lächeln. „Ich fühle mich keineswegs beleidigt.“
„Wenn ihr es wünscht, kann sie Euch eine Kostprobe ihrer Fähigkeiten geben“, fügte Umbra Drogan noch hinzu. „Vielleicht fühlt Ihr Euch dann mit ihr an der Seite sicherer.“
Eine Kostprobe? Sollte sie mir etwa eine Reinhauen, oder was? „Nein, ist schon okay. Wenn sie sagen, sie ist gut, dann wird es wohl so sein.“ Ich seufzte. „Ist sowieso egal.“ Diese Umbra bedeuteten sowieso nur eine weitere Beschränkung, die mich an diesem Ort hielt.
Es ging schon wieder los. Beobachtet, von allen Seiten kontrolliert, Regeln, Grenzen. Wahrscheinlich hätte ich in einem Knast mehr Freiraum, als hier.
„Dann werden die beiden Euch ab jetzt zur Verfügung stehen.“ Drogan neigte wieder ein wenig den Kopf. „Es ist schön, Euch wieder wohlbehalten in diesen Mauern zu haben.“
Ich schlug die Augen nieder. „Ja, das hat man mir schon ein paar Mal gesagt.“ Nicht, dass es diese Angelegenheit irgendwie besser machte.
„Wenn Ihr kein weiteres Anliegen habt, werde ich nun wieder gehen.“
„Nein, alles okay, gehen sie ruhig.“
Er machte noch mal eine kleine Verbeugung und verschwand dann aus dem kleinen Vorraum.
Nun stand ich mit den beiden allein da und wusste nicht so recht, was ich mit ihnen anfangen sollte. „Tja, ähm, ich muss zum Frühstück. Wer von euch begleitet mich?“
„Das ist Eure Entscheidung, Prinzessin Cayenne.“
Ich sah vom Sprecher, zum kleinen Püppchen. Gruselig gegen Zuckersüß. „Ja, keine Ahnung, dann komm du mit, Genevi.“
„Genevièv“, korrigierte sie mich.
Ich verzog das Gesicht. „Und du kannst … keine Ahnung. Ich schätze, du hast solange frei.“
„Ich werde in der Zeit mein Zimmer beziehen“, erklärte Logen.
Ich sah zu der Tür links von mir. Das war früher Lucys Zimmer gewesen. Aber die würde hier nie wieder wohnen. Und was Diego anging … am besten dachte ich gar nicht darüber nach.
Seufzend und ohne ein weiteres Wort, verließ ich den Vorraum und trat hinaus auf den Korridor. Umbra Genevièv folgte mir auf dem Fuße.
Ich verzog das Gesicht als ich mir den Namen mehrere Male durch den Kopf gehen ließ. Das klang irgendwie seltsam. „Hast du einen Spitznamen?“
Sie nickte. „Ginny.“
„Stört es dich, wenn ich dich so nenne?“
„Wenn Ihr das wünscht.“
Wenn ich es wünschte, natürlich. Das war genau das, was ich gemeint hätte. Wahrscheinlich hätte ich sie auch Lovely oder Candygirl nennen können und sie hätte nicht widersprochen. So wurde es Umbras von klein auf beigebracht.
Während ich den Flur hinunter ging, betrachtete ich sie ein weiteres Mal. Ob sie genauso aufgewachsen war wie Diego? „Wann hast du mit deiner Ausbildung begonnen?“
„Als ich sieben war.“
Natürlich. Wenn sie so jung waren, konnte man sie noch leicht formen. Wahrscheinlich war sie auch ein Waise. Bei den Lykanern war es schließlich Tradition, dass man elternlose Kinder zu Kampfmaschinen ausbildete, um nachts besser schlafen zu können. „War es sehr schlimm gewesen?“, fragte ich leise.
Dieses Mal wirkte sie ein kleinen wenig überrascht. Sie zögerte einen Moment und sagte dann: „Ich habe die Standardausbildung eines Umbras erhalten. Ich bin überaus qualifiziert.“
Das war dann wohl ein Ja. „Das tut mir leid.“
Sie senkte den Blick auf den Boden und blieb still.
Gott, wie ich das alles hier hasste. Am liebsten hätte ich sie gepackt und in Sicherheit gebracht. Aber wie bitte sollte ich das anstellen? Ich schaffte es ja nicht mal mich selber zu retten.
„Es war nicht alles schlecht“, sagte sie leise und überraschte damit dieses Mal mich. „Es gab auch gute Tage und es war ja auch für einen guten Zweck. Die Alphas müssen geschützt sein und ich bin stolz darauf, dass ich sie schützen kann.“
Wahrscheinlich redete man das den Kleinen ein, damit sie einen Grund hatten weiterzumachen und nicht mittendrin einfach zusammenbrachen und aufgaben. Was nur wäre so schlimm daran, erwachsene zu Umbras auszubilden, die das auch noch aus freien Stücken tun wollten? Lykaner hatten doch die doppelte Lebensspanne eines Menschen, wo also lag das Problem? Kinder sollten Kinder sein dürfen, Soldaten gab es genug.
Wir hatten fast die Treppe an der Galerie erreicht, als ich die nachdenkliche Gestalt entdeckte, die am Geländer lehnte. Nikolaj.
Meine Schritte wurden automatisch langsamer und einen Moment war ich am überlegen schnell in die andere Richtung zu verschwinden, aber da hatte er mich auch schon bemerkt. Die Grübeleien verschwanden hinter einem kleinen Lächeln.
Geh weiter, befahl ich mir. Ich durfte ihm nicht ausweichen, immerhin war er mein angeblicher Retter. Ich war ihm dankbar, er war mein Held und ich würde ihn irgendwann heiraten. Freiwillig.
„Prinzessin Cayenne.“ Sobald ich in Reichweite war, nahm er meine Hand und hauchte mir einen Kuss auf den Handrücken. „Ich hoffe ihr habt gut geschlafen.“
„Hmh.“ Nachdem ich stundenlang geheult habe, wegen dem was du und dein beschissener Vater mir antut!Ich zog meine Hand aus seinem Griff und wischte sie mir unauffällig an meinem Kleid ab. Naja, ich glaubte zumindest, dass es unauffällig sei, bis ich Ginnys Blick bemerkte.
„Könntet Ihr für mich einen Moment erübrigen?“
„Nein.“ Okay, das hatte ein wenig sehr abweisend geklungen. „Ich meine, man erwartet mich zum Frühstück.“
„Es dauert auch nicht lange, nur einen paar Worte unter vier Augen.“
Ich wollte nicht. Viel lieber hätte ich ihn einfach über das Geländer geschubst, aber das war wahrscheinlich so eine Bitte, die ich nicht einfach ausschlagen durfte. Oh Gott, ich würde ab sofort wirklich alles tun müssen, was er verlangte.
„Bitte“, fügte er noch hinzu und hatte dabei tatsächlich die Frechheit hoffnungsvoll auszusehen.
Scheiße, würde das jetzt immer so sein? „Natürlich“, sagte ich und bekam die Zähne dabei kaum auseinander. „Wenn das ihr Wunsch ist, dann …“
„Cayenne!“, wurde ich da von unten unterbrochen.
Ich warf einen Blick über die Geländer und empfand mit einem Mal ehrliche Freude. Unten an der Treppe, das weiße Haar ein wenig verstrubbelt, stand mein zwölfjähriger Cousin Samuel und schaute kritisch zu mir nach oben.
Ich grinste Ginny an, ignorierte Nikolaj und seine Bitte und machte, dass ich die Treppe herunter kam. Leider dachte ich dabei nicht an mein Kleid, also kam es wie es kommen musste. Ich verhedderte mich mit dem Fuß im Saum, kippte vorne über und rollte nur nicht die Treppe hinab, weil ich erschrocken nach dem Handlauf griff und meine Sturz so abfing.
Super, sehr elegant.
Mit all der Würde die mir noch geblieben war, rappelte ich mich wieder auf, strich mein Kleid glatt und ging nun etwas langsamer hinab.
„Als Mutter mir davon berichtete, habe ich es nicht geglaubt, aber du bist wirklich hier.“
Ohne darauf einzugehen, schlang ich meine Arme um ihn und drückte ihn einmal kurz fest an mich. „Ich hab dich vermisst.“
Er ließ es einfach über sich ergehen. „Auch ich freue mich dich zu sehen.“
Das war das erste Mal seit Tagen, dass ich ein kleinen wenig Glück empfand. „Du bist so groß geworden“, bemerkte ich und ließ von ihm ab. „Nicht mehr so ein Zwerg.“
„Ich bin ein Meter vierundsechzig und liege damit knapp über dem Durchschnitt.“
Ja, diese Besserwisserei hatte ich auch vermisst.
Samuel war ein dünner Junge mit sehr großen Augen. Er würde in seinen Körper erst noch hineinwachsen müssen.
Sein Blick glitt an mir vorbei und als ich mich umdrehte, bemerkte ich Nikolaj, der mir die Treppe hinunter gefolgt war.
„Sie kenne ich, Markis Nikolaj Komarow.“
Mein Zukünftiger schaute etwas unsicher zwischen uns hin und her. „Jawohl, Euer Majestät. Ich war es, der Prinzessin Cayenne gerettet und zurückgebracht hat.“
Bei diese Worten fuhr mir der Schreck in die Glieder. Oh nein. Nein, nein, nein.
Samuel kniff die Augen ein kleinen wenig zusammen. „Das wurde mir bereits zugetragen. Der Mann, der sie nach einer dreijährigen Gefangenschaft befreite. Ich bin noch dabei die Einzelheiten auszuwerten und mit den mir vorliegenden Daten abzugleichen, doch bereits jetzt scheint mir diese Geschichte unstimmig. Ich muss noch eine Quelle überprüfen, um mir vollkommen sicher zu sein.“
Ach du … Mist. Natürlich glaubte Samuel nichts von dem was Nikolaj sagte, schließlich hatten wir die ganze Zeit über Kontakt gehabt.
„Unstimmig?“ Nikolaj warf mir einen kurzen Blick zu.
„Ja, unstimmig, widersprüchlich, diametral, konträr, divergent …“
„Samuel“, unterbrach ich ihn und schüttelte ganz leicht den Kopf.
Er runzelte zwar die Stirn, ließ den Mund aber geschlossen.
„Tja“, sagte Nikolaj dann etwas argwöhnisch. Samuel schien ihm nicht ganz geheuer zu sein. „Prinzessin Cayenne, Ihr wolltet gerade mit mir sprechen. Wir könnten ein Stück laufen und …“
„Nein.“
Nein, das kam nicht von mir, das war Samuel.
„Das Frühstück beginnt gleich und Großvater mag keine Verspätungen. Es wäre also angebracht, sich nun an den Tisch zu begeben. Sie können sich auch noch später mit meiner Cousine unterhalten.“
Oh, wow, nicht dass ich mich beklagen wollte, aber war der früher schon so herrisch gewesen?
Als Samuel dann auch noch meine Hand nahm und mich mit sich mit zog, wehrte ich mich auch nicht besonders. Allerdings fiel mir dabei ein Mann mit grauem Haar ins Auge, der sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten hatte. Umbra Joel, mein altes Kindermädchen.
Als er meinem Blick begegnete, zog er die Augenbraue ein wenig nach oben. Ich würde mich wohl bei Gelegenheit bei ihm entschuldigen müssen, weil ich ihm bei unserer letzten Begegnung beinahe das Hirn gespaltet hatte. Doch jetzt zog Samuel mich unerbittlich mit sich mit.
„Ich werde dafür später noch eine Erklärung fordern“, teilte er mir auf dem Weg zum Speisesaal mit. Für so manchen konnte sich das wie eine Drohung anhören, doch Samuel drohte nicht, er führte einfach nur eine Tatsache auf.
Das war nicht gut. Ich würde mir ganz dringend etwas überlegen müssen, um ihn ruhigzustellen. Das Problem dabei war nur, Samuel war ein Genie. Und das war nicht nur so dahingesagt. Samuel verfügte über einem IQ, den selbst Albert Einstein in den Schatten stellte. Er würde sich nicht so leicht austricksen lassen.
Schon bevor ich den Speisesaal betrat, drangen die Geräusche von klappernden Geschirr und leisen Gesprächsfetzen an meine Ohren. Als ich dann durch den großen, geschnitzten Torbogen hineintrat, musste ich feststellen, dass die Familie schon beinahe komplett versammelt war. Da waren meine Großeltern, König Isaac und Königin Geneva. Auch Samuels Eltern, meine Tante Prinzessin Blair und ihr Gefährte Prinz Alessandro, saßen bereits am Tisch, genau wie meine angeblichen Eltern Alica und Manuel. Und auch meine Cousine/Schwester Sadrija fehlte nicht. Wenn ich dagegen nicht sah, war Kaidan. Nicht das mich das störte, mir reichte auch jetzt schon die ganzen Blicke, die sich auf mich richteten, sobald ich n den Tisch trat.
„Guten Morgen, Tochter“, begrüßte König Isaac uns, sah dabei aber nur mich an.
Ich bin nicht deine Tochter! Ich hatte es noch nie gemocht, wenn er mich so begrüßt hatte. „Morgen“, murmelte ich und setzte mich links neben Samuel auf einen Stuhl. Dort stand sogar eine Schüssel saurer Gurken für mich bereit. Sie hatten nicht vergessen, dass ich diese Teile liebte, nur war ich mir nicht sicher, ob ich mich darüber freuen sollte.
Geneva lächelte mich an, wandte sich dann aber an mein Anhängsel. „Setzten sie sich, Markis Komarow.“
Das bedeutete dann wohl, dass er als mein Retter ab sofort am Tisch der Alphas willkommen war. Ich konnte mich gerade noch so davon abhalten, vor Freude vom Stuhl zu fallen.
„Ich danke Euch, Majestät.“ Nikolaj visierte den Platz links neben mir an, aber zu seinem Leidwesen saß dort bereits Sadrija. Also umrundete er den Tisch und setzte sich mir gegenüber. Als er mich dann auch noch anlächelte, musste ich wirklich an mir halten, nicht nach meinem Messer zu greifen und es quer über den Tisch nach ihm zu schmeißen.
Stattdessen richtete ich meinen Blick lieber auf die Umbras an den Wänden. Ein paar kannte ich noch vom sehen. Ginny und Joel hatten sich zu ihnen gesellt. Wen ich nicht sah, war Diego.
„Wie geht es dir heute morgen?“, erkundigte Geneva sich bei mir, als die letzten Diener vom Tisch verschwanden, um uns unserer Mahlzeit zu überlassen.
Als Gefangene, oder so ganz allgemein? „So weit ganz gut.“ Ich zwang mich, mir ein Toaste aus dem Brotkorb zu nehmen und es mit Marmelade zu bestreichen. Dann konnte ich es aber nur anstarren, weil ich befürchtete auf den Teller zu kotzen, sollte ich auch nur einen Bissen davon zu mir nehmen.
„Vielleicht sollten wir Doktor Ambrosias Vorschlag doch in Betracht ziehen“, überlegte Alica, nachdem sie mich einen Augenblick beobachtet hatte. „Nach allem was du durchgemacht hast, konnte ein Gespräch mit einem Psychologen sicher helfen.“
Nach diesen Worten war jeder Blick der Anwesenden am Tisch auf mich gerichtet. „Ich brauche keinen Psychologen, mir geht es gut, also bitte hört auf mich anzuschauen, als sei ich eine Kuriosität.“ Ich nahm mein Messer in die Hand und schnitt mein Brot in zwei Teile. Leider machte dieses Vorgehen es nicht viel appetitlicher.
Genevas Blick wurde ein wenig sanfter. „Wir wollen dir nur helfen, Cayenne.“
Wenn du mir helfen willst, mach den Mistkerl neben dir doch bitte einen Kopf kürzer. „Ich bin kein kleines Mädchen, ich kann damit schon umgehen.“
Blair, Alicas Zwillingsschwester öffnete den Mund, als wollte sie etwas dazu sagen, schloss ihn aber wieder, als ein kleiner, goldener Wolf in den Speisesaal stürmte.
Der Kleine versuchte zu stoppen, rutschte aber mit den Pfoten auf dem gebohnerten Paket weg und schlitterte direkt auf den Tisch zu. Er hatte so viel Schwung, dass er erst einen halben Meter vor der drohenden Kollision anhielt. Dabei zeigte jede seiner Pfoten in eine andere Richtung.
„Oh, mein armer Schatz“, murmelte Geneva und bückte sich nach dem Kleinen, um ihn auf ihren Schoß zu heben.
„Elias“, erklärte Samuel und angelte sich ein paar Scheiben Wurst vom Aufschnitt. „Kaidans Sohn.“
Das war mir schon klar. Auch wenn ich den kleinen noch nicht gesehen hatte, weil er erst nach meiner Flucht das Licht der Welt erblickt hatte, so hatte Samuel mir bei unseren heimlichen Telefonaten doch mehr als einmal von ihm berichtet.
Als ich den Blick hob, sah ich auch schon den stolzen Vater in seiner ganzen Pracht den Saal betreten. Wie schon bei unserer ersten Begegnung, steckte er in einem teuren Anzug. Die hochschwangere Blondine an seinem Arm war mir dagegen unbekannt. Das musste seine Gefährtin Pandora sein.
Als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, war das auch an diesem Tisch gewesen. Und ich hatte ihn als elenden Scheißkerl bezeichnet. Doch so wie er mich jetzt anlächelte, schien er mir das nicht mehr übel zu nehmen.
„Willkommen zurück, kleine Schwester“, begrüßte er mich und half der schwangeren Blondine auf der anderen Seite auf einen Stuhl. Die trug schon eine ziemlich große Kugel mit sich herum. Laut Samuels Erzählungen war sie auch schon im letzten Schwangerschaftsdrittel.
„Hallo Kaiden“, grüßte ich zurück und krümelte ein wenig mit meinem Brot herum.
„Du scheinst nicht sehr hungrig zu sein“, überlegte er und ließ sich neben seiner Gefährtin nieder. „Du hast nicht mal die Gurken angerührt.“
Woher er das nun wieder wusste? „Ich frühstücke eher selten.“
Mein Pseudo-Vater Prinz Manuel runzelte die Stirn. „Vielleicht hat Alica Recht, ein Psychiater könnte helfen.“
Gott, konnten die bitte endlich damit aufhören? Ich brauchte keinen Kopfdoktor, ich brauchte einen Helden. Da ich hier aber mit Sicherheit keinen finden würde, half vielleicht schon eine Ablenkung. Also wandte ich mich an die Dame, die mir noch nicht vorgestellt wurde. „Sie müssen Pandora sein.“
So wie sie mich anschaute, hatte sie wohl nicht damit gerechnet, dass ich sie ansprechen würde. „Ähm … ja, das bin ich.“
Der kleine Wolf auf Genevas Schoß gab ein Fiepen von sich, das erst endete, als sie ihm ein Brot vor die Nase heilt, auf dem er voller Enthusiasmus herumkauen konnte.
„In welchem Monat sind sie?“ Ich griff nach meinem Wasserglas.
Sei runzelte die Stirn ein wenig. „Im siebten.“
Okay, sie schien nicht sehr gesprächig zu sein.
„Verzeih Pandora, sie ist Fremden gegenüber etwas scheu“, erklärte Kaidan.
Ihr Stirnrunzeln vertiefte sich ein wenig, aber sie widersprach nicht. Stattdessen begann sie sich am Essen zu bedienen.
„Wie hält sie es dann mit dir aus?“, murmelte ich in mein Glas. Ja ich wusste, dass Lykaner gute Ohren hatten und auch das sie jedes meiner Worte verstanden hatten. Kaidan jedoch lächelte nur.
„Genauso frech wie früher.“
Da täuschte er sich. Ich war absolut nicht mehr wie früher. Als ich das Schloss das erste Mal betreten hatte, war ich nichts weiter als ein verängstigtes Mädchen gewesen. Jetzt war ich gefährlich. Zahllose Skhän konnten das bestätigen. Oder auch nicht, denn die Toten hatten nicht mehr viel zu erzählen. Leider half mir meine Erfahrung in dieser Situation nicht weiter.
„Ach, bevor ich es vergesse“, sagte Geneva und gab dem Kleinen einen Stups auf die Nase, als er anfing an ihren Fingern zu knabbern. „Ich habe jemanden aufs Schloss bestellt, der sich um dein Erscheinungsbild kümmern soll. Er wartet nach dem Frühstück auf dich.“
„Warum? Gefällt euch meine schicke Frisur nicht? Der Mann, der sie mir verpasst hat, war entzückt darüber.“ Ich fixierte Nikolaj. Nicht weil er es gewesen war, sondern weil er tatenlos daneben gestanden hatte, als sein Vater mir die rosa Strähnchen herausgeschnitten hatte.
„Cayenne, ich habe es dir bereits gestern erklärt, wir sind nicht deine Feinde.“
Ja, aber meine Freunde waren sie auch nicht. Ich ersparte es mir, ihnen das zu erklären.
„Vielleicht solltet Ihr das wirklich machen“, sagte Nikolaj.
Ich funkelte ihn an. „Wahrscheinlich haben sie recht. Eine neue Frisur ist sowieso schon längst überfällig.“
Er war wohl nicht der einzige am Tisch, der die Abneigung in meinen Worten bemerkte, aber er lächelte tapfer weiter. „Ich werde Euch begleiten.“
Und das tat er dann auch. Nachdem ich diese Tortur namens Frühstück hinter mich gebracht hatte und ihnen allen noch drei Mal erklärt hatte, dass sie sich um mich keine Sorgen zu machen brauchten, befand ich mich auch schon mit ihm an der Seite auf dem Weg nach oben in den Salon, in den man mich gestern nach meiner Ankunft hier gebracht hatte.
Ginny war direkt hinter uns. Ich musste mich nicht umdrehen, um das zu wissen, ich konnte es spüren. Ich konnte sie alle irgendwie spüren. Vielleicht waren es aber auch nur ihre Witterungen in der Luft. Ich wusste ja, das meine Sinne in den letzten Jahren stärker geworden waren, doch noch nie hatte ich mein Umfeld so wahrgenommen.
„Ich möchte nicht aufdringlich sein“, sagte Nikolaj, als wir den Fuß der Treppe erreicht hatten, „aber ich würde mich noch immer gerne mit Euch unterhalten.“
Meine Lippen wurden zu einem dünnen Strich.
„Bitte.“
„Warum?“, fragte ich leise. „Hab ich irgendwas falsch gemacht?“
Nikolaj warf unauffällig einen Blick nach hinten. „Nein, aber ich denke, es gibt da noch einiges, was wir besprechen sollten.“
„Und das muss ausgerechnet jetzt sein?“
„Nein, nicht notwendigerweise“, räumte er zögernd ein.
„Dann bitte, geben sie mir doch etwas Zeit.“ Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm herum. „Vielleicht ist ihnen das nicht klar, aber … das ist für mich nicht so leicht, wie sie vielleicht glauben. Noch gestern haben sie gesagt …“ Ich verstummte. Verdammt, hier konnte ich nicht offen reden. „Bitte“, sagte ich daher nur. Wenn er mich zwang, würde ich nichts dagegen tun können. Aber er musste doch auch selber verstehen, dass dies alles eine riesige Umstellung für mich war und das Druck nicht helfen würde.
Er seufzte. „In Ordnung, Ihr habt recht. Es tut mir leid, ich wollte Euch nicht bedrängen.“
Das Danke sparte ich mir. Stattdessen nahm ich meinen Weg wieder auf und strebte meinem Ziel entgegen.
Im kleinen Salon wartete nicht nur eine Person auf mich, sondern gleich ein ganzes Team, das nicht nur meine Haare in Ordnung bringen sollte. Offensichtlich wirkte ich in den Augen der Familie ein wenig kränklich und hatten deswegen etwas für Leib und Seele für mich vorbereitet. Im Grunde bedeutete das einfach nur, dass sie aus einer normalen Frau eine funkelnde Prinzessin machen wollten.
Die Prozedur dauerte stunden und auch wenn sie nicht unangenehm war, so konnte ich mich nicht darüber freuen. Das lag nicht nur an Nikolajs Anwesenheit. Es war das Ganze, es war das, für das es stand. Sie vernichteten Clementine Joy und machten aus ihr wieder Prinzessin Cayenne Amarok.
Diese Seite an mir hatte ich schon vor Jahren verscharrt. Dass sie nun wieder aus ihrem Grab gezerrt wurde, um stattdessen Clem zu verbannen, ließ etwas in mir brechen. Ich hatte das nicht gewollt, nichts von dem. Warum nur mussten die Alphas mein Leben immer und immer wieder zerstören? So ein schlechter Mensch war ich doch gar nicht.
Die Zeit verrann nur zähflüssig und als ich glaubte schon seit drei Jahren in diesem Raum festzusitzen, war es gerade mal früher Nachmittag. Nikolaj saß in einem der Sessel und tippte auf seinem Blackberry herum, während ich mit hochgelegenen Beinen in einem bequemen Stuhl saß und gerade eine Pediküre verpasst bekam.
So ein Aufwand war bei meinem letzten Besuch im Schloss nicht um mich gemacht worden. Vielleicht war das ja Genevas Art, sich zu entschuldigen. Nicht dass es etwas bringen würde.
Als es an der Tür zum Salon klopfte, schaute Ginny wachsam auf, doch es war eine der Kosmetikerinnen, die an die Tür ging.
Da sie sich direkt verbeugte und dann zur Seite ging, wusste ich schon, dass es jemand aus meiner Familie war, bevor Kaidan in den Raum trat. Sein karamellbraunes Haar trug er nun etwas länger als früher, doch das Lächeln war noch genau das gleiche, mir dem er mir bereits bei unserem ersten Aufeinandertreffen begegnet war.
„Da ist ja unser Sonnenschein“, begrüßte er mich und musterte mich in meinem Bademantel. „Du siehst besser aus.“
„Du meinst, ich bin nicht mehr das Wrack, dass hier gestern angekommen ist?“
Auf der Couch steckte Nikolaj sein Blackberry weg. Das war wohl mal wieder so ein Moment, den er nicht verpassen wollte.
„Sein nicht immer so melodramatisch.“
Jup, nach diesen Worten sanken meine Mundwinkel nach unten. Ich war ganz sicher nicht melodramatisch. Arschloch.
Kaidan ließ seinen Blick einmal durch den Raum schweifen. „Geht doch bitte hinaus und gönnt uns etwas Privatsphäre.“
Oh oh. Privatsphäre war nicht gut. Privatsphäre bedeutete, dass gleich etwas besprochen wurde, was in der Familie bleiben sollte und diese Sachen waren meist nicht gut für mich. Aber wenn der Alpha ein Befehl gab, dann gehorchten die Leute. Selbst Nikolaj erhob sich von seinem Platz.
„Sie nicht, Markis, sie können bleiben.“ Kaidan lächelte ihn an. „Schließlich gehören sie doch schon fast zur Familie.“
Nikolaj durfte bleiben? Okay, jetzt war ich mir sicher, dass es mir nicht gefallen würde – ganz egal was da jetzt kam.
Der Raum leerte sich erstaunlich schnell und kaum das die Tür zu war, bewegte Kaidan sich durch den Raum und ließ sich neben dem Markis auf dem Sofa nieder.
„Du hast mit deiner Ankunft für ganz schön viel Trubel gesorgt“, teilte er mir mit und schlug die Beine übereinander. „Mittlerweile dürfte so ziemlich jeder Wolf im Rudel wissen, dass du wieder da bist.“
„Juhu“, murmelte ich und senkte den Blick auf meine Hände.
„Das ist etwas Gutes, Cayenne.“
Ja klar, weil ihre Macht so wieder gestärkt wurde. „Wolltest du irgendwas Bestimmtes?“, fragte ich und begann mit dem Zipfel meines Bademantels zu spielen.
„In der Tat. Ich weiß du wirst das jetzt nicht gerne hören, aber durch dein Verschwinden hast du deine Ausbildung nie abschließen können.“
Wenn ich jetzt befürchtete, dass er damit nicht mein Studium zur Pharmatechnikerin meinte, lag ich damit wohl nicht ganz daneben. „Und das heißt?“
„Das du sie wieder aufnehmen musst.“
Hatte ich doch gewusst, dass mir das Thema nicht gefallen würde. „Und um mir das zu sagen, hast du extra auf einen Moment gewartet, in dem ich nicht einfach davonlaufen kann.“ Ich wackelte mit den Zehen. Die Pediküre war noch nicht ganz durch.
Das kleine Prinzchen zeigte mir ein Haifischlächeln. „Das war zwar nicht mein Plan, doch ich werde nicht bestreiten, dass es mir zugute kommt.“
„Ja, freu dich, so eine Gelegenheit wirst du so schnell vermutlich nicht mehr bekommen.“
„Wahrscheinlich“, stimmte er mir zu. „Wir haben das Thema deiner Ausbildung vorhin ein wenig besprochen. Großvater möchte, dass du wieder bei Leona van Schwärn lernst.“
War es möglich aus der Hölle noch eine Etage tiefer zu fallen? Wenn ja, war mir das gerade passiert.
„Sie ist unbestreitbar die Beste auf ihrem Gebiet, aber sowohl Mutter, als auch Großmutter waren dagegen. Uns allen ist noch gut in Erinnerung geblieben, was damals geschehen ist und daher haben wir beschlossen, dass du dir deinen Mentor selber aussuchen darfst.“
„Hä?“ Hatte ich das gerade richtig verstanden?
Kaidans Lächeln wurde ein wenig breiter. „Wir alle hielten es für eine gute Idee, dass du das selber bestimmen darfst. Bei jemanden dem du Sympathie entgegen bringst wirst du lieber lernen, als bei jemanden, den du nicht magst.“
Dem konnte ich nicht widersprechen. „Außer der Schwärn kenne ich aber niemanden.“
„Das musst du auch nicht. Wir haben fünf Leute ausgewählt, die du die nächsten Tage nach und nach kennenlernen wirst. Unter ihnen kannst du dir einen aussuchen.“
„Und wenn ich keinen von ihnen mag?“
Sein Lächeln verrutschte ein wenig. „Du kannst es einem aber auch nie einfach machen, oder?“
„Willst du darauf wirklich eine Antwort haben?“
Kaidan Seufzte. „Wenn wirklich niemand dabei ist, werde wir uns nach anderen Leuten umsehen, aber bitte gib der Sache eine Chance und lehne sie nicht alle von vorneherein ab.“
Fantastisch. „Ich werde mir Mühe geben.“
„Das freut mich zu hören.“ Er stellte seine Beine nebeneinander und lehnte sich mit den Ellenbogen auf die Knie. „Was du dir aber merken muss, Cayenne, diese Leute werden keine Eingeweihten sein. Du musst deine Herkunft und deine Mistonatur also vor ihnen verbergen.“
Ähm … ich warf einen kurzen Blick zu Nikolaj, aber da er weder schockiert noch irritiert wirkte, wusste er es wohl schon. Hatten meine Großeltern es ihm gesagt, oder war er mit dem Wissen um mich aufgewachsen? Nach seiner Aussage wurde er schließlich in dem Wissen aufgezogen, einmal mein Gefährte zu werden. Bedeutete das, dass auch sein Vater Jegor es wusste?
„Hast du mich verstanden?“, fragte Kaidan noch einmal nach, als ich nichts sagte.
„Nein, schließlich bin ich nur ein dummes Halbblut, das zu inkompetent ist, um mit ihrem Leben allein klarzukommen.“
„Das habe ich nicht gemeint und das weißt du auch.“
Darauf gab es nichts zu erwidern.
„Gut, belassen wir es einfach dabei. Jetzt wäre nur noch die Frage um deinen Mentor für Verwandlung zu klären.“
Das ließ mich zum ersten Mal wirklich aufhorchen. Gleichzeitig krallte ich aber auch meine Hand in den Frotteestoff.
„Wenn ich mich recht erinnere, bist du in der Vergangenheit immer gut mit Historiker Sydney klar gekommen, deswegen würde ich ihn für diesen Posten gerne wieder einsetzten.“
„Sydney?“ Allein seinen Namen zu hören weckte alle möglichen Erinnerungen in mir. Sydney war der einzige gewesen, bei dem es mir wirklich schwergefallen war, ihn zurückzulassen. Er war immer für mich da gewesen und hatte mich nie hintergangen. Und dann war da noch dieser Kuss.
„Ja Sydney Sander“, sagte Kaidan, ohne etwas von meinen Gedanken zu ahnen. „So weit ich mich erinnern kann, hast du unter seiner Führung immer gute Fortschritte gemacht.“
Ja das hatte ich. Es waren auch seine Tipps und Kniffe gewesen, die mir seit dem über jeden Vollmond hinweggeholfen hatten. Als Misto konnte die Verwandlung eine einzige Tortur sein und der Vollmond hatte mir bisher immer nur Scherzen bereitet.
„Also?“
„Ich bin mir nicht sicher, ob er mich noch unterrichten möchte.“ Nicht nachdem ich ihn so klammheimlich verlassen hatte.
„Das ist etwas, dass er nicht zu entscheiden hat.“
Ja, weil er selbst als erster Historiker nichts weiter als ein kleiner Angestellter war. „Und wenn ich ablehne.“
Nun wirkte er ein kleinen wenig erstaunt. „Warum solltest du das tun? Ich hatte immer den Eindruck du magst ihn.“
Vielleicht weil ich ein kleiner Feigling war und mich davor fürchtete, Sydney erneut in die Augen sehen zu müssen? Aber das konnte ich meine Cousin/Bruder ja wohl schlecht erklären, ohne ihm zu verraten, was wir in dieser einen Nacht unter dem Baum im Labyrinth getrieben hatten. „Ja, ich hab Sydney gerne.“
„Dann ist es beschlossen. Ich werde es ihm mitteilen und die erste Stunde schon für morgen Abend ansetzten.“
„Oh, okay“, sagte ich ein wenig schwach. Das war wahrscheinlich gar nicht schlecht, wenn man bedachte, dass in zwei Tagen schon wieder Vollmond war. Da würde ich jemanden brauchen, dem ich vertrauen konnte. Nur wusste ich nicht, ob Sydney dafür noch der Richtige war.
„Schön“, sagte Kaidan und erhob sich von seinem Platz. „Ich werde dann alles in die Wege leiten.“
Und ich konnte nur darum bangen, was dieser Schritt für mich bedeutete.
Wenn Sydney mich ablehnte … ich wusste nicht wie ich das verkraften sollte. Das war dumm, da ich ihn bereits vor Jahren durch mein eigenes Verschulden verloren hatte, aber jetzt hier mit ihm dem selben Gebäude zu sein, ließ die Vergangenheit wieder in greifbare Nähe rücken. Er war von Anfang an so anders zu mir gewesen. Bei all den Momenten, die wir zusammen verbracht hatten, hatte er mich gesehen. Nicht Cayenne die Prinzessin, sondern Cayenne, das verängstigte Mädchen, das jemand gebraucht hatte, der ihr einfach nur zuhörte und sie ein wenig an die Hand nahm. Ob er das wieder tun würde?
Diese Frage quälte mich noch immer, als ich Stunden später in meinem Zimmer am Fenster stand und hinaus in den Garten schaute. Von hier aus konnte ich nicht nur das Labyrinth sehen, in dem er mich immer unterrichtet hatte, da war auch der Mondturm und nicht weit davon entfernt der Baum.
Als wir damals dort gestanden hatten … es hatte sich so richtig angefühlt. Er war mein einziger Halt gewesen und noch heute träumte ich so manche Nacht von ihm und diesem verbotenen Kuss. „Ob er das auch tut?“, fragte ich mein Spiegelbild.
Das Geräusch eines aufschnappenden Türschlosses sorgte dafür, dass ich mich herumdrehte. Jemand drückte die Klinke herunter und schon im nächsten Moment schlüpfte Samuel eilig in mein Zimmer.
„Was bitte wird das?“, fragte ich ihn ganz direkt. Er war früher schon immer heimlich auf mein Zimmer geschlichen, aber eigentlich hatten wir abgemacht, dass er das nicht mehr tat.
Er schaute nur kurz über die Schulter und drückte dann die Tür ins Schloss. „Eine Unterredung.“
„Hatten wir nicht abgemacht, dass du dich nicht mehr selber reinlässt?“
Das überging er einfach, als sei es eine belanglose Tatsache. Er musterte mich einen Moment und verschränkte dann die Arme vor der mageren Brust, als hätte er es mit einem ungezogenen Kind zu tun. „Zuallererst möchte ich betonen, dass ich mich über deine Rückkehr wirklich freue, doch da ich über Informationen verfüge, die dem Rest der Familie nicht zugänglich sind, weiß ich dass du lügst.“
Verdammt, wie hatte ich das vergessen können?
„Zwar habe ich keine Kenntnis darüber, wo du dich die letzten Jahre aufgehalten hast, noch was du in dieser Zeit getan hast, doch es ist so gut wie ausgeschlossen, dass ein Sklavenhändler seine Leibeigenen regelmäßig telefonieren lässt, um Kontakt zur Familie des Betreffenden aufzunehmen.“
Meine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Scheiße.
„Noch dazu ist die Wahrscheinlichkeit ausgerechnet von dem Mann gerettet zu werden, den du ehelichen sollst, verschwindend gering. Ich weiß es so genau, weil ich es nachgerechnet habe.“
Und noch einmal: Scheiße. Das war nicht gut. Wenn herauskam, dass ich log, würde folglich auch herauskommen, warum ich das tat, einfach weil man nachforschen würde, bis man eine zufriedenstellende Antwort hatte. Aber das durfte ich nicht zulassen, es würde Vivien und Anouk in Gefahr bringen. Das konnte ich einfach nicht erlauben. „Frag nicht“, sagte ich, bevor er ein weiteres Mal den Mund öffnen konnte.
Er zog die Augenbrauen zusammen. „Warum?“
Weil dann ein Kind stirbt. Ich drehte ihm den Rücken zu und schaute wieder aus dem Fenster. „Vor drei Jahren habe ich dir ein Versprechen abgenommen. Erinnerst du dich?“
„Ich habe versprochen, niemanden zu verraten, dass du gehen wirst und wie du aus dem Schloss gelangt bist.“ Er verstummte kurz. „Ich habe es auch niemals verraten. Genau wie auch niemand weiß, dass wir die ganze Zeit Kontakt hatten.“
„Das weiß ich.“ Und das war für so einen kleinen Jungen eine wirklich fantastische Leistung. Selbst mit so einem IQ wie seinem. „Und das alles muss weiterhin ein Geheimnis bleiben“, erklärte ich. „Ich kann dir nicht sagen, warum ich wieder hier bin und alle glauben lasse, ich sei drei Jahre die Gefangene eines Skhän gewesen, aber es ist sehr wichtig. Das musst du mir glauben.“
„Das tue ich.“ Ohne das kleinste Zögern.
Ich schloss die Augen und erlaubte es mir einen Moment erleichtert zu sein. „Darum muss ich dich bitten, dein Wissen für dich zu behalten. Niemand darf erfahren, was in den letzten Jahren geschehen ist. Niemand darf wissen, das alles eine Lüge ist.“
Schweigend beobachtete Samuel mich. „Lebst du denn nicht schon genug Lügen?“
Überrascht drehte ich mich zu ihm herum. Mit so einer Frage von ihm hätte ich niemals gerechnet. Das bedeutete dann wohl, dass auch er ein Eingeweihter des Familiengeheimnisses war. Verdammt, er war doch erst zwölf. „Jeder muss tun, was er tun muss und darum bitte, versprich mir, dass – egal was passiert – du den Mund halten wirst.“
Seine Augenbrauen schoben sich noch näher zusammen. „Ist es wirklich so wichtig?“
„Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht so wäre.“
Er schien nicht wirklich gewillt, die Sache auf sich beruhen zu lassen. In seinem Kopf arbeitete es, aber letztendlich nickte er dann doch. „In Ordnung, wenn es das ist was du willst, verspreche ich die Angelegenheit ruhen zu lassen.“
„Danke.“ Das war nicht nur ein kleiner Stein, der mir vom Herzen fiel, es war ein ganzer Berg. Anouk und Vivien würden sicher sein. Und frei. Wenigsten die beiden.
Natürlich könnte ich die ganze Sache noch immer abblasen. Es wäre mir ein leichtest zu den königlichen Wächtern zu gehen und Jegor verhaften zu lassen. Auch könnte ich Vivien selber und ihre Familie warnen, aber was wäre das Ergebnis? Roger würde Frau und Kind sicher wegschließen, um sie vor allen Gefahren zu bewahren. Dann kämen die beiden von einer Gefangenschaft in die nächste.
Nein, das konnte ich ihnen nicht antun – keinen von ihnen. So war es am besten. Ich würde schon damit klarkommen und damit nicht nur die beiden, sondern gleich die ganze Familie retten.
„Aber ich bin nicht nur deswegen hier.“
„Ach nicht?“ Ich ging zur Couch hinüber und ließ mich in das weiche Leder sinken. „Du wolltest also mehr als mich aushorchen?“
„Leah möchte mit dir sprechen.“
Damit überraschte er mich nun schon ein zweites Mal. „Leah?“
„Mein Kindermädchen.“
„Danke, ich weiß wer Leah ist.“
Er zuckte mit den Schultern, als sei das irrelevant. „Sie hat mich gefragt, ob ich das arrangieren kann und steht jetzt draußen und wartet.“
Ich runzelte die Stirn. Was konnte denn sein Kindermädchen von mir wollen? Ich hatte noch nie etwas mit dieser Frau zu tun gehabt.
„Darf sie reinkommen?“
„Ähm … ja, von mir aus.“
Samuel nickte, als hätte er gar nichts anderes erwartet und ließ dann sein Kindermädchen herein.
Leah war eine Frau in den mittleren Jahren, die man mit zwei Worten beschreiben konnte: Lang und Dünn. Sobald sie meiner ansichtig wurde, machte sie sehr gekonnt einen Knicks. „Prinzessin Cayenne, ich danke Euch, dass Ihr mich empfangt.“
„Kein Problem. Was gibt es denn?“
„Ähm …“ Sie schaute von mir zu Samuel und hob dann den Zeigefinger. „Einen Moment bitte.“ Zwischen den Falten ihres Rocks zauberte sie ein Handy hervor. Sie drückte ein paar Mal darauf herum und hielt es sich dann ans Ohr. Dabei warf sie mir immer wieder nervöse Blicke zu. „Ja, ich bin jetzt bei ihr“, sagte sie dann in das kleine Gerät. Einmal nicken. „Okay.“ Sie kam ein Stück näher und hielt es mir dann vor die Nase. „Es ist für Euch.“
„Für mich?“
Ein unsicheres Nicken.
Okay, das wurde langsam seltsam. „Du kommst hier her, weil jemand mit mir sprechen will?“
Noch ein Nicken, dieses Mal schon zögerlicher.
„Wer ist es denn?“
Ihr Mund ging auf, schloss sich aber gleich wieder, als wüsste sie nicht genau, was sie sagen sollte. Beim zweiten Versuch klappte es schon besser. „Bitte, Prinzessin Cayenne. Ich würde Euch nicht stören, wenn es nicht wichtig wäre. Ihr solltet Euch das wirklich anhören.“
Diese Worte sorgten bei mir nicht gerade für ein gesteigertes Wohlbefinden. Vielleicht war es aber auch ihre Nervosität, oder der Ton in ihrer Stimme, der mich wachsam werden ließ. Daher nahm ich das Handy auch nur äußerst misstrauisch entgegen. „Hallo?“
„Bambi?“
Als ich die Stimme hörte, machte mein Herz einen freudigen Satz Richtung Hals, nur um gleich darauf ins Bodenlose zu fallen.
°°°°°
Raphael, das war Raphael. Aber wie … und mit einem Mal wurde es mir siedend heiß bewusst. Wie hatte ich das nur vergessen können? Leah gehörte zu den Themis!
„Bambi? Wir holen dich da so schnell wie möglich raus. Wir sind schon dabei uns einen Plan zu überlegen. Halt nur ein wenig durch, okay? Ich lass mir etwas einfallen.“
Ich blieb stumm, einfach weil ich in diesem Moment nicht fähig war etwas zu sagen. Seine Stimme zu hören, war die reine Folter. Sie weckte die Sehnsucht, die ich seit Tagen zu verdrängen versuchte, so heftig, dass ich schreien wollte.
„Hast du gehört? Wir bringen dich da weg. Du musst nur ein paar Tage ausharren, das verspreche ich dir.“
Mein Herz krampfte sich zusammen. Das waren genau die Worte die ich hören wollte, genau das was ich mir wünschte, aber das würde niemals geschehen. Ich musste hier bleiben.
„Bist du noch da? Clementine …“
„Es gibt hier keine Clementine.“ Jetzt war es an der Zeit einen Schlussstrich zu ziehen. Ich musste Raphael das Herz brechen, um seine Schwester und seinen Neffen zu beschützen. Und meines brach gleich mit. „Ich bin Prinzessin Cayenne Amarok, zweite in der Thronfolge, ein Alpha des Rudels und ein Mitglied der königlichen Familie.“
Diesen Worten folgte ein Moment des Schweigens. „Was redest du da, Bambi? Was ist …“
„Nenn mich nicht so“, knurrte ich. Es tat viel zu sehr weh, diesen Kosenamen aus seinem Mund zu hören. Die ganzen glücklichen Erinnerungen, die damit verbunden waren … das hielt ich im Moment einfach nicht aus. „Ruf mich nicht mehr an, hast du das verstanden? Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben.“
„Was soll der Mist?“ In seiner Stimme klangen sowohl Verwirrung, als auch Unruhe mit. „Was ist da los bei dir?“
„Bist du neuerdings schwer von Begriff, oder spreche ich so undeutlich? Ich habe keinen Bock mehr auf dich. Du hast deine Schwester wieder. Das war es doch, was du so unbedingt wolltest, also lass mich ab jetzt in Frieden. Ich habe mein eigenes Leben und in dem kommst du nicht länger vor.“
Das konnte er nicht glauben, damit wollte er sich nicht zufrieden geben. „Warte, nein, warte, wir holen dich da raus und dann sprechen wir noch …“
Verdammt, er gab einfach nicht auf. „Bist du so Blöd, oder muss ich langsamer sprechen, damit es in dein Spatzenhirn reingeht? Es gibt zwischen uns nichts mehr zu besprechen, verstehst du das nicht? Ich hasse dich!“ Bevor er noch weiter auf mich einreden konnte, beendete ich das Gespräch und starrte einfach nur auf das Handy. Ein paar Sekunden wusste ich weder was ich tun, noch was ich denken sollte, dann packte die Verzweiflung mich so heftig, dass ich das Handy mit einem Schrei quer durch das Zimmer gegen die Wand schleuderte, wo es in seine Einzelteile zersprang.
Die ganzen letzten Tage war da irgendwie eine Art Schutzmechanismus gewesen, der die Tragweite meiner Entscheidung abgedämpft hatte. Doch jetzt, nachdem ich seine Stimme gehört hatte, wurde mir die Ausweglosigkeit meiner Situation wirklich bewusst. Raphael gehörte nicht länger zu meinem Leben.
Mein Kopf fuhr zu Leah herum, die nervös vor mir zurückgewichen war. Als ich sie fixierte, hob sie schützend einen Arm vor Samuel, als fürchtete sie, dass ich auf den Kleinen losgehen würde.
Die Gefühle drohten mich zu übermannen. Wut, über die Ungerechtigkeit, Kummer, weil ich Raphael hatte von mir stoßen müssten, Verzweiflung, weil ich hier in seiner Situation stecke, aus der es kein Entrinnen gab.
Plötzlich war ich auf den Beinen. Ich griff mir die Lampe vom Beistelltisch und schleuderte sie quer durch den Raum. Sie zersplitterte an meiner Kommode und verteilte sich über den Boden. „Hinaus!“, schrie ich und griff nach dem Beistelltisch. Mein Odeur brach sich Bahn und überschwemmte das ganze Zimmer. „Verschwindet!“
Ich wollte niemanden sehen, ich wollte nur, dass dieser Alptraum ein Ende nahm.
Leah schob Samuel eilig Richtung Tür, doch bevor sie sie erreichen konnte, wurde sie von außen aufgerissen. Sowohl Umbra Logan, als auch Ginny stürmten herein. Aber sie waren nicht allein, direkt hinter ihnen war … Diego.
Keine Ahnung warum, aber ihn zu sehen, machte das Ganze noch viel schlimmer. „Lasst mich in Ruhe!“, fauchte ich und warf den Beistelltisch in ihre Richtung. Er zerbrach am Türrahmen in seine Einzelteile. Keiner wurde getroffen, dafür waren sie einfach zu schnell. Diego schnappte sich nach einem kurzen Rundumblick Samuel und Leah und schob sie nach draußen. Meine Umbra jedoch blieben im Raum.
„Seid ihr taub?!“
Wachsam hob Logan die Hände, als wollte er mir zeigen, dass er unbewaffnet war und von ihm keine Gefahr ausging. „Vielleicht solltet Ihr Euch ein wenig beruhigen, dann …“
Ich schnappte mir ein Kissen vom Sofa und schmiss es in seine Richtung. „Sehe ich aus, als wollte ich mich beruhigen?! Ihr sollt verschwinden!“
Ginny war sich nicht ganz sicher, was sie tun sollte, denn die einzige Gefahr die in diesem Moment für mich bestand, war wohl ich selber. „Wir wollen Euch nur helfen, Prinzessin Cayenne.“
Ich funkelte sie an. Sie konnte nichts dafür, aber sie machte es auch nicht besser. „Ich will keine Hilfe“, knurrte ich und bemerkte zu meinem Leidwesen, wie meine Augen zu brennen begannen. „Ich will einfach nur, dass man mich alleine lässt. Ist das zu viel verlangt?“
„Prinzessin …“
„Nix Prinzessin, ihr sollte einfach nur verschwinden!“
Dazu schien keiner der Beiden bereit.
„Gut, dann verschwinde ich eben.“ Ich drängte mich zwischen ihnen hindurch, blieb aber an der Schwelle noch einmal stehen. „Ihr werdet mir nicht folgen“, knurrte ich und schickte noch einmal eine Extraladung Odeur in ihre Richtung. „Das ist ein Befehl.“
„Aber der König …“, begann Ginny.
„Der König ist nicht hier.“ Ich kniff die Augen ein wenig zusammen. „Ich schon und ich werde eine Befehlsverweigerung nicht dulden.“
Keine Ahnung was sie in diesem Moment in mir sahen, doch dieses Mal ließen beide den Mund geschlossen. Selbst als ich ihnen den Rücken kehrte, wagte es keiner von ihnen sich zu bewegen. Gute Entscheidung. Womit ich jedoch nicht gerechnet hatte, waren die drei Personen, die direkt vor meinem Zimmer auf dem Korridor standen. Diego, der sich gerade von Leah erklären ließ, was da drin geschehen war und Samuel, der mich bei meinem Auftauchen sofort wachsam beobachtete.
Diego hatte sich in den letzten Jahren kein bisschen verändert. Die braunen Haare trug er noch immer kurz und die braunen Augen waren viel zu aufgeweckt. Ich würde mich von ihm fernhalten müssen. Diego bemerkte mehr als gut für ihn war und das war in meiner Situation viel zu heikel.
Mit einem warnenden Blick in seine Richtung, wandte ich mich von ihnen ab und eilte den Korridor hinunter. Ich wusste nicht wohin ich gehen sollte, doch einfach da bleiben konnte ich nicht.
Warum nur musste Raphael versuchen mir zu helfen? Es wäre viel einfacher, wenn er einfach wegbleiben und mich vergessen würde. Er sollte glücklich sein, dass Vivien zurück war und sich daran erfreuen und mich nicht daran erinnern, was ich alles verloren hatte. Meine Freiheit, meine Berufung, ihn.
Oh Gott, wie sollte ich das nur schaffen?
Erst als die schwere Tür zur Bibliothek hinter mir ins Schloss fiel, bemerkte ich, wohin meine Beine mich getragen hatten. Natürlich, der einzige Ort, an dem ich mich hier immer sicher und geborgen gefühlt hatte. Obwohl es ja gar nicht dieser Ort war, der mir diese Gefühle vermittelt hatte, sondern ein Wolf, der sich nie in einen Menschen verwandelte. Das hier war Sydneys Rückzugsort.
Ich konnte seine Witterung in der Luft wahrnehmen. Sie war bereits mehrere Stunden alt, doch er war heute zwischen den vielen Regalen umhergelaufen.
Sein unverkennbarer Geruch wirkte wie ein Magnet auf mich. Ohne zu wissen, was ich da eigentlich tat, folgte ich ihm.
Draußen dämmerte es bereits. Das gedämpfte Licht der Bibliothek warf lange Schatten zwischen die Regale. An einem der Tische sah ich einen Mann mit Halbglatze arbeiten. Er schaute nicht mal auf, als ich an ihm vorbei ging.
Mein Weg führte mich ans andere Ende des Saals, dorthin wo die Historiker der königlichen Geschichte ihre Büros und Zimmer hatten. Zehn identische Türen lagen dort direkt nebeneinander. Sie unterschieden sich nur durch die Namen, die mit goldenen Lettern dort eingraviert waren.
Nur langsam trugen meine Beine mich zu der Tür, durch die ich früher so oft gegangen war. Hier war sein Geruch besonders stark und eine lange verdrängte Sehnsucht erhob zögernd ihr Haupt.
Beinahe schon zärtlich hob ich die Hand und strich mit den Fingerspitzen über seinen Namenszug. Ob er gerade da war? Früher jedenfalls hatte er diesen Raum nur verlassen, um in den Garten zu gehen oder für ein paar Stunden durch die Wälder zu streifen.
Das Bedürfnis gegen die Tür zu klopfen, war fast übermächtig und doch ließ ich die Hand wieder sinken und trat zurück. Ich war nun schon seit einem ganzen Tag hier und er hatte mich die ganze Zeit nicht aufgesucht. Wenn selbst die Themis wussten, wo ich mich befand, konnte es ihm nicht entgangen sein, darum wusste ich, dass er mich nicht sehen wollte. Ich konnte es ihm nicht übel nehmen, nicht nachdem ich ihn einfach so zurückgelassen hatte.
Aber er hatte es nicht verstanden. Wahrscheinlich würde er es niemals verstehen, warum ich gegangen war, einfach weil die Pflicht für ihm über allem anderen stand.
Als meine Augen wieder zu brennen begannen, wandte ich mich ganz ab und zog mich in einen halbwegs versteckten Teil der Bibliothek zurück. Eine einsame Stehlampe stand hier zusammen mit zwei antiken Sesseln unter einem Buntglasfenster, das einen Wolf auf dem Gipfel eines bewaldeten Berges zeigte.
Die Polster waren weich, das Licht angenehm, doch reichte es leider nicht um meine düsteren Gedanken zu vertreiben.
Ich saß da, in den Trümmern meines Lebens und wusste nicht was ich machen sollte. Alle die mir etwas bedeuteten, hatte ich auf eine Art verletzt, die niemals heilen konnte. Worte und Taten konnten wie Waffen sein und ich hatte mit Dolchen auf die wichtigsten Menschen in meinem Leben eingestochen. Aber damit hatte ich nicht nur sie, sonder auch mich verletzt.
Eine Träne kroch aus meinem Augenwinkel und kullerte still und heimlich über meine Wange.
Wenn ich nur daran dachte, was ich zu Raphael gesagt hatte, brach mein Herz gleich ein weiteres Mal. Ich hatte ihn nicht so vor den Kopf stoßen wollen, aber wenn ich es nicht getan hätte, hätte er nur weiter versucht mich zu retten und das durfte ich nicht zulassen. Wenn ich Glück hatte, würde er mich jetzt hassen und sein Leben ohne mich weiterleben.
Oh Gott, ich wollte nicht, dass er mich hasste.
Das Schluchzen kam einfach über mich. Ich schlug die Hände vor mein Gesicht und versuchte den Tränen Einhalt zu gebieten, aber der Kummer brach sich Bahn und wollte sich nicht mehr aufhalten lassen.
Wenn ich doch nur nicht alleine nach Luna gesucht hätte. Dann wäre sie jetzt noch am Leben und ich keine Gefangene. Es war eine der obersten Regeln der Themis: Keine Alleingänge. Aber ich hatte mich wie ein blutjunger Anfänger verhalten und mich damit in eine Klemme manövriert, aus der es kein Entrinnen gab. Ich wusste es. Seit meiner Abfahrt von Jegors Anwesen, hatte ich unentwegt darüber nachgedacht, wie ich dieser Falle entkommen konnte, aber es gab einfach keine Möglichkeit. Mein Leben gehörte nicht länger mir.
Eine sanfte Berührung an der Schulter, ließ mich die Hände sinken und in das besorgte Gesicht von Tante Blair blicken. Als Zwilling war sie das Ebenbild von Alica, doch einen solch mitfühlenden Ausdruck würde ich im Gesicht meiner Pseudo-Mutter wohl niemals sehen.
„Was ist geschehen?“, fragte sie leise und ging vor mir in die Hocke.
Was geschehen war? „Das Leben“, erklärte ich mit erstickter Stimme und versuchte meiner Tränen Herr zu werden.
Natürlich verstand sie das nicht. Und so wie die Dinge lagen, würde sie es auch niemals verstehen.
„Tut mir leid“, schniefte ich und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Dabei wusste ich nicht einmal, wofür ich mich entschuldigte.
Blair kniete sich vor mich und legte mir eine Hand aufs Bein. „Möchtest du darüber reden?“
Ich schüttelte nur den Kopf. Leider bemerkte ich dabei, dass Blair nicht alleine war. Halb im Schatten eines Bücherregals verborgen stand Umbra Drogan und das wahrscheinlich nicht nur, weil er einer der ihr zugeteilten Umbra war.
Die Ehe meiner Tante war schon kaputt gewesen, bevor sie Alessandro zum Gefährten genommen hatte und das nicht nur, weil ihr Gatte einer der schlimmsten Schürzenjäger war, die mir jemals über den Weg gelaufen waren.
Tante Blair hatte ihr Herz bereits lange Zeit vor der ersten Begegnung mit Alessandro an Drogan verloren und wie sich herausgestellt hatte, konnte auch Drogan ihr nicht widerstehen. Es war ein offenes Geheimnis, dass die beiden eine tiefgehende Affäre hatte. Zumindest bei all jenen, die ein wenig genauer hinschauten.
Ihn zu sehen und zu wissen, dass es selbst in dieser traurigen Geschichte Momente des Glücks gab, ließ mein Herz gleich noch ein wenig schwerer werden.
„Kann ich etwas für dich tun?“, fragte Blair und wischte mir vorsichtig eine Träne von der Wange. Blair war abgesehen von Samuel wohl die einzige gute Seele in dieser Familie.
„Kannst du die Zeit zurückdrehen?“ Nur ein paar Tage, das würde schon ausreichen.
Ihr Blick sprach von Bedauern.
„Vergiss was ich gesagt habe.“ Gröber als nötig, rieb ich mir die Tränen aus dem Gesicht. „Es war nur dummes Gerede.“
„Wenn du etwas brauchst, Cayenne, kannst du immer zu mir kommen. Wenn es in meiner Macht steht, werde ich dir helfen.“
Es war immer noch seltsam, nach so vielen Jahren wieder mit meinem richtigen Namen angesprochen zu werden. „Das hat Mama auch gesagt.“ Als sie mich fragend anschaute, erklärte ich: „Als ich sie das letzte Mal sah, in dem Hotel. Sie hat gesagt, ich sollte mich an dich wenden, wenn ich Probleme habe.“
Ihr Blick wurde ein wenig weicher. „Es tut mir so leid, was Vater getan hat.“ Sie zog aus einer versteckten Rocktasche ein Stoffaschentuch und reichte es mir. „Aber ich bin sicher, dass es ihr gut geht. Celine war schon immer die Stärkste von uns gewesen. Wenn auch ein kleinen wenig dickköpfig.“
Ich gab ein tränenersticktes Lachen von mir, als ich das Taschentuch entgegen nahm und mein Gesicht damit betupfte. „Sie war immer stur wie ein Ochse.“
„Das stimmt.“ Blair erhob sich vom Boden und setzte sich mir gegenüber in den anderen Sessel. „Das war schon als kleines Kind so. Ich erinnere mich noch gut, dass sie ein halbes Jahr nicht mit Alica gesprochen hat, nur weil die ihr verboten hatte, im Winter draußen im See zu baden.“
Das ließ mich lächeln.
„Oder einmal, da war sie gerade mal acht oder neun Jahre alt. Im Stall gab es ein Pferd, dass sie unbedingt reiten wollte, aber es war sehr scheu und hatte sich nicht mal von den Vampiren gerne anfassen lassen. Mutter hatte ihr verboten, den Tier zu nahe zu kommen, aber Celine ist wann immer sie konnte heimlich zu diesem Pferd gegangen und hat mit ihm geredet und ihm Futter gegeben. Und irgendwann konnte sie es dann wirklich reiten.“ Sie lächelte.
„Das hat sie mir nie erzähl“, sagte ich etwas wehmütig. Wenn man es genau nahm, hatte meine Mutter nie viel aus ihrer Kindheit erzählt. Das lag wohl daran, dass ihre Vergangenheit bis vor ein paar Jahren ein Geheimnis gewesen war. „Hat sie sich noch mal bei dir gemeldet?“, fragte ich leise. „Also nach dem Brief?“
Diese Frage veranlasste sie dazu einen nervösen Blick zu Drogan zu werfen.
„Niemand in Hörweite“, sagte er leise.
Das schien sie zu erleichtern. Wahrscheinlich weil Isaac es nicht gutheißen würde, wenn jemand aus der Familie Kontakt zu meiner Mutter hatte. „Einmal“, erklärte sie dann leise. „Es war kurz nachdem du verschwunden warst. Sie hat mich angerufen um zu erfahren, warum alle Welt behauptet, dass du bei einem Ausflug nach Silenda entführt wurdest.“
Ach ja, das hatte ich ja schon fast vergessen. Diese Geschichte hatten die Alphas in die Welt gesetzt, um zu erklären, warum ich verschwunden war. Sie konnten ja schlecht sagen, dass der König ein Tyrann war und ich deswegen das Weite gesucht hatte. „Und, hast du ihr die Wahrheit gesagt?“
Sie nickte. „Celine war deswegen furchtbar aufgebracht. Sie war sogar kurz davor gewesen in den Hof zu kommen, um Vater den Hals umzudrehen. Gott sei Dank konnte ich ihr das ausreden.“
Das war wahrscheinlich wirklich besser. Meine leibliche Mutter war ein einsamer Wolf, eine Ausgestoßene des Rudels, der auch eine Abtrünnige, wie sie meistens genannt wurden. Wenn eine Abtrünnige dem Rudel zu nahe kam, konnte es passieren, dass sie getötet wurde und dabei war es egal, dass sie einmal eine Prinzessin gewesen war. „Und danach hast du nichts mehr von ihr gehört.“
Bedauernd schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß nur, dass sie nach dir suchen wollte und schwor Vater die Tyrannei auszutreiben, sollte dir irgendetwas zustoßen.“
Es war schön zu hören, dass sie nach mir gesucht hatte, auch wenn wir uns nie gefunden hatten. „Vielleicht … also wenn sie erfährt, dass ich wieder hier bin, vielleicht meldet sie sich dann wieder.“
„Vielleicht“, stimmte Blair mir zu. „Aber selbst wenn sie das nicht tut, darfst du nicht an ihr zweifeln. Du bist für Celine das Wichtigste auf dieser Welt.“
Leider würde mich das auch nicht retten. „Ich würde sie nur einfach gerne mal wieder in den Arm nehmen. Ich vermisse sie.“
Nach einem Moment des Schweigens, griff Blair nach meiner Hand. „Ich bin mir sicher, dass es ihr genauso geht. Und wenn es ihr möglich ist, wird sie sich sicher bei dir …“
„Da kommt jemand“, unterbrach Drogan und brachte Blair damit sofort zum Verstummen. Das war kein Thema, über das wir sprechen sollten, wenn andere zuhören konnten.
Ich lauschte in das Schweigen hinein, doch selbst mit meinem verbesserten Gehör, hörte ich erst nach mehreren Sekunden die Geräusche von näherkommenden Schritten. Wer dann jedoch in unser Sichtfeld trat, erfüllte mich nicht gerade mit Freude.
Neben meinen beiden Umbras, die sich eher im Hintergrund hielten, stießen sowohl Markis Nikolaj, als auch Kaidan und König Isaac samt ihren Umbras zu unserer illustren Runde. Bei Nicolaj und dem Prinzchen sah ich Erleichterung. Isaac dagegen wirkte einfach nur verärgert.
„Noch keinen Tag hier und schon machst du wieder Ärger“,warf er mir vor und hatte nur einen kurzen Blick für seine Tochter übrig. „Selbst die Jahre als Sklavin eines Skhäns scheinen dir keine Demut vermittelt zu haben.“
Blair runzelte missbilligend die Stirn, sagte aber nichts.
„Es ist doch nichts passiert“, versuchte Kaidan seinen Großvater zu beschwichtigen.
„Nichts passiert? Wie schon früher setzt sie sich wieder über unsere Gesetzte und Traditionen hinweg. Sie lässt ihre Umbras zurück und verschwinden danach auch noch spurlos, weswegen die halbe Belegschaft nach ihr suchen muss.“
Suchen? Hatte er etwa gedacht, ich hätte erneut die Flucht ergriffen? So wie er gerade schaute, war er scheinbar enttäuscht, dass ich immer noch hier war.
„Cayenne war nicht verschwunden“, trat nun auch noch Blair für mich ein. „Sie war die ganze Zeit bei mir. Wir haben geredet.“
„Aber sie hat keinen ihrer Umbra mitgenommen.“
„Aber das brauchte sie doch auch nicht, Umbra Drogan war schließlich …“
Mit einer Handbewegung brachte er seine Tochter zum Schweigen. „Darum geht es nicht. Cayenne wünscht, dass wir ihr vertrauen, aber wie können wir das, wenn sie sich nicht mal an die einfachsten Regeln hält?“
„Soll ich gehen, damit ihr ungestört über mich lästern könnt?“
So wie der König mich daraufhin anschaute, waren das wohl die falschen Worte gewesen. „Nur weil Geneva dich in Schutz nimmt, brauchst du nicht glauben, dir alles erlauben zu dürfen. Ab sofort wirst du dich, wie jeder andere in dieser Familie, an die Regeln halten. Hast du mich verstanden?“
Ich hatte schon eine patzige Antwort auf der Zunge, doch dann bemerkte ich Nikolajs Blick. Ich musste mich fügen. „Ja“, sagte ich daher nur leise. „Es tut mir leid, das wird nicht mehr vorkommen.“
Mit leicht zusammengekniffenen Augen fixierte Isaac mich, als vermutete er hinter meinen Worten eine List. Es passte wohl einfach nicht in sein Weltbild, dass ich so schnell einlenkte. „Das will ich wohl hoffen. Und vielleicht wärst du auch so gütig mir zu erklären, warum du in deinem Zimmer randaliert hast. Glaubst du die Belegschaft hat nichts besseres zu tun, als hinter dir aufzuräumen?“
Dann sollen sie es halt liegen lassen. Ich verbot mir, das laut auszusprechen.
„Ich warte.“
Was sollte ich dazu schon groß sagen? Den wahren Grund musste ich für mich behalten und ein anderer plausibler Grund fiel mir auf die Schnelle nicht ein. „Ich hatte einfach einen schlechten Tag“, erklärte ich leise.
„Ein schlechter Tag?“
„Großvater“, schritt Kaidan ein. „Vergiss bitte nicht, Cayenne hat eine schwere Zeit hinter sich.“ Er warf mir einen kurzen Blick zu. „Sie wird es sicher nicht wieder tun.“
„Jetzt soll ich auch noch Rücksicht darauf nehmen, dass sie sich in einer Situation befindet, die sie selber zu verschulden hat?“
Schweigen antwortete ihm, was wohl mehr sagte, als Worte es hätte tun können. Keiner sprach es aus, aber sie alle waren seiner Meinung. Wäre ich nicht weggelaufen, wäre nichts von alledem passiert. So viel zu einer vertrauensvollen und warmherzigen Familie.
„Ich möchte mich dafür entschuldigen, euch Unannehmlichkeiten bereitet zu haben. Ich werde mich ab jetzt an die Regeln halten.“ Eine Wahl blieb mir ja sowieso nicht.
Leider schien das Isaac nicht zu besänftigen, was aber auch daran liegen konnte, dass ihm allein schon meine Existenz ein Dorn im Auge war. „Das will ich für dich auch hoffen, ich werde mir von dir nämlich nicht noch einmal auf der Nase herumtanzen lassen. Und jetzt geh auf dein Zimmer, dort kannst du darüber nachdenken, was du getan hast.“
Ich bin keine fünf, du Riesenarsch! „Natürlich.“
Ohne jemanden in die Augen zu schauen, erhob ich mich von meinem Platz und tat genau das was er wollte, ich verschwand auf meinem Zimmer.
Das war nicht unbedingt das Schlechteste. So entkam ich nicht nur meiner Familie, sondern auch Nikolaj und dieser ganzen, beschissenen Situation.
Gerne hätte ich mich dort für den Rest meines Lebens versteckt, doch am Abend musste ich noch einmal hinunter, da man es in diesem Haus sicher nicht gutheißen würde, wenn ich das Familienessen verpasste. Das ich mir dabei die ganze Zeit anhören durfte, dass ich wegen meiner Unfähigkeit in zwei Tagen nicht an der Vollmondjagd teilnehmen konnte, machte es für mich zu einer Tortur. Es lag einfach nicht in meiner Natur, sich nicht zu wehren, doch genau das durfte ich nicht. Wenigstens schien Samuel mir meinen kleinen Ausraster nicht übel zu nehmen.
Die Nacht kam und ging, genau wie der nächste morgen. Bereits als ich mein Zimmer verließ, bemerkte ich den Trubel m Schloss. Heute war Tag der offenen Tür.
Nein, das beinhaltete keine Touristenführung durch das Schloss, es bedeutete, dass die Mitglieder des Rudels heute Nummern ziehen konnten, um eine persönliche Audienz bei den Majestäten zu bekommen. Sie konnten ihre Probleme vortragen und um Hilfe bitte. Nicht das hier irgendjemand die Hilfe bekam, die er wirklich brauchte.
Nach dem Frühstück, sollte ich den ersten Kandidaten für den Posten als mein Mentor kennenlernen. Dazu begleitete ich Königin Geneva hinauf in den kleinen Salon, wo bereits ein korpulenter Mann mit einem dicken Schnurrbart auf uns wartete. Er stellte sich mir als Erik Austerlitz vor und begann dann direkt mit der Erläuterung seines Unterrichts, der sehr umfangreich und langwierig war – genau wie die Ansprache die er vorbereitet hatte.
„Warum glauben sie, sind sie die beste Wahl für den Posten als mein Mentor?“, fragte ich irgendwann, als ich keine Lust mehr hatte mir anzuhören, dass im Grunde alles an mir geändert werden musste.
Mit dieser Frage brachte ich ihn einen kurzen Moment aus dem Konzept. „Ich wurde eingeladen, damit Ihr meine Dienste in Anspruch nehmen könnt.“
„Nein“, widersprach ich sofort. „Sie wurden eingeladen, damit ich entscheiden kann, ob ich ihre Dienste in Anspruch nehme. Sie sind nur ein Kandidat und das hier ist nichts weiter als ein Vorstellungsgespräch.“
Das war wohl nicht das, was er sich vorgestellt hatte. „Dann habe ich da wohl etwas missverstanden.“
„Scheint so.“ Ich schlug die Beine übereinander und versuchte zu ignorieren, dass der Kerl mir schon wieder in den Ausschnitt glotzte. Ob ihm überhaupt bewusst war, dass ich ein Stück weiter oben noch einen Kopf besaß? „Damit ist mein Frage aber noch nicht beantwortet. Also, warum sollte ich sie wählen?“
„Ich bin ausgezeichnet auf meinem Gebiet. Viele Betas schicken ihre Kinder zu mir, wenn sie Defizite aufweisen und ohne mich jetzt zu hoch loben zu wollen, jedes dieser Kinder hat seine Ausbildung bei mir als angesehene Mitglieder der Gesellschaft beendet.“ Er warf einen kurzen Blick zu Geneva, doch die hatte sich bisher nicht einmal zu Wort gemeldet. Sie war wahrscheinlich bloß hier, um sicher zu gehen, dass ich der Sache wirklich eine Chance gab.
„Was ist in ihren Augen ein angesehenes Mitglied der Gesellschaft?“
Über die Frage musste er einen Moment nachdenken, bevor er mit einem Lächeln antwortete: „Naja, ich möchte nicht überheblich wirken, aber ich denke, ich selber bin ein sehr gutes Beispiel.“
Er selber, so so. „Es ist ihrer Meinung nach also angebracht, einer Frau während eines Gesprächs ständig auf die Brust zu starren, anstatt in ihre Augen?“
Sein Mund klappte so schnell zu, dass ich seine Zähne klacken hörte und endlich hob er mal den Blick auf mein Gesicht.
Ja du Blödmann, das habe ich bemerkt. „Ich danke ihnen für ihr Kommen, aber gehen sie besser nicht davon aus, dass sie meinen Mentor spielen dürfen, ich bin nämlich mehr, als ein Dekolletee.“
„Prinzessin“, begann er, wurde durch die erhobene Hand von Geneva aber sofort zum Verstummen gebracht.
„Sie haben meine Enkelin gehört. Bitte gehen sie nun, vielleicht vergesse ich dann dieses unerhörte Verhalten.“
Er schien nicht bereit, so einfach aufzugeben, doch die Blicke unserer Umbras überzeugten ihn wohl davon, es einfach dabei zu belassen und den Raum mit einer letzten Verbeugung in unsere Richtung zu verlassen. Naja, der Blick von Genevas Umbra. Ginny wirkte nicht wirklich einschüchternd. Ich wollt ihr noch immer einen Lolli in die Hand drücken und sie spielen schicken.
Sobald ich mit Geneva wieder allein war – so mehr oder weniger – atmete ich erstmal tief ein. „Tut mir leid.“
„Wofür entschuldigst du dich?“ Sie griff nach ihrem Tee und begann darin zu rühren. „Du hast dich vorbildlich verhalten und deine Frage, warum er diese Position beziehen soll, fand ich nicht nur interessant, sondern auch weise.“
Ach wirklich? „Ich habe ihn einfach weggeschickt.“
„Da kann er wohl von Glück reden, dass du nichts anderes getan hast, oder?“ Als sie ihre Tasse an die Lippen hob, konnte ich gar nicht anders, als mich zu fragen, ob sie gerade versuchte lustig zu sein. Diese Seite an ihr kannte ich nicht und wenn ihr ehrlich war, fand ich sie sehr irritierend.
Als Samuel plötzlich mit Diego im Windschatten, in den Raum gestürzt kam, runzelte Geneva missbilligend die Stirn. „Samuel, ich bitte dich, wir sind hier doch nicht auf der Rennbahn.“
„Verzeih, Großmutter, es wird nicht noch einmal vorkommen“, versprach er und suchte dann meinen Blick. „Hast du einen Moment Zeit?“
Da meine Aufmerksamkeit nicht ihm, sondern seinem Schatten galt, bekam ich nicht wirklich mit, was er fragte. Ich schaute einfach nur den Mann an, der früher einmal mein bester Freund gewesen war. Zu meinem Erstaunen musste ich dabei feststellen, dass er noch immer den kleinen Goldring mit dem chinesischen Zeichen für Freundschaft am Finger trug.
Dieses Teil hatte ich ihm mal geschenkt, damals, als ich noch völlig unwissend gewesen war.
„Cayenne?“, fragte Samuel, weil ich nicht reagierte.
„Ähm“, machte ich und riss mich Diegos Anblick los. Mich mit Vergangenem zu beschäftigen, war vergebene Mühe. Was einmal gewesen war, würde niemals wieder so sein, dafür war einfach zu viel geschehen. „Ich weiß nicht“, sagte ich und schaute zu Geneva hinüber.
„Geht schon Kinder, wir sind hier erstmal fertig.“
„Das trifft sich sehr gut.“
Bevor ich die Gelegenheit bekam noch irgendetwas dazu zu sagen, schnappte Samuel sich meine Hand und zog mich aus dem kleinen Salon hinaus auf die Galerie.
„Hey, mach mal ein bisschen langsamer“, mahnte ich, als ich deswegen fast über den Saum meines Kleides stolperte. Ich würde mich wohl nie daran gewöhnen, diese Teile zu tragen. „Wohin so eilig?“
„Ich wurde instruiert, dies als Überraschung zu behandeln.“
„Das heißt du sagst es mir nicht?“
„Ganz genau.“
Das begeisterte mich zwar nicht unbedingt, einfach weil Überraschungen in der letzten Zeit nicht sonderlich gut für mich ausgefallen waren, aber Samuel wirkte so aufgeregt, dass ich da besser für mich behielt und ihn nach unten in die Eingangshalle folgte.
Was mich dort unten erwartete, konnte man wohl getrost als Massenversammlung bezeichnen. In der Eingangshalle wimmelte es nur so von Lykanern in allen Altersgruppen. Die warteten wohl alle darauf, das ihre Nummer aufgerufen wurde und sie eine Audienz bei den Majestäten bekamen. Kommen Sie, sehen Sie sich alles an, erhalten Sie eine Ablehnung, und dann gehen sie bitte wieder, wir haben schließlich noch mehr zu tun.
Aber nicht nur Bittsteller waren hier. Aufgereiht an den Wänden standen jede Menge Männer und Frauen der Wächter. Wahrscheinlich sollten sie dafür sorgen, dass es hier unten keine Probleme gab.
Es war nicht das erste Mal, dass ich das sah, aber ich fand diesen Anblick genauso überwältigend wie damals. Nicht weil es so viele Leute waren, sondern einfach weil ich wusste, dass sie sich alle in Wölfe verwandeln konnten. Es gab so viele von uns.
„Folge mir“, wies Samuel mich an. „Es ist gleich am Eingangsportal.“ Er wartete gar nicht erst, sondern marschierte sofort mit Diego im Schlepptau los.
Das nannte man dann wohl effizient.
Ich wechselte einen kurzen Blick mit Ginny, zuckte dann mit den Schultern und folgte meinem Cousin. Dabei bemerkte ich sehr wohl die neugierigen Blicke der Besucher und Bittsteller. Kam ja auch nicht so oft vor, dass man eine zweimal verschollene Prinzessin zu Gesicht bekam.
Als ich Samuel einholte, schaute er mir schon ungeduldig entgegen. „An deinem Leistungslevel, solltest du dringend arbeiten.“
Dafür bekam er einen bösen Blick. „Wolltest du mir nicht etwas zeigen?“
„Natürlich. Deine Überraschung steht gleich dort drüben.“
Ich folgte seinem ausgestreckten Finger mit den Augen und in meinem Gesicht ging die Sonne auf.
Raphael.
Einen Moment hielt ich es für eine Fata Morgana, aber er war es wirklich. Und er war nicht allein. Direkt neben ihm stand Tristan und sagte etwas zu seinem Bruder. Doch als würde Raphael meine Anwesenheit spüren, fokussierte sich eine Aufmerksamkeit allein auf mich.
Es fehlte nicht mehr viel, dann hätte ich im Kreis gelächelt. Und als er das Lächeln dann auch noch zögernd erwiderte, machte sich eine so intensive Freude in mir breit, dass mich meine Beine sich von ganz alleine in Bewegung setzten. Zumindest bis mir klar wurde, was ich gerade im Begriff war zu tun.
Ich blieb abrupt stehen und mein Lächeln fiel schneller in sich zusammen, als ein Kartenhaus bei einem Sturm. Nein, ich hatte ihm doch gesagt, dass er wegbleiben sollte. Konnte dieser verfluchte Vampir nicht einmal in seinem Leben auf mich hören? Das war doch nun wirklich nicht zu viel verlangt, oder?
Samuel musterte meine plötzlich steife Haltung kritisch. „Du wirkst nicht erfreut.“
Erfreut? Gott, ich wollte diesen Mann einfach nur um den Hals fallen, um ihn anschließend kräftig zu schütteln.
„Er erklärte mir, er sei ein alter Freund und du würdest dich freuen ihn zu sehen.“
Na das hatte er aber toll eingefädelt.
Als er einen Schritt in meine Richtung machte, wich ich automatisch vor ihm zurück. Ich musste etwas tun, nur was?
Mich trennten vielleicht zehn Meter von ihm. Um uns herum war lautes Stimmengewirr, aber für mich war es, als hörte ich ihn atmen. Alles an ihm war mir so vertraut. Ich konnte aber nicht mit ihm reden, das durfte ich einfach nicht. „Umbra Diego?“
Überrascht, weil ich ihn direkt ansprach, brauchte er einen Moment, um zu reagieren. „Ja, Prinzessin Cayenne?“
Ich schaute zu ihm auf. In seinem Blick lag eine stumme Frage, die nichts mit dieser Situation zu tun hatte und die ich ihm nicht beantworten würde. „Schick sie weg.“
Er musste nicht fragen um zu erfahren, wen ich damit meinte. Nicht nur weil er die beiden kannte, er war dabei gewesen, als ich vor drei Jahren zusammen mit den Brüdern verschwand. Wahrscheinlich fragte er sich, wie ich aus der Obhut der beiden in die Fänge der Skhän gelangt war. „Wünscht Ihr das wirklich?“
Nein. „Ja.“
Er musterte mich einen Moment, neigte dann aber den Kopf und setzt sich in Bewegung.
Als ich ihm mit dem Blick folgte, streifte ich zufällig Ginny. Sie hatte die Lippen verärgert aufeinander gepresst und schien unzufrieden. Ich kümmerte mich nicht weiter darum, den mein Interesse lag im Moment ganz woanders.
Als Raphael Diego auf sich zukommen sag, schaute er ihm misstrauisch entgegen, wartete aber einfach, bis der Umbra ihn erreichte.
Über den Lärm hinweg konnte ich nicht verstehen, was Diego zu ihm sagte, aber was ich wohl mitbekam, war, wie Raphael unwillig den Kopf schüttelte, etwas sagte und dann auf mich deutete. Diego hob die Hand, als wollte er sagen: „Was soll ich machen, sie ist die Prinzessin?“, woraufhin eine hitzige Diskussion losbrach.
„Verschwinde doch einfach, du Dummkopf“, murmelte ich so leise, dass nur Samuel mich hören konnte und irritiert zwischen uns hin und her schaute.
Aber Raphael wollte nicht verschwinden. Die Diskussion zwischen ihm und Diego war mittlerweile laut genug, dass sich einige der Umstehenden neugierig nach den beiden umsahen.
Tristan wich währenddessen unauffällig immer weiter von den beiden weg. Erst glaubte ich, dass er mit den beiden nicht in Verbindung gebracht werden wollte, was einfach nur albern war, aber dann wurde mir klar, dass er sich die Ablenkung zunutze machen wollte, um sich unbemerkt an Diego vorbeizuschmuggeln.
Meine Lippen wurden schmal. Das durfte ich nicht zulassen.
„Wächter“, rief ich laut genug, um jegliches Gemurmel in der Halle übertönte und auch Raphaels Aufmerksamkeit auf mich zog. „Entfernt diese beiden Männer vom Hof, sie dürfen das Gelände nicht mehr betreten. Ich erteile ihnen Hausverbot!“ Ich war vielleicht erst seit zwei Tagen wieder hier, aber ich war eine Prinzessin, was bedeutete, dass sich mehr als ein Dutzend Wächter aus der Menge lösten und auf Tristan und Raphael zumarschieren.
Mein Vampir schaute mich einfach nur ungläubig an. Er konnte nicht fassen, was ich hier tat, denn er verstand es nicht. Aber es tat ihm weh. Der Schmerz in seinen Augen war ein Spiegel meines eigenen, auch wenn ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Er musste sich von mir fernhalten.
„Cayenne!“, rief er, als die Wächter ihn an den Armen packten. Er versuchte sich gegen sie zu wehren, aber selbst er konnte es nicht mit so vielen Lykanern aufnehmen. „Cayenne, warum machst du das? Bamibi!“
Ich antwortete nicht. Ich tat nichts anderes als seinen Rufen zu lauschen und dabei zuzuschauen, wie er und Tristan hinausgebracht wurden. Selbst als sie langsam in der Ferne verklangen, konnte ich einen Moment nichts anders tun, als dazustehen und auf die Stelle zu starren, an der er eben noch gewesen war. Ich bemerkte nicht mal die Neugierde der Leute um mich herum. Was ich dagegen sehr deutlich wahrnahm, was Diegos Blick.
Er kannte mich gut genug, um zu erkennen, wie sehr ich in diesem Moment litt und dass ich mir gerade selber das Herz aus der Brust gerissen hatte.
Ich starrte einfach zurück und versuchte meine Gefühle hinter einer kalten Maske zu verbergen. Erst als Samuel mich am Arm berührte, erwachte ich aus meiner Starre.
„Es tut mir leid“, sagte er leise. „Ich habe angenommen, du würdest dich freuen.“
Wenn man es genau nahm, hatte ich mich auch gefreut, einen ganzen Augenblick lang. Aber dann war die Realität über mir zusammengebrochen. „Schon gut“, sagte ich und merkte, wie mir die Stimme wegbrach. So viel zum Thema, eiskalte Fassade. „Entschuldige mich.“
Ohne irgendjemand zu beachten, wirbelte ich herum und nahm eilig Kurs auf die Treppe. Ich musste allein sein. Ganz dringend. Nicht hier, gleich, aber jetzt noch nicht weinen. Nicht vor all dem Publikum.
Leider meinte das Schicksal es an diesem Tag mal wieder nicht sehr gut mit mir. Ich hatte die Treppe noch nicht ganz hinter mir gelassen, als ich Nikolaj oben an der Brüstung der Galerie entdeckte. Er musste mitangesehen haben, was hier gerade geschehen war und so wie er aussah, wollte er mit mir darüber reden. Aber das konnte ich im Augenblick nicht, ganz besonders nicht mit ihm. Darum wandte ich mich nur eilig von ihm ab und floh in mein Zimmer, wo ich mich auf die Couch warf und mir ein Kissen an die Brust drückte.
Mir hätte eigentlich klar sein müssen, dass Raphael nicht so einfach aufgeben würde, doch ihn zu sehen und seine Stimme zu hören … es tat so verdammt weh.
Meine Augen brannten, doch es floss keine Träne. Da war nur dieser unsagbare Schmerz, der mir das Gefühl gab, jemand würde mein Herz immer und immer wieder über ein Reibeisen ziehen.
Konnte es passieren, dass man all die Tränen, die einem im Leben zustanden, aufbrauchte? Wenn ja, würde ich nie wieder eine vergießen. Ich hatte in meinem Leben schon so viel geweint, schon so viel Scheiße erlebt, aber noch nie hatte ich mich so vollkommen allein und gefangen gefühlt.
Als es plötzlich an meiner Tür klopfte, vergrub ich mein Gesicht in dem Kissen. Konnte man mich nicht mal für fünf Minuten in Ruhe lassen? Ich wollte doch nur mal einen Moment alleine sein.
Leider wiederholte sich das Klopfen und zwang mich dazu mein Kissen zur Seite zu legen, einfach weil ich sonst fürchten musste, das jemand die Tür aufbrach – wäre nicht das erste Mal. Doch als ich dem Klopfen folgte, musste ich erneut feststellen, dass das Schicksal es heute einfach nicht gut mit mir meinte.
Es war Nikolaj, der da meine Aufmerksamkeit forderte. „Darf ich einen Moment reinkommen?“, fragte er höflich.
Nein. „Warum?“
„Ich würde gerne mit Euch sprechen. Nur einen Moment.“ Als ich ihn nur schweigend ansah, fügte er noch ein „Bitte“ hinzu.
Ich wollte nicht. Ich wollte ihm die Tür vor der Nase zuschlagen und mich einfach in meinem Schmerz vergraben, aber ich wich ihm nun schon seit zwei Tagen aus und lange würde er das wohl nicht mehr mitmachen. Ich hatte eine Verantwortung übernommen und so schwer es mir auch fiel, ich öffnete die Tür etwas weiter und kehrte dann zu meinem Platz auf dem Sofa zurück.
Nikolaj folgte einen Augenblick später. Er schloss die Tür von innen und ließ seinen Blick dann einmal durchs Zimmer gleiten. „Schön habt Ihr es hier.“
Dazu brauchte ich nun wirklich nichts sagen.
Etwas unsicher wie er sich verhalten sollte, schaute er zu dem Platz neben mir auf dem Sofa, entschied sich dann aber dafür, an der Tür stehen zu bleiben. Wie konnte so ein Mistkerl nur so gut aussehen? „Erklärt Ihr mir, was da eben vorgefallen ist? Wer waren die beiden Männer?“
„Was geht sie das an?“ Ich schnappte mir wieder mein Kissen und kauerte mich damit in die Couchecke.
„Zumindest der eine von ihnen scheint Euch gut gekannt zu haben und ich muss wissen, ob sie zum Problem werden …“
„Wagen sie es gar nicht einen von ihnen zu nahe zu kommen!“, fuhr ich ihm über den Mund. „Die beiden gehen sie absolut nichts an!“
Er zog die Augenbrauen ein wenig zusammen. „Ich wollte doch nur wissen …“
„Ich habe schon verstanden und wenn es ein Problem geben würde, würde ich mich selber darum kümmern. Und jetzt verschwinden sie aus meinem Zimmer, bevor ich ihnen den Arsch aufreiße!“
Leider hatte Nikolaj keinerlei Ambitionen zu gehen. Trotzig verschränkte er die Arme vor der Brust. „Ihr solltet nicht so mit mir sprechen. Vater hat gesagt, Ihr sollt mir mit gebührlichen Verhalten entgegenkommen und nicht …“
„Wenn wir geheiratet haben und ich Ihre Ehefrau bin, nicht vorher.“
„Was?“
Ich glaube, er tat nicht nur so, sondern war wirklich dumm. „Ich habe Ihrem Vater versprochen eine liebende Gefährtin zu sein, nicht Versprochene, Gefährtin. Unterschied kapiert? Wir sind noch nicht mal offiziell verlobt. Ich tue schon genug um diese Scharade aufrechtzuerhalten, mehr werden sie von mir bis zu unserer Hochzeit nicht bekommen.“
Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Er schien mit dieser Situation ein wenig überfordert zu sein. „Prinzessin Cayenne, ich habe Euch schon mal gesagt, ich bin nicht Euer Feind.“
„Aber mein Freund sind Sie auch nicht und das werden Sie auch niemals sein. Ich hasse Sie!“
Er biss sich auf die Lippen und sah zur Tür, als überlegte er den Rückzug anzutreten. Nur zu, ich würde ihn sicher nicht daran hindern. „Ich glaube wir sollten uns einfach ein wenig besser kennenlernen“, schlug er vorsichtig vor. „Vielleicht können wir runter nach Silenda gehen und zu Abend essen?“
Wie bitte? „Ich soll mit Ihnen zu Abend essen?“
„Ja. Wenn Euch das nicht recht ist, dann können wir auch Morgen etwas unternehmen, was immer Ihr wünscht.“
„Ein Date?“
Er nickte.
„Mit Ihnen?“
Noch ein Nicken, diesmal schon zögerlicher. Er hatte wohl meinen ungläubigen Ton wahrgenommen.
„Was sollte mich dazu bewegen, mehr Zeit als nötig mit ihnen zu verbringen? Das war nicht Teil der Abmachung und jetzt verschwinden sie, bevor ich diese ganze Scharade über den Haufen werfe.“
„Prinzessin …“
„Raus hier“, knurrte ich mit einem deutlichen Grollen in der Stimme und schickte ihm zur Krönung noch einen Schwall Odeur. Er war vielleicht ein Beta, der mich erpressen konnte, aber ich war noch immer ein Alpha. „Und wagen sie es nicht dieses Thema noch einmal anzusprechen.“
„Wie Ihr wünscht.“ Er machte eine leichte Verbeugung und verließ dann tatsächlich mein Zimmer.
Ich konnte nur hoffen, dass ich gerade keinen Fehler gemacht hatte, aber Abmachung war Abmachung und ich würde mich an ihren genauen Wortlaut halten. Bis zur Hochzeit hatte ich noch eine Schonfrist und niemand würde mir die nehmen können.
°°°
Das Lied des Mondes pulsierte in meinem Körper. Es war beruhigend, gab mir Trost und half mir ein wenig über den Schmerz in meinem Herzen hinweg. Leider erinnerte es mich aber auch daran, was kurz bevorstand. Morgen war Vollmond. Bereits jetzt konnte ich das Kribbeln unter meiner Haut spüren und fühlte wie er nach mir rief.
Zum ersten Mal seit langem fürchtete ich mich wieder davor. Dieses Mal würde kein Raphael da sein, um mich schützend in seine Arme zu zeihen, wenn der Wolf in mir auf sein Recht auf Leben kämpfte. Zum ersten Mal würde ich auf mich allein gestellt sein.
Es war Abend. Die Dunkelheit hatte eine Kälte mitgebracht, die mich dazu zwang, mich tiefer in meinem Mantel zu kuscheln. Die steinerne Bank unter meinem Hintern half auch nicht gerade dabei mein Wohlbefinden zu steigern.
Ich war nervös. Nach allem was heute geschehen war, würde ich gleich zum ersten Mal nach Jahren auf Sydney treffen – wenn er denn kam.
Im Labyrinth war es ruhig. Selbst die Geräusche vom Schloss waren zu leise, um bis hier her vorzudringen. Vielleicht war ich aber auch einfach zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt. Würde er sich freuen mich wiederzusehen? Oder hasste er mich, weil ich ihn im Stich gelassen hatte? Am liebsten wäre ich wieder in mein Zimmer verschwunden, um das Unausweichliche noch ein wenig aufzuschieben. Leider bestanden meine geliebten Großeltern darauf, bei meinem Unterricht auch anwesend zu sein.
Irgendwo, knapp außerhalb der Hörweite, stand Umbra Logan. Ich hatte ihm gesagt, er solle sich fern halten. Diese Sache hier würde schon ohne seine neugierigen Ohren schwer genug werden.
Um diese ganzen trübsinnigen Gedanken zu verscheuchen, schloss ich die Augen und konzentrierte mich auf nichts anderes, als auf den Geruch um mich herum. Es roch noch genauso wie damals. Alles war so fremd und gleichzeitig so vertraut.
Der kalte Wind streifte durch die Hecken und ließ die Blätter raschen. Ich lauschte den Klängen der Natur, bis ich plötzlich den Blick spürte. Es war wie ein intensives Starren das bis tief auf meine Seele blicken konnte und es gab nur einen Wolf auf diesem Planeten, der das so gut beherrschte. „Sydney“, flüsterte ich und schlug die Augen auf.
Einen kurzen Moment glaubte ich mir seine Gegenwart nur eingebildet zu haben, doch dann entdeckte ich ihn am Rand des Lichtkegels der Laterne.
Er sah noch genauso aus, wie in meiner Erinnerung. Sydney war der wohl größte Wolf, dem ich jemals begegnet war. Sein sandfarbenes Fell wirkte ein wenig struppig. Das kam von den unzähligen Narben, die seinen Körper überzogen. Sie waren auch der Grund, warum er sich niemals zurück in einen Mann verwandelte. Bis heute hatte er mir nicht erzählt, woher er sie hatte.
Doch viel auffälliger als seine Narben, war dieser stechende Blick, der einem immer das Gefühl gab, er würde einen bis auf die Seele durchleuchten.
„Du bist wirklich gekommen.“ Verdammt, musste meine Stimme so unsicher klingen? „Ich hätte ja gedacht, du lässt mich einfach sitzen.“
„Es war der Wunsch von Prinz Kaidan, Euch wieder zu unterrichten. Ich füge mich nur in meine Pflicht.“
Das war wie ein Schlag in die Nierengegend. Genauso gut hätte er mir sagen könne, dass er nur hier war, weil man ihn dazu gezwungen hatte.
Ich biss die Zähne zusammen und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich das traf.
Als sich zwischen uns ein unangenehmes Schweigen ausbreitete, kam er zögerlich näher und setzte sich mit einigem Abstand zu mir ins kalte Gras. „Da Ihr so lange fort gewesen seid, fällt es mir ein wenig schwer Eure Fortschritte der letzten Jahre einzuschätzen. Darum bitte ich Euch mir zu erzählen, was Ihr in dieser Zeit erreicht habt.“
Seine Stimmte klang so distanziert und abweisend, als sei ich eine Fremde. Nein, das stimmte nicht. Selbst als wir noch zwei Fremde gewesen waren, war er mir eine gewisse Wärme begegnet. Aber jetzt und hier herrschte zwischen uns der eisige Wind der Arktis. Er hasste mich also wirklich.
Ein Dolch bohrte sich tief in mein Herz und riss dann mit Widerhaken daran.
„Euer Schweigen ist nicht hilfreich und behindert den Unterricht.“
Der Unterricht, natürlich. Das war alles, was uns jetzt noch verband. „Meine Sinne sind besser geworden“, sagte ich leise. „Wenn ich mich richtig anstrenge, schaffe ich es mir einen Pelz wachsen zu lassen, aber der verschwindet dann auch ziemlich schnell wieder. Ich habe Krallen und manchmal werden meine Ohren ein wenig spitzer. Und … naja, das war es auch so ziemlich.“
„Ihr habt die Barrikade die Euch zurückhält also noch nicht überbrückt.“
„Scheint so.“ Ich wagte einen vorsichtigen Blick in seine Richtung, nur um festzustellen, dass er auf den Boden starrte. „Mittlerweile glaube ich nicht mehr, dass ich überhaupt fähig bin mich zu verwandeln.“
„Der Wolf ist unverkennbar in Euch und kämpft darum an die Oberfläche zu gelangen, darum kann ich mit Sicherheit sagen, dass Ihr dazu fähig seid.“
„Glaubst du wirklich?“
„Ja. Doch über unser weiteres Vorgehen werde ich erst einmal nachdenken müssen, darum werden wir heute nur ein wenig im Licht des Mondes baden. Bitte legt Euch hin und konzentriert Euch auf sein Licht. Und verhaltet Euch dabei ruhig.“
Das war eine nette Umschreibung mir mitzuteilen, dass er keinerlei Interesse daran hegte, sich mit mit zu unterhalten.
Früher hatten wir immer miteinander geredet. Selbst wenn er gesagt hatte, dass ich still sein sollte, hatten wir uns unterhalten. Doch dieses Mal zweifelte ich nicht daran, dass er es ernst meinte. Er hatte sich von mir abgekapselt und hegte keinerlei Interesse daran, das zu ändern.
Die Melancholie begann mich niederzudrücken. Ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen, als ich mich auf der kalten Bank ausstreckte, um hinauf zum Mond zu schauen. Was hatte ich den auch geglaubt, was passieren würde? Dass er mich sah und alles wäre vergeben und vergessen? Ich hatte ihn verletzt und damit das kein weiteres Mal geschehen konnte, wollte er auf Abstand bleiben.
Gott, warum musste in meinem Leben eigentlich immer alles von Kompliziert auf Katastrophal springen? Eigentlich war es doch nicht zu viel verlangt, hin und wieder ein Quäntchen Glück abzubekommen.
Nach einiger Zeit begann die Kälte sich durch meinen Mantel zu fressen. Ich schob die Hände unter die Achseln, um sie warm zu halten. Gleichzeitig musste ich aufpassen, dass ich nicht von der Bank kullerte.
Früher hätte ich mich einfach an Sydney gekuschelt, aber heute würde er sich vermutlich nicht mal von mir über de Kopf streicheln lassen. Es war wirklich alles im Arsch und so wie es aussah, würde sich das in naher Zukunft auch nicht mehr ändern.
Es war so ruhig neben mir, dass ich einen vorsichtigen Blick zur Seite riskierte, um mich zu versichern, dass er noch da war. Er hatte seine Position nicht verändert, aber er schaute weder mich, noch den Mond an. Sein Blick war zu Boden gerichtet. Er wirkte niedergeschlagen, so ganz anders als früher.
Wie gerne hätte ich etwas gesagt. Nicht nur um ihn aufzumuntern, auch um die Wogen zwischen uns zu glätten. Ohne Sydney war dieser Ort einfach nur ein trostloses Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gab.
Als meine Augen zu brennen begannen, blinzelte ich ein paar Mal heftig. Ich würde jetzt nicht anfangen zu heulen, ich war froh, dass ich endlich damit aufgehört hatte, aber diese erdrückende Stille … sie war viel schlimmer, als wenn er mich angeschrien oder beleidigt hätte. Damit hätte ich wenigstens umgehen können.
Als Sydney sich seine Position veränderte und sich im Gras ausstreckte, sah ich etwas Silbernes in seinem Fell aufblitzen. Einen dummen Moment lang glaubte ich, er würde ein Halsband tragen, doch dann erkannte ich, dass es ein kleiner, silberner Anhänger war, der an einer ledernen Schnur hing.
Meine Augen weiteten sich ein wenig. Diesen Anhänger hatte er von mir bekommen. „Du trägst ihn noch“, flüsterte ich und schaffte es damit, dass er mich einen kurzen Moment anschaute.
„Ihr sollt Euch auf den Mond konzentrieren“, war jedoch alles, was er dazu sagte.
Aber nachdem ich das jetzt gesehen hatte, konnte ich das nicht mehr. Trug er den Anhänger als Mahnung, oder bedeutete dieses kleine Ding ihm etwas?
Es war dumm und verrückt – besonders nachdem was ich getan hatte – aber ein Keim der Hoffnung streckte vorsichtig seine Fühler aus. Vielleicht … vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren, aber was könnte ich tun, oder sagen, um die Situation zwischen uns zu verbessern? Oder ihn wenigstens dazu zu bekommen, nicht mehr ganz so abweisend zu sein? Vielleicht wäre für den Anfang die Wahrheit ganz gut.
„Ich bereue es nicht, gegangen zu sein“, sagte ich leise, ohne ihn aus den Augen zu lassen. „Aber ich bereue die Art, wie ich es getan habe.“
Eine Wolke schob sich vor den Mond und ließ die Nacht noch ein wenig dunkler werden.
„Ich habe dich nie verletzten wollen Sydney, aber hätte ich etwas gesagt, hättest du nur versucht mich aufzuhalten. Du wärst niemals mit mir mitgekommen.“
Ich wartete einen Moment, doch er reagierte nicht. Selbst als ich mich aufsetzte, ging sein Blick noch ins Leere. „Es tut mir leid, das ist es was ich dir sagen will. Es tut mir leid, dass ich keinen anderen Ausweg sah und es tut mir leid, dass ich dich verletzt habe.“
„Und trotzdem seid Ihr gegangen.“ Er hörte sich traurig an.
„Es war die einzige Möglichkeit, die mir geblieben war, kannst du das nicht verstehen?“
„Es ist egal, ob ich es verstehe. Mit Eurem Verschwinden habt Ihr nicht nur dem Rudel, sondern auch Euch selber geschadet.“
Das Stimmte wohl, nur leider meinte er es anders, als es der Wahrheit entsprach. Es hatte mir geschadet, weil ich so in die Klauen von Markis Jegor Komarow geraten war und nicht, weil ich drei Jahre lang eine Sklavin gewesen war. Andererseits, wäre ich geblieben, wäre ich schon viel früher Nikolajs Gefährtin geworden und Vivien wäre wohl niemals frei gekommen. „Ich wusste einfach nicht mehr weiter“, sagte ich leise.
„Das glaube ich Euch, aber dadurch ändert sich nichts.“
Es war zwecklos. Warum auch immer er noch den Anhänger trug, er war sicher kein Zeichen der Zuneigung und ich hatte heute einfach nicht mehr die Kraft, dass alles zu ertragen. Wegen dieser ganzen Maskerade hatte ich das Band zwischen mir und Raphael zerschneiden müssen und jetzt auch noch Sydney Ablehnung, das war einfach zu viel für einen Tag.
„Nein, dadurch ändert sich nichts“, sagte ich leise und erhob mich von der Bank. „Es ist kalt und ich bin müde, darum … ich werde jetzt gehen.“
Sydney schaute zwar zu mir auf, sagte aber kein Ton.
Ich wartete noch ein paar Sekunden, doch egal, was ich mir da auch erhoffte, es trat nicht ein. „Gute Nacht.“ Niedergeschlagen wandte ich mich von ihm ab und trat langsam den Rückzug an. Umbra Logan war hinter mir, kaum dass ich mich in Bewegung setzte und folgte mir lautlos wie ein Schatten.
Die ersten Male hatte ich mich in diesem Labyrinth immer furchtbar verlaufen. Heute jedoch fand ich den richtigen Weg auf Anhieb. Das hatte nichts mit meinem Orientierungssinn zu tun, ich folgte einfach den Fährten in der Luft, genaugenommen folgte Sydneys Fährte. Er kannte so gut wie jeden Winkel dieser Hecken, also war ich damit auf der richtigen Seite.
Was ich jedoch nicht bedacht hatte, war die Möglichkeit, dass er nicht direkt aus seinem Büro zu mir gekommen war. Das wurde mir erst klar, als ich um eine Hecke bog und fast in einem Baum lief. Oh Gott, ich kannte diesen Baum. Hier war ich am letzten Abend vor meiner Flucht gewesen. Hier hatte ich Sydney das erste und einzige Mal als Mann gesehen. Hier hatten wir uns geküsst, bevor ich ihm das Herz gebrochen hatte.
Beinahe schon zärtlich, hob ich die Hand und strich vorsichtig über die raue Rinde. Der ganze Platz roch nach ihm. Ich wusste ja schon von meinem Telefonaten mit Samuel, dass Sydney sich in den vergangenen Jahren häufig hier aufgehalten hatte, doch jetzt hier zu stehen und ihn zu riechen war so überwältigend, dass meine Augen wieder zu brennen begannen.
Auch wenn mir keine andere Wahl geblieben war, das hier hatte ich ganz schön verbockt.
Bevor ich mich noch in einen Wasserfall verwandeln konnte, wandte ich mich eilig ab und zog mich auf mein Zimmer zurück, doch schlafen konnte ich in dieser Nacht nicht. Es waren nicht meine immer wiederkehrenden Alpträume, die mich wachhielten, es waren meine rotierenden Gedanken, die einfach keine Ruhe geben wollten. Weder am nächsten Morgen, noch am folgenden Mittag.
Als ich mich am Nachmittag wieder in den kleinen Salon begab, war ich noch immer gefangen in einer Spirale, die mich immer weiter in den Abgrund zog. Liebend gern hätte ich mich weiter auf meinem Zimmer verkrochen, doch der Termin mit dem zweiten Anwärter auf den Posten als mein Mentor stand auf dem Plan.
Während Geneva konzentriert in ihrem Tee rührte, starrte ich auf die antike Uhr über dem Kamin. Wen auch immer sie eingeladen hatten, er hätte bereits vor fünf Minuten hier sein sollen. Nicht das mich sein Zuspätkommen störte – meinetwegen konnte er auch ganz wegbleiben – aber dann wäre ich doch lieber an einem Ort, an de ich mich nicht so zusammenreißen musste.
„Du bist heute so still“, bemerkte Geneva und legte ihren Teelöffel zur Seite.
„Müde“, war alles was ich sagte.
„Hast du nicht gut geschlafen?“
Ich habe überhaupt nicht geschlafen. Ich zuckte nur mit den Schultern.
Der Ausdruck in ihrem Gesicht wurde ein wenig weicher. „Vielleicht sollten wir Doktor Ambrosius Rat doch ein wenig Beachtung …“
Auf dem Korridor gab es einen Knall, gefolgt von einem unterdrückten Fluch.
Ginny, die sich direkt an der Tür postiert hatte, warf einen kurzen Blick hinaus. Da sie aber nicht losstürmte, um irgendwen zu meucheln, befand ich mich wohl nicht in Gefahr.
Wenige Sekunden später erschien ein hagerer Mann im Anzug in der offenen Tür. Seine brauen Haare waren penibel nach hinten gekämmt, seine Schuhe auf Hochglanz poliert und in seinen Armen hielt er eine zerbrochene Vase, von der ich mir sicher war, dass sie vorhin noch auf der Galerie gestanden hatte – in einem Stück, versteht sich.
„Bitte verzeiht meine Verspätung, Majestäten“, entschuldigte sich der Mann und schaute sich nach der Kommode links um. Nach kurzem Zögern, legte er die Scherben der Vase darauf auf und machte dann eine wirklich beeindruckende Verbeugung. „Normalerweise bin ich pünktlich, aber mein Wagen wollte nicht anspringen.“
Die Vase erwähnte er mit keinem Wort. Über so viel Dreistigkeit hätte ich fast geschmunzelt.
Geneva nippte nur einmal an ihrem Tee und stellte die Tasse dann auf den antiken Beistelltisch. „Frederic zu Obach, nehme ich an?“
„Jawohl, Eure Majestät.“ Er zupfte einmal schnell sein Jackett zurecht und strich ich dann über das Haar. „Ich möchte mich noch einmal in aller Form entschuldigen.“
„Sowas kommt vor“, sagte ich nur deutete dann auf die Couch gegenüber. „Setzten sie sich doch.“
„Vielen Dank, gerne.“ Er setzte sich in Bewegung und auch wenn er versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, wirkte er ein wenig nervös. Das gefiel mir, weil ihn das irgendwie menschlich erscheinen ließ.
Er setzte sich so gerade auf die Couch, dass ich schon Angst bekam, sein Rücken würde gleich durchbrechen und lächelte dann leicht. „Verzeiht mir, aber ich bin ein wenig aufgeregt. Ich hatte noch nie die Ehre mit zwei so zauberhaften Alphas den Raum zu teilen.“
Okay, jetzt zuckte mein Mundwinkel doch. „Sie glauben ich sei zauberhaft? Man merkt, dass sie mich nicht kennen.“
Daraufhin schmunzelte selbst die Königin ein wenig.
„Wenn ich großes Glück habe, wird sich das bald ändern.“
„Versuchen sie mir zu schmeicheln?“
„Ein wenig“, gab er zu. „Solange man es nicht übertreibt, kann ein wenig Schmeichelei nie schaden.“
Ich musste sagen, es gefiel mir. Er wirkte nicht so überzogen und aufgeblasen, wie der vorherige Bewerber. „Sie haben sicher etwas vorbereitet, aber da ich mir bereits gestern stundenlang anhören durfte, wie man was wann macht, möchte ich diesen Teil überspringen und direkt zu der Frage kommen, die mich am meisten interessiert.“ Und die Geneva für intelligent gehalten hatte. So konnte ich das Ganze vielleicht ein wenig abkürzen. „Warum glauben sie, seien sie die beste Wahl für den Posten als meinen Mentor?“
„Oh, die Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten. Dürfte ich einen Moment darüber nachdenken?“
„Sicher.“
Und dann nahm er sich wirklich zwei Minuten in denen er die Frage gründlich überdachte. Was dabei positiv zu beachten war: Er starrte mir nicht aufs Dekolletee – viel gab es da ja auch eigentlich nicht zu sehen.
Als er dann endlich eine Antwort gefunden hatte, schien er nicht ganz zufrieden damit zu sein. „Wenn ich ehrlich sein sollt, ich weiß es nicht. Ich weiß um meine Fähigkeiten und kann Euch sicher gute Diensten leisten, doch leider bin ich keine Koryphäe auf meinem Gebiet. Die Rollte als Mentor einer Prinzessin ist zwar eine große Ehre, aber auch mit viel Verantworte verbunden. Wenn ich Euch etwas Falsches vermittle, könnte ich Euch damit unbeabsichtigt vor dem ganzen Adel bloßstellen.“
„Sie möchten mir also sagen, sie seien nicht kompetent?“
„Oh doch, das bin ich. Ich gebe nur zu Bedenken, dass ich sicher nicht perfekt bin und – ich möchte mich jetzt schon dafür entschuldigen, dass ich das sage – aber auch wenn ihr vom Titel her eine Prinzessin seid, so war es Euch durch Euren Lebensweg nicht möglich, Euch auch nur im Entferntesten das anzueignen, was das Wort Prinzessin impliziert.“
Hatte er mich etwa gerade beleidigt? Warum nur hatte ich trotzdem da Bedürfnis zu schmunzeln? „So? Wenn ich in ihren Augen keine Prinzessin bin, was bin ich denn dann?“
„Da habt Ihr mich wohl missverstanden, in meinen Augen seid Ihr unbestreitbar eine Prinzessin, eben nur ganz … speziell.“
Ich war mich nicht sicher, ob das eine Beleidigung, oder ein Kompliment sein sollte. „Glauben sie, dass sie mir helfen können?“
„In der Tat, doch kann ich nicht mit Sicherheit sagen, dass ich die beste Hilfe bin, die Ihr bekommen könnt.“
Irgendwie war der Kerl ja schon ein wenig seltsam. Einerseits schien er den Job haben zu wollen, andererseits nicht. Vielleicht machte ihn die Anwesenheit zweier Alphas aber auch einfach nur furchtbar nervös. „Gibt es sonst noch etwas, dass sie sagen möchten?“
In seinem Gesicht ging die Sonne auf. „Nur das Ihr in diesem Kleid bezaubernd ausseht.“
Da hatten wir ganz offensichtlich einen Charmeur. „Danke, auch dafür, dass sie sich die Zeit genommen haben hier her zu kommen.“
„Natürlich.“ Er erhob sich und machte eine kleine Verbeugung. „Ich möchte noch einmal betonen, auch wenn Ihr mich nicht wählt, dass ich mich sehr geschmeichelt fühle, überhaupt in Betracht gezogen worden zu sein. Das ist wirklich eine Ehre für mich.“
„Die Ehre ist ganz auf meiner Seite.“ Ich reichte ihm die Hand. „Na dann, vielleicht sieht man sich ja.“
„Ich hoffe es.“ Er verbeugte sich auch in Genevas Richtung, zog dann sein Jackett ein weiteres Mal zurecht und verließ den Raum.
„Das war ein sehr kurzes Gespräch“, bemerkte Geneva, sobald er außer Hörweite war.
„Es hat gereicht um ihn kennenzulernen.“ Nachdenklich lehnte ich mich in meinem Sessel zurück. „Er hat mit keinem Wort das Missgeschick mit der Vase erwähnt.“
„Ist mir aufgefallen.“
Ich fand das noch immer ziemlich dreist. „Ich mag ihn.“
Geneva neigte interessiert den Kopf. „Möchtest du ihn zu deinem Mentor machen?“
Da ich mir nicht sicher war, zuckte ich einfach nur mit den Schultern. „Ich werde es mir auf jeden Fall durch den Kopf gehen lassen.“
„Das freut mich zu hören.“ Mit einem Seufzen erhob sie sich von ihrem Platz und strich ihr Kleid glatt. „Nun denn, da dieses Gespräch kürzer als erwartet war, werde ich mal nach deinem Großvater sehen. Er kann sicher ein wenig Hilfe bei der Vorbereitung für die Vollmondjagd heute Abend gebrauchen.“
Ich verstand zwar nicht, was man da groß vorberieten musste, aber ich würde sie sicher nicht aufhalten. „Ich verschwinde dann wohl besser wieder auf mein Zimmer.“ Da hätte ich wenigstens meine Ruhe. Außerdem hatte Isaac mir beim Frühstück unmissverständlich mitgeteilt, dass er mich aufgrund meiner Unfähigkeit mich zu verwandeln heute nicht sehen wollte. Wahrscheinlich wäre es ihm am liebsten, wenn ich mich einfach in Luft auflösen würde.
„Hast du denn alles, was du für heute Abend brauchst?“
Nein, Raphael war nicht hier. „Ich komme schon klar.“ Auch ich erhob mich von meinem Platz und war kurz am überlegen, ob ich noch etwas sagen sollte. Aber dann schüttelte ich einfach den Kopf und wandte mich ab, um mich zurück zu ziehen.
Der Moment der Ablenkung war vorbei und all die drückenden Gedanken kehrten wieder zu mir zurück. Von Isaac wusste ich, dass ich die Nacht wie schon einmal im Mondturm verbringen sollte. Unklar war allerdings, ob irgendjemand bei mir sein würde, oder ob ich diese Tortur würde allein durchstehen müssen. Sydney würde wahrscheinlich da sein, aber wenn ich mich nur daran erinnerte, wie kalt und abweisend er gestern Abend zu mir gewesen war, wäre es vielleicht besser, wenn er wegblieb. Ansonsten gab es in diesen Mauern niemand, den ich mich in dieser Nacht anvertrauen würde.
Gott, ich hatte wirklich Angst vor diesem Abend.
Da diese Gedanken nicht hilfreich waren, schob ich sie von mir und sah zu, dass ich zu meinem Zimmer kam. Ginny musste sich mit ihren kurzen Beinchen ganz schön beeilen, um mit mir mithalten zu können. Das war nun mein dritter Tag hier und ich wollte mich immer noch einfach nur vor allem verstecken. Würde das jetzt immer so sein? Vielleicht hatte ich ja irgendwann Glück und würde einfach einschlafen und nie wieder aufwachen.
Und da waren sie wieder die düsteren Gedanken.
Mich selbst im Stillen beschimpfen, bog ich im Korridor nach rechts ab und lief direkt in eine Wand. „Uff“, machte ich und trat eilig einen Schritt zurück. Dabei musste ich leider feststellen, dass da niemand eine Wand mitten in den Weg gebaut hatte. Es war Diego, der da den Weg blockierte und mich mit diesem Blick fixierte, den ich schon früher gehasst hatte. Als versuchte er allein damit die Wahrheit aus mir heraus zu bekommen.
Ich erwiderte ihn einen Moment, dann schaute ich lieber auf den Boden und wollte mich an ihm vorbei schieben, doch er trat mir einfach in den Weg.
„Ich will mit dir reden“, sagte er ganz direkt.
Oh oh.
°°°°°
Mit Diego reden, war keine gute Idee, denn er war leider nicht dumm und im Moment konnte es nur eine Sache geben, die er mit mir besprechen wollte. „Ich hab jetzt keine Zeit“, sagte ich und versuchte mich erneut an ihm vorbei zu drängen. Dieses Mal gestattete er es, aber so einfach ließ sich ein Diego Evers nicht abschütteln. Er schloss sich mir einfach an. Toll.
„Dann nimm dir die Zeit.“
„Musst du nicht auf Samuel aufpassen?“, versuchte ich ihn erneut abzuwimmeln.
„Joel ist gerade bei ihm.“
Super. „Dann … keine Ahnung, such dir eine andere Beschäftigung.“ Noch zwei Meter bis zu meiner Tür, einer. Ich streckte den Arm nach den Handscanner aus, doch bevor ich ihn berühren konnte, griff Diego nach mir und drehte mich sehr nachdrücklich zu sich herum. „Hey!“
Ginny kniff die Augen ein wenig zusammen, griff aber noch nicht ein.
„Cayenne, ich …“
„Prinzessin Cayenne für dich.“
Seine Lippen wurden ein wenig schmaler. „So willst du das jetzt handhaben? Wirklich?“
„Ich brauche hier nichts zu handhaben, ich bin deine Prinzessin, also nimm deine Pfoten weg, bevor ich sauer werde.“ Ich gab ihm gar nicht erst die Gelegenheit mich loszulassen, ich machte mich einfach selber von ihm frei und trat dann einen Schritt zurück. „Und jetzt wäre ich dir wirklich sehr verbunden, wenn du einfach das Weite suchen würdest.“
„Nicht bevor du mit mir gesprochen hast.“
„Du machst mir Vorschriften?“ Ich zog eine Augenbraue hoch. „Dir ist bewusst, mit wem du hier sprichst, oder? Wenn ich will, kann ich dich abführen lassen und dann wirst du eine ganze Weile mit niemanden mehr sprechen.“
Er schaute mich an, als würde er mich nicht mehr wiedererkennen. „Wir waren einmal Freunde“, sagte er dann sehr leise.
„Das ist schon sehr lange her und hat heute keine Bedeutung mehr.“ Ich schob ihn sehr nachdrücklich zur Seite und konnte meine Hand endlich auf den Scanner legen. Bevor ich die Tür jedoch aufzog, sagte ich noch: „Und wage es nicht mich noch einmal zu behelligen. Wir haben uns nichts mehr zu sagen.“ Damit verschwand ich eilends in meine Zimmer.
Einen Moment stand ich einfach nur da uns wusste nicht was ich machen sollte. Ich hatte zu heftig reagiert. Das lag am Vollmond. An diesen wenigen Tagen im Monat war ich immer sehr gereizt, aber es lag auch daran, dass Diego mir Angst machte. Nicht als Person. Ich hatte Angst vor dem was passieren würde, sollte er die Wahrheit erfahren.
Ich musste ihn auf Abstand halten. Auch wenn ich gerade jetzt einen Freund gebrauchen konnte, ich durfte ihn nicht an mich heran lassen. Nur ein falsches Wort und er wüsste, das hier etwas nicht stimmte. Wahrscheinlich war ihm jetzt schon klar, das hier irgendwas im Argen lag, doch solange ich ihn nicht an mich heran ließ, konnte er nichts herausfinden.
„Es ist besser so“, sagte ich zu mir selber. Ich konnte nicht zulassen, dass Anouk etwas geschah. Wenn dieser kleine Junge starb, weil ich nicht richtig aufgepasst hatte … das würde ich mir niemals verzeihen können.
Leider machte es das für mich nicht leichter.
In der Dämmerung klopfte Collette an meine Tür und machte mir damit bewusst, dass es an der Zeit war sich vorzubereiten. Die Nacht würde nicht ewig auf sich warten lassen und Mond streckte bereits seine Fühler nach mir aus. Sein Lied pulsierte bereits tief in meiner Seele.
Ein wenig später klopfte dann auch noch Drogan an meine Tür. Da weder Ginny noch Logan von meiner wahren Natur wussten, würde er heute den Aufpasser für mich spielen.
Das letzte Mal wurde ich nicht nur von einer Eskorte zum Mondturm begleitetet, Isaac hatte sogar ein Dutzend Wächter und einen Arzt für mich dort abgestellt. Dieses Mal jedoch war nur Drogan zugegen, der mich durch das Labyrinth begleitete und aufpasste, dass ich unterwegs nicht einfach umkippte.
Entweder versuchten meine Großeltern mir wirklich zu zeigen, dass sie mir vertrauten, oder – und meiner Ansicht nach wahrscheinlicher – es war ihnen einfach egal, solange ich ihnen nicht im Weg war.
Der Mondturm, war wie der Name schon sagte, ein Turm, in dem selbst Rapunzel sich zuhause gefühlt hätte. Oben war eine kugelförmige Kuppel, die zum Großteil aus Glas bestand. Nicht nur deswegen hatte der Turm seinen Namen, es lag vor allem daran, dass er das höchste Bauwerk auf dem Gelände war und damit am nächsten zum Mond.
Der Weg dorthin war für mich nicht ganz einfach. Zweimal musste ich anhalten, weil mich ein so starker Schwindel überkam, dass ich fast in die Knie ging. Das war nichts Neues für mich, so begann es immer. Der zweite Anfall war so schlimm, dass Umbra Drogan sich gezwungen sah, mich zu stützen, damit ich überhaupt weiter kam.
Sobald wir das Gebäude betreten hatten und die dicken Mauern den Sog des Mondes ein wenig dämpften, ließ das Unwohlsein ein kleinen wenig nach.
„Es geht schon“, erklärte ich, als mein Aufpasser versuchte den Fahrstuhl zu rufen und mich gleichzeitig zu stützen. „Sie können ruhig loslassen.“
„Seid Ihr Euch sicher?“
„Ja.“ Ich nickte und zog meinen Morgenmantel ein wenig fester um mich. Die Vergangenheit hatte mich gelehrt, dass ich in solchen Nächten am besten wenig bis gar nichts trug, weil ich irgendwann das Gefühl bekam, innerlich zu verbrennen, wenn ich zu viel trug.
Was Drogan dachte, ließ er sich nicht anmerken, aber er ließ mich los und rief den Fahrstuhl. Trotzdem behielt er mich noch genau im Auge.
„Wenn die Bemerkung erlaubt ist, es ist kein Zeichen von Schwäche sich helfen zu lassen.“
Das vielleicht nicht, aber im Moment verließ ich mich lieber nur auf mich. „Bleiben sie hier unten, oder kommen sie mit rauf?“
„Ich werde oben im Vorraum warten.“
Als der Fahrstuhl kam, torkelte ich eher hinein, als dass ich ging und war ehrlich froh, mich dort am Handlauf festhalten zu können. In meinem Kopf puckerte es die ganze Zeit unangenehm und ich konnte bereits jetzt die aufsteigende Hitze spüren, die mich an jedem Vollmond quälte. Ob die da oben wohl ein Bad voller Eiswürfel für mich vorbereitet hatten? Eher nicht.
Der Fahrstuhl glitt beinahe lautlos nach oben und entließ uns in die linke Hälfte der Kuppel. Zwei kleine Fenster sorgten dafür, dass man sich hier nicht ganz von der Außenwelt abgeschnitten vorkam. In der Ecke standen zusammen mit einem Tisch ein paar bequeme Stühle. Die Zierpflanze in der Ecke war neu.
Das war der Teil, in dem Drogan die Nacht verbringen würde, ich musste durch die offene Tür auf die rechte Seite.
„Den Rest schaffe ich alleine“, erklärte ich dem Umbra und machte mich daran die beschwerlichen zwei Meter hinter mich zu bringen.
Der andere Teil der Kuppel bestand aus einer einzigen Fensterfront. In gebogenen Schienen waren Rollos angebracht, um sie abzudunkeln, doch wie schon beim letzten Mal, waren sie im Moment alle hochgezogen und die Fenster weit geöffnet. Das mulmige Gefühl, dass nun in mir aufstieg, hatte nichts mit dem zu tun, was mir bevorstand.
Ich mochte den Turm nicht besonders, denn ich hatte verflucht noch mal, Höhenangst.
Wer dagegen keine Angst zu haben schien, war Sydney. Er saß nicht nur am offenen Fenster, er hatte auch noch die Augen geschlossen und ließ sich die kühle Nachtluft um die Nase wehen. Der Wind zerrte an seinem hellen Pelz und das Licht des Mondes ließ ihn fast unwirklich erscheinen.
Einen Moment rang ich mit mir, ob ich ihn überhaupt ansprechen sollte. Unser gestriges Treffen war schließlich nicht so gut gelaufen. „Hast du keine Angst abzustürzen?“
„Ich sehe nicht hinunter, ich sehe nur hinauf.“
Aber mich sah er leider nicht an. Ich drückte de Lippen aufeinander und wandte mich meinem Lager für die Nacht zu. Es bestand aus einer in den Boden eingelassenen Matratze. Sie war kreisrund und überfüllt mit Zierkissen und mehreren Naturfelldecken. Darüber spendeten ein paar Wandleuchten ein wenig Licht.
Ich griff nach dem Gürtel, der meinen Morgenmantel zusammen hielt, zögerte dann aber. Sydney hatte mich schon in Unterwäsche gesehen und er wusste auch um die Brandnarbe an meinem linken Oberschenkel, die ich unter einer Binde verborgen hielt. Doch heute war es mir irgendwie unangenehm, mich vor ihm zu entkleiden.
Leider war das völlig egal. Ich musste ihn ablegen, sonst würde die Hitze mich später in den Wahnsinn treiben. Bereits jetzt fühlte ich das kribblige Summen unter meiner Haut, das Prickeln auf meinem Kopf und wie sich mir die feinen Härchen auf meinen Armen erwartungsvoll aufrichteten. Der Mond war schon fast voll, das Lied überwältigend, der Klag berauschend.
Etwas steif ließ ich den Morgenmantel von meinen Schultern rutschen, warf ihn achtlos neben das Lager und schlüpfte aus meinen Schuhen. Dann streckte ich mich vorsichtig darauf aus. Meine Haut war im Moment überempfindlich. Zu viel Reibung wäre einfach nur unangenehm.
Sobald ich lag, atmete ich einmal tief durch und schaute wieder zu Sydney. Er saß noch immer am Fenster und schien seinen Platz in nächster Zeit auch nicht verlassen zu wollen. Das war jetzt genau das, was ich brauchen konnte: Noch mehr Ablehnung.
Resigniert schlug ich die Augen nieder und dachte an Raphael. Wenn er jetzt hier wäre, würde er mich im Arm halten und mich beruhigend streicheln. Aber er war nicht hier.
„Wie habt Ihr die Vollmonde der letzten Jahre erlebt?“
Nicht alleine. „Warum fragst du? Es interessiert doch doch sowieso nicht.“ Niemanden interessierte es.
Verwundert wandte er den Kopf zu mir herum. „Warum glaubt Ihr, dass es mich nicht interessiert?“
Weil es nur noch deutlicher wäre, wenn du es mir ins Gesicht sagen würdest. Ich schloss die Augen. „Geh einfach Syndey, ich schaff das schon alleine.“
Nach kurzem Zögern fragte er: „Ihr wollt, dass ich gehe?“
So wie er sich verhielt? Ja. „Ich habe heute nicht die Kraft, deine Ablehnung zu ertragen.“ Eine leichte Übelkeit ließ mich mehrmals schlucken. „Außerdem willst du doch sowieso nicht hier sein. Es ist dir egal. Du machst das nur, weil Kai es dir befohlen hat.“
Krallen klackten auf dem hellen Fliesenboden. Das Geräusch kam auf mich zu, doch erst die Berührung seiner Nase an meiner Hand, ließ mich die Augen wieder aufschlagen. „Selbst wenn Ihr mir egal währt, würde ich Euch in einer solchen Nach niemals allein lassen.“
Ja, weil es als mein Mentor seine Pflicht war bei mir zu bleiben.
„Prinzessin Cayenne, ich möchte Euch helfen, doch wenn Ihr nicht mit mir sprecht, wird das sehr schwer für mich.“
Fast hätte ich gelacht. Schwer für ihn? Was glaubte er denn, wie ich mich fühlte? „Wärst du wirklich hier, wenn du nicht müsstest?“, frage ich ihn leise.
Nach einem kurzen Moment des Schweigens, seufzte er. „Ja, Prinzessin. Wenn Ihr es erlauben würdet, wäre ich hier.“
Der dumme, kleine Hoffnungsfunke machte sich wieder bemerkbar. „Wirklich?“
„Ja.“
Ich glaubte ihm. Einfach weil es Sydney war und er mich noch niemals belogen hatte.
Als mein Finger zu zucken begann, grub ich meine Hand in die Felldecken. „Es ist nicht mehr so schlimm wie früher“, erklärte ich leise. „Meistens liege ich einfach nur da und quäle mich durch seltsame Fieberträume.“
„Das heißt keine Schmerzen mehr?“
Wie zur Antwort, verkrampfte sich mein Bein. Ich drückte es durch und atmete einmal tief ein. „Es ist auszuhalten.“
Sydney musterte mich auf dieser Art, wie nur er es konnte. „Gibt es etwas, dass ich für Euch tun kann?“
„Bleib bei mir.“ Die Worte waren raus, bevor ich näher darüber nachdenken konnte. Mist, warum musste ich nur so weinerlich klingen?
„Darum bin ich hier“, murmelte er und legte sich halb auf das Lager rauf. Dabei platzierte er seine Pfote so, dass ich nach ihr greifen konnte, was ich auch tat. Er zog sie nicht weg und dafür war ich ihm in diesem Augenblick wirklich dankbar.
Kalte Oktoberluft drang durch die offenen Fenster herein und strich wohltuend über meinen Körper. Ich spürte wie meine Temperatur stieg und ich zu schwitzen begann. Das Licht des Mondes summte auf meiner Haut. Mein Herzschlag beschleunigte sich langsam und mein Atem wurde schneller.
„Schhh“, machte Sydney, als ich seine Pfote ein wenig fester griff und stupste mir mit der Nase gegen die Hand. „Habt keine Angst, Ihr seid nicht allein.“
„Ich hab dich vermisst“, murmelte ich und drehte mein Gesicht in eins der Zierkissen. Vor meinen Augen erschienen leuchtende Punkte und schattenhafte Bilder streiften meinen Geist. Ich spürte wie ich in eine Art Trance versank, ohne etwas dagegen tun zu können.
Sydney sagte etwas zu mir, aber ich verstand es nicht. Es raschelte. Bäume, Wälder, Schatten huschten durch meine Gedanken.
Mir war heiß. Ich drehte mich auf den Rücken, in der Hoffnung mir dadurch ein wenig Erleichterung zu verschaffen. Mama rief nach mir und lud mich ein mit ihr im See baden zu gehen, aber Alica erlaubte es nicht.
Ich spürte eine Berührung an der Stirn. Als ich blinzelnd aufschaute, strich Raphael mir eine verirrte Strähne aus dem Gesicht.
„Du fehlst mir“, flüsterte ich und versuchte nach ihm zu greifen, doch meine Hände gingen ins Leere. Ich tastete das Bett nach ihm ab, aber er war nicht da. „Ryder“, murmelte ich und drehte mich wieder auf die Seite. „Ryder.“
„Schhh, ich bin bei Euch.“
Die Hitze in mir wurde schlimmer. Meine Muskeln begannen zu zucken. Ich stöhnte und drehte mich herum, bis ich auf allen Vieren kauerte. Meine Haut brannte unangenehm. „Oh Gott“, flüsterte ich und krallte die Finger in die Decken.
Plötzlich durchschnitt ein fernes Heulen die Nacht. Ich riss den Kopf hoch und lauschte. Als es sich wiederholte, stieg in meiner Kehle ein Knurren auf. Dieses Geräusch, es machte mich wütend. Ich wollte …
Ein weiterer Wolf stimmte in das Geheul mit ein. Und noch einer. Sie riefen nach mir, denn ich musste sie führen.
„Prinzessin?“
Langsam wandte mein Kopf sich zur Seite. Da lag ein Wolf. Ohne Vorwarnung packte ich ihn im Nacken und drückte ihn auf den Boden, dabei stieg mir sein vertrauter Geruch in die Nase. „Sydney“, murmelte ich und lockerte meinen Griff.
Als er nur abwartend zu mir aufschaute, beugte ich mich vor und lehnte meine Stirn an seine. „Meiner“, murmelte ich und genoss seine Nähe. Er gehörte zu mir, ich war sein Alpha.
Auf einmal drang mehrstimmiges und so lautes Geheul zum Mond hinauf, dass ich ruckartig herumwirbelte. „Meine.“ Sie riefen mich.
Urplötzlich stürzte ich los. Ich musste zu ihnen, jetzt.
„Cayenne!“
Das Geräusch von hastigen Krallen auf glattem Boden. Etwas packte mich schmerzhaft am Arm und riss mich so heftig zurück, dass ich auf die Seite knallte.
Ich rollte mich herum und sah Sydney, der knurrend und mit gesträubtem Fell vor mir stand und mich nicht zum Rudel lassen wollte. Er versperrte den Weg nach draußen.
Aus den Tiefsten meiner Kehle stieg ein Knurren auf. Sydney legte die Ohren an und schrumpfte ein wenig in sich zusammen, aber er ging nicht zur Seite.
„Ihr könnte dort nicht raus, das ist ein Fenster!“
Hinter mir gab es einen Knall. Als ich mich hastig umschaute, sah ich eine Gestalt auf zwei Beinen und … noch einen Weg.
Ich fackelte nicht lange und stieß mich ab. Knurrend sprang ich auf das Loch in der Wand zu, stieß den Mann zur Seite und befand mich dann in einer dunklen Höhle.
„Prinzessin!“
Die zweibeinige Gestalt griff nach mir, doch ich schlug seine Hand fort und schaute mich hastig nach einem Fluchtweg um.
„Nein, lassen sie sie. Verwandeln sie sich und folgen sie ihr.“
Noch immer lockte mich das Heulen der Wölfe. Ich streckte die Nase in die Luft und nahm Witterung auf. Mehrere Spuren und … da! Dort, eine … Treppe. Genau, eine Treppe.
Ohne mich umzuschauen, rannte ich sie hinunter. Immer weiter in die Tiefe. Das Herz klopfte in meiner Brust, mein Atem war schnell und in meinen Ohren klangen die Rufe meines Rudels. Die letzten Stufen nahm ich in einem Sprung und floh dann durch das Loch in der Wand hinaus in die kalte Nacht.
Plötzlich bracht das Heulen in der Ferne ab. Ich steckte die Nase in die Luft, um die Witterungen aufzunehmen. Die Gerüche, die mir entgegenschlugen, explodierten förmlich in meiner Nase. Ich versuchte sie zu filtern und zu sortieren, da hörte ich hinter mir ein Wimmern.
Als ich mich umdrehte, stand Sydney mit aufgerichteten Ohren hinter mir und beobachtete mich aufmerksam.
„Kommt mit mir, Prinzessin.“ Wieder stieß er ein Winseln aus. „Folgt mir.“
Aber das Rudel, ich hatte es in der anderen Richtung gehört.
Unentschlossen sah ich zwischen ihm und meinem eigentlichen Ziel hin und her.
„Kommt.“ Er machte langsam eine paar Schritt rückwärts und jaulte leise. „Lasst uns laufen gehen.“
Ja. Ja, das wollte ich auch. Mit Sydney laufen.
Als er noch ein Stück zurück wich, rannte ich los. Im gleichen Moment wirbelte er herum und übernahm die Führung. Ich versuchte ihn einzuholen, während wir im Zickzack zwischen den Hecken umherrannten, aber er war so schnell. Kurzzeitig verlor ich ihn sogar aus den Augen und gab ein kurzes Jaulen von mir. Und dann war da plötzlich nur noch der Wald.
Einen Moment blieb ich einfach stehen und starrte in die undurchdringliche Finsternis unter dem dichten Blätterdach der Baumkronen. Gerade wollte ich einen Schritt darauf zumachen, als hinter mir wieder der Gesang der Wölfe begann. Sofort lag meine Aufmerksamkeit bei ihnen.
Ich lauschte dem Heulen und versuchte die genaue Richtung auszumachen.
„Nein, nicht da entlang, folgt mir.“
Ich schaute zu Sydney, wirbelte dann aber herum und rannte los.
„Nein, Prinzessin!“
Sydney rannte los, doch bevor er mich erreichen konnte, schoss von der Seite ein weißer Wolf heran. Ich versuchte noch auszuweichen, da rammte er mich auch schon in den Kniekehlen und riss er mich damit von den Beinen. Der Sturz auf den Rücken war hart und trieb mir einen Moment die Luft aus den Lungen.
Neben mir stand der weiße Wolf und beobachtete mich. Er hatte mich einfach umgerissen. Das machte mich echt sauer. Dem würde ich es zeigen.
Knurrend rollte ich herum und sprang ihn direkt an. Mein Gewicht riss uns beide zu Boden. Als ich nach einem Büschel seines Fells griff, gab er einen Knurrlaut von sich. Ich wälzte mich auf ihn rauf, packte ihn im Nacken und drückte ihn auf den Boden. Um mich herum explodierte mein Odeur. Ich war hier der Alpha.
Der Wolf unter mir wurde ganz ruhig. Seine Ohren waren angelegt, der Blick wachsam, aber er zeigte keine Angst.
„Meiner“, flüsterte ich mit einer ungewohnt tiefen Stimme und starrte ihm tief in die Augen.
Als er sich nicht wehrte, lockerte ich meinen Griff. Meine Finger glitten vorsichtig durch das schneeweiße Fell. Sein Geruch drang mir in die Nase. Ich kannte ihn, das war Drogan.
Leise Schritte im Gras veranlassten mich den Kopf herumzureißen. Es war nur Sydney, der sich mir unterwürfig nährte.
„Lauft mit mir“, sagte er leise. „Lasst von ihm ab und begleitet mich. Die Nacht und der Wald warten auf uns.“
Mein Blick richtete sich auf die endlosen Wälder hinter ihm. Er hatte recht, die Natur lockte mich. Ich wollte laufen, mich bewegen und alles erkunden. Es war mein Revier, ich war hier der Herrscher.
Nur langsam erhob ich mich von Drogan und lauschte in die Nacht hinein. Es war still, nur der Wind ließ die Blätter rascheln.
Sobald ich wieder stand, rollte Drogan sich auf die Beine und schüttelte sein Fell aus.
Ich warf ihn einen warnenden Blick zu und dann rannte ich einfach los. Ich rannte, als hinge mein Leben davon ab und ich genoss es.
Links und rechts schossen Sydney und Drogan heran. Sie überließen mir die Führung. Eine nie gekannte Euphorie machte sich in mir breit. Ich warf den Kopf in den Nacken und begrüßte den Mond. Hunderte von Stimmen aus der Ferne antworteten mir, aber es war mir egal. Ich wollte einfach nur laufen.
Die Bäume flogen nur so an mir vorbei. Das feuchte Laub unter meinen Füßen war kalt, doch ich spürte es nicht. Mein Atem ging schnell, mein Herz raste in der Brust und meine Lungen schmerzten von der Anstrengung. Es war herrlich. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so frei gefühlt. Nur ich und dieser endlose Wald.
Vor uns tauschte ein umgekippter Baumstamm auf. Er war zu hoch um einfach darüber zu springen, darum machte ich eine scharfe Kurve nach recht und da passierte es. Das feuchte Laub unter meinen Füßen rutschte weg. Ich verlor das Gleichgewicht, fiel auf die Seite und überschlug mich zweimal, bevor ich liegen blieb.
„Prinzessin Cayenne!“ Sydney kam hastig von der Seite angesprungen. „Prinzessin, geht es euch gut?“
Anstatt zu antworten, spuckte ich den Dreck in meinem Mund aus. Das hatte wehgetan. Meine linke Schulter schmerzte und ich hatte mir den Zeh umgeknickt.
Als Sydney mir vorsichtig gegen die Hand stupste, richtete ich mich ein wenig auf und da roch ich es. Es war ein moschusartiger Geruch und ich kannte ihn. Kaninchen.
Aufmerksam sah ich mich um und spitzte die Ohren. Es musste hier irgendwo sein. Sein Geruch war so intensiv und … da. Es musste dort drüben unter dem Busch kauern. Der Wald um mich herum war still geworden. Die Kreaturen darin wussten dass ich auf der Jagd war, sie versteckten sich. Irgendwo in der Nähe stieß ein Vogel einen Warnruf aus.
Langsam, um auch keine Geräusche zu machen, arbeitete ich mich auf alle Viere und fixierte den Busch.
„Was habt Ihr vor?“
Ich knurre, um ihm zu sagen, dass er ruhig sein sollte und genau in diesem Moment schoss das Kaninchen unter dem Busch hervor. Mich hielt nichts mehr auf meinem Platz. Meine Instinkte übernahmen einfach und ich jagte dem Kaninchen hinterher.
„Aber was macht Ihr denn?“, hörte ich Sydney erstaunt fragen.
Das Kaninchen schlug einen Haken und flitzte ins Unterholz.
Als ich versuchte ihm zu folgen, stoben zu allen Seiten Blätter auf. Links, rechts, links. Vor uns tauchte ein Baum auf. Das Kaninchen rannte direkt auf die Wurzeln zu und verschwand dort hastig in einem Loch.
Oh nein, so schnell würde ich meine Beute nicht aufgeben. Ich sprang auf das Loch und begann zu graben. Sein Geruch hing noch immer in der Luft und erfüllte meine Nase. Ich konnte sein kleines Herz klopfen hören. Es war da drin, aber ich kam nicht heran.
Frustriert gab ich ein Jaulen von mir und hörte dann ein leises Lachen in meinem Kopf.
„Dieses Kaninchen bekommt Ihr nicht mehr.“
Als ich mich umdrehte, stand Sydney hinter mir und ich könnte schwören, dass er schmunzelte. „Weg.“
„Ja Prinzessin, es ist weg.“
Ein Gefühl der Enttäuschung überkam mich. Ich hatte das Kaninchen so sehr gewollt. Warum nur war ich nicht schneller gewesen?
Als würde Sydney meine Frustration spüren, kam er näher und stupste mir mit der Nase gegen die Wange. Diese Geste war so vertraut, dass ich das Kaninchen einfach vergaß und mich allein auf ihn konzentrierte.
„Sydney“, flüsterte ich und neigte meinen Kopf zur Seite. Meine Finger glitten vorsichtig durch sein Fell. Es war genauso wie in meiner Erinnerung. Sein Geruch und seine Wärme waren mir trotz all der Jahre noch so vertraut. „Mein Sydney“, flüsterte ich und vergrub das Gesicht in seinem warmen Pelz.
Einen kurzen Moment spannte er sich ein wenig an, doch als ich dann auch noch die Arme um ihn schlang, seufzte er geschlagen. „Es war nie anders“, flüsterte seine Stimme durch meinem Kopf. „Und es wird nie anders sein.“
Nein, niemals. Er gehörte zu mir.
Als ich neben mir ein Geräusch hörte, riss ich den Kopf herum und entdeckte Drogan ein paar Meter von uns entfernt. Ich bekam Lust ihn zu ärgern, also ließ ich von Sydney ab, stürzte auf ihn zu und riss ihn mit mir zusammen zu Boden.
°°°
Ein Vogel zwitscherte. Blätter rauschten im Wind. Ein paar Sonnenstrahlen kitzelten mich im Gesicht. Um die Kälte zu vertreiben, kuschelte ich mich ein wenig enger an mein warmes Kissen. Es roch so gut und so vertraut.
Ich griff nach oben, um meine Decke höher zu ziehen. Der Stoff war seltsam … dünn.
„Seid Ihr wach?“
„Nein.“ Moment, war das nicht Sydneys Stimme? Überrascht schreckte ich auf und musste nicht nur feststellen, dass mein warmes Kissen Sydney war, sondern auch, dass wir beide mitten im herbstlichen Wald lagen. Keine Wunder dass meine Zehenspitzen froren. „Ähm …“
Sydney hob den Kopf und musterte mich. „Ist mit Euch alles in Ordnung?“
Das war eine ausgezeichnete Frage.
Als ich an mir herunter schaute, stellte ich fest, dass ich nichts als Unterwäsche trug. Meine Fingernägel sahen wie zwei Grabschaufeln aus und an Armen und Beinen hatte ich überall kleine Kratzer. Die dünne Decke war nichts als mein Morgenmantel, den jemand über mich gelegt hatte. Okay, das war neu.
Als ich mich verwundert umsah, bemerkte ich zu meiner Bestürzung Umbra Drogan, der unweit von uns an einem Baum lehnte und mich beobachtete. Ich hatte meinen Morgenmantel noch nie so schnell übergezogen, wie in diesem Moment. Und ich war auch schon verdammt lange nicht mehr so peinlich berührt gewesen. „Verdammt, was ich hier los? Wie komme ich hier her?“ Und das auch noch in Unterwäsche.
Die beiden Männer tauschten einen Blick, bevor Sydney sich auf mich konzentrierte. „Ihr seid gelaufen.“ Er neigte den Kopf leicht zur Seite. „Könnt Ihr Euch nicht erinnern?“
Ich war halb nackt in den Wald gelaufen? „Wenn ich mich erinnern würde, müsste ich ja wohl nicht nachfragen.“ Ich zog meinen Gürtel fest und ging noch mal sicher, dass wirklich alles wichtige bedeckt war. Wenigstens war die Binde an meinem Bein noch vorhanden und somit die hässliche Narbe verdeckt.
Anstatt mir zu antworten, fragte Sydney: „Was ist das Letzte, an das Ihr Euch erinnern könnt?“
Das Letzte? Diego hatte mit mir sprechen wollen und … nein, es war Vollmond. Ich war mit Sydney im Mondturm gewesen und … auf einmal fiel mir alles wieder ein. Ich war durch den Wald gelaufen und hatte … oh mein Gott, ich hatte ein Kaninchen gejagt!
Entsetzt von mir selber, schaute ich zwischen den Beiden hin und her. „Was ist mit mir passiert?“
„Wisst ihr denn wirklich gar nichts mehr?“
„Doch.“ Aber es schien so … surreal, als würde ich mich durch einen Traum bewegen, über den ich keine Kontrolle hatte. Ich hatte ein verfluchtes Kaninchen gejagt! „Ich hab das Kaninchen doch nicht …“ Ich schluckte. Allein der Gedanke bereitete mir Übelkeit. „Ich hab es nicht gegessen, oder?“
Sydneys leises Lachen drang in meine Gedanken. „Ihr habt es nicht einmal gefangen, Prinzessin Cayenne. Aber dafür habt Ihr Euch bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf Umbra Drogan gestürzt.“
Ach ja, ich erinnerte mich. Einmal hatte er sogar gequietscht und es war ein wenig Fell geflogen. Entschuldigend schaute ich zu ihm hinüber. „Tut mir leid. Ich hab keine Ahnung, was mit mir los war. Ich hoffe ich habe ihnen nicht wehgetan.“
Das sorgte dafür, das sein Mundwinkel ein wenig nach oben zuckte. Ich hatte ihn noch nie anders als neutral erlebt, aber nun funkelten seine Augen vor Belustigung. „Nein Prinzessin. Um mir wehzutun, braucht es schon ein wenig mehr. Was ihr getan habt, war … amüsant.“
Schön das ich wenigstens einen damit hatte erfreuen können.
Als ich mir müde über die Augen rieb, bemerkte ich den quälenden Muskelkater, der mich nach jedem Vollmond heimsuchte. Und auch das paar Schuhe, dass ich gestern in Mondturm zurückgelassen hatte.
„Ich habe mir erlaubt, Euch neben Eurem Morgenmantel auch Eure Schuhe zu bringen“, erklärte Drogan, der meinem Blick bemerkte. „Ich dachte mir, es wäre in Eurem Interesse, in mehr als Unterwäsche zum Schloss zurückzukehren.“
Da hatte er richtig gedacht. „Danke“, murmelte ich und schlüpfte gleich hinein. Und dann saß ich einfach nur da und starrte auf den belaubten Waldboden.
„Prinzessin?“ Sydney stupste mir gegen die Schulter. „Was habt Ihr?“
„Ich … sowas ist noch nie passiert.“ Nicht mal in meinem schlimmsten Nächten. „Was war los mit mir?“
„Der Wolf hat die Kontrolle über Euch übernommen.“
Schlichte Erklärung. Aber leider brachte sie mir nicht die erhoffte Erleuchtung. „Ich bin zum Wolf geworden?“
„Nein.“ Sydney schüttelte den Kopf. „Ihr habt Euch nur zum Teil verwandelt. Eure Instinkte haben die Oberhand übernommen und Ihr seid ihnen gefolgt.“
„Aber … warum?“
„Ich kann nur Vermutungen äußern, denn Herauszufinden, was die Verwandlung bei einem Misto auslöst, ist nie einfach. Es kommt darauf an, wie viel Wolf Ihr in Euch tragt und wie stark ausgeprägt er ist. Es gibt sehr viele Faktoren die dabei zu beachten sind, doch ich glaube es lag an der Vollmondjagd.“
„Die Jagd?“
„Der Mondgesang des Rudels. Er schien wie ein Katalysator auf Euch zu wirken. Als Ihr ihn gehört habt, begannt Ihr Euch zu verändern. Ihr habt sogar versucht Euch dem Rudel anzuschließen.“
Ja, daran konnte ich mich erinnern. Und auch … ich runzelte die Stirn. Das konnte nicht sein. Doch als ich den Ärmel an meinem Arm hochschob, bemerkte ich mehrere verschorfte Löcher. „Hast du mich gebissen?“
Sydney legte die Ohren an und senkte den Blick. „Es tut mir leid, aber Ihr habt versucht auf direktem Wege zum Rudel zu gelangen. Ihr wolltet aus dem Fenster springen und ich musste schnell reagieren, um Euch daran zu hindern.“
Nach diesen Worten wurden meine Augen ein wenig größer. Ich hatte versucht aus dem Fenster zu springen? Aus dem Fenster im Mondturm?! „Du verarschst mich.“
„Nein, leider nicht.“
Oh mein Gott. Der Mondturm war das höchste Gebäude auf dem ganzen Gelände. Wenn Sydney nicht schnell genug gewesen wäre, dann wäre von mir jetzt nicht mehr als ein blutiger Fleck übrig. Allein die Vorstellung … ich begann zu zittern und das hatte absolut nichts mit der Kälte zu tun. „Was passiert nur mit mir?“
„Ich denke Ihr habt begonnen Euch dem Wolf zu öffnen.“ Als ich darauf nicht reagierte, erhob er sich und drückte sein Gesicht gegen meines. „Habt keine Angst davor, es ist ein Teil von Euch.“
„Ein Teil der mich völlig unberechenbar macht.“
Dem konnte er leider nicht widersprechen. „Ihr seid nicht allein. Ich werde auf Euch aufpassen und ich werde auch mit König Isaac sprechen, damit ihr nicht noch einmal in den Turm müsst.“
Ob er da mitspielte war fraglich. Wahrscheinlich würde er es noch begrüßen, wenn ich aus dem Fenster sprang. Damit hätte er ein großes Problem weniger am Hals.
Die Nacht war voller Euphorie gewesen, doch jetzt fühlte ich mich einfach nur müde und ausgelaugt und das hatte nichts damit zu tun, dass ich die ganze Nacht auf den Beinen gewesen war. „Ich will nach Hause“, flüsterte ich.
„Dann lasst uns gehen. Ihr solltet Euch nach dieser Nacht sowieso ein wenig ausruhen.“
„Ja“, sagte ich leise und erhob mich vom kalten Boden. Dabei vermied ich es ihm in die Augen zu sehen, denn er schien nicht zu verstehen, dass ich meinen Wohnwagen meinte und nicht das Schloss. Dieser Ort war für mich kein Zuhause, es war ein Gefängnis. Aber wenigsten schien diese Nacht dazu beigetragen zu haben, dass Sydney seine Distanziertheit zu mir langsam aufgab. Es war nur ein kleiner Trost, doch im Augenblick war es alles was ich hatte.
Es war schon Nachmittag, als wir am Schloss ankamen. Nicht weil wir so tief im Wald gewesen wären, nach dieser Nacht hatte ich einfach den halben Tag geschlafen.
Sydney und Drogan übernahmen es meinen Großeltern Bericht zu erstatten. Ich verzog mich einfach in mein Zimmer und verschwand nach einer kurzen Dusche in meinem Bett.
Halloween kam und ging. Der verregnete Oktober wechselte in den kalte November und im Schloss begann der Alltag für mich. Ich ging zum Unterricht, nahm an den Mahlzeiten teil und verdrückte mich wann immer ich die Gelegenheit dazu bekam zu Sydney. Wie schon damals wurde er für mich wieder zu der einzigen Zuflucht, die ich an diesem Ort hatte.
Meine Hoffnung etwas von meiner Mutter zu hören, schrumpfte mit jedem Tag weiter in sich zusammen. Entweder ich war ihr mittlerweile egal, oder … daran wollte ich gar nicht denken, denn das machte es nur noch schwerer für mich.
Je mehr Tage vergingen umso mehr zog ich mich in mich selbst zurück. Ich war nicht mehr Clementine, aber Cayenne war ich auch nicht, sondern nur noch die Prinzessin, die alle in mir sehen wollten.
Das Schlimmste waren die Momente, in denen ich an Raphael dachte. Er war nicht wiedergekommen, aber Samuel berichtete mir ein paarmal, dass er ihn unten in Silenda angesprochen und nach mir gefragt hatte. Sogar Nachrichten für mich hatte er ihr mitgegeben. Die ersten lass ich noch, aber seine Worte vor mir zu haben, seine Geruch an dem Papier zu riechen, wurde so schwer, dass ich sie nun noch entgegennahm und im nächsten Kamin verbrannte.
Dann brachte mir Samuel keine Nachrichten mehr und das war fast noch schlimmer.
Tagsüber war ich also die nette Prinzessin, die alle in mir sehen wollten, fraß meine Gefühle in mich hinein und machte gute Miene zum bösen Spiel und nachts weinte ich in mein Kissen. Es stimmte also nicht, ich besaß noch tränen. Sehr viele sogar. Ich wurde so deprimiert, dass es sogar dem König auffiel und er mich einmal aufsuche, um mir zu sagen, das ich ein Alpha war und mich zusammenreißen müsse.
Ein paar Wochen später, als die Tage immer kürzer wurden, suchte Diego mich ein weiteres Mal auf. Er hatte mich schon immer gut einschätzen können und bemerkte selbst nach diesen ganzen Jahren, wie ich mich anspannte, wenn Markis Nikolaj mich berührte, oder dass ich mich mit einem tiefen Atemzug immer darauf vorbereitete nach seiner Hand zu greifen. Ich sagte Diego, er solle sich um seinen eigenen Dreck kümmern und mich in Ruhe lassen.
Ende November trat Tante Blair an mich heran. Das Abendessen war vorbei und ich war gerade dabei in die Bibliothek einzutreten, als sie meinen Namen rief.
Einen Moment war ich versucht so zu tun, als hätte ich sie nicht gehört. Ich hatte heute bereits genug Zeit mit dem Unterricht, der Familie und Nikolaj verbracht und wollte mich nur noch bei Sydney verkriechen, um den Tag zu vergessen. Leider war da dieses dumme Stimmchen in meinem Kopf, das mir befahl stehen zu bleiben, weil es hoffte, Blair hätte nun endlich eine Nachricht von meiner Mutter für mich.
„Du warst so schnell weg“, begrüßte sie mich. Ausnahmsweise war einmal nicht Drogan bei ihr, sondern ihr anderer Umbra. „Ich wollte dich noch etwas fragen.“
Also ging es nicht um meine Mutter. Ich hätte einfach weitergehen sollen. „Was denn?“
„Ich weiß nicht ob Samuel es dir bereits erzählt hat, aber wir haben eine kleine Tradition. Jedes Jahr zu Nikolaus fahren wir zum Weihnachtsmarkt nach München und übernachten dort anschließend in einem Hotel. Dann sind wir pünktlich zu Mutters Geburtstag wieder zurück. Ich wollte dich fragen, ob du nicht Lust hast uns zu begleiten.“
Auf einen Weihnachtsmarkt? Mein letzter Besuch auf so einem Markt war zusammen mit Raphael gewesen. Der Gedanke an ihn stimmte mich nicht gerade fröhlicher.
„Du wirkst die letzten Tage so niedergeschlagen und ich dachte, es wäre eine gute Gelegenheit für dich mal aus dem Schloss herauszukommen.“
Ich war mir nicht sicher, ob ein Weihnachtsmarkt das Richtige war, um meine Stimmung zu heben. „Ich glaube nicht, dass König Isaac das erlaubt.“ Denn er wusste schließlich nicht, dass es mir unmöglich war wieder wegzulaufen.
Sie lächelte mich mit dieser Herzensgüte an, die nur ihr zu eigen war. „Mutter hat es bereits erlaubt und Samuel würde sich sicher freuen, wenn du uns begleitest.“
Ja, das würde er sicher. Seit meiner Rückkehr war kein Tag vergangen, an dem der Kleine nicht meine Gesellschaft gesucht hatte. Und manchmal schafft er es mir mit seinem hochgestochenen Geplapper sogar ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.
„Auch ich würde mich freuen, wenn du uns begleitest. Es ist nicht gut für dich immer hier eingesperrt zu sein.“
Das zauberte mir ein bitteres Lächeln auf die Lippen. „Nein, wahrscheinlich nicht.“
„Das heißt, du kommst mit?“
Eigentlich hatte ich keine große Lust darauf, aber der Gedanke diese Irrsinn einem Tag zu entfliehen, hatte schon etwas Verlockendes. Noch dazu würden nur Blair und Samuel dabei sein. Kein Unterricht, keine Familie und am Wichtigsten, kein Nikolaj. „Klar, warum nicht.“
„Schön.“ Sie lächelte mich an. „Es wird dir bestimmt gefallen.“
Es konnte jedenfalls nicht schlimmer sein, als mein Aufenthalt in diesen Mauern.
„Ich werde dir dann noch Bescheid geben, wann genau wir fahren.“
„Ja, okay.“
„Dann bis morgen.“ Sie drückte meine Hand einmal kurz und ging dann wieder ihrer Wege.
Auch ich wandte mich ab und nahm meinen eigentlichen Pfad wieder auf. Kurz darauf trat ich ohne anzuklopfen in Sydneys Büro.
Er war allein und hatte wie fast immer ein Buch vor der Nase, doch als ich eintrat, blickte er sofort auf und musterte mich. „Was ist passiert?“
Klar das er sofort merkte, dass etwas los war. Es war schließlich Sydney. „Ach nichts weiter“, sagte ich und setzte mich auf das kleine Besuchersofa an der Wand. „Blair hat mich nur gerade zu einem Besuch auf dem Weihnachtsmarkt nächste Woche eingeladen. Ich fahre mit ihr und Samuel nach München.“
Sydney legte die Ohren an. „Ihr verlasst den Hof?“
„Hmh.“ Ich trat mir die Schuhe von den Füßen und legte die Beine hoch. „Am sechsten fahren wir und sind dann pünktlich zu Genevas Geburtstag am achten wieder hier.“
„Werdet Ihr das wirklich sein?“, fragte er leise.
Verwundert schaute ich ihn an. „Was werde ich sein?“
„Wieder hier?“
Und da machte es klick. „Du willst wissen, ob ich die Gelegenheit nutzte und mich einfach aus dem Staub mache.“ Auf meinen Lippen erschien ein bitteres Lächeln. Oh ja, dieser Gedanke gefiel mir, aber leider ließ er sich nicht in die Tat umsetzen. „Nein, ich werde nicht wieder verschwinden.“
„Könnt Ihr mir das versprechen?“ Er sprang vom Stuhl und kam ein paar Schritte auf mich zu.
„Ach Sydney …“
„Verzeiht, das war unpassend gewesen.“
„Nein, das war es nicht.“ Ich verstand ihn sogar sehr gut. Auch wenn unser Verhältnis noch nicht wieder das gleiche wie damals war, glaubte ich nicht, dass ich es ein zweites Mal fertig bringen würde, ihn zurück zu lassen.
Seufzend senkte ich den Blick und zupfte an einer Falte an meinem Rock herum. „Ich werde bleiben“, sagte ich leise. „Ich werde eine artige Prinzessin sein, so wie alles es von mir erwarten und Prinzessinnen verschwinden nicht einfach, nur weil sie ihre Pflicht nicht erfüllen wollen, oder?“ Besonders dann nicht, wenn sie mit dem Leben eines kleinen Jungen erpresst wurden.
„Aber Ihr seid mit dieser Entscheidung nicht glücklich“, bemerkte er. Als ich dazu nichts sagte, trat er an mich heran und legte seinen riesigen Schädel in meinem Schoß. „Was bedrückt Euch?“
„Das Leben.“ Ich ließ von der Falte ab und strich ihm vorsichtig über den Kopf. Er war im Moment der Einzige, der dieses Leben ein wenig erträglicher machte. „Magst du nicht mitkommen?“, fragte ich ihn. „Zum Weihnachtsmarkt?“
Zur Antwort legte er bedauernd die Ohren an. „Ich verlasse den Hof nicht, das wisst Ihr.“
Besonders nicht, wenn es sich für den Besuch verwandeln müsste. Die Menschen würden es sicher nicht so toll finden, wenn zwischen ihnen ein Wolf herumrannte. „Wann nur wirst du verstehen, dass deine Narben dich nicht zu einem Monster machen?“
Diese Frage ließ er unbeantwortet.
„Ich werde wieder kommen, das verspreche ich dir.“
„Ich danke Euch.“
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„Danke.“ Nikolaj nahm das Lebkuchenherz von der Verkäuferin entgegen und reichte es dann mir. „Das ist vielleicht ein wenig kitschig, aber es würde mich freuen, wenn Ihr es nehmen würdet.“
„Ähm … danke.“ Ich zwang mir ein Lächeln auf die Lippen und nahm es entgegen. Für einen ganz besonderen Menschen, stand darauf und war mit rotem und pinken Zuckerguss verziert. „Das ist wirklich … nett.“ Und eine komplette Geschmacksverirrung.
„Ich wollte Euch einfach nur eine kleine Freude machen“, erklärte er und hielt mir seinen Arm hin, damit ich mich bei um einhaken konnte.
Die hättest du mir gemacht, wenn du weg geblieben wärst anstatt dich ungebeten aufzudrängen. Ich lächelte einfach und hakte mich bei ihm ein, wie er es von mir erwartete.
Sobald er in eine andere Richtung schaute, steckte ich Ginny das Lebkuchenherz unauffällig zu. „Lass es im nächsten Mülleimer verschwinden“, zischte ich ihr zu. Als sie mich nur verständnislos anschaute, fügte ich hinzu: „Ich mag kein Lebkuchen.“ Was nicht der Wahrheit entsprach, aber von diesem Kerl würde ich mir sicher kein Herz ins Zimmer hängen.
Es war Nikolaus. Bereits am Vormittag waren wir in eine übertriebene Limousine gestiegen und nach München gefahren, wo wir uns erstmal in einem Hotel einquartiert hatten. Da der Weihnachtsmarkt laut Blair im Dunkeln besonders Eindrucksvoll war, hatten wir uns erst in der Dämmerung auf den Weg gemacht und ich musste sagen, sie hatte recht. Trotz der Kälte, die mir Eiswölkchen vor den Mund zauberte, war das Lichtererlebnis an diesem Ort einfach nur umwerfend. Und dann noch die ganzen Gerüche in der Luft. Sie weckten so viele schöne Erinnerungen.
Dennoch konnte ich diese Erfahrung nicht richtig genießen. Nicht nur weil Nikolaj ständig an meiner Seite war und ich das dankbare Opfer spielen musste, es zeigte mir auch wieder, was ich alles verloren hatte.
Überall um mich herum waren lachende und glückliche Familien. Ich sah Pärchen und Freunde um die Stände ziehen. In den Warteschlangen der Karussells, leuchteten aufgeregte Gesichter. Der Geruch von Glühwein und Lebkuchen hing in der Luft. Und dann noch Samuel. Ich glaube er war noch niemals wo viel Kind gewesen wie am heutigen Tag.
„Ich würde jetzt gerne mit dem Riesenrad fahren“, erklärte er und reichte seiner Mutter den Gewinn, den er gerade beim Lose ziehen bekommen hatte.
„Das ist eine herrliche Idee“, stimmte Nikolaj ihm zu. „Ich mochte das Riesenrad auch immer sehr gerne.“
Ich verzog das Gesicht. „Ohne mich.“ Als mich drei fragende Blicke trafen, fühlte ich mich gezwungen zu erklären: „Ich habe Höhenangst.“
Samuel räusperte sich. „Ich möchte ja nicht taktlos erscheinen, aber Höhenangst ist Definitionsgemäß der Situation gegenüber unangemessen, da keine, oder nur eine geringe Gefahr besteht.“
Gut zu wissen. „Ich werde bei dieser Fahrt trotzdem einmal aussetzten und euch dreien den Spaß allein gönnen.“
„Bist du dir sicher?“, fragte Nikolaj. „Ich kann auch bei dir …“
„Nein, nein. Geht ihr nur. Ich wollte mir sowieso noch etwas vom Grill holen. Ich bekomme nämlich langsam hunger.“ Dem war zwar nicht so, aber wenn ich Nikolaj damit mal eine Weile loswurde, würde ich sogar eine ganze Kuh verspachteln.
„Dann ist das ja geklärt“, entschied Samuel. „Wir drei gehen zum Riesenrad und treffen dich dann danach beim Grill.“ Und noch ehe irgendjemand Wiederworte geben konnte, schnappe er sich Blairs Hand und zog sie durch die Menge auf die Hauptartaktion der Marktes zu.
„Bis gleich“, rief Blair noch und war dann schon halb in der Menge verschwunden.
Nikolaj jedoch wandte sich mir noch einmal zu. „Seid Ihr Euch sicher? Ich könnte auch …“
„Nein, gehen sie nur.“ Um zu verdeutlichen wie ernst es mir war, trat ich einen Schritt vor ihm zurück. „Wir sehen uns dann später.“ Und bevor er mir noch einmal das Angebot seiner Gesellschaft machen konnte, kehrte ich ihm den Rücken zu und ergriff die Flucht.
Dieser Tag war durch seine Anwesenheit mittlerweile so anstrengend, dass ich einfach nur noch froh war, einen Augenblick allein zu sein. Aber statt Kurs auf den nächsten Grill zu nehmen, steuerte ich einen Glühweinstand an. Der würde mich nicht nur aufwärmen, wenn ich genug davon trank, würde der mich vielleicht auch taub für die Dinge um mich herum machen.
Natürlich machte ich mich nicht allein auf den Weg. Umbra Logan und Ginny waren unweit hinter mir. Ich war schließlich eine Prinzessin und musste in jeder Lebenslage geschützt sein. Wenigstens hielten sie ein wenig Abstand und gaben mir damit die Illusion mal einen Moment für mich zu haben.
Der Glühweinstand war gut besucht und so musste ich eine Weile warten, bis ich meine Tasse bekam und mich damit an einen der Stehtische zurückziehen konnte. Ich legte meine Tasche auf den Tisch, beobachtete eine Gruppe von Jugendlichen, die miteinander herumalberten und nippte vorsichtig an meinem Wein.
„Du hättest wenigstens so höflich sein können, mir auch einen mitzubringen.“
Bei der Stimme wirbelte ich erschrocken herum und konnte wohl von Glück reden, dass ich mir den Glühwein nicht über den ganzen Mantel kippte. Direkt vor mir, eingepackt in dicken Winterjacken, standen Raphael und Roger.
Ich starrte sie nur einen Moment an, dann griff ich nach meiner Tasche und wollte mich aus dem Staub machen, doch da hatte Raphael mich schon am Arm gepackt.
„Bambi, warte.“
„Nein, lass mich.“ Ich zog an meinem Arm. „Ich will nicht …“
„Ah!“
Praktisch aus dem Nichts erschien Ginny hinter Raphael. Es dauerte kaum zwei Sekunden, da hatte sie nicht nur seine Hand von mir gelöst, sondern ihm auch noch den Arm auf den Rücken gedreht und drückte ihn auf den Boden. Und das obwohl Raphael mindestens zwei Köpfe größer war als sie.
Nun gut, man könnte ihm zugute halten, dass sie ihn überrascht hatte, aber trotzdem, ich war beeindruckt.
„Stopp!“, sagte ich, als Umbra Logan auch noch auf Roger losgehen wollte. Verdammt, wie kamen diese beiden Idioten überhaupt her? Die sollten doch in Arkan bei ihrer Familie sein. „Ginny, lass ihn los und … geht weg. Privatsphäre.“
Meine Umbra tauschten einen kurzen Blick. „Seid Ihr Euch sicher?“
„Ja, bitte, das sind alte Bekannte von früher.“ Und ich würde ihnen gleich die Ohren langziehen.
Die beiden wirkten nicht überzeugt, aber ich war ihre Prinzessin. Trotzdem folgte Ginny meinem Befehl nur unwillig. „Wir werden auf Sichtweite bleiben“, erklärte sie mir und verschwand dann mit Logan in der Menge.
Super, Publikum, das war genau das was ich jetzt brauchte.
Sobald ich sicher war, dass meine Umbra mich nicht mehr hören konnten, wirbelte ich zu den beiden Störenfrieden herum. „Wollt ihr mich in Schwierigkeiten bringen?“
Roger schüttelte den Kopf. „Nein, ich will mich nur dafür bedanken, dass du mir Vivien wiedergebracht hast. Wirklich, du hast keine Ahnung was mir das bedeutet.“
Doch, die hatte ich.
Ich wusste, dass ich mich einfach abwenden sollte, besonders da Nikolaj jeden Moment zurück sein konnte, aber allein bei dem Gedanken sie wegzuschicken, schmerzte mein Herz. „Wie geht es den beiden?“, fragte ich leise und riskierten einen Blick zu Raphael. Er sah blass aus, traurig und unter seinen Augen hatte er dunkle Ringe. „Sind sie gut angekommen?“
Roger verzog den Mund. „Sie haben noch gewisse … Probleme. Besonders Anouk redet nicht viel, aber das wird schon.“
Ja, denn dort wo sie jetzt waren, würden sie heilen können. Es brauchte eben nur ein wenig Zeit.
„Darum wollte ich auch mit dir reden“, erklärte Roger. „Bei dem was Vivien uns erzählt hat, sind einige Ungereimtheiten aufgetreten, die wir uns nicht erklären können.“
Die Richtung in die sich dieses Gespräch entwickelte, gefiel mir überhaupt nicht. Darum war es besser einfach zu schweigen.
„Weißt du, Vivien ist eine schreckliche Lügnerin. Allein wenn sie daran denkt zu schwindeln, sieht man ihr das an. Das war schon immer so gewesen.“
Nein, auch dazu sagte ich nichts, aber ich wurde äußerst wachsam.
„Okay, packen wir die Tatsachen doch einfach auf den Tisch. Viviens Reisepass nach, ist sie aus Warschau gekommen. Der Name ihres … Peinigers lautet nach ihrer Aussage Allon Kartal. Die Themis haben nach ihm gesucht, in der Hoffnung weitere Hinweise zu finden, die ihnen bei der Arbeit helfen können. Er ist tatsächlich tot, nur lebte er nicht mal in der Nähe von Warschau. Er besaß mehrere Immobilien in Zürich und hatte dort auch seinen Wohnsitz.“
Verdammt.
„Jetzt stellt sich uns natürlich die Frage, wie ist Vivien von Zürich nach Warschau gekommen, oder auch, warum ist sie nicht direkt von Zürich aus geflogen?“
Weil sie niemals dort gewesen war. Seinem stechenden Blick nicht auszuweichen, war gar nicht so einfach.
„Natürlich könnte ich auch fragen, wie du nach Zürich gekommen bist. Oder Warschau. Oder wo auch immer ihr gewesen seid.“
„Das könntest du“, sagte ich nach einem Moment des Schweigens. „Oder du könntest dich einfach darüber freuen, deine Frau und deinen Sohn wieder zu haben.“
„Das tue ich, aber leider hat ihr Auffinden auch ein Haufen Fragen aufgeworfen, wovon die größte lautet, warum du wieder am Hof aufgetaucht bist.“
Weil man mich dazu erpresste. „Es war an der Zeit“, erklärte ich schlich. „Ich wollte schon lange aussteigen und das erschien mir als die passende Gelegenheit einen Schlussstrich zu ziehen. Ich hatte einfach genug von diesem Leben.“
Raphael schnaubte, aber ich vermied es in seine Richtung zu schauen.
„Einfach so?“ Roger breite die Arme aus. „Ohne Abschied? Ohne Ryder?“
Das war ein Schlag unter die Gürtellinie. „Ohne alten Ballast“, erklärte ich mit fester Stimme.
„Das ist doch Bullshit!“, erklärte Raphael und drängte sich direkt vor mich. „Warum siehst du mich nicht an, Bambi?“
„Nenn mich nicht so.“
„Warum? Ich habe dich immer so genannt.“ Als ich nur schweigend auf seine Brust starte, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen, schnaubte er. „Wir wissen, dass hier etwas nicht stimmt. Genau wie Vivien erzählst du eine Menge Bockmist. Du warst die letzten drei Jahre die Gefangene eines Skhän?“
„Ich konnte ja wohl schlecht sagen, dass ich mit einer Gruppe von Verbrechen durch die Welt gezogen bin, um diese Scheusalen umzubringen. Oder möchtest du, dass ich den Alphas von den Themis erzähle?“
„Nein, das möchte ich nicht, ich möchte einfach nur wissen, was hier los ist und wie du die Sache zwischen uns einfach so beenden konntest.“
Scheiße. So eine beschissene Scheiße, mit beschissenem Käse oben drauf. „Und ich würde gerne auf einem Einhorn über einen Regenbogen reiten und dabei Zuckerwattewolken naschen, aber wir bekommen nun mal selten unseren Willen.“
„Glaubst du wirklich, ich lasse mich von dem Blödsinn einfach so abwimmeln? Du hasst den Hof. Du hasst die Alphas und du hasst es eine Prinzessin zu sein. Als Lucy bei uns aufgetaucht ist, hattest du solche Angst zurück zu müssen, dass du noch in der selben Minute abreisen wolltest. Das war nicht gespielt, das kannst du mir nicht erzählen, dafür kenne ich dich zu gut.“
Dem konnte ich ich nicht widersprechen. Ich war jetzt zwar schon seit fast sechs Wochen wieder am Hof der Werwölfe, aber ich hätte in diesem Augenblick nichts lieber getan, als seine Hand zu nehmen und schnellstens das Weite zu suche. Nur leider war mir das nicht möglich.
„Bambi, ich liebe dich, bitte rede mit mir“, flehte Raphael und hob unsicher die Hand, doch bevor er mich berühren konnte, trat ich hastig einen Schritt zurück. Das würde ich im Moment nicht ertragen. Es war so schon schwer genug, gleichgültig zu bleiben.
„Du weißt, du kannst mir alles erzählen“, sagte er traurig. „Was ist passiert? Warum bist du zurück zum Hof? Bitte sag es mir.“
„Es gibt zwischen uns nichts mehr zu sagen. Ich habe mit dir und allem anderen endgültig abgeschlossen, also bitte hör auf mich weiter zu behelligen.“
„Behelligen?“ Er trat unruhig von einem Bein auf das andere und schnaubte dann. „Und ob ich dich weiter behelligen werde. Bitte, egal was passiert ist, wir werden eine Lösung finden. Du musst mir nur sagen, was los ist.“
Verdammt, lange würde ich das nicht mehr aushalten. „Bist du neuerdings blöd, oder willst du es einfach nicht kapieren? Gar nichts ist los, ich habe einfach genug von dir und will in Zukunft weder etwas mit dir, oder deiner Bagage zu tun haben, also lass mich einfach in ruhe.“
Er drückte die Lippen zusammen, als müsste er intensiv nachdenken. Dann sagte er: „Du hast gelächelt.“
Ich runzelte die Stirn. „Was?“
„Am Audienztag. Du hast mich am Portal stehen sehen und gelächelt. Du hast dich gefreut, dass ich da war. Wenn der ganze Blödsinn, denn du da von dir gibst, stimmen würde, wenn du wirklich nichts mehr mit mir zu tun haben wolltest, dann hättest du mich nicht angelächelt. Nicht so.“
Mist. „Ich habe dich rauswerfen lassen und …“ Als Samuel mit erhobener Nase in der Menge auftauchte, verstummte ich. Von Nikolaj und Blair war noch nichts zu sehen, aber dafür waren Diego und Joel bei ihm. Fantastisch. „Ich glaube ihr solltet jetzt verschwinden.
Raphael schaute sich um, entdecke den Kleinen und drückte die Lippen aufeinander. „Komm mit mir“, sagte er leise und schaute mich wieder an. „Lass uns zusammen verschwinden.“
Verdammt, musste er sowas sagen? „Nein.“ Ich trat ein wenig zur Seite, als Samuel mit entrüsteter Miene neben uns stehen blieb. „Der Glühweinstand ist kein Grill.“
Ja, wenn das im Moment mein größtes Problem wäre, könnte ich mich glücklich schätzen. „Ich habe mich umentschieden.“ Ich warf Diego einen warnenden Blick zu, als er Raphael etwas zu genau betrachtete. „Und du hast mich doch gefunden, also reg dich nicht auf.“
Meine Worte hätte ich mir sparen können, denn er hörte mir gar nicht mehr zu. Sein Interesse lag nun bei Roger. „Ich kenne sie.“
Roger lächelte ein wenig. „Das ist gut möglich. Ich war früher Umbra am Hof, aber das ist schon ein paar Jahre her.“
Er musterte Roger noch einen langen Moment und griff dann nach meiner Hand. „Meine Mutter und dein Verlobter warten beim Grill auf uns. Komm.“
Eine Schrecksekunde erstarrte ich, aber dann zwang ich mich ruhig nach meiner Tasche zu greifen. Dabei vermied ich es Raphael anzuschauen. „Nikolaj ist nicht mehr Verlobter.“
„Warte.“ Als ich mich schon in Bewegung setzten wollte, hielt Raphael mich noch einmal am Arm fest. „Was meint der Kleine damit? Wer ist Nikolaj?“
Ich starrte ihm in die ungläubig aufgerissenen Augen und wollte ihm sagen, dass es ihm nichts anging. Dann wollte ich ihm sagen, dass er mir helfen sollte. Doch letztendlich kamen ganz andere Worte aus meinem Mund. „Nimm deine Finger weg, wenn du nicht im Gefängnis landen möchtest, weil du gegenüber einer Prinzessin handgreiflich geworden bist.“
Da er nicht losließ und die anwesenden Umbra schon ein wenig näher rückten, sah Roger sich gezwungen einzuschreiten. Er legte Raphael eine Hand auf die Schulter und zog leicht. „Komm schon, nicht so.“
Raphaels Griff wurde ein kleinen wenig fester, bevor er geschlagen die Lippen aufeinander drückte und von mir abließ.
Ich sah den Schmerz in seinen Augen, doch in Augenblick konnte ich nichts für ihn tun. „Bambi“, hörte ich ihn noch flüstern, aber da hatte ich mich bereits abgewandt und versuchte mein Herz taub werden zu lassen. Das war besser, als diesen Schmerz zu ertragen.
Den restlichen Abend verbrachte ich in einer Art Trance. Raphael zu sehen und mit ihm zu sprechen … es hatte irgendwas tief in mir drin zerstört. Es tat nicht weh, es war einfach nur leer. Und der Ausdruck in seinem Gesicht, als er von Nikolaj erfahren hatte, den würde ich wohl niemals vergessen.
Ich schaffte es nicht mal mich aus dieser Stimmung zu befreien, als ich spät am Abend allein in meinem Hotelzimmer saß und ins Leere starrte. Da waren keine Tränen, nur diese endlose Leere, die mich zu verschlingen drohte.
Woher hatten Raphael und Roger überhaupt gewusst, wo sie mich finden konnten? Das hier war schließlich kein offizieller Anlas gewesen, bei dem man davon ausgehen konnte, dass ich anwesend sein würde. Nur die Leute im Schloss …
In mir keimte ein Gedanke. Leah. Sie war zwar nicht dabei, aber als Samuels Kindermädchen, wusste sie natürlich, dass er weg sein würde. Und auch, dass ich ihn begleiten würde. Leah musste es Raphael gesteckt haben, aber ich war die, die darunter leiden musste.
Eine kleine Tischlampe war die einzige Lichtquelle in dem luxuriösen Schlafzimmer. Draußen im Wohnbereich, waren meine Umbra. Ich hatte Ginny ein paar Mal leise sprechen gehört. Von mir war kein Ton gekommen.
Die Uhr auf dem Beistelltisch zeigte bereits halb elf, als es an meine Tür klopfte. „Prinzessin Cayenne?“, drang Ginnys Stimme gedämpft zu mir ins Schlafzimmer. „Umbra Drogan würde Euch gerne sprechen. Er sagt, es sei wichtig.“
Ich schloss die Augen. War es wirklich so schwer mich mal eine Zeitlang in Ruhe zu lassen?
„Prinzessin Cayenne?“ Ginny klopfte erneut.
„Ja“, sagte ich musste mich räuspern, weil meine Stimme so rau klang. „Ja, ich komme.“ Auch wenn ich einfach nur hier sitzen und mich in Luft auflösen wollte.
Wie ferngesteuert erhob ich mich und trat an die Tür. Ginny stand direkt dahinter. Umbra Logan saß auf der Couch und Drogan stand an der Zimmertür.
Als er mich sah, machte er eine leichte Verbeugung. „Prinzessin Cayenne. Eure Tante schickt mich euch zu holen, sie müsste sich dringend mit Euch unterhalten.“
Und warum kam sie dann nicht selber her? „Kann das nicht bis morgen warten?“
„Ich fürchte nicht. Es ist wirklich äußerst wichtig, sonst hätte sie mich nicht geschickt, um Euch um diese Zeit noch zu stören.“
Nein, wahrscheinlich nicht. Trotzdem hatte ich kein großes Interesse zu erfahren, was dieses äußerst Wichtige war, über das sie sich um diese Zeit noch mit mir unterhalten wollte.
„Bitte“, fügte er noch hinzu, als würde er spüren, dass ich ablehnen wollte.
„Klar, warum auch nicht. Ich hab ja sowieso nichts besseres zu tun.“ Da ich außer meiner Jacke und meinem Schal nichts abgelegt hatte, musste ich mich nicht mal anziehen und konnte direkt in den Wohnraum treten. „Na los, lass uns gehen.“
„Ich danke Euch.“ Drogan wollte gerade nach der Türklinke greifen, als er noch mal inne hielt. „Nein, Genevièv, du kannst hier bleiben. Ich werde Prinzessin Cayenne beaufsichtigen.“
Beaufsichtigen? „Ich bin keine drei“, knurrte ich und öffnete nun selber die Zimmertür. „Niemand braucht mich beaufsichtigen.“
Das folgende Schweigen sagte wohl mehr als Worte es hätten tun können.
Ich beachtete es nicht und trat einfach hinaus auf den Korridor. Um unauffällig zu bleiben, standen dieses Mal keine Wächter vor den Türen, aber sie waren auch nicht weit entfernt. Man hatte sie sowohl in den Nebenzimmern, als auch in dem gegenüberliegenden untergebracht, um im Notfall direkt zur Stelle sein zu können.
Als Drogan auf den Flur trat und nach links ging, folgte ich ihm, blieb aber nach ein paar Schritten wieder stehen. Blairs Zimmer war auch auf dieser Etage, aber es lag den Korridor rechts hinunter. „Wo gehen wir hin?“
„Zu den Fahrstühlen.“ Wie um seine Worte zu beweisen, blieb er vor den Aufzügen stehen und drückte auf den Rufknopf. „Prinz Samuel schläft bereits und Prinzessin Blair möchte nicht, dass wir ihn stören.“
Okay, klang einleuchtend. Und trotzdem folgte ich dem großen Mann auch nur, weil er Drogan war. Bei einem anderen wäre ich wohl misstrauischer geworden. Nicht nur das meine Umbras zurückbleiben mussten, da war auch noch die späte Uhrzeit und die Tatsache, dass wir nicht dorthin gingen, wohin wir eigentlich sollten.
Vielleicht war ich aber auch einfach nur völlig paranoid.
Der Fahrstuhl brachte uns nach unten ins Foyer.
„Wenn sie jetzt auch noch das Hotel mit mir verlassen wollen, werde ich wieder nach oben in mein Zimmer gehen.“ Okay, vielleicht war ich doch ein kleinen wenig misstrauisch.
„Seid unbesorgt, wir gehen nur in den kleinen Konferenzsaal. Wie bereits gesagt, Prinzessin Blair möchte ihren Sohn nicht stören.“
Und übermüdet. Was bitte glaubte ich denn, würde Umbra Drogan mit mir vorhaben?
Über mich selbst den Kopf schüttelnd folgte ich ihm durch das Foyer in einen seitlichen Korridor mit drei edlen Türen. Drogan hielt direkt auf die linke Tür zu, klopfte kurz an und wartete dann. In dem Moment in dem ich ihn erreichte, wurde sie von innen geöffnet.
Im Türspalt erschien das Gesicht meiner Tante. Als sie uns sah, steckte sie den Kopf raus, als wollte sie den Korridor überprüfen.
„Wir sind allein“, erklärte Drogan.
Nach diesem Satz bekam ich doch langsam das Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte.
„Ich werde draußen warten“, fügte er noch hinzu und trat etwas zurück, um mir Platz zu machen.
„Gut.“ Blair lächelte mich an. „Komm doch bitte rein.“
Da ich schon mal hier war, kam ich ihrer Bitte nach.
Der Raum war quadratisch. In der Mitte stand ein runder Tisch, um den ein dutzend Stühle gruppiert waren. Ein paar Topfpflanzen in Bodenvasen sorgten für ein wenig Farbe.
Und dann entdeckte ich sie.
„Oh mein Gott“, war alles was mir einfiel, während ich die Frau am Tisch nur fassungslos anstarren konnte. „Mama?“
Ein vorsichtiges Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Hallo, mein Schatz.“
Sie sah noch genauso aus, wie vor drei Jahren. Schmal, langes, karamelfarbenes Haar und einen Kopf kleiner als ich.
Einen Moment stand ich einfach nur da und wusste nicht was ich tun sollte, doch dann öffnete sie die Arme und ich flog ihr praktisch um den Hals. „Oh mein Gott“, sagte ich wieder und drückte sie an mich, als hinge mein Leben davon ab. Sie hier zu sehen und im Arm zu halten war wie ein Wunder, auf das ich nicht mehr zu hoffen gewagt hatte.
„Schhh“, machte sie, als ich vor Freude und Erleichterung zu weinen begann. Dabei hörte sie sich wirklich ein wenig verheult an. „Alles ist gut, ich bin wirklich hier.“
„Ja. Ja, das bist du aber …“ Ich löste mich ein wenig von ihr, weil ich sie einfach ansehen musste. „Wo warst du? Ich habe dich gesucht.“
„Sie war bei mir.“
Erschrocken schaute ich zur Seite und bemerkte einen Mann, der an der Wand lehnte. Ich war so auf meine Mutter konzentriert gewesen, dass ich ihn völlig übersehen hatte. Er hatte braune Haut, eine breite Nase und einen militärisch kurzen Haarschnitt.
Zwei Dinge fielen mir sofort auf. Erstens: Er war ein Alpha. Und zweitens: Er war ein Abtrünniger.
Die Härchen in meinem Nacken stellten sich mir wie von selbst auf. Das Knurren, dass ich von mir gab war rein instinktiv.
„Ganz die Mama“, schmunzelte er.
„Cayenne, ist schon gut“, sagte Mama und drehte mein Gesicht so, dass ich sie ansehen musste. „Ayko ist ein Freund. Er hat mir geholfen und mich versteckt, damit mein Vater mich nicht findet und er hat mich in seinem Rudel aufgenommen.“
„Er hat einen Alpha bei sich aufgenommen?“ Das klang nicht glaubwürdig.
Mama lächelte etwas schief. „Wir haben eine Abmachung. Ich bin offiziell seine Gefährtin, aber er hat das Sagen.“
„Du bist seine Gefährtin?!“ Das war doch wohl ein Scherz! Das konnte sie nicht sein, sie liebte doch Papa … der seit zwanzig Jahren tot war. Was hatte ich denn erwartet? Das sie ewig allein sein würde?
„Nein.“ Mama schüttelte den Kopf und griff nach meinen Händen. „Nicht wirklich. Wir sind nur Freunde, aber um seine Position im Rudel zu stärken und mich zu schützen, habe ich den Platz als seine Gefährtin in seinem Rudel eingenommen.“
Okay, das klang schon glaubwürdiger. Ich fixierte ihn und konnte mich gerade noch daran hindern meine Odeur spielen zu lassen. „Und warum sind sie hier?“
„Um sicher zu gehen, dass deine Tante deine Mutter nicht in eine Falle lockt.“ Er warf einen Blick zu Blair und schien auch nicht gerade begeistert, Alphas aus einem anderen Rudel um sich herum zu haben. „Ich schütze meine Leute.“
Blair erwiderte den Blick genauso ablehnend. „Ich würde Celine niemals etwas tun.“
„Dem Rudel der Könige traue ich alles zu“, erwiderte er schlicht.
Ich auch. Ich sprach es nicht laut aus.
„Ayko, hör auf“, mahnte meine Mutter. „Ich hab dir gesagt, Blair ist vertrauenswürdig.“
„Siehst du? Genau wegen dieser blinden Zuneigung bin ich hier.“ Er zwinkerte mir zu. „Ein wenig Rückendeckung kann nie schaden.“
Ja, ich verstand es, auch wenn ich es noch immer nicht richtig fassen konnte. Nicht nur dass sie hier war, meine Mutter war ein Alpha in einem Rudel von Abtrünnigen und Streunern. Ich hatte nicht mal gewusst, dass sie Kontakte außerhalb des Rudels hatte. Naja, wenn man es genau nahm, wusste ich über meine Mutter sowieso nicht sehr viel.
„Du warst also die ganze Zeit bei ihm?“, fragte ich.
Mama setzte sich auf einen der Stühle und zog mich auf einen anderen. Dabei ließ sie meine Hand keinen Moment los. „Ja. Ich bin aus München aus direkt zu ihm gefahren. Mir war klar gewesen, dass mein Vater dich bei sich behalten würde und etwas ausheckte, um mich endgültig aus dem Rudel zu verweisen. Als es dann soweit war, war ich schon untergetaucht und er kam nicht mehr an mich heran.“
Ihre Worte brachten die Erinnerung an diesen Tag zurück. Wie ich der Schwärn den Arm gebrochen hatte und auch … die Lehre des Königs. „Es war nicht Isaac“, sagte ich leise und senkte den Blick. „Ich war es, ich habe dich zu einem einsamen Wolf gemacht.“
„Weil mein Vater dich reingelegt hat. Hey.“ Sie legte mir eine Hand ans Kinn und drückte mein Gesicht wieder hoch. „Blair hat mir erzählt, was er getan hat. Es war nicht deine Schuld. Und wärst du es nicht an diesem Tag gewesen, wäre er es an einem anderen. Das ich das Rudel verlasse war unausweichlich, das wusste ich seit dem Moment, als er dich kennenlernen wollte.“
Ach wirklich? „Und warum hast du mich dann zu ihm geschickt? Warum bist du nicht aufgetaucht und hast mich da raus geholt? Ist dir eigentlich klar, was das für ein Mann ist? Welche Mutter lässt sowas zu?“
Die letzte Frage hatte sie getroffen, aber ich konnte sie nicht zurück nehmen. Ja, ich freute mich, dass sie hier war und wahrscheinlich würde man unsere Hände mit einer Brechstange auseinander stemmen müssen, aber die ganze Scheiße die ich seit diesem Tag hatte durchmachen müssen, wäre niemals passiert, wenn sie mich mitgenommen hätte.
„Es tut mir leid“, sagte sie betroffen. „Du musst mir glauben, wenn ich gekonnt hätte, dann hätte ich anders gehandelt. Aber nachdem du alles rausbekommen hast, ließ er dich so stark bewachen, dass ich keine Chance hatte, dich mitzunehmen.“
„Und deswegen hast du mich ihm einfach ausgeliefert?“
„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Bitte Schatz, so darfst du das nicht sehen. Ayko und ich waren bereits dabei einen Plan zu schmieden, um dich zu holen. Wir mussten nur noch auf eine passende Gelegenheit warten, aber dann ging das Gerücht um, dass du bei einem Ausflug nach Silenda von zwei jungen Männern entführt wurdest.“
Ich schnaubte. „Ich wurde nicht entführt, ich bin weggelaufen, weil ich es dort einfach nicht mehr ausgehalten habe. Und die jungen Männer waren keine Entführer, sie waren meine Freunde und ich habe sie angerufen, damit sie mir helfen.“
Der Zug um ihren Mund wurde ein wenig bitter. „Das habe ich mir schon gedacht. Blair hatte mir ja schon gesagt, dass du aus eigenem Antrieb verschwunden bist. Und was deine Freunde angeht … das waren die beiden, die dir alles erzählt haben, oder?“
Welch eine Überraschung, da konnte jemand eins und eins zusammen zählen. „Sie haben mir geholfen, als mir sonst niemand geholfen hat.“
„Aber dann haben sie dich im Stich gelassen.“
Ich runzelte die Stirn. „Was meinst du?“
„Was ich meine? Hätten sie richtig auf dich aufgepasst, wärst du nicht für drei Jahre in die Fänge eines Skhän geraten.“
Oh nein, wie hatte ich das nur übersehen können? Natürlich musste meine Mutter wie all die anderen glauben, dass ich Jahrelang eine Gefangene war. Nur eine Handvoll Leute bei den Themis wussten, dass das eine Lüge war.
Ich war versucht das Missverständnis aufzuklären, doch solange Blair mit im Raum war, konnte ich das nicht. Nein, das war falsch, ich konnte es überhaupt nicht aufklären, weil ich sonst Vivien und Anouk in Gefahr bringen würde.
„Hey, tut mir leid, ich wollte dich nicht daran erinnern.“
„Nein, das ist es nicht. Es ist nur …“ Ich verstummte, schüttelte den Kopf und stand dann auf. Verdammt, warum musste alles in meinem Leben nur eine Lüge sein? „Egal, vergiss es. Aber gib den Brüdern nicht die Schuld. Sie haben mir geholfen und mich versteckt. Dass dieser Skhän mich einkassiert hat, war meine eigene Schuld.“ Und das war nicht mal gelogen. Nur wegen meiner Inkompetenz war es Jegor gelungen mich gefangen zu nehmen.
„Du magst die beiden“, bemerkte meine Mutter leise.
Was für eine Untertreibung. „Du magst ja auch Ayko“, erwiderte ich und bekam dadurch ein Schmunzeln von ihrem Freund.
„Zumindest, wenn er nicht gerade versucht mich herumzukommandieren“, räumte sie ein und warf dann einen Blick auf ihre Armbanduhr.
Das Lächeln verging mir. „Musst du schon wieder gehen?“
„Ich?“ Sie sah mich erstaunt an. „Nein, nicht ich, wir. Ich nehme dich mit.“
Was?!
„Nein“, kam es da sofort von Blair.
„Wer will mich daran hinder? Du?“, fragte sie spöttisch. „Sie ist meine Tochter und natürlich werde ich sie mitnehmen.“
„Das kannst du nicht machen, Celine. Ich habe dieses Treffen nicht organisiert, damit du eine Prinzessin entführst. Was bitte soll ich den Vater erzählen?“
„Um ehrlich zu sein, ist mir das völlig egal. Ich werde Cayenne nicht länger bei ihm lassen.“
„Du wirst sie aber auch nicht mitnehmen“, erklärte Blair und auf einmal war der Raum erfüllt mit ihrem Odeur.
Meine Mutter regierte in gleichem Maße und auch Ayko löste sich von der Wand und zeigte, das hier noch ein Alpha anwesend war.
Aus der Kehle meiner Mutter löste sich ein Knurren. „Cayenne gehört zu mir.“
„Es tut mir leid, Celine, aber das kann ich nicht zulassen.“
In der nächsten Sekunde stürmte Drogan in den Raum.
„Nein!“, schrie ich, bevor sie wirklich noch auf die Idee kamen, aufeinander loszugehen. „Hört auf mit dem Mist.“
Keiner beachtete mich.
Verdammt. „Mama, ich werde nicht mit dir gehen.“
Das hatte nicht nur zur Folge, dass sich vier paar Augen auf mich richteten, auch das Odeur ließ spürbar nach.
„Was?“ Meine Mutter schaute mich an, als sehe sie mich zum ersten Mal. „Natürlich kommst du mit mir, darum bin ich doch hier. Ich will dich nach Hause holen.
Es tat so weh das zu tun, aber mir blieb keine Wahl. „Mein Platz ist im Rudel der Könige. Ich werde dich nicht begleiten, ich werde morgen mit Blair an den Hof zurück kehren.“
„Aber … nein.“ Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie meine Worte kaum glauben. „Bitte Cayenne, es tut mir leid, dass ich dich nicht beschützen konnte, aber jetzt bin ich hier. Wir können noch einmal von vorne anfangen.“
Nein, das konnten wir nicht, den in meinem Leben gab es mittlerweile Verpflichtungen, denen ich nicht einfach den Rücken kehren konnte.
„Es tut mir leid“, sagte ich traurig und wich einen Schritt vor ihr zurück. Mit einem Mal war dieses Treffen fast noch schlimmer als die Begegnung mit Raphael, denn wieder wurde mir gezeigt, was ich hätte haben können, wenn die Dinge nur ein kleinen wenig anders liegen würden. „Ich hab dich lieb, aber … ich kann das nicht machen.“
„Cayenne, bitte …“
„Nimm keinen Kontakt mehr zu mir auf.“ Denn das würde es noch viel schlimmer machen. „Wir haben uns nichts mehr zu sagen.“
Ich gab ihr nicht die Gelegenheit noch etwas zu erwidern. Ich wirbelte einfach herum und rannte aus dem Zimmer.
Noch während ich zum Fahrstuhl eilte, wurde mir klar, dass ich gerade eine weitere Leine zu meiner Vergangenheit unwiderruflich gekappt hatte. Wenigstens wusste ich, dass meine Mutter in Sicherheit war und dass es ihr gut ging. Es war kein wirklicher Trost, aber es war alles was mir in diesem Moment noch geblieben war.
°°°
Mit einem „Nicoletta, nimm dir die nächste Stunde frei“, trat ich am nächsten Nachmittag in Sydneys Büro und sorgte damit dafür, dass seine Assistentin vor Schreck den Behälter mit den Stiften vom Schreibtisch stieß.
Sydney sah auf das Chaos am Boden und dann zu Nicoletta. Er mochte keine Unordnung.
„Tut mir leid“, beeilte sie sich zu sagen und hockte sich dann hin, um das Durcheinander wieder in Ordnung zu bringen.
Seit sie mich vor Jahren mal bei Sydney verpetzt hatte, machte es sie furchtbar nervös, wenn ich mich mit ihr im selbem Raum befand. Ein umgefallener Stiftbecher war noch eines der harmloseren Missgeschicke, dir ihr dann widerfuhren.
Einmal hatte sie ein Gläschen Tinte über eines der Biographiebücher umgekippt. Das hatte Wochenlange Arbeit zur Folge gehabt.
Als Historiker schrieb Sydney die Lebensgeschichte von Prinzessin Sadrija auf. Naja, Nicoletta schrieb seine Worte auf, da es ihm als Wolf ja unmöglich war einen Stift zu halten. Aber er war halt so gut in seinem Job, dass die Alphas ihm diese kleine Eigenheit zustanden.
Noch dazu bestand Sydney darauf, alles mit Feder und Tinte sauber in ein Buch zu schreiben. Mit Computern und Schreibmaschinen brauchte man ihm gar nicht erst kommen. Das machte es noch schlimmer, wenn Nicoletta ein Glas Tinte auf so einem Buch ausleerte.
„Da liegt noch ein Bleistift“, sagte ich hilfreich und konnte dabei zuschauen, wie sich ihre Wangen ein wenig rosig färbten.
„Ja, danke, Prinzessin.“
Okay, ich gab es zu, ich tat auch nicht gerade etwas dafür, dass sie sich in meiner Gegenwart wohler fühlte. Es störte mich eben, dass die beiden so viel Zeit miteinander verbrachten.
Sydney schüttelte über soviel Tolpatschigkeit nur den Kopf. „Wenn du mit Aufräumen fertig bist, verlasse das Büro. Wir sehen uns dann in einer Stunde.“ Er sprang vom Stuhl und folgte mir dann nach nebenan in seine Kammer, die direkt an sein Büro anschloss.
Der Raum war klein und karg. Neben einem schmalen Bett und einem Tisch mit Stuhl, gab es nur noch einen fast leeren Kleiderschrank. Ich musste es wissen, ich hatte einmal hinein geschaut.
Sobald die Tür zu seinem Büro verschlossen war, schob er seinen Kopf unter meiner Hand. „Ich freue mich, dass ihr zurück seid.“
„Was, hast du etwa befürchtet, ich würde doch einfach verschwinden?“ Nicht dass ich dazu keine gute Gelegenheit gehabt hätte. Erst Raphael, dann meine Mutter. Der Kummer, der schon den ganzen Tag wie eine dunkle Wolke über mir schwebte, senkte sich weiter auf mich herab.
„Nein, Ihr habt mir ein Versprechen gegeben und ich wusste, Ihr würdet es halten.“ Er schmiegte sich an mein Bein. „Solche Dinge sind Euch sehr wichtig.“
„Ja“, sagte ich traurig. „Da hast du Recht.“
Verwundert über meinen Ton, schaute er zu mir auf. „Was habt Ihr?“
„Ich?“ Ich zwang mir ein Lächeln auf die Lippen. „Gar nichts, mir geht es gut.“ Mir musste es gut gehen, denn genau das erwarteten alle von mir.
Ich ließ ihn an der Tür stehen und setzte mich auf die Kante seines Bettes. Dabei zog ich eine Tüte mit selbstgebackenen Plätzchen aus meiner Rocktasche, die ich auf dem Weihnachtsmann erstanden hatte. „Hier, schau mal, die hab ich dir mitgebracht.“
Sydney hatte keine Augen für die durchsichtige Tüte, mit der goldenen Schleife, sein Blick war allein auf mich gerichtet.
„Warum guckst du mich so an?“
„Ich mache mir Sorgen um Euch.“
Der Arm mit der kleinen Tüte sank zurück in meinen Schoß. „Das brauchst du nicht, mir mir ist alles in Ordnung.“
Da war er wieder, dieser Blick, der mich bis auf meine Seele zu durchleuchten schien. „Bereits früher wart Ihr an diesem Ort nicht glücklich“, sagte er leise und setzte sich direkt vor mich auf den Boden. „Ihr wart wütend und habt diese Wut jeden spüren lassen. Ihr wart verzweifelt, habt aber nie aufgegeben. Doch seit Ihr wieder hier seid, ist es anders. Noch immer seid Ihr oft wütend, aber Ihr seid nicht mehr Ihr selbst. Es ist, als hättet Ihr Euch selber auf Eurem Weg verloren.“
Ich senkte meinen Blick auf meinem Schoß und zupfte an der kleinen, goldenen Schleife herum.
„Seht mich an, Prinzessin Cayenne.“
Das tat ich nicht. Ich hatte Angst vor dem, was er in meinen Augen entdecken würde. „Möchtest du mal einen von den Keksen probieren? Die sind wirklich …“
„Sieh mich an Cayenne. Versteck dich nicht, nicht vor mir.“
„Hör auf damit, Sydney, bitte.“ Sonst würde ich gleich noch anfangen zu heulen und ich war mir nicht sicher, ob ich dann jäh wieder damit aufhören könnte.
Er seufzte leise. „Ich will nur, dass Ihr wisst, dass Ihr immer zu mir kommen könnt. Ganz egal um was es geht, Ihr könnt mir alles erzählen.“
Nein, nicht alles. Aber vielleicht … einen kleinen Teil? „Gestern ist etwas passiert“, sagte ich leise. „Am Abend, als wir schon im Hotel waren.“
Sydney fragte nicht nach. Er wartete einfach geduldig, bis ich so weit war und es von alleine preisgab.
„Ich habe meine Mutter gesehen.“ Meine Augen begannen zu brennen, als ich daran dachte, wie ich mich von ihr verabschiedet hatte. „Blair hat heimlich ein Treffen arrangiert und … sie war wirklich da. Ich habe sie in den Arm genommen.“ Die Tränen in meinen Augen liefen über und kullerten über meine Wangen. „Es war so toll sie zu sehen, doch dann … sie wollte dass ich mit ihr komme, aber ich habe nein gesagt. Sie hätte mich von all dem hier wegbringen können, aber ich habe ihr gesagt, dass ich zurück aufs Schloss muss und sie sich nicht mehr bei mir melden soll, weil ich sonst vielleicht doch irgendwann schwach werden würde, aber ich muss hier bleiben.“ Meine Hände gruben sich in die Tüte mit den Plätzchen. „Ich darf hier nicht weg.“ Nie wieder.
Ohne ein Wort zu sagen, stellte Sydney sich am Bett auf und vergrub seinen Kopf an meinen Hals.
Ich schlang einfach die Arme um ihn und drückte mein Gesicht in sein Fell. „Ich wollte sie nicht so vor den Kopf stoßen, aber ich konnte nicht gehen.“ Und Als Blair mir heute Morgen ihre Telefonnummer zugesteckt hatte, hatte ich sie direkt in den nächsten Mülleimer geworfen, damit ich niemals in Versuchung geraten konnte.
„Es tut mir so leid für Euch.“ Er drückte sich ein wenig fester an mich. „Ich kann mir wahrscheinlich gar nicht vorstellen, wie schwer dies Situation für Euch sein muss, aber auch wenn Euch das keinen Trost ist, ich bin stolz auf Euch. Ihr seid nicht vor der Verantwortung geflohen, sondern geblieben, um Euch Eurer Zukunft zu stellen.“
Ja, und das sogar zum zweiten Mal an diesem Abend, aber von Raphael durfte ich nichts erzählen, das würde einfach zu viele Fragen aufwerfen, die ich nicht beantworten konnte.
Ich hätte niemals zu diesem Weihnachtsmarkt mitgehen dürfen. „Versprich mir, dass du immer bei mir bleibst. Sonst schaffe ich das hier nicht.“
„Ich werde Euch niemals im Stich lassen“, versprach er. „Mein Wort darauf.“
Wahrscheinlich war ihm gar nicht klar, wie viel mir das in diesem Moment bedeutete und das allein seine Anwesenheit dafür sorgte, dass ich nicht völlig zusammenbrach. „Magst du jetzt vielleicht einen Keks?“, fragte ich mit brüchiger Stimme.
„Ja“, sagte er und schmiegte sich noch einmal an mich. „Ich hätte sehr gerne einen Keks.“
Am Ende verfütterte ich ihm sogar die ganze Tüte und überlegte, ob wir nicht vielleicht in die Küche gehen sollten, um noch ein paar zu backen. Leider musste er wieder an die Arbeit und ich wurde beim Abendessen erwartet.
Am nächsten Abend kam ich gerade aus meinem Badezimmer und rubbelte mir mit einem Handtuch das Haar trocken, als ich Collette in meinem begehbaren Kleiderschrank werkeln hörte. Der Ball zu Ehren des zweiundneunzigsten Geburtstages von Geneva würde bald beginnen. Eigentlich war ich schon zu spät dran, aber das war mir egal. Es war ja nicht mein Ball.
„Collette?“
Meine Kammerzofe steckte ihren Kopf aus dem Schrank. „Ja, Prinzessin?“
„Such mir bitte bequeme Schuhe raus, keine hochhackigen.“ Wenn ich schon den ganzen Abend auf den Beinen sein musste, wollte ich wenigstens Krämpfe in den Beinen vermeiden.
„Natürlich, ist schon erledigt.“
„Danke.“ Ich warf das feuchte Handtuch über die Lehne der Couch und folgte ihr dann in meinen Schrank, wo sie mir bereits ein Outfit für den Abend bereit gelegt hatte.
Das Kleid, dass sie mir rausgelegt hatte, war lag, cremefarbend und würde bei jeder Bewegung schimmern. „Hübsch“, kommentierte ich und ließ meine Hand über den schlichten Stoff gleiten. Er war wunderbar weich.
Collette lächelte. „Es ist ein Geschenk von Markis Nikolaj.“
Und plötzlich gefiel mir das Kleid gar nicht mehr. „Es ist von Nikolaj?“
Sie nickte. „Er bat mich, es Euch für diesen Abend zu geben.“
„Wie nett von ihm“, zwang ich mich zu sagen. Mir einem Mal wäre ich lieber nackt gegangen, als dieses Ding anzuziehen, aber das hätte ihn vermutlich noch mehr gefreut.
Verdammt, ich sollte nicht so ein Drama daraus machen, es war nur ein dummes Kleid. Nur leider war die Bedeutung dahinter viel größer. „Danke, das wäre alles. Geh jetzt, damit ich mich anziehen kann.“
„Jawohl.“ Sie machte noch einen kleinen Knicks und verschwand dann aus meinem Kleiderschrank.
Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis ich fertig war und mein Zimmer verließ. Da dies ein mehr oder weniger offizieller Anlass war, an dem auch Betas aus aller Welt teilnehmen würden, wurde ich heute von meinen beiden Umbras begleitet. Sie standen schon bereit, als ich mein Zimmer verließ.
Die Geräuschkulisse der ankommenden Gäste hörte ich schon, als ich auf den Korridor trat. Es war fast wie an dem Tag meines Einführungsballes. Dieses Mal wartete jedoch nicht König Isaac an der Galerie auf mich, sondern Nikolaj.
Er steckte in einem maßgeschneiderten Anzug mit einer blauen Krawatte. Es juckte mir in den Fingern, solange an der Krawatte zu ziehen, bis er blau anlief, doch stattdessen setzte ich ein Lächeln auf.
„Prinzessin Cayenne.“ Bei meinem Anblick leuchteten seine Augen auf. „Ihr seht … bezaubernd aus.“
Leider entsprach das sogar der Wahrheit. „Danke. Sie können sich auch sehen lassen.“
„Wollen wir?“ Er hielt mir auffordernd seinen Arm hin und schien gar nicht zu merken, wie ich einmal tief Luft holte, bevor ich sein Angebot wahrnahm. Vielleicht interessierte es ihn aber auch einfach nicht.
Das Foyer war bereits gut besucht. Unmengen von Leuten strömten herein und bewegten sich auf den Thronsaal zu. Nikolaj und ich schlossen uns ihnen an. Natürlich zog ich dabei mehr als einen Blick auf mich und das lag nicht an dem hautengen Kleid. Ich war schließlich Prinzessin Cayenne, der Alpha, der praktisch sein ganzes Leben entführt gewesen war.
Ich ignorierte das Geflüster so gut wie es mir möglich war und ließ mich von Nikolaj durch den Thronsaal in den anliegenden Ballsaal führen.
Er war genauso aufwendig dekoriert worden, wie bei meinem Ball. Rundherum waren runde Tische aufgestellt worden, wo die Gäste Platz nehmen konnten. An der Front dagegen stand ein großer Tisch, an dem die ganze Familie der Alphas sitzen würde und den ganzen Saal überblicken konnte.
Königin Geneva und ihr Tyrann von Mann saßen bereits dort und nahmen Geschenke und Glückwünsche entgegen. Ein paar Diener standen bereit, um die Geschenke zu einem dafür vorgesehenen Tisch bringen zu können.
Was sie wohl alles bekommen würde? Es war sicher nicht einfach, etwas für eine so reiche und mächtige Frau zu finden, dass sie wirklich gebrauchen konnte, oder sich wünschte.
Markis Nikolaj dirigierte mich geschickt durch den überfüllten Raum. Trotzdem mussten wir immer wieder anhalten und Gäste begrüßen, die sich nach meinem Befinden erkundigen wollten. Die Leute waren neugierig auf meine Rückkehr, aber ich blockte jede Frage in diese Richtung geschickt ab.
„Das macht Ihr ausgezeichnet“, sagte Markis Nikolaj irgendwann zu mir.
„Tja, man sehe und staune, ich bin lernfähig.“ Außerdem hatte ich Frederic zu Obach, der ein ausgezeichneter Lehrer war und wusste wie er mir die Kunst der Konversation beibrachte, sodass ich sie auch kapierte.
„Ich freue ich wirklich, dass wir heute gemeinsam hier sind.“
„Tja, eine große Wahl hatte ich ja nicht.“ Ich hob die Hand, um eine Frau zu grüßen, die mir entfernt bekannt vorkam.
Nikolajs Lächeln schrumpfte ein wenig in sich zusammen. „Ist es für Euch wirklich so eine große Qual, mit mir hier zu sein?“
„Möchten sie wirklich, dass ich diese Frage beantworte?“ Ich schaute ihn an. „Ich glaube nicht, dass ihnen gefallen würde, was ich zu sagen habe.“
Diese direkte Abfuhr machte ihn wirklich betroffen, doch bevor er etwas darauf erwidern konnte, trat ein Mann aus der Menge auf uns zu, bei dessen Anblick sich meine ganze Haltung versteifte. Markis Jegor Komarow, Nikolajs Vater.
„Prinzessin Cayenne“, begrüßte er mich mit einem breiten Lächeln und wollte nach meiner Hand greifen, um mir einen Kuss auf den Handrücken zu geben, wie es am Hof nun mal Sitte war.
Ich wich so schnell vor ihm zurück, dass nur Nikolajs Arm mich vor einem Sturz bewahrte. Plötzlich war ich wieder in seinem Büro und spürte, wie er mich auf seinem Schreibtisch drückte. Mein Herz begann in meiner Brust zu rasen. „Fassen Sie mich nicht an, wenn Ihnen ihre Hand etwas bedeutet.“
Jegors Lippen wurden schmal wie ein Strich. „Ihr vergesst Euch, Prinzessin Cayenne.“
„Nein tu ich nicht. Wenn ich mich vergessen hätte, würde ihnen bereits ein Arm fehlen und sie würden sich blutend und schreiend vor mir auf dem Boden wälzten.“
„Ihr scheint unsere Abmachung …“
„Unsere Abmachung betrifft nur ihren Sohn und mich, sie kommen darin nicht vor.“
Ich erwartete, dass er sauer werden würde und oder sogar den Deal zu seinen Gunsten änderte, aber er begann einfach nur zu lächeln. „Ihr seid ein wirklich denkwürdiger Anblick und auch dieser Abend wird sicher denkwürdig werden.“ Sein Lächeln nahm eine boshafte Note an. „Bis nachher, Nikolaj.“ Und dann verschwand er einfach wieder.
Als ich ihm nachsah, beschlich mich ein sehr ungutes Gefühl. Irgendwas an seinen Worten ließ das Warnsignal in meinem Kopf losgehen, aber ich konnte nicht mit dem Finger darauf zeigen.
„Komm“, sagte Nikolaj und führte mich in die andere Richtung davon. Es dauerte noch ein wenig, aber irgendwann kamen wir dann doch am Tisch der Alphas an.
Wie auch alle anderen beglückwünschte ich Geneva und ließ mich dann zwischen Nikolaj und Sadrija auf meinem Platz nieder.
Damit war die ganze Familie komplett. Sogar Samuel hing gelangweilt zwischen seinen Eltern auf seinem Stuhl. Nur Kaidans Sohn Elias fehlte. Wahrscheinlich war der für eine solche Veranstaltung einfach noch zu jung.
Als hätte der König nur darauf gewartet, dass auch ich endlich ankam, erhob er sich von seinem Platz und bat um ruhe. Er hielt eine kleine Rede und eröffnete dann das Bankett. Was folgte war eine Geräuschkulisse aus Gesprächen, klapperndem Besteck und hunderten von Dienern, die geschäftig zwischen den Tischen umher eilten.
Das Essen, das man mir brachte, sah wirklich lecker aus. Trotzdem schafften es nur wenige Bisse in meinen Mund. Ich aß in der letzten Zeit sehr schlecht, die ganze Situation schlug mir halt auf den Magen.
Als auch der letzte Gang abgeräumt war, begann das Unterhaltungsprogramm. Eine Gruppe von jungen Wölfen führte eine kleine Komödie auf Kosten von Geneva auf, die sogar mich lächeln ließ. Eine Sängerin erfüllte den Saal mit ihrer unglaublichen Stimme und mittendrin erschien Elias im Saal und verkündete uns allen, das er gerade erfolgreich auf dem Töpfchen gewesen war.
Wie es schien, war er seinem Kindermädchen entwischt, sodass Kaidan sich unter dem Lachen der Anwesenden gezwungen sah, seinen Sohnemann einzufangen und wieder nach oben zu bringen. Ja, Kinder waren immer für einen Lacher gut.
Sobald die Gäste sich wieder ein wenig beruhigt hatten, erhob König Isaac sich und hielt eine Lobrede auf seine Frau. Dabei waren seine Worte so herzlich und warm, dass mir zum ersten Mal bewusst wurde, dass es außer seiner Macht noch etwas gab, das er liebte: Seine Frau.
Wer hätte gedacht, dass dieser Mann überhaupt zu solchen Gefühlen fähig war? Mich jedenfalls erstaunte es.
Isaac war nur das erste Mitglied der Familie, dass sich erhob und ein Lobgesang auf meine Großmutter anstimmte. Auch mein Onkel/Vater Prinz Manuel und Blair erhoben sich. Selbst Samuel sagte ein paar Worte.
Als sich dann jedoch Nikolaj erhob, war ich doch ein wenig überrascht. Als mein heldenhafter Retter, hatte er sich zwar einen Platz an diesem Tisch verdient, aber zur Familie gehörte er deswegen noch lange nicht.
„Liebe Gäste“, begann er. „Auch ich möchte Königin Geneva meine Glückwünsche zu ihrem Geburtstag entrichten und hoffe, dass sie uns noch viele, viele Jahre erhalten bleibt. Wir können stolz sein, eine Frau wie sie an der Seite unseres Alphas zu wissen, darum erheben wir unsere Gläser auf Königin Geneva.“
„Auf Königin Geneva!“, erklangen hunderte von Stimmen im Saal. Gläserklirren folgte. Sogar ich nippte an meinem Sekt – einfach weil man das von mir erwartete.
Während ich es wieder wegstellte, überlegte ich, ob ich vielleicht auch etwas sagen sollte, bemerkte dann aber, das Nikolaj noch immer stand und darauf zu warten schien, dass er die Aufmerksamkeit der Anwesenden zurück bekam.
„Dies ist ein erfreulicher Anlass“, erklärte er und machte damit deutlich, dass er noch nicht fertig war. „Und wo wir schon einmal alle zusammen sind, möchte ich die Gelegenheit nutzen, um etwas zu tun, wonach mein Herz sich schon lange sehnt.“ Nach diesen Worten drehte er sich lächelnd zu mir um und ging langsam vor mir auf die Knie.
Meine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Oh nein, bitte nicht. Doch dann musste ich mit ansehen, wie er aus seiner Hosentasche eine kleine Samtschachtel zog und sie direkt vor meiner Nase mit einem scheuen Lächeln aufklappte. Darin war ein schlichter Silberring mit einer Reihe aus eingearbeiteten Diamanten.
Mein Herz begann zu rasen, doch nicht vor Freude.
„Prinzessin Cayenne“, sprach er mich nun direkt an. „Viele Jahre habe ich von diesem Moment nicht mal zu träumen gewagt und das nicht nur wegen der Umstände Eures Lebens. Ihr seid wie ein Stern in der dunkelsten Nacht, so wunderschön und manchmal auch unerreichbar. Doch nun knie ich vor Euch. Nicht wegen eines Versprechens, sondern weil ich Euch kennenlernen durfte und Euch in meinem Leben nicht missen möchte.“
Meine Hände krallten sich in den Stoff meines Kleides. Bitte, hör auf!
„Darum frage ich Euch nun: Prinzessin Cayenne, würdet Ihr mir die Ehre Eurer Hand erweisen und meine Gefährtin werden?“
°°°°°
Voller Entsetzen starrte ich auf diesen Ring und spürte wie eine eisige Kälte sich bis auf meine Knochen fraß. Seine Frau, ewige Gefangenschaft, kein Entkommen, niemals. Dieses winzige Fünkchen, das noch gehofft hatte, vielleicht doch noch einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, es erlosch einfach.
Ich spürte die Blicke von hunderten von Gästen, genau wie die meiner Familie. Jeder würde dieser Heirat bedenkenlos zustimmen. Nikolaj war nicht nur der Mann, das mir versprochen war, sie alle glaubten, er sei mein Retter. In ihren Augen musste diese Verbindung perfekt sein.
Aber nur ich kannte die Wahrheit und schrie in meinem Innersten so laut, dass ich mich wunderte, warum niemand reagierte. Konnten sie es nicht hören? Spürten sie nicht meine Verzweiflung?
Ich saß so lange stumm da, bis Sadrija mir unauffälligen gegen mein Bein trat, um meine Erstarrung zu lösen. „Ja“, flüsterte ich und starb innerlich tausend Tode. Es war die einzige Antwort, die ich geben durfte. „Ja, das möchte ich.“
In Nikolajs Gesicht ging die Sonne auf. „Wirklich?“
Nein! Ich zwang ein Lächeln auf meine Lippen, von dem mir die Wangen schmerzten. „Ja, wirklich.“
Um uns herum brandete tobender Applaus los und während Nikolaj den Ring aus der Schachtel nahm und ihn mir auf den Finger steckte, spürte ich nur wie die Fesseln meiner Gefangenschaft sich immer enger um mich zusammen zogen. Sie nahmen mir nicht nur die Luft zum atmen, sie drohten auch, damit mich zu zerquetschen.
Als ich Sadrijas prüfenden Blick bemerkte, wurde mir klar, dass ich nicht richtig reagierte. In einem solchen Moment musste glücklich und überschwänglich sein. Er hatte mich schließlich gerade als seine Gefährtin erwählt.
Mir blieb gar nichts anderes übrig, als mein ganzes, schauspielerisches Talent hervorzukramen und Nikolaj mit einem Jubelschrei um den Hals zu fallen. Hoffentlich glaubten die Leute, dass ich mich erst einen Moment von der Überraschung hatte erholen müssen, bevor ich angemessen reagieren konnte.
Nikolaj wirbelte mich überglücklich herum, stellte mich dann aber auch gleich wieder ab und senkte seine Lippen auf meine.
„Bitte nicht“, flehte ich leise und spürte wie mir die Tränen in die Augen traten. Das würde ich jetzt nicht auch noch ertragen. Nicht hier, nicht heute, vielleicht niemals.
Und Nikolaj verstand es. Er drehte mich so, dass es für alle anderen aussehen musste, als schenkten wie einender einen leidenschaftlichen Kuss, aber in Wirklichkeit streiften seine Lippen nur hauchzart über meine Wange.
„Willkommen in der Familie!“, grüßte Kaidan uns und nahm uns beide gleichzeitig in den Arm. Leider bemerkte er da die Träne auf meiner Wange. „Was hast du?“
„Nichts“, sagte ich hastig und wischte sie mir aus dem Gesicht. „Freudentränen.“ Ich versuchte zu lächeln und konnte nur hoffen, dass es nicht all zu falsch wirkte. „Ich bin einfach glücklich.“
Auch meine Großmutter trat zu uns. „Das ist ja einfach wunderbar. Ich freue mich so für euch.“
Oh Gott, ich musste hier weg. „Ja, das war wirklich eine Überraschung“, stimmte ich ihr zu und wischte mir eine weitere Träne von der Wange. „Oh man, schaut euch das nur an, ich kann vor Freude gar nicht mehr aufhören zu heulen.“
Nikolaj schaute leicht besorgt zu mir rüber. Er wusste natürlich, das nichts von dem Schwachsinn wahr war. „Vielleicht solltest du dich einen Moment zurückziehen, um dein Make-Up zu erneuern?“
Ja, das war mein Ausweg. „Wäre vermutlich besser“, schniefte ich und nahm das Taschentuch entgegen, dass Sadrija mir hinhielt. „Sonst musst du nachher mit einem Waschbären übers Paket tanzen.“ Ich lachte übertrieben und tupfte mir die Augen ab. „Ich bin dann gleich wieder da.“ Damit ergriff ich die Flucht.
Ein paar der Gäste wollten aufstehen, um mich zu beglückwünschen, doch Logan und Ginny sorgten dafür, dass ich fast unbehelligt hinaus ins Foyer kam. Es war wohl das erste Mal, dass ich mich über meine Umbra freute.
Hier war es zum Glück fast leer. Nur wenige Gäste standen hier herum und unterhielten sich leise. Als ich auftauchte, drehten sie sich jedoch zu mir herum. Mein Blick aber ging zu dem großen Schlossportal. Es war sperrangelweit offen. Nichts lag zwischen mir und dem Ausgang und einen verrückten Moment überlegte ich wirklich einfach loszulaufen und zu schauen, wie weit ich käme. Vielleicht – wenn ich ganz großes Glück hatte – würde ich ihnen sogar entkommen.
„Prinzessin Cayenne?“, fragte Ginny leise.
Ich machte eine Schritt auf das Portal zu. Und noch einen. Dann stoppte ich mich selber.
Nein. Nein, das durfte ich nicht tun. Es war ganz egal, was mit mir geschah, aber ich durfte nicht einfach verschwinden. Das konnte ich weder Raphael noch Sydney antun.
Oh Gott, Sydney.
Um mich selbst an der Versuchung zu hindern, wirbelte ich herum und eilte in die Bibliothek. Ich musste hier weg, bevor ich noch vor aller Augen zusammenbrach.
Ich hätte damit rechnen müssen. Es grenzte schon an ein Wunder, dass Nikolaj nicht schon vor Wochen um meine Hand angehalten hatte. Drei Jahre hatte ich ihnen entkommen können, doch nun endete mein Weg in einer Sackgasse, aus der es kein entrinnen gab. Das Schicksal hatte mich endgültig eingeholt. Ich hatte gekämpft, ich hatte es versucht, wirklich, aber nun musste ich es einsehen, ich hatte verloren.
Um mein Schluchzen zu unterdrücken, schlug ich mir die Hand vor den Mund, während ich an den Bücherregalen der Bibliothek vorbeieilte. Mittlerweile rannte ich schon fast und als ich Sydney Büro erreichte, betrat ich es nicht nur ohne anzuklopfen, ich schlug die Tür auch so schnell hinter mir zu, das meine Umbra gar nicht erst die Möglichkeit hatten, mir zu folgen. Sie mussten sowieso draußen warten, das wussten sie.
Leider war das Büro dunkel und da ich den Lichtschalter betätigen musste, hätte mir klar sein müssen, dass der Raum verwaist war. Und doch traf es mich unvorbereitet. Er war nicht hier.
Das Schluchzen ließ sich nicht länger zurückhalten. Ich sackte auf dem zerkratzen Holzboden in mich zusammen und schaffte es einfach nicht mehr meine Tränen niederzukämpfen.
„Prinzessin?“
Als ich aufschaute, sah ich Sydney in der offenen Tür zu seiner Kammer stehen.
„Was macht ihr hier?“, fragte er verwundert.
„Ich kann das nicht.“ Ich schlug die Hände vors Gesicht, aber es half nicht. Die auferlegte Last war zu groß. Wie konnten sie nur erwarten, dass ich das aushielt? Ich war nicht so stark wie sie alle glaubten, es war einfach zu viel. „Ich kann das nicht“, wiederholte ich.
Er eilte zu mir und stupste mir mit der Nase besorgt gegen die Wange. „Was habt Ihr?“
„Ich werde heiraten“, flüsterte ich. Meine Stimme war kaum mehr als ein Hauch. „Er hat mich gefragt, ob ich seine Frau werde, und ich … ich habe ja gesagt.“ Weil sie mir einfach keine Wahl gelassen hatten. „Ich werde Nikolajs Frau.“ Und ich konnte nichts dagegen tun.
Sydney neigte den Kopf leicht. „Er hat sich heute mit Euch verlobt.“ Keine Frage. „Aber Ihr wollt ihn nicht ehelichen.“
Was sollte ich dazu noch große sagen? Die Antwort war offensichtlich.
Er beugte sich vor und rieb seinen Kopf tröstend an meiner Wange. „Ich weiß wie sehr Ihr an Eurer Freiheit hängt, aber Ihr habt doch gewusst, dass es passieren würde und er ist kein schlechter Mann. Er hat Euch gerettet und Euch dem Rudel zurückgebracht.“ Nach einer kurzen Pause, fügte er noch hinzu: „Er hat Euch mir zurückgebracht.“
Nach diesen Worten hätte ich am liebsten meine ganzen Kummer in die Welt geschrien. „Aber ich liebe ihn nicht.“
„Seid nicht traurig. Die Liebe kommt und geht, es ist nur wichtig, dass er es ehrlich mit Euch meint.“
Ehrlich? Das war wohl der Witz des Jahres.
„Die Bürde, die Ihr tragt, ist gewiss nicht leicht und ich weiß wie schwer Euch dieser Schritt fällt, aber es ist nun einmal das Los einer jeden Prinzessin.“ Seufzend setzte er sich vor mich und schaute mir direkt in die Augen. Konnte er denn meine Verzweiflung nicht sehen? „Es ist kein Trost, aber Ihr müsst wissen, dass die wenigstes Alphas lieben dürfen. Ich weiß, dass der König seine Gefährtin liebt, aber denkt nur an Prinz Kaidan. Sein Sohn ist für ihn wohl das Wichtigste auf der Welt, doch seiner Gefährtin bringt er nicht das kleinste Quäntchen Sympathie entgegen.“
„Wirklich?“
Er nickte.
Das hatte ich nicht gewusst. Seit damals hatte ich mit Kai nicht mehr wirklich viel zu tun gehabt, aber mir hätte doch trotzdem auffallen müssen, dass er seine Gefährtin nicht mal mochte. „Wie kann er dann mit ihr verheiratet sein? Wie können sie ein Kind haben? Sie doch schon wieder von ihm schwanger.“
„Das kann ich Euch nicht beantworten, das müsst Ihr ihn schon selber fragen. Doch was ich eigentlich damit sagen möchte: Auch wenn es noch so schwer ist, es gibt immer einen Weg. Auch Ihr werdet Euch mit Markis Nikolaj arrangieren. Es wird vielleicht seine Zeit brauchen, aber ihr werdet sehen, alles nimmt ein gutes Ende.“
Nein, würde es nicht. Nicht bei mir und nicht mit diesem Mann. „Ich bin dafür nicht stark genug.“
„Ihr seid eine der stärksten Persönlichkeiten, die ich kenne und ich weiß, dass Ihr auch diese Situation meistern werdet.“
„Woher?“, wollte ich wissen und wischte mir eine Träne aus dem Gesicht. „Wie kannst du dir da so sicher sein?“
„Weil ich Euch kenne.“
Und doch konnte er die Wahrheit nicht sehen. Aber ihm das zum Vorwurf zu machen, wäre unfair, er durfte es schließlich nicht wissen. Niemand durfte das. „Ich will da nicht wieder raus.“ Heute nicht und nie wieder.
„Ihr könnt bleiben, solange Ihr wollt. Hier seid Ihr immer Willkommen, das wisst Ihr doch.“
„Und wenn ich die nächsten zehn Jahre nicht gehen will?“
„Dann sollten wir überlegen, ob wir vielleicht ein zweites Bett in meine Kammer stellen.“
Ich hatte keine Ahnung, wie er das fertig brachte, aber mit dieser blöden Aussage, schaffte er es wirklich mir ein verheultes Lachen zu entlocken.
„Kommt, steht auf, der Boden ist zu kalt, um lange darauf zu verweilen.“
Wenn eine drohende Blasenentzündung mein größtes Problem wäre, könnte ich mich glücklich schätzen. Aber als er mich dann auch noch anstupste, raffte ich mich auf und ließ mich von ihm in seine Kammer bringen.
In dieser Nacht machte ich kein Auge zu. Ich ging nicht zurück auf das Fest und auch nicht in mein Zimmer, ich blieb bei Sydney und ließ mich von seiner Gegenwart trösten.
Ich fragte mich, wie es sein würde, mit Nikolaj verheiratet zu sein und was genau er von mir erwartete. Mussten wir Kinder in die Welt setzten? Bei dem Gedanken wurde mir schlecht.
Am nächsten Morgen erschien ich völlig übermüdet zum Frühstück. Schon an der Tür zum Speisesaal wartete mein Zukünftiger auf mich. Würde ich je wieder einen Schritt machen können, ohne ihn ständig vor Augen zu haben?
„Cayenne“, begrüßte er mich lächelnd und küsste mich auf die Wange, aber auch nur, weil ich den Kopf rechtzeitig zur Seite drehte. „Ich habe gestern nach dir gesucht.“
„Mit wenig Erfolg, wie mir scheint“, sagte ich leise genug, dass nur er es hören konnte und ließ mich von ihm dann zum Tisch begleiten.
Seine Lippen wurden ein wenig schmaler. „Es wäre gut gewesen, wenn du später noch einmal wiedergekommen wärst. Prinzessin Pandora und deine Tante haben angeboten sich mit dir wegen der Hochzeit zusammenzusetzen. Ich finde das ist eine ausgezeichnete Idee. Natürlich könntest du es auch den Bediensteten überlassen die Hochzeit auszurichten, aber ich dachte, es könnte dir vielleicht gefallen, selber an der Planung teilzuhaben.“
Überrascht blieb ich stehen und zwang ihn damit, auch zum halten.
„Was ist?“
„Planung?“ Wir waren noch nicht mal einen Tag verlobt!
„Natürlich.“ Er zog die Augenbrauen ein wenig zusammen. „Dein Geburtstag ist doch schon nächsten Monat. So viel Zeit bleibt da nicht mehr.“
Also erstens: Woher wusste er, wann ich geboren worden war? Und zweitens: „Was hat das mit meinem Geburtstag zu tun?“
„Das ist unser Hochzeitstermin.“
Es gab wohl keinen Muskel in meinem Gesicht, der mir in diesem Moment nicht entglitt. „Aber … warum?“
„Weil es Tradition ist. Alphas heiraten immer am Tag ihrer Geburt.“
Das war wie lange? Fünf Wochen? Sechs? Und dann sollte ich schon mit ihm vor den Altar treten?
„Wusstest du das gar nicht?“
„Nein“, sagte ich schwach. Ich hätte erwartet wütend zu werden, oder verzweifelt, aber da war nur diese unendliche Leere, die sich in mir ausbreitete. Nur einen einen knappen Monat, dann würde sich die Fessel um mich herum noch fester zuziehen.
Nikolaj musterte mich besorgt. „Cayenne …“
„Hört auf dahinten zu flüstern und setzt euch endlich an den Tisch“, befahl der König barsch.
Mein … Verlobter schaute unsicher von ihm zu mir. Dass ich es nicht gewusste hatte, schien ihn ein kleinen wenig zu erschüttern. Doch als er den Mund öffnen wollte, schüttelte ich den Kopf.
„Nicht hier“, murmelte ich. Am Besten niemals.
Da uns im Moment keine andere Möglichkeit blieb, ließ ich mich von Nikolaj zu meinem Platz bringen und hoffte, dass mein aufgesetztes Lächeln über den Schock hinwegtäuschen konnte, den ich gerade erlitten hatte.
„Ich hoffe ihr habt gut geschlafen“, begrüßte meine Großmutter uns.
Ich schaffte es zu nicken, ohne dass mir mein Lächeln aus dem Gesicht fiel.
„Das freut mich. Und habt ihr gestern schon angefangen zu planen? Ihr ward beide so schnell verschwunden.“
Nikolaj auch? Wäre wahrscheinlich nicht gut für sein Image gewesen, so kurz nach dem Jawort auf einer so großen Veranstaltung stehen gelassen zu werden.
„Ein wenig“, räumte Nikolaj ein, ohne genauer zu werden.
„Das ist schön. Ich habe den Hochzeitsplaner für Mittwoch bestellt. Wir haben ja nicht mehr so viel Zeit.“
Mittwoch? Das waren nur noch drei Tage.
„Er ist wirklich gut“, warf Prinzessin Pandora ein. „Er hat auch die Hochzeit von mir und Kai ausgerichtet. Ein großes Fest, zu dem der gesamte Adel geladen war. Er wird auf all deine Wünsche eingehen.“
Das hatte ihr aber laut Sydney, keinen großen Nutzen für ihre Ehe gebracht. „Ich will keinen großen Prunk. Nur ein kleines Fest im engsten Kreis der Familie.“
Die ganze Familie schaute mich an, als säße statt meiner ein Esel am Tisch.
„Du bist eine Prinzessin“, erklärte Isaac, als wäre mir das nicht schon bewusst. „Das Rudel erwartet weit mehr, als ein kleines Fest.“
„Aber … wenn ich doch …“
„Das Fest ist nicht für dich“, unterbrach Pandora mich und schien dabei richtig pikiert. „Es ist für jeden, der daran teilhaben möchte. Es wäre skandalös, wenn du diesen Tag …“
Kaidan brachte sie mit einem einzigen Blick zum Schweigen. „Es ist nicht deine Hochzeit.“
Ja, aber wie es schien, würde es auch nicht die meine werden. „Aber wahrscheinlich hat sie recht. Ich dachte nur … keine Ahnung. Aber wenn das nicht geht … egal.“
Nikolaj legte seine Hand auf meine und ich musste mich zwingen sie nicht wegzureißen. „Am Besten wäre es vermutlich, du beteiligst dich an der Planung, das macht dir bestimmt Spaß und du kannst mitreden.“
Spaß? Ich wollte nicht mal heiraten. „Klar“, stimmte ich zu und griff nach der Schale mit den sauren Gurken. Nicht das auch nur eine davon in meinem Mund landete, während sie anderen sich darüber ausließen, was noch alles organisiert werden musste und wen man am Besten einlud. Aber das gab mir die Möglichkeit, mich unauffällig von seiner Hand frei zu machen.
Man fragte mich immer wieder nach meiner Meinung, beachtete meine Wünsche dann aber nicht.
Kaidans Gefährtin hatte recht, dieses Fest würde für alle sein, nur nicht für mich.
Als das Frühstück sich zum Ende neigte, fragte Nikolaj mich, ob ich nicht Lust hätte, mir ihm nach Silenda zu gehen, um dort den Tag zu verbringen.
„Ich muss zum Unterricht“, antwortete ich schlicht. Lieber saß ich hundert Stunden in Etikette, als nur eine mehr als nötig mit Nikolaj zu verbringen.
„Wenn du lieber mit deinem Verlobten etwas unternehmen möchtest, werde ich veranlassen, dass er heute ausfällt“, mischte sich König Isaac ein und erwartete dafür offenbar auch noch ein Dankeschön.
Dein Ernst? „Das ist sehr nett, aber Unterricht ist …“
„Ach, ein Tag Erholung wird dir guttun“, gab nun auch noch Geneva ihren Senf dazu. „Geh mit deinem Nikolaj hinunter in den Ort und macht euch einen schönen Tag.“
„Der Unterricht wird dir schon nicht weglaufen“, kam es nun auch noch Kai ein.
Gott, würde dieser Alptraum denn nie ein Ende nehmen? „Dann bin ich wohl überstimmt.“ Ich hoffte, dass Nikolaj verstand, dass ich es nur tat, weil ich dazu gezwungen war. Vielleicht konnte ich mich in Silenda ja auch einfach vors nächste Auto stürzen. Dann konnte man mich wenigstens nicht mehr erpressen.
Leider ergab sich dafür keine Gelegenheit und dass nicht nur, weil meine Umbra mich die ganze Zeit wie zwei Schießhunde im Auge behielten. Offenbar fürchtete man, ich könnte wieder entführt werden, also trieben sich überall ein Haufen Wächter herum, die sogar einen Teil der Straßen sperrten, um mich zu schützen.
Nach einem kleinen Spaziergang durch einen wirklich hübschen Park, führte Nikolaj mich in ein nettes, kleines Café, damit wir uns wieder aufwärmen konnten.
Wir hatten einen Tisch am Fenster bekommen, der uns eine gewisse Distanz zu den anderen Tischen bot. Umbra Logan und Ginny hielten sich im Hintergrund, während ich lustlos in meinem Tee rührte.
„Ist es für dich wirklich so schlimm, mich zum Gefährten zu nehmen?“, fragte Nikolaj irgendwann. Seine Stimme sollte wohl gleichgültig klingen, doch ich hörte dieses gewissen Unterton, der mich wissen ließ, wie wichtig ihm die Antwort war. Er wollte zwischen uns kein böses Blut.
„Musst du das wirklich fragen?“ Ich schob meinen Becher von mir und lehnte mich zurück. „Du und dein Vater, ihr erpresst mich. Da kannst du wohl keine Dankbarkeit von mir erwarten.“
„Und wenn es nicht so wäre?“, fragte er nachdenklich. „Wenn du mich anderes kennengelernt hättest? Würdest du mich dann akzeptieren können?“
„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich hege nämlich keinen privaten Umgang mit Skhäns, ich töte sie nur.“
Nikolaj kniff die Lippen zusammen. „Ich bin nicht wie mein Vater, ich habe mit dem Sklavenhandel nichts zu tun.“
„Aber du unternimmst auch nichts dagegen“, warf ich ihm vor. „Du kannst es drehen und wenden wie du möchtest, du bist genauso großer Abschaum wie er.“
Das traf ihn. Er hatte wohl gehofft, eine Art Beziehung zu mir aufbauen zu können, aber die Abscheu, die ich für ihn empfand, ließ sich nicht so einfach abstellen.
Ich wusste nicht mal, warum er und sein Vater mich in diese Ehe zwangen. Wahrscheinlich erhofften sie sich davon einfach nur einen höheren Status im Rudel und für Jegor bedeutete die Verbindung auch eine gewisse Sicherheit für seine Geschäfte. Wer würde schließlich erwarten, dass jemand aus der Königsfamilie in diesem Metier unterwegs war?
„Dein Herz gehört bereits einem anderen, oder?“ Mit dem Finger strich er träge Kreise über den Rand seiner Tasse. „Deswegen kannst du mich nicht akzeptieren.“
Ich sah schweigend aus dem Fenster und beobachtete die Fußgänger, die sich dicht an dicht durch die kalten Straßen bewegten. Zwei Wölfe rannten Seite an Seite über den Gehweg und ein paar Kinder schauten aufgeregt durch ein Schaufenster.
„Du wirst ihn vergessen. Irgendwann wirst du ihn einfach vergessen haben.“
„Wenn du es sagst.“
Der Kellner kam und brachte den bestellten Kuchen. Beim abstellen der Bestellung hielt er das Tablett so schief, dass das Wasserglas darauf schwankte. Ich versuchte noch es abzufangen, aber es kippte. Eiskaltes Wasser landete mir im Rock. Ich sprang erschrocken auf. So, nun war ich wach.
„Können Sie nicht aufpassen?“, schimpfte Nikolaj und reichte mir sofort eine Serviette.
„Es tut … tut mir Leid. Ich wollte nicht … es war keine … es tut mir Leid, Prinzessin Cayenne“, stotterte der Mann, der sich sichtlich unwohl in seiner Haut fühlte. „Es war keine …“
„Schon gut“, winkte ich ab. Das Malheur war passiert und ändern konnte es eh keiner mehr. „Ich verschwinde mal eben aufs Örtchen. Vielleicht bekomme ich es ja wieder trocken.“ Noch während ich ging, konnte ich hören, wie Nikolaj den Kellner rund machte.
Wahrscheinlich sollte ich ihn daran hindern, aber in diesem Moment war es mir einfach egal.
Ich erkundigte mich nach den Toiletten und folgte dann einem holzvertäfeltem Flur, bis ich das Schild Frauen an einer Tür entdeckt. Dabei war ich so in meine eigenen Gedanken versunken, dass ich Raphael erst sah, als ich schon halb eingetreten war. Ich blieb auf der Stelle stehen und spürte wie der Schmerz über seinen Verlust sich in mein Herz bohrte.
Er lehnte mit verschränkten Armen hinten an der Heizung und schaute mir mit schmalen Lippen entgegen.
Ich war so auf ihn konzentriert, dass ich Tristan erst bemerkte, als er mich am Arm schnappte, mich in den Raum zog und eilig die Tür zuschlug. Das ich bei dem Manöver nicht der Länge nach hinschlug, verdanke ich wohl allein an der Tatsache, dass er mich nicht losließ. Naja, zumindest nicht, bis ich meinen Arm mit einem Ruck aus seinem Griff befreite.
„Verdammt, was soll das werden? Ich hab doch gesagt, dass ihr mich in Ruhe lassen sollt.“ Da es einfacher war sich auf Tristan zu konzentrieren, funkelte ich ihn an. „Im ganzen Ort wimmelt es von Wächtern. Was glaubt ihr was passiert, wenn sie die beiden Männer sehen, die mich schon einmal fortgebracht haben?“
„Dazu müssten sie uns erstmal zu Gesicht bekommen“, erklärte Tristan und postierte sich direkt vor der Tür, als würde er mir den Fluchtweg abschneiden wollen. „Und auch noch erkennen.“
Ich begann mit den Zähnen zu mahlen. Wie hatten sie wissen können, dass ich genau heute in diesem Café sein würde? „Ich werde Leah umbringen“, murmelte ich.
„Las sie in Ruhe“, befahl Tristan. „Sie hat nur auf unsere Bitte hin gehandelt.“
„Und warum? Was glaubt ihr, was ihr mit diesem Mist erreicht?“ Außer mich immer tiefer zu verletzen? Verstanden sie den nicht, dass sie es mir mit jedem Auftauchen schwerer machten? Das es mir jedes Mal das Herz zerriss, wenn ich sie sah?
„Das du endlich mit uns redest“, erwiderte Tristan schlich. Als ich jedoch nur schwieg, seufzte er. „Wir haben mit Diego gesprochen. Er sagte, du hättest gedroht ihn verhaften zu lassen, als er versuchte mit dir zu sprechen.“ Er schnaubte. „Zuerst haben wir gedacht er will uns veräppeln. Er ist schließlich dein Freund.“
„Diego ist schon lange nicht mehr mein Freund.“
„Warum? Er hat dir nie etwas getan.“
Weil ich Angst davor hatte, in seiner Gegenwart unvorsichtig zu werden. Im Gegensatz zu Sydney, wusste er von Tristan und Raphael. Und wenn er sich wirklich mit den beiden unterhalten hatte, wollte ich nicht wissen, wie viele Details er sonst noch aus meinem Leben kannte.
„Du hast abgenommen“, sagte Raphael leise, als das Schweigen zwischen uns drückend wurde.
Um weder ihn noch Tristan anschauen zu müssen, trat ich ans Waschbecken und begann mit dem hoffnungslosen Versuch meinen Rock trocken zu bekommen. Wahrscheinlich waren sie dafür auch noch verantwortlich. War ja nicht weiter schwer, einen Kellner zu bestechen. „Klar, ich muss doch in mein Hochzeitskleid passen.“
„Ach ja“, bemerkte Raphael. „Meine, kleine Schwester hat es mir heute morgen gesagt. Sie ist verrückt nach Promiklatsch und ist vor Begeisterung fast an die Decke gesprungen, als sie gelesen hat, dass Prinzessin Cayenne Amarok sich gestern auf dem Geburtstag der Königin mit Markis Nikolaj Komarow verlobt hat.“
Das erklärte zumindest, warum er hier aufgetaucht war.
„Der Mann, der dich aus der Gefangenschaft eines Sklavenhändlers befreit hat.“
Gott warum konnte er nicht endlich einfach verschwinden?
„Wer ist der Kerl und warum macht er bei dieser Lüge mit?“
Nicht er machte dabei mit, ich war es, die da mitmachte. „Er ist mein Verlobter.“
Die Erinnerung daran besserte Raphaels Gemütsstimmung nicht gerade. „Was bezweckst du mit dieser Scharade? Du liebst diesen Hurensohn doch gar nicht. Das kannst du mir nicht weismachen, dafür kenne ich dich einfach zu gut.“
„Woher bitte willst du wissen, was ich fühle?“ Ich zupfte ein paar Papierhandtücher aus dem Spender und begann auf dem nassen Fleck herumzutupfen.
„Du hast recht Bambi, ich habe keine Ahnung was du fühlst. Du redest ja nicht mehr mit mir.“
„Und das aus gutem Grund.“
Das traf ihn. Verdammt, warum konnte er nicht einfach gehen und diesem ganzen Trauerspiel ein Ende machen? Warum nur zwang er mich immer wieder ihm einen Dolch in sein bereits blutendes Herz zu stoßen?
„Warum?“, fragte er leise. Die Schatten unter seinen Augen schienen noch tiefer geworden zu sein und seine Wangen wirkte hohl und ausgemergelt. „Was habe ich getan? Ich werde noch wahnsinnig, weil ich es mir nicht erklären kann. Zwischen uns war doch alles gut. Aber jetzt bist du einfach nur noch grausam und ich will endlich eine Erklärung dafür haben.“
Ich schüttelte den Kopf. „Es gibt nichts zu erklären. Es ist vorbei. Akzeptiere es einfach, damit wir beide in Ruhe weiterleben können.“
„Nein.“ Ein kurzes Wort, das alles ausdrückte.
„Verdammt Raphael, warum tust du dir das an? Wie sehr muss ich dich noch verletzten, damit du mich endlich gehen lässt?“
„Du musst mich nicht verletzten. Wenn du willst, dass ich das gehe, werde ich es tun. Ich will vorher nur eine Erklärung von dir. Das bist du mir einfach schuldig.“
Und das war genau das, was ich ihm nicht geben konnte. „Ich kann es nicht erklären, es ist einfach so.“ Denn selbst wenn ich zu ihm zurückkehren würde, wäre er nicht glücklich – nicht mit dem Wissen, dass ich Vivien und Anouk auf dem Gewissen hätte.
„Du kannst es nicht erklären?“ Raphael runzelte die Stirn. „Was soll das heißen?“
Mist. „Nichts, das war nur so dahin gesagt.“ Ich streckte meine Hand erneut nach dem Spender aus, doch bevor ich eines der Tücher zu fassen bekam, stand Raphael auf einmal neben mir. Er packte mich am Arm, drehte mich herum und drängte mich mit dem Rücken gegen den Waschtisch.
Als ich versuchte ihn wegzustoßen, packte er mich bei den Handgelenken und hielt mich fest.
„Verdammt, lass mich los.“
„Nein.“
Ich funkelte ihn an und musste mich gleichzeitig zusammenreißen, um nicht einfach zusammen zu brechen. Er war viel zu nahe. Am liebsten hätte ich meine Gesicht an seiner Brust vergraben und mich von ihm in den Arm nehmen lassen, aber das durfte ich nicht. „Bitte.“
„Nein.“ Als ich versuchte mich aus seinem Griff zu befreien, drängte er sich mit seinem ganzen Körper gegen mich. Gefangen. „Verstehst du eigentlich, was du mir hier antust? Verdammt, Bambi, du bedeutest mir alles.“
Sag das nicht, bitte. Ich wusste nicht, wie viel ich noch verkraften konnte.
„Sieh mich an.“
Ich biss mir auf die Unterlippe.
„Bambi, sieh mich an.“ Als ich nur weiter auf seine Brust starrte, hob er seine Hände an mein Gesicht und küsste mich. Es war eine zarte und verzweifelte Berührung, die all das zum Ausdruck brachte, was er in diesem Moment fühlte. Es war schön, und vertraut und alles was ich wollte, doch ich erwiderte den Kuss nicht. Ich hielt einfach still und ließ es über mich ergehen, während mir eine Träne aus dem Augenwinkel rann. Ich durfte nicht darauf eingehen, denn sonst wäre alles verloren gewesen.
Als Raphael merkte, dass ich überhaupt nicht darauf reagierte, löste er sich ein Stück von mir und bemerkte mit Schrecken die Träne. „Bambi …“
„Fahr nach Hause, Ryder, geh zu deiner Familie.“ Ich zog seine Hände von meinem Gesicht und drehte den Kopf weg, weil ich es einfach nicht länger ertrug, ihn anzusehen. „Ja, du hast recht, ich liebe Nikolaj nicht und ja, ich hasse das Schloss und das Leben dort nach wie vor, aber ich werde bleiben und nichts was du tust, oder sagst, kann mich davon abbringen. Ich habe jetzt ein neues Leben und du solltest dir auch eines suchen. Glaub mir einfach wenn ich dir sagen, dass es das Beste für alle ist.“
Ganz leicht schüttelte er den Kopf. „Es ist weder das Beste für dich, noch für mich, ich sehe es doch. Mit jedem Treffen siehst du schlechter aus. Egal was da los ist, du zerbrichst daran Stück für Stück.“
„Das ist egal, hier geht es nicht um uns. Ich bin eine Prinzessin und ich muss mein Rudel beschützen.“
„Dein Rudel beschützen? So? Vor wem?“
Als wenn ich ihm das sagen würde. Ich hatte schon jetzt viel zu viel preisgegeben.
„Es ist dieser Wolf, oder?“, fragte er leise. „Dieser Sydney. Deswegen willst du dort nicht weg.“
Bestürzt schaute ich zu ihm auf. War es das was er glaubte? Aber vielleicht wäre das gar nicht so schlecht. Dann hätte er zumindest eine Erklärung und würde vielleicht aufhören mir nachzustellen.
„Glaubst du wirklich, ich hätte es all die Jahre nicht bemerkt?“ Er trat einen Schritt vor mir zurück. „Im Schlaf hast du seinen Namen mindestens genauso oft gemurmelt wie meinen.“
„Das tut mir leid.“
Er verzog die Lippen, als könnte er nicht glauben, was er da hörte. „Wegen diesem Köter wirfst du alles weg? Glaubst du er liebt dich? Wach auf! Wenn du ihm etwas bedeuten würdest, würde er dich nicht in ein Leben zwingen, dass dich zerstört!“
„Du verstehst das nicht.“
„Nein, da hast du recht, das verstehe ich wirklich nicht.“
Und wahrscheinlich würde er das auch niemals.
Die Stille zwischen uns breitete sich aus, bis sie von einem Klopfen an der Tür unterbrochen wurde. „Prinzessin Cayenne? Alles in Ordnung bei Euch?“
Oh nein, nicht das auch noch. „Das ist Ginny, mein Umbra.“
„Prinzessin Cayenne?“ Noch ein Klopfen.
„Ja, ich komme gleich.“ Ich wusste, dass es ein Fehler sein würde und doch schaute ich Raphael in die Augen. In ihnen lag der gleiche Kummer, der mir gerade das Herz aus der Brust riss. „Vergiss mich und komm nicht wieder. Dein Glück liegt nicht länger in meiner Hand, es ist irgendwo da draußen und du wirst es nicht finden, wenn du mich nicht gehen lässt.“
Seine Lippen wurden schmal, als er die Hände zu Fäusten ballte.
Ich wandte mich ab und bemerkte, wie Tristan mich beobachtete. Auch er wirkte nicht glücklich. „Es tut mir leid“, flüsterte ich und und ging dann zur Tür. Leider hatte ich nicht bedacht, dass Ginny direkt davor auf mich lauern könnte und so entgingen ihr weder die beiden Männer, noch dass der eine davon der Kerl vom Jahrmarkt war.
Fantastisch, noch mehr Komplikationen. Das konnte ich im Augenblick wirklich gebrauchen.
„Geh nicht, Bambi, bitte“, bat Raphael leise. Ein letzter Versuch.
Ich wagte es nicht zurück zu schauen. „Leb wohl“, sagte ich und ließ die Tür zwischen uns ins Schloss fallen. Nicht mal eine Träne wollte kullern, obwohl ich innerlich schrie, als würde mir jemand das Herz mit bloßer Hand aus der Brust reißen.
Langsam ging ich zurück durch das Café. „Ginny, ich möchte nicht, das irgendjemand etwas hiervon erfährt.“
Ihre Gedanken waren nicht zu erraten. „Wer ist er?“
„Ein Geist aus meiner Vergangenheit.“ Und dort – so hoffte ich – würde er ab jetzt auch bleiben. Lieber eine alte Wunde heilen lassen, als sie ständig aufs Neue aufzureißen, bis sie sich entzündete und man an dem Schmerz zugrunde ging.
°°°
Ein paar Schaulustige folgten mir neugierig mit ihren Blicken, als ich mit Logan im Gepäck den Korridor im Bedienstetentrakt hinunter ging. Herauszufinden wo Leah sich aufhielt, wenn sie nicht gerade hinter Samuel her jagte, hatte sich als verhältnismäßig schwer erwiesen. Wahrscheinlich würde ich auf der Suche nach ihr noch immer ziellos im Schloss herum irren, wenn mir Collette nicht den Tipp gegeben hätte, mal in den Unterkünften der Angestellten nachzuschauen.
Bisher hatte ich mir nie näher Gedanken darüber gemacht, wo die Dienerschaft des Hofes untergebracht waren. Das war ein Fehler gewesen, wie sich nun herausgestellt hatte.
Doch nun klopfte ich an ihre Zimmertür. Wenn sie nicht hier war, würde ich befehlen, dass man sie zu mir brachte, was ich eigentlich vermeiden würde, da es zu viel Aufsehen erregen könnte. Und zum Glück war das auch gar nicht nötig. Es dauerte nur ein paar Sekunden, als eine muntere Leah die Tür öffnete. Ihr Lächeln fiel jedoch sehr schnell in sich zusammen, als sie mich sah.
„Wir müssen reden“, sagte ich ohne weitere Umschweife. „Jetzt.“
„Ähm … natürlich Prinzessin. Komm … kommt doch herein.“ Sie machte einen unsicheren Schritt zur Seite, um mir Platz zu machen.
„Du wartest draußen“, befahl ich Logan und trat in das Zimmer. Es war nicht groß, aber es war sehr warm und gemütlich.
Ich ging ans Fenster und sah hinaus. Dabei lauschte ich darauf, wie Leah die Tür schloss und dann einige unsichere Schritte machte. „Ist noch jemand hier?“
„Nein, wir sind allein, Euer Majestät.“ In ihrer Stimme schwang Unsicherheit mit. Sie konnte sich wohl denken, warum ich hier war.
Dann konnten wir wenigstens offen sprechen. Ich drehte mich zu ihr herum und fixierte sie mit meinem Alpha-Blick, bei dem Omegas schon unterwürfig wurden, wenn man sie nur anschaute. „Ich möchte, dass sie mir jetzt sehr genau zuhören, denn ich habe die Schnauze gestrichen voll von Überraschungsbesuchen und ich werde mich ganz sicher nicht wiederholen.“
Wahrscheinlich nickte sie nur, weil sie glaubte, dass ich das von ihr erwartete.
„Wenn die Alpha von den Themis erfahren, werden sie sicher nicht begeistert sein. Was sie aber sicher noch viel weniger erfreuen wird, ist zu hören, dass Samuels Kindermädchen zu ihnen gehört und bereits seit Jahren für sie spioniert und Informationen weiter gibt.“ Ich sah ihr direkt in die Augen. „Informationen, wie der Aufenthaltsort einer Prinzessin.“
Leah strich sich nervös durch das kurze, braune Haar.
„Was sie sicher auch nicht begeistern wird, ist, dass diese Informationen dazu genutzt werden sollen, besagte Prinzessin fortzubringen.“
Nun wurde sie schon ein kleinen wenig blass. „Prinzessin, ich …“
Ich brachte sie mit einer Handbewegung sofort wieder zum Schweigen. „Ich weiß, dass sie es auf eine Bitte hin getan haben, aber jetzt ist Schluss damit. Wenn sich noch mal jemand von den Themis bei ihnen meldet, können sie demjenigen gerne ausrichten, dass ich bei Strafe verboten habe, noch etwas über mich oder mein Leben zu erzählen.“
Bei dem Wort Strafe, wurde sie um die Nase herum ein kleinen wenig käsig.
„Was in der Vergangenheit war, ist egal, ich will nichts mehr mit ihnen zu tun haben und werde verdammt sauer werden, wenn noch mal einer von ihnen bei mir auftaucht. Haben wir uns verstanden, oder muss ich noch deutlicher werden?“
Ein schnelles Kopfschütteln. „Nein, ich habe verstanden.“
„Ich hoffe damit ist diese Angelegenheit erledigt.“ Denn ich wusste nicht, ob ich es wirklich über mich bringen konnte, sie ernsthaft zu bestrafen. Ich wollte weder ihr noch den Themis schaden, doch wenn das nicht aufhörte, wäre ich früher oder später dazu gezwungen. „Am besten belassen wir dieses Gespräch unter uns.“
„Natürlich, Majestät.“
„Dann will ich nicht weiter stören.“ Mit der Maske der Gleichgültigkeit, nickte ich ihr noch einmal zu und verließ dann das Zimmer. Doch zu meinem Bedauern musste ich feststellen, dass ich mich keineswegs besser fühlte.
Damit hatte ich noch eine Verbindung zu meinem alten Leben gekappt. Langsam hing ich nur noch an einem seidenen Faden und ich wusste nicht, was geschehen würde, wenn der auch noch riss.
Der Tag neigte sich dem Ende, der Neue begann. Nach dem Frühstück traf ich mich mit meinem Mentor Frederic zu Obach, der vor Aufregung über meine bevorstehende Hochzeit ganz aufgeregt war.
„Ihr werdet eine ganze bezaubernde Braut sein“, erklärte er mir, als er meine Haltung ein wenig korrigierte, indem er mir gegen den Rücken drückte, bis es seinen Ansprüchen genügte.
Ich hatte schon festgestellt, das Frederic keinerlei Berührungsängste hatte, aber er war schwul, also war das okay.
Er selber nahm auf dem Sofa neben mir die gleiche Haltung ein und griff dann wirklich elegant nach seiner Teetasse. „Hat man Euch schon mitgeteilt, wer Eure Kerberosse sein werden? Oder erlaubt man Euch, sie selber auszusuchen?“
Auch ich griff nach meiner Teetasse – ja, wir übten gerade Teetrinken. „Ich weiß nicht mal, was das sein soll“, murmelte ich. Meine Hochzeit war auch zwei Tage später kein Thema, an das ich gerne erinnert wurde.
„Ihr wisst nicht …“ Er unterbrach sich selber. „Wisst Ihr, wie eine Hochzeit unter Lykanern abläuft?“
„Bis du das gerade gefragt hast, ging ich davon aus, dass ich vor einen Altar treten werde und man mich fragt, ob ich wirklich den Rest meines Lebens mit einem einzigen Kerl verbringen will.“
„Mann“, korrigierte er meine Wortwahl sofort. „Und nein, die Gefährtenbindung der Lykaner ist etwas ganz anderes, als die Eheschließung zwischen den Menschen.“
„Aha“, machte ich und weil er mich so seltsam anschaute, fügte ich noch hinzu. „Du weißt doch, ich bin nicht im Rudel aufgewachsen. Ich hab von sowas keine Ahnung.“
„Natürlich. Verzeiht mir. Ich vergesse immer, dass Vieles in unserer Welt noch Neu für Euch ist.“ Er stellte seine Tasse zurück, ohne etwas davon getrunken zu haben und legte mir eine Hand aufs Knie. „Aber dies ist eine Bildungslücke, die wir sehr leicht füllen können, also hört zu. Die Kerberosse sind die Wachen, die Euer Vater für Euch aussucht.“
Hm, da mein Vater bereits verstorben war, als ich gerade mal ein Jahr zählte, konnte er nur meinen Onkel Prinz Manuel meinen, der ja offiziell als mein Erzeuger galt. „Ist das sowas wie Zerberus? Du weißt schon, der Hund aus der Hölle, der das Tor zur Unterwelt bewacht?“
„Nicht ganz.“ Er setzte sich ein wenig anders hin und legte dann seine Hände in seinen Schoß. „Der Mythos um Zerberus ist wohl ein Abklatsch vom Kerberos. Kerberos war war auch keine Person, es war der Nachname dreier wirklich beeindruckender Brüder. Wobei man vielleicht besser sagen sollte, sie waren drei wirklich berüchtigte Kämpfer, denn jedes Schlachtfeld, dass sie betraten, verließen sie auch als Sieger.“
Da blieb nur zu hoffen, dass sie die Guten waren.
„Sie lebten zu der Zeit von Königin Chenoa. Es war eine Ära des Krieges und der Unterdrückung und damals gab es einen jungen Mann, der sich unsterblich in ein Mädchen verliebte. Er bat den Vater des Mädchens, um ihre Hand, doch der Vater bezweifelte, dass der junge Mann fähig dazu sei, seine Tochter in diesen kriegerischen Zeiten zu schützen und wollte sie ihm nicht geben. Da schlug der junge Mann vor, dass der Vater ihn testen solle und der Vater ging auf diesen Vorschlag ein.“
„Was hat er gemacht?“
„Ah.“ Frederic nicke zufrieden, als hätte ich genau die richtige Frage gestellt. „Er brachte seine Tochter tief in den Wald und beauftragte die Kerberos Brüder damit, sein Kind um jeden Preis zu beschützen. Und sollte sich ihr jemand nähren, sollten sie ihn töten.“
Dann waren sie wohl doch nicht unbedingt die Guten.
„Nachdem seine Tochter nun versteckt war, kehrte er zurück und sagte zu dem jungen Mann, wenn er das Mädchen fände und es zu ihm zurückbringen konnte, dann dürfte er sie zu seiner Gefährtin nehmen.“
Ich ahnte schon, worauf das hinaus lief. „Er fand sein Mädchen, schaffte es irgendwie diese Superkrieger zu überlisten und brachte sie dann zurück zu ihrem Vater, woraufhin sie bis an ihr Lebensende glücklich waren.“ In meiner Geschichte würde es leider kein solches Happy End geben, denn die Verantwortung hielt mich hier an diesem Ort.
„In etwa“, räumte er ein. „Und aus dieser Geschichte ergibt sich der Verlauf einer Gefährtenbindung zwischen zwei Lyanern. Euer Vater, Prinz Manuel wird Euch und mit drei ausgewählte Lykaner tief in den Wald bringen. Diese drei Lykaner bezeichnen wir als Kerberos. Markis Komarow muss Euch dann finden, die Kerberose überwinden und Euch anschließend zu Eurem Vater zurück bringen, um zu zeigen, dass er würdig ist, Euer Gefährte zu werden.“
Ich runzelte die Stirn. „Und wenn er es nicht schafft?“
Das ließ Frederic schmunzeln. „Bei dieser Tradition geht es nicht um Leben und Tod, wie damals, als sie entstand. Heute ist sie nur noch ein Ritual. Oftmals sucht sich das Brautpaar die Kerberosse sogar selber aus. Sie wählen meist enge Freunde, oder Familienmitglieder. Es ist wie ein Spiel und bei diesem Brauch macht sich das Brautpaar sogar oft einen Spaß daraus, ihre Wachen gemeinsam zu überlisten.“
Ich sollte mit Nikolaj zusammenarbeiten? Allein der Gedanke bereitete mir Bauchschmerzen.
„Aber man muss auch darauf achten, dass man es nicht übertreibt. Die Gefährtenverbindung meiner großen Schwester endete im Krankenhaus, weil meine kleine Schwester zu übermütig wurde und dem Bräutigam so fest ins Bein gebissen hat, dass er nicht mehr laufen konnte.“
Moment. „Gebissen? Sie meinen … als Wolf?“
„Na aber natürlich, was glaubt Ihr den? Es ist eine Vermählung der Lykaner. Natürlich werdet ihr als Wolf in den Wald gehen.“
Da war ich mir nicht so sicher. „Und wenn das nicht geht? Ich meine … ein Misto zum Beispiel, der sich nicht verwandeln kann, oder wenn ein Lykaner einen Menschen heiraten will, wie soll das dann funktionieren?“
„Einen Menschen?“ Frederic schaute mich an, als säße mir ein Alien auf dem Kopf. „Menschen würden diese Verbindung niemals auf dies Art eingehen, da sie ja gar nichts von uns wissen dürfen.“
So zumindest in der Theorie. „Und ein Misto?“
Er schüttelte den Kopf, als wäre diese Frage einfach nur albern. In seinen Augen war es wahrscheinlich auch so. „Sollte jemand in seiner solchen Verbindung sich nicht verwandeln können, so müsste er diese Zeremonie zwangsläufig in seiner menschlichen Gestalt durchlaufen. Nur wäre er damit aus verschieden Gründen im Nachteil.“
Ja, nur zwei Beine, keine Zähne und kein schützendes Fell. Das hieß dann wohl, dass zumindest die Zeremonie selber nicht öffentlich sein würde, denn es müsste schon ein Wunder geschehen, damit ich mich bis zu meinem Geburtstag verwandeln könnte. Nicht das dieser Gedanke irgendwie tröstlich wäre.
Auch in den nächsten beiden Tagen konnte ich hingehen, wohin ich wollte, es gab kein anderes Thema, als meine bevorstehende Vermählung. Nicht nur von Seiten meiner Familie und Nikolaj, ich hörte auch immer wieder die Angestellten darüber sprechen. Es wurde so schlimm, dass ich gar nicht mehr aus meinem Zimmer kommen wollte, denn immer wenn ich das Wort Hochzeit hörte, starb ein kleines Stück in mir drinnen.
Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, ob ich mal heiraten würde. Und jetzt … es gab Momente in denen ich hoffte einfach einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen. Doch das Schicksal war mir nicht gnädig.
Ein weiterer Morgen brach an, ein weiteres Frühstück mit der Familie und sinnlosen Plattitüden an Nikolajs Seite. Anschließend begleitete er mich sogar in den Tanzsaal, wo Frederic mit mir den langsamen Walzer übte. Doch was die Leere in mir drin weiter wachsen ließ, war der anschließende Termin. Der Hochzeitplaner war eingetroffen. Nikolaj ging vor, um ihn zu begrüßen. Ich folgte etwas später und kam dabei nicht umhin mich zu fragen, ob das nun das Ende des Weges war. Ein knapper Monat noch, dann war ich Jegor und Nikolaj endgültig ausgeliefert und es gab absolut nichts, was ich dagegen unternehmen konnte.
Auf meinem Weg nach oben begegnete ich Sydney, der am Fuß der Treppe auf mich wartete. Als er mich sah, stand er auf und trat ein paar Schritte auf mich zu. „Prinzessin Cayenne, wie geht es Euch?“
Das war eine ausgezeichnete Frage. Im Grunde fühlte ich … nichts. „Und dir?“
„Gut“, sagte er und legte den Kopf leicht schief. „Ihr habt mich seit Tagen nicht mehr aufgesucht. Ich weiß, dass wir aufgrund des Wetters keinen Unterricht haben können, aber ein wenig Gesellschaft, würde Euch sicher gut tun.“
„Ich hatte keine Zeit“, sagte ich, einfach weil er eine Erwiderung erwartete.
Er begann mich wieder mit diesem Blick anzuschauen, der mich bis auf die Seele durchleuchtete. „Sagt mir, wie es Euch geht. Wir hatten seit Eurer Verlobung nicht mehr die Gelegenheit miteinander zu sprechen.“
„Ich hab viel zu tun.“
Einen Moment schien er zu versuchen meine Gedanken zu lesen, aber wie hatte er mir einmal so schön erklärt? Er hatte zwar ein sehr feines Gespür und die Gabe des Beobachtens, aber er war nicht fähig in meinen Geist einzudringen. „Werdet Ihr heute noch zu mir kommen? Ich würde mich freuen.“
Ich zuckte die Schultern. „Ich glaub nicht.“ Warum auch, würde doch sowieso zu nichts führen.
Unsicher musterte er mich. „Hab ich Euch irgendwie verärgert?“
Ich schüttelte den Kopf und ging dann, bevor er mir noch weitere Fragen stellen konnte. Ich wollte grade nicht reden. Ich wollte niemanden sehen. Ich wollte einfach nur eine dunkle Ecke finden und mich dort vor der Realität verstecken.
Zehn Minuten später befand ich mich zusammen mit Geneva, Pandora und meinem Hochzeitsplaner im kleinen Salon.
Nikolaj saß direkt neben mir und hielt sogar meine Hand fest. Ich spürte es kaum. Irgendwie war alles … taub. Der ganze Raum, die Leute hier, wie wirkten fremd und unwirklich. Nicht mal der kleine Elias, der an seinem Spielzeugauto rumnuckelte, schien real zu sein.
„Es ist nur ein kleiner Laden“, erklärte die Frau mit den drei dicken Ordnern und machte sich eine Notiz auf ihrem Klemmbrett. „Aber ihre Arbeit ist exquisit. Natürlich könnte ich mich auch weiter umsehen, aber die Zeit für die Planung ist äußerst knapp bemessen und Prinzessin Alica war damals sehr zufrieden, darum würde ich vorschlagen, so schnell wie möglich einen Termin für die Anprobe festzulegen.“
Da sie wohl auf meine Zustimmung hoffte, nickte ich einfach. Es war mir egal. Ich würde tragen, was immer sie mir gaben. So wurde es von mir erwartet.
„Schön.“ Sie lächelte zufrieden. „Ich werde dann einen Termin machen und Euch Bescheid geben.“ Sie warf einen prüfenden Blick auf ihr Klemmbrett. „Dann bräuchte ich noch eine ungefähre Zahl, was die Gäste angeht und natürlich müssen wir noch das Menü besprechen.“
„Auf meiner Hochzeit waren damals fast dreihundert Lykaner“, erklärte Pandora stolz und zog ihrem Sohn das kleine Auto aus dem Mund. „Der Großteil des Adels war geladen.“
Wie es wohl für sie war, mit meinem Cousin verheiratet zu sein? Ließ er sie spüren, dass sie für ihn nichts weiter als eine Gebärmaschine war?
„Wir werden diesem Mal eine ähnliche Anzahl an Gästen einladen“, erklärte Geneva und nippte an ihrem Tee. „Außerdem erwarte ich, dass der Ablauf der Feierlichkeiten nach der Zeremonie fehlerfrei funktionieren wird. Ich möchte nicht noch einmal so ein Desaster erleben, wie bei Blairs Hochzeit.“
Nicht nur Blairs Hochzeit war ein Desaster gewesen, ihre ganze Ehe war es. Sie liebte einen Mann, mit dem sie nicht zusammen sein durfte und war mit einem Mann zusammen, den sie nicht liebte. Zum Wohle des Rudels war sie gefangen in einem Leben, das geprägt war von sinnlosen Gesetzen und Traditionen.
Mir würde es bald genauso gehen.
Ich sah mein Leben vor mir, als wenn ich es bereits gelebt hätte. Eine endlose Aneinanderreihung von Banketten, Tanzbällen und Gartenpartys. Immer die selben oberflächlichen Leuten und geistlosen Gesprächen. Ich befand mich an einem Abgrund, nur einen Schritt von einem Sturz entfernt, der mich zerschmettern würde und schrie aus Leibeskräften, doch niemand hörte mich. Ich war nur noch ein Ding, das gebraucht wurde, um das zu bekommen, was sie alle so dringend wollten: Macht.
Meine Brust wurde mir eng. Ich fühlte mich eingeengt und ausgeliefert.
Plötzlich sah ich mich in ein paar Jahren, ein Kind von Nikolaj, das zu meinen Füßen spielte, vernachlässigt, da ich zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt war. Ich sah Nikolaj, der eiskalt seine Macht über mich ausübte und auch mich selber, der Welt um mich herum völlig entfremdet. Eine Prinzessin an der Macht und doch nicht fähig irgendwas auszurichten.
Das Zittern begann in meiner rechten Hand. Ich schob sie unter mein Bein, um es zu verbergen und versuchte ruhig zu bleiben.
Ich würde ein Teil einer Welt werden, in der der kleinste Fehltritt einen Waldbrand auslösen konnte und dabei nicht mehr sein, als eine unbedeutende Marionette.
Irgendwas in meinem Inneren riss. Ich spürte wie mein Herz zu rasen begann und mir der Schweiß auf die Stirn trat.
Nikolaj schien meine Unruhe zu spüren. Er beugte sich vor, um mir ins Gesicht zu sehen, als mein Atem immer hektischer wurde. „Cayenne, alles in Ordnung?“
Wie sollte ich das schaffen? Wie konnten sie von mir erwarten, dass ich das wirklich tat?
Nun wurde auch Geneva auf mich aufmerksam. „Cayenne, Liebes, geht es dir nicht gut?“
Meine Haut begann unangenehm zu kribbeln. Auf einmal begann ich zu hyperventilieren, aber dann wurde mir die Kehle eng und ich bekam keine Luft mehr.
Ich konnte das nicht. Oh mein Gott, ich konnte das nicht tun!
Meine Hände fuhren an meine Kehle, aber meine Lunge war wie zugeschnürt.
Die Wände kamen immer näher, als wollten sie mich zerquetschen und alles zerstören, was mich ausmachte. Der Druck auf meine Brust nahm weiter zu.
„Oh Leukos, sie hat einen Anfall“, rief Pandora und sprang eilig mit Elias auf, als wäre ich auf einmal ansteckend. „Sie wird ganz blau.“
„Holt Hilfe!“, befahl Geneva, ließ ihre Tasse einfach fallen und stürzte auf mich zu.
„Cayenne.“ Nikolaj berührte mich am Bein und in dem Moment fing ich an zu schreien. Ich konnte hier nicht weg, sie würden mich nicht gehen lassen, niemals! Ich war eine Gefangene, es gab kein Entrinnen, sie waren überall!
Als Geneva nach mir greifen wollte, fiel ich von der Couch und rutschte vor ihr weg. Meine Augen warn vor Entsetzen weit aufgerissen. Die Gesichter vor mir verzerrten sich zu grässlichen Masken, die Stimmen wurden ein lautes Zischen und Knurren. Ich war in einen meiner Alpträume gefallen und schaffte es nicht aufzuwachen.
Langsam kamen die Bestien näher. Sie waren in der Überzahl und kreisten mich ein. Als jemand nach meine Arm griff, versuchte ich mich zu wehren, aber ich war zu schwach.
Ich flehte und schrie, damit sie mich gehen ließen, doch da kamen immer mehr von diesen Monstern. Sie drückten mich zu Boden und hielten mich fest, denn ich durfte nicht entkommen.
Etwas pikste mich in den Arm und eine eisige Kälte breitete sich in meinem ganzen Körper aus. Die Stimmen wurden zu einem Zerrbild und drangen nur noch wie durch Watte an meine Ohren. Ich wollte mich wehren, doch meine Gliedmaßen erschlafften und mein Geist begann sich zu entfernen. Mein letzter Gedanke, bevor um mich herum alles schwarz wurde: Sie haben mich.
°°°°°
Mit monotoner Gleichmäßigkeit drang Samuels Stimme an meine Ohren. Er saß in einem Sessel neben meinem Bett und las mir aus dem Buch in seinem Schoß vor. Eine Geschichte von zwei Städten. Von dem piepen des Monitors abgesehen, war sie das einzige Geräusch im Raum.
Auch Diego befand sich irgendwo im Raum. Ich hatte seine Stimme gehört. War das Minuten, oder Stunden her? Ich konnte mich nicht erinnern. Es war auch egal, alles war egal.
Seit mittlerweile vier Tagen, lag ich nun regungslos in meinem Bett und tat nichts anderes, als mit halb geschlossenen Augen in die Leere meines Lebens zu starren. Ich spürte nichts, mein Körper war taub, mein Herz tot und doch starb ich einfach nicht. Nichts war mehr übrig, ich hatte alles verloren und nun auch noch mich selber.
Die Dämmerung des Abends tauchte die Welt in Zwielicht. Der Arzt hatte schon seit Stunden nicht mehr nach mir geschaut. Er sagte ich hätte mich aufgegeben, sprach von einem schweren Fall von Apathie, hervorgerufen durch eine Depression. Derealisation, stressbedingte Panikattacke, nervlichem Zusammenbruch. Eine verspätete Reaktion als Folge aus meiner Gefangenschaft bei Lord Russell Dinwiddie und dem Stress durch die bevorstehende Hochzeit. Es sei ein Wunder, dass es nicht schon früher geschehen war.
Keiner ahnte auch nur, worum es wirklich ging. Niemand merkte, dass die Schreie in meinem Geist verstummt waren und nichts als tiefe Finsternis zurückgelassen hatten. Ich war endgültig in den Abgrund gestürzt.
Als es an der Tür klopfte, unterbrach Samuel sich. Jemand bewegte sich durch den Raum, Worte wurden gewechselt, noch mehr Schritte. Irgendwer trat an mein Bett, ich konnte seinen Blick spüren.
„Wie geht es ihr?“, fragte Kai.
Die Seiten vom Buch raschelten, als Samuel es zusammen klappte. „Unverändert.“ Er klang traurig. „Sie spricht nicht, sie isst nicht und sie bewegt sich nicht. Doktor Ambrosius sagt, wir können weiterhin nichts anderes tun, als zu warten.“
Kaidan ließ sich neben mir auf die Bettkante sinken und ergriff meine Hand. Dabei achtete er darauf, nicht die Nadel zu berühren, die mit dem Tropf am Bett verbunden war. Er machte sich Sorgen, sie alle taten das.
„Er hat ihr vorhin auch eine neue Medikation gegeben und hofft sie damit aus ihrem lethargischen Zustand zu holen, doch bis jetzt hat es nicht geholfen.“
„Sie wird Zeit brauchen“, sagte er leise und strich mit dem Daumen immer wieder über meinen Handrücken. Vielleicht wollte er mich damit zu einer Reaktion bewegen, vielleicht auch nur trösten.
„Ich habe Angst um sie“, gestand Samuel nach einem Moment des Schweigens. „Sie ist hier, aber sie ist auch nicht hier.“
„Cayenne hat eine schwere Zeit hinter sich, aber sie ist stark. Wir müssen nur Geduld haben, damit sie wieder zu sich finden kann und ihr zeigen, dass sie nicht allein ist.“
Samuel gab einen schweren Seufzer von sich. „Ich hab mich vorhin zu ihr ins Bett gelegt. Normalerweise nimmt sie mich dann immer in den Arm. Dieses Mal hat sie es nicht getan.“
„Das tut mir leid für dich“, erwiderte Kaidan mitfühlend.
„Ich will, dass sie wieder normal wird.“ Seine Stimme klang traurig und gebrochen. Er schniefte. Ich hörte es, aber es berührte mich nichts. „Sie ist doch meine einzige Freundin.“
„Ach Sammy.“ Als Samuel noch mal schniefte, nahm Kaidan ihn tröstend in den Arm. Wenigstens einem von uns konnte er helfen.
„Ich will nicht, dass es ihr schlecht geht.“
Leider waren Wünsche oft nur Luftblasen, die einfach zerplatzten.
Als die Nacht kam, blieb Samuel bei mir und als der Morgen graute, war er noch immer da. Er weigerte sich mein Zimmer zu verlassen. Blair schaffte es erst zwei Tage später ihn von einer Pause zu überzeugen, aber auch nur, weil sie versprach, bei mir zu bleiben, solange er weg war und ihm sofort Bescheid zu sagen, sollte sich etwas ändern.
Nach mehreren erfolglosen Versuchen mit mir zu sprechen, oder mich zu einer Reaktion zu bewegen, ließ sie sich in Samuels Sessel nieder und verlegte sich darauf, mich einfach nur still zu beobachten. „Vielleicht hätte ich das Treffen mit Celine nicht arrangieren dürfen“, überlegte sie leise. „Das war bestimmt zu viel für sie.“
Drogan trat hinter den Sessel und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Warum suchst du die Schuld bei dir?“
„Weil ich ihr Gesicht gesehen habe, als sie Celine zurück wies. Sie war so verzweifelt gewesen.“
„Und dennoch war es ihre Entscheidung.“ Als Blair dazu nichts sagte, umrundete er den Sessel und hockte sich vor sie. „Vielleicht hat es mit Celine zu tun, vielleicht aber auch nicht und es hilft ihr sicher nicht, wenn du dir jetzt die Schuld gibst.“
„Aber …“
„Nein“, unterbrach er sie sofort. „Deine Nichte brauch keine Hexenjagd, sondern Zuneigung und Sicherheit. Sie muss wissen, dass sie nicht allein ist.“
Einen Moment schaute Blair ihn nur schweigend an. Dann hob sie die Hand und strich Drogan zärtlich durch das weiße Haar. Gefallener Schnee, genau wie bei … Samuel. Konnte das sein? War gar nicht Alessandro der Vater, sondern Drogan?
„Ich will ihr helfen, aber ich weiß nicht wie.“
„Hab Geduld. Es wird der Zeitpunkt kommen, an dem du …“
Ein Klopfen an der Tür sorgte nicht nur dafür, dass Drogan mitten im Satz abbrach, er entfernte sich auch schnell zwei Schritte und verschwand wieder hinter Maske eines jeden Umbras.
Blair seufzte, als sei sie dieses Versteckspiel einfach nur leid, erhob sich aber und ging zur Tür, doch egal wer da draußen stand und was er auch wollte, sie schickte ihn weg.
Zwei Stunden später tauchte ihr Sohn wieder auf und begann wieder mir aus dem Buch vorzulesen. Blair selber verschwand erst, als es Zeit zum Schlafen wurde und Doktor Ambrosius noch einmal nach mir gesehen hatte.
Ich blieb in diesem Tranceartigen Zustand, in dem ich mich schon seit meinem Erwachen vor fast einer Woche befand. Nicht richtig wach, aber auch nicht schlafend. Ich bekam alles mit und bemerkte doch nichts von dem was um mich herum vor sich ging. Es war ein seltsames Gefühl. Als stünde ich als Unbeteiligte in der Ecke und beobachtete alles aus sicherer Entfernung.
Das änderte sich auch nicht in den nächsten Tagen. Immer wieder tauchten einzelne Familienmitglieder auf und jede fragte das gleiche: „Wie geht es ihr?“ Ausgenommen Isaac. Er stand nur schweigend neben meinem Bett und beobachtete mich, als könnte er so die Lösung für dieses überaus lästige Problem finden.
Auch Nikolaj kam regelmäßig vorbei. Jedes Mal setze er sich neben mich und nahm meine Hand und nie kam auch nur ein Wort von ihm.
Eines Abends klopfte es an meine Tür. Wie spät es war, wusste ich nicht, mein Zeitgefühl war einfach verloren gegangen, aber Samuels Abendessen hatte man bereits abgeräumt. Meines nicht. Es stand neben meinem Bett. Unberührt.
Dieses Mal war es Umbra Joel, der auf Samuel aufpasste und die Tür öffnete. Die Worte die er sagte waren leise, aber ich hörte den ungeduldigen Ton in ihnen. Samuel wohl auch, denn er unterbrach sich beim Vorlesen und schaute auf. „Wer ist da, Joel?“
„Es ist wieder Historiker Sydney. Er bittet ein weiteres Mal darum, die Prinzessin sehen zu dürfen.“
Samuel schaute von Joel zu mir und schien nachzudenken. Dann legte er das Buch zur Seite und Befahl: „Lass ihn rein.“
Joel zögerte einen Moment, öffnete die Tür dann aber ein wenig weiter und ließ meinen Mentor hinein. Seine Krallen machten auf dem dicken Teppich keine Geräusche und trotzdem konnte ich spüren, wie er sich mir nährte. Erst vor dem Bett blieb er stehen und tat nichts weiter, als mich anzuschauen.
Nach langem Schweigen fragte er: „Geht es ihr besser?“
Samuel schüttelte ganz leicht den Kopf. „Nein und wenn sich das nicht bald ändert, wird Großvater sie ins Krankenhaus bringen lassen. Man überlegt sogar bereits, ihr eine Sonde legen zu lassen, da sie seit ihrem Zusammenbruch nichts mehr gegessen hat.“ Der Kummer schwang in jedem seiner Worte mit.
„Prinzessin Cayenne.“ Sydney stellte sich an der Bettkante auf und stupste mir sanft gehen die Hand. „Das ist keine gute Art, um den Unterricht zu umgehen.“
„Sie reagiert auf gar nichts“, erklärte Samuel traurig.
„Sie ist wie eine Rose, die sich fest verschlossen hat, um den Sturm der um sie tobt zu überstehen.“ Vorsichtig schob er den Kopf unter meine Hand.
„Sie hat sich in sich zurückgezogen“, bestätigte Samuel. „Zumindest sagt Doktor Ambrosius das.“
Sydney seufzte. „Ich weiß diese Fragte steht mir eigentlich nicht zu, aber würdet Ihr mich mit Prinzessin Cayenne alleine lassen?“
„Aus welchem Grund?“
„Ich möchte versuchen mit Ihr zu sprechen. Die Prinzessin redet mit mir manchmal über Dinge, die sie keinem andren anvertraut. Bitte, lasst es mich versuchen.“
Einen langen Moment musterte er Sydney nachdenklich. Er wirkte erschöpft. „Doktor Ambrosius sagt, sie braucht Ruhe.“
„Ich verspreche sie nicht aufzuregen. Ich möchte ihr nur helfen.“
Seufzend nickte er. „In Ordnung, versuchen sie es.“ Er rutschte vom Sessel und warf noch einen kurzen Blick auf mich. „Ich hoffe wirklich, dass sie etwas tun können. Joel, wir lassen die beiden alleine.“
Sein Umbra nickte, auch wenn er von dem Plan seines Schützlings nicht überzeugt war, aber einem Alpha widersprach man nicht – auch nicht, wenn er erst zwölf war. Kurz darauf fiel die Tür hinter den beiden ins Schloss und ich war mit Sydney alleine.
Unentschlossen schaute er zum Sessel, sprang dann aber neben mich ins Bett und legte sich direkt vor mich, doch alles was mich berührte, war die Wärme seines Körpers. „Ihr hättet mit mir reden sollen“, tadelte er mich leise. „Ich bin doch immer für Euch da und helfe Euch, wenn es mir möglich ist.“
Ein langer Moment der Stille folgte, in dem er nichts anderes tat, als seine Gabe einzusetzen. „Möchtet Ihr mir erzählen, was Euch bedrückt?“, fragte er leise. Dabei glitt sein Blick auf die Nadel in meinem Handrücken. „Ich möchte Euch doch helfen.“ Als ihm wieder nur Schweigen antwortete, seufzte er leise. „Bitte Cayenne, sprich mit mir. Ich sehe doch, dass deine Seele weint.“
Nein, die weinte nicht mehr, die war einfach nur noch leer und gebrochen.
„Bitte“, flehte er leise.
Aber ich konnte nicht. Es würde nichts bringen. Ich hatte gekämpft und manch eine Schlacht sogar gewonnen, der den Krieg, den hatte ich verloren.
„Ich habe Euch einmal versprochen, Euch die Geschichten meiner Narben zu erzählen. Früher wolltet Ihr sie unbedingt hören, ist das immer noch so?“ Er stellte die Ohren auf, hoffte auf eine Antwort, die er nie bekam. „Bestimmt wollt Ihr. Ihr wart schon immer neugierig, beflügelt von einem Wissensdurst, der nie gestillt werden konnte.“
Er senkte den Blick, als müsste er sich für das Kommende wappnen. „Elli, so hieß sie.“ Allein dieser Name reichte aus, um ihn zurück in seine Vergangenheit zu schicken. „Ich habe sie nicht geliebt, aber sie war wohl der wichtigste Lykaner in meinem ganzen Leben. Zumindest bis ich Euch kennenlernen durfte.“ Er nahm einen tiefen Atemzug, den er nur sehr langsam wieder entließ. „Damals, nachdem mein Vater mich fortgejagt hatte, war ich lange allein, doch dann traf ich sie. Sie hat mir nicht nur geholfen zu heilen, sie hat mich auch gelehrt zu vertrauen und das es in Ordnung war, zu sein, wer ich sein wollte.“
Sein Blick richtete sich in weite Ferne, an einen Ort und an eine Zeit, die mir verschlossen blieb. „Sie gehörte zu einem Rudel von Streuner. Weder sie noch ihre Vorfahren waren jemals Teil des Rudels der Könige gewesen. Sie lebten in einem kleinen Ort, abseits der Menschen und anderer Lykaner. Aber sie waren dort draußen nicht die einzigen Wölfe.“
Seine Augen bekamen den Ausdruck von tief sitzendem Schmerz, den nicht mal die Zeit heilen konnte. „Einen Abend liefen wir durch den Wald. Ich hatte ein paar Tage vorher eine Höhle entdeckt, die wir erkunden wollten, doch auf dem Weg dorthin begegneten wir einer großen Gruppe des anderen Rudels auf der Jagd. Sie behaupteten, wir hätten ihr Wild verscheucht, doch in Wirklichkeit waren sie einfach nur auf Streit aus. Sie begannen uns anzurempeln und herumzuschubsen. Als ich dann nach einem von ihnen biss, weil er Elli zu nahe gekommen war, stürzten sie sich alle auf mich.“
In seinen Augen lag der Kummer eines ganzen Lebens. „Ich weiß nicht mehr, was genau dort mit mir geschah, ich erinnere mich nur noch an die Schmerzen und wie Elli plötzlich zwischen uns sprang, um mich zu schützen. Ich hörte sie jaulen und dann war auf einmal alles voller Blut. Was dann geschah, weiß ich nicht. Etwas traf mich am Kopf und ich wurde bewusstlos.“
In mir regte sich ein Funke des Zorns. Sie hatten Sydney wehgetan.
„Als ich wieder zu mir kam, waren die Wölfe verschwunden und Elli … Elli lebte nicht mehr. Ich habe versucht sie zu retten, aber es war zu spät und bei meiner Rückkehr zum Rudel, gaben sie mir die Schuld für ihren Tod. Wäre ich nicht gewesen, wäre sie nicht in den Wald gegangen.“ Er verstummte einen Moment. „Und sie hatten recht. Recht mit ihren Vorwürfen und auch recht damit, mich davon zu jagen.“
„Nein“, widersprach ich mit rauer Stimme. „Das hatten sie nicht.“
Auch wenn ich sie in seinen Augen deutlich bemerkte, so ließ er sich seine Überraschung nicht anmerken. „Wenn Ihr dabei gewesen wärt, würdet Ihr anders darüber denken.“
„Nein, das würde ich nicht.“ Ich tastete vorsichtig nach seiner Pfote und strich mit dem Zeigefinger über das kurze Fell. „Es war nicht deine Schuld.“
„Aber sie ist tot und nichts kann jemals etwas daran ändern.“
Dem konnte ich nicht widersprechen. Aber was ich tun konnte, war meinen Arm um ihn zu legen und das Gesicht in seinem warmen Fell zu vergraben. Und trotz der Anstrengung, die es mich kostete, drückte ich ihn an mich. „Sie würde nicht wollen, dass du dir Vorwürfe machst.“ Es musste ihn eine unglaubliche Überwindung gekostet haben, mir das zu erzählen und zeigte es mir auch, wie sehr er mir vertraute.
Auch Sydney schmiegte sich an mich. „Jagt mir nie wieder solche Angst ein“, beschwor er mich. „Redet mit mir, wenn Ihr Probleme habt, aber verschließt Euch nicht. Ich bitte Euch, tut das nicht.“
Das konnte ich nicht versprechen, daher blieb ich einfach in seiner Wärme liegen und schloss die Augen. Ich hatte nichts anderes getan, als ihn in den Arm zu nehmen und doch fühlte ich mich, als hätte ich einen Berg im Laufschritt erklommen. Ich fühlte mich so schwach.
„Schlaft“, flüsterte er, als würde er meine Erschöpfung spüren und kuschelte sich noch etwas enger an mich. „Ich bin bei Euch.“
Und ich schlief tatsächlich ein. Schnell und traumlos, aber mir dem Wissen, dass ich für den Moment nicht allein war.
Als ich Stunden später wieder erwachte, lag er immer noch in meinen Armem. Aber er schlief nicht und so wie er mich anschaute, hatte er es wohl die ganze Zeit nicht getan. Es war ein tröstlicher Gedanke.
Außer uns befand sich niemand im Raum, aber ich konnte nicht sagen, ob wir immer noch, oder schon wieder allein waren.
„Geht es Euch besser?“, fragte er mich, als ich ihn nur still anschaute.
Anstatt zu antworten, fragte ich mich, warum er sich dieses Theater mit mir immer wieder antat. Es wäre für ihn doch viel einfacher, wirklich nur mein Mentor zu sein. Aber er blieb bei mir, selbst nachdem ich ihn so schändlich im Stich gelassen hatte. Er hatte so ein gutes Herz und er war alles, was mir noch geblieben war.
In dem Moment verschob sich die Sicht der Dinge ein wenig. Unsere Blicke waren ineinander verkeilt, und auch er spürte die Veränderung in der Atmosphäre. Es war nicht das erste Mal, dass ich das erlebte aber noch nie war es so intensiv gewesen. „Warum hast du mich unter diesem Baum geküsst?“
Das warf ihn für einen Moment aus der Bahn. Er zögerte, bevor seine Stimme in meinen Kopf hallte. „Müsst Ihr das wirklich fragen?“
„Sag es mir.“ Ich musste es hören.
Er schüttelte den Kopf. „Es würde nichts ändern. Ihr seid mit Markis Nikolaj verlobt.“
Nicolaj. Am liebsten hätte ich mich sofort wieder in meinen Kokon zurückgezogen. „Es ist nicht echt.“ Und das würde es auch niemals sein.
Sydneys Blick wurde mitfühlend. „Vielleicht im Moment noch nicht, aber …“
„Verwandele dich“, forderte ich ihn auf.
Einen Moment schien er ein wenig überrascht, doch dann legte er die Ohren an und schüttelte bedauernd den Kopf. „Es tut mir leid, aber das ist nicht das, was Ihr im Moment braucht. Ihr werdet bald heiraten und ich bin nur …“
„Verwandle dich!“, schrie ich und packte seinen Kopf. Die Nadel vom Tropf riss schmerzhaft an meinem Handrücken, doch ich spürte es kaum. „Tu es.“
„Nein“, sagte er fest. Es musste ihn sehr viel Kraft kosten, den direkt Befehl eines Alphas zu missachten.
„Warum nicht?“, fragte ich leise. „Du hast es schon einmal getan. Warum jetzt nicht?“
„Es wäre unangebracht.“
Unangebracht. Sydneys Zuneigung war unangebracht. Seine Gegenwart war unangebracht. Seine Jovialität war unangebracht. „Es ist nicht unangebracht“, knurrte ich und spürte wie die Wut in mir hochkochte. „Es ist das einzig Echte in meinem Leben, also tu es!“
„Nein, Prinzessin, ich …“
„Hör auf zu widersprechen!“ Ich packte mein Kissen und schlug damit nach ihm. „Und hör auf so ruhig zu bleiben, wenn ich dich anschreie!“ Und noch ein Schlag. „Schrei zurück, wehr dich! Los, mach etwas, lass dir nicht alles gefallen! Beiß mich!“
Das tat er nicht. Er blieb einfach liegen, duckte sich und ließ es über sich ergehen. Er sprang nicht mal vom Bett, um meinem Ausbruch zu entgehen, oder versucht mich aufzuhalten.
Die Nadel vom Tropf riss aus meiner Hand, der Monitor neben dem Bett begann in wildem Alarm zu piepen und ich schlug immer wieder zu. „Komm schon, Sydney! Du willst kein Mann sein, sondern ein Wolf?! Dann verhalte dich auch wie einer. Beiß zu und …“
Die Tür wurde von außen so schnell aufgestoßen, dass sie mit einem lauten Knall gegen die Wand schlug. Putz rieselte zu Boden. Im Türrahmen standen Ginny und Nikolaj. Das Gesicht meines Verlobten verzerrte sich vor Wut, als Sydney bei mir im Bett sah. „Was machen sie da?“, donnerte er. „Raus aus dem Bett meiner Verlobten!“
Sydney zog den Kopf ein, was meine Wut und meinen Hass auf Nikolaj nur noch schürte. „Verschwinde aus meinem Zimmer, ich will dich nicht sehen!“, schrie ich ihn an. „Geh weg!“
„Cayenne …“
„Verpiss dich, habe ich gesagt!“ Ist stieg aus meinem Bett, wollte ihn selber aus meinem Zimmer schmeißen, aber die lange Zeit des Liegens und die Beruhigungsmittel, die meinen Kreislauf vergifteten, hatten meine Muskulatur einfach lahmgelegt. Ich brachte nicht einmal einen Schritt zustande, bevor ich einfach auf den Boden klatschte.
„Prinzessin Cayenne!“
„Cayenne!“
Sydney war noch vor Nikolaj bei mir und drängte sich gegen mich.
„Nein“, wimmerte ich, als er seinen Kopf sanft gegen mein Gesicht drückte. „Ich will ihn nicht sehen, mach dass er weggeht. Ich will nicht …“
Von dem Tumult angelockt, erschien Kaidan in der offenen Tür. „Was hat das zu bedeuten?“, knurrte er nachdem er sich ein schnelles Bild von der Lage gemacht hatte.
Ich schlang meine Arme um Sydneys Kopf und hielt mich an ihm fest. „Er soll weggehen“, flüsterte ich und kniff die Augen zusammen, als würde er einfach verschwinden, wenn ich ihn nur nicht sah.
„Sie hat geschrien“, erklärte Ginny. „Also bin ich zusammen mit Markis Nikolaj in Zimmer gestürmt. Sie ist bei seinem Anblick ausgerastet und aus dem Bett gestürzt.“
Nach einem kurzen Blick auf meinen Verlobten, eilte Kaidan durchs Zimmer und hockte sich an meine Seite. „Hey Schwesterchen, was machst du denn?“ Als er mich berührte, klammerte ich mich nur noch fester an Sydney. Allerdings war es für ihn eine Leichtigkeit, meinen Griff um Sydney zu lösen. Er wollte mich nur zurück ins Bett bringen, doch als ich den Kontakt zu Sydney verlor, rastete etwas in mir völlig aus.
„Nein!“, schrie ich und versuchte nach Kai zu schlagen.
Irgendwie schaffte er es aber meinen Angriff abzuwehren und gleichzeitig seinen Arm unter mich zu schieben. Als ich den Kontakt zum Boden verlor, schrie ich auf. Mein Herz begann vor Panik zu rasen und meine Augen suchten wild nach meinem Mentor.
„Nein! Sydney!“
Kaidan legte mich ins Bett und blockte meinen Arm ab, als ich erneut nach ihm ausholte. Noch im gleichen Moment sprang Sydney zurück ins Bett.
Ich sah nur ein Stück von seinem Fell im Augenwinkel aufblitzen und griff sofort danach. Ich riss so heftig an ihm, dass er halb auf mir landete, aber das war egal. Ich wollte nur mein Gesicht in sein Fell drücken und mich bei ihm verstecken.
„Cayenne“, begann Nikolaj. „Ich …“
„Verschwinde!“
Als ich zu zittern begann, drückte Sydney seinen Kopf gegen meinen und murmelte beruhigende Worte. Dabei versuchte er von meiner Brust zu rutschen, einfach weil er nicht gerade leicht war, aber ich griff nur umso fester zu. Ich brauchte ihn, er durfte nicht weggehen.
Kaidan musterte den wehrlosen Sydney. „Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich denke, es ist das Beste, wenn sie das Zimmer erstmal wieder verlassen, Markis Nikolaj.“ Er griff nach meiner Decke und begann damit sie über mich zu ziehen. „Cayenne brauch Ruhe. Doktor Ambrosius hat jede Aufregung verboten und es ist offensichtlich, dass Ihre Anwesenheit sie aufregt.“
Nikolaj kniff die Lippen zusammen. „Cayenne ist meine Verlobte.“
„Sie können sie ja morgen wieder besuchen. Dann wird es ihr bestimmt wieder besser gehen.“ Mit geschickten Fingern, steckte Kai die Decke um mich herum fest. Dann sah er Nikolaj fest in die Augen, wie es nur Alphas konnten. „Ich werde sie kein zweites Mal bitten. Cayenne mag ihre Verlobte sein, aber sie ist meine Schwester und ich werde es nicht zulassen, das ihre Anwesenheit ihre Genesung gefährdet.“
Nikolaj wollte nicht gehen, ob nun aus Sturheit, oder weil er sich wirklich Sorgen machte, war egal, er wollte bleiben. Aber gegen einen geborenen Alpha konnte er nicht bestehen. „Dann … werde ich wohl besser gehen“, sagte er mit schmalen Lippen. Er schaute noch mal zu mir und öffnete den Mund, schüttelte dann aber den Kopf und verließ mit hochgezogenen Schultern den Raum.
Kaidans Aufmerksamkeit lag jedoch auf Sydney. Er schien auch ihn aus dem Raum schicken zu wollen, aber so wie ich mich an ihn klammerte, musste ihm klar sein, dass das nicht möglich war. „Könnte mir nun jemand sagen, was genau hier geschehen ist?“
Sydney versuchte seine Pfote auszustrecken, die zwischen mir und ihn unangenehm eingeklemmt war. „Ich fürchte, dass ich nicht so einfach zu erklären.“
„Versuchen sie es.“
Das führte erstmal zu Sydneys Schweigen. Er konnte ja schlecht sagen, dass er sich verwandeln sollte, weil wir vor drei Jahren mal miteinander herumgeknutscht hatten. „Prinzessin Cayenne hat geschlafen. Ich denke, sie glaubte sich in einem Alptraum, als sie erwachte.“
Mir stockte der Atem. Sydney hatte gelogen. Er hatte noch nie gelogen, besonders keinem Alpha gegenüber. Sowas machte er einfach nicht.
Als hätte Kai sowas schon geahnt, seufzte er schwer. Er setzte sich zu mir aufs Bett und legte mir die Hand aufs Bein. Allein diese Berührung reichte, damit ich mich anspannte. „Du musst dich zusammenreißen, Cayenne“, sagte er eindringlich. „Ich weiß wie schwer es ist, eine solche Verbindung einzugehen, aber wir sind Alphas und Alphas müssen stark sein. Nur so können wir das Rudel schützen.“
Ich ignorierte ihn, aber ich konnte es endlich zulassen, dass Sydney sich ein wenig bequemer hinlegte. Das war nichts, was ich jetzt diskutieren wollte. Und seine Verbindung mit Prinzessin Pandora war etwas ganz anderes, als das was ich durchlebte.
„Es ist unsere Bestimmung, das musst du verstehen.“
Ich verstand nur, dass die Alphas in diesem Haus nichts anderes waren, als machthungrige Ölgötzen, die den ganzen Tag nichts anderes taten, als sich den Hintern platt zu sitzen und Probleme diskutierten, an denen sie sowieso nichts änderten. „Geh weg“, sagte ich kraftlos. Ich wollte nichts mehr hören. Er sollte mich in Ruhe lassen. Sie alle sollten mich einfach in Ruhe lassen.
„Cayenne …“
„Du sollst verschwinden!“
„Schhh“, machte Sydney, als ich die Hände tiefer in sein Fell grub. „Der Prinz will Euch nur helfen.“
Sollte er doch jemand anderem seine Hilfe anbieten, ich wollte sie nicht. Ich wollte, dass er mich in Ruhe ließ. Ich wollte, dass alle mich in Ruhe ließen.
„In Ordnung.“ Kaiden drückte mein Bein kurz. „Ich werde erstmal gehen. Aber du musst wieder aufstehen, Cayenne, du kannst dich hier nicht ewig verstecken.“
Als ich darauf in keinster Weite reagierte, erhob er sich und ging.
Ich lauscht auf seine Schritte und auf das Geräusch der sich schließenden Zimmertür. Erst dann schaffte ich es mich ein wenig zu entspannen und hörte damit auf, Sydney zu ersticken. Doch als ich meinen Griff lockerte, rückte er nicht ab, er kuschelte sich einfach ein wenig anders an mich, als würde er spüren, dass seine Anwesenheit gerade das Einzige war, was mir dabei half, nicht wieder unterzugehen.
Leider blieb er still. Was hätte er nach meinen kleinen Ausbruch auch groß sagen sollen. Schlag das nächste Mal bitte nicht so fest zu? „Es tut mir leid“, flüsterte ich in sein Fell. „Du musst mich für völlig verrückt halten.“
„Was? Nein.“ Er hob den Kopf, um mir ins Gesicht sehen zu können. „Was bringt Euch auf einen solch absurden Gedanken?“
Der Gedanke war nicht absurd, mein Verhalten war es gewesen. „Ich habe dich geschlagen, Sydney. Ohne jeden Grund, nur weil du dich nicht …“ Ich verstummte, als ich mich wieder an den Grund meines Ausbruchs erinnerte. „Oh Gott.“
Er leckte mir über die Stelle am Handrücken, wo ich mir die Nadel ausgerissen hatte. Ich spürte es noch immer nicht. „Mach Euch darum keine Gedanken, es war ja nur ein Kissen.“
„Nur?“ Ich gab ein bitteres Geräusch von mir.
„Prinzessin Cayenne. Ich mache Euch keine Vorwürfe. Ihr seid momentan nicht in der besten Verfassung. Ich bin nicht sauer, wegen dem was Ihr getan habt. Ihr müsst Euch selber Zeit geben.“ Vorsichtig schob er seinen Kopf unter meine Hand. „Die Seele ist ein sehr empfindliches Gut. Ich kenne den Grund nicht, aber Eurer wurde ein solcher Schmerz zugefügt, dass sie keinen anderen Ausdruck mehr fand, als sich auf diese Art zu wehren.“
„Und wenn es wieder passiert?“ Mit dem Finger zog ich eine Linie über seinen Kopf. „Ich will dir nicht wehtun.“
„Dann schließt mich nicht mehr aus“, erwiderte er sofort. „Es war nicht das Kissen, das mich verletzt hat, sondern die Angst um Euch. Ich konnte nichts für Euch tun und das nicht nur, weil man mich nicht zu Euch gelassen hat, sondern, weil Ihr nicht mit mir sprecht.“
Weil ich es nicht durfte.
„Ich will Euch nicht drängen, doch wenn Ihr bereit seid mir zu erzählen, was Euch bedrückt, werde ich da sein und zuhören. Und ich werde auch nicht urteilen. Egal, ob es dabei um Eure Gefangenschaft geht, oder um Markis Nikolaj, ich bin immer für Euch da.“
„Es tut mir leid“, flüsterte ich und wusste nicht einmal, wofür ich mich eigentlich entschuldigte. Ich spürte wie meine Augen anfingen zu brennen und mir Tränen über die Wangen liefen. „Es tut mir so leid.“
„Aber nein, nicht doch.“ Er schob sich ein wenig hör und rieb seinen Kopf an meinem. „Es gibt nichts, wofür Ihr Euch entschuldigen müsstet.“
Vielleicht nicht, aber es gab andere Dinge, um die ich mich eigentlich kümmern müsste. Und während ich hier lag und versuchte die Splitter meines Lebens irgendwie zusammen zu halten, schwebte plötzlich das Bild von Anouk vor meinem geistigen Auge. Die Panik kam so schnell zurück, dass es mir die Kehle zuschnürte.
„Schhh“, machte Sydney, als ich begann zu hyperventilieren. „Ihr müsst ruhig bleiben, atmet langsam.“
Nein, ich musste zu Nikolaj. Ich musste …
Sydney sprang auf die Pfoten. „Cayenne!“, schrie er mir direkt ins Gesicht, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. „Sieh mich an, konzentriere dich auf mich, lass deinen Gedanken los.“
Den Gedanken loslassen? Dieser Gedanke beherrschte mein Leben!
„Cayenne, bitte, sieh mich an, bleib bei mir.“
Ich starrte ihn an. Meine Hände zitterten, mein Herz raste. Oh Gott, es ging wieder los.
Sydneys Blick flitzte beunruhigt über meine Gesicht. „Weil du das Wichtigste in meinem Leben bist“, sagte er dann plötzlich. „Darum habe ich dich unter diesem Baum geküsst. Ich liebe dich.“
Mein Denken erstarrte. Ich spürte das unangenehme Kribbeln in meinen Fingern, genau wie das Rasen meines Herzens, aber mit einem Mal konnte ich nichts mehr anderes tun, als ihn anzusehen.
„Bitte, atme langsam. Ein, aus, kontrolliert.“ Er machte es mir vor und ließ mich keinen Moment aus den Augen, als ich versuchte mich seinem Tempo anzuschießen. „Ja, genau so. Ein und aus. Konzentriere dich auf meine Stimme, halt dich an ihr fest. Ich bin bei dir, du musst das nicht alleine durchstehen.“
Nein, ich war nicht alleine, Sydney war bei mir und … er liebte mich. Oh Gott. Auf einmal begann ich zu schluchzen. Ich rollte mich auf die Seite, schlug die Hände vors Gesicht und weinte bitterliche Tränen. Er liebte mich, aber das war völlig egal, denn es änderte rein gar nichts.
„Schhh“, machte Sydney. Die Matratze wackelte, als er neben mich kroch und seinen Kopf zwischen meine Arme schob, bis ich mein Gesicht an seinen warmen Körper drückte. Das war alles, was jemals zwischen uns sein durfte.
°°°
Wut, Verzweiflung, Gleichgültigkeit. Drei der intensivsten Gefühle, zu dem ein Mensch fähig war und ich war gefangen in einem Kreislauf, der mich dazu zwang, sie immer und immer wieder zu durchlaufen. Eine Berg- und Talfahrt, die mich so sehr erschöpfte, dass ich tagelang kaum etwas anderes tun konnte, als zu essen und zu schlafen.
Doktor Ambrosius versuchte meine Psyche mit Medikamenten wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Ich hatte eher das Gefühl, dass er mir viele bunte Pillen gab, um mich ruhig zu stellen. Aber was wusste ich schon davon, ich war ja nur eine Prinzessin.
Das Einzige was mir wirklich Halt gab, war Sydneys Nähe. Ohne ihn wäre ich verloren. Er tröstete mich, wenn ich um all das weinte, was ich verloren hatte. Er harrte neben mir aus, wenn mich die Wut packte und ich mit allem um mich schliss, was ich in die Hand bekam. Und nur er schaffte es mich abzufangen, wenn ich drohte in die Leere abzudriften.
Sydney war die Medizin, die mir half zu heilen.
In diesen Tagen auf meinem Zimmer, bekam ich kaum mit, was draußen alles geschah. Der Weihnachtsball kam und ging. Am Vollmond wurde ich so mit Medikamenten vollgepumpt, dass ich nicht mal mehr den Schein des Mondes wahrnahm. Und als die Vorbereitungen für das Silvesterfest begannen, unterbrach selbst Samuel seine Wache an meinem Bett hin und wieder. Aber immer erst, wenn er auch sichergestellt hatte, dass ich immer fein artig aufgegessen hatte, denn bei einer Untersuchung hatte mein Arzt festgestellt, dass ich mehr oder weniger an Mangelernährung litt und ich den letzten Wochen zu einem halben Skelett mutiert war.
Was mich aber noch immer plagte und wogegen auch Sydney nichts unternehmen konnten, waren die immer wiederkehrenden Alpträume. Schon seit Jahren waren sie nicht mehr so schlimm gewesen, wie in den letzten Tagen.
Auch an diesem Donnerstag, schreckte ich am Mittag mit einem Schrei aus dem Schlaf hoch und schaute mich im Zimmer panisch nach den Monstern in den Schatten um.
„Ganz ruhig“, murmelte Sydney und schob sich halb auf meinen Schoß. „Habt keine Furcht, ich bin bei Euch, hier kann Euch nichts geschehen.“
Trotz seiner beruhigenden Worte brauchte ich ein paar Sekunden, um mir selber klar zu machen, dass ich schon wieder einen Alptraum gehabt hatte. Ich wusste nicht mal mehr worüber, aber das Zittern meines Körpers war genauso echt wie mein schneller Herzschlag.
„Oh Gott“, klagte ich und schlug die Hände vors Gesicht. Irgendwann würden diese Hirngespinste noch dazu führen, dass mein Herz vor Schreck einfach die Arbeit einstellte. Nicht dass das in meiner Situation unbedingt etwas Schlechtes gewesen wäre.
Sydney stupste mir so lange gegen die Hand, bis ich sie herunter nahm und meine Stirn an seine lehnte. „Ihr habt wieder ein Alptraum gehabt.“
Da das mehr als offensichtlich war, bedurfte es keiner Erwiderung.
„Ich wünschte, ich könnte Euch von ihnen befreien.“
„Ganz ehrlich? Das wünschte ich auch. Glaub mir, es wäre mir viel lieber von Regenbögen und Einhörnern zu träumen, als von finsteren Monstern, die mich in Angst und Schrecken versetzen.“ Und ihn gleich auch noch mit. Letzte Nach hatte ich ihn mit einem Schrei so sehr erschreckt, dass er fast aus dem Bett gefallen wäre.
„Wie lange quält Ihr Euch schon damit?“
„Seit dem Abend, als ich erfuhr, dass ich weit mehr bin, als eine kleine Pharmatechnikstudentin.“ Waren das wirklich erst knapp vier Jahre? Es kam mir wie ein halbes Leben vor.
Seufzend löste ich mich von Sydney und griff nach dem Wasserglas auf meinem Nachttisch. Ich setzte es gerade an meinen Mund, als meine Zimmertür von außen geöffnet wurde.
„Oh“, machte Samuel, als er eintrat. „Du bist ja wach.“
Gezwungenermaßen.
„Diego, warte draußen“, ordnete der kleine Prinz an und schlug ihm die Tür dann direkt vor der Nase zu. Nein, er war nicht sauer auf seinen Umbra, das war einfach nur Samuel.
„Wenn ich mich recht erinnere, hatten wir irgendwann mal ausgemacht, dass du anklopfst, bevor du mein Zimmer betrittst.“ Ich stellte das Wasserglas zurück auf auf meinen Nachttisch.
Samuel schenkte meiner Ermahnung keine Beachtung. Er kam einfach in den Raum, setzte sich wieder in seinen Sessel und musterte mich kritisch. „Die letzten Lose wurden gezogen.“
Was er damit meinte, waren die Silvesterlose. Jedes Jahr im Dezember wurden im Volk Lose ausgegeben. Die zweihundert Gewinner aus dieser Lotterie, durften gemeinsam mit einer Begleitung ihrer Wahl am Silvesterfest der Alphas teilnehmen. Dann gab es noch die zehn goldenen Lose, bei denen man sogar fünf weitere Leute mitbringen konnte.
Laut Samuel waren diese Plätze heißbegehrt, einfach weil das Rudel gerne mit den Alphas feierte, es war eine Ehre für sie. Ich konnte das nicht ganz glauben. Ich war schon auf Festen des Königshauses gewesen und ganz ehrlich, eine kleine Party bei Freunden war wesentlich amüsanter.
„Wirst du Silvester mit uns feiern?“
Ähm … ich? „Du meinst …“ Ich zeigte zu meiner Tür. „Da draußen?“
„Knapp fünfhundert Leute werden ja wohl nicht in dein Zimmer passen.“ Das war kein Sarkasmus in der Stimme, für Samuel war das einfach nur eine Tatsache, die er mir aufzeigte.
„Ich weiß nicht.“ Allein der Gedanke meine vier Wände zu verlassen, machte mich nervös. Seit sechzehn Tagen hütete ich mehr oder weniger das Bett und eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, daran so schnell etwas zu ändern.
„Ihr solltet Eure Cousine nicht drängen“, tadelte Sydney den Prinzen. „So ein Heilungsprozess braucht Zeit und Fortschritte sollten nicht überstürzt erzwungen werden.“
Samuel schaute ihn an, als fragte er sich, wer ihn zu diesem Gespräch eingeladen hatte. „Doktor Ambrosius hegt keine Einwände, nicht wenn sie sich selber dazu breit fühlt.“
Aber das tat ich nicht. Wenn ich dieses Zimmer verließ, konnte alles wieder über mir zusammen brechen. Die Familie, die Lügen, Nikolaj.
Ich senkte den Blick. Er hatte mich jeden Tag besucht, aber da immer jemand zugegen gewesen war, hatten wir uns nur oberflächlich miteinander unterhalten können. Nicht das mich das störte. Ich hätte auch kein Problem damit, wenn ich nie wieder ein Wort mit diesem Mann wechseln müsste. Aber leider hatte ich so nie die Gelegenheit gehabt, ihn zu fragen, was mit Vivien und Anouk war.
Er würde mir meinen Zusammenbruch doch sicher nicht zur Last legen. Oder?
„Ihr müsst nicht aufstehen“, sagte Sydney, der meine Unsicherheit spürte. „Wenn Ihr Euch dem noch nicht gewachsen fühlt, solltet Ihr lieber noch im Bett verweilen.“
Aber wie lange noch? Kaidan hatte es doch gesagt, ich konnte mich hier nicht ewig verstecken. Die Komarows hätten sicher etwas dagegen. „Vielleicht sollte ich es mal versuchen“, überlegte ich und versuchte dabei die Unsicherheit aus meiner Stimmer heraus zu halten. „Ich meine … für den Anfang nur ein kurzer Spaziergang, oder … ein Essen mit der Familie.“ Nicht dass ich glaubte, dabei etwas runter zu bekommen.
„Glaubt Ihr, dass Ihr dazu schon bereits seid?“, fragte Sydney ganz direkt.
Nein. „Wenn ich es nicht versuche, werde ich es wohl nicht erfahren.“ Das Lächeln, mit dem ich ihn bedachte, fiel ein wenig angespannt aus.
„Ihr solltet nichts überstürzen, Prinzessin.“
Wenn er wüsste, warum ich so handeln wollte, würde er anders darüber denken. „Ein Versuch wird sicher nicht schaden.“ Zumindest blieb das zu hoffen.
Als ich Sydney von mir herunter schob und meine Decke zur Seite schlug, runzelte mein Mentor die Stirn.
„Ihr wollt es sofort versuchen?“
„Warum noch lange warten?“ Ich schwand die Beine über die Bettkante und setzte vorsichtig einen Fuß nach dem anderen auf. „Entweder es klappt, oder es klappt nicht.“ Da ich dieses Bett seit zwei Wochen hütete und es schon allein durch diese mittlerweile ungewohnte Bewegung unter meiner Haut kribbelte, war ich mir nicht ganz sicher, ob meine Beine mein Gewicht tragen würden.
Auch Syndey erhob sich und beobachtete mich kritisch. „Wollt Ihr das wirklich alleine machen? Vielleicht wäre es besser, wenn ihr auf Euren Arzt warten würdet.“
„Warum willst du, dass sie im Bett bleibt?“, fragte Samuel stirnrunzelnd.
„Es geht nicht darum, dass sie im Bett bleiben soll, es geht darum, dass sie nach der langen Zeit im Bett stürzen könnte.“
Das leuchtete Samuel ein. Wortlos erhob er sich und hielt mir auffordernd seine Hand entgegen.
„Na dann kann ja nichts mehr schiefgehen.“ Unter den wachsamen Blicken von Sydney und meinem Cousin, atmete ich noch einmal tief ein und stemmte mich dann nach oben.
Meine Muskeln protestierten und wollten nicht so wie ich, also griff ich nach dem Bettpfosten und zog mich an ihm in die Senkrechte.
Da ich leicht schwankte, griff Samuel sofort nach meinem Arm und ganze ehrlich, es war mir wohl noch nie so schwer gefallen, auf den Beinen zu bleiben.
„Vielleicht sollte ich es für den Anfang erstmal mit einer einfachen Dusche versuchen“, überlegte ich, denn so würde ich vermutlich nicht mal den Weg aus meinem Zimmer schaffen.
„Soll ich jemanden holen, der Euch helfen kann.“
Ich schüttelte den Kopf. Das mir jemand beim Duschen half, war ausgeschlossen. „Ich schaff das schon.“ Und ich schaffte es wirklich. Ich brauchte viermal so lange wie sonst und musste mich in der Dusche auf meinen Hintern setzten, um nicht umzukippen, aber am Ende schaffte ich es nicht nur ins Bad, sondern auch zurück ins Bett. Das mit dem Spaziergang würde wohl noch warten müssen.
Die nächsten zwei Tagen war das so ziemlich alles, was ich auf die Reihe bekam. Vom Bett ins Bad und wieder zurück. Zwischendurch zwang ich mich allerdings immer wieder dazu unter Sydneys wachsamen Blick ein paar Runden in meinem Zimmer zu gehen. Es war wirklich erstaunlich, wie schwer mir das nach diesen zwei Wochen fiel.
Doktor Ambrosius jedoch lobte meine Fortschritte und meinen Kampfgeist, genau wie alle anderen. Nur Nikolaj war der Meinung, ich sollte noch eine Weile mein Zimmer hüten. Das fand ich seltsam und ließ mich unsicher werden, aber nach wie vor bot sich mir keine Gelegenheit alleine mit ihm zu sprechen. Es war immer irgendjemand mit im Raum, also blieb mir gar keine andere Wahl, als weiterzumachen.
Dann endlich wollte ich es wagen. Morgen war Silvester. Jegor würde sicher auch geladen sein und ich hatte mir vorgenommen, ihm zu zeigen, dass mit mir alles in Ordnung war und er die Finger von Vivien und Anouk lassen musste. Aber bevor ich das tun konnte, musste ich erstmal eine Generalprobe überstehen. Darum würde ich heute am Abendessen mit der Familie teilnehmen.
Das erste Hindernis, dass sich mir dabei in den Weg stellte, war meine eigene Tür. Ich stand vor ihr, starrte die Türklinke an und zögerte damit, meine Hand darauf zu legen. Dort draußen würde ich mich nicht mehr verstecken können. Sicher wusste jeder im Schloss von meinem Zusammenbruch. Schon jetzt konnte ich ihre Blicke spüren.
„Ihr müsst das nicht tun.“ Sydney trabte an meine Seite. „Wenn Ihr noch Zeit braucht, dann nehmt sie Euch.“
Leider würde Zeit mir in diesem Fall nicht helfen. Ich durfte nicht schwach wirken, nicht gegenüber Nikolaj und seinem Vater, sonst würden sie mich noch völlig ruinieren. „Es geht schon.“ Okay, jetzt oder nie.
Entschlossen griff ich nach der Tür, zog sie auf und wäre vor Schreck fast wieder zurück gestolpert. Direkt vor mir stand Ginny.
„Ich habe ihr gesagt, sie soll sich für das Abendessen bereit halten“, erklärte Samuel und griff nach meiner Hand.
Schön das er mich vorgewarnt hatte.
„Prinzessin.“ Ginny deutete eine Verbeugung an. Dann trat sie zur Seite und öffnete mir die Tür zum Korridor.
Und da begannen schon die Blicke. Gut, es war ihr Job mich im Auge zu behalten, aber ich wusste was in ihrem Kopf vor sich ging und das gefiel mir nicht.
Ich musste mich zusammenreißen. Ich würde ihnen beweisen, dass ich ein Alpha war und mich nichts unterkriegen konnte.
„Passt auf, dass Ihr Euch nicht zu viel zumutet“, mahnte Sydney und trabte direkt vor mir aus dem Raum. Ohne meine Anwesenheit war es ihm verboten sich in meinem Zimmer aufzuhalten.
Ich atmete noch einmal tief durch, dann folgte dann seinem Beispiel und trat hinaus auf den Korridor.
Na bitte, das war doch für den Anfang gar nicht so schlecht.
An der Wand gegenüber wartete Diego auf Samuel, doch es war nicht sein Schützling, den er ins Auge fasste, sondern ich.
Ich versuchte zu lächeln und hoffte, dass es nicht allzu aufgesetzt wirkte. „Wartest du schon lange?“
Er hob eine Augenbraue, als wollte er fragen, was der Blödsinn sollte. Vielleicht dachte ich das aber auch nur, weil ich mich das fragte. Fast hätte ich über mich selber den Kopf geschüttelt.
„Komm.“ Samuel zog leicht an meiner Hand. „Das Abendessen beginnt gleich und du weißt doch, Großvater mag keine Verspätungen.“
Da er nichts wusste, dass ich auf dem Weg nach unten war, würde er sicher etwas Nachsicht walten lassen. Oder vor Überraschung an einem Herzinfarkt sterben. Dass hätte sicher auch seine Vorteile.
Wegen der abendlichen Stunde, herrschte im Schloss nicht mehr allzu viel Betrieb. Zwar kamen wir an ein paar Leuten vorbei, die mir dann auch unauffällig hinterher schauten, doch es war bei Weitem nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. Es konnte auch an den beiden Umbras liegen, die uns wie lautlose Schatten folgten.
Als wir in der Eingangshalle kamen, drückte Sydney sich gegen mein Bein. „Vergesst nicht, wenn es Euch zu viel wird, dann könnt Ihr Euch jederzeit zurückziehen.“
Ich lächelte zu ihm hinunter und strich ihm über den Kopf. „Lass es mich doch erstmal versuchen, bevor du mich wieder auf mein Zimmer schickst.“
„Verzeiht, ich mache mir nur Sorgen.“
Das wusste ich doch. „Kommst du nachher wieder zu mir?“
„Wenn Ihr das wünschst, werde ich da sein.“
Das zu wissen, war wirklich beruhigend.
Ich strich ihm noch ein letztes Mal durch das Fell und ließ mich dann von Samuel zum Speisesaal begleiten.
Leider begann mit Sydneys Abwesenheit eine leichte Unruhe in mir zu keimen. Als ich an der Tür zum Speisesaal stand und die komplette Familie inklusive Nikolaj am Tisch sitzen sah, wurde es sogar noch ein wenig schlimmer.
„Seine Angst kann man nur besiegen, indem man sich ihr stellt.“ Samuel drückte meine Hand, als wollte er mir zeigen, dass ich nicht allein war.
„Den Spruch hast du bestimmt aus einem Glückskeks geklaut“, murmelte ich, atmete noch einmal tief ein und trat dann in den Saal im neugotischen Stil.
Sobald die Familie uns bemerkte, verstummte der ganze Tisch. Ausgenommen Elias, der kaute weiter lallend auf seinem Löffel herum.
Diese plötzliche Aufmerksamkeit, tat meinen Nerven nicht gut. Ich merkte wie ich nervös wurde und es war wohl allein Samuel zu verdanken, dass ich nicht auf dem Absatz kehrt machte und zurück auf mein Zimmer floh. Ich hielt meinen Kopf gesenkt und schaffte es sogar mich zu bedanken, als Nikolaj aufsprang und mir meinen Stuhl zurecht rückte. Dabei musste ich mir immer wieder selber sagen, dass alles in Ordnung war und es mir gut ging.
Samuel setzte sich auf dem Stuhl links von mir. „Eine Resozialisierung funktioniert nicht, wenn der Betroffene wie ein Aussätziger angestarrt wird“, erklärte er, während er nach der Schüssel mit den Kräuterkartoffeln griff. „Es hilf viel mehr ihn zu integrieren und an der Gemeinschaft teilhaben zu lassen.“
„Gah!“, rief Elias, als wollte er ihm zustimmen. Dann warf er aber sein Messer runter, weswegen Blair sich danach bücken musste.
„Dir scheint es ja wieder besser zu gehen“, bemerkte Alessandro, als ich mir eine von den sauren Gurken aus der Schale nahm.
„Du meinst, weil ich nicht mehr rumschreie?“ Ich legte die Gurke auf mein Teller und schnitt sie der Länge nach auf. „Lass dich von meiner Unschuldsmiene nicht täuschen.“
„Du hast zumindest dein Zimmer verlassen“, mischte sich nun auch noch Alica ein.
Samuel musterte seine Tante. „Das Offensichtliche betonen? Sehr weise.“
Mein Onkel/Vater schnitt ein Stück von seinem Braten ab. „Weise wäre es, wenn kleine Jungs wüsten, wo ihre Grenzen liegen.“
Oh je. Aber wer jetzt glaubte, das mein kleine Cousin sich von so einer Aussage angegriffen fühlen würde, der lag meilenweit daneben.
„Kluge Menschen reagieren auf Kritik gelassen“, erwiderte er schlicht. „Dumme trotzig.“
„Samuel!“, rief Blair empört.
Sadrija gab ein Geräusch von sich, dass ich nach einiger Zeit als ein kleines Lachen interpretierte. Na sowas, ich wusste gar nicht, dass sie dazu fähig war.
Es war kaum zu glauben, aber während ich ihnen zuhörte, begann ich mich wirklich ein wenig zu entspannen. Es half natürlich ungemein, das Samuel mit seinem altklugen Sprüchen die Aufmerksamkeit mehr oder weniger auf sich zog. Trotzdem war ich froh, nach dem Abendessen wieder auf mein Zimmer verschwinden zu können. Wenigstens konnte ich mich beglückwünschen, die Generalprobe war mir gelungen.
Allerdings war der nächste Abend dennoch eine Herausforderung für mich. Zwar schaffte ich es auch an den nächsten Mahlzeiten teilzunehmen, doch als ich am Silvesterabend in meinem schwarzen Abendkleid oben auf der Galerie stand und hinunter in die Eingangshalle schaute, spürte ich wieder diese Unruhe.
Ein Teil der Gäste war bereits eingetroffen, der Rest gesellte sich nach und nach zu ihnen. Wie ein endloser Strom kamen sie ins Schloss. Doch wie es schien, gab es heute keine Kleiderordnung. Ich sah sowohl Leute in feiner Abendgarderobe, als auch alltägliche Kleidung. Ein paar der Gäste erschienen sogar auf vier Pfoten. Und sie alle staunten über die farbenfrohe Dekoration.
Da waren Luftballons und Girlanden. Luftschlagen hingen überall herunter und ich sah mehr als ein Banner, dass uns allen ein frohes, neues Jahr wünschte. Selbst ich empfand diesen Anblick als überwältigend, dabei hatte ich noch nicht einmal die eigentlichen Räume zu den Feierlichkeiten betreten.
„Onkel Manuel hat dieses Jahr das Feuerwerk arrangiert“, erklärte Samuel und zog mich an der Hand die Treppe hinunter. Unsere vier Umbras waren direkt hinter uns. „Es soll wirklich beeindruckend sein. Wir werden es uns um Mitternacht auf der großen Ostterrasse ansehen.“
Hoffentlich hielt ich bis dahin überhaupt durch. Bereits jetzt waren mir die verdammten Blicke unangenehm, obwohl sie nicht viel anders waren, als auf anderen Festen, nur dass es dieses Mal überwiegend Omegas waren, die beobachteten, wie ich an Samuels Seite in die Eingangshalle trat. „Das ist aber kein Walzer“, merkte ich an, als die ersten Klänge der Musik an meine Ohren drangen.
„Nein, das Silvesterdinner ist eher ein Bankett, als ein Tanzball.“
Das erklärte aber nicht, warum ich da gerade einen Partyhit aus den Achtzigern hörte.
Samuel dirigierte mich auf den Thronsaal zu, doch bevor wir ihn erreichen konnten, hörte ich, wie Nikolaj von irgendwo in der Menge meinen Namen rief.
Ich spannte mich automatisch an. Tief einatmen, einfach tief einatmen, die Panik nicht unterdrücken, nur kontrollieren. Das hatte Doktor Ambrosius mir eingetrichtert. Einer seiner vielen unerwünschten Ratschläge. Es half.
Als ich mich umdrehte, hatte ich mich so weit unter Kontrolle, dass ich es sogar schaffte mir ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. „Markis Nikolaj“, sagte ich ein wenig förmlich und machte sogar einen kleinen Knicks, um zu verhindern, dass er nach meiner Hand griff.
Ja, ich musste mit ihm reden, aber jetzt in diesem Moment, mit all den Leuten um mich herum, fühlte ich mich dazu nicht imstande.
„Cayenne.“ Auch er verbeugte sich vor mir. „Du siehst umwerfend aus.“
„Danke.“
Er warf Samuel einen kurzen Blick zu. „Dürfte ich dich einen Moment entführen?“
„Nein.“ Mist. „Ich meine … ich …“
„Sie wird im Ballsaal gebraucht“, erklärte Samuel. „Man erwartet uns dort bereits.“
Nikolajs Mund verzog sich unwillig, doch was er dann sagte, überraschte mich. „Ich bin mir nicht sicher, ob du so einer Großveranstaltung schon gewachsen bist. Du bist doch erst seit gestern wieder auf den Beinen. Vielleicht wäre es besser, wenn du dich noch ein wenig schonen würdest.“
„Ähm“, machte ich nicht sehr gescheit, nicht sicher, was ich dazu sagen sollte. Er wollte, dass ich wieder auf mein Zimmer ging? Dabei hatte ich geglaubt, es läge in seinem Interesse, dass ich wieder heraus kam. „Danke, aber … mir geht es gut.“
„Und Doktor Ambrosius hegt keine Einwände“, fügte Samuel noch hinzu. „Ihre Sorge ist also, wenn auch gut gemeint, unnötig.“
„Auch ein Arzt kann irren“, hielt er sofort dagegen.
Okay, das fand ich jetzt schräg. Und völlig unlogisch. Machte er sich wirklich solche Sorgen um mich?
„Falls es wirklich so sein sollte, stehen genug Leute bereit, um im Notfall eingreifen zu können“, erklärte Samuel. „Außerdem wünscht Großvater ihre Anwesenheit auf dem Fest, wenn sie uns also nun bitte entschuldigen würden.“ Er verabschiedete sich noch mit einem sehr steifen Kopfnicken und führte mich dann weiter auf den Thronsaal zu.
Wow, so wie Samuel sich verhielt, konnte man glatt glauben, dass er eine gewissen Abneigung gegen Nikolaj hegte. Vielleicht war ihm der Mann auch einfach nur suspekt, wegen der Art wie er mit mir hier aufgetaucht war. Ich würde das auf jeden Fall im Auge behalten müssen.
Hatte mich schon die Einganghalle begeistert, so war das nicht gegen den Thronsaal und die beiden angrenzenden Tanzsäle. Der ganze Boden war ein einziges Meer aus Luftballons. Konfetti und Luftschlangen wurden geworfen. Und die Leute, sie amüsierten sich. Die Menge tanzte und lachte. Es war laut genug, um meine Gedanken zu übertönen.
Über dem Thron des Königs hing eine riesige Uhr ihn an der Wand, die den Countdown bis Mitternacht zählte.
Samuel dirigierte mich um eine Gruppe junger Männer herum, die laute pfeifend eine Frau anfeuerten, die versuchte ein Glas mit Bier in einem Zug zu leeren. Aber … war das nicht Nicoletta? Wenn das Personal auch noch mitfeierte, waren das hier wohl mehr als nur fünfhundert Leute.
„Komm“, forderte Samuel mich auf. Wir kamen an einer Bar vorbei, bei der nicht nur Wasser ausgegeben wurde. Ich wurde kurz in ein Spiel mit den Ballons verwickelt, die die ganze Zeit über die wogende Menge hüpften. Als wir durch einen der drei Torbögen hinüber in den Ballsaal wechselten, klebte mir Konfetti im Haar.
Hier ging es ein wenig ruhiger zu. Es gab Sitzgelegenheiten mit Tischen. Meine Familie hatte sich seitlich auf einem erhöhten Podest versammelt und wachte über ihre Schäfchen. Naja, zumindest der Teil der Familie, der anwesend war. Von Sadrija und Blair, genau wie von ihrem Mann Alessandro fehlte jede Spur.
Was Alessandro trieb, konnte ich mir lebhaft vorstellen. Ich hatte schließlich schon genug kurze Röcke auf diesem Fest gesehen. Auch fehlte von Manuel jede Spur. Dafür war aber Elias anwesend, der putzmunter herumrannte. Sehr zum Leidwesen seines Kindermädchens, das ihm die ganze Zeit auf den Fersen bleiben musste.
„Sein erstes Silvester mit uns“, erklärte Samuel, als er meinen Blick bemerkte.
Auch hier war der Boden, die Wände und die Decke mit Ballons und Luftschlangen dekoriert.
Ich schaute gerade zwei Wölfen zu, die zusammen mit einer älteren Frau an einem Tisch saßen, als es direkt neben meinem Ohr knallte. Vor Schreck wirbelte ich herum und bekam so eine volle Ladung Luftschlangen ins Gesicht.
Direkt vor mir stand Kai und grinste mich an. „Ganz ruhig, Schwesterchen, das war nur ein Partyknaller.“ Wie um seine Worte zu beweisen, hielt er ein kleines flaschenförmiges Behältnis aus gelbem Plastik hoch.
Ganz ruhig? Der hatte gut reden. Blödmann. „Die nächsten Tage solltest du dein Shampoo vor dem Benutzen überprüfen.“ Ich pflückte mir die Luftschlagen aus dem Gesicht und ließ sie achtlos zu Boden fallen. „Einfach weil jemand auf die Idee kommen könnte, Lebensmittelfarbe aus Rache reinzufüllen und dann müsstest du mit blauen Haaren rumlaufen.“
Aus seinem Schmunzeln wurde ein breites Lächeln. Und dann zog er mich in seine Arme und drückte mich an sich. „Es ist schön, dass es dir wieder besser geht“, sagte ich leise.
Etwas überrumpelt und hilflos, tätschelte ich ihm den Rücken, machte mich dann aber auch wieder von ihm frei. Seit damals, als er mich so skrupellos angelogen hatte, war ich nicht mehr richtig warm mit ihm geworden und deswegen fühlte sich das etwas seltsam an.
„Kommt“, sagte Samuel. „Lasst uns etwas essen.“
Zwar hatte ich keine große Lust darauf, aber am Tisch der Aphas war es wenigstens nicht so überfüllt, wie im Rest der Halle und das Essen sah wirklich köstlich aus, auch wenn ich es mal wieder mehr auf dem Teller herum schob, als wirklich davon zu essen.
Elias flitzte an mir vorbei und schlüpfte unter den Tisch, bevor sein Kindermädchen ihn zufassen bekam. Irgendwie erinnerte ich mich daran, dass ich dieses Spiel auch so einige Male mit meinem Kindermädchen gespielt hatte. Nur war ich da schon weitaus älter gewesen.
Etwa eine halbe Stunde, nachdem wir uns gesetzt hatten, tauchte mein Alias-Vater zusammen mit Nikolaj am Tisch auf. Als mein Verlobter sich neben mich setzte und mich dann auch noch überraschend am Bein berührte, zuckte ich so heftig zusammen, dass ich mir das Knie am Tisch anschlug. Natürlich so, dass es auch jeder mitbekam.
Nikolaj kniff die Lippen zusammen. Ich sah die Kränkung in seinen Augen, überspielte das Ganze aber mit einem dummen Spruch, der keinen, über meine Reaktion hinwegtäuschen konnte.
Verdammt. „Wenn ihr mich mal einen Moment entschuldigt.“ Ich legte meine Serviette auf den Tisch und erhob mich vom Stuhl. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich eigentlich wollte, aber vom Tisch weg, war für den Anfang eine ganz gute Idee. Leider fing Prinz Manuel mich auf halbem Wege durch den Saal ab.
„Würdest du einen Moment mit mir kommen?“
Oh nein. Alarmiert schaute ich zurück zum Tisch. Hatte ich mich verraten? „W-warum?“
„Ich möchte nur kurz mit dir sprechen.“ Er sah mich sehr eindringlich an. „Unter vier Augen.“
Nein, das beruhigte mich nicht im Mindesten. „Was hab ich getan?“
„Nichts.“
Warum hatte ich trotzdem das Gefühl, in eine Falle zu tappen, wenn ich mit ihm mitgehen würde?
„Komm.“ Er deutete mir ihm zu folgen und da es sicher einige Fragen aufgeworfen hätte, wenn ich in die anderen Richtung davongelaufen wäre, schluckte ich meine Unsicherheit hinunter und folgte ihm in einen Nebenraum, den er als das rote Zimmer bezeichnete. Und ja, der Name passte, nicht nur die Wände und der Boden, nein auch die Einrichtung war in diesem Farbton gehalten.
Bis auf uns beide, war er leer, da er nicht für die Gäste freigegeben war und unsere Umbras draußen geblieben waren. Sonst würden hier wahrscheinlich Pärchen rumknutschen und andere nicht jugendfreie Dinge miteinander treiben.
Nachdem Manuel die Tür geschlossen hatte, ließ er sich auf dem Samtsofa nieder und musterte mich sehr eindringlich. „Möchtest du dich nicht setzten?“
Eigentlich nicht, aber wenn er schon so fragte, war es vielleicht angebracht. Also sank ich etwas steif in einen der beiden Sessel.
„Ich freue mich, dass es dir besser geht.“
Das taten hier irgendwie alle. „Das liegt an den lustigen Pillen, die Ambrosius mir verschreiben hat.“
Sein Mundwinkel zuckte. Tatsächlich, ich hatte es genau gesehen. Aber es verschwand genauso schnell wieder, wie es aufgetaucht war. „Hat dir schon mal jemand erzählt, warum wir verpflichtet sind, uns mit dem einundzwanzigsten Lebensjahr einen Gefährten zu nehmen?“
Das Schrillen der Alarmsirenen in meinem Kopf wurde lauter. Er wollte also wirklich mit mir über Nikolaj reden. Ich musste wachsam sein. „Nein.“
„Vor ein paar Jahrhunderten, als Königin Sif den Thron besteig, gab es dieses Gesetz noch nicht.“
Sif? Was war das denn für ein Name?
„Weißt du was passiert, wenn ein neuer Alpha gekrönt wurde?“
Das wusste ich. Daran erinnerte ich mich dank Xaverine noch sehr gut. „Alle anderen aus seiner Familie gehen in den einfachen Adel über. Nur der König, beziehungsweise die Königin und sein, oder ihr Gefährte und die direkten Nachkommen bleiben Alphas.“
„Das ist richtig. Und was glaubst du, was passiert, wenn der Alpha des Rudels keine Nachkommen zeugt?“
Ähm … viel Freizeit? „Keine Ahnung.“
„Es muss ein neuer Alpha her, nachdem der Alte verstorben ist und das führt zwangsläufig zu gewalttätigen Unruhen im Rudel, weil jeder dahergelaufene Lykaner seinen Anspruch auf diesen Platz erheben will.“ Er lehnte sich vor und stützte die Ellenbogen auf die Knie. „Königin Sif Canavar war lesbisch. Daher hat sie nie Nachkommen gehabt. Lykaner hatten noch nie etwas gegen diese Art von Liebe, wir sind da nicht so engstirnig wie die Menschen, aber aufgrund ihrer Neigung, gab es nach ihrem Tod niemanden, der ihren Platz einnehmen konnte. Damit wurden blutige Kämpfe im Rudel eröffnet, die nicht selten tödlich ausgingen. Mehrere Jahre, wechselten so die Alphas innerhalb von Monaten, bis einer meiner Vorfahren seinen Platz behaupten konnte.“
Darum hatte die Familie jetzt wohl auch einen anderen Nachnamen, als die damals.
„Doch auch er konnte erst aufatmen, als seine Söhne und Töchter alt genug waren, um sich selber verteidigen zu können. Es war eine schlimme Zeit, die uns vielen Gefahren ausgesetzt hat. Ohne fähigem Alpha fällt das Rudel auseinander und damit eine solche Situation nicht mehr auftreten kann, hat mein Vorfahre König Roan Amarok, ein Gesetzt erlassen, welches uns dazu zwingt, den Führungsstand aufrecht zu erhalten.“
Also hatte ich dem Idioten meine Zwangsehe mit Nikolaj zu verdanken.
„Cayenne, ich weiß es ist dir unangenehm einen Mann zum Gefährten zu nehmen, den du im Grunde gar nicht kennst.“ Er sah mich ernst an. „Besonders wenn dein Herz an jemand anderem hängt.“
Das machte mich für einen Moment sprachlos. Woher wusste er das? Hatte er irgendwas mitbekommen? Hatte ich mich nicht vorsichtig genug verhalten? „Ich … ich …“
„Du brauchst es nicht zu bestreiten. Jeder der dich ein wenig beobachtet, kann es sehen. Ich weiß nicht wer es ist und ich will es auch gar nicht wissen, aber egal was du fühlst, es ändert nichts an dem was du tun musst. Du bist eine Prinzessin. Mit deiner Geburt wurde dir eine Last auferlegt, die nur wenige verstehen, aber um den Frieden zu wahren, musst du sie mit erhobenem Haupt annehmen. Es geht hierbei nicht um dich, es geht allein um das Rudel. Es geht immer um das Rudel.“
Ich kniff die Lippen zusammen und senkte den Blick auf den Boden. Das wusste ich doch schon alles, das brauchte er mir nicht mehr zu sagen.
„Weißt du, als ich damals meine Alica geheiratet habe, hat meine Mutter mir einen guten Ratschlag erteilt. Wenn du nicht bekommst was du liebst, musst du lieben was du bekommst.“
Lieben was ich bekam? Ich sollte Nikolaj lieben? Den Mann, der mich erpresste und um mein Leben betrog?
„Klammerst du dich zu sehr an deine Vergangenheit, verlierst du deine Zukunft.“ Mein Vater/Onkel erhob sich von seinem Platz und ging zur Tür, doch bevor er hinaus ging, sagte er noch: „Sprich mit Nikolaj. Er mag dich wirklich und das ist ein Geschenk, wie es uns nur selten vergönnt ist.“ Die Musik wurde kurz lauter, als er den Raum verließ, dann war ich allein.
Wie bitte sollte ich Nikolaj lieben? Er konnte froh sein, wenn ich nicht eines Nachts auf den Gedanken kam, ihn einfach Kissen ins Gesicht zu drücken. Das was Prinz Manuel sagte, war einfach nicht machbar.
Andererseits, wollte ich wirklich den Rest meines Lebens an Raphael festhalten? Oder darauf warten, das Sydney seine Komplexe verlor, weil er ja nur ein Omega war? Und mit Jegor im Nacken war ich sowieso an Nikolaj gebunden da führte einfach kein Weg dran vorbei.
In dieser Konstellation würde ich niemals glücklich werden, aber … wenn ich aufhören könnte Nikolaj als den Feind anzusehen und es irgendwie schaffte, auf eine freundschaftliche Basis mit ihm zu kommen, dann … was? Wäre mein Leben wieder in Ordnung? Würde ich nicht mehr so leiden? Das war nichts weiter als Wunschdenken.
Ich saß noch sehr lange allein in dem kleinen Raum, aber wie ich es auch drehte und wendete, ich sah einfach keinen Weg, wie aus dieser Situation etwas Gutes entwachsen konnte. Die kleinste Berührung von Nikolaj reichte aus, damit ich zusammenzuckte. Und wenn ich mit ihm sprach …
Ich runzelte die Stirn. Hatte ich eigentlich schon jemals richtig mit Nikolaj gesprochen? Eigentlich nicht, wie ich mir eingestehen musste. Im Grunde wusste ich gar nichts über ihn, außer dass er Jegors Sohn war.
Wenn ich das ändern würde, vielleicht … keine Ahnung, vielleicht würde ich da dann eine Seite an ihm finden, wie ich mögen könnte – wenigstens ein bisschen – denn das ich aus dieser Nummer nicht mehr heraus kam, war eine unumstößliche Tatsache.
Okay, ich würde es versuchen. Ich hatte keine Ahnung, ob es überhaupt funktionieren konnte, aber ich würde es versuchen. Nicht um seinen Willen, sondern wegen mir. Ich musste einfach einen Weg finden, mit dem ich leben konnte.
Bis ich es dann allerdings schaffte meinen Hintern zu erheben und wieder hinaus zu den Feiernden zu gehen, um meinen Plan in die Tat umzusetzen, verging noch ein wenig Zeit und so überraschte es mich gar nicht, als ich beim Blick auf die Uhr über Isaacs Thron feststellte, dass in dreißig Minuten schon Mitternacht war.
Der Tisch der Alphas war bis auf Manuel und Nikolaj verwaist. Mein Onkel sprach mit ihm, doch Nikolajs Aufmerksamkeit galt von dem Moment an, als ich den roten Raum verließ, mir. Er hatte gewusst, dass ich hier drin war. Natürlich hatte er das, Manuel hatte es ihm sicher gesagt.
Ich hatte vielleicht den halben Weg zum Tisch zurückgelegt, als ich nochmal stehen blieb. „Ginny? Kannst du mir eine Jacke besorgen?“ Konnte sie. Es dauerte zwar ein wenig, aber dann überreichte sie mir einen Wintermantel, mit dem ich zur großen Terrassentür trat. Ich gab Nikolaj ein Zeichen, dass er zu mir kommen sollte, zog den Mantel an und trat dann nach Draußen in die winterliche Kälte.
Der Himmel war so klar, dass ich jeden einzelnen Stern am Firmament sehen konnte. Der Schein des abnehmenden Mondes erfreute mein Gemüt, während sich vor meinem Mund Atemwölkchen bildeten. Es war ein wenig einsam hier draußen, nur wenig Menschen hatten sich in den Garten gewagt, aber das würde sich bald ändern, denn bis zum neuen Jahr war es nicht mehr lange hin.
Was es für mich wohl bereithalten würde? Ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich wissen wollte.
Als sich die Tür hinter mir öffnete, würde es einen kurzen Moment etwas lauter. Ich hörte Schritte auf mich zukommen und wusste auch ohne hinzusehen, dass es Nikolaj war. „Ich mag Gewitter, weißt du? So klare Nächte wie heute sich schön, aber nur wenn es donnert und blitzt und der Regen wie ein Sturm übers Land zieht, kann ich mich richtig entspannen.“
„Das ist … ungewöhnlich.“
Ich schaute Nikolaj einen Moment an und stellte fest, dass auch er sich einen langen Wintermantel besorgt hatte. „Was an mir ist schon gewöhnlich?“ Das war ich früher einmal, ein ganz normales Mädchen. Aber das war schon lange vorbei. „Und du? Bist du eher der Sonnenscheintyp?“
„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich mag den Winter. Wenn es gescheit hat und alles unter einer Schicht Schnee bedeckt ist, dann entsteht diese unendliche Ruhe, die nicht mal die Natur selber zu durchbrechen vermag.“
Ich schnaubte und schüttelte den Kopf. „Lass uns ein wenig spazieren gehen“, forderte ich ihn auf und setzte mich in Bewegung. Ginny und Logan blieben in respektvollem Abstand, sodass wir uns in Ruhe unterhalten konnten. Doch irgendwie fiel mir kein Thema ein und so wurde das Schweigen zwischen uns sehr schnell unangenehm. Was sollte ich auch mit ihm besprechen? Unsere rosige Zukunft?
Wir hatten das Labyrinth fast erreicht, als ich sah wie Nikolaj den Mund öffnete, doch auch er schien nicht ganz sicher zu sein, was das hier werden sollte und so brauchte er drei Anläufe, bevor er es endlich schaffte seine Gedanken in Worte zu fassen. „Es gibt so viel, was ich dir gerne sagen möchte, aber ich weiß nicht wo ich anfangen soll.“
„Wie wäre es mit dem Anfang beginnst“, schlug ich vor. Der Eingang des Labyrinths trieb uns näher zusammen. Die Wege waren nicht breit genug, um einen großen Abstand zu wahren. Ich empfand es als unangenehm, so dicht neben ihm zu laufen, spürte aber keine Panik, nur eine gewisse Unruhe.
Als die Stille zwischen uns sich wieder ausbreitete, wagte ich ein Schritt nach vorne. Es gab da nämlich noch etwas, das ich unbedingt wissen musste. „Was ist mit …“ Pause. „Vivien und Anouk geht es ihnen … Ich meine, es ist doch nichts …“ Verdammt!
„Sie sind noch in ihrem Dorf“, griff Nikolaj mein versuch auf Konversation sofort auf. „Ich habe meinem Vater nichts von deinem Zusammenbruch erzählt. Zwar hat er Gerüchte gehört, aber die habe ich runtergespielt. Ich wollte nicht, dass er dir noch mehr schadet. Ich möchte, dass du gesund wirst.“
„Danke.“ Und das meinte ich ehrlich. Meine Erleichterung war enorm. Es war, als fiele mir ein zentnerschwerer Stein vom Herzen.
„Du brauchst mir nicht zu danken.“
Vielleicht hatte Prinz Manuel ja Recht und Nikolaj mochte mich wirklich. Das war zwar ziemlich verrückt und irgendwie verquer, aber im Bereich des Möglichen. Ich hatte schon viele Dinge gesehen, die ich früher für unmöglich gehalten hatte, warum also keinen Erpresser, der mich wirklich mochte? Obwohl ja eigentlich sein Vater derjenige welche war, der mich hier erpresste. Nur dass Nikolaj nichts dagegen unternahm, sondern einfach mitspielte.
Nach einigen weiteren Minuten der Stille, erkannte ich den Ort, ab dem wir gelandet waren. Okay, versuchen wir mal nett zu sein. „Hier haben Sydney und ich früher immer gesessen, damals, bei meinem ersten Besuch im Hof.“ Ich zeigte auf den keinen Platz in der Sackgasse. „Siehst du die Hecke dort? Da bin ich einmal rüber geklettert und anschließend fast auf Sydney gelandet.“
„Warum bist du über die Hecke geklettert?“
Ich zuckte die Schultern. „Ich hatte Unterricht und musste mich um den Weg zu finden zum ersten Mal auf meine Nase verlassen. Damals kannte ich mich noch überhaupt nicht im Labyrinth aus und ich habe Sydney auf der anderen Seite der Hecke gewittert. Da ich aber schon ewig herumgeirrt war, nahm ich dann halt die Abkürzung.“ In Erinnerung an diesen Tag schlich sich ein kleines Lächeln um meine Lippen. „Außerdem wartete nach dem Unterricht noch eine Party auf mich, die ich unter keinen Umständen verpassen wollte.“
Nikolaj erwiderte mein Lächeln schüchtern. „Trotz deines Alters, hast du schon so viel erlebt. Damit kann ich mich nicht mithalten.“
„Naja, bis ich herausfand, was um mich herum so alles los war, bin ich eigentlich sehr behütet aufgewachsen.“
Wir schlenderten weiter.
„Mein Vater hat mir aber erzählt, dass du schon vorher ein Wildfang gewesen sein sollst.“
Dem konnte ich nicht widersprechen. „Das aufwachsen in einem goldenen Käfig, hat mich nach Freiheit suchen lassen.“ Ich schob meine Hände in meine Jackentaschen. „Aber ich kann mir vorstellen, dass es auch nicht ohne ist, bei einem Sk- … deinem Vater aufzuwachen.“
Jetzt war es an Nikolaj die Schultern zu zucken. „Eigentlich habe ich von Vaters Geschäften kaum etwas mitbekommen. Ich wurde die ersten paar Jahre von einer Bonne aufgezogen.“
„Einer was?“
Er lächelte. „Eine Art Kindermädchen. Meine Mutter starb bei meiner Geburt.“
„Oh, das tut mir leid.“
„Danke“, sagte er, ließ das Thema dann aber auch direkt wieder fallen. „Als ich dann alt genug war, kam ich auch schon ins erste Internat. In solchen Einrichtungen bin ich praktisch aufgewachsen. Ich war, wenn überhaupt, nur in den Ferien zu Hause. Ich glaube nicht, dass mein Vater viel mit mir anfangen konnte. Mein Leben bestand immer nur aus Lernen.“
„Aber in Internaten ist doch immer viel los, besonders wenn man in die wilde Phase seines Lebens tritt.“ Natürlich nur, wenn es stimmte, was in Filmen immer gezeigt wurde. Ich selber hatte ja das Glück, niemals in einem gelandet zu sein. „Da musst du doch bestimmt auch etwas erlebt haben. Partys, wilde Knutschereien, Nacktbaden im See.“
Er lachte. „Ich glaube, da muss ich dich enttäuschen. Bei mir wurde immer sehr genau auf Disziplin und Anstand geachtet, schließlich sollte ich einmal der Gefährte einer Prinzessin werden. Also wurde ich auch als solcher erzogen.“
„Das hört sich furchtbar langweilig an.“ Ich sog die Nachtluft tief in die Lungen und genoss den sauberen Duft. „Bis du den nie ausgebrochen und hast dich amüsiert? Einfach mal getan was du wolltest und auf jegliche Disziplin geschissen?“
„Nein. Meine wilde Phase, wie du sie nennst, bestand daraus meine Dozenten heimlich zu verfluchen. Es wurde auch peinlichst genau darauf geachtet, dass ich nicht zu viel Kontakt mit Mädchen hatte.“
„Oh ja, das kenne ich. In dieser Hinsicht hat man bei mir auch sehr genau aufgepasst, auch wenn ich es erst später verstanden hatte.“ Ich musste nur an Yannick Scherer denken. „Es wird wohl nicht gern gesehen, wenn zukünftige Alphas sich allzu freizügig in fremden Betten amüsieren.“
Er lächelte über meine Wortwahl. „Als ich dann hörte, dass ich dich schon vor deinem einundzwanzigsten Geburtstag kennenlernen durfte, habe ich mich richtig gefreut. Ich hatte ja keine Ahnung dass die Prinzessin, der ich versprochen wurde, gar keine Prinzessin sein wollte. Mit Händen und Füßen soll sie sich gegen ihr Geburtsrecht gesträubt haben.“
Ich lächelte. Das war noch nett ausgedrückt.
„Als ich dann mit meinem Vater auf Wunsch von König Isaac eingeflogen bin und wir statt einer sturen Prinzessin nur ein Haufen Wächter fanden, die nach ihr suchten, ist man Vater ziemlich wütend geworden.“
Ja, davon hatte ich gehört. Samuel war bei sowas immer eine sehr gute Informationsquelle gewesen. „Und du?“
„Ich war enttäuscht. Schließlich wusste ich von deinem Tanzball ja schon wie hinreißend du aussiehst und habe vor meinen Freunden ein wenig damit angegeben. Als du dann nicht hier warst und niemand dich finden konnte, war das schon ein derber Schlag für mein Ego.“
„Soll das heißen, dass du noch nie mit einem Mädchen zusammen warst?“ Verdammt, wo kamen den diese Worte plötzlich her?
Er lächelte verschmitzt. „Da muss ich dich leider enttäuschen. Auch wenn meine Phasen nicht mal im Ansatz so wild wie deine waren, wusste ich mich von Zeit zu Zeit doch mit einem Mädchen zu amüsieren.“
„Unsere Aufpasser waren wohl doch nicht so auf Zack, wie sie sich selber eingeredet haben.“
„Nein, mit Sicherheit nicht.“
Wir bogen um eine Ecke. Er streifte meine Hand, und ich zuckte automatisch davor zurück. Verdammt! Lass dir nichts anmerken, tu einfach so, als wäre nichts passiert. „Und? Was treibst du sonst so? Erzähl mir was von dir.“
„Was möchtest du denn wissen?“
Ich zuckte gleichgültig mir den Achseln. „Keine Ahnung. Was ist dein Lieblingsessen?“
Da grinste er. „Ich liebe Schokolade.“
„Ehrlich?“ Ich musterte ihn auffallend. „Sieht man dir aber nicht an.“
„Und du? Was magst du am liebsten?“
„Ich könnte sterben für saure Gurken. Keine Ahnung warum, aber ich liebe die Dinger. An zweiter Stelle stehen dann Spagetti und an dritter Hühnchen. Und Chips, ich liebe Chips. Ich liebe auch Schokolade und Gummibärchen und Fisch. Fisch ist echt lecker.“ Ich überlegte kurz. „Eigentlich esse ich so ziemlich alles, solange kein Hund auf der Dose abgebildet ist.“
Er lächelte. „Es muss schwer gewesen sein, von einem Tag auf den anderen in ein völlig neues Leben geworfen zu werden.“
„Du machst dir keine Vorstellung.“ Den bitten Ton aus meiner Stimmer herauszuhalten, schaffe ich einfach nicht. Es war auch kein Thema, dass ich jetzt unbedingt erläutern wollte.
Nikolaj verstummte für einen Moment. „Weißt du, ich hatte nie gewollt, dass es so zwischen uns anfängt. Ich habe den Plänen meines Vaters nicht zugestimmt. Ich wollte nicht mit dir verheiratet werden, nur weil du dazu gezwungen bist. Deswegen hatte ich gehofft, dass du, wenn du mich nur besser kennen würdest, dich von alleine für mich entscheidest.“ Er seufzte. „So wie es jetzt ist, wollte ich das nie.“
„Und trotzdem hast du dich nicht gegen deinen Vater gewehrt.“
„Gegen meinen Vater kann sich niemand wehren“, sagte er, als hätte er es leid, unter diesem Mann und seinen Spielchen zu stehen.
Zu meiner Überraschung, konnte ich ihn verstehen. „Weil er immer bekommt, was er will.“
„Ja.“ Ganz schlicht.
Okay, vielleicht saß ich ja nicht alleine in diesem Boot. „Hör zu, Nikolaj, ich habe mir vorgenommen, zu versuchen, mich auf die Sache einzulassen, aber ich weiß nicht, ob ich es schaffe. Es ist nicht leicht zu vergessen, dass ich nur hier bin, weil ihr mich dazu zwingt.“ Da konnte er es noch so ehrlich mit mir meinen. An dieser Tatsache war einfach nicht zu rütteln.
„Und weil es da einen anderen gibt.“
Darauf gab es nichts zu erwidern.
Er seufzte, als hätte er nichts anderes erwartet. „Ich werde dir so viel Zeit geben, wie du brauchst.“
„Danke.“ Da blieb nur zu hoffen, dass er es wirklich so meinte.
„Es ist schon fast Mitternacht“, sagte Nikolaj dann mit einem Blick auf seine Uhr.
Ich sah hinauf in den klaren Nachthimmel. „Wir schaffen es nicht mehr rechtzeitig zurück.“
„Dann … bleib doch mit mir hier“, schlug Nikolaj vor. „Wir können das Feuerwerk bestimmt auch von hier aus sehen.“
„Nein, die Hecken sind im Weg, aber ich kenne einen besseren Platz, ganz in der Nähe.“ Ich nahm seine Hand in meine. Es war ein seltsames Gefühl es freiwillig zu tun. „Komm.“
Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er drückte meine Hand und folgte mir.
Ich wusste genau wo wir waren und führte ihn sicher durch die verschlungenen Pfade, die mich früher mehr als einmal in den Wahnsinn getrieben hatten.
Ich führte ihn an einen großen Platz, in deren Mitte die Statur eines stolzen Wolfes stand, dessen Fell in einem unsichtbaren Windzug wehte. Es war die Statur von Königin Chenoa, die Frau, die das Rudel aus Grönland hier her gebracht hatte.
„Noch eine Minute“, sagte Nikolaj mit einem weiteren Blick auf seine Uhr.
Ich schaute mit drauf und als sich der Sekundenzeiger immer weiter auf Mitternacht zubewegte, begannen wir gemeinsam rückwärts zu zählen. „… drei … zwei … eins.“
Und dann wurde die Nacht wurde zum Tag.
Hunderte von Raketen und Lichtern stoben in den Himmel und explodierten in einem bunten Lichtregen. Ein Chor aus Wolfsgeheul stimmte in das Donnern und Blitzen mit ein. Weitere Geschosse wurden gezündet.
Nikolaj drückte meine Hand, die ihn nicht entzogen hatte. „Frohes neues Jahr, Cayenne.“
Ich lächelte ihn an. „Frohes neues …“
Plötzlich gab es eine Detonation, die alle anderen überragte. Es knackte, krachte, und knirschte. Der Boden unter mir bebte so stark, dass Nikolaj meinen anderen Arm ergriff, damit ich nicht mit der Nase voraus im Dreck landete. Ein weiterer ohrenbetäubender Knall trieb durch die Nacht. Und dann hörte ich die Schreie.
°°°°°
Kein Licht erhellte mehr den Himmel, keine freudigen Rufe und begeistertes Heulen, dass das neue Jahr einleitete. Da waren nur noch diese Schreie, Rauch der zum Himmel stieg und ein seltsames Flackern vor dem Schloss, das unheimliche Schatten in die Nacht malte.
Nikolaj regte den Hals, aber durch die hohen Hecken war es ihm genauso unmöglich zu erkennen, was da los war, wie mir. „Was war das?“
Ich fragte nicht erst lange, ich setzte mich sofort in Bewegung. Meine Beine trugen mich eilig auf den vertrauten Wegen zwischen den Hecken entlang. Schon nach wenigen Sekunden wurden die Schreie lauter und ein Geruch, der sich mir die Nackenhaare aufstellen ließ, trieb durch die Luft. Ein rauchiger Geruch nach Angst, verbanntem Fleisch und Feuer. Es war der Geruch von Tod.
Als ich die letzten Meter hinter mich brachte, wehte mir eine dunkle Staubwolke entgegen. Die Hecken schwelten und hatten so große Löcher, dass ich problemlos hätte hindurch klettern können. Ein paar Meter waren komplett weggerissen, einfach entwurzelt … von einem Steinklumpen? War hier ein Meteorit eingeschlagen, oder was? Qualm brannte mir in den Augen. Noch zwei Schritte, einer und dann sah ich es.
„Oh mein Gott.“ Mit vor Schrecken geweiteten Augen starte ich das Bild vor mir an. Ich merkte kaum, wie Nikolaj schwer atmend an meiner Seite hielt und beim Anblick dessen, was sich uns bot, kein Wort über die Lippen brachte.
Ein Teil des Ostflügels war eingestürzt, genau auf dem Platz, wo die Alphas das neue Jahr einläuten hatten. Das Gemäuer war einfach runter gekracht. Ich konnte in ein paar der Zimmer hineinsehen. Die Trümmer lagen in einem Umkreis von mehr als hundert Meter verteil und begruben alles unter sich, was ihnen im Weg gekommen war.
Die Schreie und Klagen hallten durch die Nacht. Überall waren Trümmerhaufen in Brand geraten. Ich sah einen Schreibtisch, der hell in Flammen stand, ein Kinderbett, an dem noch traurig ein Mobile hing. Ich sah Verletzte und … Tote. Leere Augen in überraschten Gesichtern.
Lykaner strömten aus dem Schloss, Vampire kamen aus der Menagerie herbeigeeilt. Sie alle blieben im Augenblick der Erkenntnis einen fassungslosen Moment stehen, bevor sie Steine und Trümmerbrocken beiseite räumten, um den Verletzten zu helfen.
Drogan riss verbissen an einem großen Klumpen, der sich einfach nicht vom Fleck bewegen wollte. Sein Gesicht war mit Staub und Blut verklebt. Einer von Manuels Umbras lag ein Stück weiter bewegungslos am Boden. Er hatte eine stark blutende Wunde am Kopf. Da, zwischen den Trümmern schaute eine Hand heraus, aber sie bewegte sich nicht.
Und ich? Ich stand einfach nur da, unfähig etwas zu tun, unfähig etwas zu sagen, unfähig mich irgendwie nützlich zu machen. Ich war einfach erstarrt.
Wächter kamen aus allen Richtungen herbeigeeilt, Doktor Ambrosius kniete neben einem Mann, dessen Arm seltsam abgewinkelt war. Ich hörte das Wimmern der Verwundeten und das Weinen der Überlebenden.
„Kannst du jemanden aus deiner Familie entdecken?“, fragte Nikolaj.
Bei dieser Frage gefror mir mein Blut bis ins Mark. Hastig ließ mein Blick von einer Seite zur anderen schnellen, suchte mit den Augen alles ab, was ich durch den Staub und den Rauch erkennen konnte. Wo waren sie, wo waren die Alphas? Wo waren Samuel und Kai? Wo war der kleine Elias, der heute zum ersten Mal in seinem Leben Silvester bis ins neue Jahr feiern durfte? Wo war Diego …
Bei dem Gedanken, was und wer alles unter diesem Schutthaufen Bergraben sein könnte, setzen sich meine Beine plötzlich von ganz alleine in Bewegung.
„Cayenne, wo willst du hin? Bleib hier, das ist gefährlich!“, rief er mir nach. „Cayenne!“
Ich lief weiter. Rannte zwischen Helfern, Verletzten und Toten hin und her. Sah in jedes Gesicht und hoffte jemanden zu erkennen und Gewissheit zu bekommen. Ich umrundete eine Frau, die aus einem Haufen gezogen wurde, das Bein seltsam verdreht, der Kopf in einem unnatürlichen Winkel abgeknickt, der Brustkorb eingedrückt. Das war Umbra Laiko, sie gehörte zu Kaidan.
Vor Entsetzen schlug ich die Hände vor den Mund.
Rufe wurden von der Fundstelle laut. Hinter Laiko wurde ein weiterer, viel kleinerer Leichnam geborgen. Die Augen geschlossen, sah er aus, als würde er schlafen, doch die Metallstange, die aus seiner Brust ragte, machte dieses Bild zunichte. Elias.
Alle Kraft wich aus meinen Beinen, ich sank einfach auf die Knie. Noch heute am Tisch hatte er gelacht und war auf der Feier wie ein kleiner Wirbelwind herumgerannt. Aber jetzt … jetzt würde er nie wieder irgendwo hinrennen. Sein Lachen würde niemals mehr durch die Schlossmauern hallen, er würde keine Bilder mehr malen, oder freudig draußen im Schnee spielen.
Warum? Warum war das Leben so grausam? Er war noch ein Kind verflucht noch mal, ein unschuldiges Kind!
„Cayenne!“ Nikolaj sank an meine Seite. „Cayenne, sieh mich an. Sieh nicht dort hin, sieh mich an.“ Er nahm mein Gesicht zwischen die Hände und drehte es von den Geschehnissen weg. Seine Brauen waren besorgt zusammengezogen. „Sieh mich an.“
Ich war so entsetzt, dass ich es einfach zuließ.
„NEIN!“ Ein Schrei voller Verzweiflung. „Mutter, nein!“
„Samuel“, flüsterte ich. Das war Samuel der da schrie. Diese Stimme hätte ich überall erkannt, auch wenn ich diesen verzweifelten Ton bei ihm noch nie gehört hatte. Er lebte. Samuel lebte! Ich machte mich von Nikolaj frei und rannte zur Quelle der leidgeplagten Rufe. Samuel, er lebte und ich musste mich vergewissern, dass es ihm gut ging.
Die Lykaner und Vampire die mir im Weg standen, schubste ich einfach zur Seite. In meinem Kopf gab es nur einen Gedanken, ich musste zu Samuel.
Als ich einen Trümmerhaufen umrundete, riss ich mir den Arm ein einem spitzen Metallteil auf. Ich merkte es nicht einmal. Und dann entdeckte ich ihn. Er stand bei einem Steinbrocken, der aussah, als wäre es ein Stück aus einer Wand. Halb verwandelt, Tränen liefen ihm über die Wangen und seine verzweifelten Schreie zerrissen die Nacht. Hinter ihm war Diego. Oh Gott, auch Diego lebte. Er hatte die Arme um ihn geschlungen und hielt ihn fest, damit er nicht näher an die Trümmer heran kam. Samuel wehrte sich mit allem, was er aufbringen konnte, strampelte, kratzte und schlug um sich. Diego war kaum in der Lage ihn zu bändigen.
Ich folgte Samuels Blick und bemerkte den schlafen Körper unter dem Wandstück, der gerade von mehreren Werwölfen freigelegt wurde. Schwarzes Haar, das Gesicht schlaf, der Mund leicht geöffnet, die Augen geschlossen und alles verschmiert mit seinem eigenen Blut.
Alessandro. Oh Gott, das war Samuels Vater.
Was war hier nur geschehen? Warum war die Außenwand des Ostflügels eingestürzt? Wie hatte das nur passierten können?
„ACHTUNG!“
Ich drehte mich gerade noch rechtzeitig herum, um zu sehen, wie Manuel in die Trümmer zu Prinzessin Sadrija stürzte, die gerade aus dem Schutt gezogen wurde. Es knirschte. Mein Alias-Vater stieß seine Tochter grob zur Seite, dann sah ich nur noch, wie ein weiterer Teil der Mauer herunterkam und den Prinzen unter sich begrub.
„Vater!“
Steinchen und Staub trieben durch die Luft. Ich sah Helfer durch die Gegend rennen, Balken besorgen, mit der sie die restliche Wand abstützen konnten. Ich sah wie sie sich etwas zuriefen, aber ich hörte es nicht, hörte gar nichts mehr. In meinen Ohren herrschte nur noch Rauschen. Das was hier vor meinen Augen geschah, war so unwirklich, dass ich es nicht glauben konnte. Es wollte einfach nicht in meinen Kopf.
Wo gerade noch Prinz Manuel gestanden hatte, hing eine schlafe Hand zwischen den Gesteinsteilen hervor. Vampire und Werwölfe entfernten das Geröll so schnell wie sie es wagten, aber die mussten aufpassen, dass nicht noch ein Teil der Wand nachrutschte, oder sich weiterer Schutt über den Prinzen ergoss. Vielleicht lebte er noch, vielleicht konnten sie ihn noch retten.
Prinzessin Sadrija saß ungläubig in den Trümmern. Was sie gerade erlebt hatte, wollte einfach nicht in ihren Kopf, völlig bewegungslos hockte sie da und kam erst auf die Beine, als Wächterin Victoria sie an die Hand nahm und vom Schauplatz wegführte. Ihr Gesicht war wie versteinert, selbst ihre Augen wirkten leblos
Großwächter Edward kam herbei und befahl, dass man die Alphas hier wegbrachte, woraufhin Diego seinen Schützling fester packte und ihn wegtrug.
Seine Schreie hallten noch lange durch die Nacht. Sein Vater war tot und würde niemals wieder zu ihm zurückkehren. Nichts würde mehr wie vorher sein.
Irgendwann wurde auch ich am Arm berührt. Umbra Joel stand bei mir. „Kommt, Prinzessin Cayenne, Ihr müsst hier weg.“
Ohne jeglichen Widerstand, ließ ich mich von ihm wegführen. Weg von den Trümmern, weg von den Schreien, weg von all dem Leid und dem Schmerz. Was war mit Kaidan und mit Blair? Hatten der König und die Königin überlebt? Lag auch Alica unter diesen Trümmern?
Und Sydney? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er dort draußen bei den Alphas gewesen war. Das stand ihm als Omegawolf nicht zu, doch wie konnte ich mir sicher sein? Was wenn ich mich irrte?
Stunden Später saß ich im Speisesaal auf dem Boden. Samuels Kopf war in meinen Schoss gebettet. Ich versuchte ihm zu zeigen, dass er nicht alleine war, aber weder Worte noch Taten konnten seinen Tränen Einhalt gebieten.
Ich hatte keine Tränen. Vielleicht war ich in den Jahren so abgestumpft, dass mich der Tod einfach nicht mehr berühren konnte. Aber Samuel berührte er noch. Es war sein Vater, der dort draußen tot unter den Trümmern lag, zumindest glaubte er das, weil er nicht die Wahrheit kannte. Er würde nie mehr sein Lachen hören, nie mehr mit ihm sprechen können, oder einfach nur einen Blick tauschen. Alessandro war für immer weg.
Doktor Ambrosius hatte Samuel ein Beruhigungsmittel gegeben, genau wie Sadrija, die wie eine leere Hülle auf einem der Stühle hockte. Die Ellenbogen hatte sie auf den Tisch gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben. Seit sie Draußen auf dem Steinhaufen nach ihrem Vater gerufen hatte, war sie stumm geblieben. Ich fand es beunruhigender als Samuels leises weinen.
Prinz Manuel war kurz nach dem Steinschlag geborgen worden – lebend – aber es stand wohl nicht gut um ihn. Von Prinzessin Alica war bisher genauso wenig etwas gefunden worden, wie von Königin Geneva oder Kaidan. Aber König Isaac hatten sie auftreiben können. Tot. Es soll kein schöner Anblick gewesen sein.
Die Ursache für das Unglück war noch nicht geklärt worden. Mann wusste nur, dass es zwei aufeinanderfolgende Explosionen gegeben hatte, die die Außenmauer zum Einsturz gebracht hatten. Ob es nun ein Anschlag war, oder eine Gasleitung, konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht geklärt werden. Im Moment gab es einfach noch Wichtigeres zu tun.
Als sich Schritte von draußen nährten, sah ich auf. Großwächter Edward kam zurück. Er erschien alle halbe Stunde, um uns auf dem Laufenden zu halten. Direkt hinter ihm war Nikolaj. Mein Verlobter sah ziemlich mitgenommen aus, die Augen vom Rauch und dem Staub gerötet, die Kleidung dreckig und zerrissen. Er musste mitgeholfen haben. Der Zug um seinen Mund war grimmig. „Wir haben Königin Geneva gefunden.“
Ich hob den Blick. „Lebt sie?“
„Ja.“
„Aber?“
Nikolaj rieb sich die Stirn und verschmierte so den ganzen Dreck. „Sie ist bewusstlos, doch die Sanitäter sagen, dass sie es überleben wird.“
Da war noch mehr, ich sah es ihm an. „Das ist noch nicht alles“, half ich ihm auf die Sprünge.
Er schüttelte den Kopf und schaute dann bedauernd zu Samuel. „Wir haben Prinzessin Blair und auch Prinzessin Pandora gefunden.“ Er senkte den Blick und schüttelte den Kopf. „Wir haben nichts mehr für sie tun können.“
Blair und … Pandora? Aber … nein, Pandora war doch schwanger gewesen und …
Als Samuel zu zittern begann, drückte ich ihn fester an mich.
Tot, sie sind alle tot.
„Was ist mit Alica?“, fragte ich. „Und Kai?“
Er schüttelte den Kopf. „Bisher noch nichts.“
„Aber wir haben bisher nur einen kleinen Teil der Trümmer beiseite räumen können“, erklärte Edward. „Es ist gut möglich, dass die beiden in einem Hohlraum festsitzen und darauf warten, dass wir sie bergen. Noch geben wir die Hoffnung nicht auf.“
Von Prinzessin Sadrija kam etwas, das sich nach einem unterdrücken Schluchzen anhörte.
„Und sonst?“, fragte Diego. Genau wie Joel und Ginny, hielt er bei uns die ganze Zeit Wache. „Wer wurde noch gefunden?“
Der Wächter rasselte eine Reihe von Namen herunter, von denen mir nur zwei bekannt waren, Diego aber schien mit ihnen allen vertraut. Drei weitere Tote, vier Verletzte, davon zwei schwer. Sie waren bereits ins Krankenhaus nach Silenda gebracht worden.
„Haben sie Sydney Frey gesehen? Meinen Mentor?“, fragte ich dann. Ich hielt diese Ungewissheit nicht mehr aus.
„Ja, er ist draußen und hilft die Leute in den Trümmern zu finden.“
Er wurde also als Rettungspürhund genutzt. Mir gefiel es gar nicht, dass er in den Resten der Außenwand herum kletterte. Es konnte jederzeit ein weiteres Teilstück abrutschen und ihn erschlagen. Oder die Steine unter ihm konnten wegrutschen und ihn erdrücken.
Ein rundlicher Diener kam zu uns in den Saal geeilt. „Prinzessin Sadrija“, rief er. Sie reagierte nicht. Zögernd sprach er trotzdem. „Ich habe gerade Nachricht aus dem Krankenhaus erhalten. Der Zustand von Prinz Manuel hat sich verschlechtert. Die Ärzte glauben nicht daran, dass er die Nacht überlebt.“
„Können Sie ihr das nicht noch unverblümter vor den Latz knallen?“, knurrte ich. „Sie reden hier ja nur über ihren Vater.“
Der Mann wurde ein wenig blass. „Ich … ich … es tut mir leid, ich wollte nicht respektlos sein. Ich dachte nur, die Prinzessin sollte es erfahren, damit sie ins Krankenhaus fahren kann, um sich … naja …“
„Um sich von ihm zu verabschieden“, beendete ich seinen Satz. Auch wenn ich offiziell die Tochter von Prinz Manuel und Prinzessin Alica war, so wusste hier doch jeder, dass unser Verhältnis im besten Falle angespannt war. Deswegen hatte er die Nachricht nur für Prinzessin Sadrija angedacht.
Nun schluchzte Prinzessin Sadrija ganz eindeutig.
„Wahrscheinlich wäre es wirklich besser, wenn Ihr fahrt, Prinzessin Sadrija“, sagte Edward sanft. „Umbra Joel, Umbra Diego, begleiten sie die Prinzessin ins Krankenhaus.“
Diego und mein altes Kindermädchen, kamen den Befehlen umgehend nach. Als Prinzessin Sadrija sich zu mir umdrehte, sah ich das ihre Augen stark gerötet und sie Wangen feucht waren. Sie hatte die ganze Zeit lautlos geweint.
Fingerringend schaute der rundliche Diener von mir zu Nikolaj und eilte dann zum Großwächter. Er beugte sich vor, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern, was Edward scheinbar absolut nicht gefiel. „Lassen sie uns erstmal abwarten, Prinz Kaidan wurde ja noch nicht gefunden.“
„Aber …“
„Was ist denn los?“, mischte ich mich ein.
So wie die beiden mich daraufhin anschauten, verspürte ich plötzlich den dringenden Wunsch, nicht gefragt zu haben.
„König Isaac ist tot“, sagte Edward dann ganz direkt. „Der nächste in der Thronfolge wäre Prinz Kaidan, aber der wird noch vermisst und wir sind uns nicht sicher, in welchem Zustand wir ihn finden werden.“
Mir gefiel die Richtung, in die sich dieses Gespräch entwickelte, absolut nicht. „Und weiter?“
Hilfesuchend schaute er zu Nikolaj.
Mein Verlobter drückte einen Moment die Lippen aufeinander. „Falls wir Prinz Kaidan nicht lebend finden, bist du die nächste in der Thronfolge.“
Ich riss die Augen auf. „Das meinst du nicht ernst.“
Es ist höchst unwahrscheinlich, dass ich, oder einer aus unserer Generation jemals den Thron besteigt. Das hatte Kai einmal zu mir gesagt, mit genau diesen Worten. Du hast es versprochen, schrie ich innerlich, du hast gesagt, dass ich niemals auf dem Thron sitzen würde!
„Cayenne …“
„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht. Außerdem habt ihr Kai noch gar nicht gefunden, er könnte noch leben!“
Die Männer tauschten untereinander Blicke.
„Das hoffen wir natürlich“, sagte der weißhaarige Großwächter sofort. „Ihr solltet Euch nur vielleicht schon mal mit dem Gedanken vertraut machen, denn wenn …“
„NEIN!“, schrie ich und fuhr auf. Meine Stimme überschlug sich. Samuel sah mich erschrocken an. „Setzt Königin Geneva auf den Thron, oder Sadrija.“ Ich gestikulierte Richtung Tür. „Sie ist dafür viel besser geeignet als ich!“
„Das geht nicht“, erklärte Edward. „Königin Geneva besitzt nichts das Blut der Linie und Sadrija ist nicht nur jünger als Ihr, sie ist auch noch keine einundzwanzig. Ihr dagegen seid nicht nur die nächste Anwärterin auf den Thron, Ihr seid auch alt genug.“
„Nein.“ Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
„Cayenne.“ Als Nikolaj mich am Arm berührte, wurde mit mit einem Schlag schlecht. Nicht weil er es war, sondern weil mir bewusst wurde, was dieser Schritt für das Rudel bedeutete. Nicht nur, dass ich überhaupt nicht wusste, was eine Königin den ganzen Tag so trieb, ich stand außerdem unter der Fuchtel von Markis Schleim. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was geschehen würde, wenn ich ihm noch mehr Macht in die Hände gab.
„Vielleicht solltest du dich mit diesem Gedanken schon einmal anfreunden“, sagte Nikolaj.
„Er hat recht“, stimmte der Großwächter ihm zu. „An den Gesetzten ist nicht zu rütteln. Sollten wir Prinz Kaidan nicht lebend bergen können, seid Ihr die Nächste in …“
„NEIN!“, schrie ich. „Das mach ich nicht, ihr könnt mich dazu nicht zwingen!.“ Ich wirbelte auf dem Absatz herum und ergriff die Flucht.
„Cayenne.“ Nikolajs Stimme klang bittend.
„Nein, lasst mich in Ruhe und wagt es ja nicht, mir zu folgen!“ War die Welt denn verrückt geworden? Mir war es völlig gleich, dass ich die nächste in der Thronfolge sein sollte, ich würde diesen Posten sicher nicht annehmen, nicht mal wenn mein Leben davon abhinge.
Aber jetzt musste ich … ich wusste nicht was ich musste. Ich sollte … nachdenken, ich brauchte einen Ausweg und … verdammt. Sie konnten mich doch nicht zwingen, auf den Thron zu steigen. Oder? „Scheiße.“
Ohne die ganzen Leute um mich herum zu beachten, eilte ich durch die Einganghalle zur Bibliothek. Selbst hier waren ein Haufen Leute. Helfer und Gäste, die nichts anderes gewollt hatte, als mit den Alphas in das neue Jahr hinein zu feiern. Doch aus der Feier war eine Tragödie geworden und die wird mit jeder Minute schlimmer.
Jemand sprach mich an, doch ich konnte jetzt nicht mit den Leuten reden. Ich ließ ihn einfach stehen und eilte zwischen den Regalen bis ganz nach hinten durch. Sydneys Büro war offen, aber leer. Leider galt das gleiche für seine Kammer.
Ich stand mitten im Raum und war allein. Warum? Warum war er noch da draußen, wenn ich ihn hier drin brauchte? Das konnte er doch nicht einfach machen! Ich wusste, dass ich in dem Moment nicht rational dachte, aber die hatten mir gerade eröffnet, dass ich wahrscheinlich die neue Königin werden sollte. Ich sollte das Rudel als Alpha führen, mit Nikolaj an meiner Seite und Markis Jegor in meinem Schatten. „Das kann ich nicht, das darf ich nicht.“
Diese blöden Gesetze! Diese scheiß, beschissene Königin Sif, mit ihrem verfluchten, kinderlosen Dasein. Das war alles ihre Schuld! Nur weil sie keine Kinder in die Welt gesetzt hatte, würde das Rudel jetzt vor die Hunde gehen. Außer wenn ich es verhinderte, aber das konnte ich nicht tun.
Wie kamen sie überhaupt auf den Gedanken, dass ich für so viele Leute Verantwortung übernehmen könnte? Ich schaffte es doch nicht mal, mich um mich selbst zu kümmern, wie konnten sie mir da die Leben Hunderter, ja Tausender anderer übergeben? „Das geht nicht, sie müssen jemand anders nehmen.“ Sollten die doch Prinzessin Sadrija auf den Thron setzten, die würde das bestimmt schaffen, aber ich nicht. Ich war nicht dafür gemacht, andere zu führen.
Ich begann unruhig im Raum auf und ab zu laufen. Diese ganze Materie war mir völlig fremd. „Ich kann nicht. Ich kann nicht, ich kann nicht. Ich. Kann. Nicht!“ Das war zu viel, sie verlangen viel zu viel von mir. Verdammter König Isaac! Nicht mal wenn er starb, konnte er mir das Leben leichter machen. Jetzt sollte die ganze Scheiße an mir hängen bleiben? Das konnten die ja mal so was von vergessen! Dieses Spiel würde ich nicht mitspielen!
Meine einzige Chance war Kaidan. Solange er nicht für tot erklärt wurde, konnte ich noch hoffen. Er hatte Erfahrung mit solchen Dingen, er würde das schon machen. Er musste nur leben. Wenn er tot war, würde ich ihm das niemals verzeihen.
Oh Gott, was dachte ich da denn nur?
Ein Geräusch hinter mir ließ mich herumwirbeln. Die Klinge der Außentür bewegte sich. Gleich darauf schwang sie nach innen auf und Sydney schob sich in den Raum. Sein Fell war staubig und mit der linken Vorderpfote hinterließ er rote Flecken auf dem Boden.
„Du blutest!“ Er musste sich in den scharfen Trümmern den Ballen aufgerissen haben.
Er folgte meinem Blick, und hob dann die Pfote, als wäre er überrascht, dass er eine besaß. „Das ist nicht weiter schlimm. Es tut nicht mal weh.“
„Bis es sich entzündet und dir das Bein abfault.“ Ich ging an den Schrank, so selbstverständlich wie an meinen eigenen und holte zwei Lappen hervor, die ich am Waschbecken in der Ecke befeuchtete. Dann ging ich ins Nebenzimmer und kramte den Erste-Hilfekasten von Nicoletta aus dem Regal. Die Frau war in meiner Gegenwart so ungeschickt, dass sie sich angewöhnt hatte, das Nötigste immer zur Hand zu haben. Als ich durch die Schwingtür zurückkam, stand Sydney noch immer da und blutete den Boden voll. „Leg dich hin“, befahl ich ihm und nahm die beiden Lappen, die ich im Waschbecken liegengelassen hatte. Diese kleine Ablenkung brauchte ich, klammerte mich daran. Das war ein Problem, das ich lösen konnte. Nichts im Vergleich zu dem, was draußen vor der Tür lauerte.
„Eigentlich bin ich hineingekommen, weil mir mitgeteilt wurde, dass meine Prinzessin mich brauch.“ Er ließ sich auf den Boden nieder und legte das Bein so hin, dass ich problemlos herankam.
Ich kniete mich neben ihn und wischte die Verletzung vorsichtig mit dem Lappen aus. „Wer hat dir das gesagt?“ Es war ein kleines Loch, nicht breit, aber tief. „Du musst irgendwo reingetreten sein“, teilte ich ihm mit.
„Umbra Genevièv kam zu mir und sagte, dass Ihr mich in meiner Kammer erwartet.“
Dafür würde ich mich wohl bei Ginny bedanken müssen.
Meine Hände zitterten kaum merklich, als ich den Erste-Hilfekasten öffnete, und eine Wundcreme suchte. „Sie wollen dass ich Königin werde.“ Ah, da war sie ja.
„Das habe ich bereits vermutet.“
Ich drückte einen Klecks aus der Tube direkt in die Wunde. Sydney zuckte. „Aber ich kann das nicht, sie mussten jemanden anderes dafür nehmen.“ Ich verteilte ordentlich Watte zwischen den Zehen, damit sie nicht wund scheuerten, wenn sie unter dem Verbannt aneinander rieben.
„Prinzessin Cayenne, vielleicht glaubt Ihr einer solchen Verantwortung nicht gewachsen zu sein, aber das ist ein Irrtum. Wenn Ihr nur wollt und Euch darauf einlasst, werdet Ihr das schaffen – daran hege ich keinen Zweifel.“
„Du verstehst mich nicht, ich darf nicht Königin werden.“ Ich legte den Verband an und wickelte vorsichtig seine Pfote darin ein. Und das war eine ganz schön große Pfote. Warum hatten Wölfe eigentlich größere Pfoten als Hunde? Der eine stammte doch von dem anderen ab. „Ich darf nicht, nicht solange er mich kontrollieren kann.“
„Kontrollieren?“ Sydney legte den Kopf schief. „Wer kontrolliert Euch?“
Ich biss mir auf die Zunge.
Er musterte mich sehr eindringlich. Meinen verkniffenen Mund, meinen abgewandten Blick, das Zittern meiner Hände. „Warum antwortet Ihr nicht?“
Schweigend verknotete ich den Verband. „Das müsste halten.“
„Prinzessin Cayenne, Ihr weicht mir aus.“
Ja, weil ich nicht darüber sprechen durfte.
Als ich weiter schwieg, beugte er sich vor. „Es hat mit Eurem Zusammenbruch zu tun“, erkannte er dann ganz richtig.
Ich biss mir auf die Lippen.
„Es ging gar nicht um die Zeit Eurer Gefangenschaft.“
Mein Mund öffnete sich, aber dann schüttelte ich den Kopf. „Ich … ich kann nicht. Das ist … hör auf zu fragen!“
Als er die Panik in meinem Blick bemerkte, runzelte er die Stirn. „Was ist hier los?“
Ich griff nach dem Lappen, um ihn wegzuräumen, doch bevor ich die Hand wieder wegziehen konnte, hatte er mich mit den Zähnen am Arm gepackt. Es tat nicht weh.
„Redet mit mir“, sagte er eindringlich. „Bitte.“
Und tat ich es. Ich wusste nicht warum, vielleicht weil einfach alles zu viel wurde, aber ich öffnete den Mund. Ich hatte einfach keine Kraft mehr, damit alleine fertig zu werden. „Markis Komarow.“
„Markis Komarow?“
„Markis Jegor Komarow, Nikolajs Vater. Er …“ Ich kniff die Lippen zusammen.
„Was ist mit ihm?“
Scheiße, ich musste es einfach jemanden erzählen, wenn ich nicht unter dieser ganzen Last zusammenbrechen wollte. Schon wieder. „Er erpresst mich. Nur deswegen bin ich hier, weil er mich erpresst.“ Und dann erzählte ich ihm alles. Jedes Fitzelchen, das ich ihm bisher verheimlicht hatte. Von meiner Flucht mit Raphael und Tristan und von der Arbeit bei den Themis. Ich erzählte ihm, wie ich viele Male eiskalt und sauber getötet hatte, wie ich Frauen, Männer und Kinder zurück nach Hause geschickt hatte und auch von dem gescheiterten Auftrag im Großlager der Skhän.
Ich erzählte ihm wie Markis Schleim mich gefangen hatte und was in seinem Haus passiert war. Ich erzählte ihm von Vivien und Anouk, von Carla und Tarajika und wie ich mit Nikolaj zurück in den Hof kam. „Aber das war nicht das Ende. Immer wenn ich Markis Jegor sehe, denkt er sich neue Dinge aus, verstehst du? Wenn ich nicht mache, was er will, droht er mir mit Vivien und Anouk und ich kann mich nicht dagegen wehren. Ich kann nichts machen, weil wenn ich gegen ihn arbeite, wird er ihnen etwas antun, ich weiß es. Das Arschloch bekommt immer was er will, selbst wenn er dafür über Leichen gehen muss.“ Ich rieb mir über die Augen. „Verstehst du jetzt, warum ich nicht Königin werden darf? Nicht ich würde das Rudel führen, sondern Markis Jegor, durch mich. Das kann ich nicht tun, das darf ich nicht.“ Es tat gut sich alles von der Seele zu reden, aber es konnte diese Verzweiflung nicht vertreiben.
Sydney, der die ganze Zeit schweigend zugehört hatte, erhob sich nun einfach und ging zur Tür.
„Wo willst du hin?“
Er verschwand wortlos im Büro.
Oh nein, mir schwante bösen. Hastig sprang ich auf die Beine und eilte ihm hinter. Er war schon fast an seiner Bürotür, doch ich schaffte es ihm in den Weg zu springen und schnitt ihm damit den Weg ab.
Er fixierte mich. „Lasst mich durch.“
„Warum? Was hast du vor?“
Er sah mich nur stumm an.
„Du willst zu Nikolaj, oder? Du willst ihn …töten.“ Ich brachte das nicht zu fragen, ich sah es in seinen Augen. Dieser wilde eiskalte Glanz. Es war nicht das erste Mal, dass ich ihn bei einem Wolf sah. „Das darfst du nicht.“
Sydney bleckte die Zähne und strahlte dabei eine Wut ab, die selbst mich schlucken ließ. „Und er darf Euch nicht erpressen. Ich werde das auf der Stelle beenden!“
„Nein.“
Wenn er Nikolaj zwischen die Zähne bekam, war dieser tot, und Vivien und Anouk auf dem besten Weg zurück in die Sklaverei. „Nikolaj ist nicht das Problem, mit dem komme ich klar. Du darfst ihm nichts tun, sonst werden Vivien und Anouk darunter leiden.“
„Ihr Leidet!“, fuhr er auf. Das Fell in seinem Nacken sträubte sich, bis er doppelt so groß wirkte. „Ihr habt Euch geopfert, aber Ihr könnt nicht die ganze Welt retten!“ Sydney konnte nicht mehr klar denken. Er wollte mich beschützen und ließ dabei völlig außer Acht, was das für Folgen haben könnte.
„Aber ich kann die beiden retten. Und damit auch ihre Familien. Sydney, bitte, das darfst du nicht tun, versprich es mir. Mach es nicht noch schlimmer, als es schon ist, ich flehe dich an.“ Ich hatte ihm das doch nicht erzählt, damit Blut floss, sondern damit ich … ich weiß auch nicht, damit ich diese Last nicht mehr mit mir alleine rumtragen musste. „Bitte, es gab heute schon genug Tote. Das darfst du Vivien und Anouk nicht antun. Das darfst du mir nicht antun.“
Seine Lefzen zogen sich hör. Er sah zwischen mir und der Tür hin und her, wandte sich zu meiner Überraschung dann aber mit einem bösartigen Knurren um und ging zurück in seine Kammer.
Erleichtert atmete ich auf, aber nur bis mir einfiel, dass es da noch eine weitere Tür gab, durch die er verschwinden konnte. „Scheiße!“ Hastig stürzte ich hinterher und landete fast auf der Nase, aber meine Eile war völlig umsonst. Sydney hatte nicht vorgehabt zu verschwinden. Er saß auf dem Bett, den Blick drohend auf den Boden gerichtet, als versuchte er ihn allein durch seine Willenskraft in Flammen aufgehen zu lassen.
Ich zögerte damit, mich ihm zu nähern. Nicht weil ich Angst vor ihm hatte, sondern weil ich mir nicht sicher war, ob er mich jetzt in seiner Nähe haben wollte. Ich hatte ihn noch nie so … zornig erlebt, dass passte gar nicht zu ihm.
„Bist du sauer auf mich?“, fragte ich leise.
Seine Lefzen zogen sich wein wenig hör, doch dann schloss er einfach die Augen und seufzte resigniert. „Nein, Prinzessin, meine Wut gilt nicht Euch.“
„Es tut mir leid.“ Ich bewegte mich durch den Raum und ließ mich neben ihm im Bett nieder. „Danke“, flüsterte ich und schlang die Arme um ihn. „Danke, dass du nichts sagst.“
„Alles was Ihr wünscht, Prinzessin Cayenne, alles was Ihr wünscht.“
Danach sagte keiner mehr etwas. Wir saßen einfach nur da, lauschten der Stille und warteten auf ein Wunder, das nicht kommen würde. Als meine Augen immer schwerer wurden und ich mich neben Sydney zusammenrollte, begann draußen bereits der Morgen zu grauen.
°°°
Mit den Alpträumen hatte ich schon fast gerechnet, doch ihre Intensität erschrak mich. Es war nicht nur die üblichen Monster, die mich in Angst und Schrecken versetzten. Die Toten sprachen zu mir. Ich sah Pandora, wie sie von einem Steinblock erschlagen wurde. Elias Augen funkelten mich vorwurfsvoll an und König Isaac, warnte mich davor, mich ja nicht vor meiner Pflicht zu drücken, weil Leukos sonst auf mich niederkommen würde.
Ich flehte um Verzeihung, erklärte ihnen, dass ich unschuldig war, dass ich nichts für ihren Tod konnte, doch sie verdammten mich nur. Und überall im Hintergrund lauerte Markis Jegor Komarow auf mich. Er unterjochte das Rudel und vernichtete es durch mich. Der kleine Anouk gab mir für alles die Schuld, weil ich nicht richtig gehandelt hatte, weil ich die falschen Entscheidungen getroffen hatte. Mit einem Schrei wachte ich auf.
Etwas drückte mich auf die Matratze, etwas Schweres. Ich schrie und schlug um mich. Die Toten, sie hatten mich, sie kamen um sich zu rächen.
„Prinzessin … Cayenne, … uff … beruhigt Euch, ich bin es, ich bin es …“
Ich traf etwas mit der Faust, etwas Weiches mit Fell. Dann roch ich den vertrauten Geruch. Sydney.
„… beruhig Euch, ihr hattet einen Alptraum. Prinzessin, ganz ruhig.“
Das war Sydney, der da über mir stand und mich mit den Pfoten auf den meinen Schultern in die Matratze drückte. Ich gab meine Gegenwehr auf. Doch das Herz in meiner Brust wollte sich nicht so schnell beruhigen. Mein Atem kam stoßweise, eine dünne Schweißschicht überzog meinen Körper und mein Kleid war völlig zerwühlt.
Sydney Gesicht war ganz nahe vor meinem. „Geht es?“
„Ja.“ Mein Herz befand sich zwar irgendwo unter meinem Magen und meine Lungen schmerzten, als wäre ich gerade erst einen Marathon gelaufen, aber ich war noch in einem Stück und konnte nicht sagen: „Ich sehe tote Menschen.“ Wobei es in meinem Fall ja Lykaner wären. Aber da war keiner. Ich war mit Sydney alleine. „Ja, alles bestens.“ Ich strich mir eine Strähne aus der verschwitzten Stirn. „Alles wieder okay, danke.“
„Wir müssen etwas gegen Eure Alpträume unternehmen. Mir scheint, dass sie mit jeder Nacht schlimmer werden.“
Ich lachte, ein Geräusch, dem keine Freude innewohnte. „Du willst ein Hirngespinst jagen? Na dann viel Glück.“
„Mir ist es ernst, Prinzessin Cayenne.“ Er sah mir so eindringlich in die Augen, dass mich eine Gänsehaut überlief. „Es kann nicht so weitergehen. Nicht mal im Schlaf kann Euer Geist Frieden finden.“
„Bei dir kann ich Frieden finden“, murmelte ich und strich ihm durch das Fell an seinem Kopf. Dabei behielt ich diese wunderschönen Wolfsaugen im Blick. „Das konnte ich schon immer.“ Ich legte eine Hand an seinen Kopf. „Verwandle dich.“
Eine ganze Weile tat er nicht, als mich anzusehen. Dann seufzte er. „Das dürfen wir nicht, das wisst Ihr.“
War das wirklich sein Ernst? „Warum nicht, keiner der anderen hält sich an die Regel, warum müssen wir das tun?“
„Ihr seid eine Prinzessin“, sagte er schlich, „und ich nur ein Historiker aus dem niederen Volk.“ Er wollte sich zurückziehen, aber ich griff mit beiden Händen nach ihm und hielt ihn fest. Er konnte seinen Kopf nicht wegziehen.
„Mir ist es völlig gleich was du bist. Selbst wenn du nur eine Promenadenmischung aus der Gosse wärst, scheiß drauf, es interessiert mich nicht, denn du bist mein Sydney.“
„Wir dürfen das …“
„Hör auf damit!“, fuhr ich ihn an. Warum musste er so dickköpfig sein, ich konnte doch sehen, dass er das auch wollte. „Verwandle dich“, befahlt ich ihm und fixierte ihn dabei mit der Macht der Alphablicks. Vielleicht war das unfair, aber das interessierte mich in diesem Moment nicht. So wie mich viele andere Dinge gerade nicht interessierten. „Jetzt!“
Dem hatte er nichts entgegenzusetzen. Ich fühlte das Kribbeln unter seiner Haut, das Kräuseln von dichtem Pelz, das sich unter die Haut zurückzog. Das Gewicht über mir veränderte und verlagerte sich. Ich spürte, wie aus dem Wolf ein Mann wurde, doch seine Augen blieben Wolf.
Vorsichtig tastete ich nach seinem Gesicht. Ich hatte es erst einmal gesehen und da war es dunkel gewesen, doch ich erinnerte mich noch an jede Kleinigkeit darin. „Küss mich, Sydney.“
Dieses Mal widersprach er nicht. Er beugte sich einfach vor und dann spürte ich die Berührung seiner Lippen. Es war wie ein Stromschlag, der mir bis hinunter in die Zehenspitzen fuhr und selbst mein Herzschlag geriet für einen kurzen Moment ins stottern. Alle meine Sinne richteten sich auf ihn aus. Umso mehr wunderte ich mich, als er plötzlich anfing komische Bewegungen mit dem Arm zu machen.
Der Verband, den ich ihn angelegt hatte, hatte sich durch die Verwandlung gelockert und er versuchte ihm loszuwerden, ohne den Kuss zu unterbrechen.
Leider war das Bett nicht sehr breit, die Wand dafür aber sehr nahe und als er zu ungeduldig wurde, knallte er mit dem Ellenbogen gegen den Putz. Uh, das hatte bestimmt wehgetan. Ich konnte mir gerade so ein Kichern verkneifen.
Stattdessen zog ich ihn näher zu mir heran und versank einfach nur in diesem Kuss. In dem Moment bestand meine Welt nur aus Sydney. Ich wollte ihn für mich und ich wollte ihn ganz, doch als ich damit begann drängender zu werden und meine Hand auf Wanderschaft schickte, hielt er sie plötzlich fest.
„Bitte“, sagte er leise und lehnte meine Stirn an seine. „Bring mich nicht dazu.“
Was?! Aber genau das war es doch, was ich wollte!
Doch er wollte es nicht, ich sah es in seinen Augen. Nicht weil er mich nicht wollte, sondern weil er sich selber eine Grenze gesetzt hatte, die er nicht überschreiten wollte. Trotz allem, war ich noch immer seine Prinzessin.
Wahrscheinlich konnte ich ihn dazu bringen, diese Grenze zu überschreiten, aber auch wenn ich dazu bereit war, er war es nicht und er würde sich hinterher sicher Vorwürfe machen.
Sydney vertraute mir und dieses Vertrauen war mir wichtiger, als ein paar Aktivitäten im horizontalen Bereich. Viel wichtiger.
Tief einatmend schloss ich meine Augen und versuchte mich selber ein wenig runter zu regeln. „Das letzte Mal war ich es, die dich aufhalten musste.“
„Und auch dieses Mal fehlt nicht mehr viel dazu“, gestand er mir.
Ja, Junge, mach es mir doch noch schwerer. „Es ist nicht gut, wenn du mir das erzählst.“ Ich schlug die Augen wieder auf und sah direkt in seine. „Ich könnte es ausnutzen.“
Dafür bekam ich ein kleines Lächeln. „Aber das würdest du nicht tun.“ Er ließ meinen Arm los und legte mir seine Hand an die Wange. Es war ein seltsames und aufregendes Gefühl, einfach weil Sydney sowas sonst nicht tat.
„Nein, würde ich nicht“, versprach ich ihm.
Zärtlich zog er mit den Fingerspitzen die Konturen meines Gesichts nach. „Womit habe ich dich nur verdient?“, fragte er sehr leise.
„Vielleicht warst du in einem früheren Leben ja ein unartiger Junge gewesen.“
Anstatt auf den blöden Spruch zu reagieren, beugte er sich nur vor und stahl mir einen weiteren Kuss von den Lippen. Es war nur eine ganz zarte Berührung, doch ich konnte sie bis in meine Seele spüren.
„Wenn du damit nicht aufhörst, werfe ich meine guten Vorsätze gleich einfach über Board.“ Nein, das war keine leere Drohung, das war einfache eine Tatsache. Und er verstand es.
Vorsichtig rutschte er ein wenig herunter und bettete seinen Kopf an meiner Brust. Dabei wirkte er auf eine Art entspannt, die ich noch nie an ihm wahrgenommen hatte. Wir brauchten nicht wild knutschen und uns in den Laken wälzen, das hier war viel intimer.
Als ich damit begann meine Finger über seinen Rücken wandern zu lassen und zärtlich die Narben nachzog, schloss er sogar die Augen.
Ich folgte einer Linie nach oben zu seinem Nacken und spürte wie er davon eine Gänsehaut bekam. Lächelnd wiederholte ich die Prozedur. Sydney genoss es scheinbar nicht nur als Wolf, gestreichelt zu werden. „Kann ich dich mal etwas fragen?“
„Natürlich.“ Selbst seine Stimme klang entspannt.
Ich zog mit dem Finger eine Narbe an seiner Schulter nach. Sie war viel frischer, als all die anderen. „Samuel hat mir erzählt, dass du nach meinem Verschwinden manchmal ziemlich aggressiv warst. Er sagt, du seist mehr als einmal mit anderen Leuten aneinander geraten. Warum hast du das getan? Dich bringt doch sonst nichts aus der Ruhe.“
„Sie haben schlecht über dich gesprochen.“
Aha. „Dann hast du also nur meine Ehre verteidigt?“
Jetzt lächelte er. „Wem die Wahrheit fern bleibt, sollte nicht von Dingen sprechen, die er nicht versteht.“
Wahrscheinlich. „Ich wünschte ich müsste dieses Bett niemals verlassen.“ Oh ja, das wünschte ich wirklich, denn auch wenn man mich seit meinem Abtauchen in Ruhe gelassen hatte, wusste ich doch, dass früher oder später wieder die Realität über mir zusammenschlagen würde. Bei meinem Glück eher früher als später.
Sydney hob den Kopf. „Wenn ich könnte, würde ich …“
Ich legte ihm die Finger auf die Lippen. „Nicht. Nicht hier, und nicht jetzt. Mach das hier nicht kaputt.“ Ich beugte mich vor und streifte seinen Mund ganz leicht mit meinen. „Außerdem können mir mit unseren Lippen mehr tun, als nur zu quatschen.“
Sein Lächeln funkelte bis hinauf in seine Augen. „Und was schwebt dir da so vor?“
„Wie wäre es mit einem Zungenduell? Ich hab gehört, eine Knutscherei am Morgen, vertreibt Kummer und Sorgen.“
Er richtete sich soweit auf, sodass sein Kopf über meinem schwebte. „Der Morgen ist aber schon lange vorbei.“
„Hör auf mit dieser Wortklauberei und Küss mich endlich.“
„Steht’s zu Diensten, Prinzessin Cayenne.“ Er beugte sich vor und brachte mich fort von diesem Ort, in eine andere Zeit, zu einem anderen Ich, wo wir sein konnten, wer wir waren und uns nicht verstellen mussten.
Ich genoss es diesen warmen Leib auf mir zu spüren und schloss die Augen, als sein Mund langsam an meinem Hals hinunter wanderte, um auch wirklich nichts zu verpassen. „Sydney“, seufzte ich, als er die empfindliche Stelle an meinem Schlüsselbein fand und damit einen ganzen Schwarm von Hormonen lostrat, die meinem Körper beflügelten.
Seine Hände gruben sich in meine Hüfte, als hätte er Angst, dass ich mich sonst einfach in Luft auflösen könnte.
Ich klammerte mich an seine Schultern und …
Mit einem leises Klacken ging die Tür zur Kammer auf.
„Sydney, hast du Prinzessin …“
Bei der Stimme rissen Sydney und ich die Köpfe herum.
Nicoletta stand in der offenen Tür und starrte uns ungläubig an. Sie hatte wohl mit vielem gerechnet, aber nicht damit uns verschlungen in seinem Bett vorzufinden. Besonders nicht, wo Sydney sich doch niemals verwandelte.
Zwar hatte ich im Gegensatz zu Sydney noch Klamotten an, doch selbst einem Kind wäre klar gewesen, dass das hier, weit über den normalen Rudelkontakt hinausging. Das hatte definitiv nichts mehr Platonisches an sich.
Scheiße.
Tief aus Sydneys Kehle kam ein dunkles Knurren. „Raus.“ Seine Stimme war ganz ruhig, doch jedem wäre sofort klar gewesen, dass es nur diese eine Warnung geben würde, bevor er jemanden kräftig den Hintern versohlte.
„Ich …“ Nicoletta wirbelte herum.
„Halt!“, sagte ich. Dass sie uns gesehen hatte, war schlimm genug. Sie musste jetzt nicht auch noch kopflos durch die Gegend laufen. Nachher wurde sie noch gefragt, was los sei. Oder noch schlimmer: Sie antwortete. „Bleib ähm …“ Ja, was sollte ich jetzt mit ihr anfangen? „Warte in Sydneys Büro auf mich.“ Ich musste mit ihr reden. Was ich allerdings sagen sollte, stand noch in den Sternen.
Nicoletta war so schnell verschwunden, dass es mich wunderte, kein Loch in der Tür zu sehen. Sie wissen schon, wie in diesen Cartoons, in denen die Figuren immer durch Wände rennen und Löcher in Form ihrer Silhouetten zurücklassen.
„Du hast schon wieder diesen Ausdruck im Gesicht.“ Sydney strich die Konturen meines Gesichts nach.
„Was für einen Ausdruck?“
„Der Ausdruck, den du immer bekommst, wenn du dich in deinen Kopf mit völlig banalen Dingen beschäftigst.“
Der Kerl kannte mich viel zu gut für meinen Geschmack. „Wenn ich mich nicht mit banalen Sachen beschäftigen würde, müsste ich über die realen nachdenken.“
„Vielleicht ist es an der Zeit in die Realität zurückzukehren.“
„Ich will aber nicht.“ Wie ein kleines, bockiges Kind. „Ich will viel lieber hier bleiben. Mit dir.“
Sydney senkte seine Stirn auf meine. „Das würde mir auch gefallen, glaub mir. Aber du bist eine Prinzessin und Nicoletta beweist, dass man bereits nach dir sucht. Was glaubst du, wie lange es dauert, bis jemand anders hier auftaucht?“
Ich schob die Unterlippe nach Vorne. „Ich hasse es wenn du recht hast.“
„Das ist nicht gut“, sinnierte er. „Besonders nicht, da ich immer recht habe.“
„Hat dir schon mal jemand gesagt, dass Bescheidenheit eine attraktive Eigenschaft ist?“
Er lächelte. „Nein, so etwas sagst nur du zu mir.“
„Na irgendjemand muss dich ja auf den Boden der Tatsachen zurückholen.“
Sein Lächeln war echt, doch als er auf einmal sein Verwandlung einleitete, verschwand es zusammen mit seinem menschlichen Gesicht.
Ich fand es traurig zu sehen, wie er sein wahres Ich wieder unter seinem Fell versteckte.
„Warum das traurige Gesicht?“
„Ich will nicht, dass das hier endet.“
„Aber es endet doch gar nicht.“ Er stupste mir vorsichtig gegen die Wange. „Es hat doch gerade erst angefangen.“
Blieb nur zu hoffen, dass das Schicksal mir nicht wieder einen Strich durch die Rechnung machte und die Scherben meines Lebens zu Staub zermahlte.
„Steht auf, wir sollten das nicht unnötig herauszögern.“
Da hatte er vermutlich Recht. Also rutschte ich hinter Sydney vom Bett, brachte meine zerknittertes Kleid in Ordnung und strich ihm noch einmal über den Kopf. „Du bleibst doch bei mir, oder?“
„Immer.“ Sydney gab mir einen Stoß in die Kniekehlen und ging dann als erster durch die Schwingtür.
Ich atmete noch einmal tief ein und folgte ihm dann. Das würde bestimmt lustig werden.
Nicoletta saß auf der kleinen Couch an der Wand. Bei meinem Auftauchen, spannte sie sich deutlich an. Gleich würde sie sich wieder selber wehtun.
„Soll ich das klären?“, fragte Sydney, als ich zögerte.
„Nein, ich mach das schon.“ Ich ging zu ihr und kniete mich vor ihr auf dem Boden. Ich glaube, hätte sie nicht solche Angst gehabt, hätte sie vor Überraschung einen Schlaganfall erlitten. „Was du da gesehen hast“, fing ich an, unterbrach mich dann aber, weil ich nicht weiter wusste. Ich konnte ihr natürlich befehlen, ihr mein Odor um die Ohren hauen und sie schwören lassen, den Mund zu halten, aber irgendwie widerstrebte mir das. Zwar hätte sie nicht einfach in die Kammer platzen sollen, aber sie hatte ja nicht ahnen können, was sie da zu sehen bekam. „Bitte verrate uns nicht“, sagte ich dann schlicht.
Nicoletta riss die Augen auf, „Ihr bittet … mich?“
„Ja.“ Ich sah ihr fest in die Augen. „Ich bitte dich darum, Stillschweigen über das zu bewahren, was du gerade gesehen hast.“
„Aber …“ Sie sah zu Sydney. „Was ist mit Markis Nikolaj?“
Sydney legte die Ohren an und knurrte.
„Das geht dich nichts an, genauso wenig, wie das zwischen mir und Sydney. Ich mische mich auch nicht in deine Angelegenheiten ein. Ich bitte dich einfach nur zu vergessen, was du gesehen hast.“
Zögernd sah sie von ihm zu mir. Dann nickte sie. „Okay.“
Erleichtert entließ ich die Luft aus meiner Lunge. Gott, diesen ganzen Stress würde mein Herz nicht mehr lange mitmachen. Aber hey, ich hatte seit über vierundzwanzig Stunden keinen Ausraster mehr, nicht mal nach dem Unglück von gestern. Das war doch mal ein Fortschritt. Apropos Unglück: „Warum hast du mich eigentlich gesucht?“
„Ich hab Euch … oh ja, entschuldigt, das hatte ich ganz vergessen bei …“ Abrupt klappe sie den Mund zu. „Entschuldigung. Ich wollte nicht …“
„Sag was du sagen wolltest, Nicoletta, Prinzessin Cayenne hat keine Zeit für dein Stottern.“
Ach, jetzt war ich wieder Prinzessin Cayenne? Vorhin hatte er noch ganz andere Dinge zu mir gesagt.
„Natürlich, entschuldigt. Großwächter Edward lässt nach Euch suchen. Es gibt Neuigkeiten, die Eure sofortige Anwesenheit erfordern.“
Neuigkeiten die meine sofortige Anwesenheit erforderten? „Das hört sich gar nicht gut an.“ Ich schaute zu Sydney rüber.
„Nein, das tut es nicht.“
Ich erhob mich. „Meinst du sie haben Kaidan und Alica gefunden?“
„Das werden wir gleich erfahren.“ Anstatt mich die Tür öffnen zu lassen, machte Sydney das selber und hielt sie mir dann mit seinem Körper auf.
Na gut, dann mal los. Ich warf noch einen Blick zu Nicoletta, die noch immer ein wenig geschockt wirkte und folgte Sydney dann hinaus.
Die Bibliothek war heute zum Großteil verwaist. In der Eingangshalle dagegen, gingen die Angestellten und Helfer in reger Betriebsamkeit ein uns aus. Viele von ihnen wirkten übernächtigt. Die Kleidung war staubig und die Gesichter bedrückt.
Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass in der letzten Nacht nicht nur ein Familie fast komplett ausgelöscht wurde, mit dem Tod der Alphas hatte das ganze Rudel einen wichtigen Teil von sich verloren. Hoffentlich hatte man Kaidan endlich gefunden. Dann wäre es zwar noch immer schlimm, aber wenigsten hätten die Lykaner dann etwas, an dem sie sich festhalten konnten.
Sydney ließ sich ein wenig zurückfallen, als wir den Speisesaal betraten.
Viel hatte sich seit gestern nicht verändert. Samuel war verschwunden, dafür aber ein Haufen Wächter gekommen, die sich um Nikolaj und Großwächter Edward scharrten. Er sah müde aus, die Augen waren umschaltet.
Als sich Sydney bei seinem Anblick das Fell sträubte, legte ich ihm die Hand in den Nacken. Nicht nur um ihn zu beruhigen, sondern auch um zupacken zu können, sollte es notwendig sein.
Es war der Wächter mit dem Tribal Tattoo auf dem rechten Oberarm, der meine Ankunft als erstes bemerkte und die anderen mit einer Geste auf mich aufmerksam machte. Ich erkannte ihn von Früher, aber wie er hieß, wusste ich noch immer nicht.
Alle verstummten und wandten sich dann geschlossen zu mir um. Wie sich mich da so schweigen anschauten, machte sich ein ganz mulmiges Gefühl in mir breit und mit einem mal waren all die Sorgen, die ich in Sydney Armen hatte vergessen können, wieder da.
„Die Herren haben geläutet?“, sagte ich, als ich zu ihnen trat und versuchte mir meine Unruhe nicht anmerken zu lassen. Wann hatte ich eigentlich zum letzten Mal meine Pillen genommen? Wirkten die noch?
„Prinzessin Cayenne.“ Edward nickte mir zu. „Wir wissen nun, was geschehen ist“, sagte er dann auch ohne weitere Umschweife.
Ich wurde hellhörig. „Und was ist passiert?“
„Der Einsturz der Außenmauer war ein Anschlag. Es wurden Drähte und Zündmechanismen gefunden, die darauf hindeuten, dass zwei Bomben ins Gebäude gebracht wurden“, erklärte Eddy. „Sie wurden so eingestellt, dass sie um kurz nach Mitternacht, wenn gesichtet war, dass die Alphas sich draußen aufhalten, zündeten. Der Anschlag galt eindeutig den Rudeloberhäuptern. Doch wir haben bis jetzt keinen Anhaltspunkt auf den, oder die, Täter.“
Mit jedem Wort wich ein wenig mehr Farbe aus meinem Gesicht. „Ein … ein Anschlag?“
Nikolaj nickte. „Wir sind sicher, dass er der königlichen Familie galt. Es war ein Glück, dass du mit mir im Labyrinth warst.“
Sonst würde ich jetzt nicht hier stehen. Die Worte schwebten in der Luft, aber ich bekam sie dennoch nicht zu fassen. Ein Anschlag? Okay, ich wusste ja, dass unter Werwölfen raue Sitten herrschten, aber das hier …
„Wir haben Prinzessin Alica gefunden“, fügte er noch hinzu. „Sie muss sofort tot gewesen sein.“ Er sah mich sehr ernst an. „Königin Geneva liegt im Koma und Manuel ist vor einer Stunde im Krankenhaus verstorben.“
Oh Gott, nein. Nein, nein, nein. Ich traute mich kaum zu fragen, aber ich musste es wissen. „Und Kai? Was ist … was ist mit Kaidan?“
Es war Großwächter Eddy, der bekümmert den Kopf schüttelte. „Wir haben ihn noch vor Prinzessin Alica gefunden und wir konnten nichts mehr für ihn tun.“
Nein. Oh bitte nein, das konnten sie mir doch nicht antun.
„Die Gesetzte sind eindeutig“, sagte der Großwächter weiter. „Das Anrecht auf den Thron hat immer der Älteste der jüngsten Generation. Ihr seid nun die amtierende Thronfolgerin und unser baldiger Alpha.“
„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf und wich einen Schritt vor ihnen zurück. „Ich mach das nicht, sucht euch eine andere, die so dumm ist, sich darauf einzulassen. Mich bekommt ihr sicher nicht dazu.“
„Cayenne …“ setzte Nikolaj an.
„Nein!“, fuhr ich ihn an. „Nix Cayenne. Ich setzte mich nicht auf den Thron, nicht mit …“ dir. Ich sprach das Wort nicht aus, aber es hing deutlich zwischen uns. Es war egal, dass wir gestern eine Art Aussprache hatten und ich versuchen wollte mit ihm klarzukommen. Das war noch eine völlig andere Situation gewesen. „Das werde ich nicht tun.“
„Ihr müsst“, sagte Edward.
„Einen Dreck muss ich!“, spie ich ihm entgegen. „Setzen sie sich doch selber auf den Thron, ich will damit nichts zu tun haben. Ihr könnt mich nicht zwingen eure Königin zu spielen!“
„Nein“, räumte er ein. „Das können wir nicht.“
„Na bitte. Dann macht euch gar nicht erst die Mühe und sucht euch jemand anderes, der eure dämlichen Gesetze befolgen will. Ich werde es nämlich nicht tun!“
Nach meiner kleinen Rede herrschte ein Moment schweigen.
„Seid Ihr Euch da sicher?“, hörte ich eine arrogante Stimme hinter mir.
Ich erstarrte zu Eis. Nein, nicht hier, nicht heute. Bitte nicht.
Langsam drehte ich mich um, hoffte und betete, dass ich mich verhört hatte, doch ich wusste, dass es nicht so war. Und ich sollte Recht behalten. Vor mir stand in seiner ganzen Pracht Markis Jegor Komarow. Er musste hergefahren sein, kaum dass er von dem Unglück erfahren hatte, nur um sich zu versichern, dass auch alles weiterhin nach seinen Wünschen verlief.
Als er lächelte, trat ich automatisch einen Schritt zurück. Weg von ihm, weg von seinem Sohn. Ich hasste dieses Lächeln, es war das gleicher das er aufgesetzt hatte, bevor er … nein!
Neben mir begann Sydney zu knurren.
„Ich bin mir sicher, die Prinzessin wird ihre Entscheidung noch einmal überdenken“, erklärte Jegor niemand bestimmten, aber die Botschaft war deutlich. Beweg deinen Hintern auf den Thron, sonst weißt du ja was passiert.
Das Zittern fing in meinen Fingerspitzen an. Zuerst glaubte ich, gleich wieder einen Anfall zu bekommen, aber es war anders als sonst. Unter meiner Haut entstand ein vertrautes Kribbeln, dass ich so intensiv sonst nur unter dem Vollmond spürte. Meine Finger begannen sich zu verändern, wurden kürzer und breiter, die Nägel dunkler. Meine Sicht verschob sich, als mein Gesicht sich veränderte. Ich spürte das Prickeln am Ende meiner Wirbelsäule, das Kribbeln in meinem Rückgrat. Die Haltung meiner Schultern verschob sich, plötzlich war ich nicht mehr Barfuß, sondern stand auf Pfoten.
Ich fiel nach vorne, landete auf zwei weiteren Pfoten. Mein Kopf ruckte ungewohnt hoch, meine Sinne schärften sich um ein Vielfaches. Ich sah goldenes Fell sprießen, spürte wie es mir überall aus der Haut schoss.
Ich verwandle mich, dachte ich, zum ersten Mal werde ich zum Wolf. Aber ich konnte mich darüber nicht richtig freuen. Wer hätte gedacht, dass Angst meine erste richtige Verwandlung auslösen würde?
An meinem Kleid platzten die Nähte auf, bis es in Fetzten an mir herunterhing. Und dann war ich ein Wolf. Ich stand mitten im Speisesaal, umringt von Wächtern und Umbras und hatte mich in einen Wolf verwandelt.
Einen Moment war ich von den neuen Eindrücken beeindruckt. Meine Ohren bewegten sich in alle Richtungen, um auch jedes noch so kleine Geräusch einzufangen. Ich witterte, nahm die Umgebung durch einen neuen Blickwinkel wahr und dann entdeckte ich Markis Schleim, der nicht weniger überrascht wirkte, als ich.
Ich spannte die Muskeln an und knurrte, wich aber nicht vor ihm zurück. Ich war ein Alpha. Feind, schrie alles in mir. Das war der Feind, aber ich durfte ihm nichts tun. Ich hatte keine Ahnung mehr warum, aber ich wusste, dass ich ihm nichts tun durfte, auch wenn das Tier in mir noch so sehr danach schrie diese Bedrohung zu vernichten.
Feind.
„Cayenne?“
Aus den Augenwinkeln sah ich einen attraktiven Mann auf mich zukommen. Er hatte ein sehr feinzügiges Gesicht und ein kleine Narbe am Kinn. „Nikolaj.“
Er hockte sich neben mich. Hatte er mich gehört? „Alles ist in Ordnung, verstehst du? Niemand wird dir etwas tun.“ Als er die Hand nach mir ausstrecken wollte, bleckte ich die Zähne und wich ein paar Schritte vor ihm zurück.
„Nicht anfassen.“
Neben mir fiepte jemand und als ich den Kopf drehte, sah ich Sydney.
Nikolaj hatte nur einen kurzen Blick für ihn übrig, bevor er sich wieder auf mich konzentrierte. „Cayenne, hörst du mich?“
Ich stellte die Ohren auf. „Kannst du mich nicht hören?“
„Niemand tut dir hier etwas“, redete er ruhig weiter.
Offensichtlich nicht.
Einen Moment dachte ich angestrengt darüber nach, was ich über das Sprechen in Gedanken gelernt hatte. Es war schon so lange her und auch wenn ich die Wölfe um mich herum immer verstanden hatte, so war ich nie in die Situation gekommen, sie selber anzuwenden.
„Konzerntrier dich“, sagte Sydney in meine Gedanken hinein und kam wachsam ein Stück näher.
Konzentrieren, das wäre doch schon mal ein Anfang. Außerdem wusste ich, dass ich meine Gedanken auf eine einzige Person richten konnte, oder fächern, damit jeder mich hören konnte.
Ich neigte meinen Kopf zur Seite, befahl meine Gedanken in eine Richtung. „Nikolaj?“
Er sah mich nur an. Ich dachte schon, dass ich schon wieder etwas falsch gemacht hatte, da kletterte sein Mundwinkel ganz leicht nach oben. „Ja?“
Ich drehte den Kopf, um es bei einem anderen zu probieren. Meine Wahl fiel auf den alten Großwächter. „Eddy?“
Auch er lächelte. „Prinzessin Cayenne.“ Er deutete eine Verbeugung an. Erst da fiel mir auf, dass die meisten der Anwesenden von meiner wahren Natur wussten.
Und dann schaute ich zu dem einzigen anderen Wolf. „Ich hab mich verwandelt“, sagte ich leise.
Seine Augen funkelten sanft. „Ich habe Euch doch gesagt, dass Ihr es könnt.“
„Welch überraschende Wendung“, sagte Jegor erstaunt und das Lächeln das seine Lippen zierte, ließ mir eine Gänsehaut über den Rücken wandern. „Eine Königin, gleich einer Göttin.“
Oh Gott, nein. Meine Muskeln spannten sich an. Ich wusste nicht, ob ich ihn anspringen sollte, oder es doch besser wäre, einfach davon zu laufen. Er würde es nicht zulassen, dass ich den Thron verweigerte. Mit Nikolaj an meiner Seite hätte er die Macht über das ganze Rudel.
„Nein“, sagte ich und wich kopfschüttelnd vor ihm zurück. „Nein.“ Aber ich durfte mich nicht weigern. Dann würde er sich Vivien und Anouk holen. Er würde ihre Familie zerstören, er würde Raphael verletzten.
„Cayenne.“ Nikolaj streckte erneut die Hand nach mir aus, doch bevor er mich berühren konnte, schmiss ich den Kopf in den Nacken und heulte meine Verzweiflung heraus.
Alle Anwesenden im Saal schraken zusammen. Sie hörten den verzagten Klang, wussten aber nicht, was er bedeutete. Ich heulte solange, bis ich das reißen von Kleidung hörte.
Mein Ruf zwang die Wölfe sich zu verwandeln. Selbst Markis Schleim konnte sich dem nicht erwehren. Ich war ihr Alpha und sie mussten mir folgen.
Zum ersten Mal wurde mir wirklich bewusst, was für eine Macht ich besaß und ich schreckte davor zurück. Ich musste hier weg, irgendwo hin, wo mich niemand kannte und ich alles hinter mir lassen konnte. Noch während die anderen sich verwandelten, riss ich mir die Reste meiner Kleidung vom Leib und rannte dann einfach los.
„Cayenne“, rief Sydney nach mir, aber ich konnte einfach nicht stehen bleiben. Wenn ich hier blieb und tat was Jegor wollte … ich wollte mir die Folgen gar nicht erst ausmalen.
Aber Sydney war viel geübter darin ein Wolf zu sein. Es war ihm ein Leichtes zu mir aufzuschießen. „Cayenne, warte.“
„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf und rutschte um die Ecke. Da, das Portal stand offen. „Ich muss hier weg.“
Doch Sydney war schneller als ich. Er schaffte es nicht nur mich zu überholen, er stellte sich mir auch noch in den Weg, sodass ich in ihn hinein schlitterte und so zwangsläufig anhalten musste.
„Bitte“, flehte ich ihn an. „Ich kann nicht bleiben. Er wird alles daransetzen, damit ich den Thron besteige.“
Einen Moment schaute er mich nur schweigend an. „Wenn Ihr geht, werdet Ihr diese Entscheidung für den Rest Eures Lebens bereuen.“
Nach diesen Worten konnte ich nur noch eines tun: Ich weinte.
°°°°°
Morgen war es so weit. Der große Tag, war gekommen. Ich fühlte mich, als ginge ich mit großen Schritten meiner eigenen Beerdigung entgegen. Freitag der dreizehnte. Ohne scheiß. Mein Geburtstag, meine Hochzeit und meine Krönung zur Königin der Lykaner fielen auf Freitag den dreizehnten. Wenn das mal kein gutes Omen war.
Ich stand am Eingang zum Thronsaal und beobachtete die Helfer, die alles vorbereiteten. Obwohl es schon sehr spät war, summten sie noch immer wie fleißige Bienchen vor links nach recht und kamen geschäftig ihren Aufgaben nach. Das ganze Schloss war auf den Beinen. Schon seit Tagen sah ich nichts mehr anderes, als die Vorbereitung für diesen einen Moment, der mein ganzes Leben verändern würde.
Als ich beobachtete, wie der Organisator Anweisungen gab, die Girlanden an den Wänden neu anzuordnen, weil sie seinen Ansprüchen nicht genügten, seufzte ich. Wen interessierten schon dumme Girlanden, wenn das eigene Leben so den Bach runterging?
Sydney lehnte sich gegen mein Bein und schob seinen Kopf unter meine Hand.
„Glaubst du wirklich, dass ich das schaffe?“
„Ihr seid sehr Willensstark. Wenn Ihr es Euch in den Kopf setzt, könntet Ihr sogar einen Berg dazu bewegen, Euch den Weg frei zu machen.“
Irgendwie hörte sich das weniger nach einem Kompliment, als vielmehr nach einem Dickschädel an. „Deinen Optimismus hätte ich gerne.“ Ich ließ meine Hand durch sein Kopffell gleiten. „Lass uns verschwinden. Wenn ich noch ein Blumenbouquet sehe, werde ich mich heute noch erhängen.“
Sydney lachte leise in meinem Kopf. „Wie Ihr wünscht, Prinzessin Cayenne.“
Ich kehrte den ganzen Vorbereitungen den Rücken und ging hinauf in mein Zimmer. Obwohl hier überall so viel Betrieb herrschte, kam mir das Schloss seit dem Anschlag unnatürlich leer vor. Besonders die Mahlzeiten waren eine Zumutung.
Sadrija hatte sich wie immer hinter einer Schicht aus Eis zurückgezogen. Ich sah sie kaum, da sie die meiste Zeit in ihrem Büro hockte und arbeitete.
Meine Großmutter war zwar aus dem Koma erwacht, doch sie lag noch im Krankenhaus. Ihr Bein war gebrochen gewesen und die Milz gerissen. Aber viel schlimmer waren die psychischen Verletzungen. Sie hatte alles verloren. Ihren Mann, ihre Kinder, ihren Enkel und ihren Uhrenkel. Ich war mir nicht sicher, ob sie sich davon jemals wieder erholen würde.
Am schlimmsten aber hatte es Samuel getroffen. Er hatte sich völlig veränderte. Er sprach kaum noch ein Wort und blieb die meiste Zeit allein auf seinem Zimmer. Er hatte sich von allem und jedem zurückgezogen und was ich auch tat, ich kam einfach nicht an ihn heran. Nicht mal Nachts kam er mehr in mein Zimmer, um bei mir im Bett zu schlafen.
Als ich den Korridor entlang ging, kam ich an einem kleinen Loch in der Wand vorbei. Das hatte ich vor sechs Tagen hineingeschlagen, als ich eine weitere Panikattacke hatte. Ja, die hatte ich noch immer. Sie waren viel besser geworden, besonders nachdem Doktor Ambrosius meine Medikamente ein weiteres Mal neu eingestellt hatte, aber ganz verschwunden waren sie nicht. Was wohl von meinem Stresslevel kam. Wie sollte es mir auch nach so kurzer Zeit besser gehen? Es war so viel passiert und es nahm einfach kein Ende.
Ich kam an Nikolajs Zimmer vorbei und erinnerte mich daran, wie er auf der Beerdigung der Alphas die ganze Zeit an meiner Seite gestanden hatte.
Seit gestern befand sich auch wieder sein Vater im Schloss. Ich war ihm bisher erfolgreich aus dem Weg gegangen. Er war der Letzte, den ich jetzt begegnen wollte. Zum Glück sagte mir meine Nase immer rechtzeitig, wenn er in der Nähe war und wenn ich es doch mal nicht peilen sollte, dann wies mich spätestens Sydney darauf hin.
Doch morgen würde ich ihm nicht mehr aus dem Weg gehen können. Da ich von Samuel einmal abgesehen, keinen männlichen Verwandten mehr hatte, der bei der Hochzeitszeremonie als Ersatz für meinen Vater auftreten konnte, würde er jetzt diese Rolle übernehmen. Nachdem ich das gehört hatte, hatte ich mich zwei Tage auf meinem Zimmer versteckt.
Es spielte keine Rolle mehr, denn ich konnte nicht entkommen.
Resigniert öffnete ich meine Zimmertür und ließ Sydney herein, bevor ich ihm folgte.
Ich verschloss sie von innen und lehnte meine Stirn dagegen. Endlich konnte ich der ganzen Scheiße für ein paar Stunden entfliehen. Meine letzten Stunden in Freiheit. Schon morgen um diese Zeit wäre verheiratet. „Hast du nicht Lust mit mir durchzubrennen?“ Ich drehte mich zu Sydney um, der es sich bereits auf meinem Bett bequem gemacht hatte. „Wir fahren nach Vegas, lassen in einem Casino trauen und verpulvern dort anschließend mein ganzes Geld.“
Sydneys stellte die Ohren auf. „Auch wenn dieses Angebot einen gewissen Reiz auf mich ausübt, muss ich doch leider ablehnen.“
„Spielverderber.“ Begleitet von seinem Lachen verschwand ich für die nächste halbe Stunde im Badezimmer und versuchte diesen Tag hinter mir zu lassen. Leider war das nicht so einfach, wie es sich anhörte. Da war einfach zu viel, was meine Aufmerksamkeit erforderte und dafür sorgte, dass sich das Karussell in meinem Kopf einfach nicht aufhören konnte zu drehen.
Als ich zurück ins Zimmer ging und neben Sydney unter die Decke schlüpfte, schob er seinen riesigen Schädel in meine Arme. Er liebte es, wenn ich mit den Fingern durch sein Fell fuhr. Fast so sehr wie ich. Es beruhigte und entspannte mich. Es war fast so wie früher in meinem Bett bei meinen Eltern, wenn Elvis sich an mich kuschelte.
Niemand im Schloss störte sich daran, dass er seit dem Anschlag auf die Königsfamilie praktisch den ganzen Tag bei mir war. Jeder im Schloss wusste, dass er mein engster Vertrauter hier im Schloss war. Und genauso wussten sie auch, dass Sydney sich unter gar keinen Umständen in einen Mann verwandeln würde, weil er sich für sein Aussehen schämte. Also keine Gefahr für dir Tugend ihrer Prinzessin.
Leider entsprach das Teilweise sogar der Wahrheit. Seit Silvester hatte ich ihn nur noch einmal dazu bringen können, sich in einen Mann zu verwandeln. Und wieder hatte er diese verdammt Grenze aufgestellt, die er nicht bereit war zu übertreten. Das wurde langsam wirklich frustrierend.
Es war nicht so, dass ich ihn unbedingt ins Bett haben wollte, nur fehlte mir diese Art von Intimität.
Es war Monate her, dass ich mich hatte auf diese Art fallen lassen können, in der Nacht, bevor Jegor mein Leben zerstörte und ich Raphael hatte zurücklassen müssen.
Ich vermisste ihn noch immer. Es war bei Weitem nicht mehr so schlimm wie noch am Anfang, aber noch heute tauchte er immer wieder in meinen Gedanken auf. Wo er allerdings nicht mehr auftauchte, war im wirklichen Leben.
Seit unserem zusammentreffen in Silenda hatte ich ihn nicht mehr gesehen, oder etwas von ihm gehört. Er war verschwunden, so wie ich es ihm gesagt hatte.
„Du bist so still.“
„Soll lieber meine Angst und Wut herausschreien und einen königlichen Anfall bekommen?“ Vielleicht gar keine so schlechte Idee, hatten wir ja schon lange nicht mehr gehabt. Und damit würden die Pläne für morgen sicher ins Wasser fallen.
Sydney seufzte. „Es ist nur so ungewohnt.“
„Ich kann doch sowieso nichts dagegen tun, also kann ich mich genauso gut auch fügen.“ Ich hatte resigniert. Zumindest in dieser Hinsicht. Sydney hatte mir geholfen, mich nicht ganz aufzugeben. Ich musste stark bleiben, für das Rudel, für ihn und auch für mich selber, aber der Hochzeit konnte ich nicht entgehen.
„Ich werde dich nicht allein lassen.“
„Ich weiß.“ Wenn auch sonst nicht viel, aber das wusste ich mit Sicherheit.
Als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete, lag ich noch immer an ihn gekuschelt. Er schlief, aber ich wusste genau, dass er sofort aufwachen würde, wenn ich mich auch nur einen Mikromillimeter bewegte. Trotzdem konnte ich nicht widerstehen und strich vorsichtig mit dem Finger über seinen Kopf. Als er dann daraufhin anfing genussvoll zu grummeln, musste ich lächeln.
Dies war einer der kleinen Momente, die mich noch auf den Beinen hielten. Einfach nur neben ihm liegen und sehen, wie entspannt er war. „Das hier könnte ich ewig machen.“
Seine Augen öffneten sich langsam. „Es ist, als glitte man nahtlos von einem Traum in den nächsten.“ Als er den Kopf hob und herzhaft gähnte, lehnte ich mich ein wenig von ihm weg.
„In diesem Traum könntest du aber dringend eine Zahnbürste gebrauchen.“
Das ließ ihn lachen. Allerdings verging die gute Stimmung wieder recht schnell, denn wir beide wussten, was heute für ein Tag war. Meine Hochzeit würde gegen vier sein und direkt danach würde es zu meiner Krönung weitergehen. Dann gab es kein Zurück mehr.
„Du wirst doch bei mir bleiben“, versicherte ich mich einmal mehr bei ihm.
„Ich habe doch gar keine Wahl, du hast mich schließlich zu einem Kerberos ernannt.“
Ja, weil ich das allein niemals durchstehen würde. „Hättest du denn gerne eine Wahl?“
„Selbst wenn ich jetzt noch wählen könnte, würde ich dich begleiten. Wo sollte ich sonst sein wollen?“
Ganz weit weg, um diesen Irrsinn zu entkommen. Ach nein, das war ja ich, die das wollte. Mit einem tiefen Atemzug rollte ich mich auf den Rücken. „Ich wünschte nur …“
Das Klopfen an der Tür unterbrach mich nicht nur im Satz, sondern gleich auch die traute Zweisamkeit zwischen uns. Es war Zeit den Tag zu beginnen, auch wenn ich mich viel lieber unterm Bett versteckt hätte.
„Na los.“ Sydney stupste mir wie so oft gegen die Wange. „Es wird sich schon alles finden.“
„Das ist ein wirklich dummer Spruch“, teilte ich ihm mit, rollte mich aber trotzdem aus dem Bett, da es nun schon zum zweiten Mal an meiner Tür klopfte.
Draußen wartete eine strahlende Collette mit einem Tablett voller Essen auf mich. „Guten Morgen, Euer Majestät“, begrüßte sie mich, machte einen kleinen Knicks und kam dann unaufgefordert hinein. Genau wie die drei Frauen hinter ihr.
O-kay.
„Ich hoffe Ihr habt gut genächtigt.“ Sie stellte das Tablett auf meinen Wohnzimmertisch und wandte sich wieder zu mir herum. „Heute ist schließlich ein aufregender Tag.“
Da ich viel zu beschäftigt damit war die drei Frauen zu beobachten, die da ein Haufen Koffer in mein Zimmer trugen, kam ich nicht dazu zu antworten. Und das da, war das ein Garderobenständer mit Ledergeschirren an Bügeln? „Ähm … könnte mir mal bitte jemand erklären, was das hier werden soll?“
Alle hielten in der Bewegung inne und schauten mich an. Nur Sydney nicht, der lachte leise.
„Was ist daran so witzig?“
„Die Frauen sind hier, um Euch bei den Verbreitungen zu helfen.“
Einer weitere Dame schob emsig einen Garderobenständer herein.
„Aber vorher solltet Ihr etwas essen“, mischte Collette sich ein. „Ihr werdet die Kraft brauchen.“
Die Frauen begannen damit die Koffer zu öffnen. Make-Up, Bürsten, Spiegel.
„Ich bin in der Hölle gelandet.“ Okay, das war eigentlich nichts Neues.
Sydney lachte nur wieder und sprang dann vom Bett. Dann schob er mich zum Tisch. „Esst etwas. Collette hat recht, es wird ein langer Tag werden.“
Leider würde so ein bisschen Essen daran auch nichts ändern. Trotzdem setzte ich mich, einfach weil ich das Kommende damit noch ein wenig hinauszögern konnte. „Collette?“
„Ja, Prinzessin Cayenne?“
Ob ich sie wohl jemals dazu bringen konnte, mich nur Cayenne zu nennen? Fraglich. „Kannst du bitte Umbra Drogan auswendig machen und ihn zu mir schicken?“
„Natürlich.“ Sie knickste vor mir, lächelte noch einmal und verschwand dann eilends aus dem Zimmer.
Ich machte mich währenddessen über mein Frühstück her. Obwohl man wohl besser sagen sollte, ich fütterte Sydney damit. Da mein Magen nur aus einem großen Klumpen bestand, bekam ich einfach keinen Bissen herunter.
Ich war gerade dabei ein paar von Sydney Krümmel vom Sofa zu wischen, als der weißhaarige Umbra zusammen mit Collette auftauchte. Er wich den geschwätzigen Damen aus und trat mit einer leichten Verbeugung direkt an mich heran. „Ihr habt nach mir rufen lassen?“
„Ja.“ Seit dem Anschlag, von dem man noch immer nicht wusste, wer dahinter steckte, war sein Gesicht eine Maske aus Stein. Der Verlust von Blair hatte ihn schwer getroffen. Wenn ich gewusst hätte wie, hätte ich ihm geholfen, aber bei meinem Versuch mit ihm zu sprechen, hatte er die ganze Zeit nur schweigend zugehört.
„Womit kann ich dienen?“
Ich nahm noch eine Scheibe von dem Aufschnitt und steckte sie Sydney zu. „Ich würde gerne die Zuteilung der Umbra ändern, wenn das möglich ist.“ Darüber hatte ich schon mit Sydney gesprochen und vielleicht konnte es ja auch Drogan ein wenig helfen.
„Ihr seid unser Alpha.“
Nein, noch nicht, aber das würde sich leider bald ändern. „Das heißt, das geht?“
„Ihr müsst mir nur Eure Wünsche mitteilen, dann werde ich es sofort veranlassen.“
Es war ein wirklich schönes Gefühl, dass auch mal etwas nach meinen Vorstellungen verlief. „Okay, dann ähm … ich würde Logan gerne austauschen.“ Mit dem Mann wurde ich einfach nicht warm. „Diego soll seinen Posten einnehmen.“ Ich hatte lange darüber nachgedacht und auch wenn wir keine Freunde mehr waren, so vertraute ich ihm doch. Außerdem musste der Platz bei Samuel frei werden.
„Das ist kein Problem.“
„Gut. Und statt Diego werden sie ab sofort auf Samuel aufpassen.“
Diese Worte hatten einen Moment des Schweigens zur Folge. „Nach dieser Nacht wir Prinz Samuel kein Prinz mehr sein.“
Nein, weil dann nur noch ich und meine Nachkommen ein Anrecht auf den Thron hätten. Außer ein anderer geborener Alpha kam auf die Idee mich herauszufordern. Aber auch dazu gab es Regeln, die man einhalten musste. Man konnte nicht einfach ans Portal des Schlosses klopfen und eine Herausforderung aussprechen.
„Grafen haben kein Anrecht auf einen Umbra.“
„Ich weiß.“ Ich nahm noch eine Scheibe von dem Aufschnitt. „Aber im Moment haben wir einen großen Überschuss an Umbras und ich will auf keinen Fall, dass Samuel ungeschützt bleibt. Und meiner Meinung nach gibt es auf dem ganzen Planten, niemand der für diesen Posten besser geeignet wäre.“ Ich schaute ihn direkt an. „Er hat doch schon seine Eltern verloren und brauch jetzt eine Vaterfigur.“ Den ersten Teil des letzten Wortes betonte ich sehr deutlich.
Seine Augen weiteten sich kaum merklich.
„Geht das in Ordnung?“
Er nickte ganz leicht. „Ich werde sofort alles in die Wege leiten.“
„Danke.“
Und damit war der amüsante Teil meines Tages vorbei.
Nachdem Sydney satt war und mich böse angeschaut hatte, weil ich nichts außer einen sauren Gurke gegessen hatte, verschwand ich zu einem ausgiebigen Bad in den Nebenraum. Collette gab mir Duftöle, mit denen ich meine Haut einreiben musste. Aber nicht die Art von Ölen die nach Rosen und anderen Blumen rochen, nein diese hier rochen nach Wald und Wiese und unterstrichen meinen natürlichen Geruch. Nichts Aufdringliches, dass es meinem Zukünftigen erleichtern konnte, mich später im Wald zu finden.
Danach wurde ich gepudert, gepflegt, manikürt und was den Damen sonst noch alles einfiel. Es war schon fast Zeit für das Mittagessen, als Nikolaj kurz auftauchte, doch alle Frauen im Raum scheuchten ihn sofort mit lauten Rufen davon, weil seine Anwesenheit nur stören würde.
Ich hütete mich ihnen zu widersprechen.
Nachdem das Mittagessen abgeräumt worden war, von dem ich sogar einige Bisse zu mir genommen hatte, ging es an die Kleiderstangen. Ich würde mich nach meiner Vermählung umziehen müssen, denn jeder Anlass erforderte ein neues Outfit und keines davon beinhaltete eine Hose.
Leider waren Ledergurte nie so meines gewesen, aber sowas trug der Wolf von heute nun mal. Ich brauchte eines für die Hochzeit und eines für die Krönung. Da es mich nicht sonderlich interessierte, wie ich aussehen würde, durften die Frauen diese Entscheidung für mich treffen.
Dann wurde es Zeit, dass ich mich verwandelte.
Auch wenn ich seit dem Abend vor zwei Wochen jeden Tag ein wenig mit Sydney geübt hatte, so fiel es mir noch immer nicht ganz leicht, die Gestalt zu wechseln. Wenn ich es erstmal geschafft hatte, gab es keine Probleme, aber vorher brauchte ich eine menge Konzentration und Willenskraft. Und einen Rückzugsort, damit niemand mich dabei beobachten konnte. Daher verbrachte ich knapp zehn Minuten allein in meinem Kleiderschrank, bevor ich mein Fell ausschütteln konnte und zur Tür trabte, um daran zu kratzen.
Keine Hände zu haben, konnte sehr nachteilig sein.
Es war Collette, die mich aus dem Schrank rausließ. „Ihr seid wunderschön“, schwärmte sie sofort. Die wenigsten hatten mich bisher als Wolf gesehen. „Goldenes Fell.“ Sie hockte sich neben mich und streckte die Hand aus, als wollte sie mich berühren, doch mitten in der Bewegung hielt sie inne. „Was habt ihr da am Bein?“
Ich legte die Ohren an. „Nichts was dich etwas angeht.“
Sofort zog Collette sich ein wenig zurück. „Verzeiht.“
Na toll, jetzt bekam ich auch noch ein schlechtes Gewissen. Aber ich mochte es eben nicht, wenn jemand die Narbe sah. Leider konnte ich als Wolf nicht einfach eine Binde drüber ziehen und auch wenn mein Fell ein Großteil verdeckte, fiel es doch auf, dass da nicht alles in Ordnung war.
„Ja, egal, vergessen wir es. Lasst uns einfach weiter machen.“ Was in diesem Fall bedeutete, dass drei Frauen damit begannen mir mein Fell zu bürsten. Doch das war noch harmlos, im Gegensatz zu dem, was danach kam: Sie legten mir ein edles Hundegeschirr an. Es war weiß und mit Diamanten besetzt. Und auch wenn es bequem und wirklich hübsch war, mochte ich es nicht. Ich war schließlich kein Hund.
„Sollen sie Euch lieben in ein Hochzeitskleid stecken?“, fragte Sydney scheinheilig, als Collette noch ein wenig an mir herumzupfte. „Ich bin sicher, sowas könnte man auch für eine Wölfin anfertigen lassen.“
Dafür funkelte ich ihn an. „Du scheinst ja heute bester Laune zu sein.“
Anstatt zu antworten, sprang Sydney von der Couch und trottete zu mir herüber. „Ich versuche nur Euch etwas von Euer Nervosität zu nehmen.“
Als er seinen Kopf nach mir ausstreckte, schossen Collettes Arme panisch nach vorne, um ihn aufzuhalten. „Nein!“, rief sie so laut, dass alle erschrocken aufschauten. „Nicht berühren.“ Wieder begann sie wie wild an mir herumzuzupfen. „Wir haben Stunden gebraucht, um sie herzurichten.“
Fantastisch. Am liebsten hätte ich geknurrt. „Zum Glück ist dieses ganze Theater morgen endlich vorbei“, sagte ich so, dass nur Sydney mich hören konnte.
Ein Klopfen an der Tür erweckte meine Aufmerksamkeit. Da Collette noch schwer mit mir beschäftigt war und Sydney keine Hände hatte, war es eine der anderen fünftausend Frauen um mich herum, die sich darum kümmerte.
Es wurden ein paar Worte getauscht, dann zog die Frau lächelnd die Tür ein wenig weiter auf und erlaubte mir so den Blick auf Diego.
Während unsere Blick sich trafen, befürchtete ich einen kurzen Augenblick einen großen Fehler damit zu machen, ihn wieder als meinen Umbra einzusetzen. Da war etwas in seinen Augen. Doch dann verbeugte er sich leicht und der Moment war vorbei.
„Prinzessin Cayenne, Euer Wagen ist bereit.“
„Jetzt schon?“ Mein Blick schnellte hinauf zur Uhr. Halb vier. Eigentlich war ich sogar ziemlich spät dran.
Collette seufzte verträumt. „Es wird sicherlich wunderbar.“
Nein, das würde es sicher nicht werden.
„Habt nur Mut.“ Sydney trat einen Schritt nach vorne und rieb seinen Kopf an meinem. Das Collette dabei vor Entsetzen die Hände hob und ihn vermutlich am liebsten aus dem nächsten Fenster geschubst hätte, ignorierte er einfach. „Denkt immer daran, für wen Ihr das macht. Ich macht es für das Rudel, für Vivien und Anouk und für ihre Familien.“
Für Raphael, denn er hatte in den letzten Jahren schon genug gelitten. An dem erneuten Verlust seiner Schwester, würde er einfach zerbrechen.
„Du hast recht“, sagte ich und erhob mich auf meine Pfoten. Und auch wenn ich am liebsten in die andere Richtung davon gelaufen wäre, so zwang ich meine Beine zur Tür. Das was ich hier tat, war der einzig richtige Weg.
Ein Glück für mich, dass Sydney bei mir war, sonst hätte ich es mir im letzten Moment vielleicht doch noch einmal anders überlegt. Mit ihm an der Seite und gefolgt von Ginny und Diego, trat ich meinem Schicksal entgegen.
Auf dem Weg nach unten bekam ich von allen Seiten Glückwünsche. Ein paar sehr übermütige Lykaner klatschten sogar. Sie alle hatten das gleiche freudige Strahlen in ihren Gesichtern. Für sie war das ein glücklicher Tag, weil die Führung damit gesichert wurde. Über mir jedoch schwebten nur dunkle Wolken und keiner konnte sie sehen.
In der Eingangshalle warfen ein paar Frauen sogar Blütenblätter nach mir und jubelten. Ich musste mich zusammenreißen, um sie nicht alle anzuknurren und das wurde auch nicht besser, als ich hinaus in den Vorhof trat. Nicht wegen der Leute, die sich hier versammelt hatten, sondern wegen dem Mann, der an einem der Wagen stand und sich mit Großwächter Edward unterhielt.
Jegor.
Bei seinem Anblick sträubte sich mir das Fell.
„Bleibt ruhig“, sagte Sydney, der selber aussah, als hätte er in eine Steckdose gegriffen.
„Und das ausgerechnet von dir.“
„Ich gab ein Versprechen, ich werde weder ihn noch seinen Sohn anrühren.“ Er legte die Ohren an und schaute zu mir. „Aber ich werde keine Sympathie heucheln.“
Ich wusste nicht was genau es war, aber seine Worte ließen mich schaudern.
„Bis gleich.“ Sydney stupste mich noch einmal gegen die Wange und trottete dann zum hinteren Wagen, in dem auch die beiden anderen Kerberosse fuhren. Mein Weg jedoch führte mich zu Jegor. Da er heute die Vaterrolle einnahm, stand es ihm zu, mit mir zu fahren. Blieb nur zu hoffen, dass wir beide in einem Stück an unserem Ziel ankamen.
°°°
Eine sanfte Brise fuhr durch die Kronen der Bäume und brachte die kahlen Zweige zum rascheln. Schnee rieselte sanft herunter. Ich roch die Spur einer Maus, die hier vor kurzem vorbeigehuscht war und musste mich beherrschen, um mich nicht vor Langeweile auf die Suche nach ihr zu begeben – das hier war immerhin eine ernste Angelegenheit.
Die Fahrt in den Wald hatte eine halbe Stunde gedauert, der Weg den wir danach zurückgelegt hatten noch mal so lange.
Über mir funkelten bereits die Sterne. Ich hatte zwar keine Uhr dabei, aber ich würde schätzen, dass es so gegen sieben war. Das bedeutete, dass ich bereits seit knapp zwei Stunden auf dem Waldboden lag, den Schnee anstarrte und darauf wartete, dass Nikolaj mich fand. Ein Glück für mich, dass ich so einen dichten Pelz hatte. Zwar würde mir ein Abend vor dem Kamin besser gefallen, aber wenigstens fror ich nicht. Es hatte also auch Vorteile ein Wolf zu sein.
„Ihr solltet Euch ein wenig bewegen“, riet Sydney mir, als wüsste er mal wieder genau, was in meinem Kopf vor sich ging. „Das wärmt Euch auf.“
Und da sollte der Kerl mir noch mal erklären, er konnte keine Gedanken lesen. „Oder du rückst einfach ein wenig näher.“ Er lag zwar neben mir, aber er berührte mich nicht, schließlich waren wir nicht allein auf diesem gottverlassenen Stück Erde.
„Das wäre im Moment unangebracht.“
Ja, und das nicht nur, weil mein Verlobter vermutlich schon auf der Suche nach mir war, sondern auch wegen Ginny und Diego, die sich da irgendwo im Unterholz verbargen und mich im Auge behielten. Nicht mal auf meine Hochzeit konnte ich gehen, ohne dass meine Umbras in den Schatten lauerten. Im Moment war ich schließlich der wichtigste Lykaner im Rudel. Eine Ehre, die ich gerne abgegeben hätte.
Rechts neben mir saßen zwei weitere Wölfe und unterhielten sich leise miteinander. Der eine war von einem extrem hellen Grau und der andere erinnerte mich an einen Husky. Das waren Quentin und Louis, zwei Freunde von Nikolaj und meine beiden anderen Kerberosse.
Ich hatte sie gestern beim Mittagessen kennengelernt. Louis war ein Schnösel, aber Quentin war ganz nett. Er machte gerne Scherze über seine Größe und hatte sich selber ein paar Mal mit einem fusseligen Zwergspitz verglichen. Er war wirklich klein, sowohl als Mensch, wie auch als Wolf, aber er war definitiv größer, als so ein kleiner Fellball.
Immer wieder horchte ich auf meine Umgebend, aber nur die typischen Waldgeräusche der Nacht umgaben mich. Solange die Tiere des Waldes entspannt ihren Geschäften nachgingen, war es sehr unwahrscheinlich, dass Nikolaj in der Nähe war. Erst wenn sie alle verstummten, musste ich aufpassen.
Gelangweilt hob ich den Kopf und legte ihn Sydney auf den Rücken. „Wolltest du jemals heiraten?“
„Früher einmal, ja.“
„Und jetzt?“
Er sah mich traurig an. „Jetzt gehört mein Herz der einzigen Frau, die ich niemals haben kann.“
Er musste nicht genauer erklären, was er damit meinte. „Das tut mir leid“, sagte ich leise und auch wenn ich froh war, ihn an meiner Seite zu haben, so wünschte sich doch ein kleiner, nicht ganz so egoistischer Teil von mir, dass er mit einer anderen Frau glücklich werden könnte.
„Dass sollte es nicht, denn mir tut es nicht leid.“
„Aber ist es denn nicht schwer für dich?“ Für mich war es das nämlich. Nicht nur wegen der Situation und weil Sydney mir wirklich viel bedeutete, auch Raphael spukte noch immer in meinem Hinterkopf herum. Konnte man zwei Männer gleichzeitig lieben?
„Das Herz ist unergründlich und seine Wege manchmal grausam, doch schenkt es uns auch Glück auf eine Art, wie es nichts anderes auf der Welt vermag.“
Ich hob meinen Kopf, um ihn besser ansehen zu können. „Das war jetzt aber nicht wirklich eine Antwort.“
„Weil es nicht wichtig ist. Ihr seid es wert, das und noch viel mehr.“
Ich steckte meine Nase in seinen Pelz, und atmete tief ein. Vielleicht war es wirklich möglich, zwei Männer gleichzeitig im Herzen zu tragen.
Als der hellgraue Quentin sich erhob und ausgiebig streckte, schaute auch ich auf. Wahrscheinlich war ihm, genau wie mir, nur langweilig, aber sicher war sicher. Also streckte ich die Nase in die Luft und witterte.
„Er ist noch nicht in der Nähe“, erklärte Sydney.
Das war gut. Und auch schlecht. Vielleicht hatte ich ja Glück und er würde mich gar nicht finden. Dann könnte ich als freie Frau nach Hause gehen.
Wunschdenken.
„Dauert das immer so lange?“ Nicht das ich es eilig hätte.
„Ja, das ist normal.“
Super.
Genervt und unzufrieden mit der ganzen Situation, erhob ich mich und schüttelte meine Fell aus. Wenn ich schon nichts besseres zu tun hatte, dann konnte ich auch ein wenig auf Entdeckungstour gehen. Schließlich war es für mich immer noch neu, als Wolf unterwegs zu sein und gleichermaßen faszinierend. Es war, als würde man die ganze Welt neu entdecken.
Doch ich war kaum zwei Schritt gelaufen, da sprang mir dieser Louis mir mit einem Satz in den Weg und sorgte damit dafür, dass ich verdutzt stehen blieb.
„Wo wollt Ihr hin?“
„Ähm … nirgends.“
„Ihr müsst hier bleiben, bei uns.“ Er richtete sich ein wenig auf, um größer zu wirken. „So verlangen es die Regeln.“
„Spiel dich nicht immer so auf“, warf Quentin von der Seite ein und trottete zu uns hinüber. „Sie will doch nicht weglaufen.“
„Es ist egal, was sie will, wir sind ihre Bewacher und haben hier im Moment das Kommando.“
Es war egal was ich wollte? Ich legte die Ohren an und senkte den Kopf ein wenig. „Ich glaube sie sollten ihre Wortwahl noch mal ein wenig überdenken“, empfahl ich ihm und machte einen drohenden Schritt auf ihn zu. „Sie sind vielleicht ein Kerberos und ein Beta, aber ich bin eine Prinzessin.“ Der nächste Schritt ließ ihn ein Stück zurück treten. „Es ist weder egal was ich will, noch haben sie das Recht mir vorzuschreiben, was ich tun darf und was nicht. Haben sie das verstanden?“
Er schluckte und mit einem mal wirkte er gar nicht mehr so groß. Und das ganz ohne Odeur. „Aber die Zeremonie verlangt …“
„Er kommt“, unterbrach Sydney uns. Er hatte die Ohren aufgestellt und starrte konzentriert in die Finsternis.
Ich folgte seinem Beispiel, doch konnte ich weder etwas sehen, noch hören. Moment, ich konnte wirklich gar nichts hören. Um uns herum war es unnatürlich still geworden. Da war ein Beutegreifer auf der Jagd.
„Jetzt wird es lustig.“ Hätte Quentin gekonnt, hätte er wohl die Pfoten in diabolischer Vorfreude aneinander gerieben, bevor er auf dem Absatz kehrt machte und dann mit einem langen Satz im Unterholz verschwand. Einen Moment hörte ich noch das Knirschen von Schnee und das Brechen einiger Zweige, dann wurde es wieder still.
O-kay. Und ich hatte gedacht, er sollte meinen Bräutigam abwehren.
Als Sydney sich erhob und sich mit seinem riesigen Wolfskörper vor mich schob, erfasste mich eine gewisse Erregung. Meine Sinne schärften sich und nahmen die Umgebung noch viel intensiver wahr.
Ich schaute zu dem gleichen Punkt, den auch Sydney fixierte, wohingegen Louis unruhig von einer Seite zur anderen schaute. Aber bis auf die ganzen Bäume und das Unterholz konnte ich nichts sehen. Oder Hören. „Bist du dir sicher, dass er kommt?“
„Er kommt nicht, er ist schon da.“
Wie auf Kommando schoss von links ein Wolf aus dem Gebüsch und stürzte sich auf Louis. Er riss ihn von den Beinen, machte dann einen Satz zur Seite und verschwand wieder zwischen den Bäumen.
Jup, ich hatte mich erschrocken. Gleichzeitig kribbelte meine ganze Haut vor Aufregung und Nervosität. Verdammt, wer hätte gedacht, dass Nikolaj so schnell war? Ich hatte nicht mal die Chance gehabt ihn richtig zu sehen. Er nur ein brauner Schatten gewesen.
Louis kam schnaubend zurück auf die Pfoten. Er knurrte in die Richtung, in die Nikolaj verschwunden war und bemerkte so nicht, dass sein Gegner dieses Mal von hinten kam.
Ich sah noch eine Bewegung aus den Augenwinkel, da hatte Nikolaj seinen Freund auch schon ein weiteres Mal zu Boden gerissen und sprang mit einem lachen zur Seite, als dieser nach ihm schnappte. Dann stand er da und schaute mich mit aufgestellten Ohren an. Genau in dem Moment schon sich der Mond zwischen den Wolken hervor und zeigte ihn in seiner ganzen Pracht.
Wow.
Sein Fell hatte die Farbe von Vollmilchschokolade, Pfoten und Rute waren schwarz abgesetzt. Gesicht und Schnauze hatten eine dunkle Maske, die sich bis hinauf zu den Ohren zog. Ich hatte in meinem Leben ja schon einige Werwölfe gesehen, aber Nikolaj war einfach nur wunderschön.
„Das kriegst du zurück!“, rief Louis und setzte seinem Freund nach, doch der wirbelte einfach herum und verschwand hinter ein paar Bäumen.
„Ich weiß es widerstrebt Euch, Prinzessin, aber Nikolaj ist Euer Bräutigam.“ Er drehte den Kopf zu mir herum. „Es ist nun an der Zeit, ihn zu unterstützen.“
Unterstützen? „Du meinst … ich soll dich angreifen?“
„Mich, oder einen anderen Kerberos. Ihr solltet ihm zumindest helfen.“
Da hatte Sydney recht, das widerstrebte mir wirklich.
Zwischen den Bäumen hörte ich Grummeln und Knurren. Dann war Nikolaj wieder da und mit ihm Louis, der versuchte ihm in den Hintern zu beißen.
„Nun geht schon“, forderte Sydney mich auf.
Na gut. Dann würde ich den Herren mal zeigen, was eine Prinzessin so alles auf dem Kasten hatte. Und dabei sollte ich nicht vergessen, dass das alle nur ein Spiel war. Aber Sydney angreifen? Nein, das ging nicht. Also setzte ich mich in geduckter Haltung in Bewegung und schlich auf die beiden Wölfe zu, die sich direkt vor mir auf dem Boden rauften.
Was sie da taten, hörte sich übel an und sah auch nicht gerade freundlich aus aber Nikolaj lachte immer mal wieder. Dann aber erwischte Louis ihm im Nacken und riss ihn von dem Beinen.
Okay, Zeit einzugreifen. Ich kauerte mich zusammen und schoss dann in einem günstigen Moment nach vorne. Mit einem Stoß in die Seite, schubste ich ihn über Nikolaj rüber. Louis landete wieder im aufgewühlten Schnee und mein Verlobter schaute mich erstaunt an.
„Danke.“
Ich antwortete nicht. Stattdessen beobachtete ich Sydney, der langsam um uns herum schlich und auf eine Gelegenheit zu lauern schien. „Wie ist der Plan?“
„Welcher Plan?“
Super.
Er rollte sich wieder auf die Beine und schubste mich zur Seite, als Louis erneut zum Angriff über ging. In dem Moment hörte ich es hinter uns rascheln. Ich wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um Quentin aus dem Gebüsch springen zu sehen, dann rammte er auch schon Nikolaj und schleuderte ihn mir der Nase voran in den Dreck.
Uh, das hatte bestimmst wehgetan.
Quentin lachte laut und sprang wieder zurück ins Gebüsch. Louis war wieder auf den Beinen und Sydney kam immer näher. „So wird das nichts“, murmelte ich und sprang zur Seite, als Louis sich zwischen uns drängte. Darin lag die Aufgabe der Kerberosse, uns zu trennen und Nikolaj abzuwehren.
Nun gut, ich war noch nie eine Frau gewesen, die untätig daneben saß. Ich schnappte nach Louis, was ihn zwang zur Seite zu springen und dann rannte ich einfach los. „Komm!“, rief ich Nikolaj noch zu. Wenn wir sie nicht besiegen konnten, mussten wir eben abhauen.
Mein Bräutigam war geistreich genug, um zu kapieren was ich vorhatte, ohne dass ich ihn näher darüber aufklären musste. Er stieß Louis weg und setzte mir nach.
Dann rannten wir, als sei der Teufel hinter uns her.
„Hey!“, hörte ich Quentin hinter mir rufen. „Ihr schummelt!“
Und das sagte der, der uns Zahlenmäßig überlegen war.
Nikolaj übernahm die Führung und lenkte mich weiter nach Osten. Links und recht schossen die Bäume an uns vorbei. Es war ein Zickzacklauf bei Höchstgeschwindigkeit. Mein Herz trommelte vor Aufregung in meiner Brust. Ich strengte meine Muskeln an und versuchte noch ein wenig schneller zu werden. Dieses Gefühl durch den Wald zu hetzten, es war fantastisch.
Hinter mir hörte ich das Trommeln der Pfoten unserer Verfolger. Zwar war es dunkel, aber der Mond schien hell und auf dem weißen Schnee waren wir leicht zu verfolgen.
„Wie lange müssen wir ihnen davon laufen?“, fragte ich und sprang mit einem Satz, über eine morschen Baumstumpf.
„Bis sie aufgeben.“
„Und wenn sie nicht aufgeben?“
Nikolaj rannte rechts um einen Baum herum und scheuchte so ein Eichhörnchen auf, das seine Winterruhe unterbrochen hatte. Laut schnatternd schimpfte es uns hinterher. „Dann müssen wir hoffen, dass wir den längeren Atem haben.“ Er warf mir einen kurzen Blick zu. Diese Jagd schien ihm Vergnügen zu bereiten. „Oder einfach schneller sind.“
Das waren doch mal tolle Aussichten. Zum Glück verfügte ich dank meiner Jagd nach den Skhän über eine ziemlich gute Kondition. Fraglich war nur, wie es bei Nikolaj aussah. Es machte sich sicher nicht gut, wenn ich ohne ihn bei seinem Vater auftauchen würde. „Wo genau müssen wir hin?“
„Zu dem kleinen Hochzeitstempel, zu dem du mit meinem Vater gefahren bist.“
Und bis dahin sollte ich rennen?! Das sollte wohl ein Witz sein. Wölfe verfügten zwar über vergleichsweise viel Ausdauer, aber nicht wenn sie in diesem Tempo durch den Wald jagten. Und der Tempel lag eine halbe Stunde entfernt. „Fantastisch“, knurrte ich und zog mein Tempo noch einmal an. Wenn wir sie abhängen konnten, würden wir uns etwas entspannen können.
Leider waren Nikolajs Freunde ziemlich ehrgeizig. Wir schlugen Haken und liefen ein kurzes Stück sogar durch einen flachen Bach. Und doch schien es eine Ewigkeit zu dauern, bis sie zurückfielen. Wahrscheinlich wurde es ihnen einfach zu anstrengend.
Doch auch als wir sie nicht mehr hörten, rannten wir noch ein paar Minuten weiter, bevor wir langsamer wurden und letztendlich hechelnd irgendwo mitten im Wald stehen blieben.
Meine Lunge brannte, mein Herz raste und meine Muskeln teilten mir mit, dass sich dafür morgen mit einem Muskelkater bei mit bedanken würden. Aber ich fühlte mich gut.
Allerdings konnte ich mich nicht entspannen. Zwar sah und hörte ich unsere Verfolger nicht mehr, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie nicht mehr da waren. Wir mussten wachsam bleiben.
„Ich dachte schon, die geben gar nicht mehr auf.“ Nikolaj hechelte so stark, dass ihm die Zunge fast bis auf den Boden hing.
„Sie scheinen es dir nicht einfach machen zu wollen.“ Mein Mitleid hielt sich in Grenzen.
„Ich glaube eher, sie wollten dich noch ein wenig für sich haben.“ Er machte einen Schritt nach vorne, blieb dann aber wieder abrupt stehen und drehte den Kopf so hastig nach links, dass es mich nicht gewundert hätte, ihn knacken zu hören.
„Was ist?“ Auch ich schaute zurück. Hatte er etwas gehört?
„Dein Mentor“, sagte er und begann damit unsere Umgebung wachsam zu sondieren. „Er ist und gar nicht hinterhergelaufen.“
Jetzt wo er es erwähnte. „Vielleicht hatte er einfach keine Lust uns zu verfolgen.“ Oder besser gesagt, mich. Trotzdem war es seltsam.
„Vielleicht“, räumte Nikolaj ein und setzte sich wieder in Bewegung. „Komm, es ist nicht mehr weit.“
Was nicht gerade ein Ansporn für mich war, ihm zu folgen, denn wären wir erstmal am Ziel, gäbe es kein Zurück mehr. Ach, was machte ich mir hier eigentlich vor, es gab schon jetzt kein Zurück mehr.
Ich lief ihm hinterher, verlangsamte meinen Schritt nach ein paar Metern aber etwas, weil ich da etwas im Gebüsch gesehen hatte, doch nach einer kurzen Prüfung der Witterungen, ignorierte ich es einfach. Das waren nur Diego und Ginny. Die hatte ich in dem Chaos eben ganz vergessen.
Nikolaj trottete vor mir her, ließ sich aber nach ein paar Minuten an meine Seite zurück fallen. Er schaute ein paar Mal unauffällig zu mir rüber, als wollte er etwas sagen, wüsste aber nicht was.
Ich half ihm nicht aus dieser Miesere.
„Also … ich hab überlegt – natürlich nur wenn du möchtest – das wir, naja, wir haben bisher nicht über Flitterwochen gesprochen.“
Flitterwochen? Mit ihm? Ich blieb so abrupt stehen, als hätte sich eine Wand direkt vor mir aufgetan.
So wie er die Ohren anlegte, war das wohl nicht die Reaktion, die er sich erhofft hatte. „Du scheinst von der Idee nicht sehr angetan zu sein.“
Nein, war ich nicht. Genauso wenig wie die zwei anderen Male, als mein Hochzeitsplaner mich darauf angesprochen hatte. Und darum sagte ich Nikolaj das gleiche, was ich auch ihm gesagt hatte. „Ich habe keine Zeit in den Urlaub zu fahren. Durch den Tod der Alphas werde ich hier gebraucht.“
„Oh.“ Er duckte sich ein wenig. „Du hast natürlich recht. Verzeih, ich habe nicht nachgedacht.“
Und selbst wenn es anders wäre, würde ich mit ihm niemals in die Flitterwochen fahren. Allerdings behielt ich das für mich, obwohl er schon sehr dumm sein musste, wenn er das nicht von alleine durchschaute.
„Aber vielleicht könnten wir ja …“
Das Knacken eines Astes im Gebüsch, ließ und beide aufhorchen. Mein Blick richtete sich auf die Schatten zwischen die Bäume, aber dort sah ich nichts als unberührten Schnee, der unschuldig im Schein des Mondes glitzerte.
Langsam ließ ich meinen Blick über unsere Umgebung gleiten. Ich hatte das Gefühl beobachtet zu werden. Okay, da Diego und Ginny da waren, wurde ich ganz sicher beobachtet, aber das hier war anders. Da war etwas auf der Jagd und ich hatte auf einmal das Gefühl, die Beute zu sein.
„Siehst du etwas?“
„Nein.“ Und ich gab mir wirklich große Mühe.
„Wahrscheinlich nur ein Tier.“ Nikolaj schaute noch einmal in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, aber auch da gab es nicht viel zu sehen. „Komm, der Tempel ist gleich dort hinter den Bäumen.“ Er machte einen Schritt und genau in diesem Moment geschah es. In einer Wolke aus Schnee, stürzte sich etwas so heftig auf ihn, dass Nikolaj nicht nur zu Boden gerissen wurde, sondern auch noch schmerzverzerrt aufjaulte.
Vor Schreck machte ich einen Satz zurück und musste feststellen, dass dieses Etwas gar kein Etwas war, das war Sydney. Er hatte unter dem Schnee gelauert. Verdammt, wie hatte er das hinbekommen? Und wie hatte er es geschafft vor uns hier zu sein?
Nikolaj versuchte auf die Beine zu kommen, doch Sydney stürzte sich sofort mit einem ganzen Gewicht auf ihn und drückte ihn zu Boden. Dabei packte er ihn mit den Zähnen an der Kehle und Knurrte so drohend, dass ich einen Moment befürchtete, er würde wirklich zubeißen.
Zum ersten mal kam mir der Gedanke, dass es vielleicht keine gute Idee gewesen war, Sydney zu einem Kerberos zu ernennen.
„Hören sie auf!“, schimpfte Nikolaj und versuchte nach Syndey zu treten, doch der wurde nur noch zudringlicher.
Sein Fell war gesträubt und seine Rute steil aufgerichtet. Als er Nikolaj dann auch noch am Ohr erwischte und dieser aufjaulte, wurde mir klar, dass ich eingreifen musste.
„Hör auf!“, schrie ich und ließ mein Odeur um mich herum explodieren.
Die beiden Männer zuckten heftig zusammen. Das Knurren erstarb und nach einem Moment, ließ Sydney auch von Nikolaj ab und zog sich unterwürfig ein Stück zurück.
„Was sollte das?“ Nikolaj rollte sich herum und wich ein paar Schritte zurück. „Sind sie übergeschnappt?“
„Nein.“ Er sagte das völlig ruhig, so als wäre gar nichts gewesen. „Aber ich bin ein Kerberos und sie müssen meiner Stärke standhalten, um zu beweisen, dass sie würdig sind der Gefährte der Prinzessin zu werden.“ Ganz kurz ging sein Blick zu mir.
Plötzlich war ich mir sicher, dass Sydney nur Stuss redete. Hier ging es nicht um Stärke oder den Beweis seines Wertes, er hatte ihm schlicht und einfach den Hintern versohlen wollen, ohne dabei sein Versprechen an mich zu brechen.
Das war irgendwie süß, aber das durfte ich nicht zulassen. „Es reicht“, knurrte ich und fixierte Sydney. „Die Jagd ist zu Ende, der Tempel ist gleich hinter den Bäumen. Nikolaj hat mich gefunden und hier her gebracht. Deine Dienste als Kerberos werden nicht mehr gebraucht.“
„Natürlich, Ihr habt recht, Prinzessin Cayenne.“ Er beugte leicht sein Haupt. „Ich war wohl nur ein wenig übereifrig.“
So könnte man das natürlich auch bezeichnen.
„Und welch eine Demütigung muss es für den Bräutigam sein, an seinem Hochzeitstag von seiner Braut gerettet zu werden, wo doch eigentlich er die Krieger des Vaters überwinden müsste.“
Da Nikolaj darauf nicht reagierte, hatte Sydney wohl nur zu mir gesprochen und mal ehrlich, wow, ich hatte gar nicht gewusst, dass er so bösartig sein konnte. Ein Glück für mich, dass er mich lieb hatte. „Wir sollten gehen.“
Sydney nickte mir versöhnlich zu, knurrte aber noch einmal leise in Nikolajs Richtung, bevor er sich abwandte und lostrottete.
Nikolaj schnaubte nur, schüttelte sein Fell aus und trabte an meine Seite. „Also ich hab ja bereits gehört, er wäre ein wenig sonderbar, aber das ist ja geradezu verschroben.“
Dafür bekam er einen bösen Blick. „Sydney ist nicht verschroben, er ist mein Freund und du tätest gut daran, ihn mit ein wenig Respekt zu behandeln.“
Der scharfe Ton in meiner Stimme, ließ ihn zurückzucken. „Natürlich, verzeih mir.“
Sicher nicht. „Lass uns einfach gehen.“
Der Tempel war wirklich nur noch einen Katzensprung entfernt und wirkte bei Nacht einfach nur beeindruckend. Es war ein großer Steinpavillon mit einer gläsernen Kuppel, die von steinernen Säulen getragen wurde. Es gab keine Wände, nur einen kleinen Altar in der Mitte, sodass man von der Natur nicht nur umgeben war, sondern sie auch in all ihrer Pracht bewundern konnte.
Als Jegor mich vor Stunden von hier weggebracht hatte, war er bis auf ein paar Diener, die noch letzte Hand an die Dekoration gelegte hatten, leer gewesen.
Auch jetzt platzte er nicht gerade aus allen Nähten, doch war er nicht länger verwaist. Eine handvoll Umbra hatte sich eingefunden, genau wie ein Dutzend Wächter. Auch Sadrija entdeckte ich. Sie alle waren in Wolfsgestalt. Nur Samuel fehlte.
Das machte mich traurig. Ich würde mir etwas einfallen lassen müssen. Er brauchte zwar Zeit zum trauern, aber ich musste ihn einfach wissen lassen, dass ich trotz allem noch für ihn da war und es auch immer sein würde.
Und inmitten all dieser Wölfe, oben auf dem Altar, saß Jegor und schaute mir berechnend entgegen. Gleich hatte er sein Ziel erreicht.
Der Schnee knirschte unter unseren Pfoten. Mein Fell streifte das von Nikolaj. Aller Blicke waren auf uns gerichtet. Ich musste mich zwingen weiter zu gehen. Pfote um Pfote, Schritt um Schritt. Mein Herzschlag wurde immer schneller und das lag ganz sicher nicht an meiner Vorfreude.
Als wir die Stufen zum Tempel betraten, erhoben sich die Wölfe schweigend. Auch Sydney, der sich den anderen angeschlossen hatte. Jegor jedoch blieb sitzen und schaute uns erhobenen Hauptes entgegen. Es machte den Eindruck, als wäre er selber ein König.
Nur noch ein paar Meter, dann standen wir direkt vor ihm und schauten zu ihm hinauf. Um uns herum wurde es mucksmäuschenstill still.
Jegor schaute von mir zu seinem Sohn. „Tief im Wald, ward sie gebracht, geschützt durch die Krieger, dreierlei.“
„Tief im Wald, ward sie verborgen, keine Erschwernis war zu groß, für meine Frau“, antwortete Nikolaj.
Dann war ich wohl jetzt an der Reihe. „Tief im Wald, ward ich gefunden, errettet, durch meinen … Mann.“ Das letzte Wort musste ich mir geradezu rausquälen.
Jegor senkte den Kopf ein wenig. „Ein Wort, bindend für alle Zeit, in Körper und Geist, in Schwäche und Wohlstand, in Liebe, Verständnis und Respekt.“
„Ein Wort“, sagte Nikolaj. „Ja.“
Oh Gott. „Ein Wort“, wiederholte ich und spürte wie plötzlich alle Blicke auf mir lagen. Ich wollte „Nein!“ schreien, ich wollte weglaufen, ich wollte von all dem hier nichts wissen, aber Jegor fixierte mich mir einem Blick, in dem all seine Drohungen lagen. „Ja“, sagte ich und starb in diesem Moment wohl tausend Tode.
Ich hatte nicht geglaubt, dass es so schmerzhaft sein würde, doch plötzlich spürte ich wieder diese Fessel, die sich so eng um mich zusammen zog, dass ich am liebsten geweint hätte.
„Unter dem Mond und dem Geist des Urvaters Leukos“, rezitierte Jegor weiter. „Mit der Magie der Nacht und dem Gesang der Wölfe, seid ihr fortan Gefährten für alle Ewigkeit.“
Alle Anwesenden erhoben die Schnauzen zum Himmel und heulten hinauf zum Mond. Niemand von ihnen spürte meinen Schmerz und den Verlust. Nun war es geschehen, ich war Nikolajs Gefährtin und damit eine Verdammte, bis ans Ende meiner Tage.
Langsam drehte ich den Kopf zu Sydney. Er war der einzige, der nicht in den Gesang mit einstimmte, denn er wusste, dass ich in diesem Augenblick nichts weiter als eine Trophäe war.
Wären die Alphas noch am Leben und somit heute nur meine Trauung, so würden wir jetzt alle in Schloss fahren und diesen ganz besonderen Tag in meinem Leben feiern. Aber leider war ich der letzte offizielle Alpha in diesem Rudel und musste somit zu einem weiteren, dringenden Termin, der leider keinen Aufschub duldete. Also fuhren wir nach der Zeremonie nicht zurück an den Hof, sondern hinein nach Silenda, wo ich in ein kleines Hotel untergebracht wurde, um mich dort auf meine Krönung vorzubereiten.
Es lag unweit vom Tempel Leukos entfernt, den Ort, an dem alle Alphas gekrönt und auch verabschiedet wurden. Ich war vor einer Woche zum ersten Mal dort gewesen. Nicht um mir die Örtlichkeiten anzuschauen, sondern um der Beerdigung meiner Familie beizuwohnen.
Kaum dass ich das Hotelzimmer betreten hatte, wurde ich von einer Flut Lykaner umschwärmt. Die einen brachten Essen, die anderen befreiten mich von meinem Geschirr und Collette schlug die Hände über den Kopf zusammen, weil in meinem Fell der halbe Wald hing. Keine Ahnung wie der da hingekommen war.
Also setzte ich mich einfach hin und ließ sie mich bürsten und säubern und füttern. Eine Frau schmierte mir irgendwelche Öle auf Kopf und Ohren, die mich zum Niesen brachten.
Sydney hatte sich ein Plätzchen auf der Couch gesucht. Nicht nur weil es bequem war, so war er einfach niemanden im Weg. Außer vielleicht Nikolaj, der sich deswegen auf einen Sessel setzten musste und meinem Mentor immer wieder herabwürdigende Blicke zuwarf. Den Angriff im Wald nahm er ihm wohl immer noch übel.
„Hebt die Pfote“, bat mich Collette. „Wir müssen uns ein wenig beeilen, es ist nicht mehr lange, bis Mitternacht.“
Ja, wäre doch zu dumm, wenn ich meine eigene Krönung verpassen würde.
Niedergeschlagen schaute ich zu Sydney herüber. Seine Augen sagten so viel mehr, als er es hätte mir Worten ausdrücken können. Obwohl, wir redeten hier von Sydney und der war Meister des Wortes. Wie gerne hätte ich jetzt mit ihm getauscht. Nein, eigentlich nicht, das würde ich niemanden antun wollen, besonders nicht ihm.
„Prinzessin?“
Ich hob meine Pfote, damit sie mir das andere Geschirr überziehen konnte. Dieses hier war rot und ziemlich extravagant. Es hatte sogar einen Umhang, denn ich wie eine Schleppe hinter mir herziehen musste und alles ab meinem Schultern verdeckte. Wozu brauchte ein Wolf einen verdammten Umhang?
Ein Klopfen an der Tür, ließ mich aufblicken. Es war Diego, der sich darum kümmerte.
Das Gefühl ihn wieder in meiner Nähe zu haben, war schon seltsam. Nicht dass er sich irgendwie sonderbar verhielt, aber wir hatten halt eine gemeinsame Vergangenheit und jedes Mal wenn ich ihn sah, wurde ich daran erinnert. Sowohl an die schlechten, als auch an die guten Zeiten.
Ich wusste noch immer nicht, warum ich ihn wieder zu meinem Umbra gemacht hatte. Vielleicht hätte ich doch lieber Joel nehmen sollen.
Als Diego sich zu uns umwandte, begegneten sich unsere Blicke. „Markis Jegor Komorrow bittet eintreten zu dürfen.“
Meine erste Reaktion war es, diesen Kerl zum Teufel zu wünsche, doch bevor ich meinen Gedanken in Worte fassen konnte, sagte Nikolaj bereits: „Lassen sie ihn herein.“
Da Diego leider nicht fähig war meine Gedanken aus meinem Kopf zu pflücken, trat er zurück und zog die Tür für meinen Schwiegervater ein wenig weiter auf. Allein dieses Wort zu denken, bereitete mir Unwohlsein.
Im Gegensatz zu den Umbras und den Wächtern, hatte Jegor sich noch nicht zurück verwandelt. Er stolzierte in den Raum, als wäre es seiner und ließ seinen Blick einmal durch das Zimmer schweifen. Einen Moment verharrte er dabei auf Sydney, als missbilligte er seine Anwesenheit, doch sein eigentliches Ziel war ich. „Prinzessin Cayenne.“ Er deutete eine Verbeugung an. „Oder sollte ich Euch vielleicht schon Königin Cayenne nennen?“
Mistkerl. „Da meine Krönung noch bevorsteht, wäre das wohl unangebracht.“
„Nein, nicht wirklich. Es sind schließlich nur noch ein paar Formalitäten. Das Rudel feiert Euch bereits seit dem Tod der Alphas, als die neue Königin.“ Er setzte sich unweit von mir hin und beobachtete, wie Collette den Umhang an meinem Geschirr befestigte und ihn dann über meinen Rücken drapierte. Fehlte eigentlich nur noch, dass sie mir ein paar Schleifchen ins Haar band und ein Krönchen auf den Kopf setzte.
„Wollten sie etwas bestimmtest?“, fragte ich und versuchte nicht zu knurren, weil Collette jetzt an einer anderen Stelle an mir herum zupfte. Gott war ich froh, wenn dieser Trubel vorbei war.
„In der Tat. Es gibt da ein paar Dinge, die wir miteinander besprechen sollten.“
„Dinge?“
Seine Augen nahmen einen verschlagenen Ausdruck an. „Nicht hier und jetzt, das sollte in einem eher … privateren Rahmen stattfinden.“
Mir stellten sich die Nackenhaare auf. Ich konnte spüren wie die Angst zu mir zurück kehrte, als der Moment in seinem Büro aus der Versenkung auftauchte.
„Vielleicht könnt Ihr es morgen ja zeitlich einrichten. Es wird sicher nicht lange dauern.“
Meine Lefzen hoben sich, als ich drohend knurrte. „Ich habe morgen keine Zeit.“
Die Blicke der Anwesenden richteten sich auf mich.
„Aber, aber.“ Jegor fühlte sich nicht im Mindesten bedroht. Ganz im Gegenteil, mein Verhalten schien ihn zu amüsieren. „Ihr solltet Euch vielleicht ein wenig zusammenreißen, sonst kämen die Leute noch auf den Gedanken, dass hier etwas nicht in Ordnung sei und das wollt Ihr doch sicher nicht.“
Du miese, kleine Ratte. Ich zwang mich, mich ein wenig zu entspannen. Leider half das nicht dabei, die Aufmerksamkeit der Anwesenden wieder loszuwerden.
„Also?“, fragte Jegor ganz entspannt.
Ich wollte nicht. Oh Gott, ich wollte diesen Mann nie wieder sehen, aber er hatte mich in der Hand. Selbst als Königin, wenn ich der mächtigste Lykaner auf dieser Welt wäre, könnte ich mich nicht gegen ihn wehren, denn auch sein Tod würde Vivien und Anouk nicht retten. „Worum geht es denn?“
Er dachte einen Moment nach und sagte dann: „Wertanlagen.“
Es ging also um seine Geschäfte als Sklavenhändler. Scheiße, er würde doch nicht verlangen, dass ich ihn dabei unterstützte, oder? Aber wie sollte ich ablehnen?
Hilfesuchend schaute ich zu Sydney, der uns schon aufmerksam beobachtete, doch es war Nikolaj, der vom Sessel sprang und sich stirnrunzelnd zu uns gesellte. „Stimmt etwas nicht?“, fragte er niemand bestimmten.
Ich konnte nur den Kopf senken, um nicht in Versuchung zu geraten, noch einmal zu knurren.
„Ich ersuche nur gerade um eine Audienz bei deiner Frau.“ Es schien ihm geradezu vergnügen zu bereiten, mich so zu bezeichnen. „Nach der Krönung haben wir viel miteinander zu besprechen.“
„Kann das nicht warten?“ Er warf mir einen kurzen Blick zu. „Cayenne braucht Ruhe, die Krönung beginnt gleich. Es ist sicher nicht in deinem Interesse, wenn etwas dabei schief geht, weil sie sich vorher aufregt.“
Jegors Überlegenheit wich seiner Missbilligung. „Mir ein wenig ihrer Zeit zu geben, dürfte doch nicht zu viel verlangt sein.“
„Ab Morgen ist Zeit etwas, das sowohl bei ihr, als auch bei mir knapp bemessen sein wird.“
Jegors Lefzen gingen ein wenig nach oben. „Mir scheint, du hast vergessen, wem du das hier alles zu verdanken hast. Und auch was auf dem Spiel steht.“ Bei den letzten Worten schaute er mich an.
Nikolaj legte die Ohren an. „Nein, aber jetzt gerade hat Cayenne keine Zeit dafür. Bitte geh, Vater, ich werde mich in den nächsten Tagen bei dir melden.“
Das war nun absolut nicht das, was Jegor hören wollte. Er zog die Lefzen noch hör und knurrte Nikolaj an. Das dieser daraufhin einen Schritt vor seinem Vater zurück wich, spornte ihn auch noch an. Leider schien er dabei vergessen zu haben, dass sich in diesem Raum noch ein Haufen Umbras und Wächter befanden, die sofort aufmerksam wurden. Sie konnten vielleicht nicht hören, was wir sagten, aber sie hatten Augen im Kopf und fanden es absolut nicht witzig, das ihr baldiger König bedroht wurde.
„Gibt es ein Problem?“, fragte Diego und kam etwas näher.
Jegors Knurren erstarb.
„Nein“, sagte Nikolaj. „Mein Vater wollte nur gerade gehen.“
Das hatte zur Folge, das Jegor seinen Sohn mit einem Blick aufspießte. Da er aber auch keine Aufsehen erregen wollte, konnte er nichts anderes tun, als sich zu fügen und den Raum zu verlassen. Leider erleichterte mich das nicht unbedingt.
Für den Moment war ich noch einmal davon gekommen, aber ich würde mit Jegor sprechen müssen. Ich würde immer tun müssen, was er verlangte.
„Sei unbesorgt.“ Nikolaj stupste mir gegen die Wange, was mich zwang stillzuhalten. „Ich werde dafür sorgen, dass er dich eine Weile in Ruhe lässt.“
Als wenn er das könnte. Man hatte es doch eben gesehen, Nikolaj fürchtete sich vor seinem Vater. Wenn Jegor nur wollte, konnte er seinen Sohn zu allem bringen, was Nikolaj vielleicht noch gefährlicher machte, als den Mann, der mich erpresste, denn es würde es mir schwer machen, meinen eigenen Mann einzuschätzen.
„Prinz Nikolaj, bitte kommt her“, rief eine der Frauen. „Wir müssen auch Euch für die Feierlichkeiten herrichten.“
Ja, denn ich würde zwar der einzige Alpha im Rudel sein, aber er war immerhin mein Mann.
Es dauerte noch fast zwanzig Minuten, bis mein Großwächter auftauchte und verkündete, dass wir uns nun auf den Weg machen mussten. Das hatte zur Folge, das plötzlich alle in heilloser Aufregung durcheinander liefen und es weitere fünf Minuten dauerte, bis ich das Hotel verließ. Was mich da erwartete, war einfach nur … angsteinflößend.
Vor mir erstreckte sich ein Meer aus Wölfen. Bis auf einen kleinen Platz direkt vor dem Hotel, war alles voll mit ihnen. Nicht nur in ihrer tierischen Gestalt, auch als Menschen. Aber sie verstopften nicht nur die Straßen, sie waren auch in den Häusern und schauten aus den Fenstern zu mir herunter. Einige wenige hatten sich Plätze auf den Dächern ringsum gesucht und zwei besonders wagemutige, saßen oben auf den Laternen am Straßenrand.
Und sie alle starrten mich beinahe schon ehrfürchtig an.
Langsam ließ ich mein Blick durch die Runde gleiten. Die meisten der Gesichter waren mir fremd, doch es gab auch ein paar vertraute unter ihnen. Hauptsächlich Leute, die ich aus dem Hof kannte.
Sie alle waren gekommen, um mir zu folgen. Sie alle würden die Verantwortung für ihre Leben in meine Hände legen, denn ich würde ihr Alpha sein.
„Sie warten“, raunte Nikolaj mir zu. Im Gegensatz zu mir, hatte man ihm nur ein sehr aufwendig gearbeitetes Halsband verpasst. Es stand ihm. „Du musst den ersten Schritt machen.“
Nun gut, dann sollte es so sein.
Ich richtete mich ein wenig gerader auf und ging dann direkt auf die Menge zu. Sofort kam Bewegung unter die Leute. Sie jaulten, kläfften, winselten und rempelten sich gegenseitig an, während sie zurück wichen, um eine Gasse zu bilden, die mich auf direktem Wege zum Tempel von Leukos führte.
Es waren nur hundert Meter, aber diese kamen mir endlos lang vor.
Ich war nicht die, für die sie mich hielten. Ich wollte sie weder führen, noch die Verantwortung für sie haben. Wie konnten diese Leute sich nur einer völlig Fremden ausliefern? In der Zwischenzeit verstand ich das Rudel und seine Bedürfnisse besser, als früher, aber es gab noch so viel zu lernen. Fast täglich entdeckte ich Neues und sah Dinge, die ich niemals für möglich gehalten hätte. Ich war einfach nicht dafür geschaffen hier zu sein.
Und doch schritt ich unaufhaltsam meinem Ziel entgegen.
Der Tempel von Leukos war das Mahnmal eines Bauwerks. Ein großes Steindach, gestützt auf zwölf Säulen. Es erinnerte mich an die Bauwerke der alten Griechen. Hoch, länglich und ziemlich imposant.
Die wenigen Stufen in den Tempel schienen kein Ende zu nehmen. Meine Pfoten wurden mit jedem Schritt schwerer. Ich war versucht mich nach Sydney umzudrehen, aber das durfte ich nicht. Hier und jetzt war ich auf mich allein gestellt.
Das Fiepen und jaulen um mich herum wurde immer lauter. Ein paar Leute riefen mir zu. Als ich den Kopf zur Seite drehte, um mich nach einem besonders geräuschvollem Exemplar umzusehen, entdeckte ich zu meinem Entsetzen Murphy. Er steckte die Finger in den Mund, pfiff und winkte mir dann zu.
Augenblicklich konzentrierte ich mich wieder auf den hinteren Teil des Tempels, wo die eindrucksvolle Statur einen majestätischen Wolfes stand.
Oben in der Decke war eine große Öffnung, durch die Mondlicht auf einen Altar schien. Mindestens zwei Dutzend Wächter standen links und rechts davon, um den blauen Topas obenauf zu schützen. Die Seele von Leukos.
Ich schritt direkt darauf zu, umkreiste ihn dann einmal und stellte mich mit den Vorderpfoten an den Altar. Nikolaj folgte meinem Besipiel, nur ging er links herum.
Der Schein des Mondes fiel direkt auf Leukos Seele. Ein Mal hatte ich diesen Stein bisher gesehen und genau wie damals, schien sich unter der Oberfläche träge Schatten zu bewegen. Damals hatte ich das unheimlich gefunden und auch jetzt erging es mir nicht anders.
Als es um mich herum immer Unruhiger wurde, hob ich den Blick. Augenblicklich wurde es ruhig.
Hunderte von Blicken waren abwartend und voller Vorfreude auf mich gerichtet.
„Man sagt, Leukos Seele erkennt die Seinen und entlarvt die Täuscher“, sagte ich laut, um sie alle zu erreichen. Dieses Mal hatte man mir keinen Text vorgegeben, also musste ich improvisieren. „Den einen schenkt er Frieden, den anderen den Wahnsinn und wer sich seinem Urteil ergibt, kann niemals zurück.“ Ich ließ meinen Blick einmal durch die erwartungsvolle Menge gleiten. „Hiermit ergebe ich mich dem Urteil Leukos.“
Noch einmal atmete ich tief ein, dann hob ich die rechte Pfote und legte sie auf den Stein. Sofort wurde ich von dem Gefühl der Macht berauscht. Pure Energie floss in meinen Körper und durchströmte jede meiner Zellen.
Mit einem Seufzen sackte ich ein wenig nach vorne. Dieses Gefühl, es war einfach nur … vollkommen, als wenn ich in purem Glück baden würde.
Meine Augen schlossen sich, aber das war egal, den meine Sinne waren mit einem Mal um ein vielfaches geschärft. Hunderte von Gerüchen wirbelten um mich herum. Ich hörte die Lykaner, fühlte ihr Staunen und ihre Präsenz.
Unzählbare Stummen murmelten durch meinen Geist. Kind des Mondes, Tochter von Leukos, Führer des Volks. Ich glaubte unter ihnen Kaidan zu hören. Und Blair. Führe sie.
Ich schlug die Augen auf und sah die Welt mit dem Blick des Wolfes. Der Schein des Mondes war mit einem mal viel intensiver. Der Rausch der Nacht beflügelte mich. Die Magie der Mondmelodie durchdrang jede Faser meines Seins. Mit einem Mal wusste ich genau, was ich zu tun hatte.
Sie wollten eine Königin und die würden sie auch bekommen. Eine die es besser machte, als ihr alter König, eine die hielt was sie versprach. Ich würde keinen von ihnen im Stich lassen, ich würde sie beschützen, jeden einzelnen von ihnen.
Ich spürte wie der Mond seinen höchsten Stand erreichte. Ein einzelner Mondstrahl traf auf den Leukos Seele. Die Melodie der Nacht pulsierte durch meinen Körper, ich badete im Licht und das war der Moment, in dem ich mein Odeur mit all meiner Macht hervorbrechen ließ.
Es flutete wie eine Welle über die Wölfe hinweg. Ich konnte hören, wie ihnen der Atem stockte. Nikolaj trat sogar einen Schritt zurück. König Isaak war stark gewesen, ja, aber er konnte nicht mit mir mithalten, nicht mehr seid ich meine erste Verwandlung hinter mich gebracht hatte.
Ein Wolf, der sich auf einer Laterne einen Platz gesucht hatte, fiel vor Schreck herunter – hoffentlich hatte er sich nicht wehgetan. Es wurden überraschte Laute ausgestoßen und irgendwo jauchzte ein Kind vor Aufregung.
Das Mondlicht erstrahlte nicht länger nur vom Himmel, ich war das Mondlicht, ich leuchtete in der Nacht wie eine Christbaumkugel an Weihnachten.
Aus jeder Pore trieb ich mein Odeur und zeigte ihnen, wem sie in Zukunft zu gehorchen hatten. „Ich bin Eure Königin!“, rief ich so laut, dass auch die hintersten mich verstanden. „Ich bin euer Alpha und ab heute steht ihr alle unter meinem Schutz. Keiner wird es mehr wagen sich an dem Rudel zu vergreifen und wenn doch, wird er es bitter bereuen.“
Und dann, als wären sie ein einziges Wesen, kniete jeder Werwolf nieder. Sie akzeptierten mich, erkannten meinen Rang an und würden mir ab jetzt überall hin folgen.
Langsam nahm ich die die Pfote vom Topas. Die Welt um mich herum normalisierte sich wieder ein wenig, das Flüstern in meinem Kopf verklang und der Schein um mich herum verging.
Wow, so heftig hatte ich das gar nicht in Erinnerung.
Ich drehte mich zu Nikolaj herum, der mich mit einer Ehrfurcht anschaute, dass es schon peinlich war. Doch dann blinzelte er und hätte wohl gelächelt, wenn ihm das als Wolf möglich gewesen wäre. „Meine Königin“, sagte er leise und senkte ein wenig den Kopf.
Königin, ja, jetzt war ich die Königin der Lykaner und würde niemals zurück können.
Bedächtig schloss ich erneut die Augen, legte den Kopf in den Nacken und dann heulte ich hinauf zum Mond.
Tausende von Stimmen antworteten meinem Ruf, doch niemand von ihnen verstand den Schmerz, der mein Herz quälte.
°°°°°
Zehn Monate später
… bitten ich um Unterstützung, um den bereits entstanden Schaden zu beheben und weiterem vorzubeugen. Des Weiteren würde ich mich freuen, wenn …
Ich ließ den Brief auf meinen Schoss sinken und rieb mir müde die Augen. Auch ohne ihn zu Ende zu lesen, wusste ich genau wo der hinkam: auf meinen dritten Stapel.
Mein erster Briefhaufen trug die Überschrift: Wichtig. Der zweite war für Briefe reserviert, die es zu überprüfen galt. Die Anliegen auf dem dritten Haufen waren mit einem dicken fetten, was-soll-der-Scheiß? unterstrichen. Manche Leute waren wirklich der Ansicht, dass ich den ganzen Tag nichts Besseres zu tun hatte, als den Mist den sie verbockten, hinter ihnen aufzuräumen. Aber der Kerl hier konnte seinen Schaden auf eigene Kosten richten. Die Bitte war das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben war.
„Du bist fast fertig“, versuchte Sydney mich aufzumuntern. Er lag an mich gekuschelt und hatte seinem Kopf in meinem Schoss gebettet. Wir saßen zusammen auf meiner Couch – naja, ich saß – wo ich mir seit Stunden die Anliegen des Rudels durchlas und mir mittlerweile am liebsten eine Kugel in den Kopf gejagt hätte. Ich schloss für einen Moment die Augen und genoss die herbstliche Brise, die durchs Fenster zu mir hineinströme.
Es war Mitte November. Die Tage wurden kürzer und kälter und nachts bildete sich schon Raureif an den Pflanzen. Heute allerdings war es noch mal recht warm geworden, weswegen ich den halben Tag mit Sydney im Wald verbracht hatte. Leider löste sich meine Arbeit aber nicht in Luft auf, nur weil ich mal ein paar Stunden blau machte. Deswegen saß ich zu dieser späten Stunde noch hier und wälzte Papierkram.
„Mit geschlossenen Augen wirst du aber nicht zum Ende kommen.“
„Ich hoffe, dass alles verschwunden sein wird, wenn ich sie wieder auf mache“, murmelte ich, aber als ich nachsah, war natürlich noch alles da. War ja irgendwie klar gewesen.
Sydney drückte mir mit der Pfote gegen mein Bein. „Es sind doch nur noch wenige Briefe.“
„Wenige sind meiner Meinung nach aber immer noch zu viele.“ Bis auf eine Handvoll hatte ich schon alle abgearbeitet. Ansonsten hätte ich wirklich darüber nachdenken müssen, ob ein Sprung aus meinem Fenster dieses Drama, das sich Leben nannte, ein für alle Male beenden könnte.
Ich legte den Brief in meiner Hand zur Seite und griff nach dem nächsten. Bevor ich allerdings dazu kam ihn zu öffnen, klopfte es an meine Zimmertür. „Oh nein.“ Um diese Zeit gab es nur einen, der sich auf dieser Etage herumtrieb und es auch noch wagte bei mir zu klopfen.
„Er hat dich den ganzen Tag noch nicht gesehen.“
„Das war Absicht.“ Wie so oft. Es fiel mir leichter mit Nikolaj verheiratet zu sein, wenn ich ihm nicht begegnete. Doch leider forderte er immer mal wieder meine Aufmerksamkeit und ich war gezwungen darauf zu reagieren. „Komm rein“, sagte ich daher und riss den Briefumschlag in meiner Hand auf.
Die Tür gab ein leises Sirren von sich, als Nikolaj sie mit dem Handscanner von außen öffnete. Außer mir und meinen Umbras, war er der einzige, der auf diese Art in mein Zimmer konnte. Selbst das Personal konnte die Räume nicht ohne Einlass betreten. Es hatte halt doch ein paar Vorteile, eine Königin zu sein. Ihm jedoch durfte ich den Zutritt nicht verewigen.
Leider zog dadurch ein plötzlicher Luftzug durch den Raum, der meine ordentlich gestapelten Briefe in Gefahr brachte. Nur durch schnelles Zugreifen verhinderte ich ein wildes Durcheinander. Es hätte mir jetzt gerade noch gefehlt, dass die Arbeit von Stunden einfach davonflog.
Ich schaute auf und sah so gerade noch, wie das Lächeln in Nikolajs Gesicht ein wenig verrutschte. Wie immer war das erste was er bemerkte, Sydney. Und wie immer passte ihm das nicht.
„Noch bei der Arbeit?“
„Ich war den ganzen Tag unterwegs. Könntest du die Tür bitte schließen?“
Konnte er. „Du warst heute im Wald.“
„Ich brauchte eine Pause.“ Da meine Stapel nicht länger in Gefahr waren, konnte ich die Hände wieder runter nehmen.
„Warum hast du nichts gesagt? Ich wäre mitgekommen.“
Genau deswegen. „Ich wollte dich nicht stören. Du hast doch gesagt, dass du noch ein paar Sachen für die Ratssitzung in Arkan vorbereiten musst.“
„Das hätte ich auch noch morgen früh machen können.“
„Morgen fahren wir bereits.“ Weswegen ich ehrlich gesagt auch schon ziemlich nervös war. Es war nicht nur das erste Mal, dass ich mit Nikolaj wegfuhr, wir würden auch noch dorthin fahren, wo Raphael lebte. Ich sah der Sache mit ziemlich gemischten Gefühlen entgegen.
Nikolaj drückte unwillig die Lippen zusammen. Er mochte es nicht, wenn ich ihn außen vor ließ. „Können wir uns mal unterhalten?“ Sein Blick richtete sich auf Sydney. „Alleine?“
Mein Mentor schloss einfach die Augen und blieb wo er war. Solange ich ihn nicht fortschickte, würde er sich keinen Millimeter von mir wegbewegen.
Ich schüttelte den Kopf und zog den Brief aus dem Umschlag. „Bitte Nikolaj, wenn du etwas zu sagen hast, dann tu es einfach. Ich bin müde und will das hier endlich fertig bekommen.“
„Und ich will hin und wieder gerne mal ein paar Minuten mit meiner Gefährtin allein verbringen. Ohne deinen Sonderling.“
Dafür gab es einen wirklich finsteren Blick von mir. „Ich hab dir schon tausend mal gesagt, dass du ihn nicht so nennen sollst.“
Das interessierte ihn nicht wirklich. Nikolaj konnte Sydney nicht ausstehen, weil ich Sydneys Gesellschaft der seinen vorzog. Deswegen weigerte er sich auch ihn mit seinem Namen anzusprechen. Das war sein Art meinen Mentor herabzuwürdigen. „Könntest du ihn bitte rausschicken?“
Ganz sicher nicht. „Sag einfach was du möchtest.“
Ich konnte fast hören wie Nikolaj mit den Zähnen knirschte. Er wollte mit mir alleine sein – wie immer – doch ich kümmerte mich nicht darum – wie immer – und Sydney würde bleiben, solange ich nicht etwas anderes von ihm verlangte – wie immer.
„In Ordnung, wie du meinst.“ Als würde er einen Kampf erwarten, verschränkte er die Arme vor der Brust und richtete sich ein wenig gerader auf. „Ich möchte ein Baby.“
Vor Schreck fiel mir fast der Brief aus der Hand. Okay, das hatte ich nicht kommen sehen. Es war zwar nicht das erster mal, dass er dieses Thema anschnitt, doch eigentlich hatte ich geglaubt, beim letzten Mal ziemlich deutlich gewesen zu sein. „Das haben wir bereits geklärt.“
„Nein, das haben wir nicht.“ Er ließ die Arme fallen und kam zu mir. Da die Couch aber durch Sydney komplett blockiert war, blieb ihm nur die Lehne auf meiner anderen Seite. „Cayenne, ein Alpha ist nicht genug. Oder möchtest du, dass noch mehr Herausforderer an die Tore klopfen?“
Damit spielte er auf den Mann an, der mich vor zwei Monaten bei einer Audienz um den Thron herausforderte. Ich hatte ihn vorher nie gesehen und hinterher auch nicht mehr, da er zu seiner eigenen Herausforderung nicht erschien war. Aber es war schon ein kleiner Schock für mich gewesen, besonders, da ich wegen Jegor auf dem Thron bleiben musste und unter keinen Umständen gegen einen Herausforderer verlieren durfte.
„Auch das Rudel ist unruhig.“ Er legte seine Hand auf meine und sah mir direkt in die Augen. „Sie wollen einen Thronfolger und ich will meine Frau.“
Ich starrte seine Hand mehrere Sekunden an, bevor ich meine darunter wegzog. „Muss ich dich daran erinnern, was beim letzten Mal passiert ist, als du deine Frau wolltest?“ Das letzte und einzige Mal, bei dem ich versucht hatte, Nikolaj näher zu kommen, weil es die Abmachung mit seinem Vater so verlangte. Leider brachte ich es kaum fertig, ihn zu küssen, wenn die Situation es erforderte. An andere Dinge war gar nicht zu denken.
Seine Lippen wurden schmal. „Es war nur ein Versuch.“
Der mit einem Heulkrampf und einer Panikattacke meinerseits geendet hatte. Ja, ich litt noch immer an den Folgen meines Zusammenbruchs, weswegen ich auch immer eine kleine Pillendose mit drei von Doktor Ambrosius Glücklichmacher für den Notfall mit mir herumtrug. „Ich werde mir keinen Braten in die Röhre schieben lassen, nur damit ein paar Betawölfe besser schlafen können. Also nein, es gibt kein Baby.“
Als ich das B-Wort sagte, schlug Sydney die Augen auf. Sein ganzer Körper spannte sich an. Genau wie ich wusste er, dass es unabdingbar war, diesen Schritt eines Tages zu gehen, aber im Moment lebte ich nicht mal mit Nikolaj im selben Raum. Er hatte seine eigene Suite nebenan. Ich war noch nie dort gewesen.
„Irgendwann werden wir diesen Schritt gehen müssen.“
„Wo steht das geschrieben?“
„Cayenne …“
„Ich dachte du wolltest mir die Zeit geben, die ich brauche“, unterbrach ich ihn und legte den Brief auf den Tisch. „Oder möchtest du, dass sich meine Psychose wieder verschlimmert?“
Uh, das war mal ein wirklich böser Blick. „Natürlich nicht und das weißt du ganz genau. Aber in der Zwischenzeit sind Monate vergangen und langsam glaube ich, dass mein Vater recht hat und du deinen Zustand nur vorschiebst, um deinen Teil …“ Er schloss eilig die Lippen.
Um deinen Teil der Abmachung nicht einhalten zu müssen, beendete ich den Satz im Stillen. Nikolaj wusste nicht, das Sydney eingeweiht war und traute sich dementsprechend nicht offen zu sprechen. Noch ein Grund mehr, meinen Mentor immer schön in meiner Nähe zu behalten.
„Das glaubst du?“, fragte ich ihn leise. „Denkst du wirklich, ich bin gerne krank? Glaubst du wirklich, ich freue mich darüber, jeden Tag diese verdammten Pillen schlucken zu müssen, um bei Sinnen bleiben zu können, nur damit ich dir aus dem Weg gehen kann?“
„Ja, manchmal glaube ich das.“
Das war gar nicht gut. Nicht nur weil es teilweise der Wahrheit entsprach, sondern auch, weil es gefährlich war, wenn Jegor glaubte, dass ich mich nicht an den Deal hielt. Das bedeutete, ich musste zum Angriff übergehen. „Okay, wie du meinst.“ Ich packte ihm am Kragen seines Hemdes und zog ihn zu mir. Nikolaj musste sich an der Lehne abstützen, um nicht auf mich raufzufallen. „Dann lass uns anfangen, mal sehen wie weit wir kommen.“
Sein Blick flitzte von mir zu Sydney und wieder zurück.
„Und bevor ich es vergesse: Die Spritze mit meinem Beruhigungsmittel liegt in der obersten Schublade von meinem Schreibtisch. Du solltest sie vorher vielleicht rausholen, damit wir sie im Notfall griffbereit haben.“
Es gelang ihm ganze drei Sekunden meinem herausfordernden Blick standzuhalten, bevor er sich mit verkniffenen Lippen abwandte und meine Hand von seinem Hemd löste.
„Was ist? Auch wieder nicht richtig? Dann sag mir was ich tun soll, Nikolaj, wie kann ich es dir recht machen?“
„Indem du es wenigstens versuchst“, sagte er leise und eindringlich. „Indem du auch mal auf mich zukommst und mich nicht um jedes bisschen Aufmerksamkeit wie einen dummen Hund betteln lässt.“
„Das ist nicht so einfach für mich und das weißt du ganz genau.“
„Nicht einfach, heißt aber im Bereich des Machbaren.“
Verdammt, heute wollte er es aber wirklich wissen. „Ich versuche es doch.“
„Davon merke ich aber nichts.“ Als sei er diesem ganzen Mist einfach nur noch überdrüssig, rieb er sich müder durchs Gesicht. „Wir sind verheiratet, aber du schläfst nicht mal im gleichen Zimmer wie ich.“
„Das haben wir auch schon versucht. Leider habe ich dich dabei mit meinen Alpträumen halb zu Tode erschreckt.“
„Ach, und der Sonderling erschreckt sich dabei nicht?“
Doch, das tat er. „Sydney kann mich beruhigen.“
„Und ich kann das nicht.“ Die Worte wurden traurig gesprochen. „Das ist es doch, was du mir sagen möchtest.“
Kurz gefasst: Ja. Ich sprach es nicht aus.
Er schnaubte, als könnte er es nicht glauben. „So geht das nicht mehr weiter Cayenne. Ich will dich nicht bedrängen, aber ich möchte, dass du dir mehr Mühe gibst. Ich will meine Gefährtin.“
Mein Blick kühlte sich zunehmend an. „Und was ich will, spielt wie immer keine Rolle, nicht wahr? Nein, warte, du brauchst nicht antworten. Ich weiß, dass es so ist.“ Denn so war es, seit dem Moment, als ich ihm zum ersten Mal begegnet war.
Auch sein Blick kühlte sich merklich ab. „Ich habe das nie so gewollt und das weißt du.“
„Und doch ändert es nichts an den Tatsachen.“ Ich griff wieder nach dem Brief. „Wenn du dann jetzt bitte gehen würdest? Ich habe noch ein bisschen was zu tun.“
„Natürlich.“ Er erhob sich von der Lehne. „Weil ja alles in deinem Leben mehr Aufmerksamkeit verdient als ich.“
„Das habe ich nie gesagt.“
„Das brauchst du auch gar nicht, du lässt es mich jeden Tag spüren.“ Er drehte sich herum und marschierte zur Tür, bevor er sie jedoch aufzog, sagte er noch. „Ich bin nicht mein Vater, aber auch meine Geduld hat irgendwann ein Ende.“ Er riss die Tür auf und da geschah es. Ein kräftiger Windstoß wehte durch den Raum und im nächsten Moment regnete es Briefe.
„Oh nein!“ Arbeit von Stunden, einfach dahin.
Nikolaj drehte sich noch einmal um, sah das Desaster und schien einen Moment versucht, wieder reinzukommen. Doch dann verhärtete sich sein Gesicht nur und er verschwand, ohne die Tür zu schließen.
Mir blieb nur ein Meer aus Papieren. „Alles umsonst.“ Erst schaute ich mir die Bescherung nur an. Dann wurde ich sauer und fegte die Papiere mit einem Wisch wütend vom Tisch. „Verdammt.“ Ich würde bis in die frühen Morgenstunden hier sitzen, um das wieder in Ordnung zu bringen. Aber das würde ich nicht tun. Das hier hatte Nikolaj zu verantworten, also konnte er es auch wieder in Ordnung bringen.
Sydney hob den Kopf und stupste mir gegen den Arm. „Das ist doch halb so wild.“
„Halb so wild? Schau dich doch nur mal um?“ Ich machte eine Geste, die das ganze Zimmer mit einschloss. „Und noch dazu dreht Nikolaj völlig am Rad. Warum kommt er jetzt wieder mit diesem Babyquatsch an? Das hatten wir doch schon vor Monaten geklärt.“
„Sein Vater war gestern zu Besuch.“
Klar, Jegor. Eigentlich hätte ich mir denken können, dass Nikolai wieder seltsame Anwandlungen bekam, wenn Jegor im Haus war. Das passierte doch jedes Mal. Jegor redete mit seinem Sohn, woraufhin der versucht mich unter Druck zu setzten. Und ich war dann wieder Wochenlang damit beschäftige eine Ebene zu finden, auf der Nikolaj und ich klarkamen.
„Aber warum macht er das?“, fragte ich leise und schubste noch einen Brief zu den anderen auf den Boden, der an der Tischkante liegen geblieben war. „Ich meine, was hat Jegor davon, wenn ich ein Kind bekomme?“
„Er wäre dann unwiderruflich ein Teil der Königsfamilie.“ Sydney neigte den Kopf ein wenig zur Seite. „Selbst wenn Nikolaj etwas zustieße, könnte er als Großvater des Thronfolgers nicht mehr in den niedrigen Adel zurückfallen.“
Konnte es das sein? Er wollte, dass ich ein Kind bekam, damit sein Ansehen gesichert war? Zuzutrauen wäre es ihm. „Ein Grund mehr, nicht darauf einzugehen.“ Ich seufzte. „Aber was soll ich denn mit Nikolaj machen?“
Sydney setzte zu einer Antwort an, doch in dem Moment klopfte es an der noch offenen Zimmertür. Kurz glaubte ich, dass Nikolaj zurück gekommen war, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, weil er meine Arbeit ruiniert hatte, doch dann fragte eine vorsichtige Stimme: „Königin Cayenne?“
Ich horchte auf. Das war mein persönlicher Berater Archie Payne, der Mann, der vor vier Jahren im Beraterstab die Stelle meiner Mutter eingenommen hatte. „Ja bitte?“
Vorsichtig steckte der schmächtige Mann mit dem roten Locken seinen Kopf in den Raum. „Ich wollte nicht stören“, versicherte er mir sofort und schob die Brille auf seiner Nase ein wenig höher. „Aber Ihr fahrt bereits morgen früh und ich habe hier die Adressen, um die Ihr mich gebeten habt.“
Augenblicklich begann mein Herz wein wenig schneller zu schlagen. Er hatte die Adressen. Ich hatte nicht mehr geglaubt, dass er sie vor meiner Abreise herausfinden würde.
Ich erhob mich von der Couch und ging zu ihm an die Tür.
Mit einem „Hier, bitte“ reichte er mir einen Ausdruck, auf dem nichts außer drei Namen, mit den dazugehörigen Adressen stand. Oliver Maas, Roger Naue und Marica Steel.
„Mehr haben sie nicht gefunden?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, nur diese drei.“
Ich hatte mit mindestens fünf, vielleicht sogar sechs gerechnet. „Okay, ich danke ihnen für ihre Hilfe.“
„Das habe ich doch gerne gemacht.“
Dafür bekam er ein Lächeln. „Machen sie jetzt Feierabend. Wir sehen uns, wenn ich wieder zurück bin.“
Er nickte, verbeugte sich und ging dann.
Mit dem Blick auf den Zettel, schloss ich die Tür, doch als ich mich dann umwandte und Sydneys Blick begegnete, überkam mich das schlechte Gewissen. Ich sollte das nicht machen. Nicht nur, dass es nichts ändern würde, es könnte auch Probleme mit sich bringen, die ich nun wirklich nicht gebrauchen konnte. Aber es war ein Jahr her und ich wollte doch nur wissen, ob es ihnen allen gut ging.
„Das ist … für die Reise“, erklärte ich zögernd und hob den Zettel ein wenig an. „Du weißt schon, morgen … die Ratssitzung.“
Er schaute mich nur stumm an.
Verdammt. Mit einem tiefen Atemzug ging ich hinüber ins Schlafzimmer. Der Zettel landete neben meiner abstrakten Nachttischlampe und ich in meinem riesigen Designerbett.
Krallen klackten draußen auf dem Parkett. Gleich darauf erschien Sydney im Türrahmen.
„In Arkan wohnen ein paar Themis und ich … keine Ahnung, ich will nur mal schauen, wie es ihnen geht.“
Der dicke Teppich dämpfte seine Schritte. Ein kleiner Sprung und er saß neben mir im Bett. „Hältst du das für eine gute Idee?“
„Nein“, sagte ich ganz ehrlich und ließ mich rücklings in meine Kissen fallen. „Aber wer weiß, ob ich so seine Gelegenheit je wieder bekomme.“
„Diese Gelegenheit eröffnet sich dir jedes Jahr, denn diese Sitzung findet dort jedes Jahr statt.“ Er erhob sich und trat über mich, sodass er zu mir hinunter schauen konnte. „Es stellt sich nicht die Frage nach der Gelegenheit, sondern nach deiner Verfassung. Du weißt ich kann dort nicht bei dir sein und dir zur Seite stehen, sollte es dir zu viel werden.“
Nein, denn er fürchtete sich noch immer vor allem, was außerhalb dieser Mauern und Wälder lag.
Ich hob die Hand und kraulte ihn am Kiefer. „Ich weiß auch gar nicht, ob ich es wirklich mache. Ich wollte einfach nur … naja, die Möglichkeit haben, denke ich.“
„Es gibt Möglichkeiten, die sollten wir ergreifen, wenn sie sich uns eröffnen. Aber es gibt auch solche, bei denen es weiser ist, sie einfach vorbeiziehen zu lassen.“
„Du willst also nicht, dass ich das mache?“
„Ich möchte nicht, dass dein Kummer dich wieder begräbt. Du hattest seit Wochen keine Anfälle mehr und das tut dir gut. Selbst deine Alpträume sind zurück gegangen. Ich habe nur Angst, dass du dich wieder verlierst.“
Was leider gut möglich war. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, Archie die Adressen suchen zu lassen. Vielleicht sollte ich einfach mit dem abschließen, was gewesen war und mich besser auf das konzentrieren, was vor mir lag. Aber es war so schwer.
Auf einmal spürte ich, wie Sydney damit begann sich zu verwandeln. Sein Fell zog sich unter seine Haut zurück, sein Körper verformte und steckte sich. Nur seine Augen blieben gleich. Und das Lederband mit dem kleinen Katzenanhänger, den ich ihm vor so vielen Jahren geschenkt hatte.
Dann war da kein Wolf mehr über mir, sondern ein Mann, der mich einen Moment einfach nur anschaute. „Ich möchte nicht, dass dir etwas passiert“, sagte er leise, bevor er sich vorbeugte und mich küsste. Schon die erste Berührung reichte, um all meine Sinne erwachen zu lassen.
Er verwandelte sich nicht oft, besonders nicht, wenn ich ihn vorher nicht dazu aufforderte. Ich konnte es an beiden Händen abzählen, wie oft er mich geküsst hatte. Umso besonderer war dieser Augenblick, auch wenn er mir damit zeigte, wie groß seine Sorge um mich war.
Träge hob ich die Arme und schlang sie um seinen Nacken. Ich wollte seinen Körper an meinem fühlen. Sydney war die einzige Freiheit in meinem Leben, die ich mir zugestand und darum wollte ich solche Momente bis auf den letzten Tropfen auskosten.
Der anfänglich zärtliche Kuss wurde schnell drängender. Meine Hand wanderte seinen breiten Rücken hinab, doch bevor ich seine Hüfte erreichen konnte, packte er meinen Arm und drückte ihn aufs Bett.
„Nein“, sagte er leise, aber bestimmt.
Das meine Lippen sich unwillig zusammen drückten, konnte ich nicht verhindern. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn er das tat.
Kuscheln war für ihn in Ordnung. Selbst das Küssen konnte er genießen, doch wenn ich einen Schritt weiter gehen wollte, hielt er mich auf – jedes Mal. „Sydney …“
„Bitte.“
Gott, war das frustrierend. Ich könnte jetzt anfangen mit ihm zu diskutieren, doch das letzte Mal hatte es damit geendet, dass er sich wieder in einen Wolf verwandelt hatte und sich drei Monate lag weigerte, diese Gestalt wieder zu verlassen. „Kannst du mich denn nicht einfach nur als Cayenne sehen?“, fragte ich leise.
„Vielleicht irgendwann einmal.“
Mehr würde ich im Moment wohl nicht von ihm bekommen. Also zog ich sein Gesicht einfach wieder an meine Lippen und nahm mir das, was er bereit war zu geben.
Ich genoss seine Nähe und seine Berührungen, genauso wie das träge Feuer, das er immer weiter anfachte. Es reichte schon fast, um mir den Verstand zu rauben und mich die Welt um mich herum vergessen zu lassen. Nur leider schien die Welt mich nicht vergessen zu wollen, denn plötzlich klingelte mein Telefon.
Da alle im Schloss wussten, dass ich nach zehn nicht mal mehr zu sprechen war, wenn das Dach in Flammen stand, ignorierte ich es einfach und konzentrierte mich ganz auf Sydney. Leider wollte das blöde Teil einfach nicht verstummen, sodass ich eine geschlagene Minute später genervt den Kopf wegdrehte und nach dem Hörer griff.
„Was!?“
Sydney ließ sich davon nicht stören. Zwar kam er so nicht mehr an meinen Mund heran, aber da war ja noch jede Menge Hals und Schulter, die er mit seinen Lippen liebkosen konnte.
„Verzeiht, Königin Cayenne“, hörte ich Edward am anderen Ende. Zumindest wusste ich jetzt, wem ich morgen die Hölle heiß machen würde. „Ich würde nicht stören, wenn es nicht wichtig wäre.“
„Und was bitte gibt es so überaus Wichtiges?“ Ja, ich war ein kleinen wenig gereizt. Konnte vielleicht an der Uhrzeit liegen. Oder daran, dass vor zwei Tagen Vollmond war. Oder einfach, weil er mich schlicht und einfach störte.
„Ihr habt befohlen, sofort benachrichtigt zu werden, falls wir einen neuen Überfall der Skhän verzeichnen.“
„Was?“ Damit war die Stimmung dahin. Mit einem Ruck saß ich im Bett. Sydney ließ sofort von mir ab. An meiner Stimme hatte er erkannt, dass etwas Ernstes passiert war und die Zeit für Romantik vorbei war. „Wo? Wann?“
„Ein kleines Dorf in Österreich, Geene. Sie wurden wohl letzte Nacht überfallen, haben es uns aber erst jetzt mitgeteilt.“
„Warum haben sie erst jetzt Bescheid gesagt?“
„Das weiß ich nicht, aber ich werde mich erkundigen.“
„Tun Sie das.“ Ich rieb mir mit der freien Hand über die Stirn. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Diese verfluchten Skhän. „Schicken sie Hilfe, Wächter und Güter, so wie immer.“
„Ist schon erledigt.“
Guter Mann. „Okay. Erkundigen sie sich bitte, was genau da los war und rufen sie mich danach sofort zurück, egal wie spät es ist. Ich will es noch heute wissen.“
„Wie Ihr wünscht, Königin Cayenne.“ Er legte auf. Genau wie ich. Eigentlich knallte ich meinen Hörer eher zurück auf das Telefon.
„Was ist passiert?“, fragte Sydney.
„Die verdammten Skhän waren wieder aktiv.“ Ich stieg aus dem Bett und ging nach nebenan in mein Arbeitszimmer.
Als Königin der Lykaner lebte ich nicht länger im Westflügel, mir und Nikolaj gehörte die komplette, obere Etage des Hauptgebäudes. Das bedeutete, ich hatte eine riesige Suite mit Wohnraum und Schlafzimmer. Mein Kleiderschrank war nun doppelt so groß, mein Badezimmer ein Traum und auf eigenen Wunsch, hatte man mir sogar eine eigene, hochmoderne Küche eingebaut, die ich leider nur selten nutzen konnte.
Mein Arbeitszimmer war vollgestopft mit Regalen, in denen sich die Ordner dicht an dicht drängten. Es gab einen überfüllten Schreibtisch mit Computer, aber meistens arbeitete ich auf der kleinen Wohnlandschaft in der Raummitte. Außer zu den Geschäftszeiten, da saß ich eigentlich immer unten in meinem anderen Arbeitszimmer.
Mein jetziges Ziel war die große Weltkarte, an der einzigen freien Wand, die auch die Orte zeigte, zu denen Menschen keinen Zutritt hatten.
Ich nahm mir einen roten Pin aus der Schale auf meinem Schreibtisch, stellte mich dann vor die Karte und suchte nach Geene in Österreich. Da, ganz klein. Es war ein Dorf der Lykaner.
Unwillig drückte ich den roten Pin genau über den Namen in die Karte. Dann trat ich einen Schritt zurück und starrte sie an.
Überall steckten kleine rote Pins. Es waren viel zu viele, dabei waren es nur die Vorfälle der letzten zwei Jahre. Ein Pin markierte sogar ein Vampirdorf. Es war Zufall gewesen, dass ich davon erfahren hatte, weil das eigentlich in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Regenten, des Kaisers der Vampire, fiel.
Als Königin war es meine Aufgabe, mein Rudel zu schützen und auch wenn mir durch Jegor die Hände ein wenig gebunden waren, hatte ich meinen Kampf gegen die Sklavenhändler wieder aufgenommen. Manchmal gab mir der Markis sogar einen Tipp, um einen unliebsamen Konkurrenten aus dem Weg zu räumen.
Es machte mich wütend, dass er mich dazu benutzte, seine Drecksarbeit zu machen. Gleichzeitig konnte ich seine Hinweise aber auch nicht ignorieren. Jeder Skhän und jeder Fänger, den ich aus dem Weg räumte, bedeutete eine Gefahr weniger für das Rudel.
Mittlerweile war diese Jagd für mich zu einer richtigen Obsession geworden. Das Problem dabei war nur, ich saß hier fest. Ich hatte eine halbe Armee von ausgebildeten Wächtern, aber durch dumme Gesetzte und Regeln konnte ich sie nicht das tun lassen, was nötig war. Besonders ich musste mich an all den Scheiß halten, den als Königin fungierte ich nicht nur als Herrscher, sondern auch als Vorbild. Geneva hatte es mir erklärt, Frederic hatte es mir erklärt und sogar Sydney.
Es war alles so viel einfacher gewesen, als ich nur ein Glied in der Kette der Themis gewesen war.
Ich spürte wie Sydney hinter mich trat und ließ mich von ihm in die Arme nehmen. Ich hasste diese Machtlosigkeit.
„Sie sind in der letzten Zeit wieder aktiver.“
„Ja.“ Ich knirschte mit den Zähnen. „Aber das hat jetzt ein Ende.“ Dafür würde ich sorgen. Der Rat konnte mir gestohlen bleiben. Wenn es sein musste, würde ich ihn einfach überrennen. Das Rudel musste beschützt werden und wenn sie das nicht verstanden, würde ich solange auf ihre Köpfe einschlagen, bis es sich in ihre Gehirnrinde eingebrannt hatte. „Es muss einfach ein Ende haben.“
°°°
Eine Geräuschkulisse aus begeisterten Jubelrufen, lautem Beifall und durchdringenden Pfiffen begrüßten mich, als ich vor dem kleinen Gemeindezentrum in Arkan aus der schwarzen Limousine stieg. Es war nicht das erste Mal, dass ich praktisch wie ein Superstar begrüßt wurde, doch ich fand es jedes Mal wieder gewöhnungsbedürftig.
Nikolaj griff direkt nach meiner Hand und winkte der wartenden Menge lächelnd zu. Er hatte mich nicht mehr losgelassen, seit wir vor zwanzig Minuten das kleine Hotel verlassen hatten und ich konnte es ihm nicht verweigern. Nicht nur wegen der vielen neugierigen Gaffern, sondern auch wegen dem Gespräch gestern Abend. Wahrscheinlich genoss er es einfach nur, mich so unbefangen berühren zu können, ohne das ich mich dagegen wehren durfte.
„Cayenne!“, rief ein kleines Mädchen aufgeregt und hüpfte an der Hand ihrer Mutter auf und ab. „Das ist Königin Cayenne!“
Eine ältere Frau steckte den Arm nach mir aus, aber meine Wächter hielten sie auf Abstand.
Arkan war ein kleiner Ort, gebettet zwischen sanften Hügeln und kleinen Wäldchen mit einem recht großen See am nördlichen Ortsrand. Wenn hier nicht vor knapp dreihundert Jahren der erste Rat gegründet worden wäre, wüssten selbst in der verborgenen Welt nur wenige von ihm – so unscheinbar war er.
Und das war auch der Grund, warum ich heute hier war. Es war Tradition, dass der Rat an seinem Jahrestag hier zusammen trat, um die wichtigen Angelegenheiten, die wir sonst im Schloss besprachen hier zu diskutieren.
Als mich das Blitzlicht einer Kamera traf, musste ich ein paar Mal blinzeln. Okay, jetzt übertrieben sie aber doch ein wenig. Ich wusste ja, ich war ihr ach-so-großer Alpha, aber blind werden wollte ich deswegen noch lange nicht.
Da die Rufe immer lauter wurden, hob auch ich die Hand und schaute mich dabei unauffällig zwischen den Leuten umher. Dies war der Ort, an dem Tristan und Raphael aufgewachsen waren. Hier war ihre Heimat, ihr Zuhause und ihre Wurzeln und vielleicht waren sie gerade jetzt in diesem Augenblick irgendwo in meiner Nähe. Aber die Gesichter in der Menge waren mir alle unbekannt.
Auch als ich die Luft prüfte, nahm ich keinen der vertrauten Gerüche wahr. Sie waren nicht hier. Ein Gefühl der Enttäuschung ergriff mich.
„Komm.“ Nikolaj legte mir die Hand auf den Rücken. „Der Rat wartet sicher schon.“
Ein letztes Mal schweifte mein Blick über die Menge, bevor ich mich von Nikolaj in das alte Backsteingebäude geleiten ließ.
„Ich habe für uns heute Abend einen Tisch in einem Restaurant reserviert“, erzählte Nikolaj, während Diego die jubelnden Lykaner ausschloss.
„Ähm“, machte ich nicht sonderlich gescheit und bewegte mich auf die Tür zum Sitzungsraum zu. „Warum? Wir können doch auch im Hotel essen.“ Da müsste ich mich wenigstens nicht verstellen. Naja zumindest nicht all zu sehr.
Nikolajs Lächeln verrutschte ein wenig. „Ich dachte, es wäre mal eine nette Abwechslung. Wir beide haben schon lange nichts mehr zusammen unternommen.“
„Und du meinst, ein wichtiges Ratstreffen ist die beste Gelegenheit, um das zu ändern?“
Vor mir verbeugte sich ein Wächter und zog dann die Tür für uns auf.
„Eigentlich …“
„Lass uns das später klären“, unterbrach ich ihn. Jetzt musste ich mich auf andere Dinge konzentrieren. Es gab heute einen sehr wichtigen Punkt auf meiner Liste und dafür musste ich alle meine Sinne beisammen haben.
Das ich ihn einfach so abwürgte, verstimmte ihn, aber auch wenn es ihm missfiel, so blieb er stumm und folgte mir einfach in den recht farblosen Raum.
An einem langen Tisch warteten bereits drei Personen auf uns. Es waren Betas, die dazu gedacht waren, den amtierenden Monarchen zu unterstützen. Also nichts anderes als ein paar Sesselfurzer, die es sich zur Lebensaufgabe gemacht hatten, mir meine Arbeit so gut es ihnen eben möglich war, zu erschweren.
Da hatten wir zum einen Baroness Arabella Bea. Sie war dumm wie Stroh, hatte aber zu alle und jedem eine Meinung, egal ob man sie hören wollte oder nicht. Neben ihr saß der glatzköpfige Earl Emil Munt. Er widersprach schon aus Prinzip allem was ich sagte. Ich mochte der erste Alpha sein, aber in seinen Augen war ich nichts weiter als ein kleines Mädchen, das mit seiner Aufgabe völlig überfordert war.
Zu guter Letzt, war da noch Fürstin Inka Belikov. Sie war ziemlich ruhig und immer leicht nervös. Ich glaubte, dass ich sie bisher nur einmal hatte sprechen hören. Keine Ahnung, was sie hier eigentlich tat.
Das leise Gespräch verstummte, als Nikolaj und ich uns am Tisch auf unseren Stühlen nieder ließen.
Wie immer, wenn sich ihm eine Möglichkeit bot, in der ich nicht ausweichen konnte, griff Nikolaj direkt nach meiner Hand.
Ich beachtete ihn nicht. Dieses Ratstreffen war wichtig, ich musste es endlich schaffen, diese versnobten Adligen dazu zu bewegen, mir bei meiner Jagt nach den Skhän zu helfen, anstatt mir nur immer neue Steine in den Weg zu legen.
„So, was steht an?“, fragte ich und eröffnete damit die Sitzung. Erst mal wollte ich sie zufriedenstellen und mir ihre Anliegen antun, bevor ich mit meinem über sie herfiel. Vielleicht würde sie das zugänglicher machen.
Wir redeten über ein paar kleine Veränderungen. Rudelbewegungen, Abspaltungen und einer kleinen Gruppe, die sich in der Nähe von Oulu niedergelassen hatte, um dort ein Dorf der Menschen zu übernehmen.
In den letzten Monaten waren immer neue Lykaner dort hingezogen und langsam aber sicher wurde es zu einem Werort. Aber natürlich gab es mit den Menschen dort Probleme. Klar, wem nicht auffiel, dass es um seinem Zuhause plötzlich von Wölfen nur so wimmelte, musste schon blind sein.
Es wurde entschieden, dass reichliche Abfindungen zu zahlen waren und Mithilfe einiger Vampire Umsiedlungen vorgenommen werden mussten. Das würde ein Haufen Arbeit werden. Man musste den Menschen neue Wohnungen besorgen, neue Jobs und dann erst der ganze Papierkram. Zum Glück beherbergte ich einen ganzen Staat von Beratern, Assistenten und Sekretären die sich darum kümmern konnten. Sonst würde ich mir vermutlich jetzt schon die Kugel geben.
Nach einem Dutzend weiterer Themen, die mich genauso mitrissen, wie die ersten, räusperte sich Baroness Arabella. „Es gibt da noch etwas sehr Wichtiges, was wir mit Euch besprechen müssen.“
„Immer raus mit der Sprache.“ Wenn sie fertig waren, konnte ich endlich mein Thema ansprechen. Etwas das wirklich mal mit dem Wort Wichtig bezeichnet werden konnte.
Earl Emil schürzte die Lippen. Er mochte mich nicht, doch das war kein Problem. Dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit. „Die Stimmen im Rudel werden immer lauter“, sagte er. „Wir fordern einen weiteren Alpha. Nach dem Unglück letztes Jahr brauchen wir die Sicherheit des Blutes.“
Für einen Moment erstarrte ich. „Wir fordern?“, fragte ich dann gefährlich leise und kniff die Augen leicht zusammen. Erst Jegor und Nikolaj und jetzt fingen die auch noch damit an. Hallo, sah ich aus wie ein Backofen, der nur darauf wartet, dass man ihm einen Braten in die Röhre schob?
Baroness Arabella erklärte: „Es würde dem ganzen Rudel guttun, zu wissen, dass ein weiterer Alpha unsere Zukunft sichert.“
„Ach, und nun wollt ihr wissen, ob ich mich dazu bereit erkläre, frisch fröhlich ins nächste Bett zu hüpfen, um mir ein Kind anbumsen zu lassen?“ Ich sah die Leute am Tisch der Reihe nach abschätzig an. „Obwohl, ich brauche gar kein Bett. Komm Nikolaj, lass die Hosen runter, wir machen es hier gleich auf dem Tisch. Vielleicht können die ja noch was von uns lernen.“
Fürstin Inka wurde leicht blass um die Nase. Sie rang mit den Fingern und wich meinem Blick aus. Ganz anders die anderen. Die hatte ich einfach nur pikiert.
„Euer Benehmen ist sehr unpassend“, bekannte Earl Emil. „Wir wollten dieses Thema nur mal ansprechen, in der Hoffnung, dass es vielleicht schon gute Neuigkeiten gibt.“
„Die Wölfe sind sehr Unruhig“, fügte die Barones hinzu. „Ihr seid der letzte Alpha im Königshaus. Wir sind nur besorgt, was werden soll, wenn Euch etwas zustößt.“
„Es wird schon nichts passieren“, sagte Nikolaj ruhig und drückte meine Hand leicht. Er wusste genau, dass ich kurz davor stand zu explodieren. Mit diesem Thema hatte er wohl genauso wenig gerechnet wie ich und war sich nicht ganz sicher, wie er nun darauf reagieren sollte. Zum einen fand er es sicher toll, dass es noch andere Leute außer ihm und seinem Vater gab, die mich schnellstens barfuß und schwanger im Schloss sehen wollten. Andererseits wusste er genau, wie ich im Allgemeinen darauf reagierte.
„Nein, sie haben recht. Ich könnte schließlich jeden Moment aus heiterem Himmel tot umfallen. Also los, packen wir es an.“ Ich drehte mich herum und griff direkt nach dem Reißverschluss an Nikolajs Hose.
Erstaunlich, wie schnell seine Arme nach vorne schnellten, um mich aufzuhalten. „Cayenne, bitte.“
„Plötzlich so schüchtern? Gestern hat sich das aber noch ganz anders angehört.“ Ich sah ihn herausfordernd an. „Oder brauchst du einfach ein wenig mehr Anreiz?“ Bevor er mich aufhalten konnte, erhob ich mich, schwang ein Bein über ihn und setzte mich rittlings auf seinen Schoß.
Er griff instinktiv zu. Entweder weil er befürchtete, dass ich sonst einfach runter fiel, oder … naja, das brauchte ich wohl nicht näher zu erklären.
„Komm schon, Nikolaj.“ Ich drängte mich so fest gegen ihn, dass zwischen uns nicht mal mehr eine Briefmarke Platz gefunden hätte. „Mach mir ein Baby.“ Das ist es doch, was du willst, du Mistkerl.
Sein Griff wurde ein kleinen wenig fester und für einen kurzen Moment stockte ihm wirklich der Atem. „Bitte Cayenne, setz dich wieder auf deinen Platz.“
„Das kann ich nicht.“ Langsam und sehr aufreizend beugte ich mich vor. Dabei ließ ich meinen Atem mit voller Absicht über seine Wange wandern und streifte dann auch noch sein Ohrläppchen. Er bekam eine Gänsehaut. „Nicht solange du mich festhältst, als wolltest du mich nie wieder loslassen“, raunte ich ihm zu. Ich hob den Kopf, bis unsere Blicke sich trafen. Dabei ließ ich ihn meine ganze Abneigung und Kälte spüren.
Seine Lippen wurden ein wenig schmaler, sein Griff einen kurzen Moment fester, bevor er den Blick senkte und sich zwang seine Hände von mir zu nehmen.
Wortlos stieg ich wieder von seinem Schoß.
Nikolaj blieb noch einen kurzen Moment sitzen. Dann erhob er sich mit einem „Wenn sie mich bitte einen Moment entschuldigen würden“ eilig von seinem Stuhl und wir konnten alle dabei zuschauen, wie er den Raum verließ.
Ich hatte ihn mit der Drohung auf Sex verjagt.
Interessant.
Und jetzt zu den drei anderen Idioten, die scheinbar nicht so recht zu wissen schien, wohin sie schauten sollten.
„Bevor ich überhaupt an ein eigenes Kind denke, sollten wir uns vielleicht mit Themen beschäftigen, die weitaus wichtiger sind.“ Auf die fragenden Blicke hin, sagte ich nur ein Wort: „Skhän.“
Einen Moment wurde es ganz still und dann, zu meiner Überraschung, ergriff Fürstin Inka das Wort: „Das eine hat mit dem anderen doch nichts zu tun.“
„Wie bitte?“, knurrte ich. „Sie wollen, dass ich ein Kind in eine Welt setzte, in der nach wie vor ständig Lykaner aus meinem Rudel entführt werden? In dem Männer, Frauen und Kinder ihren Familien entrissen und aufs Schlimmste erniedrigt werden? Besitzt irgendwer an diesem Tisch auch nur einen Funken von Verstand?“
Earl Emil seufzte, als wäre er meiner schon lange überdrüssig. „Wir verstehen, dass Ihr durch Eure Geschichte geprägt seid, aber …“
Ich schlug mit beiden Handflächen auf den Tisch, sodass jeder um mich herum zusammenzuckte. Das war doch einfach nicht zu glauben. „Einen Dreck verstehen sie. Sie alle und jeder andere adlige Arsch auf dieser Welt lebt ein Leben in Luxus, mit Bodyguards an der Seite und einem sicheren Dach über dem Kopf, aber die einfache Bevölkerung hat es nicht mal im Ansatz so gut getroffen. Sie sind diejenigen, die immer in Angst davor leben müssen, dass ihr Zuhause das nächste ist, in dem die Skhän auftauchen. Sie sind die, die entführt und zu Dingen gezwungen werden, die sich keiner in diesem Raum auch nur im Ansatz vorstellen kann.“
„Königin Cayenne …“, begann Baroness Arabella, aber ich ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen.
„Ich habe gesehen, wozu die Leute fähig sind. Ich habe die Verstümmelungen und den Schmerz gesehen, die Erniedrigung, die ihnen angetan wurde und sie für ihr Leben gezeichnet hat. Vergewaltigte Frauen, töte Säuglinge, die einfach weggeworfen wurden, weil sie kein Profit brachten. Ich habe einen Mann gesehen, dem sie den Arm abgerissen haben und einen kleinen Jungen, der in Brand gesteckt wurde und wissen sie warum? Einfach weil sie es können, weil sich ihnen keiner entgegenstellt und sie ihre Macht genießen, die sie über die Schwachen ausüben können. Ich habe die misshandelten Leute gesehen, die offenen entzündeten Wunden und abgestorbene Gliedmaßen. Keiner von ihnen kann sich vorstellen, wie es ist im eigenen Unrat zu leben, in einem dunklen Loch ohne Tageslicht, schmutzig, hungrig und abgemagert, zu schwach um sich zu wehren. Und dass sind nur die, die überleben. Hat sich von ihnen schon einmal jemand den Kopf darüber zerbrochen, was mit jenen passiert, die nicht verkauft werden, weil sie einfach nicht das Interesse der Kunden erwecken?“ Ich sah jedem einzelnen am Tisch in die Augen. „Nein, natürlich nicht. Warum auch, es ist ja nicht ihr Problem. Aber ich habe es gesehen und bevor sich nichts daran ändert, werde ich ganz sicher kein Kind in diese Welt setzten!“
Damit herrschte erst mal Schweigen am Tisch. Diese ganzen Dinge so unverblümt an den Kopf geknallt zu bekommen, waren sie nicht gewohnt und eigentlich hatte ich das auch viel einfühlsamer machen wollten, aber dass sie praktisch darauf bestanden, dass ich mich schwängern ließ, machte mich so wütend, dass ich mich einfach nicht beherrschen konnte.
„Das ändert aber nichts“, sagte Baroness Arabella. „Es mag stimmen was Ihr sagt, aber wir brauchen trotzdem einen weiteren Alpha, um Eure Stellung zu sichern.“
„Sag mal hat mir an diesem Tisch überhaupt jemand zugehört, oder hätte ich mich genauso gut mit der Wand unterhalten können?“
„Gegen die Skhän können wir nichts ausrichten“, erklärte der Earl. „Das ist ein aussichtsloser Kampf.“
„Nein, ist es nicht“, sagte ich ganz ruhig und konnte mir selber nicht erklären, wie ich das schaffte. „Wir müssen nur die Gesetze ändern und den Wächtern einen größeren Spielraum zugestehen.“
Drei paar Augen sahen mich entsetzt an. Gesetze ändern war gleichbedeutend damit, den Menschen mit einer Rundmail mitzuteilen, dass es uns gab – einfach undenkbar.
„Kleine Schritte würden schon etwas bringen. Ein Verbot Sklaven zu kaufen und zu halten.“ Das wäre zwar nur ein kleiner Anfang, aber immerhin ein Anfang. „Stärkere Hilfe für die Opfer. Nicht nur für die Sklaven, auch für deren Familien.“
„Aber damit wäre die eigentliche Bedrohung noch immer nicht beseitigt“, bemerkte Earl Emil. „Wir würden nur die Scherben auflesen.“
Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß. „Diese Scherben, wie sie es nennen, sind die Leben unschuldiger Leute, denen wir es damit ein wenig leichter machen können. Die eigentlich Aufgabe wäre viel weitreichender, aber das schaffe ich nicht allein, ich brauche ihre Unterstützung, oder wenigstens ihr Einverständnis.“ Denn leider wurden Gesetzesänderungen über das Mehrheitsrecht entschieden. Neben meiner eigenen brauchte ich zwei weitere Stimmen. Nikolaj würde ich vielleicht dazu bekommen, aber das würde nicht reichen.
„Es ist nicht so, dass wir nicht helfen wollen“, erklärte die Baroness. „Doch unsere Gesetzte haben Tradition und stammen noch aus der Zeit von Königin Chenoa. Sie einfach zu ändern oder abzuschaffen, wäre ein Frevel an unserer eigenen Kultur.“
„Ein Frevel.“ Also langsam ging mir wirklich die Geduld aus. Das konnten die doch nicht ernst meinen. „Wenn das so ist, dann sollten sie mir alle genau zuhören. Ich werde über eine Schwangerschaft nicht mal nachdenken, bevor sich die Gesetzeslage nicht ändern. Denn ein unschuldiges Kind in diese Welt zu setzten, das wäre ein Frevel.“ Ich sah einem nach dem anderen fest in die Augen, bis sie den Kopf senkten. „Sie haben bis morgen Zeit, über meine Worte nachzudenken. Ich wünsche ihnen allen noch einen schönen Tag.“
Mit diesen Worten kehrte ich ihnen den Rücken und marschierte aus dem Raum.
Diese verdammten … ahrrr! Ich könnte schreien vor Wut! Ein Baby. Die Welt brauch keinen weiteren Alpha, sie brauch Hilfe . „Bing mich hier weg“, sagte ich zu Diego, der mir die Tür nach draußen aufhielt. „Bevor ich noch jemanden umbringe.“
„Was ist mit König Nikolaj?“, fragte Ginny.
„Der wird wohl fähig sein, zwei Schritte ohne mich zu gehen.“
Die Meute vor dem Gebäude hatte sich weitestgehend verstreut. Ein paar ausdauernde Individuen campten zwar noch immer vor dem Gebäude, doch dieses Mal hatte ich kein Lächeln für sie übrig. Das war einfach so frustrierend.
Verdammte Traditionen, verdammte Gesetze, verdammte Lykaner!
Ich verfrachtete mich selber in meine Limousine und ließ mich mit Diego und Ginny zu einer kleinen Pension in der Ortsmitte bringen. Sie war ein wenig unscheinbar, aber sauber und gemütlich. Und bei meiner Ankunft am Vormittag, hatte ich auf meinem Kissen eine Praline gefunden. Die war lecker gewesen.
Wegen meines Besuchs, waren alle Zimmer in dieser Pension von meinen Wächtern und Umbras besetzt. Wer sich nicht ausweisen konnte, kam nicht mal in die Nähe des Gebäudes. Der Anschlag auf die Königsfamilie vor einem knappen Jahr, war ihnen allen noch lebhaft in Erinnerung und niemand wollte riskieren, dass mir etwas zustieß.
Mein Zimmer lag in der zweiten Etage. So war gesichert, dass auch niemand von außen an mich herankam, doch bevor ich es betreten durfte, warf Diego erstmal einen Blick hinein. Als er dann einen Schritt zur Seite machte, um mich hinein zu lassen, ging ich davon aus, dass alles in Ordnung war. Umso überraschter war ich, das Zimmer nicht leer vorzufinden. Ich hatte Besuch.
°°°°°
Das Zimmer war hübsch. Helle Wände, große Fenster und ein bequemes Bett mit passendem Überwurf. Auf den Nachttischen standen kleine Lampen und eine weitere Tür führte ins Badezimmer. Alles ganz normal, bis auf die beiden Exemplare der Gattung Männlich, die es sich an meinem Tisch bequem gemacht hatten. Die gehörten definitiv nicht zur Zimmerausstattung und dennoch konnte ich mich eines Lächelns nicht erwehren.
„Anouk“, flüsterte ich und ignorierte Roger völlig. Seit unserer letzten Begegnung war er gewachsen, aber immer noch schmächtig und mit diesem gleichmütigen Ausdruck im Gesicht. Umso mehr erstaunte es mich, als er zögernd die Hand zum Gruß hob.
„Ginny, du wartest draußen.“ Sie musste nicht schon wieder etwas mitbekommen, das ich nicht erklären konnte.
Das schien ihr nicht zu gefallen. Besonders weil da trotz der ganzen Sicherheitsvorkehrungen zwei Fremde in meinem Zimmer saßen, aber ich war nun einmal ihr Boss. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, als den Raum zu verlassen und die Tür leise hinter sich zu schließen.
Langsam ging ich auf die Knie. Dabei stellte ich fest, dass der kleine Barfuß war. Er mochte Schuhe wohl immer noch nicht. „Mein Gott, wie du gewachsen bist. Wenn du nicht aufpasst, schießt du bald noch durch die Decke.“
Wie damals als ich ihn kennengelernt hatte, ließ ich einen Hauch meines Odeurs um ihn herum spielen. Nicht nur um ihm zu zeigen, wer ich war, sondern auch, damit er keine Angst vor mir hatte.
Anouk warf einen schnellen Blick auf seinen Vater, dann griff er nach dem Kinderbuch vor sich auf dem Tisch und rutschte vom Stuhl. Ein paar kurze Schritte und dann hielt er mir sein Buch vor die Nase. Sprechen schien bei ihm wohl nicht hoch im Kurs zu stehen.
„Du hast ein neues Buch?“
Er nickte.
„Na dann zeig mal her.“ Ich nahm es entgegen. Der kleine Pirat. Na so was musste jeder kleine Junge haben. „Kannst du jetzt schon selber lesen, oder soll ich das wieder machen?“
„Du.“
Na bitte, er konnte ja doch sprechen. „Na dann komm mal her.“ Ich setzte mich in den Schneidersitz, einfach weil es bequemer war und wartete, bis der Kleine es sich auf meinem Schoß bequem gemacht hatte. Dabei beachtete ich weder Diego noch Roger. Den kleinen hier zu sehen und mir damit in Erinnerung zu rufen, warum ich das alles hier überhaupt tat, erfüllte mich mit einem Frieden, den ich schon lange nicht mehr gespürt hatte.
Anouk zeigte mir, bis zu welcher Stelle er die Geschichte bereits kannte, als Roger meinte: „Erstaunlich.“
Ich wollte nicht fragen, wirklich. Alles in mir schrie danach, es einfach dabei zu belassen, weil dabei sowieso nichts Gutes bei rauskommen konnte. Trotzdem öffnete sich mein Mund, als besäße er einen eigenen Willen. „Was ist erstaunlich?“
Roger neigte leicht den Kopf. „Normalerweise ist Anouk zu Fremden nicht zu zutraulich.“
„Ich bin ein Alpha, Roger. Du würdest dich wundern, zu was ich die Leute alles bringen kann, wenn ich will.“ Schluck das und sei ruhig. „Außerdem bin ich keine Fremde. Ich habe ihn und Vivien gefunden.“ Mehr würde ich zu diesem Thema nicht sagen. Und um ihm das deutlich zu machen, hob ich das Buch an und lass Anouk die Abenteuer des kleinen Piraten vor.
Er segelte übers Meer, suchte Schätze und entdeckte Inseln, mit vielen kleinen Überraschungen. Draußen begann es schon zu dämmern, als der kleine Pirat nach seinen vielen Abenteuern zurück nach Hause segelte. „… denn dort draußen gab es noch viele Schätze“, lass ich vor. „Und der kleine Pirat würde sie alle finden. Ende.“ Ich klappte das Buch zu. „Und du kleiner Pirat, was ist mit dir, musst du nicht auch bald ins Bett?“
Er schüttelte den Kopf.
Diego schaltete das Licht ein.
„Nein.“ Ich dachte nach. „Wie wäre es dann mit einem Schokoriegel? Ich glaube ich habe ein paar in meiner Tasche gepackt, willst du mal nachsehen?“
Als sein Kopf auf und ab wippte, musste ich lächeln und zeigte ihm die Reisetasche in der Ecke.
Er schaute noch einmal zu seinem Papa und erst als der auch nickte, rutschte er von meinem Schoss und plünderte meine eisernen Reserven.
Ich legte das Buch sorgsam neben mich auf den Boden, bevor ich den Blick hob. Bisher hatte meine nicht-beachten-Taktik funktioniert, aber so wie unsere letzten Begegnung abgelaufen war, glaubte ich nicht, das Roger einfach nur auf einen Freundschaftsbesuch vorbeigekommen war. „Und, wie geht es euch?“
„Soweit ganz gut.“ Roger lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. „Vivien hat immer noch ein paar Probleme, aber es ist besser geworden. Aber Anouk …“ er sah zu dem Kleinen rüber, der die Schokoriegel gerade in einer Seitentasche gefunden hat. „Es wird schon werden.“
„Das ist gut.“
Anouk ging zu Roger und ließ sich von ihm helfen, die Tüte mit den Riegeln zu öffnen. „Und wie geht es dir? Man hört ja so einiges.“
„Wie, das die Königin der Lykaner völlig durchgeknallt ist?“
Er lächelte. „Ja, auch das.“ Die Tüte wollte sich nicht öffnen lassen, weswegen Roger ein wenig mehr Druck ausübte. Das Ergebnis war ein Regen aus Schokoriegeln.
Mein Kichern hätte ich mir nicht mal verkneifen können, wenn ich es gewollt hätte. „Oh Mann, du müsstest dein Gesicht sehen.“
Anouk schnappte sich einen Riegel, mit dem er sich neben mich setzte und überließ es Roger, die Bescherung zu beseitigen. Der hockte sich seufzend auf den Boden.
Da ich im Grunde meiner Seele ja ein netter Mensch war, half ich ihm.
„Es ist schön dich lachen zu hören.“
Ich zog eine Augenbraue hoch. „Du hast mein Lachen vermisst?“
„Wie ich gehört habe, haben das viele.“ Er legte eine Handvoll Riege auf den Tisch und setzte sich dann zurück auf den Stuhl. „Besonders im Schloss.“
All meine Heiterkeit verflog. „Habt ihr mal wieder Leah auf mich angesetzt?“
„Nein.“ Roger schaute kurz zu Diego. „Sie möchte nicht mehr mit uns über dich sprechen. Sie sagt, du hättest es ihr bei Strafe verboten.“
Ich richtete mich auf und legte meine Schokoriegel zu den anderen auf den Tisch. Bis auf einen, den nahm ich mit mir zum Bett. „Du würdest es sicher auch nicht toll finden, wenn dir ständig jemand hinterher spioniert.“
„Nein, wahrscheinlich nicht.“ Für einen Moment ließ er den Mund geschlossen. Hätte er es doch nur dabei belassen. „Vivien wollte nicht, dass ich herkomme – schon gar nicht mit Anouk.“
Damit war auch das letzte bisschen Heiterkeit verschwunden.
„Versteh sie nicht falsch, sie würde dich gerne wiedersehen und sie ist dir wirklich dankbar. Und doch hatte sie panische Angst davor dir zu begegnen. Ziemlich paradox, oder?“
Ich schaute den Schokoriegel in meiner Hand an und ließ ihn dann in meinen Schoß sinken. Die Lust war mir vergangen.
„Es ist jetzt ein Jahr her, Cayenne und ich weiß noch immer nicht, was das zwischen dir und meiner Gefährtin ist. Glaubst du nicht, es wäre langsam mal an der Zeit mich aufzuklären?“
Klar, aber sicher doch. Und im gleichen Zug würde ich dann auch einen Kindersarg bestellen können. „Bist du glücklich?“, fragte ich ihn leise.
Seine Augen wurden ein wenig schmaler. „Du brauchst es gar nicht auf diese Schiene zu versuchen. Ich werde mich nicht nochmal so einfach abspeisen lassen.“
Warum versuchte heute eigentlich jeder mir zu sagen, was ich zu tun hatte? „Vorsichtig, du hast den falschen Tag erwischt, um mich zu reizen. Und du scheinst zu vergessen, wer ich mittlerweile bin. Nur ein Wort von mir und du wirst die nächsten Tage in einer einsamen Zelle versauern.“
Er blieb gelassen. „Ist das deine neue Art Probleme zu lösen und unliebsamen Gesprächen aus dem Weg zu gehen? Indem du mit Drohungen um dich wirfst?“
Ja, denn so schaffte ich es die Leute auf Abstand zu halten. Niemand wollte sich mit der verrückten Königin anlegen.
„Ich habe dich einmal zu meiner Familie gezählt, Cayenne. Du hast mit mir gemeinsam an der Seite des Themis gestanden.“
Mein Blick flitzte zu Diego. „Geh …“
„Du brauchst ihn nicht rausschicken“, unterbrach Roger mich. „Er weiß, dass du niemals die Gefangene eines Skhän warst.“
Mit einem mal wurde mir eiskalt. Sie hatten Diego eingeweiht. „Warum kannst du es nicht gut sein lassen?“, fragte ich leise und spürte, wie meine Finger leicht zu zittern begannen. Ich schloss sie zur Faust, um es zu unterdrücken. „Sei doch einfach dankbar für das was du hast und lass die Vergangenheit ruhen. Es hilft niemanden, wenn du immer wieder versuchst alles an die Oberfläche zu zerren.“
Der Ausdruck in Rogers Gesicht verhärtete sich. „Ich habe in den letzten Monaten reichlich Zeit gehabt, über all das nachzudenken. Soll ich dir sagen, zu welchem Ergebnis ich gekommen bin?“
Verdammt. „Du solltest jetzt besser gehen.“
Er ignorierte mich einfach. „Du hast Vivien und Anouk manipuliert. Du hast es vorhin selber gesagt. Du bist ein Alpha und kannst denn Leuten deinen Willen aufzwingen.“
„Sei still.“
„Und ich will endlich erfahren, was geschehen ist. Wie hast du Vivien gefunden? Wo hast du sie gefunden? Warum lügst …“
„Du sollst still sein, habe ich gesagt!“ Mein Odeur explodierte um mich herum und ließ nicht nur Roger zusammen zucken. Ich spürte wie die Panik sich ihren Weg bahnte und das Zittern meiner Finger konnte ich nun nicht länger verbergen.
Roger beobachtete mich sehr genau. Er schien zu glauben, dass er den Druck auf mich nur aufrecht erhalten musste, um an sein Ziel zu gelangen. „Sie leidet Cayenne. Vivien …“
„Glaubst du da ist sie die einzige?!“, fauchte ich ihn an. Ich stand kurz vor einer Panikattacke. Hastig begann ich in meiner Rocktasche zu kramen, bis ich mein kleines, schwarzes Pillendöschen zwischen die Finger bekam. Aber meine Finger zitterten so sehr, dass ich den verdammten Verschluss nicht auf bekam und dann fiel das dumme Ding auch noch runter. „Scheiße.“
Ehe ich mich danach bücken konnte, war Diego da und hob sie für mich auf. Er öffnete sogar den Verschluss für mich, bevor er sie mir zurück gab.
Ich würgte mein Beruhigungsmittel ohne Wasser hinunter, sodass sie mir auf halbem Wege in der Kehle stecken bleiben wollte. Nur mit mühevollen Schlucken brachte ich sie dazu, bis in meinen Magen zu rutschen.
Als Roger sah, wie ich die Tablette nahm, runzelte er die Stirn. „Was ist das?“
Meine Antwort bestand in einem Knurren. Das ging ihn nun überhaupt nichts an.
Natürlich konnte Roger es nicht dabei belassen. „Bist du Krank?“
Verflucht, der Kerl war schlauer, als gut für ihn war. „Kümmer dich um deinen eigenen Dreck und überlass den meinen mir.“
„Cayenne, ich will doch nur …“
Die Tür zum Zimmer ging auf und ein missgelaunter Nikolaj kam hinein. Doch seine Laune veränderte sich schlagartig, als er unsere illustre Runde sah. Und das Pillendöschen in meiner Hand. Er warf einen wachsamen Blick zu Roger. „Was ist hier los? Was haben Sie mit meiner Gefährtin gemacht?“
„Geredet.“ Roger blieb ganz ruhig.
Von der Tür aus warfen Ginny und Nikolajs Umbras einen wachsamen Blick in den Raum.
Nikolaj bedachte Roger mit einem aufmerksamen Blick, als er durch den Raum zu mir kam und mir meine Dose aus der Hand nahm. Er inspizierte den Inhalt. Ich hatte darin immer drei Tabletten für den Notfall zu liegen. „Geht es dir gut?“, fragte er besorgt. Vorsichtig nahm er mein Kinn zwischen die Finger und sah mir in die Augen. „Soll ich einen Arzt rufen?“
Ich schüttelte den Kopf und machte mich damit von ihm frei. „Alles bestens.“ Zumindest nachdem mein Muntermacher langsam seine Wirkung entfaltete. Ich spürte, wie sich das Mittel langsam in meinem Kreislauf ausbreitete und den Aufruhr in mir unterdrückte.
Roger gab nicht auf. „Wofür sind die Pillen?“
Nikolaj warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Ich wüsste nicht, was sie das angeht.“
Die beiden Männer starrten sich schweigend an.
Erst als es an meinem Rock zupfte, bemerkte ich, dass Anouk noch mit ihm Raum war. Er schaute Nikolaj an und winkte mich dann zu sich herunter.
„Hey mein Süßer, was ist los?“, fragte ich, während ich nach unten in die Hocke ging.
Das war der Moment, in dem Nikolaj ihn bemerkte. Eine Schrecksekunde stand ihm die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Natürlich erkannte er den kleinen Jungen, schließlich war er Jahrelang ein Gefangener seines Vaters gewesen.
Lange sah Anouk einfach nur meinen Gefährten an, bevor er sich vorbeugte und in mein Ohr flüsterte: „Müssen wir wieder zurück in das Haus?“
Ach du … „Nein“, sagte ich sofort und nahm sein Gesicht zwischen meine Hände. „Niemals, das lasse ich nicht zu.“
„Indianerehrenwort?“
„Indianerehrenwort.“ Wir verhakten unsere kleinen Finger, um den Schwur zu besiegeln. Niemals würde ich es erlauben, dass dem Kleinen etwas passierte. Niemals würde er mehr zurück zu Markis Schleim müssen. Diese Zeiten waren vorbei.
Roger unterdessen verstand, dass hier etwas ganz und gar verkehrt lief. Er musterte Nikolaj. „Woher …“
„Das reicht“, knurrte ich. „Nimm Anouk und geh nach Hause. Hör auf dich mit Dingen zu befassen, die dich nichts angehen.“
„Cayenne …“
„Geh jetzt, oder ich werde dafür sorgen, dass du es tust.“ Und um ihn den Ernst der Lage noch zu verdeutlichen, schickte ich ihm auch noch eine Ladung meines Odeurs.
In diesem Moment verflog wohl sein letztes bisschen Sympathie für mich. „Komm, Anouk, Mama wartet sicher schon.“
Ich umarmte den Kleinen nochmal, drückte ihm noch ein paar Schokoriegel als Wegzehrung in die Hand und sah dann zu, wie sie mein Zimmer in Begleitung von Diego verließen. Rogers Blick huschte noch einmal auf das Döschen in Nikolajs Hand, dann waren die beiden weg und die Tür zu. Aber das hieß für mich noch lange nicht, dass damit alle Probleme verschwunden waren. Nikolaj würde darüber reden wollen, dass wollte er immer, doch als er den Mund aufmachte, wandte ich ihm einfach den Rücken zu. „Lass es gut sein, Nikolaj, ich bin nicht daran interessiert.“
Ich konnte praktisch fühlen, wie der Ärger in ihm aufstieg. „Du willst mir ausweichen.“
„Ich will nicht nur, ich werde es auch tun.“ Ich hockte mich vor meine Reisetasche und zog von ganz unten ein Kleidungsstück heraus, das ich schon lange nicht mehr getragen hatte. Ich brauchte dringend frische Luft, um den Kopf klar zu kriegen. „Keine Angst, ich werde schon dafür sorgen, dass niemand unserer kleinen Scharade auf die Spur kommt.“ Ich zog mir eine schwarze Jeans unter mein Kleid an. Dann zog ich mir das Kleid über den Kopf und kramte nach dem Pulli, den ich heute Morgen eingesteckt hatte.
„Was machst du da?“
„Wonach sieht es denn aus?“ Ich schlüpfte in den weißen Pullover und zog dann eine rote Schachtel aus meiner Tasche. Darin lag eine Kette mit einem silbernen Skorpionanhänger.
Den Schmuck, den ich einst von Romy bekommen hatte, war durch den Aufenthalt bei Jegor für mich verloren gegangen. Daher hatte ich mir schon vor Monaten einen Ersatz besorgt. Dies hier war nicht nur das Abbild eines giftigen Skorpions, wenn ich den Mechanismus auslöste, dann war die Giftdosis in seinem Inneren tödlich.
Nikolaj knurrte, als er meine Veränderung verfolgte.
Ich ignorierte ihn und stellte mich vor den Spiegel, um mir die Kette umzuhängen.
„Kannst du mir mal verraten, was das werden soll?“
„Ich gehe aus, ist das nicht offensichtlich?“
„Was?“ Scheinbar traute er seinen Ohren nicht. „So?“
„Ich brauche eine Auszeit Nikolaj, nur ein paar Stunden und so wird mich niemand erkennen.“ Ich steckte meine Geldbörse in meine Jeans und zog mir meinen Mantel über. Dann noch Schuhe, Schal und Mütze und ich war ein anderer Menschen.
„Du kannst da nicht rausgehen, nicht so.“
„Ach und wer will mich daran hindern? Du etwa?“ Ich zog spöttisch eine Augenbraue hoch.
Er packte mich am Arm. „Wenn es sein muss, ja.“
Ich knurrte. „Übertreib es nicht, Nikolaj. Meine Laune ist am Tiefpunkt angekommen und wenn du es nicht sein willst, der alles abbekommt, dann solltest du mich schleunigst loslassen.“
Wütend stierte er mich an. „Du bist nicht in der Verfassung, um …“
„Hör auf mich wie eine Geisteskranke zu behandeln. Ich bin sehr wohl in der Lage auf mich alleine aufzupassen, egal in welcher Verfassung ich mich befinde. Meine Krankheit rechtfertigt dein geglucke noch lange nicht, also las es einfach sein.“ Ich riss mich aus seinem Griff. „Und wage es nicht mir zu folgen.“
Mit einem letzten warnenden Blick in seine Richtung wandte ich mich von ihm ab und verließ dann mit knallender Tür das Zimmer.
Die Wächter und Umbra auf dem Korridor standen sofort stramm. Ich beachtete sie nicht und lief einfach an ihnen vorbei. Leider waren Diego und Ginny darauf geschult, sich auch ohne Aufforderung an meine Fersen zu heften und so klebten sie auch noch an meinem Hintern, als ich mich bereits draußen auf der Straße befand.
Aber ich wollte allein sein, ich brauchte einfach mal ein wenig Zeit für mich. „Ihr bleibt hier“, sagte ich, kaum dass wir außer Sichtweite der Pension waren.
„Nein“, kam es sofort von Diego.
Ginny dagegen blieb einen kurzen Moment stehen, bevor sie sich nach Diegos Beispiel richtete.
„Das war keine Bitte.“
„Als solche habe ich es auch nicht aufgefasst.“
Ich wirbelte so plötzlich zu ihm herum, dass er nun doch stehen bleiben musste, wenn er mich nicht über den Haufen rennen wollte. „Wenn du nicht willst, dass ich genauer darüber nachdenke, wie eine unbefugte Person trotz der ganzen Sicherheitsvorkehrungen in mein Zimmer gelangen konnte, solltest du dich heute vielleicht mal ein bisschen zurückhalten. Ansonsten kann ich dir versichern, dass dir die Konsequenzen nicht gefallen werden.“
Ganz im Gegenteil zu anderen hatte Diego sich von mir noch nie einschüchtern lassen. „Es ist meine Aufgabe, auf dich aufzupassen. Du selber hast mich dafür ausgewählt.“
Was im Nachhinein vielleicht keine besonders gescheite Entscheidung gewesen war. „Ich kann auf mich selber aufpassen.“
„Daran habe ich niemals gezweifelt.“
Ich öffnete den Mund, wusste aber nicht, was ich darauf erwidern sollte. Also knurrte ich ihn nur an und kehrte ihnen dann den Rücken. „Ihr werdet mir nicht folgen. Das ist ein ausdrücklicher Befehl.“ Und auch wenn es ihnen nicht passte, sie würden sich daran halten. Meine Hand schloss sich um den Ausdruck in meiner Jackentasche. Bei dem war ich jetzt vorhatte, konnte ich sie einfach nicht gebrauchen.
Um diese Zeit, in so einem kleinen Ort ein Taxi zu bekommen, erwies sich als unmöglich. Die meisten Straßen waren verwaist und die Leute verbrachten den Abend Zuhause im Warmen. So blieb mir gar nichts anderes übrig, als meinen Weg zu Fuß in Angriff zu nehmen.
Arkan war nur ein kleiner Ort und doch brauchte ich fast eine Stunde, um die erste Adresse auf meiner Liste zu finden.
Mir war klar, dass das eine dumme Idee war. Sydney hatte recht, nur weil ich die Gelegenheit hatte, musste ich sie noch lange nicht nutzen. Besonders nach dem Zusammenstoß mit Roger sollte ich es einfach besser wissen, aber … keine Ahnung. Ich musste es einfach tun.
So fand ich mich nach einiger Zeit vor dem Haus von Oliver Maas wieder. Tristans, Viviens und Ambers Vater. Es war ein zweistöckiges Gebäude mit einem gepflegten Graten. Durch die Hecke hindurch konnte ich sogar einen recht großen Swimmingpool erkennen.
Hier also war Tristan aufgewachsen. Aber ich war nicht hier, um mir das Haus mit dem Garten anzuschauen, darum begann ich um das Areal herumzulaufen. Ich hoffte auf einen Blick durch ein Fenster, aber was ich dann fand, war noch viel besser. Eine große, gläserne Terrassentür und dahinter brannte Licht.
Mein Herzschlag beschleunigte sich ein wenig, als ich um die Hecke herumschlich, um einen besseren Blick ins Innere zu bekommen. Doch was ich dann sah, hätte mich wohl nicht unvorbereiteter treffen können.
Lucy.
Sie saß im Schneidersitz auf der Couch und blätterte gelangweilt in einer Zeitschrift. Das rote Haar hatte sie sich zu einem unordentlichen Knoten an den Kopf gebunden und ihre Jogginghose hatte ein große Loch am Knie.
Sie wirkte so … normal.
Als sie plötzlich aufschaute, befürchtete ich schon, sie hätte mich bemerkt und duckte mich ein wenig tiefer hinter der Hecke, doch ihre Interesse galt dem Mädchen, dass mit einem Zettel in der Hand in den Raum gestürmt kam und sich neben ihr auf die Couch warf.
Das Mädchen trug ein wirklich ausgefallenes, schwarzes Kleid im Gothicstil. Auch die Haare waren schwarz. Das musste gefärbt sein. Ich hatte sie noch nie im Leben gesehen, doch ihre Züge waren mir vertraut genug, um mich wissen zu lassen, dass es sich bei ihr um Amber handeln musste.
Sie zeigte Lucy etwas auf dem Blatt, woraufhin beide in schallendes Gelächter ausbrachen.
Mein Herz wurde schwer. Früher war ich es gewesen, die so mit Lucy gelacht hatte, damals, als wir noch Freunde gewesen waren.
Wenigstens wusste ich jetzt, warum Archie keine Adressen zu dem Namen Tristan und Amber Maas gefunden hatte. Wenn Lucy hier war, dann war Tristan sicher auch nicht weit. Sie wohnten also alle noch bei Oliver. Vielleicht arbeiteten sie aber auch noch für die Themis.
Eine leichte Melancholie ergriff mich. Wenigstens ging es ihnen gut und wie es schien, waren sie auch glücklich. Mein Opfer bewirkte also etwas.
Ich wandte mich ab und ging zum Haus nebenan. Es war ein wenig kleiner und hatte keinen Swimmingpool, aber es wirkte genauso gepflegt. Hier wohnte Roger mit seiner Familie.
Hinter den Fenstern sah ich Licht brennen, aber die Vorhänge waren zugezogen. Ich überlegte, ob ich auch hier ums Haus gehen sollte, verwarf den Gedanken aber ganz schnell wieder. Eine Konfrontation mit Roger am Tag reichte mir, ich musste mein Glück nicht herausfordern. Außerdem gab es da noch eine dritte Adresse auf meiner Liste. Marica Steel, Raphaels Mutter.
Ich hatte sie mir ganz bewusst bis zum Ende aufgespart, den vor dieser Begegnung fürchtete ich mich am Meisten. Gleichzeitig sehnte ich sie aber auch ein wenig herbei. Ich musste einfach wissen, dass es ihm gut ging.
Da Archie zu Raphael selber keine Adresse hatte finden können, lebte er vermutlich auch noch im Elternhaus seiner Mutter. Wobei Elternhaus hier wohl der falsche Ausdruck war, schließlich hatte Raphael seinen Vater nie kennengelernt.
Um zum Haus von Marica zu gelangen, musste ich zwei Straßen weitergehen. Dann fand ich mich vor einem flachen Gebäude mit einem verwilderten Garten wieder. Hinter den Fenstern brannte kein Licht. Auch die Veranda war dunkel. Entweder war keiner Zuhause, oder sie schliefen schon.
Ich legte meine Hände auf das schmiedeeiserne Gartentür und klammerte meine Finger darum. Hier war Raphael aufgewachsen. Ich konnte es geradezu vor mir sehen, wie er als kleiner Junge auf der Veranda gesessen und gespielt hatte. Es stand sogar noch das Gerüst einer alten Kinderschaukel im Garten, der Sitz jedoch fehlte.
Mit einem Mal fehlte Raphael mir, wie schon seit Monaten nicht mehr. Ich begann mich zu fragen, wo er gerade war und was er tat, aber vor allen Dingen, ob er glücklich war. Wenn ich doch nur …
„Gibt es einen Grund, warum sie mein Haus anstarren?“
Erschrocken schaute ich auf. Neben mir stand eine Vampirin mit langem schwarzem Haar und blassblauen Augen, die mich misstrauisch musterte. Sie wirkte wie Anfang vierzig, war also bestimmt um die siebzig. In ihrer Hand hielt sie eine dicke Aktentasche.
„Ähm“, machte ich, nicht sicher was ich sagen sollte. Wenn das ihr Haus war, dann musste das Raphaels Mutter sein. „Ich wollte nur …“ Ja, was wollte ich nur?
Ihre Lippen kräuselten sich ein wenig. „Wenn es sie nicht stört zur Seite zu treten, ich würde gerne hineingehen.“
„Natürlich, entschuldigen sie bitte.“ Hastig wich ich vor dem Tor zurück. Als sie dann aber an mir vorbei trat, konnte ich mich nicht zurück halten. „Sie sind Ryders Mutter.“
Sie hatte die Hand schon am Gartentor, blieb dann aber noch mal stehen und schaute sich noch mal zu mir um. Dabei verengten sich ihre Augen ganz leicht. „Ich kenne keinen Ryder.“
Oh Mist. Es war mir so ins Blut übergegangen, niemals Raphaels richtigen Namen auszusprechen, dass ich nun seinen Decknamen benutzt hatte. „Raphael“, sagte ich deswegen noch mal. „Sie sind Raphaels Mutter. Marica.“
Nun drehte sie sich ganz zu mir herum, schaute mich aber nur abwartend an.
Ja, super, und nun? „Ähm … ich bin eine alte Bekannte von ihm.“
Wieder wurden ihre Augen ein kleinen wenig enger. „Habe ich sie nicht schon mal gesehen?“
„Nein.“ Ich zog meinen Schal ein wenig höher. „Ich … ich wollte nur wissen, wie es Raphael geht.“
Ihre Lippen wurden ein wenig schmaler. Sie senkte den Blick und seufzte. „Ich weiß es nicht.“
Sie wusste es nicht? „Warum wissen sie das nicht?“
„Weil ich ihn seit einem Jahr nicht mehr gesehen habe.“
„Was!? Aber … wohnt er denn nicht hier? Er sollte doch bei seiner Familie sein.“
Das Misstrauen kehrte mit einem Schlag zurück. „Woher sagten sie noch gleich, kennen sie meinen Sohn?“
Mist. „Ich … ich hab ihm geholfen. Bei der Suche nach Vivien.“
Einen Moment schien es, als wollte sie sich einfach abwenden und mich stehen lassen, doch dann schüttelte sie einfach nur traurig den Kopf. „Er ist verschwunden“, sagte sie leise.
Ich hatte das Gefühl, als würde mir jemand den Boden unter den Füßen wegreißen. „Was meinen sie mit verschwunden?“
„Wenn sie ihm bei der Suche nach Vivien geholfen haben, wissen sie sicher auch darüber Bescheid, wie es dazu kam.“
Ich nickte. „Sie wurde entführt, aber vor einem Jahr wurde sie gefunden und ist jetzt mit Anouk bei Roger.“
Es schien sie nicht zu wundern, dass ich darüber Bescheid wusste, sondern nur darin zu bestärken, dass ich die Wahrheit sagte. „Ja, das ist richtig. Während der Suche nach Vivien, hat Raphael sich verliebt, wussten sie das?“
„Ja“, sagte ich zögernd.
„Ich habe dieses Mädchen nie kennengelernt und das ist wirklich ein Glück für dieses Miststück.“ Ihre Hand ballte sich zur Faust. „Wenn ich sie jemals zu Gesicht bekomme, wird sie es bereuen geboren worden zu sein.“
Oh, das tat ich manchmal wirklich. „Warum?“
„Weil sie der Grund ist, warum er verschwunden ist. Wissen sie, ich habe meinen Sohn in den letzten Jahren kaum zu Gesicht bekommen, aber wir haben immer mal wieder miteinander telefoniert, doch nachdem Vivien gefunden wurde, hat dieses Aas meinen Sohn verlassen. Nein, sie hat ihn nicht nur verlassen, sie hat ihm das Herz aus der Brust gerissen und es dann auch noch weggeworfen.“ Sie funkelte mich an, als wüsste sie genau, dass ich dieses Miststück war. „Sie hat ihn so unsagbar tief verletzt, dass er einfach verschwunden ist. Niemand weiß wo er ist, oder hat seitdem etwas von ihm gehört. Er ist einfach … weg.“
Oh mein Gott. Ich war mit jedem ihrer Worte ein wenig blasser geworden und jetzt wusste ich einfach nicht was ich sagen sollte. Ich war … geschockt. „Aber … nein.“ Ich schüttelte den Kopf, weil ich es einfach nicht glauben wollte.
„Doch.“ Marica legte ihre Hand wieder auf das Gartentor. „Sie hat ihm das Herz gebrochen und das hat er nicht verkraftet.“
°°°
„Lassen sie die Flasche einfach stehen“, lallte ich mit schwerer Zunge und legte einen Hunderter auf den Tresen, damit der Barmann verstand, wie ernst es mir war.
Er warf mir zwar einen zweifelnden Blick zu, tat aber worum ich ihn bat und sackte das Geld ein.
Ich griff währenddessen direkt nach der Flasche. Einen Moment überlegte ich, ob ich mir etwas ins Glas kippen sollte, entschied dann aber, dass ich genauso gut direkt aus der Flasche trinken könnte.
Er war weg. Ich hatte Nikolaj geheiratet, damit auch er endlich bei seiner Familie sein konnte und er verschwand einfach. Seit einem Jahr hatte niemand mehr etwas von ihm gehört und keiner hatte es mir gesagt.
Ich nahm noch einen großen Schluck und spürte wie der Wodka mir in der Kehle brannte.
Außer mir und dem Barmann befanden sich in der kleinen Kneipe nur noch zwei ältere Kerle, die immer mal wieder miteinander lachten.
Ich konnte nicht lachen. Den Schmerz, den ich solange in meinem Herzen verschlossen hatte, versuchte wieder an die Oberfläche zu gelangen. Es war nicht nur der Verlust, der mir dabei so zu schaffen machte, es war das Wissen, dass ich an Raphaels Verschwinden schuld war. Dabei hatte ich doch alles richtig machen wollen.
Als sich jemand neben mich auf den Barhocker setzte, brauchte ich nicht mal den Blick zu heben, um zu wissen wer es war. Diego. Ich erkannte ihn an seinem Geruch. „Na super“, murmelte ich.
„Was machst du hier?“
„Sieht man das nicht? Ich ersaufe meinen Kummer im Alkohol.“ Zur Demonstration hob ich die Flasche ein weiteres Mal, doch ehe sie meine Lippen berühren konnte, griff Diego danach.
„Hey.“ Bevor er sie mir wegnehmen konnte, schlug ich ihm auf die Finger und riss sie aus seiner Reichweite. „Das ist meine!“
Diego sah mich mit diesem Großer-Bruder-Blick an, den ich noch nie leiden konnte. Er gab mir damit immer das Gefühl etwas sehr Dummes zu tun. „Ich glaube aber, du hast genug.“
„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf „Die Flasche ist noch nicht leer.“ Damit setzte sie ein weiteres Mal an den Mund. Heute würde ich mir von niemanden etwas verbieten lassen. „Und ich bin erwachsen, also lass mich einfach in Ruhe.“
„Besonders erwachsen führst du dich aber gerade nicht auf.“
„Na und, ist doch meine Sache.“ Mit dem Fingernagel pulte ich an dem Etikett der Flasche herum.
Diego beobachtete das eine ganze Weile. Dann legte er mir irgendwann seine Hand auf meine. „Es tu mir leid. Ich hätte Roger nicht in dein Zimmer lassen dürfen.“
Er dachte ich sitze wegen Roger und Anouk hier? War wahrscheinlich besser als die Wahrheit.
Seufzend griff ich seine Hand und bemerkte dabei den silbernen Ring an seinem Finger. Er trug ihn noch immer. „Früher war alles so viel einfacher“, sagte ich leise. „Weißt du noch, wie wir uns immer rausgeschlichen haben, um auf Partys zu gehen?“
„Ich erinnere mich vor allem daran, dass du nach so einer Party einmal in meinem Wagen gepinkelt hast.“
Mein Mundwinkel zuckte. „Das war mir echt peinlich gewesen.“
„Ja. Und nachdem du Lucy dann auch noch auf die Schuhe gekotzt hattest, hast du uns versprochen, nie mehr so viel Alkohol zu trinken.“
Jetzt wo er es sagte. „Das ist doch bedeutungslos.“
„Mir haben deine Versprechen immer viel bedeutet. Cayenne.“ Er beugte sich ein wenig vor. „Komm, lass uns gehen, ich bring dich zurück in die Pension.“
Dahin wo Nikolaj auf mich wartete. Tolle Aussichten.
Hinter der Bar klirrte es.
Als ich aufschaute, sah ich den entsetzen Blick des Barmann. Er hatte wohl gehört, wie Diego mich genannt hatte. „Na toll, jetzt weiß er wer ich bin.“
„Komm schon.“ Diego rutschte von seinem Hocker und griff dabei nach meinem Arm. „Lass uns gehen, es wird Zeit.“
„Na gut.“ Ich konnte mich genauso gut in der Pension weiter besaufen.
Schwankend drehte ich mich zur Seite und wollte eigentlich vom Hocker springen, doch um meinen Gleichgewichtssinn stand es nicht besonders gut. Aus dem Hüpfen wurde ein Fallen und hätte Diego mich nicht aufgefangen, hätte ich wohl den Boden geknutscht.
Irgendwie fand ich das so lustig, dass ich kurz auflachte.
„Los, ich helfe dir.“ Diego schlang seinen Arm um meine Taille und hielt mich aufrecht.
„Warte, meine Flasche.“ Ich wollte mich umdrehen, aber das ließ er nicht zu.
„Du hast genug.“
„Aber das ist meine.“
„Sie ist leer.“
Auch wirklich? Ich versuchte einen Blick zurück zu werfen, aber irgendwie drehte sich alles. „Das ist so entwürdigend“, sagte ich, während ich torkelnd neben ihm herlief.
Diego gab nur ein schnauben von sich und brachte mich aus der Kneipe raus.
Direkt davor parkte ein Wagen, an dem Ginny lehnte. Als sie uns kommen sah, zog sie die Stirn kraus und öffnete dann eilig die Hintertür.
„Du bist so niedlich“, erklärte ich ihr und hätte ihr wohl in die Wange gekniffen, wenn Diego mich nicht auf den Rücksitz geschoben hätte. Und ich gewusst hätte, wer von den beiden Ginnys die echte war. „Am liebsten würde ich mit dir auf den Spielplatz gehen.“
Sie schaute mich ein wenig zweifelnd an.
„Ich fahr hinten mit“, erklärte Diego und rutschte dann zu mir auf die Rückbank.
Ginny warf die Tür hinter ihm zu und setzte sich dann ans Steuer.
Als sie anfuhr, wollte ich mich gerade nach vorne beugen, doch durch den Schwung kippte ich nach hinten und landete halb auf Diego drauf.
„Uff“, machte ich und wollte mich wieder aufrichten. Leider rutschte meine Hand auf seiner Hose weg und ich landete erneut auf ihm.
„Bleib liegen“, sagte Diego und drückte mich an der Schulter runter. „Sonst tust du dir noch selber weh.“
Wäre zur Abwechslung mal etwas Neues.
Seufzend machte ich es mir mit dem Kopf auf seinem Bein bequem und pikte mit dem Finger in den Vordersitz. „Ich hab Mama gesehen“, sagte ich aus heiterem Himmel und wusste nicht mal warum.
Diego spannte sich ein wenig an.
„Letztes Jahr nach dem Weihnachtsmarkt.“ Ich drehte mich auf den Rücken und schaute zu ihm nach oben. „Sie wollte mich mitnehmen. Ich habe nein gesagt.“ Ich schüttelte den Kopf, um das noch zu verdeutlichen. „Jetzt ist sie verschwunden.“
Er sagte nichts, aber sein Blick ging kurz nach vorne zu Ginny, die uns durch den Rückspiegel beobachtete.
„Und Ryder ist auch verschwunden. Du wirst wahrscheinlich auch irgendwann verschwinden.“
„Nein“, widersprach er mir sofort und strich mir nach kurzem Zögern übers Haar. „Mich wirst du nicht los.“
„Ach nein?“ Ich streckte den Finger nach oben und traf ihn damit fast im Gesicht. „Ich glaube dir nicht. Du hast mich immer nur angelogen.“
Der Ausdruck in seinem Gesicht wurde ein wenig weicher. „Ich weiß und es tut mir leid.“
„Sydney kann ich vertrauen, dir nicht.“ Das musste einmal klar gestellt werden.
„Doch, du kannst mir vertrauen.“ Er schaute mir direkt in die Augen. „Es gibt keinen Isaac mehr, der mich zwingen kann zu lügen.“
Von der Seite hatte ich es noch gar nicht betrachtet. Isaac war weg, ich war hier der einzige Alpha und ich war absolut nicht wie er. „Ich mache sowas nicht“, nuschelte ich. „Ich zwinge dich nicht.“
„Nein, ich weiß.“ Behutsam strich er mit dem Daumen über meine Wange. „Du bist jetzt schon ein besserer Alpha, als Isaac es jemals war.“
Das ließ mich schnauben. „Ich bin eine Zicke.“
Sein Mundwinkel zuckte nach oben. „Das auch.“
„Hey!“ Ich wollte den Arm heben, aber in dem Moment bog Ginny ab und ich musste mich abstützen, um nicht in den Fußraum zu kullern. Dabei bemerkte ich eine leere Flasche im Getränkehalter. „Das ist nicht meine Flasche.“
Auch Diego schaute dorthin.
„Wo ist meine Flasche?“ Ich war mit dem Besäufnis schließlich noch nicht fertig.
„Die hast du ausgetrunken und in den Mülleimer geworfen.“
„Ach wirklich?“ Daran konnte ich mich gar nicht erinnern. Vielleicht beschäftigte mich diese Frage deswegen noch immer, als wir vor der Pension hielten und ich mit Diegos Hilfe aus dem Wagen stieg.
Um mich nach oben zu meinem Zimmer zu bekommen, musste sogar Ginny mit anpacken. Zwar hätte Diego mich einfach hochheben können, aber ich wollte selber laufen. Nicht dass ich dazu noch imstande gewesen wäre. Aber an meine Zimmertür klopfen, das bekam ich selber hin.
Es dauerte einen Moment, bis ein erstaunter Nikolaj in nichts als einer Pyjamahose uns die Tür öffnete. „Cayenne?“
„Ha-llo!“ Ich winkte meinem Gefährten überschwänglich zu und verlor dabei fast das Gleichgewicht. „Ups.“ Kichernd klammerte ich mich an Diego. „Ich bin alleine gelaufen.“ Mein Finger ging ein wenig unkontrolliert in die Höhe. „Fast.“
Verwirrt schaute er von mir zu Diego. „Was ist mit ihr?“
„Sie ist völlig besoffen“, antwortete Diego schlicht.
„Bin ich nicht, ich kann noch klar denken.“
Den Blicken der beiden zu urteilen, glaubten sie mir nicht. Na gut, dann würde ich es ihnen eben beweisen. Mit all der Konzentration die ich aufbringen konnte, machte ich mich von Diego frei und torkelte einen Schritt in den Raum hinein. Als ich dabei etwas Schlagseite bekam, griffen die beiden Männer reflexartig nach mir, doch ich schob sie nur weg. „Ich kann das alleine.“
Ich nahm Kurs auf das Bett, doch auf halbem Wege dahin bemerkte ich den Minikühlschrank und steuerte dann stattdessen den an.
„Ihr solltet einen Eimer bereit halten, Majestät“, empfahl Diego. „Sie wird sich übergeben.“
„Werde ich nicht!“ Da es mir zu anstrengend war auf den Beinen zu bleiben, setzte ich mich direkt vor den Minikühlschrank und inspizierte seinen Inhalt.
Nikolaj rieb sich übers Gesicht, als sei ihm das alles zu viel. Oder vielleicht war er auch einfach nur genervt. Wenn es um mich ging, konnte man sich da schließlich nicht so sicher sein. „Okay, in Ordnung, danke, ich kümmere mich schon um sie.“
Damit war Diego für den heutigen Abend entlassen.
Als Nikolaj die Tür hinter ihm schloss, hatte ich das dringende Bedürfnis, die Stille zu füllen. „Weist du was? Ich sollte mir ein Hobby zulegen.“ Ich schnappte mir einen Kurzen, klopfte damit kurz auf den Boden und kippte ihn dann in einem Zug weg.
„Ich glaube du solltest nichts mehr trinken.“
„Und ich glaube, ich sollte das doch.“ Ich schnappte mir drei weitere Flaschen und hielt eine für ihn hoch. „Willst du auch?“
„Nein.“ Er schüttelte besorgt den Kopf.
„Dann eben nicht.“ Umso mehr blieb für mich. Ich setzte die zweite Flasche an und kippte sie runter. Leider beugte ich mich dabei ein wenig zu weit nach hinten. Mein Gleichgewicht ging flöten und ich landete auf dem Rücken. Die beiden anderen Fläschchen fielen klappernd zu Boden. Das fand ich so lustig, dass ich gleich wieder anfing zu kichern.
Nikolaj schien ein wenig überfordert, aber dann kam er zu mir. „Komm, wir bringen dich jetzt erstmal ins Bett.“
„Aber ich bin noch gar nicht müde.“
Er griff nach meinen Armen und zog mich auf die Beine. „Du musst ja auch nicht schlafen. Aber da ist es bequemer, als auf dem Boden.“
„Da hast du recht.“ Ich drehte mich herum und blieb dabei nur auf den Beinen, weil er mich nicht losließ. Wenig später saß ich auf der Bettkante und versuchte angestrengt meine Schuhe loszuwerden.
Tief einatmend hockte er sich vor mich und half mir dabei. „Wo bist du gewesen?“
„Bei diesem Barmann. Man, hat der blöd geguckt, als er kapiert hat, wer ich bin.“ Ich griff nach den Knöpfen an meinem Mantel und versuchte sie aufzubekommen. Ich hatte gerade mal einen geschafft, als Nikolaj schon mit den Schuhen fertig war und mir nun dabei half.
Schal und Mütze folgten. Sogar die Kette nahm er mir ab und legte sie auf den Nachttisch.
Ich griff währenddessen nach dem Saum meines Pullis und versuchte ihn mir über den Kopf zu ziehen. Leider kam mir dabei wieder mein blödes Gleichgewicht in die Quere. Ich fiel ein weiteres Mal um und das während ich noch halb in dem Pullover steckte. „Nikolaj, Hilfe.“
Er murmelte etwas, das ich nicht verstand und befreite mich dann von meinem Missgeschick. Als ich danach jedoch nach dem Knopf an meiner Hose griff, hielt er meine Arme fest. „Warte.“
„Aber mit Hose geht man nicht ins Bett.“
Einen Moment schaute er mich nur an, dann schloss er die Augen und nahm einen sehr tiefen Atemzug, so als wenn er sich stark zusammenreißen müsste. „Warte bitte trotzdem einen Moment“, sagte er und ging dann zu meiner Tasche. Nach einer kurzen Suche, beförderte er ein Hemd von mir zutage, dass er mir über den Kopf zog. Erst dann erlaubte er mir, meine Hose zu öffnen, wobei er mir auch dabei helfen musste, weil ich das allein einfach nicht auf die Reihe bekam.
Als ich dann endlich lag, setzte er sich zu mir auf die Bettkante und strich mir vorsichtig eine Strähne aus dem Gesicht. „Warum machst du sowas?“, fragte er leise. „Es ist doch sonst nicht deine Art, zu trinken.“
Ich zuckte mit den Schultern „Hat sich so ergeben. Aber keine Sorge, ich war artig und hab nichts gesagt.“ Ich senkte die Stimme zu einem Flüstern. „Ich darf doch nichts sagen, wegen Vivien und Anouk.“ Ich schlug mir überrascht auf den Mund. „Das darfst du gar nicht wissen. Sag Nikolaj nicht, dass ich dir das gesagt hab, okay? Der sagt es seinem Vater und vor dem hab ich Angst.“ Er sah mich nur verständnislos an. „Bitte, sag nichts.“
Liebevoll strich er mir über die Hand. „Ich werde nichts sagen.“
Puh, noch mal Glück gehabt.
Ich schmiegte mich an seine Berührung und dabei fiel mir nicht zum ersten Mal auf, was für ein hübscher Kerl er eigentlich war. So ganz anders als Jegor. „Weist du, du siehst gar nicht wie dein Vater aus.“ Ich hob die Hand uns stupste ihm mit dem Finger an die Nasenspitze. „Aber du bist sein Sohn und immer wenn ich dich ansehe, bin ich wieder in seinem Büro.“
„In seinem Büro?“
Ich nickte eifrig, nahm seine Hand und spielte mit seinen Fingern herum. Keine Ahnung warum, ich brauchte eine Beschäftigung und er verbot es mir ja nicht. „Er hat mich erwischt, mit dem Telefon und dann … er hat mich auf den Schreibtisch gedrückt. Aber Vivien hat es nicht zugelassen. Sie hat mich beschützt, deswegen muss ich jetzt sie beschützen.“
Nikolajs Augen wurden vor Unglaube ein kleinen wenig größer. „Mein Vater hat dich angefasst?“
Ich wollte nicken, aber plötzlich begann die Welt sich um mich herum zu drehen. „Mir ist schlecht.“ Ich rollte mich auf die Seite und schloss die Augen. Großer Fehler. Die Übelkeit kam mit einer solchen Wucht, dass ich gerade noch so schaffte, mich über die Bettkante zu lehnen.
Geistesgegenwärtig griff Nikolaj nach dem kleinen Mülleimer und konnte damit den Großteil des Malheurs abfangen. Leider nicht alles.
Die nächste Stunde verbrachte ich damit, über dem Klo zu hängen und mir die Seele aus dem Leib zu kotzen. Gott, warum nur hatte ich so viel getrunken? Ich wusste doch, dass ich nichts vertrug.
Ich würgte solange, bis nichts mehr kam, blieb aber trotzdem einfach wo ich war. Mir ging es plötzlich so schlecht, dass ich einfach nicht mehr die Kraft hatte, mich zu bewegen.
Nikolaj beseitigte meine Schweinerei, hielt mir dann die Haare aus dem Gesicht und strich mir über den Rücken. Ich war so mit mir selbst beschäftige, dass mich seine Nähe nicht mal störte. Ganz im Gegenteil. Es beruhigte mich, ihn um mich zu haben und nicht alleine zu sein.
Ich wusste nicht wie lange ich da halb über dem Klo hing, aber irgendwann spürte ich, wie Nikolaj mir ein Glas Wasser reichte, damit ich mir den Mund ausspülen konnte. Er wischte mir sogar vorsichtig das Gesicht ab, bevor er mich zurück ins Bett brachte.
Ich war so fertig mit der Welt, dass nicht mal wirklich wahrnahm, wie er sich neben mich legte und mich vorsichtig in seine Arme zog. Ich schlief einfach ein.
Der Morgen kam natürlich viel zu früh, zusammen mit einem Schrecken. Noch halb im Land der Träume spürte ich wie zärtliche Finger mein Gesicht erkundeten. Ich hatte mich an einem warmen Körper geschmiegt. Das war ja nichts Neues für mich, aber etwas stimmte nicht. Das war nicht Sydney, der Geruch stimmte nicht.
Ich schlug die Augen auf und zuckte vor dem Gesicht direkt vor mir zurück. Schade nur, dass ich an der Bettkante lag. „Ah!“ Rums und ich lag auf dem Boden. Aber damit noch nicht genug, schlug der Kater in meinem Kopf voll zu. „Oh Gott.“ Stöhnend drückte ich mir meine Hände gegen den Kopf. Warum nur bekamen Werwölfe einen Kater? Wir hatten einen anderen Stoffwechseln, wir heilten viel schneller, also warum musste ich mich jetzt mit Kopfschmerzen rumplagen?
Nikolajs Gesicht erschien über der Bettkante. „Bist du in Ordnung?“
„Von dem Bohrhammer in meinem Kopf mal abgesehen? Ja.“ Stöhnend und sehr langsam richtete ich mich auf. Meine Gedanken flossen nur Zäh dahin, weswegen ich einen Moment brauchte, um herauszufinden, warum ich mit Nikolaj in einem Bett gelegen hatte.
Alles war irgendwie verschwommen. Das Letzte woran ich mich noch erinnerte, war mein Besuch in der Kneipe und auch der Grund dafür.
Raphael war verschwunden.
Nein, ich würde jetzt nicht daran denken. Nikolaj wusste bis heute nichts von ihm und dabei wollte ich es auch belassen. „Sag mal, wie bin ich eigentlich hergekommen?“
Nikolaj schlug die Decke zur Seite und schwang die Beine auf den Boden. „Diego hat dich hergebracht. Du warst ziemlich betrunken.“
Daran konnte ich mich zwar nicht erinnern, aber ich glaubte ihm sofort. Anders waren die ganzen Hämmer in meinem Schädel nicht zu erklären.
„Warte einen Moment.“
„Ich werde hier bestimmt nicht so schnell verschwinden.“
Eines von Nikolajs zögerlichen Lächeln erschien um seine Mundwinkel.
Während er im Bad verschwand, lehnte ich mich mit dem Rücken gegen das Bett und bemitleidete mich selber. Mein Gott, ich musste einen ganzen Güterzug leergesoffen haben. Von dem Geschmack in m einem Mund fing ich besser erst gar nicht an.
Als Nikolaj zurück kam, hatte er ein Glas Wasser und zwei Ibuprofentabletten bei sich, die er mir reichte. „Hier.“
„Danke.“ Ich verschlang die Tabletten, als seien es Gummibärchen, und spülte das Ganze dann mit dem Wasser nach. Natürlich ließ die Wirkung ein Weilchen auf sich warten. Als Nikolaj mir dann auch noch meine bunten Pillen brachte, die ich jeden Morgen nehmen musste, warf ich ihm einen bösen Blick zu. „Musst du mich so quälen?“
„Da wir uns nachher noch mit dem Rat treffen, muss ich das, ja.“
Ach ja, der Rat. Na das konnte ja heiter werden.
°°°
„… überhebliche Lackaffen! Was bilden die sich eigentlich ein? Vielleicht sollten die mal ihre Scheuklappen abnehmen und sich ein wenig in der Welt umsehen. Wir brauchen kein weiteres verwöhntes Balg, was wir brauchen sind Änderungen. Aber diese Idioten halten so an ihren beschissenen Traditionen fest, dass ihnen darüber hinaus alles andere egal ist. Am liebsten würde ich sie alle …“ Ich ich streckte die Hände aus und tat so, als würde ich die Luft erwürgen. Das der Rat sich wirklich erdreistete mich unter Druck setzten zu wollen, war einfach nicht zu fassen. „Diesen Snobs sollte mal dringend jemand mit dem Hammer eins über den Schädel ziehen, vielleicht wären sie ja dann ein wenig offener und würden …“
„Du solltest dich ein wenig beruhigen, Schatz. Wenn du dich so aufregst, ist das für deinen Zustand …“ Nikolaj verstummte, als wütend zu ihm herumfuhr.
„Mir geht es bestens!“, giftete ich ihn an. „Hör auf mich ständig wie eine Schwerinvalidin zu behandeln!“
„Diese Aufregung ist aber nicht gut für dich“, erwiderte er ruhig.
„Gott, wen interessiert es denn, wie ich mich gerade fühle, wo ich wieder nichts erreicht habe? Die Skhän können weiterhin tun und lassen was sie wollen und keiner wird etwas dagegen unternehmen. Das ist hier das Problem, nicht mein Geisteszustand.“
Nikolaj seufzte. Dieses Thema hatten wir schon so oft diskutiert, dass er meinen Standpunkt genau kannte. Er hatte mich deswegen sogar schon mal als Fanatisch bezeichnet, war das zu fassen? Ich wollte helfen und er dachte, dass ich das nur machte, um ihm und seinem Vater eins auszuwischen. Er war genau wie jeder andere Adlige. Was interessierten ihn die Probleme der unteren Bevölkerung? Er war ja in Sicherheit.
Durch die getönten Scheiden unserer Limousine sah ich die ersten Häuser von Silenda an uns vorbeiziehen. Wir waren schon seit Stunden unterwegs und würden das Schloss bald erreichen. Aber egal wie viel Abstand ich zwischen mich und Arkan brachte, ich schaffte es einfach nicht mich zu beruhigen.
Die heutige Ratssitzung war im Grunde nicht anders verlaufen, als gestern. Jede Menge Geschwafel und am Ende war nichts dabei herausgekommen. Obwohl eigentlich doch. Und zwar, dass sie sich erst mit einer Änderung der Gesetze befassen würden, wenn – und das war der hier das Schlüsselwort – ein neuer Alpha in Sichtweite war. Im Klartext: Sobald ich schwanger war, könnten wir uns noch einmal darüber unterhalten. Und das machte mich so wütend, dass ich am liebsten auf irgendwas eingeschlagen hätte. Vorzugsweise auf die Ratsmitglieder.
„Das können die doch nicht machen!“, beschwerte ich mich weiter lautstark und starrte die Trennscheibe zu unserem Fahrer an. Diego saß auch da vorne. Ginny fuhr mit Nikolajs Umbras in dem Wagen hinter uns. „Was denken die eigentlich wer die sind, dass sie glauben mich unter Druck setzten zu können?“
„Sie wollen nur das Rudel stärken“, sagte Nikolaj geduldig. „Das ist wichtig und das weißt du auch. Außerdem wäre es …“
„Dir ist schon klar, dass das eine rhetorische Frage war?“
Er stieß einen tiefen Seufzer aus.
Der Tag hatte schon scheiße begonnen und irgendwie wurde er einfach nicht besser. Der Rat würde mir nicht entgegenkommen, nicht solange ich keinen dicken Wanst vor mich herschob. Aber das wollte ich nicht. Nicht nur, weil mein Gefährte Nikolaj hieß, nein da war auch noch die Tatsache, dass ich gerade mal zweiundzwanzig war, mein Leben ein Trümmerhaufen glich und ich mit mir selber kaum klar kam. Ich hatte so viele Probleme, dass ein Kind das Letzte war, was ich jetzt gebrauchen konnte. Aber ohne ein Kind, würde keiner der Gesetzesänderung zustimmen. Jetzt stand ich vor der Wahl: bekam ich ein Kind, würde ich endlich vorwärts kommen, verweigerte ich mich, würde ich weiterhin auf der Stelle treten.
Nur selbst wenn ich mich dazu entschied, in die Babyproduktion einzusteigen, ich wollte nicht mit Nikolaj ins Bett. Ich ertrug er ja kaum, wenn er mich so berührte.
„Darf ich dich mal was fragen?“
Misstrauisch drehte ich meinen Kopf zu ihm. Egal was da jetzt kam, ich glaubte nicht, dass es mir gefallen würde, nicht so wie sich sein Ton anhörte. „Schieß los.“
Er spielte mit seinem Hochzeitsring herum und erinnerte mich damit an Diego, der hatte den selben Tick. Nur das Diego das machte, wenn er nachdachte, Nikolaj dagegen tat das nur, wenn er nervös war. „Du hast da gestern etwas gesagt, nachdem Umbra Diego dich zurück gebracht hat. Erinnerst du dich daran?“
„Ich erinnere mich nicht mal, wie ich in die Pension gekommen bin. Was danach war, liegt noch weiter im Nebel.“
Nikolaj warf mir einen unsicheren Blick zu. Er war wirklich nervös. Was konnte ich gesagt haben, dass er sich so verunsichert fühlte?
„Du hast mir gestern gesagt …“ Er verstummte. „Du hast gesagt, dass du Angst vor meinem Vater hast, weil er … wegen der Sache im Büro.“ Wieder wurde er still. Dann fragte er leise: „Cayenne, hat mein Vater dich angefasst?“
Jetzt sah er mir doch in die Augen und was er da sah, bestätigte ihm in seiner Vermutung wohl, denn sagen konnte ich nichts. Ja, es war schon lange her, aber wenn ich daran erinnert wurde, brach die Angst in mir sich ihren Weg.
Ich hatte Nikolaj nie erzählt, was unter dem Dach seines Vaters vor sich gegangen war. Natürlich nicht, warum denn auch? Ich war davon ausgegangen, dass sein Sohn über alles Bescheid wusste, aber an dem grimmigen Zug um Nikolajs Mund erkannte ich, dass ich mich da wohl getäuschte hatte.
Den Restlichen Weg zum Schloss verbrachten wir in einem unangenehmen Schweigen. Mit dieser Frage hatte Nikolaj es geschafft, dass meine Wut sich verflüchtigte. Leider spukten mir nun wieder die Bilder von dem Moment in Jegors Büro im Kopf herum. Wie er mich geschnappt und über den Schreibtisch gelegt hatte. Wie er mich angefasst hatte. Und auch wie hilflos ich mich in diesem Moment gefühlt hatte. Nicht mal Sydney hatte ich etwas von diesem Vorfall erzählt. Ich wollte es einfach nur vergessen.
Der Wagen brachte uns direkt vor das große Schlossportal. Ich wartete nicht einmal darauf, dass mir jemand die Tür öffnete, ich wollte dieser Situation nur einfach schnell entkommen.
Der Nachmittag war schon angebrochen, der Himmel klar und die Temperaturen kühl. Ich zog meine Strickjacke enger um mich und ging ohne einen Blick zurück zu werfen, durchs Schlossportal.
„Königin Cayenne.“
Überrascht schaute ich mich um. Sydney saß draußen auf der Treppe, ich war geradewegs an ihm vorbeigelaufen. Wie war das nochmal mit den Scheuklappen? Aber ich wollte jetzt nicht stehen bleiben, nicht wo Nikolaj jeden Moment hinter mir sein konnte. Ich sah Sydney nur kurz an, bevor ich den Kopf einzog und im Schloss verschwand.
Das Klacken von Krallen zeigte mir, dass Sydney direkt hinter mir war. Ihm war klar, dass etwas geschehen war, genauso klar war es aber auch, dass ich hier nicht mit ihm darüber sprechen würde. Also folgte er mir einfach, bis wir unter uns waren.
Eigentlich hatte ich sofort in meine Suite verschwinden wollten, doch ich hatte kaum die erste Stufe zur Galerie betreten, als schon Berater Archie an mich heran trat. Ich konnte ihn schnell abfertigen, aber er war nur der erste aus einer Reihe von Beratern und Angestellten, die mich zu irgendwelchen belanglosen Dingen befragten. Es wurden so viele, dass ich in mein großes Büro neben der Bibliothek ging, um sie alle nacheinander zu empfangen. Gott, was sollte der Scheiß? Ich war nicht mal zwei Tage weg gewesen, die taten ja alle so, als würde das ganze Schloss ohne mich zusammenbrechen. Aber es änderte nichts daran, dass ich mich dem stellen musste. Das war meine Aufgabe als Königin. Die Dinge mit denen die Leute zu mir kamen, konnten noch so dämlich sein, ich musste sie mir anhören. Stundenlang.
Als ich den letzten Bittsteller wegschickte, war es draußen schon lange dunkel. Vor mir hatte sich ein hoher Stapel Papiere gebildet, die von mir unbedingt bearbeitet werden wollten. Ich hasste Papierkram. Eigentlich hasste ich alles an diesem Leben. Von Sydney einmal abgesehen. Und natürlich Samuel, doch der hatte sich völlig von allem und jedem zurückgezogen. Ich vermisste meinen kleinen Cousin.
Seufzend schloss ich die Tür und lehnte meine Stirn daran. Endlich fertig. Genau genommen, fix und fertig.
„Sagt mir, was in Euch vorgeht.“
Ich drehte mich herum und schaute zu Sydney. Er lag vor dem Kamin auf einem Kunstpelz. Die letzten beiden Stunden hatte er dort mit einer Geduld gewartet, von der ich nur träumen konnte.
„Viel zu viel.“ Ich stieß mich von der Tür ab und setzte mich neben ihn vor den Kamin. Mein Gesicht drückte ich in sein Fell. Sofort stieg mir sein erdiger Geruch in die Nase. Es tröstete mich, ihn so nahe bei mir zu haben. „Der Rat stellt sich der Gesetzesänderung nur, wenn ich auch etwas für sie tue.“
„Und was wünschen sie von Euch?“
„Ein Baby.“ Als er sich anspannte, zog ich ihn fester an mich. „Sie wollen dass ich mit Nikolaj zusammen dem Rudel einen neuen Alpha zuführe.“ Ich lachte freudlos. „Ist das zu fassen? Als wenn ein Baby nur irgendein Ding wäre.“
„Und was habt Ihr nun vor?“
„Das kann ich nicht machen.“ Ich rückte ein wenig von ihm ab, um ihm in die Augen schauen zu können. „Ich kann es nicht schaffen mit Nikolaj zusammen zu sein, ich kann mit ihm kein Kind haben. Nicht mit diesem Mann.“
Sydney legte die Ohren an und senkte den Blick. Natürlich ging es ihm nahe, wenn ich davon sprach, mit einem anderen Mann zusammen zu sein. Vielleicht hielt er mich nach wie vor auf Abstand, aber ich wusste nur zu genau um seine Gefühle. Er war ganz und gar nicht so neutral, wie er gerne tat. „Es hängt nur von diesem Kind ab, ob Ihr dem Rudel helfen könnt.“
Es war keine Frage, trotzdem antwortete ich. „Ja, aber das geht nicht. Ich soll Nikolaj ein Kind schenken? Eher würde ich mich vom Mondturm stürzen.“
Mit einem Seufzen hob Sydney den Kopf. „Es wäre aber nicht nur sein Kind.“
„Was?“
„Es würde nicht nur König Nikolajs Kind sein. In erster Linie wärt Ihr die Mutter. Ihr seid der erste Alpha, Ihr hättet mehr Anrecht darauf.“
Ich konnte ihn nur entsetzt anstarren. „Schlägst du mir etwas gerade vor, ihn in mein Bett einzuladen?“
„Ja“, sagte er, aber das Knurren in seiner Stimme war nicht zu überhören. Ihm passte dieser Gedanke genauso wenig wie mir, vielleicht noch viel weniger. „Eine Nacht mit ihm und dann könnt Ihr das Rudel retten, nur eine Nacht, nur ein einziges Mal und dann nie mehr.“
Und ich hatte gedacht, ich wäre hier die Geisteskranke. „Spinnst du? Davon abgesehen dass ich nie mit ihm in die Kiste hüpfen könnte, wer sagt denn, dass ich gleich beim ersten Mal schwanger werde? Klar, so was kommt schon vor, aber bei meinem Glück, müsste ich es hundert mal machen und würde hinterher immer noch leer bleiben.“
Sydney sah mir fest in die Augen, mit diesem Mentorblick, mit dem er mich sonst immer durchleuchtet. Eine Intensität in den Wolfsaugen, die mich erzittern ließ. „Tut es einmal, danach werde ich Euch helfen.“
„Helfen? Wie willst du mir dabei den helfen? Willst du die Kerze halten, oder was?“
„Ihr vertraut mir doch, oder?“ Seine Stimme war weich. Er brauchte nicht lange auf die Antwort warten, ich nickte sofort und ohne jedes Zögern. „Dann tut was ich sage und alles wird gut. Das verspreche ich Euch.“
„Aber wie willst du denn …“
Die Tür ging ohne Anklopfen auf und Ginny steckte ihren Kopf zu uns rein. „Entschuldigt die Störung, Königin Cayenne, aber wir brauchen ganz dringend Eure Hilfe.“ Wie um ihre Worte zu untermalen, hörte ich draußen ein lautes Krachen. Das Brechen von Holz, gefolgt von einem wütenden Knurren. Was war denn da nun wieder los?
Stirnrunzelnd erhob ich mich und folgte Ginny durch die Bibliothek. Die Tür zur Eingangshalle war offen und so hörte ich das Jaulen, bevor ich sie überhaupt betreten hatte. Der Anblick, der mich dann erwartete, hätte mich nicht unvorbereiteter treffen können.
Nikolaj!
Mitten in der Halle biss Nikolaj sich mit einem anderen Wolf und zwar heftig. Und es war nicht irgendein Wolf, mit dem er hier im Klinisch lag, es war niemand anderes als sein Vater.
Umbra Logan versuchte offensichtlich zu schlichten, wurde von meinem Gefährten aber nicht weiter beachtet. Es hatte sich schon eine ordentliche Menge angesammelt, um das Schauspiel beizuwohnen. Kleiderfetzen lagen herum und hingen den beiden Wölfen noch im Fell. Die Tür einer Kommode war eingedrückt, als sei einer von ihnen hinein gekracht. Okay, dieser Anblick machte mich so ratlos, dass ich doch fragen musste. „Was ist hier los?“
„König Nikolaj befand sich gerade beim Abendessen, als ein Diener mit der Nachricht zu ihm kam, dass sein Vater in der Eingangshalle auf ihn wartet. König Nikolaj ist sofort aus dem Raum geeilt und hat sich auf seinen Vater gestürzt, kaum dass er ihn sah.“
„Nikolaj hat Markis Jegor angegriffen?“, fragte ich entsetzt. Jetzt war mir auch klar, warum Ginny mich geholt hatte. Sie durfte sich nicht gegen ihren König stellen und war die Gefahr noch so groß, dass er jemand anders verletzte.
Wieder krachte es. Nikolaj hatte seinen Vater gegen einen Beistelltisch geschleudert und setzte sofort nach. Die Lefzen warn so weit hochgezogen, dass ich sein Zahnfleisch sehen und das gesträubte Fell ließ fast doppelt so groß wirken. Ich erkannte ihn kaum wieder. Nikolaj war ein ruhiger Wolf, er konnte sich nicht mal mit Worten wehren. Was also hatte ihn dazu gebracht, so aus der Haut zu fahren?
Der Markis versuchte aufzuspringen, aber Nikolaj packte ihn am Hinterlauf und biss zu. Markis Jegor jaulte, schaffte es dann aber sich frei zu machen und sprang seinem Sohn in den Rücken. Die beiden rollten als knurrendes und beißendes Bündel durch die Halle. Ein paar Schaulustige mussten sogar zur Seite springen, um nicht mit in das Gerangel gezogen zu werden.
„Königin Cayenne, Ihr müsst etwas unternehmen“, sagte Sydney, der nicht weniger verwirrt war als ich.
Ja. Ja, das musste ich wohl. Ich war die Königin. Ich entließ mein Odeur, sodass es in Sekundenschnelle die ganze Halle erfüllte. Jeder anwesende zuckte zusammen. Naja, jeder außer dieser beiden Idioten, die meinen Boden mit ihrem Blut beschmierten. „Die Show ist beendet“, rief ich laut. „Hinaus, macht euch an eure Arbeit, oder was ihr sonst gerade zu tun habt.“
Keiner gab Widerworte, nicht mal ein Grummel war zu hören, alle machten sich nur schnellstens davon. Ja, wenn ich Befehle gab, dann sputete auch der widerwilligste Wolf. Doch die beiden Streithähne, wollten sich nicht so einfach trennen. „Hört auf!“, rief ich in meiner allmächtigen Alphastimme, doch sie nahmen meine Anwesenheit nicht einmal zur Kenntnis.
Das war ja wohl die Höhe! Ich schritt auf die beiden zu und wollte Nikolaj im Nacken packen, aber sie machten beide einen Satz zur Seite und waren somit wieder aus meiner Reichweite. „Ich hab gesagt, dass ihr den Scheiß lassen sollt!“
Sie reagierten nicht mal.
Ich versuchte erneut dazwischen zu gehen und wieder brachten sie sich mit einem Satz aus meinem Umkreis. Wollten sie mich verarschen, oder was? Als Nikolajs Vater erneut aufjaule, platze mir die Hutschnur. Was bildeten diese beiden Blödmänner sich eigentlich ein? Ich sprang an ihre Seite, packte Nikolaj im losen Nackenfell und riss einmal kräftig. Natürlich war das für ihn kein Grund loszulassen, weswegen er Jegor an der Schulter das Fell ausriss und ein paar unschöne Wunden hinterließ, aber nun konnten auch die umstehenden Umbra einschreiten. Sie bauten sich zwischen Vater und Sohn auf, damit sie kein weiteres Mal aufeinander losgehen konnten.
„Es reicht“, zischte ich Nikolaj ins Ohr.
Seine Muskeln waren weiter angespannt und er vibrierte praktisch vor Wut, aber er starte keinen Neuen Versuch sich auf seinen Vater zu stürzen. Sogar das Knurren hatte er eingestellt. Kalt durchbohrten seine Augen den Mann, der ihn aufgezogen hatte. „Bringt ihn weg“, befahl er den Umbra. „ Entfernt ihn schleunigst vom Hof und schafft ihn ins Krankenhaus nach Silenda.“
Was? Hatte ich das etwas richtig verstanden? Nikolaj verwies seinen Vater des Gebäudes? „Spinnst du? Was geht hier vor?“
„Er wird dich nie wieder anfassen.“ Und das erste Mal seit dem ich in der Halle kam, sah er mich an. „Darauf gebe ich dir mein Wort.“ Er stupste mir einmal liebevoll gegen die Hand und schaute dann mit kaltem Blick dabei zu, wie sein Vater weggebracht wurde. Erst als Jegor weg war, wandte er sich zum Gehen.
Ich stand da und konnte nichts anderes tun, als dabei zuzuschauen, wie er über die Treppe nach oben zu unseren Gemächern verschwand.
Er hatte seinen Vater wegen mir angegriffen. Das war … ich wusste nicht wie das war. Es verwirrte mich einfach.
Als ich mich nicht bewegte, weil ich nur ungläubig aus der Wäsche gucken konnte, kam Sydney an meine Seite und drückte sich an mein Bein.
„Was hat er zu Euch gesagt?“
„Er hat mich beschützt.“ Langsam drehte ich meinen Kopf zu ihm. „Er hat Jegor angegriffen, weil er mich beschützen wollte.“
Sydney legte die Ohren an. „König Nikolaj liebt Euch.“
Das schon, aber ich hätte nie im Leben damit gerechnet, dass er deswegen den Mann angreifen würde, dem er sein Leben verdankt. Er fürchtete Jegor mindestens genauso wie ich. Ja, er schaffte es nicht mal ihm in einem Wortgefecht die Stirn zu bieten. Niemals im Leben hätte ich damit gerechnet, dass er seinen Vater angreifen würde – auch nicht wegen mir.
„Geht zu ihm, einmal“, sagte Sydney, dann und sah aus als würde er an seinen eigenen Worten ersticken. „Nur heute Nacht, dann werde ich dafür sorgen, dass alles gut wird.“
„Was?“ Jetzt guckte ich nicht mehr wegen Nikolaj dumm aus der Wäsche. Hatte der irgendwie einen Sprung in der Schüssel? „Du willst dass ich jetzt zu ihm gehe? Aber ich habe mich doch gar nicht entschieden.“
„Aber das werdet Ihr. Wir wissen beide, wie diese Entscheidung ausfallen wird. Ihr tut alles, um das Rudel zu schützen. So oder so, Ihr werdet ihn aufsuchen.“
„Aber jetzt … ich meine heute … ich muss … wie …“ stotterte ich. Wie sollte ich das machen? Das konnte ich einfach nicht.
„Warum es aufschieben? Es würde nur Leid über Euch und die Euren bringen und leichter würde es trotzdem nicht werden.“ Er zog den Kopf ein und ging den gleichen Weg, wie zuvor mein Gefährte. „Kommt.“
Langsam, wie in Zeitlupe, folgte ich meinem Mentor. Ich bekam nicht wirklich mit, was danach geschah. Wie Sydney mich in die Wanne steckte, mir eine Bandage um mein zerstörtes Bein wickelte, damit Nikolaj nicht meine Achillesferse vor Augen geführt bekam. Oder mich in meinen Morgenmantel wickelte. Nichts von dem schien real zu sein. Nicht mal wie er aufmunternd auf mich einredete. Das alles schien einer anderen zu passieren.
Erst als ich ewige Zeit später vor Nikolajs Tür stand, fand ich in meinen Körper zurück. Und dann wurde mir erst richtig bewusst, was ich im Begriff war zu tun. Ich musste mich genau an Sydneys Wortlaut halten, damit ich nicht durchdrehte. Es würde nicht nur Nikolajs Kind sein, nein in erster Linie wäre es meines. Nur ein einziges Mal, um alles andere würde sich Sydney kümmern.
Okay, ich schaff das. Noch einmal tief durchatmen, dann hob ich die Faust und … nichts geschah. Ich schaffte es nicht, an die Tür zu klopfen. Das gab es doch einfach nicht. Schluss jetzt mit dem Unsinn! Sydney hatte gesagt, ich würde das schaffen, also schaffte ich das auch.
Ein neuer Versuch.
Wie das mit dem tief einatmen ging, wusste ich ja nun schon zur Genüge, auch das mit dem Handheben klappte ganz prima, nur verweigerte sich mein Körper, wenn ich sie näher als einen Fingerbreit an das Holz von Nikolajs Tür bringen wollte.
Wie lange stand ich eigentlich schon hier draußen? Das war doch lächerlich. Als wenn ein Ungeheuer auf der anderen Seite lauerte, aber das war nur Nikolaj, und mit Nikolaj kam ich klar. Ich hatte nichts geplant, was ich nicht schon einmal getan hätte und von dem ich nicht wüsste wie es ging. Ich konnte das! Ich wusste es, aber meine Hand wollte einfach nicht. Gut, dann halt die andere.
Die streikte auch.
„Verdammt.“ Verärgert trat ich gegen die Tür und dann erstarrte ich, als mir klar wurde, was ich da gerade getan hatte. Jetzt wusste er, dass ich hier draußen stand, jetzt gab es kein Zurück mehr. Aber war es nicht genau das was ich wollte? Schon, aber ich wusste doch, was es bedeutete, wenn ich in dieses Zimmer ging. Dann würde ich …
Die Tür ging auf und ein etwas überraschter Nikolaj im Seidenpyjama stand vor mir. An seinem Hals hatte er mehrere frische Kratzer. „Cayenne?“
Okay, jetzt gab es kein Zurück mehr. Jetzt musste ich da rein und etwas machen, von dem ich mir geschworen hatte, es niemals zu tun. Aber ich tat es für das Rudel. Ich war die Alphahündin, der oberste Wolf der ganzen Welt, die stärkste von allen. Ich tat es für sie. Sie brauchten mich, mich und dieses Baby, das war die einzige Möglichkeit, die den Rat dazu zu bewegen konnte, die Gesetzte zu verändern. Ich würde das tun. Ich schaff das, sagte ich mir, ich schaff das, ich schaff das, ich schaff das. So schwer war das ja nicht. Viele taten es, oft, mit allen möglichen Leuten, Stellungen und Orten und auch ich konnte das. Ich …
„Cayenne?“ Nikolaj runzelte die Stirn, als ich ihn einfach nur stumm anstarrte. „Gibt gibt es einen Grund für deinen Besuch?“
Ich biss mir auf die Zunge. Verdammt und zugenäht, wo war nur mein vorlautes Mundwerk geblieben? Okay, nicke wenigstens, damit du nicht aussiehst wie eine Statur. Ich tat es. Einmal hoch, einmal runter. Na das funktionierte doch schon mal ganz gut.
„Möchtest du mir auch sagen, welchen?“
Nein. Nein, eigentlich wollte ich das nicht. Um genau zu sein, wollte ich nicht mal hier sein. Umso mehr wunderten mich meine nächsten Worte. „Darf ich reinkommen?“
Das überraschte ihn noch mehr als mein Auftauchen. Ich war noch nie in seinem Zimmer gewesen. „Natürlich.“ Er öffnete die Tür weiter, so dass ich genug Platz hatte, um bequem an ihm vorbei in sein Zimmer zu gehen.
Ich hob den Fuß … wandte mich dann ab und lief ganz schnell zurück in mein eigenes Zimmer.
Schwer atmend schmiss ich die Tür hinter mir ins Schloss, lehnte mich dagegen und sah mich panisch nach einer Versteckmöglichkeit um. Vielleicht unterm Bett? Denn mal ehrlich, wer würde auf die Idee kommen, die große Königin Cayenne, versteckt zwischen Staubmäusen unter dem Bett zu suchen?
Das Problem war nur der Wolf der oben drauf lag und mich verwundert musterte. „Cayenne? Was machst du hier?“
Ich schüttelte den Kopf. „Ich kann das nicht.“
Sydney legte die Ohren an und senkte den Blick. „Ich werde dich sicher nicht dazu drängen. Es ist allein deine Entscheidung.“ Er sah mir in die Augen. „Aber ich werde dich unterschätzen, egal wie du auch entscheiden magst.“
Das war nicht wirklich die Hilfe, die ich brauchte. Das wusste ich alles schon. Ich dachte fieberhaft nach, welche Möglichkeiten mir noch offen standen und kam nur zu einem Ergebnis. „Ich muss das machen.“
„Ich weiß.“
„Aber ich will das nicht.“
„Auch das weiß ich.“ Er seufzte. „Ich weiß dass du eine schwere Bürde trägst und wenn du das nicht machen kannst, dann werden wir einen anderen Weg finden, die an deine Ziele führen.“
„Und welchen?“
Darauf wusste er natürlich keine Antwort. Wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr sein zu können. Das war ein Problem, mit dem ich mich schon seit meiner Krönung herumschlug. Wir hatten schon einige Mal darüber diskutiert, aber das Ergebnis war immer dasselbe: solange sich nichts an der Gesetzeslage änderte, war ich aufgeschmissen. Und damit sich etwas änderte, musste ich meinen Arsch in das Nebenzimmer bewegen.
Als es hinter mir an der Tür klopfte, wusste ich ganz genau wer da stand und war wirklich kurz am überlegen, mich einfach unter meinem Bett zu verkriechen, oder vielleicht auch im Schrank …
Das ist doch albern. Du bist eine erwachsene Frau, also benimm dich auch wie eine!
Es kostete mich ein unglaubliche Überwindung, mich umzudrehen und die Tür zu öffnen. Bevor Nikolaj auch nur die Möglichkeit hatte, ein Wort zu sagen, ergriff ich seine Hand und zog ihn hinter mir her in sein Zimmer. Ich schaffte es über die Schwelle, wollte die Tür von innen verschließen, aber als die Tür dann geschlossen war, stand ich wieder draußen im Flur und er war in seinem Zimmer.
Das ganze Spielchen also noch mal von vorne. Ich hatte doch echt einen Sprung in der Schüssel.
Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Tür, blickte nach links und rechts. Keiner zu sehen, wenn ich nur schnell … die Tür ging auf und ich fiel rückwärts direkt in Nikolajs Arme. Ich war nicht weniger erschrocken als er.
„Kannst du mir mal sagen, was hier los ist?“
„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf. „Noch nicht.“ Hastig machte ich mich von ihm los und schob ihn zurück in sein Zimmer. „Gib mir noch einen Moment.“ Dann schloss ich erneut die Tür wischen uns und stand wieder alleine im Flur.
Ich hatte den Griff kaum losgelassen, als sie wieder aufging. Als Nikolaj mich sah, öffnete er den Mund. Kein Ton kam raus, zumindest hatte ich nichts gehört, so schnell hatte ich die Tür wieder geschlossen. Noch einmal ging sie auf und wieder zog ich sie einfach zu. Dieses Mal hielt ich den Knauf fest, sodass er sie nicht erneut öffnen konnte. Wenn er nur da drin blieb und ich hier draußen, dann drohte mir keine Gefahr.
Und dann wurde mir klar, was ich hier eigentlich trieb.
Was sollte der Blödsinn? So kam ich nicht weiter. Außerdem wurde Nikolaj dadurch nur böse auf mich. Er hatte ja keine Ahnung, was in meinem Kopf für ein Film ablief. Er würde höchstens denken, dass ich ihn verarschte und mir auf seine Kosten einen kleinen Scherz erlaubte. Das Ganze war echt zu dumm. Ich war die Königin und hatte eine Mission. Und auf den Weg zu meinem Ziel hatte ich dieses kleine Hindernis zu überbrücken. Ich war stark, ich konnte das und ich würde es tun.
Entschlossen drückte ich die Tür auf, mein Ziel genau vor Augen und …
„Ah! Verdammt noch mal, Cayenne!“
… traf Nikolaj damit mitten am Kopf. Wow, ich hatte ihn noch nie fluchen hören. Er kam sich von mir wohl gerade ziemlich veräppelt vor. „Tut mir leid, das wollte ich nicht.“
„Kannst du mir mal verraten was hier los ist?“ Er tastete nach seiner Stirn, aber mehr als eine kleine Beule würde er nicht davon tragen. „Was soll dieses Theater?“
Unschlüssig sah ich zwischen ihm und dem Korridor hin und her. Ich könnte ihm jetzt sagen, dass er es einfach vergessen sollte und wieder gehen, wäre meinem Ziel dann aber kein Schritt näher. Wenn ich allerdings blieb, müsste ich mich meiner Aufgabe stellen. Ich griff nach der Türklinke, drauf und dran, ein weiteres Mal die Flucht vor ihm zu ergreifen. Egal was ich jetzt tat, es würde mich für mein Leben prägen.
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Den Morgenmantel fest um mich geschlungen, drückte ich meine Zimmertür in den Rahmen. Ein Griff zum Scanner, ein dreistelliger Code und niemand kam mehr ohne meine Erlaubnis durch diese Tür. Keine Wächter, keine Umbra und auch nicht Nikolaj.
Als ich mich umdrehte, schaute ich direkt in Sydneys Augen. Er lag auf der Couch und beobachtete mich. Er versuchte herauszufinden, was geschehen war. In zwei Stunden konnte viel passieren. Oder auch gar nichts.
Wortlos wandte ich mich ab und verschwand ins Badezimmer. Automatisch schaltete sich in der Dusche und am Spiegel indirektes Licht an.
Draußen war es noch dunkel. Durch die Fenster konnte ich den Mondturm im Labyrinth sehen. Dahinter leuchtete der abnehmende Mond hinter den Sternen.
Ich ließ meinen Morgenmantel achtlos zu Boden fallen, streifte die Binde an meinem Bein ab und stieg unter die Dusche. Auf warmes Wasser musste ich nicht warten. Dann stand ich einfach unter dem künstlichen Regen, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken.
Ich hatte es wirklich getan.
Keine Ahnung, wie ich es geschafft hatte, aber ich war in seinem Zimmer gegangen, hatte die Tür hinter mir verriegelt und dann wortlos vor Nikolaj gestanden.
Er sah mich und verstand, dass etwas passiert war, verstand plötzlich, was dieses ganze Hin und Her zu bedeuten hatte. Oder zumindest ahnte er es. „Cayenne?“
Ich sagte nichts. Jedes Wort war jetzt zu viel und könnte mich dazu bringen, einfach wieder die Flucht zu ergreifen. Aber es war richtig, dass ich hier war, es war meine Pflicht. Nur so konnte ich dem Rudel helfen.
Schon früher hatte ich viel auf mich genommen, um die Ungerechtigkeiten des Schicksal zu vereiteln. Mehr als einmal hatte ich dabei mein Leben riskiert, aber niemals meine Würde und genau das war es, was er mir so schwer machte.
Meine Finger fuhren an der Wand entlang, bis sie den Lichtschalter fanden, dann war es dunkel. Für das was jetzt folgte, brauchte ich kein Licht. So konnte ich mir vorstellen, dass nicht er es sein würde. Ich konnte mir vorstellen dass es Sydney war, oder sogar Raphael, aber nicht Nikolaj.
Er war nur ein Schemen in der Dunkelheit.
Langsam, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen, öffnete ich das Band an meinem Morgenmantel und ließ ihn mit einer leichten Schulterbewegung zu Boden gleiten. Dann stand ich vor ihm, nackt, völlig ausgeliefert.
Nikolaj wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Argwöhnisch beobachtete er, wie ich Schritt für Schritt näher kam. „Was tust du da?“
„Was glaubst du wohl?“ Erst als ich nahe genug bei ihm stand, um seine Körperwärme auf meiner Haut zu spüren, blieb ich stehen. Doch noch schaffte ich es nicht, ihn zu berühren.
„Warum machst du das?“ Seine Muskeln waren gespannt, seine Hände zu Fäusten geballt, als müsse er sich selber daran hindern, mich zu berühren.
„Weil es meine Pflicht ist.“ Vorsichtig, als hätte ich Angst, mich an ihm zu verbrennen, legte ich meine Hand auf seine Brust. Ich konnte seinen Herzschlag spüren. Bum, bum bum. Er war ein kleinen wenig schnell. Ich liebte dieses Geräusch, daran hatte sich bis heute nichts geändert. Ich schloss die Augen und konzentrierte mich nur darauf. Früher hatte es mich immer beruhigen können und ich hoffte, dass es auch heute der Fall sein würde.
Nikolaj spannte sich unter meiner Hand ganz leicht an. „Du magst mich doch aber gar nicht.“ Aus seiner Stimme sprach Unsicherheit. „Du hast es selber gesagt.“
„Aber ich hasse dich nicht mehr.“ Ich legte auch meine zweite Hand auf deine Brust. „Du wolltest, dass ich zu dir komme, wenn ich so weit bin.“ Meine Hand strich langsam über seine Brust hinauf an sein Gesicht. Ich konnte spüren, wie er unter dieser Berührung erzitterte. Es war egal, wie wir beide zu Gefährten geworden waren, er liebte mich wirklich und es war sein sehnlichster Wunsch, dass ich genau das tat, was ich jetzt vorhatte. Er dürstete geradezu nach meinen Berührungen. „Schick mich jetzt nicht weg.“
Langsam und ganz vorsichtig, legte er eine Hand an meine Taille und strich zärtlich über meine Haut. „Und was ist, wenn es wieder nicht klappt? Gehst du mir dann wieder Monatelang aus dem Weg?“
Damit spielte er darauf an, was nach unserem ersten und einzigen Versuch passiert war. „Nein“, sagte ich fest entschlossen. „Das wird nicht passieren, nie wieder.“
Er wollte mir glauben, so sehr, aber die Vergangenheit hatte ihn etwas Besseres belehrt. „Und was macht dich da so sicher?“
„Vertrau mir einfach.“ Ich beugte mich vor, küsste ihn und besiegelte damit, was geschehen würde.
Und es war geschehen.
Die Zeit bei Nikolaj … sie war okay gewesen. Er war einfühlsam und sanft und ja, es hatte sich auch gut angefühlt. Das fand ich verwirrend und hatte mich verunsichert, aber es hatte geklappt. Ich hatte sogar noch gewartet, bis er eingeschlafen war, bevor ich mir meinen Morgenmantel geschnappt hatte und dann leise aus seinem Zimmer geschlüpft war.
Als ich den Blick spürte, öffnete ich die Augen und schaute zur Seite. Sydney stand direkt vor der Dusche. Er hatte sich verwandelt, doch der Wolf lauerte wie immer in seinen Augen.
„Nur ein Mal“, sagte ich, den endlich hatte ich verstanden, was er mir damit hatte sagen wollen. „Du hast es versprochen. Nur ein Mal und dann nie wieder.“
Langsam griff Sydney nach der Kabinentür und schob sie auf. Ein Schritt und er stand bei mir unter dem künstlichen Regen.
„Halt dein Versprechen.“ Denn auch wenn Nikolaj sanft und zuvorkommend gewesen war, ich wusste nicht, ob ich das noch einmal tun konnte. „Bitte.“
Wortlos umfing er mein Gesicht mit den Händen, beugte sich vor und küsste mich, wie er es noch nie getan hatte. Das Gefühl dabei ging so tief, dass ich das Echo in meiner Seele spürte. Es war, als hätte er sich die ganze Zeit zurückgehalten und erlaubte es sich in diesem Moment zum ersten Mal, wirklich loszulassen.
Tief in mir erwachte mein Wolf und als der Kuss drängender wurde und er mich mit dem Rücken gegen die Wand der Kabine schob, knurrte ich leise.
Seine Hände wanderten nach unten an meine Hüfte, seine Finger gruben sich in meine Haut und sein Körper drängte sich gegen meinen.
Ich schlang die Arme um seinen Nacken und vergrub meine Hände in seinem nassen Haar. Hier fühlte ich mich wohl, hier war der Ort, an den ich hingehörte, Sydney war der, den ich wollte. Mein Herz gehörte ihm, zumindest die Hälfte davon, denn egal wie viel Zeit schon vergangen war, Raphael hatte es nie verlassen.
Doch für Nikolaj war dort einfach kein Platz. Es stimmte was ich gesagt hatte. Zwar mochte ich ihn immer noch nicht besonders, aber ich hasste ihn nicht mehr. Klar, er konnte mir das Leben zur Hölle machen, aber das tat er nicht. Im Gegenteil, er versuchte sogar mich zu schützen.
Als ich zu fest an Sydneys Haar zog, knurrte er mich an und biss mir in die Unterlippe. Mit den Händen begann er mich zu berühren, liebkoste meine Haut, strich über meine Brust und brummte zufrieden, als ich die Augen schloss und den Kopf gegen die Wand sinken ließ.
Ich hielt die Wanderung seiner Hände kaum noch aus. Es war nicht mehr genug ihn zu Küssen. Ich wollte so viel mehr und zum ersten Mal hielt er mich nicht auf, als ich begann seinen Körper zu erforschen. Die Kontrolle jedoch verweigerte er mir.
„Nein“, sagte er, als ich den nächsten Schritt machen wollte und packte mich bei den Handgelenken. „Noch nicht.“ Sein Blick war wild und mit einem mal hatte ich das Gefühl seine Beute zu sein.
Mein Herzschlag beschleunigte sich. Es war aufregend und neu. Und auch wenn ich mich eigentlich in die Ecke gedrängt fühlen sollte, seine Nähe gab mir Sicherheit.
„Ich will nicht mehr warten“, sagte ich ihm direkt ins Gesicht und versuchte mich aus seinem Griff zu befreien.
Das hatte zur Folge, dass er mir die Arme auf den Rücken drehte und mich nur noch fester hielt. Durch diese Position wurde nicht nur meine Brust angehoben, er war auch so nahe, dass ich wirklich alles von ihm fühlen konnte. Seine Nähe, seine Erregung und auch seinen eisernen Willen.
Langsam beugte er sich vor und hauchte mir einen Kuss auf auf den Kiefer. „Du hast verlangt, dass ich dich nicht mehr als meine Königin sehe“, flüsterte er und ließ seine Lippen dabei über meinen Hals wandern. „Du hast das hier gewollt.“
Ich spürt wie seine Zähne meine Kehle streiften und bekam trotz des warmen Wassers eine Gänsehaut.
„Jetzt musst du dich auf die Folgen deines Willens einlassen.“ Er veränderte seinen Griff, sodass er meine Arme mit nur einer Hand festhalten konnte. Die andere schob er mir zwischen die Beine. „Hier habe ich das Sagen, nicht du.“
Oh Gott. Ich schnappte nach Luft. Flatternd schlossen sich meine Augen.
So nuanciert und besonnen wie Sydney sonst war, hier zeigte er keine Zurückhaltung. Er würde sich nicht das Zepter aus der Hand nehmen lassen. Er übernahm die Macht über mich und ich war ihm willenlos ausgeliefert.
Mir wurde klar, dass Sydney für mich viel mehr als ein Freund, ein Vertrauter, oder ein Geliebter war. Er war nicht nur der Mann, an den ich einen Teil meines Herzens verloren hatte, er war so viel mehr als das. Zwischen uns gab es eine Verbindung, welche keine Worte benötigte. Zwar war ich offiziell mit Nikolaj liiert, aber in Wirklichkeit war Sydney mein Gefährt. Er war mein Seelengefährte und das wog so viel mehr, als alles andere.
„Ich liebe dich.“ Die Worte waren plötzlich da und sie wollten ausgesprochen werden. Ich glaube er wusste es, aber ich hatte es ihm noch nie gesagt. Das hatte ich noch keinem Mann gesagt, nicht mal Raphael.
Als Sydney diese Worte aus meinem Mund hörte, wurde er ganz starr. Seine Hände verharrten mitten in der Bewegung und ich glaubte einen Moment sogar, dass er das Atmen eingestellt hatte. Er wusste wie schwer es für mich war solche Eingeständnisse zu machen. Er kannte meine Angst und wusste, wie große Probleme ich noch heute damit hatte, anderen mein Vertrauen zu schenken. Ich hatte mich ihm damit praktisch ausgeliefert.
Plötzlich knurrte er, packte meine Beine und hob mich hoch.
Und dann spürte ich ihn.
Er war auf einem so tief in mir drinnen, dass ich nichts anderes mehr tun konnte, als mich an seine Schultern zu klammern und zu fühlen. Er war nicht sanft und hielt sich auch in keinster Weise zurück. Und … oh mein Gott, ich fühlte mich einfach nur vollkommen.
„Sydney“, flüsterte ich und lieferte mich ihm einfach aus.
Irgendwann – viel später – schafften wir es von der Dusche ins Bett. Nicht um zu schlafen, danach stand uns beiden absolut nicht der Sinn.
Es war wohl der erste Mal in meinem Leben, dass ich mich völlig fallen lassen konnte. Sydney war ausdauernd und auf eine Art dominant, die er vor mir bisher verborgen hatte. Erst als es draußen schon lange hell war und ich die Segel streikte, einfach weil ich völlig erschöpft war, kuschelte ich zufrieden in seinen Arme und genoss den Nachhall unseres Zusammenseins.
„Dir ist hoffentlich klar, dass du mir das ab jetzt nicht mehr verweigern kannst.“
Sein leises Lachen ließ seine Brust vibrieren. „Selbst wenn ich wollte, gäbe es für mich nun kein Zurück mehr.“ Er schloss seine Arme ein wenig fester um mich. „Außerdem habe ich dir ein Versprechen gegeben.“
„Nur ein Mal.“
„Ja, nur ein Mal. So wird Nikolaj und auch das ganze Rudel glauben, dein Baby sei von ihm.“ Er legte seine Lippen an meine Stirn. „Aber es wird von mir sein.“
Ein Baby von Sydney. Der Gedanke war … befremdlich, aber nicht unangenehm. So konnte ich nicht nur dem Rudel helfen, sondern auch Vivien und Anouk schützen. Und es würde noch etwas geben, was mich für immer mit Sydney verband.
Allein die Vorstellung ließ mich lächeln. „Es passiert aber nicht sehr oft, dass man beim ersten Mal schwanger wird. Das heißt, wie müssen es oft und ausgiebig wiederholen.“
Seine Arme gaben mich so weit frei, dass er mir ins Gesicht schauen konnte. „War das etwa eine Aufforderung?“
„Vielleicht.“
Als er sich über mich beugte, drehte ich mich lächelnd auf den Rücken. „Ich liebe dich, Cayenne“, sagte er leise und strich mit dem Finger über meine Wange. „Seit dem Moment, als du über die Hecke gepurzelt kamst, weil du den Weg nicht gefunden hast, schlägt mein Herz nur für dich.“
Meine Antwort bestand in einem Kuss, der all das ausdrückte, was ich fühlte. Wenn er nur an meiner Seite blieb, würde ich jedes Hindernis überwältigen können, das sich mir in den Weg stellte. Und im Moment hatte ich sogar großen Spaß dabei.
Erst am Nachmittag, nachdem wir beide noch ein paar Stunden geschlafen hatten, wagte ich mich aus meinem Zimmer und wurde prompt von der Hälfte des Personals überrannt.
Manchmal gaben mir diese Leute wirklich das Gefühl, ohne mich nicht lebensfähig zu sein, aber die gemeinsamen Stunden mit Sydney hatten ein Lächeln auf meine Lippen gezaubert, das selbst der Alltag am Hof nicht wegwischen konnte.
Erst später beim Abendessen, als ich Nikolaj begegnete, wurde es etwas seltsam. Ich war nicht abweisend, oder gemein, nur irgendwie wussten wir beiden nicht, wie genau wir miteinander umgehen sollten.
Er war sich unsicher. Durfte er mir jetzt nahe kommen? Mich berühren und küssen? Und ich wusste nicht recht, wie ich ihm klar machen sollte, dass er es nicht durfte, ohne dass es auf mich zurück fiel. Am Ende taten wir beide so, als hätte es diese Nacht nicht gegeben und alles wäre wie immer.
Wie das Leben nun mal so spielte, wurde ich natürlich nicht auf Anhieb schwanger. Daher machten Sydney und ich uns oft und ausdauernd daran, diesen Zustand zu ändern.
Wann immer sich die Möglichkeit ergab, zogen wir uns gemeinsam zurück und dafür nutzten wir nicht nur meine Wohnräume. Das Schloss war sehr groß und hatte wirklich viele Zimmer, von denen ein Großteil nie oder nur selten genutzt wurde. Und auch in Sydneys Kammer konnte man Spaß haben. Sehr zum Leidwesen von Nicoletta, die uns nach ihrer Mittagspause einmal in seinem Büro erwischte.
Ich war schon lange nicht mehr so glücklich gewesen. Und das Tüpfelchen auf dem I war die Tatsache, dass Jegor sich nach dem Angriff ein Weilchen vom Hof fernhielt.
Mein euphorischen Dauerzustand endete erst zwei Wochen später. Ich kam gerade aus einer Sitzung und musste ganz dringend pinkeln. Als ich das Bad wieder verließ, waren alle meine Träume mit einem Schlag vernichtet worden. Ich hatte meine Regel bekommen. Daran, dass das passieren konnte, hatte ich keinen Gedanken verschwendet.
Sydney versprach mir, dass wir es weiter versuchen würden, aber das war gar nicht das Problem. Damit ich nun noch schwanger werden durfte, musste ich ein weiteres Mal zu Nikolaj gehen. Und dann noch einmal und noch ein Mal. Aber ich wurde einfach nicht schwanger.
Es war mittlerweile Februar, der Valentinstag war gerade vorbei, aber nach Herzchen und Pralinen war mir überhaupt nicht zumute.
Ich saß auf dem Deckel meines Klos, einen Schwangerschaftstest in der Hand – der gefühlt hundertste in den letzten Monaten – aber er zeigte mir das falsche Ergebnis an. Dabei war ich mir dieses Mal so sicher gewesen. Ich hatte genau nachgerechnet, war seit sechs Tagen über der Zeit. Wenn ich also nicht schwanger war, was war dann mit meinem verdammten Zyklus los? Sonst war er doch immer so zuverlässig gewesen.
Es war früh am Morgen. Sydney lag noch in meinem Bett. Natürlich hatte er sofort bemerkt, wie ich es verlassen hatte, aber er wusste nicht, was ich hier drinnen trieb. Ich hatte es ihm nicht gesagt, weil ich gehofft hatte, ihn mit einer freudigen Nachricht überraschen zu können.
Tja, das hatte sich dann wohl erstmal erledigt.
Was war wenn ich gar nicht schwanger werden konnte? Ich war ein Misto. Vielleicht war das bei mir genauso wie bei einem Maultier. Es konnte gezeugt werden, war aber nicht in der Lage sich fortzupflanzen. „Scheiße!“ Wütend über diese Ungerechtigkeit, warf ich den Test quer durchs Bad. Er knallte gegen die Wand, prallte daran ab und fiel dann leise klappernd zu Boden.
Ich starrte ihn noch einen Moment wütend an, bevor ich das Bad verließ und zurück ins Schlafzimmer ging.
Sydney richtete sich sofort auf, als ich einfach an ihm vorbei in meinen Schlafzimmerschrank marschierte. Er wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. „Was hast du?“
„Gar nichts, also lass mich einfach in Ruhe, okay?“ Ich riss die Tür zu meinem Kleiderschrank auf, verschwand darin und begann damit mich wahllos durch Klamotten zu wühlen.
Die Decke raschelte, als Sydney aus dem Bett stieg und mir folgte. „Rede mit mir.“
„Geh weg.“ Bitte.
„Warum?“ In seiner Stimme schwang Verwirrung mit.
„Weil ich jetzt keinen Bock auf dich habe.“ Ich riss ein türkisfarbenes Sommerkleid mit Spagettiträgern von der Stange und ignorierte, dass dabei zwei weitere Kleider von ihren Bügeln rutschten.
Sydney kam mit langsamen Schritten näher. „Cayenne, was …“
„Ich hab gesagt, dass du mich in Ruhe lassen sollst!“, fuhr ich ihn an. „Ich will dich nicht hören, ich will dich nicht sehen und in meiner Nähe haben will ich dich auch nicht. Also verschwinde!“ Es war nicht fair von mir meine Wut an ihm auszulassen, aber ich wollte nicht vor Augen geführt bekommen, was schon wieder nicht geklappt hatte.
Sydney sah mich an, wie einen getretenen Hund und ich fühlte mich mies, weil ich diejenige Welche war, die hier die Tritte verteilte.
„Bitte Sydney, geh einfach“, sagte ich schwach. Später würde ich mich dafür entschuldigen, aber nicht jetzt. Jetzt brauchte ich einfach mal ein bisschen Zeit für mich, um einen klaren Kopf zu bekommen.
„Natürlich.“
Er neigte leicht den Kopf. „Wie Ihr wünscht, Königin Cayenne.“ Noch während er das sagte, begann er sich zu verwandeln. Es dauerte nur einen Moment, bis er sich wieder unter seinem Pelz verbarg. Er schaute mich noch einen Moment an, dann kehrte er mir mit hängender Rute den Rücken und ging.
Super, jetzt fühlte ich mich erst so richtig mies. Er konnte ja nun wohl am wenigstens etwas dafür, dass bei mir immer alles schief ging. Warum nur hatte ich ihn so vor den Kopf gestoßen? Das war dumm, einfach nur dumm. Wütend feuerte ich das Kleid auf den Boden und ließ mich auf einen Hocker fallen.
Das war einfach so belastend. Ich wollte nicht mehr zu Nikolaj gehen. Warum konnte nicht wenigstens einmal in meinem Leben etwas funktionieren?
Als ich Schritte hörte, schaute ich auf, nur um feststellen zu müssen, dass es nicht Sydney war, der da zurück kam.
Nikolaj betrat zögernd mein Schlafzimmer und warf einen Blick auf die zerwühlten Laken im Bett.
„Was zur Hölle?!“ Ich griff eilig nach meinem Morgenmantel und schlüpfte hinein. Dann funkelte ich Nikolaj an. „Was hast du hier zu suchen?“
Nur langsam wandte er den Blick vom Bett zu mir. Er wirkte nachdenklich. „Ich habe gesehen, wie dein Sonderling gegangen ist und wollte nur mal schauen, ob mit dir alles in Ordnung ist.“
„Du sollst ihn nicht so nennen.“ Ich knotete den Gürtel meines Morgenmantels zu und kam dann aus dem Schrank. „Und jetzt verschwinde, ich will mich anziehen.“
Nikolaj schaute mich an, verschränkte dann die Arme vor der Brust und sagte. „Nur zu, es gibt an dir nichts, was ich nicht schon einmal gesehen hätte.“
Das verschlug mir für einen Moment wirklich die Sprache. Leider hatte er sich den falschen Tag ausgesucht, um mich zu provozieren. Ich konnte praktisch spüren, wie die Wut in mir hochkochte.
„Wenn du Lust auf ein wenig nacktes Fleisch hast, dann solltest du dir eine Freundin besorgen und jetzt verschwinde!“ Ich zeigte sehr nachdrücklich auf die Schlafzimmertür.
„Ich soll mir eine Freundin suchen?“
„Bist du taub oder was?“
Nikolaj schaute mich völlig verständnislos an. „Hörst du eigentlich selber zu, wenn du redest? Ich bin dein Mann. Ich dachte zwischen uns …“
„Falsch gedacht. Es gibt kein zwischen uns. Ich muss schwanger werden, nur deswegen bin ich zu dir gekommen, aber wie man sieht, bist du dazu nicht wirklich zu gebrauchen. Vielleicht solltest du …“
Nikolaj schlug so fest gegen die Schlafzimmertür, dass sie gegen die Wand knallte. „Es reicht, Cayenne. Ich bin deine ganzen Gemütsschwankungen allmählich leid. Wir sind Gefährten und es wird Zeit, dass du dich an diesen Gedanken gewöhnst, sonst wirst du mich mal von einer anderen Seite kennenlernen.“
Das hatte er nicht gerade wirklich gesagt, oder? „Versuchst du mir gerade zu drohen?“, fragte ich ungläubig.
„Wir haben eine Abmachung und es wird Zeit, dass du deinen Teil erfüllst. Ich bin nicht dein Prügelknabe und habe dir schon mehr als einmal gesagt, dass ich das so nie gewollt habe. Ich bin dir oft genug entgegengekommen. Jetzt ist Schluss.“
Versuchte er gerade wirklich mich unter Druck zu setzen? Ich trat ganz dich vor ihm, damit er auch kein Wort verpasste. „Pass ganz genau auf, Nikolaj, denn ich werde es nur ein einziges Mal sagen. Ich bin heute entschieden nicht in der Stimmung für deine Drohungen und könnte auf wirklich dumme Gedanken kommen, wenn du versuchst mich unter Druck zu setzten. Also verschwinde jetzt endlich und lass mich in Ruhe!“
Er funkelte mich an. „Du weißt, was passieren kann, wenn du die Abmachung …“
„Ich rate dir dringend, dieses Satz nicht zu beenden“, fuhr ich ihm über den Mund. „Halte die beiden daraus.“
Wir starrten und mehrere Sekunden wütend an. Aber zu seinem Pech war ich hier das geborene Alphatier. Darum blieb ihm gar nichts anders übrig, als schnaubend den Blick abzuwenden. Er öffnete noch einmal den Mund, schüttelte dann aber den Kopf und marschierte wütend in den Wohnraum.
Erst als er dort die Tür aufzog, fiel mir auf, dass sie nicht richtig geschlossen gewesen war. Und auch, dass Diego direkt davor stand.
Nikolaj stockte einen kurzen Moment überrascht, dann knurrte er leise und marschierte an meinem Umbra vorbei.
Diego folgte ihm mit dem Blick, wandte sich dann aber sofort wieder mir zu und der Ausdruck in seinem Gesicht wollte mir so gar nicht gefallen.
Ohne mich aus den Augen zu lassen, trat er in den Raum und schloss hinter sich sorgsam die Tür. „Was ist hier los, Cayenne?“
„Das heißt Königin Cayenne.“ Ich kehrte ihm den Rücken und verschwand wieder in meinem Kleiderschrank, doch so leicht ließ Diego sich nicht abwimmeln. Er folgte mir und hielt sogar die Tür fest, als ich sie ihm vor der Nase zuschlagen wollte. „Las los.“
„Diese Abmachung ist der Grund, warum König Nikolaj behauptet, dich vor einem Skhän gerettet zu haben.“
Nein, ich konnte nichts dagegen tun, dass mir plötzlich kalt wurde. Verdammt, ich hatte schon immer gewusst, dass der Kerl schlauer war, als es gut für ihn war. „Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.“
„Verkauf mich nicht für dumm.“
Als ich versuchte die Tür zuzuziehen, um diesem Gespräch zu entgehen, riss er sie mir einfach aus der Hand und baute sich direkt vor mir auf.
„Diese ganze Geschichte ist nichts weiter als eine Lüge. Ich habe keine Ahnung, warum du das machst, aber ich habe eben genau gehört, wie dein Mann deinen Teil der Abmachung einforderte und du ihm erklärt hast, dass er dich nicht unter Druck setzten soll.“
Verdammt Nikolaj! War es wirklich so schwer eine Tür zu schließen, wenn man schon ungebeten einen Raum betrat? „Ich bin dir keinerlei Rechenschaffen schuldig. Du bist nichts weiter als mein Umbra und deine einzige Funktion ist es, mich aus dem Schatten heraus zu schützen. Dass du so mit mir reden darfst, ist ein Entgegenkommen meinerseits, aber du solltest es nicht übertreiben.“
„Vielleicht bin ich nur dein Umbra, aber meine Aufgabe besteht nicht nur darin, dich von weiten zu beschützen. Ich bin dazu ausgebildet, deine Sicherheit in allen Lebenslagen zu gewährleisten und wenn ich herausfinde, dass es da jemand gibt, der versucht dich unter Druck zu setzen, bin ich sehr wohl dafür zuständig. Also frage ich noch einmal: Was ist das für eine Abmachung?“
„Wenn es dich etwas angehen würde, hätte ich es dir …“
Der Schrei einer Frau unterbrach mich nicht nur, er sorgte auch dafür, dass dieses Problem erstmal ins Abseits geriet.
„Das kam aus dem Bad.“
Mehr Erklärung brauchte Diego nicht. Er war noch vor mir aus dem Schlafzimmer raus. Deswegen war auch er derjenige, der Collette fast über den Haufen rannte.
Sie strahlte wie die Sonne, drückte mich überschwänglich an sich – was mich völlig überraschte – und ließ dann verlegen von mir ab, als sie merkte, was sie da eigentlich tat. Mit einem Mal war sie ein wenig blasser. „Es tut mir leid, das hätte ich nicht tun dürfen.“ Sie fiel vor mir auf die Knie. „Verzeiht mein Betragen.“
Oh Mann, mir blieb heute aber auch gar nichts erspart. „Schon gut, vergiss es einfach und steh auf. Du sollst sowas nicht machen, das weißt du doch.“
„Natürlich, entschuldigt, Eure Majestät.“
„Ja ja, schon gut.“ Ich folgte Diego mit dem Blick, als er im Bad verschwand, runzelte dann aber die Stirn. „Wie kommst du hier eigentlich rein?“
„Die Tür stand eben offen. Ihr hattet eine Diskussion mit König Nikolaj, da wollte ich nicht stören.“
Fantastisch. Am Besten ließ ich hier eine Drehtür einbauen.
Als Diego wieder aus dem Bad kam, schüttelte er den Kopf. Das hieß dann wohl, er hatte ich nichts gefunden. „Hast du geschrien?“, fragte er Collette.
Damit brachte er sie in Verlegenheit. „Ja, entschuldigt bitte, das wollte ich nicht, aber ich hab mich so gefreut, dass ich mich nicht beherrschen konnte.“ Sie verbeugte sich ein weiteres Mal unterwürfig. „Auch dafür möchte ich mich entschuldigen, ich wollte Euch keinen Schrecken einjagen. Es wird kein weiteres Mal vorkommen.“
Das war ja alles schön und gut, aber was mich viel mehr interessierte war: „Warum hast du geschrien?“
„Ich habe das gefunden.“ Collette streckte ihre Hand aus und zeigte mir das kleine Plastikröhrchen, das ich im Bad an die Wand geworfen hatte.
Sofort sank meine Stimmung noch weiter. Ich musste nicht daran erinnert werden, dass sich meine Hoffnungen wieder einmal zerschlagen hatten. „Schmeiß es weg, ich will das Ding nicht sehen.“
„Freut Ihr Euch den gar nicht?“ Sie sah verwirrt von mir zum Schwangerschaftstest. „Ich dachte es sei Euer Wunsch schwanger zu werden.“
Ja, das war er, was auch der Grund war, warum ich das Ding nicht sehen wollte. Ich war jetzt schon auf hundertachtzig und wollte mir meine Unzulänglichkeiten nicht weiter vor Augen führen lassen. „Mach es einfach weg“, knurrte ich.
Natürlich wollte Collette meinem Wunsch sofort nachkommen, aber Diego nahm ihr das Röhrchen aus der Hand, um selber einen Blick drauf zuwerfen.
Musste das sein? Hallo, ich hatte da drauf gepinkelt, das war nun wirklich nichts, was jedermann in die Hände nehmen sollte. Und als Diego dann auch noch anfing zu lächeln, hätte ich ihm am liebsten eine geklebt.
„Na dann werden deine Stimmungsschwankungen ab jetzt wenigstens ein Grund haben.“
„Ich habe keine …“, begann ich, bis mir klar wurde, was er damit andeutete. Ich riss ihm das Stäbchen praktisch aus den Händen.
Wo vorhin noch die Fläche weiß war, zeigte sich jetzt ganz schwach ein blauer Strich. Damit waren es zwei Striche. Einer musste sein, das war der Kontrollstreifen, der anzeigte, dass der Test auch funktionierte. Der zweite kam nur, wenn der Klapperstorch zugeschlagen hatte. Fazit: ein streifen gleich Kinderlos, zwei Steifen, hallo Baby.
Ungläubig starrte ich auf das Teil in meiner Hand. „Ich bin schwanger.“ Aber vorhin war das Feld leer geblieben. Wo kam da plötzlich der zweite Streifen her?
Ohne den beiden auch nur eines Blickes zu würdigen, rannte ich in mein Bad und kramte aus dem kleinen Mülleimer die Verpackung heraus. Wort für Wort las ich mir die Anleitung durch, die ich vor einer halben Stunde nur überflogen hatte und bemerkte meinen Fehler sofort. Den Test, den ich letzten Monat benutzt hatte, dauerte nur drei Minuten. Bei diesem hier allerdings musste man fünf warten, um das korrekte Ergebnis zu bekommen. Dann war es jetzt wohl offiziell: ich war wirklich schwanger.
„Oh mein Gott, ich bin wirklich schwanger.“ Eine Schrecksekunde starrte ich einfach nur den Test an. Dann fiel ich Diego jubelnd um den Hals und drückte ihn ganz fest an ich. „Ich bin schwanger! Ich bin schwanger!“
Bevor er die Gelegenheit bekam etwas dazu zu sagen, ließ ich von ihm ab und stürmte mit dem Test in der Hand hinaus auf den Korridor. Ich musste es Sydney sagen, ich musste ihm den Test zeigen, ich musste … mich ganz dringend bei ihm entschuldigen. Verdammt, das hätte ich in der Aufregung beinahe vergessen.
Den Weg hinunter in sein Büro hätte ich im Schlaf gefunden. Ich beeilte mich so sehr, dass ich an der Tür zur Bibliothek beinahe einen meiner Berater über den Haufen gerannt hätte. „Tut mir leid!“, rief ich ihm noch über die Schulter zu und war dann auch schon wieder weg.
Die Tür zu Sydneys Büro war geschlossen und einen Moment befürchtete ich, dass er in den Garten oder den Wald gegangen wäre, doch sobald ich den Raum betrat, sah ich ihn.
Er saß an seinem Schreibtisch und schien blicklos in ein Buch zu schauen.
„Sydney!“ Ich stürzte an den Schreibtisch und noch bevor irgendjemand von uns etwas sagen konnte, knallte ich ihm den Test direkt vor die Nase. „Ich bin schwanger.“
Einen Moment geschah gar nichts. Er starrte einfach nur die beiden blauen Striche an. Dann schloss er die Augen und atmete einmal tief ein. „Schwanger.“
„Ja. Es tut mir leid, dass ich vorhin so eine Zicke war. Ich war einfach frustriert, weil ich dachte schon wieder zu Nikolaj zu müssen und hab …“
Auf einmal wurde aus dem Wolf wieder ein Mann und dann lag ich in seinen Armen und klammerte mich an ihn. „Du bekommst ein Kind.“
„Nein.“ Grinsend schüttelte ich den Kopf. „Wir bekommen ein Kind.“
Eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf erklärte mir, dass es durchaus im Bereich des Möglichen lag, dass Nikolaj der Vater war. Ich verfluchte sie und verbot ihr den Mund.
„Wir“, wiederholte Sydney und dann küsste er mich.
Danach wurde es ziemlich turbulent. Meine erste Anlaufstelle war natürlich Doktor Ambrosius. Er stellte meine Medikamente um und mahnte mich zur Ruhe, da ich als Misto automatisch als Risikoschwangerschaft eingestuft wurde.
In den Tagen und Wochen darauf, veränderte sich bei mir so einiges und ich sprach hier nicht nur von dem Umfang meines Bauches. Die frohe Kunde verbreitete sich wie ein Lauffeuer im Rudel. Immer wieder kamen Brief und Päckchen mit Geschenken und Glückwünschen. Nikolaj nahm mir so viel Arbeit ab, dass ich praktisch gar nichts mehr zu tun hatte und alle wollten mich nur noch von vorne bis hinten verwöhnen. Ja selbst der Rat war mit einem Mal ein wenig zugänglicher.
Doch wie schon so oft, währte mein Glück nicht lange. Für einen Misto war es schwer, einen reinrassigen Werwolf zu halten. Schon nach wenigen Wochen, setzten die ersten Blutungen ein, die mich von da an ans Bett fesselten.
Sydney wich kaum noch von meiner Seite. Sogar seine Arbeit erledigte er nun in meiner Suit, was dazu führte, dass sich Nicoletta ab da ständig in meiner Gegenwart aufhielt. Irgendwann hörte ich auf zu zählen, wie viele Dinge deswegen zu Bruch gingen.
Da ich mein Zimmer nun so gut wie überhaupt nicht mehr verlassen durfte, bekam ich auch Nikolaj kaum zu Gesicht. Den Lykanern war es nun verboten, mit Problemen an mich heranzutreten, weil jede Aufregung schädlich für das Kind sein konnte. Und wenn er dann doch mal da war, brachte seine nun sehr deutliche Abneigung gegen Sydney mich dermaßen in Rage, dass ich ihn sogar ein paar Mal dem Zimmer verwies.
Leider führte meine Abwesenheit dazu, dass Nikolaj sich trotz allem wieder seinem Vater zuwandte. Oder besser gesagt, Jegor redete so lange auf ihn ein, bis Nikolaj einfach klein bei gab.
Aber bei all den nervigen Dingen um mich herum, gab es auch etwas Gutes. Samuel kam wieder aus seinem Schneckenhaus gekrochen. Es war wirklich eine Überraschung für mich, als er plötzlich bei mir im Zimmer stand und mir sehr anschaulich erklärte, wie so eine Geburt ablief. Woher wusste ein Vierzehnjähriger sowas?
°°°
Sieben Monate später
„Mir ist langweilig“, jammerte ich zum bestimmt tausendsten Mal in der letzten Stunde und schaute durch die offene Schlafzimmertür hinüber in den Wohnbereich, wo Sydney mit der Nase in irgendeinem Buch steckte.
Er befand sich zwar im Nebenraum, aber ich wusste genau, dass er mich hören konnte. Umso frustrierender war es, dass er mich nicht beachtete. Er sagte nur etwas zu Nicoletta, die sich daraufhin ein paar Notizen machte.
Wir hatten Ende Oktober und ich befand mich in der dreiunddreißigsten Schwangerschaftswoche. Mein Bauch war mittlerweile so groß, dass ich schon vermutet hatte mindestens fünf Babys zu bekommen, doch Doktor Ambrosius hatte mir mehr als einmal versichert, dass dem nicht so war.
Der Himmel war mit grauen Wolken verhangen und spiegelte damit meine Gemütsverfassung wieder. Ich hatte langsam wirklich die Schnauze voll davon, an dieses Bett gefesselt zu sein. Die Matratze hatte sicher schon einen Abdruck von mir, der nie mehr verschwinden würde.
„Hast du gehört was ich gesagt habe?“
„Natürlich.“ Ganz ruhig. „Ich höre immer was Ihr sagt.“
Blödmann. „Hast du nicht Lust etwas dagegen zu unternehmen?“
Ich bekam nicht mal eine Antwort. In den letzten Wochen hatten wir diesen kleinen Dialog schon so oft geführt, dass er in der Zwischenzeit keiner Beachtung mehr wert war. Besonders nicht, wenn Nicoletta grade da war und er versuchte zu arbeiten.
Ich wartete noch einen Augenblick, aber als er mich weiter ignorierte, seufzte ich äußerst geräuschvoll und schlug meine Decke zur Seite.
Sydneys Kopf schnellte herum. „Wo wollt Ihr hin?“
Natürlich, jetzt bekam ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit. „Mir die Beine vertreten, bevor ich vor lauter Langeweile sterbe.“
Vergessen war Nicoletta und die Arbeit. Er sprang von der Couch und trabte eilig zu mir ins Schlafzimmer. „Ihr sollt das Bett aber nicht verlassen. Das ist nicht gut für Euch.“
Ich wusste, dass er es nur gut meinte, auch wenn mich sein ständiges Bevormunden langsam aber sicher an den Rand des Wahnsinns brachte. „Ein kleiner Rundgang durch das Schloss wird schon nicht schaden.“
„Ihr habt schon gestern das Bett verlassen“, versuchte er mich umzustimmen. „Lest ein Buch, dann seid Ihr beschäftigt.“
„Ich hasse lesen und das weißt du.“
„Was ist dann mit dem Computerspiel das Ihr so gerne spielt?“, fragte er hoffnungsvoll, um mich auf andere Gedanken zu bringen. „Soll ich Euch Euer Notebook bringen?“
„Das habe ich in der letzten Zeit schon so oft gespielt, dass es mir zu Halse raushängt.“ Mit schwerfälligen Bewegungen, schob ich mich an die Bettkante und stemmte mich in die Höhe. Das war mit einem so dicken Bauch gar nicht so einfach. Besonders nicht, wenn die Muskulatur nach so langer Liegezeit nicht mehr ganz so mitspielte.
Natürlich war Sydney sofort bei mir und verstellte mir den Weg.
Wie ich das hasste. „Dürfte ich vielleicht mal vorbei?“
„Königin Cayenne, ich weiß wie schwer es für Euch sein muss das Bett zu hüten, aber es ist das Beste so.“ Als ich nur stumm die Arme vor der Brust verschränkte, sah er mich flehentlich an. „Dann redet vorher wenigstens mit Doktor Ambrosius.“
„Ich muss nicht mit ihm reden, ich weiß schon was er sagen …“
Das Klingeln des Telefons unterbrach mich mitten im Satz. Toll. Da es am Bett stand und mir langes Stehen nicht mehr so leicht fiel, blieb mir gar nichts anderes übrig, als mich wieder hinzusetzen. Dabei beachtete ich Sydney gar nicht. So weit kam es noch, dass ich ihm diesen kleinen Triumph gönnte.
Nach dem fünften Klingeln hielt ich mir den Hörer ans Ohr und lehnte mich in die Kissen zurück. „Wer stört?“
„Cayenne.“ Pause. „Ich bin es, Tyrone.“
Mein Mund ging auf … kein Ton kam heraus. Tristan? Tristan rief mich an? Hier? In meinem Schloss? Auf meinem Telefon? Moment. „Woher hast du diese Nummer?“ Die war geheim. Man musste schon bei der CIA arbeiten, um die zu bekommen.
„Future.“
Oder Future kennen. „Was … willst du?“, fragte ich misstrauisch und schaute aus dem Augenwinkel zu Sydney. War ja klar, dass ich jetzt seine ganze Aufmerksamkeit hatte.
Er beobachtete mich. Seine Ohren waren gut genug, um bei einem normalen Telefon beiden Gesprächspartnern zu lauschen. Gott sei Dank benutzten Lykaner keine normalen Telefone.
„Ich brauche deine Hilfe.“
Diese Worte reichten, um mein Misstrauen in Sorge zu verwandeln. Das war Tristan, der mich hier anrief. Tristan, Raphaels Bruder. Raphael, der verschwunden war. Oder auch Anouk und Vivien. Mit meiner Entspannung war es vorbei. „Meine Hilfe?“
„Ja, bitte, ich würde nicht anrufen, wenn es nicht dringend wäre.“
„Was ist passiert?“ Bitte, lass es nichts mit Anouk und Vivien zu tun haben.
„Es geht um den Überfall auf Lupeun.“
Ich brauchte einen Moment, um meine Gedanken zu ordnen. Lupeun. Das war ein kleiner Ort in der Nähe von Konstanz. Er war vor zwei Tagen von Fängern überfallen worden. Natürlich wusste ich das bereits und meine Helfer und Wächter waren auch schon vor Ort, um den verbliebenen Bewohnern Hilfe zukommen zu lassen.
Es hatte also nichts mit den Horrorszeneariern zu tun, die sich gerade in meinem Kopf abspielten. „Ich arbeite nicht mehr für die … für euch.“
Ich konnte spüren, wie Sydneys Blick versuchte mich zu durchleuchten und meinen Worten einen Sinn zu geben. Es half auch nichts, dass ich den Kopf wegdrehte.
„Es geht nicht um die Themis, ich brauche dich als Alpha.“
Okay, das hatte ich jetzt nicht kommen sehen. „Wofür?“
„Weil Raphael scheinbar in Schwierigkeiten steckt.“
Damit schaffte er es zum zweiten Mal mich für einen Moment Mundtot zu kriegen. Er wusste wo Raphael war? Hatte er wieder Kontakt zu seiner Familie? Mit einem Mal beschleunigte mein Herzschlag sich ein wenig. „Was meinst du mit Schwierigkeiten? Und was hat das mit dem Überfall zu tun?“
„Scheinbar hat bei dem Überfall auf Lupeun, einer der Anwohner einen Fänger erwischt und ihn den Wächtern übergeben. Wie es aussieht, ist dieser Fänger Ryder.“
Wie bitte? „Bist du bescheuert? Ryder würde sich niemals diesem Abschaum anschließen. Eher würde er …“
„Nein, so hab ich das nicht gemeint“, versuchte er mich sofort zu beschwichtigen. „Natürlich würde er sich ihnen niemals anschließen. Wir vermuten eher, dass er etwas Ähnliches getan hat wie Letisha. Das er die Skhän Infiltriert hat, um an Informationen zu gelangen.“
Ich musste einen Moment überlegen, um mich daran zu erinnern, wer Letisha war. Das war Lucys Deckname gewesen. „Und wozu brauchst du mich?“
„Um ihn aus dem Knast zu holen. Ich komme nicht an ihn ran. Für die Wächter ist er ein Skhän, aber wenn du es ihnen befiehlst, dann werden sie ihn ohne Fragen zu stellen gehen lassen.“
Natürlich würden sie das. Keiner wagt es heute noch, sich meinem Wort zu wiedereinsetzten. Aber … „Wie sicher ist es, dass es sich bei dem Skhän um ihn handelt?“
„Ich hab die Nachricht über drei Ecken bekommen. Future hat sich bei den Wächtern ins System gehackt, konnte ihn auf den Computern aber kein Foto von ihm finden.“
„Das heißt, es könnte auch ein Irrtum vorliegen.“
„Ja“, räumte er ein. „Aber mir wurde versichert, dass es Ryder ist. Bitte Cayenne, ich würde nicht anrufen, wenn ich mir nicht sicher wäre.“
Nein, würde er nicht. Ich hatte ihm und allen anderen schließlich sehr deutlich gemacht, dass sie mich in Ruhe lassen sollten. „In Ordnung, ich mache mich auf den Weg. Ich denke, ich kann so gegen sechs in Lupeun sein. Wir treffen uns dann vor der Wache.“
„Danke.“
„Nichts zu danken. Wir sehen uns nachher.“ Ich legte auf und wollte direkt die Nummer von Collette wählen. Doch Sydney trat in meine Blickfeld.
„Ryder?“, fragte er ganz direkt.
Mist. Syndey war Raphael zwar nie begegnet, aber er hatte den Namen schon aus meinem Mund gehört. Genaugenommen kannte er sogar beide Namen und er wusste auch, wer er war und was er mir bedeutet hatte.
Langsam ließ ich das Telefon in meinen Schoß sinken. „Das war sein Bruder. Er hat mich um Hilfe gebeten, weil Ryder in Schwierigkeiten steckt.“
„Und deswegen wollt Ihr plötzlich nach Lupeun fahren? Ihr sollt im Bett bleiben.“
„Ich war lange genug im Bett. Nach Lupeun ist es nicht weit. Ich muss mir da nur etwas ansehen. Heute Abend bin ich wieder zu Hause.“
Uh, also Sydney konnte echt böse gucken. Mit diesen Wolfsaugen bekam ich glatt das Gefühl, als wenn er mich gleich mit Haut und Haaren verspeisen wollte – und das nicht auf die angenehme Art. Seit ich schwanger war, lief in diese Richtung sowieso nichts mehr.
„Warum? Was ist so wichtig, dass Ihr Eure Gesundheit und Eure Schwangerschaft riskiert?“
Das konnte ich ihm nicht sagen. Nicht nur weil es ihn verletzten würde, ich wusste selber nicht genau, was ich mir davon versprach. Aber ich konnte Raphael auch nicht im Knast versauern lassen, nicht wenn man glaubte, er gehörte zu den Skhän. „Es sind doch nur ein paar Stunden“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Ich werde nichts Unüberlegtes tun und auch Doktor Ambrosius mitnehmen, damit …“
„Schon damit dass Ihr das Bett verlast, handelt Ihr unüberlegt“, knurrte er. „Eine Reise ist in Eurem Zustand unangebracht. Ihr solltet Euch schonen und nicht in der Welt herumreisen. Schon gar nicht wegen ihm.“
Damit hatte er genau das Falsche gesagt. „Ich werde ihn nicht im Stich lassen.“
Sydney knurrte unwillig und wandte den Blick ab.
Ich verstand ihn ja. Er machte sich nur Sorgen und Raphael war ein rotes Tuch für ihn. Schon immer. Nicht nur weil er ein Vampir war und ja, auch mein Ex-Freund. Raphael hatte mich kurz nach unserem Kennenlernen durch Blut als die Seine Markiert.
Sydney hasste diese Verbindung. Nicht nur, weil es ein Sakrileg war, einen Alpha auf diese Art zu zeichnen, er haste sie auch, weil sie unauslöschlich war und mich bis ans Ende meiner Tage mit diesem Vampir verband.
„Sydney, ich muss das tun.“
„Nein“, sagte er traurig. „Ihr müsst das nicht tun, Ihr möchtet das tun.“
Dem konnte ich nicht widersprechen. „Vertraust du mir?“
„Dass müsst Ihr nicht fragen, Ihr kennt die Antwort.“
„Dann vertraue darauf, dass ich weiß, was ich tue. Bitte.“ Ich streckte die Hand aus und strich ihm über den Kopf. „Verlange nicht von mir, ihm seinem Schicksal zu überlassen.“
Mit einem tiefen Seufzen senkte der den Blick und ich wusste, dass ich gewonnen hatte, auch wenn es sich nicht wie ein Sieg anfühlte. Eigentlich wusste ich im Moment überhaupt nicht was ich fühlen sollte. Ich wusste nur, dass ich nicht hier rumsitzen und Däumchen drehen konnte, wenn die Chance bestand Raphael wiederzusehen. Wenn auch nur, um ihm ordentlich den Marsch zu blasen.
°°°
„Oh, ein Gentleman.“ Dankbar ergriff ich Diegos helfende Hand und ließ mir von ihm beim Aussteigen aus der Limousine helfen. Durch den dicken Bauch war meine Bewegungsfreiheit mittlerweile ein wenig eingeschränkt und weder ich noch die anwesenden Umbras hatten eine Interesse daran, dass ich Übergewicht bekam und frontal auf die Nase klatschte.
Lupeun war ein kleiner Ort und die Wache bildete praktisch das Zentrum. Es war nicht schwer gewesen, das flache Backsteingebäude mit der ausgeblichenen Fassade zu finden.
Um mich herum standen ein halbes Dutzend Umbras. Nikolaj hatte darauf bestanden sie alle mitzunehmen. Naja, eigentlich hatte er ja darauf bestanden, dass ich Zuhause blieb und das Bett hütete, aber da er das nicht bekam, musste ich mir nun dieser übertriebene Bewachung antun.
Ich verstand es ja. Er machte sich nicht weniger Sorgen als Sydney. Besonders da dies eine Risikoschwangerschaft war, die auch für mich gefährlich war.
Sobald ich auf der Straße stand und mich suchend nach Tristan umschaute, bemerkten die ersten Anwohner meine Ankunft. Ein paar warfen mir im Vorbeigehen neugierige Blicke zu, andere blieben stehen und glotze mich ganz offen an und einer holte sogar sein Handy heraus und machte ganz frech ein Foto von mir. Allerdings wandte er sich dann auch ziemlich schnell ab, als er merkte, wie die Umbras ihn bedrohlich anstarrten.
„Da“, sagte Diego und zeigte zu drei Personen, die neben dem Eingang der Wache standen. Tristan, Lucy und Roger.
Bei ihrem Anblick, wurde mir ein wenig flau im Magen. Roger einmal ausgenommen, war ich ihnen das letzte Mal vor meiner Hochzeit begegnet. Und keines dieser Treffen war sonderlich gut verlaufen. Das lag nun fast zwei Jahre zurück. „Ihr wartet hier“, befahl ich den Männern mit den bösen Blicken. „Ginny und Diego, ihr begleitet mich.“ Nicht das ich glaubte Schutz zu brauchen, aber ich hatte keine Lust auf lange Diskussionen.
Kurz überlegte ich noch mir meine Strickjacke aus dem Wagen zu holen, aber eigentlich war es warm genug. Also setzte ich mich mich einfach in Bewegung.
Die Drei hatten mich natürlich schon bemerkt. Roger und Lucy wirkten ein wenig distanziert, aber Tristan lächelte mir entgegen.
„Hey“, begrüßte ich sie, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. „Ich hoffe ihr musstet nicht allzu lange warten.“
„Nein.“ Tristan schüttelte den Kopf. „Wir sind auch erst seit ein paar Minuten hier.“
Lucys Blick glitt von Diego zu mir und dann auf meinen runden Bauch. Ihre Lippen wurden ein wenig schmaler, bevor sie das Gesicht abwandte.
„Wie geht es dir?“, fragte Roger. „Man hört ja so einiges.“
Ich hoffte für ihn, dass das keine Anspielung auf seinen letzten Besuch war. „Ich kann nicht klagen.“
Sein Blick richtete sich auf meinen Bauch. „Und, wie lange dauert es noch?“
„Nicht ganz sieben Wochen.“ Lächelnd legte ich meine Hände auf meinen Bauch. „Es wird schon ordentlich gestrampelt.“
„Können wir mit dem Smalltalk jetzt aufhören und tun weswegen wir hier sind?“, knurrte Lucy. Sie warf mir einen finsteren Blick zu und marschierte dann schon mal in die Wache.
Ich konnte ihr nur verständnislos hinterher schauen. Hatte ich etwas Falsches gesagt?
Tristan seufzte leise. „Nimm es ihr nicht übel, sie ist nur … traurig.“
Ja klar. Ich benahm mich auch immer wie ein Miststück, wenn ich traurig war. Lucy passte es nur einfach nicht, dass sie meine Hilfe brauchten.
„Aber sie hat recht“, mischte Roger sich ein. „Wir sind aus einem bestimmten Grund hier.“
„Dann lasst uns reingehen.“ Und Raphael aus dem Gefängnis holen. Bei dem Gedanken an ihm, begannen meine Gefühle gleich wieder ein wenig verrückt zu spielen. Ich freute mich darauf ihn zu sehen. Gleichzeitig hatte ich aber auch Angst vor der Begegnung und fühlte mich schuldig wegen Sydney. Mein Gott, warum musste das alles nur so schwer sein?
Angeführt von mir setzten wir uns in Bewegung.
Tristan lief neben mir und öffnete mir sogar die Tür.
„Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?“, fragte ich leise, während ich über die Schwelle trat.
„An dem Tag in Silenda.“ Er folgte mir und drängte damit Diego ein wenig ab. „Am nächsten Morgen war er verschwunden.“
Also war er zwischenzeitlich doch nicht wieder aufgetaucht. „Und du bist dir sicher, dass er hier ist?“
„Sicher genug, um direkt herzufahren, als ich davon gehört habe.“
Weil er seinen Bruder vermisste und ihn wiedersehen wollte, wenn auch nur, um sich zu vergewissern, dass es ihm gut ging.
Die Wache von Lupeun war nicht sehr groß. Dementsprechend wenig Wächter gab es hier. Ein paar standen auf dem Korridor, die meisten jedoch befanden sich in dem verglasten Arbeitsareal.
Gegenüber von der Anmeldung lehnte Lucy mit verschränkten Armen an der Wand und starrte vor sich ins Nichts. Keine Ahnung was ihr für eine Laus über die Leber gelaufen war, aber sie sollte sich mal ein wenig zusammenreißen.
„Ich bin gleich wieder bei euch“, erklärte Tristan und ging zu ihr hinüber. Ich sah wie er etwas zu ihr sagte und dann nach ihrer Hand griff. Sie senkte nur den Blick.
Auch Roger beobachtete sie. „Sie kann keine Kinder bekommen.“
Was?
„Sie haben es letztes Jahr erfahren. Eine Entzündung der Eierstöcke.“
Mit einem Mal ergab ihr Verhalten einen Sinn. Sie war nicht zickig, sie war neidisch, weil ihr die Möglichkeit genommen würde, selber einmal Mutter zu werden.
Als Tristan sie in den Arm nahm, legte ich schützend die Hände auf meinen Bauch und das erste Mal seit Jahren regte sich in mir Mitgefühl für sie. „Sie wollte immer Kinder haben.“ Das wusste ich noch. Ganz im Gegenteil zu mir. Früher fand ich Kinder einfach nur unheimlich.
„Tristan auch.“
Das hatte ich nicht gewusst. „Kann man da den nichts machen?“
Roger schüttelte den Kopf. „Nein.“
Das war hart, besonders, da Lucy gerade mal fünfundzwanzig war und sich immer eine große Familie gewünscht hatte. Schon als wir noch kleine Mädchen gewesen waren, hatte sie sich Namen für ihren eigenen Nachwuchs überlegt.
Leider spielte das Leben selten so, wie wir uns das wünschten.
„Ich schätze mal, unsere Ankunft wurde bemerkt“, sagte Roger.
Ich folgte seinem Blick. Nicht nur die drei Leute auf dem Korridor, auch der Kerl hinter der Anmeldung schauten immer wieder unauffällig zu mir herüber. „Das Los eines Alphas“, seufzte ich ich und wandte mich dem Mann mit der Halbglatze hinter dem Tresen zu.
Er wirkte ein wenig nervös und tippte immer wieder unruhig mit dem Finger auf die Tischplatte. Dabei schien er nicht recht zu wissen, ob er mich anschauen durfte, oder es besser wäre den Kopf zu senken.
Ich versuchte ihn mit meinem munteren Lächeln ein wenig zu beruhigen und ließ auch einen Hauch meines Odeurs spielen. Die Leute waren zugänglicher, wenn sie sich nicht vor mir fürchteten. „Hi. Vielleicht können sie mir ja helfen. Mir wurde zugetragen, dass bei dem Überfall der Skhän ein Fänger in Gewahrsam genommen wurde. Ich möchte ihn gerne sehen.“
Der Mann zog die buschigen Augenbrauen einen wenig zusammen. „Ihr wollt den Fänger sehen?“
„Ja. Können sie mir da helfen, oder mich an jemanden verweisen?“
„Ähm … ja. Einen Moment bitte.“ Ohne mich aus den Augen zu lassen, griff er nach dem Telefon und bestellte jemanden nach vorne an den Tresen.
Währenddessen schlossen sich uns Tristan und Lucy wieder an. Ich wurde von ihr nicht beachtet, aber sie schaute Diego an und lächelte sogar, was Ginny dazu brachte sie ein wenig genauer in Augenschein zu nehmen.
Sie runzelte die Stirn, musterte sie von oben bis unten und plötzlich schien ihr ein Licht aufzugehen. „Du bist Umbra Lucy.“
Oh oh.
Lucy zog die Augenbraue ein wenig hoch. „Und?“
Ginnys Mund ging auf, aber nichts kam heraus. Sie schaute von mir zu Diego und dann wieder zurück. Es schien sie zu verwirren, dass wir hier mit einer gesuchten Verbrecherin standen und niemand sich dafür interessierte.
„Umbra Lucy wurde begnadigt“, erklärte ich, bevor Ginny mal wieder etwas übereifrig werden konnte. „Ich habe ihren Fall geprüft und musste dabei feststellen, dass sie im Recht gewesen war. Kein Mann darf sich an einer Frau vergehen – auch kein Prinz.“
„Danke“, sagte Tristan und drückte mahnend Lucys Hand.
Die schnaubte nur. „Erwarte bloß keine Dankbarkeit von mir, Königin.“ Das letzte Wort triefte nur vor Spott.
„Ja, warum auch sollte ein Lügenmaul wie du mir dankbar sein, wo es dir doch so viel leichter fällt mich grundlos zu hassen.“
„Grundlos?!“ Lucy sah aus, als wollte sie mir ein paar scheuern. „Du hast mich diesem miesen Wixer ausgeliefert und dass nur, um Isaac eins reinzuwürgen!“
Ich lachte freudlos auf. „Klar, natürlich. Ich hatte alles verloren, außer dir und Diego war mich nichts geblieben. Es ist ganz logisch, dass ich daraufhin Rache an Isaac nehme und riskiere euch beide auch noch zu verlieren. Ich bin ja schließlich dumm wie Stroh.“
„Aber genau das hast du gemacht!“, warf sie mir vor. „Und dann hast du dich einfach verpisst!“
Jetzt reichte es aber. „Ich habe Samuel beschützt, du dumme Nuss! Er hat die Überschwemmung verursacht, nicht ich! Ja, es war eine Kurzschlussreaktion, ich habe nicht darüber nachgedacht, was das für Folgen haben könnte und dann falsch reagiert, aber anstatt mit mir zu reden, oder mir wenigstens zu vertrauen, hast du es von da an vorgezogen mich zu verteufeln!“
„Und dann bist du einfach abgehauen und hast mich im Stich gelassen!“
„Was hätte ich den sonst tun sollen?! Nicht nur, dass ihr mich schon wieder belogen habt, Isaac wollte mich verheiraten! Was also wäre passiert, wenn ich zu dir gekommen wäre? Du wärst auf direktem Wege zu Isaac gegangen und …“
„Hört auf“, mischte Diego sich ein und warf einen wachsamen blick zu den drei Wachen, die nicht einmal so taten, als würden sie uns nicht zuhören. „Das hier ist nicht der richtige Ort.“
Ich schnaubte nur und wandte mich wieder dem Mann hinter der Anmeldung zu. Er hatte sein Telefonat längst beendet und schaute mit großen Augen zwischen uns hin und her. „Der Fänger“, erinnerte ich ihn.
„Ähm … ja.“ Er leckte sich nervös über die Lippen. „Er befindet sich gerade im Verhörzimmer. Es kommt gleich jemand, der Euch zu ihm bringt.“
„Danke.“ Ich drehte mich wieder um, erwiderte einen Moment Lucys giftigen Blick und schaute dann demonstrativ weg. „Zicke.“
„Das reicht“, sagte Diego, bevor Lucy noch etwas dazu sagen konnte und mahnte uns beide mit einem strengen Blick ruhig zu sein.
Ginny stand etwas ratlos zwischen uns und schien nicht recht zu wissen, was sie von all dem halten sollte. Klar, sie war die einzige der Anwesenden, die keine Eingeweihte war und nichts von meiner wahren Vergangenheit ahnte. Ich an ihrer Stelle wäre wahrscheinlich nicht weniger verwirrt.
Es dauerte vielleicht noch zwei Minuten, bis ein etwas untersetzter Mann in den Mittleren Jahren am Ende des Korridors durch eine Tür trat und direkt auf uns zukam. Sein aufmerksamer Blick wanderte einmal über uns. Dann richtete er sich direkt an mich. „Königin Cayenne.“ Er machte eine leichte Verbeugung. „Es ist eine Überraschung und eine Ehre Euch hier zu empfangen.“
Okay, der Mann hatte offensichtlich schon mal mit einem Alpha zu tun gehabt. „Danke. Würden sie uns dann bitte zu dem Fänger bringen?“
„Natürlich. Bitte folgen sie mir.“ Er übernahm die Spitze und führte uns den gleichen Weg zurück, den er gerade gekommen war. „Ich weiß nicht, war ihr mit diesem Besuch bezweckt, aber dieser Fänger ist ziemlich störrisch, wundert Euch also nicht, wenn er auf Eure Fragen nicht antwortet.“
Er dachte ich will in befragen? Ich würde ihn nicht korrigieren. „Wissen sie, mit wem genau sie es zu tun haben?“
Der Mann schüttelte den Kopf und öffnete für uns eine Stahltür. „Er hatte keine Papiere bei sich und weigert sich uns zu sagen, wer er ist. In der Datenbank ist er leider nicht registriert.“
Das konnte für Raphael sprechen.
Plötzlich wurde mir so richtig bewusst, was hier gleich passieren würde. Nach fast zwei Jahren würde ich wieder vor Raphael stehen. Was sollte ich ihm sagen? Würde er sich überhaupt freuen, mich zu sehen? Und dann war da noch mein Babybauch.
So viel war seit unserem letzten Treffen geschehen. Vielleicht hasste er mich in der Zwischenzeit. Verübeln konnte ich es ihm jedenfalls nicht, nicht wenn ich daran zurück dachte, wie ich ihn abserviert hatte.
Der Wächter brachte uns in die tieferen Gefilde des Gebäude. Betonwände, Konferenzräume, jede Menge Schreibtische und klingelnde Telefone. Letztendlich blieb er vor einer eher unscheinbaren Tür stehen, vor der ein weiterer Wächter postiert war.
Unser Begleiter nickte ihm zu, öffnete dann die Tür und trat zur Seite. „Da ist er.“
Mit einem Mal schlug mir mein Herz bis zum Hals. Nun war es so weit, nach all der Zeit würde ich ihn wiedersehen.
Ich warf noch einen kurzen Blick zu Tristan und trat dann gefolgt von Diego und Ginny in einen schmucklosen Raum, in dem nichts weiter stand, als ein Tisch und ein paar Stühle.
Auf einem dieser Stühle saß ein Mann, der mit Handschellen am Tisch festgemacht war. Er hatte schwarzes Haar, das allerdings kurz geschnitten war, aber Größe, Hautfarbe und auch die Statur passten.
Das ist er.
Wie in Trance trat ich in den Raum, doch dann schaute er auf und ich sah seine Augen. Verbitterte, hasserfüllte Augen. Fremde Augen, von einem sanften Violett.
Der kurze Moment der Hoffnung, zersprang in tausend Scherben. Dieser Vampir war nicht Raphael.
„Oh, welch eine Ehre.“ Die Lippen des Mannes kräuselten sich. „Die Königin der Lykaner höchstpersönlich. Ich fühle mich geschmeichelt.“
„Das ist er nicht“, hörte ich Tristan hinter mir sagen. Sein Gesicht verzerrte sich vor Enttäuschung. „Verdammt, das ist nur ein scheiß Skhän!“ Er knurrte, wirbelte dann herum und stampfte davon.
Lucy warf nur einen kurzen Blick auf den Mann und eilte ihm dann hinterher.
Rogers Lippen wurden schmal.
„Was?“, fragte der Kerl spöttisch. „Wen habt ihr erwartet? Prinz Charming?“
Sein Spott half mir dabei, meine Gefühle abzuschirmen und zu dem kalten und unerbittlichen Teil in mir zu finden, der allein für die Skhän reserviert war. „Gebt ihm noch eine Stunde“, befahl ich gnadenlos. „Sollte er in dieser Zeit noch etwas Brauchbares von sich geben, sperrt ihn für den Rest seines Lebens ein. Wenn nicht, tötet ihn.“
„Was glaubt Ihr, damit zu erreichen?“, fragte der Fänger herablassend. „Tötet mich ruhig, es wird rein gar nichts bringen. An meine Stelle werden drei andere treten und sich über Euren aussichtslosen Kampf köstlich amüsieren. Oder erlasst noch ein paar Gesetze“, schlug er vor. „Sie werden rein gar nichts ändern.“
Damit spielte er auf den sinnlosen Versucht des Rates an, der mich ruhigstellen sollte. Ja, sie waren mir durch die Schwangerschaft ein wenig entgegen gekommen. Man durfte Sklaven jetzt weder kaufen noch besitzen. Ich hatte mich furchtbar aufgeregt, als ich davon erfahren hatte. Dieses neue Gesetz war der reinste Witz, wenn weiter nichts geschehen würde. „Ich werde die Gesellschaft der Skhän ausrotten.“ Koste es was es wolle.
Der Kerl warf doch tatsächlich den Kopf in den Nacken und begann lauthals zu gackern.
Das machte mich derart wütend, dass ich einfach eine scheuern wollte. Erst die Enttäuschung wegen Raphael und nun auch noch ein hämischer Skhän.
Meine Hand wanderte zu dem Skorpionanhänger meiner Kette. Ein kurzer Ruck und der Skropion lag einsatzbereit in meiner Hand. „Langsam zu ersticken, weil die Lunge aufhört zu arbeiten, ist ein grausiger Tod.“
Als ich weiter in den Raum hinein trat, hörte der Mann auf zu lachen. Etwas an meiner Stimme ließ ihn wachsam werden.
„Man spürt wie das Ende kommt, kann aber nichts dagegen tun.“ Ich schob den Anhänger in meiner Hand weiter nach unten, sodass der Schwanz mit dem Stachel herausschaute.
„Cayenne“, mahnte Diego, aber ich machte noch einen Schritt auf diesen Mistkerl zu.
„Grüßen sie die Hölle von mir.“ Ich holte aus und stach zu.
Im selben Moment sprang der Kerl von seinem Stuhl auf. Der Stachel des Skorpions kratzte über seinen Arm. Plötzlich trat er zur Seite aus. Es kam so schnell und gezielt, dass ich nicht mehr ausweichen konnte. Ich schaffte es noch mich wegzudrehen, damit er nur die Hüfte traf, doch die Wucht schleuderte mich frontal mit dem Bauch gegen die Tischkante. Ich versuchte noch mich abzufangen, aber da raste bereits ein krampfartiger Schmerz, wie ich ihn noch nie gespürt hatte, durch meinen Unterleib.
„Cayenne!“
Um mich herum schrien die Leute auf. Ich konnte wütendes Knurren hören. Jemand raste an mir vorbei und schlug den Skähn nieder. Diego fing mich auf, bevor ich zu Boden ging.
Wieder krampfte Schmerz durch meinen Unterbauch. Ich schrie auf. Gott tat das weh.
„Ginny, hol Doktor Ambrosius, sofort! Und schafft dieses Arschloch hier raus!“
Wächter stürmten in den Raum. Der zuckende Körper des Skähn wurde herausgetragen. Irgendjemand schob den Tisch an den Rand.
„Bleib ruhig.“ Roger ergriff meine andere Hand und half Diego mich auf den Boden zu legen. „Alles wird wieder gut.“
Ich wollte fragen, was wieder gut wird, als ein weiterer Krampf durch meinen Bauch zog. Ich versuchte durch die Nase zu atmen, um den Schmerz entgegenzuwirken, aber er war so heftig, dass ich wieder schrie.
In der Tür erschien Ginny, gefolgt von Doktor Ambrosius und den ganzen anderen Umbras. In allen Gesichtern sah ich den gleichen, sorgenvollen Ausdruck.
„Ruft einen Krankenwagen!“, befahl Doktor Ambrosius und eilte zu mir. „Was ist passiert?“
„Sie ist mit dem Bauch auf die Tischkante geknallt.“
„Ich brauche Handtücher und heißes Wasser. Beeilung!“
Dann schlug die nächste Schmerzenswelle über mir zusammen und ich spürte, die warme, klebrige Flüssigkeit zwischen meinen Beinen. Noch ehe mich jemand daran hindern konnte, richtete ich mich auf und erstarrte, als ich den roten Fleck in meinem Schritt sah. „Mein Baby“, hauchte ich.
„Umbra Diego, rutsch hinter die Königin und stütze sie.“
Ich konnte den Blick einfach nicht von dem roten Fleck wenden. Er wurde immer größer.
Beim nächsten Schmerz, der mich überrollte, wurde mir klar, dass es Wehen waren, die mich so quälten. „Nein, oh Gott, nein.“ Das war viel zu früh, das durfte jetzt nicht passieren. Ich hatte noch sieben Wochen. Ich kniff die Beine zusammen, in der Hoffnung, es damit halten zu können. Der Schmerz ließ mich wimmern.
Irgendjemand rief einen Krankenwagen, aber wir hatten keine Zeit mehr. Irgendwas in mir war kaputt gegangen und hatte die Geburt eingeleitet.
Das ist zu früh, konnte ich nur denken. Nicht jetzt, nicht hier und nicht ohne Sydney.
Diego hielt mich fest und drückte meine Hände, als eine neue Wehe, begleitet von einem Schrei aus meiner Kehle, über mich hinweg rollte.
Doktor Ambrosius schnitt mein Kleid auf und befahl Roger ihm zu assistieren.
Handtücher wurden herbeigeschafft, um das ganze Blut aufzufangen. Mein Arzt holte etwas aus seiner Tasche, eine Nadel stach mir damit in den Handrücken.
In der Tür tauchten Lucy und Tristan auf. „Was ist hier los?“
„Ich muss den Muttermund weiter öffnen“, erklärte Doktor Ambrosius. „Wo bleibt das verdammte Wasser?!“
„Schhh“, machte Diego. „Bleib ruhig, es wird alles gut.“
Alles gut? Ich lag in der Wache von Lupeun und spürte, wie sich da ein neues Leben Wochen vor seinem Termin, ein Weg in die Freiheit erkämpfte. „Bitte, nein.“ Tränen liefen mir über die Wangen.
Bei der nächsten Wehe befahl der Doktor mir zu pressen. Ich war so geschockt, dass ich nicht wusste, wie ich das anstellen sollte.
Ich schaute nach unten und sah Roger. Seine Hände waren voller Blut, genau wie die von Doktor Ambrosius. Ich hörte sie sagen, dass ich zu viel Blut verlor.
Gott, bitte hilf, lass mein Kind nicht sterben.
Bei der nächsten Wehe spürte ich, wie sich etwas aus mir heraus schob. Doktor Ambrosius wurde noch hektischer. Sein Gesicht war verkniffen, Sorgenfalten furchten seine Stirn. Hier lief etwas absolut nicht nach Plan.
„So ist es gut.“ Diego drückte mir einen Kuss auf den Kopf. „So machst du es richtig.“
„Gleich habt Ihr es geschafft“, sagte der Doktor viel zu ruhig. „Noch einmal müsst Ihr pressen, dann ist es vorbei, nur noch einmal.“
Ich wollte ihn anschreien, dass er nicht so tun sollte, als wenn alles in Ordnung wäre, dass ich nicht dumm war und wusste, dass nichts gleich vorbei sein würde, aber mein Bauch krampfte sich erneut zusammen und ich braucht mein ganzen Atem, um dieses neue Leben zur Welt zu bringen.
Ich presste und spürte, wie mein Baby in die kalte Welt entlassen wurde.
Doktor Ambrosius zog es das letzte Stück einfach raus und dann wurde es hektisch. Für einen Moment lehnte ich mich an Diego. Ich hatte es geschafft, mein Baby war da, nach so vielen Wochen und Monaten würde ich es endlich in die Arme schließen können, aber dann fiel mir auf, dass es viel zu still war. Babys schrien doch bei der Geburt, aber meines gab keinen Ton von sich. „Was ist mit meinem Baby?“, fragte ich und spürte die Panik in mir aufsteigen. „Warum schreit es nicht? Babys müssen schreien, warum ist es so still?“
Als mir niemand antwortete und ich die angespannten Gesichter sah, bekam ich Angst. Ich merkte kaum, wie die Sanitäter den Raum stürmten. Ich wollte nur mein Baby sehen und wissen was da los war. Ich musste mich versichern, dass es ihm gut ging und es von der Geburt einfach so erschöpft war, dass es sofort eingeschlafen war, aber Diego ließ mich nicht aufstehen. Er zwang mich genauso liegen zu bleiben, wie ich war.
„Was ist mit meinem Baby? Warum schreit es nicht? Was habt ihm mit ihm gemacht?“ Warum sagte denn keiner etwas? „Antwortet mir!“ Nun überschlug sich meine Stimme. Das Herz in meiner Brust raste, als ich Ginny dabei beobachtete, wie sie mit Tränen in den Augen etwas in ein Handtuch einwickelte und es einem der Sanitäter weiterreichte. „Was ist hier los? Wo will er hin?“
Doktor Ambrosius antwortete mir nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt mir. „Ihr müsst Euch jetzt konzentrieren, wir sind hier noch nicht fertig …“
Ich hörte ihm gar nicht zu, sah nur zu dem kleinen Bündel, das aus dem Raum getragen wurde, so starr und still. Ein kleines Gesicht blitzte kurz aus dem Handtuch hervor. Nicht rosig wie es sein müsste. Reglos, blau, stumm. „Mein Baby!“, schrie ich. „Baby!“ Nein, das durfte nicht wahr sein, das konnte nicht wahr sein. Was war mit meinem Baby? Wo brachten sie es hin?
°°°°°
Wer sich an die Vergangenheit klammerte, der verlor seine Zukunft. Es war lange her und doch erinnerte ich mich noch sehr genau daran, wie Prinz Manuel diese Worte einmal zu mir gesagt hatte. Aber erst jetzt verstand ich sie wirklich.
Ich hatte Raphael nicht loslassen können und jetzt … jetzt hatte ich den Preis dafür bezahlt. Meine Baby war tot und ich allein war schuld daran.
Langsam zog ich den schwarzen Schleier herunter und beobachtete im Spiegel, wie mein Gesicht dahinter verschwand.
„Bist du soweit?“
Nein, das war ich nicht. Ich wäre niemals bereit dazu, mein Kind zu Grabe zu tragen. Nicht einmal in hundert Jahren.
„Warum machst du mir keine Vorwürfe?“, fragte ich leise und drehte mich zu ihm herum. Er saß vor der Wiege am Fußende meines Bettes und beobachtete mich. „Du solltest mich hassen. Nur wegen mir ist unser Baby tot.“
„Nein“, sagte er leise. „Nur wegen dir, lebt unser Baby.“ Als ich nicht reagierte, erhob er sich von seinem Wachposten und trabte an meine Seite. Ich spürte, wie er sich an mich schmiegte. „Cayenne, nicht du warst schuld an ihrem Tod, es war der Skhän. Du wärst dabei fast selber gestorben.“
Ja, weil ich zu viel Blut verloren hatte. Leider war das völlig bedeutungslos. „Er hatte nur die Gelegenheit dazu, weil ich nicht auf dich gehört habe.“ Meine Hände ballten sich zu Fäusten. „Wäre ich doch einfach im Bett geblieben.“
„Du kannst nicht wissen, ob alles gut verlaufen wäre, wenn du geblieben wärst.“
„Aber ich weiß, dass alles beschissen lief, weil ich gegangen bin.“ Ich wandte mich ab und ging zu der kleinen Babywiege.
Mit vorsichtigen Fingern strich ich über den Rahmen und schaute auf meinen kleinen Schatz. Erst vor zwei Tagen war es mir erlaubt worden, ihn mit nach Hause zu nehmen. Die letzten fünf Wochen hatte er in einem Brutkasten verbracht, so winzig und hilflos. Es hatte mir jedes Mal das Herz gebrochen, ihn so zu sehen.
„Nicht alles lief schief.“ Sydney sprang auf mein Bett und schaute von oben in die Wiege hinein. „Unser Sohn lebt.“
„Aber unsere Tochter ist tot.“ Und darum würde die zweite Wiege auf Ewig leer bleiben. Ich spürte, wie mir wieder die Tränen in die Augen stiegen.
Es war nun fünf Wochen her, fünf Wochen die ich an der Seite meines Sohnes im Krankenhaus verbracht hatte, fünf Wochen des Bangens und des Hoffens, doch selbst als ich die Erlösende Nachricht erhalten hatte, waren die Tränen nicht versiegt.
Als ich vorsichtig über die Wange von meinem kleinen Aric strich, zuckte er im Schlaf mit den Fingern. Zwei winzige Wolfsohren schauten unter dem hellen Flaum auf seinem Kopf hervor und manchmal zog er die Lippe hoch, als wollte er knurren.
Er war so klein und unschuldig. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, ihn in diese grausame Welt zu bringen?
„Lass ihn schlafen“, sagte Sydney. „Ruf die Gouvernante. Du kannst ihn auch nach der Beerdigung holen.“
„Ich kann ihn nicht hier lassen.“ Ich musste ihn doch beschützen. Außerdem kehrte ich nach der Beerdigung nicht an den Hof zurück. Zwar war ich erst wieder seit zwei Tagen hier, aber ich brauchte Abstand von allem. Vom Schloss, von den Lykanern und von Nikolaj.
Sydney würde ich gerne mitnehmen, aber Sydney konnte nicht gehen. Und ich konnte nicht bleiben.
Vorsichtig schob ich meine Hände unter Aric und hob ihn auf meinen Arm. Ich erinnerte mich genau an dem Moment zurück, als ich dass das erste Mal getan hatte, kurz nachdem sie mein Mädchen hinausgetragen hatten. Ihn aber würde ich nicht wegtragen lassen, von niemand. Dieser kleine Junge war ein Teil von mir, mein Sohn, mein Aric, der Zwillingsbruder von meinem kleinen Mädchen.
„Es wird Zeit“, sagte Sydney leise. „Wir sollten gehen.“
Mir graute es davor, diesen Raum zu verlassen. Es war fast so schwer wie damals, nach meinem Zusammenbruch. Die Gewissheit, dass ich heute mein Baby zu Grabe tragen würde, lähmte mich.
Als ich mich nicht von der Wiege wegbewegte, kam Sydney an meine Seite und schmiegte sich tröstend an mich.
Langsam ließ ich eine Hand sinken und vergrub sie in seinem Fell. „Sie hatte nicht mal die Chance zu leben.“
„Sie lebt nun in Leukos Reich unter seiner Obhut.“
Fast hätte ich geschnaubt. Ich glaubte nicht an Wiedergeburt und ein Leben nach dem Tod. Wer einmal weg war, würde niemals wieder zurückkehren. Das war mir bereits als kleines Kind klar gewesen, als ich verstanden hatte, dass ich niemals einen Vater haben würde.
Ich wusste nicht wie es mir am Ende gelang das Zimmer zu verlassen und auf die Beerdigung zu gehen. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, neben mir zu stehen und alles aus der Ferne zu beobachten, ohne selber daran beteiligt zu sein. Die wenigen Gäste, die ich zugelassen hatte, die Zeremonie und auch das winzige Grab. Ich war taub vor Schmerz.
Das Einzige was mir in Erinnerung blieb, war der Moment, in dem mein Baby in einer kalten Holzkiste in die Erde abgelassen wurde, um dort seine ewige Ruhe zu finden.
Ich merkte nicht, wie die Beerdigung beendet wurde, oder wie Samuel und Sadrija gingen. Ich bekam nicht mit wie Geneva meinen Arm drückte, bevor sie den Friedhof verließ, oder wie Nikolaj sich noch einmal unschlüssig zu mir umdrehte, bevor auch er verschwand. Ich stand einfach nur da und starrte ins Nichts.
Doch Irgendwann kam Diego, nahm meine Hand und brachte mich fort. Zurück blieb nur ein Teil meiner Seele und Sydney, der hoffte, dass ich an diesem Unglück nicht völlig zerbrach und irgendwann zu ihm zurückkehren würde.
Diego brachte mich an den einzigen Ort, an dem ich jemals unbeschwert gewesen war, das Haus meiner Kindheit. Auch wenn es leer stand, es war noch immer Eigentum des Rudels und erlaubte mir zur Ruhe zu kommen.
Aus Stunden wurden Tage, aus Tagen Wochen. Der November verstrich im Nebel meiner Trauer, der Dezember kam und ging und der Januar war nichts als ein kalter Sturm in meinem Herzen. Am Valentinstag schickte Nikolaj mir Blumen. Ich sage Diego nur, es solle sie in den Müll schmeißen.
Die ganze Zeit gab ich meinen kleinen Jungen nicht einmal her. Ich murrte nicht, als er mich die Nacht drei Mal weckte, weil er hunger hatte. Stillen durfte ich ihn nicht, wegen den Medikamenten, die Doktor Ambrosius mir gegeben hatte, daher fütterte ich ihn mit der Flasche. Ich sagte nichts, wenn ich ihn fünfmal am Tag umziehen musste und schaffte es sogar zu lächeln, wenn er auf seinem Wickeltisch lag und mir in die Augen schaute.
Es war Ende Februar, als ich in der Küche stand und für Aric die Flasche vorbereitete. Ich maß gerade die Menge des Milchpulvers ab, als Diego hereinkam.
Er sah das wimmernde Bündel in seiner Wiege liegen, nahm es auf den Arm und lehnte sich mit dem Hintern an die Kochinsel.
Meine Augen folgten jeder seiner Bewegungen. Natürlich wusste ich, dass er ihm nichts tun würde, es war schließlich Diego, aber ich konnte einfach nicht verhindern, dass ich in jedem außer mir eine potentielle Gefahr für meinen Sohn sah.
„Du musst aufhören dich zu verstecken“, sagte Diego und wedelte mit dem Zeigefinger über Aric herum. Der Kleine versuchte sofort danach zu greifen. „Geh wenigsten hinaus in den Garten. Es ist nicht gut, wenn du dich den ganzen Tag im Haus verkriechst.“
„Ich kann nicht rausgehen, es ist zu kalt. Aric könnte sich erkälten.“
„Dann gib ihn für eine halbe Stunde in Ginnys Obhut. Sie ist Personenschützerin, weißt du? Ich bin der festen Überzeugung, dass sie ein Baby nicht nur bewachen kann. Wenn es sein muss, schafft sie es bestimmt auch eine Windel wechseln.“
Das würdigte ich nicht mal mit einer Antwort. Natürlich konnte Ginny mit dem Kleinen umgehen. Genau wie Diego wohnte sie seit fast vier Monatenmit mir in diesem Haus, aber ich würde ihn sicher nicht aus der Hand geben. Die Welt war Böse, an jeder Ecke lauerten Gefahren und ich würde nicht riskieren, dass ihm etwas passiert, nur weil ich mal ein wenig frische Luft schnappen wollte.
Ich nahm Aric aus Diegos Armen und steckte ihm die Flasche in den Mund. Sofort wurde das weinerliche Wimmern durch Nuckelgeräusche ersetzt.
„Du musst langsam wieder zu dir kommen Cayenne.“ Er überlegte kurz. „Wie wäre es, wenn wir einen Kaffee trinken gehen würden?“
„Ich mag keinen Kaffee und das weißt du.“
„Dann einen Kaffee für mich und einen Tee für dich. Ich kann uns mit dem Wagen fahren, dann ist Zwergnase auch nicht der Kälte ausgesetzt. Was meinst du?“
Darüber musste ich nicht einmal nachdenken. „Nein.“
Diego seufzte. „Willst du für den Rest deines Lebens in diesem Haus bleiben? Das ist auch für Aric nicht gut.“ Als ich die Lippen zusammendrückte, wurde sein Blick ein wenig weicher. „Es tut mir Leid Cayenne und ich weiß, dass es schmerzhaft ist, aber es wird Zeit, dass du mit der Vergangenheit abschließt.“
Weil ich sonst meine Zukunft riskierte. Aric war meine Zukunft und Sydney. Ich vermisste Sydney ganz furchtbar, aber ich wusste einfach nicht, ob ich schon bereits dafür war, an den Hof zurückzukehren.
Vom Flur hörte ich Schritte. Gleich darauf erschien Ginny in einem erstaunlich hässlichen Pyjama in der Küche. „Morgen“, gähnte sie und Strich Aric im Vorbeigehen über das Köpfchen. Dann verschwand ihre Nase im Kühlschrank.
„Wie soll ich das machen?“, fragte ich.
„Indem du es versuchst.“
Tat ich das denn nicht schon? Nein, eigentlich versteckte ich mir nur in diesem Haus. Aber vielleicht war es wirklich an der Zeit wieder hinaus in die Welt zu gehen. Wenn es mir zu viel wurde, konnte ich ja immer noch zurück.
Allerdings stand mir nicht der Sinn nach einem Besuch in einem Café. Wenn ich mich von der Vergangenheit befreien wollte, um einen Weg in die Zukunft zu finden, dann müsste ich das anders machen. „Können wir … ich möchte gerne in einen Blumenladen fahren.“
Diego blinzelte einmal. „Du willst Blumen kaufen?“
„Ja.“ Ich lächelte, als auch noch Ginny den Kopf verständnislos aus dem Kühlschrank zog. „Schaut nicht so, ich bin nicht verrückt geworden Ich brauche die Blumen, ich habe damit etwas vor.“
„Lasst mich nur kurz etwas Frühstücken“, sagte Ginny und begann dann damit den halben Kühlschrank leer zu räumen. Es war wirklich erstaunlich, was so ein kleines und zarte Persönchen alles in sich hineinstopfen konnte. „Dann können wir los.“
„Ich muss sowieso erst noch Aric fertig füttern und dann anziehen, kannst dir also Zeit lassen.“
„Euer Wunsch ist mir Befehl.“
Am Ende war Ginny sogar vor mir fertig und stand bereits bei Diego im Flur, als ich mit Aric dazu kam.
Es war ein seltsames Gefühl, nach der langen Zeit das Haus zu verlassen und mit den anderen in ein Auto zu steigen. Noch seltsamer war es in einen Laden zu gehen und ein halbes Dutzend weiße Lilien zu kaufen.
Aric baumelte währenddessen in seiner Babyschale an meinem Arm und als die Verkäuferin sich vorbeugte, weil er so süß war und sie ihn besser sehen wollte, hätte ich fast geknurrt. Das war eindeutig zu nahe.
Als wir es dann ohne Zwischenfälle samt Blumen zurück in den Wagen geschafft hatten, schaute Diego mich durch den Rückspiegel an. „Wohin jetzt?“
„Zur Uni.“
Diego zog zwar eine Augenbraue hoch, enthielt sich aber jeglichen Kommentars und brachte uns an den Ort, wo all das begonnen hatte.
Es war lange her, doch sobald wir hielten, strömten die Erinnerungen nur so auf mich ein. Als wir aus dem Auto stiegen, wurde es sogar noch schlimmer. Hier hatten ich Raphael nicht nur kennengelernt, hier hatte ich ihn auch zum ersten Mal geküsst und das Geheimnis meiner Existenz herausgefunden. Ein ganzes Leben schien zwischen damals und heute zu liegen.
Eine ganze Weile stand ich einfach nur vor dem Haupttor und ließ mich von meinen Erinnerungen treiben – sowohl von den Guten, als auch von den Schlechten. Dann legte ich eine der Lilien oben auf die Mauer, sagte ihnen Lebewohl und kehrte ihnen den Rücken.
Diego hatte recht gehabt, es war Zeit mich von der Vergangenheit zu verabschieden und die Sehnsucht nach ihr hinter mir zu lassen.
Das war nur die erste Station auf meinem Weg. Wir fuhren in das kleine Eiscafé, in dem Raphael mir den Heiratsantrag gemacht hatte und auf die Wiese, wo er und Tristan mir Unterricht in Selbstverteidigung gegeben hatten. Wir fuhren auch zu dem Flohmarkt, den wir Fluchtartig hatten verlassen müssen, weil Isaacs Leute hinter uns her gewesen waren.
An all diesen Orten ließ ich eine einzelne Lilie zurück und verabschiedete mich von meinen Erinnerungen und damit auch von Raphael.
Als nur noch eine Blume übrig war, stand ich vor dem alten Hochhaus, in dem Raphael und Tristan einmal gewohnt hatten. Hier hatte er zum ersten Mal versucht mich zu küssen. Und auch hier hatte er die ganze Nacht über mich gewacht, als mein Wolf zum ersten Mal sein Haupt erhoben hatte.
„Ich werde dich nie vergessen“, sagte ich leise und legte mein symbolisches Opfer direkt neben die Haustür. „Lebe wohl, wo auch immer du sein magst.“
Langsam wurde Aric in meinen Armen unruhig. Wir waren bereits seit Stunden unterwegs und ständig in die Babyschale geschnallt zu werden, gefiel ihm nicht besonders. Er wimmerte kläglich und wollte in seine vertraute Umgebung zurück.
Er hatte recht, es war vorbei. Und auch wenn mein Herz schwer war und ich mich durch diesen Abschied nicht wirklich freier fühlte, es war an der Zeit das Alte hinter mir zu lassen und in mein Leben zurückzukehren. Ich hatte mein Baby und ich hatte Sydney, mehr brauchte ich nicht um glücklich zu sein.
Trotzdem fiel es mir nicht ganz leicht mich abzuwenden und zum Wagen zurück zu kehren.
Diego behielt mich aufmerksam im Auge, als ich den jammernden Aric wieder in seine Schale schnallte. Im Gegensatz zu Ginny, wusste er, was diese Orte für eine Bedeutung für mich hatten. „Wohin möchtest du jetzt?“
„Nach Hause“, sagte ich und setzte mich zu Aric auf den Rücksitz. Nicht ins Schloss, noch nicht, aber sicher bald.
Diego nickte, klemmte sich wieder hinters Steuer und startete den Motor. Langsam rollten wir vom Bordstein weg.
Den Rest des Tages dachte ich viel nach. Über mich, die Lykaner und den Hof. Ich dachte über das nach was geschehen war, was ich bisher erreicht hatte und was noch zu tun war. Besonders über den letzten Punkt grübelte ich bis spät in die Nacht.
Was der Skhän in dem Verhörraum gesagt hatte, war schon richtig gewesen. So wie die Dinge lagen, würde ich dem Abschaum dieser Welt niemals zu Leibe rücken können und Dreckskerle wie er würden weiterhin unbeirrt ihren Geschäften nachgehen. Was ich brauchte waren Leute, die nicht an die Gesetzte gebunden waren und auch bereit waren, bis zum Äußersten zu gehen, wenn die Situation es erforderte. Was ich brauchte, waren die Themis.
Fast hätte ich über diesen Gedanken gelacht. Eine Gruppe wie die Themis aufzubauen, würde Jahre dauern und diese Zeit hatte ich einfach nicht.
Seufzend rieb ich mir die Schläfen. Mein Kopf rauchte vom ganzen Nachdenken und durchs Rumsitzen würde ich sicher nicht weiter kommen.
Um mich ein wenig abzulenken, drehte ich mich auf meinem Schreibtischstuhl herum und schaute zum Bett, wo Aric, in einem Nest aus Kissen und Decken, friedlich den Schlaf der Gerechten schlief.
Früher war mir der Gedanke an eigene Kinder immer unheimlich gewesen, doch nun, wo ich ihn bei mir hatte, würde ich alles für ihn tun. Allem voran, eine bessere Welt schaffen.
Gerade als ich mich erheben wollte, drang ein leises Kratzen an meine Ohren. Zuerst glaubte ich, dass es von der Tür kam, aber die war offen und der Flur dahinter leer und dunkel. Erst als ich es ein zweites Mal hörte, konnte ich ihm zu seinem Ursprung ausmachen. Es kam vom Fenster.
Äußerst wachsam stand ich auf und schlich durch das Zimmer, bereit im Notfall nach Diego und Ginny zu brüllen. Doch als ich nur noch einen halben Meter entfernt war, erstarrte ich. Durchs Fenster hindurch starrten mich zwei grüne Augen an.
Im ersten Moment glaubte ich, dass meine Phantasie mir einen Streich spielte und mir etwas aus meiner Erinnerung vorgaukelte, doch dann hörte ich wieder das Kratzen erneut, genau wie das missmutigen Miauen.
Oh mein Gott, das war mein Kater Elvis!
Ich eilte so schnell zum Fenster, dass ich mir fast den Zeh stieß.
Als es dann offen war und Elvis mir einen empörten Blick zuwarf, weil ich ihn hatte warten lassen, konnte ich es immer noch nicht glauben. Aber es war Real. Vor mir auf dem Fensterbrett saß ein schwarzer Kater, mit einer kleinen Haartolle, die in den letzten Jahren ein paar graue Haare bekommen hatte. Klar, er war auch nicht mehr der Jüngste.
„Elvis“, hauchte ich und nahm ihn auf den Arm. Sofort warf er seinen Motor an.
Wie kam er nur hier her? Ich hatte ihn das letzte Mal gesehen, bevor wir zu dem Auftrag im Sklavenlager aufgebrochen waren. Damals, im Wohnwagen mit … Raphael. Mein Kopf führ so schnell herum, dass ich meine Wirbel knacken hörte. Nicht mal eine Sekunde brauchte ich, dann hatte ich ihn lokalisiert. Da, mitten auf dem Gehweg vor unserem Gartenzaun stand er und blickte mit diesen schönen, hellblauen Augen zu mir herauf. Sein Gesicht lag im Schatten, aber ich brauchte diese vertrauten Züge nicht, um zu wissen, dass er es war.
Oh Gott, er war hier, er war wirklich hier!
Nur Sekunden sah er zu mir herauf, dann wandte er sich einfach ab.
„Nein!“ Ich setzte Elvis zurück aufs Fensterbrett und rannte so schnell ich konnte aus meinem Zimmer.
Von meinen Schrei in Alarm versetzt, stolperte Diego mit nichts als Boxershorts in den Flur, gerade als ich die letzte Stufe erreicht hatte. Ich rief ihm noch zu, nach Aric zu sehen, dann war ich auch schon aus dem Haus, durch den Garten und kaum eine Sekunde später auf der Straße.
Raphael stand noch immer auf dem Gehweg neben unseren Zaun und sah mich einfach nur an, als ich schwer atmend vor ihm zum stehen kam. Er hatte sich kaum verändert. Sein Haar war etwas länger als früher und sein Kinn markanter. Er steckte in einem langen Mantel, der ihm bis zu den Knien reichte.
Nach wie vor überragte er mich, aber was mich wirklich interessierte, war sein Gesicht, das ihn älter wirken ließ. Die vollen Lippen, die ich immer so gerne geküsst hatte, die hellen, eisblauen Augen.
Wie konnte er hier sein, wo ich mich gerade heute doch von ihm verabschiedet hatte? Wie konnte allein sein Anblick ausreichen, um mich in eine Zeit zurück zu katapultieren, die ich doch hinter mir lassen wollte?
Als er dann auch noch seine Hand hob und mir in dieser vertrauten Geste eine verirrte Strähne hinters Ohr strich, vergaß ich alles andere um mich herum. Seine Berührung entfachte eine lange verborgene Sehnsucht in mir. Ich packte ihn einfach am Kragen, zog ihn zu mir herunter und küsste ihn, wie ich es früher immer getan hatte.
Raphael leistete keinen Moment Gegenwehr. Er schlang die Arme um mich, zog mich fest an sich und erwiderte den Kuss, wie ein Verdurstender. Darin spürte ich nicht nur sein Verlangen nach mir, es war die gleiche Sehnsucht, die auch mich ergriffen hatte und mich dazu trieb die Knöpfe an seinem Mantel zu öffnen, bis ich freien Zugang hatte und meine Hände unter sein Hemd schieben konnte. Gott, ich hatte es schon immer geliebt, seine Haut zu berühren und zu spüren, wie seine Muskeln unter meinen Fingern zuckten.
Ich fühlte seinen warmen Atem und das Rasen seines Herzens, genauso wie seine Hände, die über meinem Rücken zu meinem Hintern wanderten und mich noch enger an ihn drückten. Aber er war zu sanft und ging nicht weit genug. Ich bekam einfach nicht genug von ihm zu spüren, also stieß ich ihn mit dem Rücken gegen den Zaun. So konnte er mir wenigstens nicht entkommen.
Wir atmeten beide heftig, als er seine Hände in meinem Haar vergrub, während meine Lippen an seinen Hals wanderten. Er liebte es, wenn ich ihn dort küsste. Meine Hände bewegten sich ´gen Norden und öffneten den Knopf seiner Hose, doch als ich meine Hand hinein schob und ihn umfasste, schoss sein Arm nach vorne und hielt mich fest.
„Warte.“ Seine Stimme klang rau und abgekackt.
Ich dachte nicht im Traum daran, jetzt auf irgendwas zu warten, nicht wenn er vor mir stand und mir praktisch ausgeliefert war. Ich biss ihn, genau an der Stelle, an er Vampire das normalerweise taten.
Raphael sog scharf die Luft ein. „Bambi, stopp, hör auf.“
Ich küsste die Stelle und schaffte es meine Hand trotz seines Griffes langsam auf und ab zu bewegen.
„Cayenne, halt!“ Ruckartig schob er mich ein Stück zurück. Sein Atem ging schnell und das hatte nicht nur etwas mit der Hand zu tun, die da in seiner Hose steckte. „Du musst aufhören.“
Das wollte ich aber nicht. Vieles kam mir im Moment in den Sinn, aber Aufhören rangierte da ganz weit unten auf der Liste. „Warum?“
Raphael stieß einen kleinen Lacher aus. „Weil wir hier mitten auf der Straße stehen und das im Winter.“
Ich sah nach rechts und nach links. Da trieb sich keine Seele herum. „Wir sind allein. Und ich werde schon dafür sorgen, dass dir warm wird.“
Als ich mich wieder nach vorne beugen wollte, hielt er mich noch fester. „Wir sind nicht alleine. An deinem Fenster steht jemand.“
Tatsächlich, da stand Diego, mit meinem kleinen Wonneproppen auf dem Arm.
Das war wie eine eiskalte Dusche.
Ruckartig riss ich mich von Raphael los und stolperte ein paar Schritte zurück. Verdammt, wie hatte ich mich so hinreißen lassen können? Ich hatte jetzt ein Baby und einen Gefährten. Aber noch viel wichtiger, ich hatte Sydney, mein Sydney, den ich liebe.
Aber nur ein Blick auf Raphael und das alles war für einen Moment vergessen gewesen. Und jetzt stand ich hier und wusste weder was ich tun, noch was ich denken sollte. „Tut mir leid.“ Naja, das war wenigstens ein Anfang.
„Mir nicht.“ Er schloss seine Hose sehr provokant, als wollte er mich extra noch einmal darauf hinweisen, was ich gerade getan hatte. Seine Erregung konnte ich nicht nur in dem Glanz seiner Augen und den geschwollenen Lippen ablesen.
Jetzt, wo die Luft raus war, herrschte zwischen uns unangenehmes schweigen. Es gab so viel, was ich ihm sagen wollte, von dem ich aber gleichzeitig wusste, dass ich es für mich behalten musste. Ich sah die Fragen in seinen Augen, die gleiche Unsicherheit, die auch ich verspürte. Krampfhaft versuchte ich mir etwas einfallen zu lassen, doch mein Hirn produzierte nur Müll. Hallo? Jemand zuhause da oben? Ich dürfte doch um ein bisschen positive Produktivität bitten! „Also … hm … was hast du so getrieben?“
„Dies und das.“ Er zuckte die Schultern.
Super, jetzt war ich kein bisschen schlauer wir vorher. „Du warst verschwunden, Tristan und die anderen machen sich sorgen um dich.“
Seine Augen blitzen auf. „Du hast dich nach mir erkundigt?“
„Natürlich!“ Dachte er vielleicht, dass nur weil ich nicht mehr mit ihm zusammen war, mich sein Leben ein Scheiß interessierte? Naja, so wie ich ihn abserviert hatte, konnte man wohl leicht auf diesen Gedanken kommen. Und wie ich leider zugeben musste, hatte es über ein Jahr gedauert, bevor ich überhaupt den Versuch unternommen hatte, etwas über seinen Verbleib zu erfahren. Doch das musste ich ihm ja nicht unbedingt unter die Nase reiben.
Sein Mundwinkel wanderte ein Stück nach oben, während er auch wieder seinen Mantel schloss. „Ich habe mich zurückgezogen und lebe nun unter Menschen. Nachdem du weg warst konnte ich nicht …“ Er schloss abrupt den Mund und richtete seinen Blick auf den Boden. „Ich konnte das nicht mehr.“
Weil ich ihn verletzt und sein Herz zu Kleinholz verarbeitet hatte. „Du hättest bei deiner Familie bleiben sollen. Sie vermissen dich.“
„Du warst meine Familie“, sagte er leise. Und dann breitet sich wieder diese drückende Stille zwischen uns aus.
Das kannte ich gar nicht von uns und ich empfand es als unangenehm. Zwischen uns hatte es immer nur zwei Möglichkeiten gegeben. Entweder waren wir verliebt wie am ersten Tag, sodass alle anderen um uns herum schon völlig genervt waren, oder wir haben uns bis aufs Blut bekriegt, was die anderen um uns herum auch völlig genervt hatte.
Als die Stille immer länger wurde und ich zusah, wie auch der letzte Knopf seines Mantels wieder in sein Loch fand, bekam ich es mit der Angst zu tun. Wenn ich jetzt nichts sagte, würde er einfach wieder aus meinem Leben verschwinden und auch wenn ich wusste, dass das eigentlich das Beste war, durfte ich das nicht zulassen. Also fragte ich das erstbeste, was mir in den Sinn kam. „Woher wusstest du, dass ich hier bin?“ Das war nicht mal eine blöde Frage, schließlich hielt ich mich offiziell im Hof auf, um mich von den Strapazen der Geburt zu erholen. Dass ich hier war, wussten nur die Wenigsten.
Er zuckte mit den Achseln. „Ich habe dich gesehen.“
Eine steile Falte er schien auf meiner Stirn. „Gesehen?“
Aus den Tiefen seines Mantels zog er eine weiße Lilie. Sie war zerknickt und plattgedrückt, doch mir war sofort klar, dass es eine von meinen sein musste. „Elvis saß am Fenster und hat rumgezappelt und gequakt, solange, bis ich gucken gekommen bin und da hab ich dich draußen auf der Straße gesehen, wie du gerade zu Diego in den Wagen gestiegen bist.“
„Fenster? Du meinst …“ Ich sah auf die Blüte „Du wohnst in der Wohnung von Damals?“
Er verzog seine Lippen zu diesem schelmischen Lächeln. „Nicht ganz, ich wohne in der Wohnung darunter. In der anderen Wohnung lebt nun eine ältere Frau.“
„Aber … warum? Deine Familie vermisst dich.“
„Und das weißt du, weil du wieder so engen Kontakt zu ihnen hast?“
„Hin und wieder“, erklärte ich wage. Und wieder breitete sich zwischen uns das Schweigen aus. Ich versuchte ein neues Thema zu finden, doch bevor mein Hirn etwas gescheites ausspucken konnte, hörte ich, wie Aric anfing zu weinen. Es war Zeit für sein Fläschchen.
Unschlüssig sah ich von Raphael zum Fenster, wo Diego mit Aric auf dem Arm stand und uns wachsam beobachtete. All meine Instinkte befahlen mir, sofort nachzusehen, ob mit ihm auch alles okay war, aber ich befürchtete, dass Raphael dann einfach wieder verschwinden würde. Aric oder Raphael? Die Muttergefühle siegten über die Vergangenheit. „Ich muss rein.“
Raphael folgte meinem Blick. „Wem gehört das Baby?“
Wem … natürlich. Wenn er sich von der verborgenen Welt zurückgezogen hatte und jetzt unter Menschen lebte, dann hatte er keine Ahnung von dem Aufruhr, der letzten September im Rudel geherrscht hatte.
Als ich nicht antwortete, sah Raphael mich wieder an und in meinen Augen musste er wohl die Wahrheit lesen können. „Es ist deines.“
Ich schaffte es nicht mal zu nicken. Wie konnte ich ihm sagen, dass ich das Kind von einem anderen zur Welt gebracht hatte?
„Hört sich so an, als würdest du gebraucht.“ Traurig sah er mich an und ich wusste, dass er unsere Trennung noch nicht mal annähernd verarbeitet hatte. „Du solltest gehen.“
„Ja.“ Aber ich bewegte mich nicht, konnte es einfach noch nicht. „Wirst du … ich meine …“ Mist!
„Werde ich was?“
Okay, Augen zu und durch. „Du wirst doch nicht einfach wieder verschwinden, oder?“
Das Lächeln auf seinen Lippen, erreichte seine Augen nicht. Er trat an mich heran und berührte meine Wange so sanft, dass ich davon eine Gänsehaut bekam. „Ich bleibe da wo ich bin, Bambi.“
Als er sich vorbeugte, wusste ich, dass ich eigentlich zurückweichen sollte. Stattdessen schlossen sich meine Lider flatternd, damit ich die Berührung seiner Lippen auch mit allen Sinnen spüren konnte.
„Ich habe dich nie vergessen“, sagte er leise und trat wieder zurück.
Als ich die Augen öffnete, hatte er sich bereits abgewandt und lief langsam die Straße hinunter.
Ich schaute ihm hinterher, bis er in seine Seitenstraße abbog, erst dann schaffte ich es mich vom Fleck zu bewegen und zurück ins Haus zu gehen.
Diego war in der Zwischenzeit mit dem unleidlichen Aric in der Küche und versuchte gleichzeitig den kleinen Jungen zu beruhigen und das Milchpulver in die Flasche zu füllen.
Wortlos nahm ich ihm den Messlöffel aus der Hand und übernahm das Befüllen, während ich noch immer das Bild vor Augen hatte, wie Raphael mit hochgezogenen Schultern einsam in die Nacht verschwand. So war das nicht geplant gewesen. Eigentlich sollte er bei seiner Familie sein, aber wie konnte ich ihn dazu bekommen, wieder zu ihnen zurückzukehren?
„Schhh“, machte Diego und wippte den Kleinen auf seinem Arm. „Mami ist ja gleich so weit.“
Leider war das in Arics Augen aber nicht schnell genug. Da rollte bereits ein dickes Tränchen aus seinem Augenwinkel.
„Ja ich weiß“, erklärte Diego mit sanfter Stimme. „Die Welt ist ungerecht.“
Mitten in der Bewegung schaute ich auf. Gerecht. Fiat iustitia. Aber natürlich, die Lösung waren die Themis! So konnte ich sogar zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Warum war ich nicht schon früher darauf gekommen?
Mit einem breiten Lächeln begann ich die Milch zu schütteln. „Sag mal, wer hat dir eigentlich erzählt, was ich nach meinem Verschwinden so getrieben habe?“
Das Thema schien ihn ein wenig zu überraschen. Wahrscheinlich wollte er eher wissen, was das zwischen mir und Raphael gerade gewesen war. „Lucy.“
Okay, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte gehofft, es wüsste es von Roger oder Tristan. „Du hast Kontakt mir ihr?“
„Sporadisch.“
Ich überprüfte die Temperatur der Milch und nahm Diego dann meinen unleidlichen Sohn aus den Armen. Sobald er die Flasche im Mund hatte, war seine Welt wieder in Ordnung. „Meinst du, du könntest deinen sporadischen Kontakt dazu benutzen, eine Nummer für mich rauszubekommen?“
Diegos Stirn furchte sich ein wenig. „Welche Nummer brauchst du denn?“
„Sag ihr einfach, ich würde gerne mit Murphy sprechen.“ Mit dem kam ich nicht nur besser klar, als mit Miguel, er war auch kein Abtrünniger.
„In Ordnung.“ Als ich ihn abwartend anschaute, fragte er: „Jetzt gleich?“
„Wenn es keine Umstände macht.“
Er warf einen Blick auf die Küchenuhr. Es war kurz nach zehn. „Ich schau mal was ich machen kann.“
Als er aus der Küche verschwand, um sein Handy zu holen, lehnte ich mich an den Tresen und schaute Aric dabei zu, wie er an seiner Flasche nuckelte. Wenn meine Idee funktionierte, dann würde ich nicht nur Raphaels Welt in Ordnung bringen können, ich könnte auch viele Lykaner vor einem grausamen Schicksal bewahren.
°°°
„Wo ist Berater Archie?“ Das war meine erste Frage, als ich quer durch die Eingangshalle in die Bibliothek trat. Kaum eine Sekunde später schwirrte die halbe Besatzung des Hofes um mich herum, als sei ich der Mittelpunkt ihres Universums.
„Ich bin hier, Euer Majestät.“
Überrascht wandte ich den Kopf, hielt in meinem Schritt aber nicht inne. Das ging ja noch schneller als gehofft. „Oh gut. Ich habe eine Frage. Wie gut ist das alte Wirtschaftsgebäude an der Westmauer noch erhalten?“
„Es wird seit Jahren nicht nur noch als Abstellmöglichkeit genutzt“, antworte er prompt.
Das hatte ich mir gedacht. „Ich möchte, dass Sie ein paar Leute zusammentrommeln und das Gebäude leerräumen. Es muss sofort wieder in Schuss gebracht werden. Schmeißt den ganzen Schrott darin raus, lassen sie Maler kommen, oder was auch immer man dafür brauch. Es muss alles wieder in Ordnung gebracht werden. Böden, Wände, Türen, Fenster. Besorgen Sie, was sie brauchen.“ Ich öffnete die die Tür zu meinem Büro. Im Kamin prasselte ein schönes Lagerfeuer, das den ganzen Raum erwärmte. Ja, ich hatte angerufen, bevor ich heute Morgen mit Sack und Pack Berlin verlassen hatte.
Vorsichtig legte ich Aric in den kleinen Laufstall, bevor ich mich an meinen Schreibtisch setzte und meinen Computer einschaltete. „Außerdem möchte ich, dass das Nebentor an der Westmauer wieder instandgesetzt wird. Es soll mit einem Fingerabdruckscanner elektronisch gesichert werden. Erkundigen Sie sich, was dafür benötigt wird und dann kümmern sie sich bitte darum.“
Archie nickte, zog sein kleines Büchlein hervor und machte sich Notizen.
„Betrauen sie außerdem jemanden mit dem Finanzplan, über dem wir am Telefon gesprochen haben. Und die Gesetzesvorlage, die ist ganz wichtig.“
„Natürlich.“
„Und irgendjemand könnte bitte einen Baumeister, oder Gutachter oder sowas an den Hof beordern.“ Ich musste dringen mit jemanden sprechen, der Ahnung von Bausubstanz hatte. „Collette“, sprach in meine Kammerzofe an, die sofort stramm stand, als würde ich zum Appell rufen. Voll niedlich. „Geh doch bitte und sag Sydney Bescheid, dass ich zurück bin.“ Ich wollte ihn so dringend sehen, besonders, nachdem was vor drei Tagen mit Raphael geschehen war.
Auch Raphael gehörte mit zu meinem Plan und ob es nun klug war oder nicht, heute Morgen, bevor ich hier her gefahren war, hatte ich ihm Elvis mit einer Nachricht am Halsband vor die Tür gesetzt. Ich hoffte nur, dass Raphael auch auf sie reagieren würde und zwar so, wie ich mir das vorstellte. Wenn nicht, musste ich mir etwas Neues einfallen lassen.
„Natürlich, Königin Cayenne.“ Collette machte einen Knicks und eilte dann davon.
„Diego, kannst du bitte am Tor Bescheid geben, dass sie meinen Gast sofort zu mir bringen sollen, wenn er eintrifft?“
„Bin schon weg.“ Wortwörtlich. In der einen Sekunde stand er noch da, in der nächsten war er verschwunden. Gänsehaut. Ich würde mich wohl nie wirklich daran gewöhnen können, dass Umbra sich praktisch in Luft auflösten auflösen konnten.
Mindestens ein Dutzend weiterer Bediensteter warteten geduldig an meiner Bürotür. Entweder weil sie auch eine Aufgabe erwarteten, oder weil sie Neuigkeiten für mich hatten. Aber die konnte ich jetzt nicht gebrauchen, ich musste mich jetzt auf meinen nächsten Schritt konzentrieren. „Husch, hinaus mit euch, sucht euch eine Beschäftigung, ich hab jetzt keine Zeit.“ Und die hatte ich wirklich nicht.
Noch bevor ich mit Aric alleine war, schrieb ich schon den ersten von drei Briefen, adressiert an Earl Emil Munt. Der Rat wollte lieber neue Gesetze erlassen, als sie alten zu ändern? Okay, dieses Spielchen konnte ich mitspielen. Das hatte ich bereits auf dem Weg hier her mit Archie am Telefon durchgesprochen. Ich würde den Rat einfach überrennen und sie würden nichts dagegen tun können.
Natürlich musste ich es ihnen trotzdem mitteilen, jedem Einzelnen und das tat ich. Ich beendete gerade den ersten Brief, als Sydney zu mir ins Büro kam. Meine Finger verharrten über den Tasten und ich sah nur noch ihn. Zwar packte mich für einen kurzen Moment das schlechte Gewissen, wegen dem was mit Raphael geschehen war, aber das Glücksgefühl, das mich bei seinem Anblick überkam, überwog alles andere. „Hey.“
Sydney kam direkt zu mir und schmiegte seinen Kopf in meinen Schoß. „Ich habe Euch vermisst.“
„Und ich dich.“ Wie sehr ich ihn vermisst hatte, merkte ich erst in diesem Moment. Gott, wie hatte ich es nur so lange ohne ihn aushalten können? Und wie sollte ich ihm nur das mit Raphael beibringen? Ich wollte es ihm nicht verheimlichen, aber ich wollte ihn auch nicht verletzen.
„Wichtig ist nur, dass Ihr wieder hier seid.“
„Es tut mir leid, dass ich gegangen bin.“ Ich ließ die Arbeit einen Moment ruhen und schlang die Arme um ihn. „Ich brauchte einfach die Zeit, um wieder mit mir selber klar zu kommen.“
„Darum habe ich Euch auch nicht aufgehalten. Ich wusste, dass Ihr zu mir zurückkommen würdet.“
Ja, denn hier gehörte ich hin. „Es tut mir trotzdem leid.“
„Sorgt Euch nicht, mir geht es gut.“
In seinem Laufstahl, quakte Aric und strampelte.
Sydney stellte die Ohren auf und trottete dann nach einem kurzen Blick zu mir zu Laufstall hinüber. Sobald der große Wolf sich an dem Stall aufstellte und von oben hineinsah, quietschte Aric freudig.
„Er ist groß geworden.“
Und da kam das schlechte Gewissen Nummer zwei. „Es tut mir leid, dass du die letzten Monate verpasst hast.“
„Nein, hört auf Euch zu entschuldigen. Es war richtig, was Ihr getan habt. Ihr habt die Ruhe gebraucht. Es tut mir nur Leid, dass ich nicht in der Lage war, Euch zu begleiten.“
Das ließ mich lächeln. „Vielleicht sollten wir aufhören, uns beieinander zu entschuldigen, sonst sitzen wir morgen noch hier.“
Als er leise lachte, merkte ich, dass ich auch das vermisst hatte. „Euer Wunsch ist mir Befehl.“
„Wenn ich hier fertig bin, müssen wir dringend …“
Ein Klopfen am Türrahmen unterbrach uns. Draußen stand lächelnd Markis Louis Audet, Nikolajs Freund mit einem Stapel Aktenordnern unter dem Arm. „Königin Cayenne.“ Er deutete eine leichte Verbeugung an und stolzierte in mein Büro, als wäre es seines. „Ich freue mich, dass Ihr wieder zurück seid.“
„Warum?“ Nein, ich konnte Louis noch immer nicht mehr leiden, als am Tag meiner Hochzeit. Aber ich musste ihn dulden. Nicht nur weil er Nikolajs Freund war, er hatte meinen Mann während meiner Schwangerschaft viel geholfen.
„Natürlich weil Ihr hier gebraucht werdet, Ihr seid schließlich unser Alpha.“
Oh je. Ich widmete mich wieder meinem Computer, um den Brief fertig zu stellen. Nur noch die Abschlusszeile, dann konnte ich ihn ausdrucken. „Was willst du? Ich bin beschäftigt.“
„Ich will auch nicht lange stören, ich möchte nur etwas abgeben, in das Ihr einen Blick werfen müsst.“ Er legte den Stapel Akten direkt vor meine Nase.
„Was ist das?“ Ich änderte die Adresszeile von Earl Emil in Fürstin Inka und druckte den Brief ein zweites Mal aus.
„Eine Zusammenfassung über Bewerberinnen für Euren Sohn. König Nikolaj hat bereits eine Vorauswahl getroffen, Ihr müsst also nur noch einen Favoriten auswählen, dann leite ich alles andere in die Wege.“
Ich druckte den Brief noch ein drittes mal für die Baroness aus. „Bewerberinnen?“
„Natürlich. Wie Ich wisst, ist es Tradition, das einem geborenen Alpha nach der Geburt ein zukünftiger Gefährte ausgesucht wird …“
Meine Hände erstarrten mitten in der Bewegung.
„… und da Ihr nun zurück seid, ist es an der Zeit, dass auch Prinz Aric diese Tradition zuteil wird.“
Langsam wanderten meine Augen auf die Ordner vor meiner Nase. Ich sollte mein Sohn an irgendeine dahergelaufene Familie verschachern? Vielleicht auch noch so eine an die man mich ausgeliefert hatte? Saßen ihm seine Hosen vielleicht zu eng? Ich griff den Stapel, ohne auch nur einen Blick hineinzuwerfen und erhob mich von meinem Platz. Ich spürte praktisch, wie Sydney und Markis Louis mich auf meinem Weg zu Kamin mit den Augen verfolgten und zusahen, wie ich diese Ordner einfach ins Feuer warf.
„Nein, was macht Ihr da?“, rief Louis entsetzt.
„Das einzig Richtige“, gab ich zurück und drehte mich zu ihm um. „Ich werde meinen Sohn nicht in diese Tradition drängen. Wenn er sich einmal eine Gefährtin nimmt, dann weil er das will und nicht weil ich oder irgendein dummes Gesetz das von ihm verlangt.“
„Aber es ist Tradition …“
„Raus“, knurrte ich. „Und wage es ja nicht mich nochmal damit zu belästigen.“
Doch so leicht ließ Louis nicht abwimmeln. „Aber wenn er sich nun keine Gefährtin nimmt? Wenn …“
„Dann kann ich immer noch mit ihm reden, aber hier und heute werde ich kein Mädchen für ihn aussuchen und wenn du meine Geduld nicht auf die Probe stellen willst, solltest du deinen Arsch ganz schnell aus meinem Büro bewegen. Und vergiss beim Rausgehen nicht die Tür hinter dir zu schließen.“
Er wollte den Mund ein weiteres Mal öffnen, aber als ich knurrte, machte er verärgert auf dem Absatz kehrt und verließ mein Büro. Irgendwie brachte er es dabei fertig, die Tür leise hinter sich zu schließen. Ich an seiner Stelle hätte sie geknallt.
„Das wird sicher noch ein Nachspiel haben“, bemerkte Sydney.
„Soll ich Aric etwa einfach verhökern?“ Ich setzte mich zurück auf meinen Platz und nahm Wachs und Siegel aus der Schublade – ja, mit sowas arbeite ich wirklich. „Du weißt doch, wie überaus erfolgreich das bei mir funktioniert hat.“
In Erinnerung daran, legte Sydney die Ohren an. „Nein, das möchte ich nicht.“
„Dachte ich mir schon.“ Ich zog die Briefe heran, zündete eine Kerze an und träufelte ein wenig Wachs unter die letzte Zeile. „Es ist mir egal, was die Betas sagen, ich werde meinen Sohn zu nichts zwingen, was er nicht selber will.“ Ich drückte das Siegel hinein, wartete einen Augenblick und unterschrieb dann.
„Das wird auf sehr viel Widerstand stoßen, ich hoffe das wisst Ihr.“
Ich verstaute den Brief in einem Umschlag und wiederholte die ganze Prozedur dann mit dem nächsten. „Hältst du mich für Dumm? Das ist mir schon klar, aber ich bin hier Königin durch Blut, mein Wort ist Gesetz, mein Wille geschehe und so weiter. Sie könnten mir nur was, wenn sie mich absetzten, aber dann hätten sie auch keinen Aric mehr und das wollen sie nicht riskieren.“
„Das ist ein riskantes Spiel, das Ihr da spielt.“
„Wann war mein Leben mal nicht riskant?“
Er seufzte. Das tat er in meiner Gegenwart ziemlich oft. „Ich möchte Euch einfach nur raten vorsichtig zu sein. Vielleicht könnt Ihr so den Großteil des Rudel kontrollieren, aber König Nikolaj wird da sicher anderer Meinung sein.“
„Nikolaj ist hier nicht das Problem. Ich muss mich vor Jegor in acht nehmen, er ist die treibende Kraft hinter dem Ganzen.“ Ich legte den zweiten Brief zu dem ersten und machte mich über den Dritten her. „Nikolaj würde Vivien und Anouk nichts tun.“
Sydney zögerte einen Moment, bevor seine Stimme in meinem Kopf zurückkehrte. „Habt ihr schon mal daran gedacht, mit Vivien zu sprechen? Ihr Gefährte ist ein großer Umbra. Es sollte ihm nicht schwer fallen, seine Familie zu beschützen.“
„Das geht nicht.“ Ich drückte das Siegel in den Wachs und legte es dann zur Seite, bevor ich zu ihm rüber schaute. „Ich möchte, dass Vivien und ihre Familie zur Ruhe kommen können. Was glaubst du, was passiert, wenn sie erfährt, dass dieses Arschloch noch immer ein Auge auf sie gerichtet hat? Ihr Mann würde versuchen sie einzusperren, um sie beschützen zu können. Dann hat sie genau das, wovor ich sie bewahren will.“
Sydney kam auf die Beine und trabte zu mir herüber. Schon ganz automatisch legte ich ihm eine Hand auf den Kopf und kraulte ihm hinterm Ohr. Ja, er war kein Hund, aber er mochte es und ich mochte es ihn zu berühren.
„Manchmal seid Ihr einfach zu gut für diese Welt.“
„Bist du sicher? Die meisten die mich kennen, halten mich eher für ein Ärgernis.“
„Weil sie nicht wissen, was Ihr alles bereit seid für sie zu opfern.“
Nein, außer Sydney wusste das wirklich keiner. Er war der Einzige, der über jede Kleinigkeit in meinem Leben Bescheid wusste, ihm konnte ich alles erzählen, ohne befürchten zu müssen, dass er sich von mir abwandte.
Wirklich alles?, fragte die kleine Stimme in meinem Kopf und erinnerte mich daran, was am Abend vor drei Tagen passiert war. Das schlechte Gewissen packte mich mit einmal derart, dass mir richtig schlecht wurde.
Sydney, der meine plötzliche Unruhe spürte, sah zu mir auf. „Was habt Ihr?“
„Ich …“ Nein, das konnte ich ihm nicht sagen. Es würde ihn nur unnötig verletzen. „Nichts, alles in Ordnung.“
Er kniff leicht die Augen zusammen. „Die Unwahrheit wird Euch nicht befreien. Sagt mir was Euch belastet. Ihr wisst, Ihr könnt mit mir über alles reden.“
Da war ich mich nicht so sicher. „Sydney, ich habe getan und …“ Verdammt. „Egal, vergiss es einfach.“ Als ich mich abwenden wollte, schlüpfte er halb unter meinen Schreibtisch und stellte sich mit den Vorderbeinen an meinem Stuhl so auf, dass ich ihm in die Augen sehen musste.
„Was habt ihr getan? Sagt es mir“, forderte er.
„Ich hab …“ Es klopfte an der Tür. Puh, Rettung in letzter Sekunde. Ich war dankbar, wer auch immer dort draußen stand. Selbst wenn es ein Markis Schleim wäre. Und das sollte schon was heißen, wenn man bedachte, wie sehr ich diesen Wolf verabscheute. So sehr fürchtete ich mich davor, Sydney die Wahrheit zu erzählen. „Herein.“
Diego öffnete die Tür, stutzte einen Moment, als er mich mit Sydney sah, behielt jeglichen Kommentar in dieser Richtung aber für sich. „Dein Besuch ist da.“
„Oh gut, kommt rein. Und schließt die Tür. Ich will keine neugierigen Zuhörer.“ Als Sydney keine Anstalten machte, seinen Platz vor mir zu verlassen, flehte ich mit Blicken, dass er es erst mal seinließ. Als er seufzte – mal wieder – wusste ich, dass ich noch eine Gnadenfrist bekommen hatte. Er sprang runter und legte sich neben dem Laufstall auf den Boden.
Im gleichen Moment kam Diego und mit ihm Murphy in den Raum.
Der Stellvertreter der Themis war ein großer Mann mit breiten Schultern und einer schmalen Hüfte. In seinem kantigen Gesicht hatte er ein krumme Nase und das braune Haar war kaum mehr als ein Schatten.
Als er mich sah, breitete er freudestrahlend die Arme aus. „Clementine!“
„Pssst!“, machte ich, eilte an ihm vorbei und schloss schnell die Tür. „So darfst du mich hier nicht nennen.“
„Oh, Verzeihung.“ Er drehte sich herum und machte vor mir einen so anmutigen Knicks, dass ich einfach grinsen musste. „Königin Cayenne, es ist mir eine Freude Euch zu sehen.“
So ein Schwachkopf. Schmunzelnd schlang ich die Arme um ihn und drückte ich kurz an mich. „Es ist schön, dass du hier bist.“
„Hat ja auch ganz schön lange gedauert, bis du mich mal mich mal eingeladen hast.“ Auch er drückte mich kurz, schob mich dann aber auch sofort von sich und schaute sich suchend im Raum um. „So, wo sind nun die hinreißenden Dienerinnen, die mich bei einem ausgiebigen Bad unterstützen wollen?“
Oh Mann. „Die haben heute alle frei.“
„Hab ich mal wieder ein Glück.“ Er schaute sich um und entdeckte Aric. „Ist das der kleine Prinz?“ Ohne auf eine Antwort zu warten oder Sydney zu beachten, der unseren Besuch wachsam im Auge behielt, ging er zum Laufstall und wedelte mit den Fingern vor dem Gesicht von dem Kleinen herum. „Hallo kleiner Wolf.“
„Pass auf, dass er dich nicht beißt.“ Ich setzte mich kopfschüttelnd wieder an meinem Schreibtisch. Ich hatte schon befürchtet, dass das Treffen mit Murphy seltsam sein könnte, doch wie sich zeigte, war meine Sorge völlig unbegründet gewesen. „Du kannst dich schon mal hinsetzen, ich muss das hier nur noch schnell fertig machen.“ Ich zeigte auf eine kleine Ecke, in der mehrere bequeme Sessel standen. „Du auch Diego, beweg dein Hintern aufs Polster.“ Hier wo keiner uns sehen konnte, musste er nicht den großen Umbra raushängen lassen.
Die beiden Männer kamen meiner Aufforderung nach. Murphy war sogar so dreist, Aric aus seinem Laufstall zu holen und sich mit ihm zusammen auf in einen der Sessel zu setzten. Als ich das sah, musste ich daran denken, dass er früher Erzieher in einem Kindergarten gewesen war.
Leider wusste Sydney das nicht. Als der große Mann seinen Sohn klaute, lief er ihm hinterher und behielt ihn aufmerksam im Auge.
Ich machte noch schnell die drei Briefe fertig und setzte mich dann zu ihnen auf einen Sessel. Sydney nahm direkt neben mir Platz und wie immer begann ich schon ganz automatisch ihn zu kraulen. Nach dieser langen Trennung, war dieser Kontakt für und beide sehr wichtig. „Sydney, darf ich vorstellen, das ist Murphy. Murphy, das ist Historiker Sydney, mein Mentor und Berater.“ In allen Lebenslagen.
Die beiden nickten sich höflich zu. Kerle. War ein einfaches „Hallo“ wirklich zu viel verlangt?
„Also“, begann ich. „Ich hab mir in der letzten Zeit einige Gedanken gemacht und einen Plan gefasst, für den ich allerdings deine Hilfe brauche.“
„Ja, so etwas sagtest du bereits am Telefon.“ Als Aric seinen Finger packte, tat er so, als würde er ihn nicht mehr aus seinem Griff rausziehen können.
„Die Angriffe der Skhän nehmen überhand. Ich erfahre immer erst hinterher von den Überfällen und egal wie viele Wächter ich schicke, oder was ich sonst so in die Wege leite, unsere Bilanz ist einfach schlechter als eure.“
Murphys Augen zuckten kurz zu Sydney und Diego.
„Keine Sorge, sie wissen Bescheid und sie wollen genauso wie wir, dass diese ganzen Überfälle ein Ende haben.“
Er wirkte skeptisch. „Wenn du es sagst.“
Aric beugte sich vor und begann mit sehr viel Speicheleinsatz an Murphy Finger zu nuckeln. Der große Mann ließ ihn gewähren.
„Jedenfalls komme ich so nicht weiter. Ich brauche Leute mit Erfahrung, die sich nicht aufhalten lassen, nur weil ihnen ein paar Gesetze im Weg stehen.“
„Möchtest du etwa ein paar Themis für den Hof anwerben?“
Schlaues Bürschchen. Ich lächelte. „Nein, nicht nur ein paar, ich will euch alle.“
Das brachte mir eine hochgezogene Augenbraue ein. „Du willst die Themis?“
Ich nickte. „Ihr seid nicht nur ein eingespieltes Team mit einer funktionierenden Kommandokette, ihr habt auch die Erfahrung, die ich so dringend brauche. Darum habe ich mir folgendes Überlegt: Ich stelle die Themis unter mein Kommando. Ihr werdet hier am Hof ein eigenes Gebäude bekommen, von dem aus ihr unabhängig von mir und den Wächtern agieren könnt. Ich will mich nicht in den Vordergrund drängen, im Grunde soll alles so bleiben wie es ist. Miguel ist nach wie vor der Boss und hat das Sagen, aber er wäre mir in gewisser weise Rechenschaft schuldig.“
„Miguel soll sich dir unterstellen? Wir sprechen hier von dem selben Kerl oder? Groß, immer schlecht gelaunt, Abneigung gegen Alphas, abtrünnig.“
Ja und genau wegen diesen letzten beiden Punkten, hatte ich Muphy zum Gespräch gebeten und nicht Miguel. Der Chef der Themis hätte mir vermutlich nicht mal zugehört. „Wir würden eine Art Allianz miteinander schließen.“
„In der du das Sagen hast.“
Mein Gott. „Ich bin nun mal die Königin, daran kann ich leider nichts ändern. Aber gerade deswegen, muss ich etwas tun. Und es ist ja auch nicht so, dass nur ich davon profitieren würde. In erster Linie wäre es für das Rudel und den Themis könnte ich damit die Arbeit auch erleichtern.“
„In wie weit würde es unsere Arbeit erleichtern?“
Das war die entscheidende Frage. Jetzt musste ich es richtig anpacken. „Ich werde jeden Abtrünnigen des Themis rehabilitieren. Ihre Straftaten werden aus dem Register gelöscht. Sowohl die, die sie im Auftrag der Themis begannen haben, als auch die, die für ihre Verbannung verantwortlich sind.“
Murphys Augen wurden ein wenig größer. Selbst Diego und Sydney schaute mich erstaunt an. Sowas hatte es in der Geschichte der Lykaner noch nie gegeben. „Du gibst ihnen eine zweite Chance?“
Ich nickte. „Einer meiner Berater sitzt in diesem Augenblick auch bereits daran, einen Entwurf für eine neue Gesetzesvorlage zu schreiben, die ich noch heute für gültig erklären werde. Nach dieser werden die Themis in Zukunft einen größeren Spielraum bekommen. Man könnte sagen, dass ihr dann gewissermaßen über dem Gesetz steht – natürlich nur um Rahmen eurer Arbeit. Deswegen muss ich auch darauf bestehen, dass die Themis sich in diesem Fall mir unterstellen, denn eine gewisse Kontrolle muss leider bleiben. Ich habe bereits Briefe an den Rat geschrieben, in denen ich ihnen die Änderung mitteile.“
Murphy schaute mich nur an. Er schien nicht zu wissen, was er dazu sagen sollte.
Nun gut, dann sollte ich jetzt vielleicht auch noch den Rest offenbaren. „Des Weiteren würden die Themis ab sofort von mir für ihre Arbeit bezahlt werden. Ihr werdet besseren Zugang zu Informationen erhalten und jegliche Ausrüstung, die ihr braucht. Medizinische Versorgung wäre kein Problem mehr, genau wie die Versorgung und Betreuung der geretteten Sklaven und ihrer Familien.“ Ich setzte mein liebenswürdigstes Gesicht auf. „Na, was meinst du? Wäre das nicht eine Überlegung wert?“
„Eine Überlegung?“ Er schnaubte. „Das wäre phantastisch, aber ein großer Vorteil bei unserer Arbeit ist unsere Anonymität und wenn wir offiziell für das Königshaus arbeiten würden, würde dieser Vorteil wegfallen.“
„Ihr könnt auch hier mit euren Alias arbeiten. Wie gesagt, keine Kontrolle durch die Wächter, ihr wärt nur mir unterstellt. Außerdem habe ich ein Gebäude an der Westmauer gewählt, dass einen eigenen Zugang zum Hof hat und ein wenig abgelegen liegt. Ihr arbeitet völlig unabhängig. Das Einzige was ich will ist, dass ihr mir helft. Ich brauche gelernte Leute mit Erfahrung und ohne Skrupel, die mich bei der Bekämpfung der Skhän unterstützen und nicht bei dem bloßen Gedanken an unsere hirnlosen Gesetze den Schwanz einziehen.“ Ich schloss für einen Moment den Mund, um meinen Vorschlag erstmal sacken zu lassen. „Natürlich würde ich auch noch mehr tun. Wenn ihr etwas braucht, oder wünscht, müsst ihr mir nur Bescheid sagen und ich werde sehen …“
Die Bürotür ging ohne Anklopfen auf. Synchron drehten wir unsere Köpfe zu König Nikolaj herum, der meinen Besuch misstrauisch begutachtete.
„Raus, ich habe hier eine Besprechung.“
Nikolaj warf mir einen bösen Blick zu. „Es gibt da auch so einige Dinge, die ich gerne mit dir besprechen würde.“
„Später, jetzt habe ich keine …“
„Cayenne, was geht hier vor sich? Warum läuft die Hälfte der Bediensteten im Schloss herum, als wären sie von der Tarantel gestochen?“
„Weil ich es ihnen befohlen habe und wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich habe hier ein wichtiges …“
„Nein, ich entschuldige dich nicht. Wir werden jetzt miteinander sprechen.“ Das war ein eindeutiger Befehl, dem ich mich nicht so ohne weiteres entziehen konnte. Verdammt.
„Wenn ihr mich bitte einen Augenblick entschuldigen würdet.“ Ich musste dringend klären, wer in diesem Haus die Hosen anhatte. „Bin gleich wieder da.“
Ich ging hinaus und zog die Tür hinter mir zu. Erst dann würdigte ich Nikolaj wieder eines Blickes, eines sehr wütenden Blickes. „Was fällt die ein, einfach so meine Unterredung zu unterbrechen?“
„Ich bin eigentlich nur gekommen, um mit dir über Arics Bewerber zu sprechen. Louis hat mir erzählt, was du mit den Mappen gemacht …“
„Was interessiert dich Aric? Du hast ihm gerade im Büro nicht mal angesehen!“, zischte ich. Glaubte er wirklich, dass ich das nicht bemerkt hätte?
„Ach, jetzt interessiert es dich plötzlich, ob ich meinen Sohn sehe? Du warst vier Monate in der Versenkung verschwunden und jetzt tauchst du hier auf und machst … was-weiß-ich-was.“
„Ich schiebe den Übergriffen der Skhän einen Riegel vor.“
„Du willst schon wieder jagt auf die Skhän machen?“ Ungläubig schaute er mich an. „Cayenne, das ist doch Wahnsinn. Du musst mit dieser irren Idee endlich abschließen. Dein Besessenheit bringt dir nichts als Schwierigkeiten und …“
„Das ist keine Besessenheit. Und was regst du dich so auf? Dein Vater benutzt mich doch schon seit Jahren, um seine Konkurrenten aus dem Weg zu räumen. Ich erweitere dieses Aufgabenfeld nur ein wenig. Und keine Angst, deinem Papi wird schon nichts passieren, aber jeden anderen Skhän werde ich jagen und zur Strecke bringen. Bis hier hin und nicht weiter, Nikolaj, jetzt ist Schluss!“ Ohne auf eine Erwiderung zu warten, ging ich zurück in mein Büro. Im ersten Moment wollte ich die Tür hinter mir zuschlagen, aber mir fiel noch rechtzeitig ein, das Aric mir das sehr übel nehmen könnte. „Tut mir leid wegen der Unterbrechung, aber ich denke er wird uns jetzt in Frieden lassen.“
Murphy sah aus, als wollte er etwas dazu sagen, behielt seinen Gedanken dann aber doch lieber für sich und wischte sich Arics Sabber von der Hand.
Ich setzte mich zurück auf meinen Platz. „Gut, ich denke, es wäre dann an der Zeit, dass du mir eine Antwort gibt. Ich brauche wirklich die Hilfe der Themis.“ Zwar würden meine Probleme damit nicht auf einen Schlag verschwinden, aber es wäre ein großer Schritt in die richtige Richtung.
Murphy atmete einmal tief ein und verzog dabei die Lippen. „Also ich bin von der Idee sehr angetan. Wäre echt toll, endlich mal wieder ein Festgehalt zu haben und das könnte uns die Arbeit wirklich in vielerlei Hinsicht erleichtern. Aber nicht ich bin es, der hier überzeugt werden muss, sondern Miguel. Außerdem müssen auch die anderen Themis ihr Einverständnis geben.“
„Du kannst mit Miguel reden.“
„Ich werde auch mit Miguel reden, aber ich kann dir beim besten Willen nicht sagen, wie er sich entscheidet.“
„Du bist sein kleiner Bruder, du weißt sicher, wie du ihn um den kleinen Finger wickeln kannst.“
Er begann zu grinsen. „Ich werde mit ihm reden und dir dann Bescheid sagen.“
Auf mehr konnte ich im Moment nicht hoffen.
Wir besprachen noch ein paar Kleinigkeiten und als dann der von mir angeforderte Baumeister eintraf, machte ich mich mit meinen paar Leuten auf den Weg zu einer Besichtigungstour in das hoffentlich neue Hauptquartier der der Themis. Früher wurde dieses Gebäude als Unterkunft für die Wächter genutzt, aber die waren schon vor Jahren in ein neues weiter vorne eingezogen.
Der Baumeister teilte mir mit, dass das Gebäude in einem besseren Zustand war, als ich befürchtet hatte. Natürlich musste einiges erneuert werden, aber im Großen und Ganzen war es genau das was ich brauchte.
In der oberen Etage waren viele Zimmer, die wir beschlossen, zu behalten, damit sie von den Themis als Unterkünfte für ihren Aufenthalt im Hof genutzt werden konnten. In der unteren Etage würden Büros, Konferenzräume und die Zentrale sein. Murphy hatte sich für mein Vorhaben sichtlich erwärmt und steuerte selber ein paar Vorschläge hinzu. Im Keller waren weitere Zimmer, alte Übungsräume, eine kleine Sporthalle, die die Wächter früher zum trainieren genutzt hatten. Es war perfekt. Fehlten nur noch die Themis.
Als Murphy uns schließlich verließ, war es draußen bereits dunkel. Da ich mich noch mit Archie zusammensetzen musste, gab ich Aric in Samuels Obhut. Noch vor dem Abendessen, gab es unter meinem Regiment ein neues Gesetzt, auf das ich schon am nächsten Tag die ersten Reaktionen vom Rat bekam. Viele Reden und andere Vorschläge wurden mir zuteil, aber im Grunde wünschten sie alle mich und meine Idee zum Teufel. Sie konnten es so gar nicht leiden, einfach übergangen zu werden. Tja, sie hatten von mir genug Chancen bekommen.
Einen weiteren Tag später bekam ich den Finanzplan. Mir war das eigentlich ziemlich egal, von mir aus hätten die Themis all mein Geld haben können, wenn sie den Skhän dafür den Gar ausmachten, aber ohne Papierkram funktionierte halt auch in der verborgenen Welt nichts.
Es dauerte noch zwei Tage, bevor Murphy sich mit einer endgültigen Antwort bei mir meldete. Miguel hatte nach reichlicher Überlegung zugestimmt, die Themis würden ihre Zelte im Hof aufschlagen. Zwar gab es hier und da ein paar Stimmen, die dagegen waren, einfach weil sie befürchteten, dass ich mein Wort brechen würde, aber von der Mehrzahl wurde das Angebot angenommen. Was vielleicht auch mit daran lag, das mich einige von ihnen kannten.
So begann der Einzug der Themis. Ich trieb meine Kräfte sofort zu noch mehr Einsatz an und wurde von den Bauarbeitern schief angesehen, als ich selber mit anpackte, doch es musste schnell gehen und jede freie Hand wurde gebraucht. Außerdem hatte ich noch nie ein Problem mit harter Arbeit. Na gut, früher, aber meine Zeit bei den Themis hatte das definitiv geändert. Außerdem freute ich mich einfach, weil ich wusste, dass ich sie alle wiedersehen würde.
Die ersten Themis die eintrafen waren Alexia, Murphy und Sergio. Nur Stunden später folgten Romy und Future. Auch ein paar andere bekannte Gesichter tauchten im Hof auf, Hauptsächlich um ihren Fingerabdruck am Tor registrieren zu lassen und ein bisschen mit anzupacken.
Keiner blieb länger als ein paar Tage. Murphy war die Ausnahme. Er kam in den Hof, wirbelte mich durch die Luft und bezog dann ein Zimmer im HQ, wie er das Hauptquartier der Themis liebevoll nannte.
Der Ankunft von Tristan und Lucy sah ich mit gemischten Gefühlen entgegen. Da war Freude, aber auch … naja, wir hatten eben eine gemeinsame Vergangenheit.
Die Themis arbeiteten schon, als der Aufbau noch nicht fertig war. Möbel, Computer, alles musste eingerichtet und funktionstüchtig gemacht werden. In einem der wenigen freien Momente, malte Tristan ein Schild mit dem Leitspruch der Themis. Fiat iustitia!
Als ich dabei zusah, wie die Themis es über den Haupteingang anbrachten, zweifelte ich jedoch ein wenig an ihrem gesunden Menschenverstand. Das lag nicht an den wackligen Leitern, über die sie ein Brett gelegt hatten, sondern an Future. Sie turnte da oben herum, als sei sie eine Ballerina und versuchte mir einem Akkuschrauber Löcher für das Schild in die massive Wand zu bohren. Das Brett knarrte und die rechte Leiter wackelte immer wieder hin und her.
„Willst du das nicht lieber jemanden machen lassen, der Ahnung davon hat?“
Future schaute grinsend über die Schulter zu mir herunter. „Wer sagt denn, dass ich keine Ahnung davon habe?“
Von mir einmal abgesehen? Jeder. Future war vielleicht ein Computergenie, aber handwerklich ließen ihre Fähigkeiten doch ziemlich zu wünschen übrig. Wer bitte nahm den einen Akkuschrauber, um ein Loch in die Außenwand zu bohren?
„Ach, sie macht das schon“, behauptete Murphy. Er hielt linke Leiter fest. Die rechte hielt keiner fest, weswegen die wahrscheinlich auch die ganze Zeit wackelte. „Und falls sie fällt, hüpfe ich einfach schnell außer Reichweite.“
„Hey!“, rief Future von oben.
„Was? Ich bin hier um die Leiter zu halten, nicht um mich von dir platt machen zu lassen.“
„Ich bin ein Fliegengewicht.“
Er schaute sie an, senkte dann den Blick und murmelte: „Das behaupten sie alle.“
„Was war das?“
Murphy schaute sie ganz unschuldig an. „Nichts, Ich hab nur gesagt, dass du tolle Arbeit leistest.“
Als Future anfing ihn übertrieben mit dem Bohrer zu drohen, wich ich schmunzelnd ein paar Schritte zurück. Sydney folgte meinem Beispiel. Aric war oben in seinem Kinderbettchen und schlief den Schlaf der Gerechten, während Samuel auf ihn acht gab.
„So bekommst du das Schild aber nie an die Wand“, gab ich zu bedenken.
„Keine Sorge, ich werde …“ Sie stockte und begann dann zu grinsen. „Na sieh mal an, wer da seinen Weg zu uns gefunden hat. Der Chef persönlich.“
Ich drehte mich herum und folgte ihrer Blickrichtung. Und tatsächlich. In der Mitte von zwei Wächtern eskortiert, kam der Boss der Themis direkt auf uns zu.
Er wirkte misstrauisch und schlecht gelaunt. Also wie immer.
„Das ich das noch erleben darf.“ Future legte den Bohrer zur Seite und setzte sich mit baumelnden Beinen auf das Brett.
Keiner von uns beachtete sie.
Als Miguel direkt vor mir zum Stehen kam, starrte er mir einen Moment so intensiv in die Augen, als wollte er mich herausfordern. Aber ich hielt seinem Blick solange stand, bis er seinen senkte. „Lass mich das nicht bereuen“, murmelte er so leise, dass nur ich es hören konnte.
Mit einem Handzeichen schickte ich meine Wächter weg. „Ihr könnt gehen.“
Sie bewegten sich nur zögernd weg. Dass in der letzten Zeit immer wieder Abtrünnige in den Hof kamen, machte sie unruhig. Diese Leute gehörten nicht zum Rudel und stellten damit eine Gefahr für mich da. Zum Glück kam es bis jetzt zu keinen größeren Zwischenfällen.
„Bist du bereit?“, fragte ich ihn, ohne lange Vorreden zu halten.
In seinem pockennarbigen Gesicht schien das Misstrauen noch ein wenig zu wachsen. Er war aus eigenem Antrieb ein Abtrünniger geworden. Skhäns hatten sowohl seine Frau, als auch seinen Sohn geholt und die Alphas hatten ihm Hilfe bei der Suche nach seiner Familie verweigert. Darum hatte er das Rudel verlassen, mit seinem Halbbruder Murphy die Themis gegründet und auf eigene Faust nach ihnen gesucht. Seinen Sohn Sergio hatte er gefunden. Von seiner Frau gab es bis heute keine Spur.
„Ich begebe mich in deine Hand, Alpha.“
Ich sah, wie schwer ihm diese Worte fielen. „Ich bin nicht Isaac“, sagte ich leise. „Ich kann dir nicht versprechen, dass mir immer alles gelingen wird und ich jeden deiner Wünsche erfüllen kann, aber ich kann dir versprechen, dass ich immer alles tun werde, was in meiner Macht steht.“
„Dann kann ich nur hoffen, dass du dein Wort halten wirst.“ Langsam sank er vor mir auf die Knie und beugte sein Haupt.
Ich hob die Hand und berührte ihn mit zwei Fingern an der Stirn. Und plötzlich konnte ich ihn spüren. Es war, als würde ein Gedanke von mir ausreichen, um eine Art Verbindung zwischen uns zu schaffen, ein Band, wie es nur zwischen Alpha und Omega gab.
Als Miguel ruhig ausatmete, begann sein Geruch sich zu verändern. Auf einmal war er kein Eindringling und Fremder mehr, er gehörte zu mir und meine Aufgabe war es ihn zu beschützen. Er war nicht länger ein Abtrünniger. Er war nun wieder Teil des Rudels.
„Sei willkommen, Wolf.“
°°°°°
Glücklich vor mich hindösend, lag ich am verfluchte Weiher im Wald und ließ mir die ersten warmen Sonnenstrahlen dieses Jahres auf den Pelz brennen. Sydney Zunge, die mir rhythmisch über das Fell an Kopf und Nacken strich, schickte mich in einen komatösen Zustand der Wonne. Es war einfach himmlisch.
Als er mir heute Morgen vorschlug, mir für den Tag freizunehmen und mit ihm eine Weile im Wald zu verschwinden, hatte ich ihn nur angeschaut wie ein Pferd, denn Hallo? Ich hatte gerade unheimlich viel um die Ohren und keine Zeit für einen netten Ausflug mit meinem Liebsten. Doch er hatte mich solange mit Argumenten bombardiert, die für eine Auszeit sprachen, dass ich letzten Endes nachgegeben hatte. Und mal ehrlich, ich hatte mir das nun wirklich verdient. Wenigstens für ein paar Stunden.
„Schläfst du schon?“
„Noch nicht.“ Aber viel fehlte nicht mehr. So angenehm und friedlich.
Er lachte leise und stupste mit der Nase gegen meine. Ein Hundekuss, wie süß. „Ist meine Gegenwart so ermüdend?“
„Nein, entspannend.“ Ich kuschelte mich enger an ihn, um seinem Herzschlag zu lauschen, seine Wärme zu spüren und mich einfach über in seiner Gegenwart zu verlieren. „Und jetzt lass mich weiter dösen.“
„Und wenn mir der Sinn nach etwas anderem steht?“
Na was konnte das wohl sein, wo wie hier draußen waren, ganz allein, fernab jeder anderen Seele. „Dann merk es dir für später.“
„Später ist aber …“ Er hob den Kopf und stelle die Ohren auf. „Wir werden beobachtet.“
„Was?“ Ich fuhr hoch und knallte mit dem Kopf erst mal gegen seinen. „Au!“ Das hatte wehgetan. „Du hast echt einen Dickschädel, darf ich dir das mal sagen?“
Darauf reagierte er nicht. Er fixierte nur einen Punkt hinter mir.
„Was ist denn da so interessant, das du deine umwerfende …“, begann ich und drehte mich dabei herum. Doch jedes weitere Wort erstarb mir auf der Zunge. Da saß etwas schwarzes und sehr flauschiges im Schatten der Bäume. Den Schwanz ordentlich um die Pfoten drapiert, beobachtete es uns aus grünen Augen.
Ich blinzelte. Einmal … zweimal … dreimal. Nein, das war kein Trugbild, das Ding blieb.
„Eine Katze“, murmelte Sydney erstaunt.
Ich konnte es ihm nicht verdenken. Da es hier nur so von Werwölfen wimmelte, machte jede Katze einen großen Bogen um den Hof. Sie mochten uns einfach nicht. Das da jetzt eine saß und bei unserem Anblick nicht sofort das Weite suchte, war schon mehr als seltsam, doch als sie dann aufstand und gemächlich auf uns zukam, als gehörte ich die Welt, blieb mir fast das Herz stehen. Das war keine Katze, das war ein Kater. Ein schwarzer Kater mit einer Haarlocke am Kopf … „Elvis!“
Ich dachte gar nicht darüber nach, als ich mit einem Satz auf ihn zusprang. Das war mein Kater! Ich konnte es kaum glauben, mein Elvis war hier!
Ich rieb meinen Kopf an seinem und badete nur so im Glück, als er seinen Motor anwarf und mir ins Ohr schnurrte. Diese verrückte Mietze! Selbst in Wolfsgestalt empfand er keine Abneigung gegen mich. Nicht so bei Sydney. Als der einen Schritt auf uns zumachte, verwandelte sich Elvis Schwanz in eine Klobürste und er Fauchte, dass es nur so über die ganze Lichtung schallte. Also alles beim Alten.
Sydney legte nachdenklich die Ohren an. „Elvis?“, fragte er. „Dein Elvis?“
„Ja.“ Ich leckte dem Kater über den Kopf, was er mit einem empörten Schnauben entgegennahm. Katzenwäsche mal anderes.
Mit schief gelegenem Kopf musterte Sydney meinen Kater. „Wie kommt er hier her?“
Wie … verdammt, Sydney hatte recht. Warum war mir das nicht gleich aufgefallen? War ja nicht so, dass der Kleine mich regelmäßig einfach mal so im Wald überraschte. Es war schön meine Kratzbürste bei mir zu haben, aber dass er im Hof war konnte nur bedeuten, dass ihn jemand hergebracht hatte und dafür kam nur einer in Frage.
„Oh mein Gott, es hat funktioniert. Ryder ist hier!“ Erstaunt schaute ich zu Sydney, doch bevor er noch etwas dazu sagen konnte, wirbelte ich herum und rannte los. Ich musste sichergehen, dass es auch wirklich stimmte.
Meine Beine flogen nur so durch den Wald. Links und rechts schossen die Bäume vorbei. Direkt neben mir raste Elvis dahin. Sydney war nur ein Stück hinter mir. Mein Herz raste vor Aufregung.
Die Strecke durch den Wald brachte ich in Rekordzeit hinter mich. Ich glaubte nicht, schon einmal so schnell gewesen zu sein. Ich schoss zwischen den Bäumen hervor, kroch unter dem Gatter der Koppel hindurch und rannte weiter.
Ein Paar der Pferde schauten auf, als ich an ihnen vorbei jagte, ließen sich von meinem überhasteten Auftauchen aber nicht beunruhigen. Mein Ziel war das HQ der Themis. Wo sonst sollte er sein? Er war schließlich einer von ihnen.
In Höchstgeschwindigkeit rannte ich quer über die Koppel, schlüpfte erneut unter dem Zaun hindurch und nahm dann den Weg zwischen den Ställen. Ich nahm gerade Kurs auf die Gärten, als ich ein weißes, wohlbekanntes Gebäude auf Rädern bemerkte. Das war mein Wohn …
Rums!
Oh Schmerz.
Kopfschüttelnd torkelte ich einen Schritt zurück und blinzelte ein paar Mal, um festzustellen, was mir da den Weg versperrt hatte. Die Rückseite der Reitstube. Super. Das kam davon, wenn man nicht darauf achtete, wohin man lief.
Elvis stand wartend neben mir und schien sich zu fragen, warum ich nicht einfach außen herum gelaufen war.
„Behalte deine Kommentare für dich.“ Ich drehte mich herum und da entdeckte ich ihn. Raphael saß auf den Stufen unseres Wohnwagens und unterhielt sich leise mit Tristan und Lucy. Selbst der Anhänger mit seinem Motorrad war da.
Lucys Anblick schmälerte meine Euphorie ein kleinen wenig. Auch wenn wir uns auf eine Art Waffenstillstand geeinigt hatten, gab es da noch immer so viel Ungeklärtes zwischen uns. Aber ich war ja nicht wegen ihr hier.
Langsam setzte ich mich wieder in Bewegung. Mittlerweile hatte ich nicht mehr daran geglaubt, dass er noch kommen würde und schon überlegt, wie ich ihn herlocken konnte, aber nichts davon war jetzt mehr nötig, er war da! Ich hätte vor Freude zum Mond heulen können.
Ich war nur noch ein paar Schritte entfernt, als die drei mich bemerkten und mitten im Gespräch verstummten. Als Raphael mich dann auch noch direkt anschaute, machte mein Herz vor Freude einen kleinen Sprung. Er war wirklich hier.
Ich kam ihm so nahe, dass ich meine Nase an seinen Hals stecken konnte und seinen Geruch tief in meine Lungen saugen konnte. Mein. Er war kein Wolf, das nicht, aber er gehörte trotzdem zu mir.
„Äh …“ Raphael lehnte sich so weit zurück, wie es ihm nur möglich war. „Ist ja nett dich kennenzulernen, aber bevor wir uns noch näher kommen und in meinem Wohnwagen verschwinden, solltest du mir vielleicht erst mal deinen Namen verraten.“
„Kennenlernen?“ Ich legte den Kopf schief. Wollte er mich ärgern?
Tristan begann zu schmunzeln. „Es hat dich noch nie als Wolf gesehen, oder?“
Ähm … nein. „Trotzdem finde ich es ziemlich traurig, dass du mich nicht erkennst. Ist ja nicht so, als hätte plötzlich eine andere Haarfarbe.“
Lucys Mundwinkel ging ein Stück nach oben.
„Und verstehen kann er dich auch nicht“, fügte Tristan wenig hilfreich hinzu.
Ja toll. Was hatte ich nur wieder für ein Glück, ich hatte es mit lauter Klugscheißern zu tun. „Wie wäre es denn dann, wenn einer von euch den Dolmetscher spielen würde.“
„Es tut nicht weh, bitte zu sagen.“
Ich sagte nicht bitte, ich knurrte Tristan an, bis ich die Hand in meinem Fell spürte.
Raphael bedachte mich mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte. „Cayenne?“
So gut es für einen Wolf eben möglich war, lächelte ich ihn an. Bis mir auffiel, dass das Knurren in der Luft geblieben war. Doch ich war nun friedlich. Verwundert drehte ich den Kopf herum und … verdammt, Sydney!
Die Zähne gebleckt, das Fell gesträubt und die Ohren angelegt, stand er angriffsbereit in den Startlöchern und knurrte.
Oh nein. Nein nein nein nein nein! Das gehörte sowas von gar nicht zu meinem Plan. Aber wie hatte ich den gedacht, dass er reagieren würde, wenn ich ihn einfach vor vollendete Tatsachen stellte? Manchmal war ich wirklich dumm.
Auch Raphael spannte sich deutlich an. Ob er wusste, wen er da vor sich hatte, konnte ich nicht sagen, aber da war ein großer Wolf mit großen Zähnen, der offensichtlich schlechte Laune hatte.
Verdammt, das konnte ganz schnell, ganz ungemütlich werden.
„Sydney, nicht“, bat ich ihn, aber er hörte mir nicht mal zu. Er war einzig auf Raphael fokussiert.
Langsam bewegte ich mich auf ihn zu und versuchte dabei ihn den Weg zu verstellen, damit er mich beachten musste, aber er sah einfach durch mich hindurch. „Bitte, du darfst ihm nichts tun.“
„Er war es! Er hat Euch Kummer bereitet, Euch entehrt und fortgebracht!“
Gut, er hörte mich also doch. Das war doch schon mal ein Anfang. „Bitte Sydney, zwing mich nicht es dir zu befehlen.“
Als Sydneys Knurren lauter wurde, schaute ich zurück. Raphael hatte sich erhoben. Hatte er etwa auch kapiert, wer Sydney war? Oder reagierte er einfach nur auf seine Aggression? Verdammt.
Es spiele gerade sowieso keine große Rolle. Im Moment war es viel wichtiger dafür zu sorgen, dass die Situation nicht eskalierte. „Sydney.“ Ich kroch an ihn heran und leckte ihm über die Schnauze. Es war mir egal, ob die anderen mein unterwürfiges Verhalten sehen konnten. Das war mein Sydney und ich wollte ihm keine Befehle geben. „Ich bitte dich, mach das nicht, mir zuliebe.“
Das war unfair und das teilte er mir durch einen Blick auch mit, aber wenigstes ließ das aggressive Verhalten ein wenig nach. Noch immer war er zum zerreißen gespannt, aber er merkte wohl auch, wie ich mich vor ihm gebar, noch dazu, wo wir Zeugen hatten. Er schickte Raphael einen hasserfüllten Blick, atmete dann tief ein und fand irgendwie eine innere Ruhe wieder, für die ich ihn sooft beneidete. „Schickt ihn weg.“
„Was?“
„Ihr sollt ihn vom Hof schicken“, knurrte er. „Verweist ihm dem Schlossgelände.“
Lucy plusterte sich auf. Super, Sydney fächerte seine Gedanken auch noch, damit auch jeder mitbekam, was er zu sagen hatte. „Was glaubst du eigentlich wer du bist, dass du dir anmaßen kannst …“
Ich zeigte ihr die Zähne, um sie damit zum verstummen zu bringen. Das war etwas, bei dem sie sich nicht einzumischen hatte.
Da Sydney immer noch auf eine Antwort wartete, schüttelte ich den Kopf. „Er ist ein Themis.“
Sydney sah mich mit diesem Blick an, der mich bis ins innerste durchleuchtete. „Er ist der Vampir, der all das zu verantworten hat!“
Sah er das wirklich so? „Ich kann nicht“, flüsterte ich in seinem Kopf. Jetzt war es wohl an der Zeit zu beichten, wenn auch nur einen kleinen Teil. „Er ist auf meine persönliche Einladung hier erschienen.“
„Was?“ In diesem einen Wort klang nicht nur Unglaube, sondern auch Schmerz mit. Er wusste genau, dass ich Raphael damals nicht freiwillig verlassen hatte und auch wenn er in der Zwischenzeit der wichtigste Mann in meinem Leben war, so war er sich nicht sicher, wie es in meinem Herzen wirklich aussah. Wie konnte ich es ihm verdenken, wo ich ihn schon einmal verlassen und dann bei Raphael Zuflucht gefunden hatte?
„Ich musste es tun.“ Ich vergrub meine Nase tief in seinem Fell und atmete ein. Wenn er nur verstehen würde, warum ich es hatte tun müssen, aber dann müsste ich ihm auch von dem Kuss erzählen, dem ich ihm noch immer verschwieg und ich glaubte nicht, dass das für die Beziehung der Beiden so förderlich wäre. „Du musst mir vertrauen.“
„Warum schickt Ihr ihn nicht weg?“, fragte er. „Es sind genug Themis am Hof, die Euch helfen können. Warum muss er hier sein?“
„Wegen seiner Familie.“ Ich sah ihm genau in die Augen. „Ich werde es dir erklären, später, das verspreche ich dir, aber bitte lass ihn in Ruhe, okay?“ Jetzt konnte ich unmöglich eine Erklärung zum Besten geben. Nicht nur, dass es niemanden etwas anging, was ich mit Raphael in finsterer Nacht getrieben hatte, es würde Sydney auch verletzten und dafür brauchten wir keine Zeugen. „Bitte, Sydney, vertrau mir.“ Auch wenn ich es eigentlich gar nicht verdient hatte.
Einen langen Moment schaute er mich einfach nur an. Seine Lefzen hoben sich ein wenig, als er unwillig den Kopf wegdrehte.
„Er ist keine Gefahr.“
„Doch, genau das ist er“, knurrte er und fixierte Raphael erneut. Dann wandte er sich einfach ab und trottete mit hängenden Schultern davon.
Das hatte ich ja echt super hinbekommen.
Ich schaute zurück zu Raphael, der nur abwartend dastand und mich beobachtete. Ich wäre gerne noch ein wenig geblieben, einfach um zu reden, aber das wäre im Moment unpassend. Erstmal musste ich mit Sydney sprechen, das war ich ihm schuldig. Also wandte auch ich mich ab und folgte ihm.
Leider beachtete er mich nicht. Weder als ich ihm in die Bibliothek folgte, noch in sein Büro. Als er dann auch noch in seine Kammer ging, ohne mich einmal anzusehen, wurde mir klar, dass ich ihn mit Raphaels Auftauchen nicht nur enttäuscht, sondern auch verletzt hatte.
Es war das erste Mal, dass ich mich nicht traute seine Kammer zu betreten. Geschlagene zehn Minuten stand ich vor der Tür und fiepte sogar ein wenig, in der Hoffnung ein Zeichen von ihm zu bekommen, dass ich eintreten durfte.
Aber es kam nicht.
Als Nicoletta dann auch noch auftauchte, trat ich unerledigter Dinge den Rückzug an und verschwand nach oben in meine Suite.
Samuel saß mit seinem Laptop auf dem Schoß auf meiner Couch und tippte wie ein besessener auf den Tasten herum. Als ich eintrat, schaute er jedoch kurz auf. „Aric schläft“, erklärte er und konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm. „Ich habe ihn vor einer halben Stunde in sein Bett gebracht.“
Ich verbot es mir zu schmunzeln. Seit ein paar Wochen war Samuel im Stimmbruch und er fand es absolut nicht witzig, wenn man sich darüber lustig machte. „Hat er gegessen?“
„Natürlich“, sagte er schon beinahe empört darüber, dass ich überhaupt so eine Frage stellen konnte.
Kopfschüttelnd verschwand ich ins Schlafzimmer und verwandelte mich. Mittlerweile fiel er mir viel leichter, als noch vor zwei Jahren. Es war, als hätte ich es schon immer gekonnt. Wie es früher war, lag weit im Schatten der Erinnerung.
Genau wie Raphael.
Ich wusste, dass es richtig gewesen war ihn herzubitten. Von alleine wäre er sicher nicht zu seiner Familie zurückgekehrt. Doch es war nicht richtig, dass ich ihn geküsst hatte und auch nicht, dass ich, sobald ich angezogen war, ans Fenster trat und nach und nach draußen schaute, in der Hoffnung ihn zu sehen.
Natürlich war das nicht möglich. Der Wohnwagen stand mitten in der Menagerie und die lag seitlich vom Schloss. Meine Aussicht beschränkte sich auf den Garten und die Wälder dahinter.
Aber … keine Ahnung, ich musste ihn einfach sprechen und wenn nur für ein paar Minuten. So schaute ich noch mal kurz nach Aric, verabschiedete mich von Samuel und ging trotz besseren Wissens wieder nach unten. Da er als Themis am Hof war, konnte nicht einmal Nikolaj mir verbieten, mit ihm zu sprechen. Wahrscheinlich wusste er nicht mal, wer Raphael einmal für mich gewesen war.
Als ich die Menagerie erneut erreichte, verbannte ich mein schlechtes Gewissen in den hintersten Winkel meines Kopfes und versprach mir selber, mich später damit zu befassen. Doch im Moment lag mein Fokus einzig und allein auf dem Wohnwagen.
Leider musste ich feststellen, dass weder Raphael, noch Tristan oder Lucy noch da waren. Der Platz auf dem ich sie zurückgelassen hatte, war bis auf Elvis verwaist. „Na, Kratzbürste, wie geht es dir?“
„Mau.“
Als ich mich zu meinem Schmusetiger hockte, um ihn hinterm Ohr zu kraulen, hörte ich aus dem offenen Fenster des Wohnwagens Stimmen. Okay, die drei waren also doch nicht verschwunden, sie waren nur reingegangen.
Elvis erhob sich, schmiegte sich um mein Bein und begann lautstark zu schnurren.
Oh wie ich das vermisst hatte. „Ja, das glaube ich dir aufs Wort.“
„Mau.“
Lächelnd hob ich ihn auf den Arm und genoss es einen Augenblick einfach ihn bei mir zu haben.
„Ist jetzt nicht böse gemeint, aber du bist ganz schön alt geworden.“ Das Stimmte wirklich. Kein Wunder, er war mittlerweile schon zwölf Jahre. Das Fell um der Nase herum war ein wenig angegraut und der einst so schwarze Pelz zeigte viele, kleine, weiße Härchen. Außerdem hatte er um den Bauch herum ein wenig zugenommen. „Und dick.“
„Mau.“ Schnurr.
Wahnsinn, ich hatte ihn wirklich vermisst. Vor allem die anregenden Gespräche mit ihm. „Ich glaube, ich muss dringend ein Wörtchen mit Raphael reden, sonst Platz du bald noch aus allen Nähten.“
Die einzige Antwort, die ich darauf bekam, war noch lauteres Schnurren. Typisch Katze. Oder besser gesagt, typisch mein Kater.
„Das liegt am Alter“, hörte ich Raphael hinter mir sagen. Ausnahmsweise erschreckte mich sein plötzliches Auftauchen mal nicht, ich hatte nämlich gehört, wie er die Tür geöffnet hatte. Trotzdem schlug mein Herz beim Klang seiner Stimme ein wenig schneller.
Mit einem Lächeln drehte ich mich zu ihm um. „Das liegt nicht nur am Alter. Du hast ihm schon immer gerne ein paar Happen zu viel zugeworfen, oder glaubst du, das weiß ich nicht mehr?“
Er lehnte am Türrahmen und beobachtete mich. Sein Haar war wieder zu einem Zopf im Nacken geflochten. Die Beine steckten in ausgeblichenen Jeans, über der er ein Sweatshirt trug. Er lächelte etwas unsicher.
„Gut siehst du aus.“
„Das Kompliment kann ich nur zurückgeben.“ Er musterte mich und mein blaues Seidenkleid nachdenklich. „Obwohl Hosen dir besser stehen.“
„Ja, weil ich meinen Hintern darin besser zur Schau stellen kann.“
„Das auch.“
Und dann passierte das Gleiche, was schon in Berlin geschehen war. Nein, ich fiel nicht wieder wie eine Verrückte über ihn her, es war diese ungemütliche Stille, die scheinbar keiner von uns zu füllen wusste. Naja, außer Elvis, der schnurrte einfach ungeniert weiter.
„Also“, sagte er dann und tippte dabei mit den Fingern gegen die Wand des Wohnwagens. „Der Wolf eben … der scheint ein kleines Aggressionsproblem zu haben.“
Diese Feststellung trieb mich ein wenig in die Defensive und das nicht nur, weil es nicht stimmte. „Nein“, widersprach ich ihm. „Er passt nur auf mich auf.“
„Ein Umbra?“
Verdammt, warum hatte er jetzt damit anfangen müssen? „Nein, kein Umbra.“
Raphael musterte mich sehr intensiv. Seine Augen verengten sich ein wenig und dann sagte er: „Sydney.“
Ich widersprach nicht.
Das war ihm wohl Antwort genug. „Das ist dieser Sydney?“ Er schnaubte. „Da hättest du es aber wirklich besser treffen können.“
„Sprich nicht so über ihn“, wies ich ihn zurecht. „Du kennst ihn nicht.“
„Nein“, räumte er etwas verbittert ein. „Und das ist vermutlich auch besser so.“
Okay, so hatte ich mir das nicht vorgestellt. Natürlich verstand ich Raphael. In seinen Augen war Sydney daran Schuld, dass ich ihn damals verlassen hatte und an den Hof zurückgekehrt war. Und die Wahrheit konnte ich ihm auch nicht erzählen.
Ich wich einen Schritt vor ihm zurück. „Ich glaub, ich gehe besser wieder rein. Du weißt schon, Königinnenkram.“
„Nein, warte.“ Er kam eilig auf mich zu und wollte nach mir greifen, doch bevor er mich berührte, stoppte er sich selber. „Tut mir leid“, sagte er und ließ seine Hand zurück an seine Seite fallen. „Bitte geh noch nicht.“
Das war ein Fehler. Genau wie es ein Fehler war, überhaupt hier her gekommen zu sein. Und trotzdem rührte ich mich nicht vom Fleck.
Leider wuchs dadurch auch meine Unruhe. Unwillkürlich musste ich daran denken, was das letzte Mal geschehen war, als wir allein waren. Dieser Kuss, der einen Moment all die alten Gefühle wieder hochgebracht hatte.
„Danke“, sagte er dann.
Danke? Mein Kopf war so leer, dass ich ihn nur fragend ansehen konnte.
Er lächelte. „Dafür dass du mich gebeten hast zu kommen.“ Mit der Selbstverständlichkeit, mit der er es früher gemacht hatte, legte er mir eine Hand an die Wange und strich mir federleicht über die Haut. Oh Gott, Gänsehaut hoch zehn. Das war gar nicht gut, überhaupt nicht. Das machte alles viel zu kompliziert. „Du hattest Recht, ich gehöre zu meiner Familie, selbst wenn ich dich nicht haben kann.“
Oh nein, warum musste er das nur so ausdrücken? Der Kerl konnte es einem aber auch einfach nicht leicht machen. „Raphael, ich … was da vor meinem alten Haus geschehen ist …“
Er legte mir den Finger auf die Lippen. „Ich weiß.“ Sein Lächeln bekam einen bitteren Zug. „Du hast jetzt ein Gefährten und … ein Kind.“ Er verstummte kurz und ließ seine Hand zu meinem Kinn wandern. „Und auch wenn ich lange gebraucht habe um herzukommen, bin ich froh jetzt hier zu sein.“
Als er einen Schritt näher kam, war ich von diesem Moment wie gebannt. Ich wusste, ich sollte zurückweichen, aber konnte mich einfach nicht bewegen. Zumindest nicht, bis ich hinterm Fenster des Wohnwagens zwei neugierige Gesichter bemerkte. Tristan und Lucy.
Als ihnen aufging, dass sie erwischt worden waren, traten sie eilig den Rückzug an, genau wie ich. „Man, heute beobachtete mich mal wieder jeder“, grummelte ich und versuchte damit zu verbergen, was diese kleine Berührung in mir ausgelöst hatte.
Raphael sah zum Fenster, wo die Gardine noch leicht wackelte. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie das ist zu jeder Zeit von allen Seiten unter die Lupe genommen zu werden.“
„Es ist nervig“, sagte ich. „Extrem nervig sogar. Aber es hilft ein wenig allmächtig zu sein und so. Nur ein Blick, und Zack! Alle weg!“ Ich grinste breit.
„Ja, weil mit der durchgeknallten Königin will sich keiner so schnell anlegen.“
„Ach, das hast du natürlich gehört“, bemerkte ich empört. Das war ja mal wieder typisch. Lebt unter Menschen und den ersten Tratsch den er bei seiner Rückkehr auffängt war, dass ich nicht mehr alle beisammen hatte.
„Das musste ich gar nicht erst hören, das wusste ich schon vorher.“
„Irgendwie klang das jetzt nicht wirklich nach einem Kompliment.“
„Ich habe dich vermisst, Bambi“, sagte er leise und trat noch ein Stück näher.
Die Panik kam so plötzlich, dass ich fast über mein Kleid stolperte, als ich hastig zurück wich. Elvis fiel mir aus den Armen und flitzte empört unter den Wohnwagen. „Mach das nicht“, sagte ich hastig und spürte, wie meine Finger zu zittern begannen. Nein, doch nicht ausgerechnet jetzt!
„Ich wollte doch nur …“
„Nein.“ Mein Kopf flog von einer Seite zur anderen, dann wirbelte ich herum und floh. Damit konnte ich nicht umgehen.
°°°
Meine Beine führten mich geradewegs in mein Büro. In meine Suite wollte ich nicht, da waren Aric und Samuel und die sollten nicht mitbekommen, was geschehen war. Zu Sydney konnte ich nicht. Nicht nur weil ich zu feige war, um ihm unter die Augen zu treten, er würde auch erfahren wollen, warum ich nach meinem Pillendöschen griff und eine der Tabletten eilig hinunter würgte.
Ich hatte gewusst, dass es nicht einfach sein würde, Raphael in meiner Nähe zu haben. Es gab so viel Ungeklärtes zwischen uns, so viele Geheimnisse und Lügen. Und nichts davon durfte ich jemals aufklären. Aber … scheiße! Ich hätte nicht zu ihm gehen dürfen. Doch die Zeit mit ihm war so lange her, dass ich geglaubt hatte, mit seiner Gegenwart klarzukommen, wenn ich nur genug Abstand hielt.
Wie man sah, war das ein kolossaler Irrtum gewesen.
Unglücklich sank ich auf den Stuhl hinter meinen Schreibtisch und krampfte die Hände zu Fäusten, um das Zittern zu unterdrücken.
Was sollte ich denn jetzt machen? Nach all diesen Jahren war da noch immer diese Sehnsucht, dich mich zu Raphael treiben wollte. Gleichzeitig wollte ich aber auch nichts anderes, als mich in Sydneys Armen zu kuscheln, um zu vergessen, was der Deal mit Jegor mich alles gekostet hatte.
Bei Sydney hatte ich mich immer sicher und geborgen gefühlt. Vor ihm hatte ich keine Geheimnisse und egal was ich auch tat, er Urteilte nicht über mich. Er war alles was ich wollte. Er war mir wichtig, wichtiger noch als mein eigenes Leben. Aber Raphael … das war eine ganz andere Sache.
Ich konnte nicht in Worte fassen, was er für mich bedeutete. Einerseits war er der Mann, der all das hier zu verantworten hatte. Er war der Ursprung und der Grund, warum ich in die verborgene Welt eingetreten war und heute war, wer ich war. Aber wer sagte mir denn, dass es nicht auch ohne ihn so weit gekommen wäre?
Wenn ich um Hilfe gebeten hatte, war er immer sofort zur Stelle gewesen. Wenn ich um das geweint hatte, was ich verloren hatte, waren es seine Arme gewesen, die mich zusammengehalten hatten. Und durch ihn hatte mein Leben einen Sinn bekommen. Doch nichts davon war heute noch von Bedeutung, denn ich konnte ihn nicht mehr haben.
„Scheiße!“ Frustriert und unzufrieden stützte ich den Kopf in meine Hand und starrte auf meine Tischplatte, ohne wirklich etwas zu sehen. Ich spürte wie die Tablette langsam seine Wirkung entfaltete und ich ein wenig ruhiger wurde. Leider konnten aber auch Medikamente keine Ordnung in meine chaotische Gefühlswelt bringen.
Draußen begann es langsam zu dämmern. Das Licht der untergehenden Sonne malte Schatten in jede Ecke. Ich brachte nicht einmal die Kraft auf, die Schreibtischlampe anzuschalten.
Als der Mond aufging, saß ich noch immer im Dunkeln an meinem Schreibtisch und fragte mich, was ich tun sollte. Wahrscheinlich wäre es das Beste, sich einfach von Raphael fernzuhalten. Wenn ich mich nur …
Ein Geräusch an der Tür ließ mich aufblicken. Es klang, als würde da jemand versuchen die Türklinke sehr ungelenk zu betätigen. Einmal, zweimal. Als ich den Schalter der Schreibtischlampe betätigte und der Raum in sanftes Licht gehüllt wurde, passierte es ein drittes Mal. Dieses Mal jedoch ging die Tür einen Spaltbreit auf.
Stirnrunzelnd beugte ich mich zur Seite, gerade als die Tür unbeholfen aufgestoßen wurde.
Draußen stand Nikolaj. Er blinzelte zwei Mal und begann dann zu lächeln. „Ich habe beim Abendessen auf dich gewartet.“
Seine Stimme klang alkoholgeschwängert. Die Krawatte an seinem Hals saß locker und der glasige Ausdruck in seinen Augen zeigte mir deutlich, dass er schon einiges getrunken hatte. Vielleicht tat das aber auch die halbleere Flasche in seiner Hand.
„Aber du bist nicht gekommen.“ Er schüttelte den Kopf, als wollte es mir so noch einmal verdeutlichen.
Super, ein besoffener Nikolaj, das hatte mir jetzt gerade noch gefehlt. „Geh in dein Zimmer und schlaf deinen Rausch aus.“
„Das“, sagte er und zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf mich. „Ist eine ausgezeichnete Idee.“ Doch anstatt sie in die Tat umzusetzen, torkelte er in den Raum hinein und ließ sich auf einem meiner Sessel fallen, wo er gleich nochmal einen tiefen Schluck aus seiner Flasche nahm.
Das hieß dann wohl, dass er kein Interesse daran hatte zu gehen. Konnte dieser Tag noch schlimmer werden?
Als ich mich von meinem Stuhl erhob, fasste er mich sofort ins Auge. Ich trat neben ihm und streckte die Hand aus. „Gib mir die Flasche.“
„Warum?“ Er schaute hoch und schien seinen Blick nicht richtig fokussieren zu können. „Willst du mit mir trinken?“
„Nein, aber du hast genug.“
Das ließ ihn schnauben. „Ich habe dich in der Menagerie gesehen.“ Er schwenkte die Flasche, als überlegte er noch einen Schluck zu nehmen. „Mit dem Vampir.“
„Bitte?“
„Glaubst du ich hätte ihn nicht erkannt? Er war auch hier, zwei Tage nach deiner Rückkehr. Du hast ihn rausgeschmissen. Und du hast deswegen geweint.“
Verdammt, er wusste doch nicht etwa, wer Raphael war. Und … was er mir bedeutete.
„Ich bin nicht dumm Cayenne. Er gehört zu den Themis. Du gehörtest zu den Themis.“ Er nahm noch einen tiefen Schluck und stellte die Flasche dann neben sich auf den Beistelltisch. „Er hat dich an der Wange berührt und du hast dich nicht gewehrt.“ Sein Blick wurde tief traurig. „Ich darf dich nicht so berühren.“
Oh oh, das war gar nicht gut. Die Themis waren ja so schon ein rotes Tuch für ihn. „Du spionierst mir nach?“
Sein Mundwinkel zuckte. Dabei wirkte er in keiner Hinsicht belustigt. „Das brauchte ich gar nicht. Du hast dein Treffen nicht gerade verheimlicht. Jeder im Hof hätte euch sehen können.“
Mist. „Er ist ein Themis. Er hat das Recht hier zu sein. Ich habe allen Themis eine Einladung zukommen lassen.“ Warum rechtfertigte ich mich eigentlich? Ich hatte doch nichts falsch gemacht. Naja, zumindest nicht hinsichtlich Nikolaj. „Ich kann ihm ja wohl schlecht sagen, dass er wieder verschwinden soll. Das würde zu viele Fragen aufwirbeln, die ich nicht beantworten darf.“
Nikolaj hatte den Blick auf seine Flasche gesenkt, als würden darin die Antworten auf als seine Probleme nur auf ihn warten. „Die Themis sind die Einzigen, die dich noch interessieren.“
„Wenn du dich darüber beschweren willst, dass du ein paar mehr Dinge zu erledigen hast, bist du bei mir an der falschen Adresse. Die Arbeit der Themis ist wichtig. Mit ihrer Hilfe kann ich etwas wirklich Gutes erreichen. Allein in der letzten Wochen haben wir zwei Aushebungen vornehmen können, die nur durch unsere Zusammenarbeit möglich waren. Sie leisten …“
„Ich will keine Lobrede auf diese Schmarotzer!“, fuhr er auf. „Die sind doch alle nur gekommen, weil du ihnen die Absolution erteilst, oder glaubst du, sie sind aus reiner Herzensgüte aus ihren Löchern gekrochen?“
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Von ihm würde ich mich für meine Taten sicher nicht rechtfertigen müssen. „Das zwischen mir und den Themis ist ein Geben und Nehmen gleichermaßen. Ich musste ihnen etwas bieten und im gleichen Zug tun sie etwas für mich. Das ist ein Geschäft zwischen uns.“
Für einen Moment drückte er die Lippen fest zusammen. „Und was ist das zwischen uns?“, fragte er mit bitterem Ton.
Zwar wusste ich, was ich darauf antworten sollte, aber das wollte ich nicht. Und die Worte die mir auf der Zunge lagen wären in seinen Augen unangebracht und würden nur dazu führen, dass er seinen Vater mal wieder mit ins Spiel brachte. Daher fand ich, dass es das schlauste war, einfach mal den Mund zu halten.
„Früher hast du dir wenigstens noch etwas Mühe gegeben. Und als du dann zu mir kamst um schwanger zu werden, hatte ich gehofft, dass langsam alles besser werden würde. Aber nachdem du es warst, kamst du gar nicht mehr zu mir. Das war in Ordnung. Deine Schwangerschaft war nicht leicht und ich dachte, dass es schon wieder besser werden würde, wenn das Baby da ist.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber dem war nicht so. Nicht nur, dass du mein Sohn von mir fernhältst, du versuchst nicht mal mehr deine Abneigung gegen mich zu verbergen.“
„Er ist mein Sohn.“ Nur um das Mal klar zu stellen. „Und ich habe eben momentan keine Zeit für überflüssige Liebesbekundungen.“
Er lachte traurig. „Natürlich nicht. Für mich hast du ja nie Zeit, wenn ich sie mir nicht erpresse.“ Er griff wieder nach der Flasche, aber er hob sie nicht an. „Ich will meinen Vater nicht immer mit hineinziehen, aber wie sonst bekomme ich dich dazu, mich wie ein lästiges Insekt zu behandeln?“ Langsam hob er den Kopf. In seinen Augen lag ein Schmerz, den ich nur zu gut kannte.
Als ich mich von Raphael hatte trennen müssen, hatte ich ihn jeden Tag im Spiegel in meinen eigenen Augen gesehen. Gegen meinen Willen empfand ich Mitgefühl für ihn. Das wünschte ich nicht mal meinem ärgsten Feind.
„Du bist nicht die einzige, die in diesem Spiel leidet, Cayenne. Auch ich bin von meinem Vater in diese Rolle gezwungen worden, nur scheinst du das immer zu vergessen.“
Dafür wollte ich ihn beschimpfen, ihm sagen dass er selber schuld war, weil er sich nie gewehrt hatte, aber er sah bereits wie ein getretener Hund aus und ich konnte ihn nicht noch weiter nieder machen. Irgendwo hatte er ja Recht. Sich gegen Jegor zu wehren war nicht ganz einfach und Nikolaj war kein Kämpfer. Er hatte nie gelernt sich selber zu entfalten und seine Grenzen kennenzulernen, das hatte sein Vater nicht zugelassen.
Natürlich ließ mich das nicht kalt. Auch wenn ich gegen meinen Willen in dieser Beziehung steckte und so gut wie alles gegeben hätte, um ihr zu entkommen, hatte sich in den Jahren unserer Verbindung etwas zwischen uns aufgebaut. Ich konnte ihn immer noch nicht besonders leiden, aber ich hasste ihn nicht mehr, nicht mehr seit ich gesehen hatte, welche Mühe er sich gab und dass er sogar bereit war seinen Vater anzugreifen, um mich zu schützen.
„Sag mir was ich tun soll Cayenne, ich weiß es nicht.“ Er schüttelte den Kopf, so verzweifelt, dass es mich tief berührte. „Ich weiß es wirklich nicht mehr.“
Das war der Moment in dem mir klar wurde, dass es egal war wer sein Vater war, das alles hatte er nicht verdient. Zwar würde ich jetzt nicht alles umkrempeln und zu dem werden, was er sich erhoffte – den mal ehrlich, mein Gefühlsleben war bereits chaotisch genug und einen weiteren Kerl brauchte ich nun wirklich nicht – aber ich hatte aufgehört ihn als Feind zu betrachten, schon vor einer ganzen Weile, wie ich mir eingestehen musste.
Vielleicht war es ja doch möglich, zwischen uns eine Art freundschaftliche Verbindung zu schaffen. Es würde schwer werden, aber die Art und Weise, wie ich mich ihm gegenüber verhielt, hatte er nicht verdient. Nicht nachdem er bereit war alles zu geben was er hatte, nur um mich glücklich zu machen. „Komm“, sagte ich und griff nach seiner Hand. „Ich bring dich nach oben.“
„Nein, ich … würdest du mit mir laufen gehen.“ Ein tiefer Atemzug. „Nur heute?“
Nun, das war nicht unbedingt das, wonach mir gerade der Sinn stand, aber wie konnte ich ihn zurückweisen, wo er doch so verzweifelt war? Das brachte ich nicht fertig. „Nein, nicht nur heute.“ Ich strich ihm über den Kopf und machte mich dann von ihm frei. „Wir treffen uns draußen.“ Den vor ihm verwandeln, das würde ich mit Sicherheit nicht. Er hatte mich zwar schon nackt gesehen, aber das war aus der Not heraus geschehen.
Einen Moment war er einfach nur erstaunt. „Wirklich?“
„Ja. Natürlich nur, wenn du noch in der Lage bist geradeaus zu laufen.“
Nein, das Erstaunen wich nicht nicht. Nicht als er langsam aufstand und auch nicht, als er mit einem Blick über die Schulter mein Büro verließ.
Mir war bewusst, dass ich mit dieser Entscheidung den Startschuss zu ein paar Veränderungen gegeben hatte. Ich hoffte nur, dass ich wirklich in der Lage sein würde, nicht in alte Muster zu verfallen.
Sobald ich allein war und die Tür zu, entledigte ich mich meiner Kleidung und nahm meine zweite Gestalt ein. Nicht mal zehn Minuten später stand ich im Garten und folgte Nikolajs Fährte zum Waldrand.
Er hatte den Weg an der Menagerie vorbei gewählt, was mir die Möglichkeit gab, noch einem Moment in den Schatten der Ställe stehen zu bleiben und einen Blick auf meinen Wohnwagen zu werfen. Durch die Fenster schien noch Licht und die drei Silhouetten zeigten, dass Tristan und Lucy noch immer bei ihm waren. Aus den Sträuchern neben dem Wagen blitzen mir zwei grüne Augen entgegen. Elvis trieb also auch hier schon sein Unwesen.
Bevor ich noch auf irgendwelche dummen Gedanken kam, machte ich mich auf dem Weg zum Waldrand, wo ich Nikolaj sitzend zwischen den ersten Bäumen fand. Ich begrüßte ihn, indem ich ihm die Nase ins Fell schob, seinen Geruch witterte. Rudelgefährte. Mein. Der Wolf in mir wusste das ganz genau, ihm war es egal, mit welchen Problemen ich mich in meiner Menschlichen Gestalt rumschlagen musste, ihm war nur wichtig, dass dieser Wolf für ihn bedeutet. „Komm.“ Ich stupste ihm gegen die Wange. „Lass uns laufen.“
Und das taten wir dann auch. Die halbe Nacht rannten wir durch den Wald. Geredet wurde nicht viel, aber das war auch gar nicht nötig.
Wir liefen nebeneinander, jagten und balgten uns und ich musste gestehen, ich hatte Nikolaj noch nie so glücklich gesehen. Erst da wurde mir bewusst, dass es das erste Mal war, dass wir alleine im Wald waren. Wir liefen zwar regelmäßig zusammen, aber immer war das Rudel dabei. Und ansonsten ging ich nur mit Sydney laufen. Mit Nikolaj hatte ich das noch nie getan. Vielleicht war es gerade das, was ihn so glücklich machte. Mich einfach mal ganz für sich allein zu haben, war etwas Besonderes für ihn. Er berührte mich, wann er nur die Gelegenheit dazu bekam, lief immer so dicht, dass sich unser Fell streifte und es störte mich nicht.
Der Halbmond hatte diese Nacht schon einen Großteil seiner Bahn hinter sich gebracht, als wir schlussendlich ins Schloss zurückkehrten. Nikolaj versuchte mich durch kleine Gesten und Berührungen darauf aufmerksam zu machen, dass es ihn nicht stören würde, wenn ich mich mit in sein Gemach zurückzog, aber das war etwas, das ich weder heute noch in Zukunft bereit war zu tun. Freundschaft vielleicht, oder wenigstens ein freundschaftliches Verhältnis, aber auf keinen Fall mehr. Das würde ich nie wieder tun.
Ich rieb mein Kopf zum Abschied an seinem, strich ihm mit der Zunge über die Schnauze und trottete dann zu meiner Zimmertür. Ich war so müde, dass ich nur noch ins Bett wollte. Natürlich erst nachdem ich noch einmal nach Aric geschaut hatte. Doch es war nicht Samuel, der da auf meiner Couch lag und die Augen aufschlug, sobald ich in den Raum trat, sondern Sydney.
Zögernd blieb ich in der Tür stehen. Mit ihm hatte ich heute nicht mehr gerechnet, nicht nachdem was vorhin geschehen war.
Natürlich bemerkte er meine Unsicherheit und fasste sie falsch auf. Mit hochgezogenen Schultern und angelegten Ohren senkte er den Kopf. „Wenn Ihr möchtet, kann ich gehen.“
„Ich will nicht dass du gehst.“ Aber was ich auch nicht wollte, war mit ihm über die Gründe zu sprechen, warum ich Raphael nicht fortschickte. Und genau das würde passieren, wenn er bliebe. Ich hatte es ihm versprochen und außerdem war ich ihm die Wahrheit schuldig.
„Aber dass ich hier bleibe wollt Ihr genauso wenig.“
Verdammt, dieser Wolf kannte mich viel besser als es mir recht war. „Nein, das ist es nicht.“ Ich zögerte noch immer. Sollte ich ihn bitten das Zimmer zu verlassen, oder einfach die Tür schließen?
„Was ist es dann?“
Das wollte er mit Sicherheit nicht wissen. „Ich möchte es dir nicht erzählen.“ Jetzt war ich diejenige, die seinem Blick auswich. „Es würde dich nur verletzen.“
Damit breitete sich für einige Zeit eine drückende Stille zwischen uns aus. Die Frage war jetzt, würde er mich trotzdem bitten es zu erzählen, oder würde diese Informationszipfel reichen, um ihn zu verscheuchen – vielleicht sogar für immer.
„Hat es damit zu tun, wo Ihr die ganze Nacht gewesen seid?“
Wenn es das nur wäre. „Ich war mit Nikolaj im Wald laufen, ihm ging es nicht gut.“ Stille. „Nein, damit hat es nichts zu tun.“
Er setzte sich auf und schaute nachdenklich zu mir herunter. „Es überrascht mich, dass Ihr mit König Nikolaj laufen wart, aber wenn es nicht das ist, warum zögert Ihr dann den Raum zu betreten?“
Weil es da etwas gab, das alles kaputt machen könnte. Und ich wäre dann auch noch schuld daran.
„Ich möchte, dass Ihr mir es erzählt, auch wenn es mich verletzten sollte.“ Er wartete darauf, dass ich zu ihm kam, oder wenigstens die Tür schloss. Ich tat keines von beiden. „Bitte.“
„Es wäre nicht richtig mein Gewissen bei dir zu erleichtern, nur damit es mir besser geht.“
Er bekam wieder diesen Blick, der mich immer zu durchleuchten schien. „Es geht um diesen Vampir, hab ich recht? Um das Versprechen, das Ihr mir gegeben habt.“
War ja auch nicht wirklich schwer darauf zu kommen. „Bitte zwing mich nicht, ich will dir nicht wehtun.“
„Es würde mich viel mehr schmerzen zu wissen, dass Ihr ein Geheimnis vor mir habt, welches Euch so belastet, dass Ihr Euch nicht mal mehr traut, mir in die Augen zu schauen.“
Das glaubte er aber auch nur, weil er nicht wusste, war ich vor ihm verheimlichte.
„Bitte, Cayenne, sagt mir war Euch bedrückt.“
„Du wirst mich hassen.“
„Nichts könnte mich dazu bringen, Euch zu hassen.“
Doch, ich konnte das schaffen. Doch nun musste ich mich fragen, was war schlimmer? Ihn zu verlieren, weil ich zu feige war meine Fehler einzugestehen, oder mutig genug zu sein, genau das zu tun und ihn damit zu von mir fort zu treiben?
Und würde ich das was uns verband behalten können, wenn ich einfach weiter schwieg? Verdammt, ich hätte einfach mal früher über die Folgen meiner Taten nachdenken müssen.
Ich drückte die Tür mit meinem Kopf zu, bis sie eingerastet war und setzte mich dann davor. Zwar wäre ich unheimlich gerne zu ihm gegangen, um mich von seinem Geruch trösten zu lassen, doch ich glaubte nicht, dass er sonderlich glücklich darüber sein würde, wenn ich ihm erzählte, wie dumm ich mich verhalten hatte. „Nachdem ich mich von Ryder trennte, verschwand er eine ganze Weile von der Bildfläche“, begann ich leise. „Niemand wusste, wo er abgeblieben war. Seine ganze Familie hat nach ihm gesucht, aber er blieb einfach weg.“ Ich dachte daran zurück, was er mir in der Nacht vor meinem alten Haus erzählt hatte. „Er hatte sich unter den Menschen versteckt.“
„Das ist der Grund, warum Ihr ihn in den Hof eingeladen habt, damit er zurück zu seiner Familie findet. Und deswegen weigert Ihr Euch ihn wegzuschicken.“
Ich nickt. „Ja, das ist der Grund warum er hier ist.“ Aber nicht der, warum er mich nach Ende dieses Gesprächs hassen würde.
„Ich muss Euch zustimmen. Dass er hier bleiben muss und damit in Eurer Nähe ist, ist nichts was mich glücklich stimmt.“ Er sprang vom Bett und trabte zu mir, bis er fast Nase an Nase mit mir stand. „Aber das ist nicht der Grund, warum Ihr befürchtet, dass ich Euch hassen könnte.“
„Nein, ist es nicht.“
„Was ist es dann?“
Ich wollte es ihm sagen, wirklich, aber ich konnte nicht. Ich würde den Schmerz nicht ertragen, den ich ihm damit zufügte.
„Ihr wolltet dass ich darauf vertraue, dass Ihr gute Gründe habt, die die Anwesenheit des Vampirs erfordern. Nun schenkt mit Euer Vertrauen, wenn ich Euch sage, dass es nichts gibt, was mich dazu bringen könnte, mich von Euch abzuwenden.“
Doch gab es. Verrat. „Ich bin Raphael vor ein paar Wochen schon einmal begegnet. In der Zeit, in der ich in Berlin war.“ Ich wich seinem Blick aus, einfach weil ich es nicht ertragen konnte, ihm in die Augen zu schauen, während ich sein Herz brach. Und dann erzählte ich ihm was sich in dieser einen Nacht zugetragen hatte, und wie es dazu gekommen war.
Mit jedem Wort wurde mein Herz schwerer statt leichter, denn es verstand einfach nicht, warum ich nicht aufhörte zu reden und warum ich uns beiden damit einen Schaden zufügte, der nicht mehr zu beheben war. „Es tut mir leid“, endete ich. „Ich weiß es ist nicht viel und eine einfache Entschuldigung kann das niemals rückgängig machen, aber ich … ich … es tut mir so leid.“ Ich verstummte, was hätte ich auch noch sagen sollen? Jedes weitere Wort war hier überflüssig. Nun kannte Sydney die Wahrheit und es gab nur eine Möglichkeit wie er reagieren konnte.
Sag doch was, flehte ich, als die Stille zwischen uns immer drückender wurde. Er hatte sich nicht vom Fleck bewegt, oder mir sonst irgendein Hinweis darauf gegeben, was nun passieren würde. Was dachte er? Was würde er jetzt tun? Diese Ungewissheit war fast noch schlimmer, als mit dem Geheimnis leben zu müssen.
„Ihr habt diesen Vampir damals nicht freiwillig verlassen und ich bin mir durchaus bewusst, dass Ihr noch heute an seiner Seite weilen würdet, wenn Markis Jegor Euch nicht gezwungen hätte seinen Sohn zu heiraten.“ Er klang so geknickt, dass ich ihn am liebsten sofort in den Arm genommen hätte, doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass er das im Augenblick so toll finden würde. „Und natürlich bin ich über diesen Zwischenfall nicht begeistert, aber ich sehe wie ehrlich Eure Reue ist und vertraue darauf, dass es nur ein Ausrutscher war, der sich nicht wiederholen wird, auch wenn ich deutlich sehe, wie sehr Ihr Euch noch zu diesem Vampir hingezogen fühlt.“
Mein Kopf fuhr hoch. „Was?“
„Es sei denn natürlich, Ihr wollt dass ich mich von Euch zurückziehe. Dann werde ich gehen.“
„Du willst … du verzeihst mir?“ Das war doch einfach nicht möglich.
„Ich möchte Euch nicht verlieren.“ Der Schmerz in seinen Augen sprach Bände. „Dafür bedeutet Ihr mir zu viel, Cayenne.“
Das war einfach nicht möglich, das konnte nicht sein. „Hast du mir nicht richtig zugehört? Hast du nicht verstanden was ich getan hab? Du … du solltest mir nicht verzeihen. Du solltest mich anschreien und zum Teufel jagen. Ich habe dein Vertrauen missbraucht, verstehst du? Ich habe es die ganze Zeit vor dir verheimlicht und erst jetzt etwas gesagt, als mir nichts mehr anderes übrig blieb. Du solltest mich hassen!“ Verdammt, was was erzählte ich denn da für einen Unsinn? Er sagte genau das, was ich mir am aller meisten wünschte und ich versuchte ihn davon zu überzeugen, dass er mich zum Teufel wünschte.
„Ich könnte Euch niemals hassen.“
„Warum nicht?“ Scheiße. „Warum bist du nur immer so edelmütig? Warum gehst du nicht einfach und lässt mich in der Suppe sitzen, die ich mir eingebrockt habe? Ich verstehe das nicht.“ Und wirklich, das war mir völlig unbegreiflich. Wie konnte er nur immer so selbst aufopfernd sein und dabei nie Rücksicht auf sich selber nehmen? Einen Wolf wie Sydney hatte ich nicht verdient. Ich glaubte nicht, dass es auf der ganzen Welt auch nur eine Seele gab, die jemanden wir ihn verdient hatte.
„Die stärkste und widerstandsfähigste Rose geht ein, wenn sie niemanden hat, der sie pflegt.“ Er strich mit der Schnauze an meiner entlang. Ich schloss die Augen, und genoss es einfach, auch wenn ich nicht verstand, wie er das machen konnte. „Ihr tut so viel für andere und nehmt so wenig dafür. Ich kann Euch etwas geben, wozu kein anderer fähig ist und das möchte ich auch, weil ich weiß das es richtig ist.“
„Aber ich habe dich betrogen.“ Konnte ich nicht einfach die Klappe halten?
„Ich bin auch nicht glücklich darüber, aber ich weiß dass ich Euch vertrauen kann.“
„Woher?“
„Weil ich Euch liebe.“ Er stupste mir gegen die Nase. „Und Ihr mich.“
Und in dem Moment begann ich einfach zu heulen. Zu verstehen dass er mich nicht verlassen würde, überwältigte mich so sehr, dass ich gar nicht anders konnte. Nie in meinem Leben waren ich dankbarer gewesen ihn kennengelernt zu haben. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass ein solch tiefes Vertrauen zwischen uns herrschte, dass er mir einen solch gravierenden Ausrutscher verzeihen konnte. Ich selber hätte das nicht gekonnt. Aber Sydney, mein Sydney war einfach zu gut für diese Welt.
Ich wusste nicht wie lange wir noch dort saßen, oder wie wir ins Bett kamen. Alles war verschleiert von meinem Tränen und dem unbeschreiblichen Glück, das ich fühlte. Keine Ahnung, wie ich alles unter einen Hut bringen sollte, aber zumindest konnte ich friedlich an Sydney gekuschelt einschlafen. Und zum ersten Mal war ich wirklich sicher, dass es nichts gab, was uns auseinander bringen konnte. Er würde zu mir stehen, egal was da kam. Jetzt musste ich mich nur noch seines Vertrauens als würdig erweisen.
Am nächsten Morgen wachte ich auf, noch bevor Collette mich wecken konnte und hoffte insgeheim, dass Sydney und ich unsere Versöhnung auf die althergebrachte Art feiern würden, doch das taten wir nicht, denn auch Aric war bereits wach und verlangte lautstark nach Aufmerksamkeit.
Das war schon ein wenig frustrierend. Nicht nur weil ich es liebte Sydney nahe zu sein, sondern auch, weil es fast ein Jahr her war, dass mehr als kuscheln und küssen passiert war.
Während meiner Schwangerschaft war es mir verboten gewesen, Sex zu haben und danach … ich dachte nicht gerne an die Zeit danach.
Mir blieb also gar nichts anderes übrig, als meinen kleinen Schatz zu füttern und dann ins Badezimmer zu verschwinden, während Sydney ein Auge auf unseren kleinen Wolf hatte.
Das erste Mal, als ich in Arics Bettchen einen kleinen Welpen, anstatt einem kleinen Jungen gefunden hatte, war schon etwas seltsam gewesen. Doch mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt. Und das nicht nur, weil er die meiste Zeit seinem bisherigen Lebens lieber auf vier Pfoten verbracht hatte. Es war einfach ein Teil von ihm.
Sobald ich fertig war und selber noch eine Kleinigkeit gegessen hatte, schnappte ich mir meinen Sohn und machte mich auf den Weg zum HQ, um der angesetzten Besprechung der Themis beizuwohnen.
Der Konferenzraum waren schon gut mit zwei Dutzend Leute anwesend, von denen ich ungefähr die Hälfte mit Namen und noch ein paar mehr von sehen her kannte. Da waren Murphy und Alexia, die weiße Wölfin, Tristan, Lucy, und Future. Auch Sergio entdeckte ich an dem großen runden Tisch.
Wer sich aber nicht unter den Anwesenden aufhielt, waren Roger und Migule.
Ich sagte Diego, er solle sich irgendwo ein Plätzchen suchen, legte dann eine dicke Babydecke in die Raumecke, wo sie niemanden stören würde und setzt Aric vorsichtig darauf.
Sydney stupste mir gegen die Wange und legte sich dann zu dem Kleinen, der sich sofort an den Bauch von meinem Wolf kuschelte. Das war so süß, dass ich es bedauerte, keine Kamera dabei zuhaben.
Mit gleichmäßigen Zungenstrichen glättete Sydney Arics Fell. Auch wenn ich wusste, dass ein solches Verhalten zwischen Wölfen völlig normal war, kam es mir doch seltsam vor, es bei meinem eigenen Kind zu sehen. Gut, ich hatte das auch schon gemacht, aber …
„Er hat hier nichts zu suchen.“
Sydney zeigte seine Zähne und ich musste mich nicht erst umschauen, um zu wissen, wer da in den Raum gekommen war.
„Sydney begleitet mich überall hin“, teilte ich Raphael mit und strich Aric noch einmal über den Kopf. Erst dann richtete ich mich auf. „Und das wird sich nicht ändern, nur weil es dich stört.“
Er verschränkte die Arme vor der Brust. „Er ist gehört nicht zu den Themis und ist damit unerwünscht.“
Vielleicht bei ihm, was ich auch verstehen konnte, aber ich würde meinen Mentor deswegen noch lange nicht wegschicken. „Ich möchte aber, dass er hier ist.“
„Na wenn das Euer Wunsch ist, wird dem natürlich entsprochen.“ Er verbeugte sich spöttisch vor mir, machte kehrt und setzte sich am anderen Ende des Raumes auf einen freien Platz.
„Er mag mich nicht“, stellte Sydney sehr schlau fest.
„Raphael ist der Meinung, dass ich ihn wegen dir verlassen habe.“ Und selbst wenn es so wäre, hätte er kein Recht, so auf Sydney herabzusehen. Ich würde mit ihm ein ernsthaftes Wort wechseln müssen. Mit beiden. Diese Rivalität sollte noch im Keim erstickt werden.
Ich sah von einem zum anderen, sah wie sie beide versuchten sich mit Blicken zu erdolchen und seufzte. Tja, da war ich wohl schon zu spät, dieser Keim war schon lange geblüht.
Als eine Blondine mit Brille und Sommersprossen die Besprechung eröffnete, suchte ich mir schnell ein Platz zwischen Future und Murphy. Dann lauschte ich den Berichten der letzten Woche. Eine Handvoll Leute waren in der Nähe von Osnabrück verschwunden. Man war sich nicht sicher, ob man das den Skhän zuschreiben konnte, da es keinerlei Zeugen gab. Danach folgten Zahlen, Namen und Orte. Leute die gefunden und nach Haue gebracht wurden, zwei Neuzugänge bei den Themis, Sklavenhändler, die nie wieder ihrem Beruf würden nachgehen können.
„Darf ich an dieser Stelle mal unterbrechen?“, fragte ich und zog damit die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich.
Die schon etwas in die Jahre gekommene Blondine, schaute von ihren Unterlagen auf und schien nicht sehr erfreut darüber, dass sie ihren Monolog nicht zu Ende führen konnte. „Nun denn, König Cayenne, ich bin mir sicher, dass alle gebannt an Euren Lippen hängen werden.“
Okay, die hatte wohl etwas gegen mich. „Danke. Also, ich hab mir die letzten Tage so einige Gedanken über das Verfahren gemacht, mit dem wir den Skhän normalerweise begegnen. Sie direkt und vor Ort auszuschalten, ist natürlich die effektivste Methode, um der unmittelbaren Gefahr zu entgehen, nur gehen uns auf diesem Weg sehr viele Informationen verloren.“
„Und jetzt habt Ihr eine Idee, wie wir das ändern können.“
Hatte ich dieser Frau irgendwas getan, oder warum sprach sie so herablassend mit mir? „In der Tat. Es ist ein altes Problem, dass wir früher nur umgehen konnten, wenn wir einzelne Fänger oder Skhän erwischt haben. Leider passiert das sehr selten. Jetzt aber sind die Themis bei weitem besser gerüstet und darum sollten wir vielleicht einmal in Betracht ziehen, wenn sich uns die Möglichkeit bietet, die Skhän festzunehmen, anstatt sie hinzurichten. Damit könnten wir unseren Informationsfluss verbessern.“ Denn die Skhän hatten eindeutig Informationen, die uns immer entgingen, weil wir sie einfach nicht zu Wort kommen ließen.
Ein paar der Themis nickten nachdenklich, die Blondine jedoch, schnaubte nur abfällig.
„Ich höre Wir und Uns, dabei werdet Ihr bei den Einsätzen sicher in Eurem Schloss zurückbleiben. Ihr seid es nicht, die ihren Kopf dafür hinhalten muss, wenn etwas schief gehen sollte.“
Und da ging mir ein Licht auf. Diese Frau war wohl eine von den wenigen Themis, die sich gegen eine Fusion mit mir ausgesprochen haben. „Muss ich Sie kennen?“
Die Andeutung auf ihre Unwichtigkeit, trieb ihr eine leichte Rötung auf die Wangen. „Ich bin Emily und trage in der Abwesenheit von Migule die Verantwortung für den korrekten Ablauf und er Zuordnung der einzelnen Fälle.“
Was? Die war neuerdings Miguels rechte Hand? Aber das war bisher doch immer sein kleiner Bruder gewesen. „Murphy?“
Er grinste ein wenig schief. „Da dieses Amt mittlerweile bedeutet, die meiste Zeit hier zu sein und sich den Hintern platt zu sitzen, habe ich mich entschieden, es abzugeben. Du weißt doch, ich bin eher der Mann für Außeneinsätze.“
Das verstand ich und ich würde mich hüten, mich in die internen Belange der Themis einzumischen. Trotzdem musste hier mal etwas klargestellt werden. „Ich habe keine Ahnung, wer sie sind und wie lange sie schon dabei sind, aber in der Vergangenheit habe ich eine Menge für die Gruppe geleistet.“
„Und uns dann einfach im Stich gelassen.“
Bamm, das saß. Ich wagte es nicht nach links oder rechts zu schauen. Ich konnte die Blicke spüren. Von Tristan und Lucy. Aber besonders den von Raphael. Sie alle hatten keine Ahnung, warum ich von heute auf morgen einfach ein neues Leben begonnen hatte, in dem für sie kein Platz mehr war. „In ihren Augen mag das vielleicht so aussehen, aber wo wären wir heute, wenn die Dinge nicht so gelaufen wären, wie sie es sind? Die Themis wären noch immer dazu verdammt im Untergrund zu agieren, das Rudel würde weiterhin in Angst leben und das Königshaus sich nur mit ihren Belangen beschäftigen.“
Da schnaubte die blöde Kuh doch spöttisch. „Das heißt, wir müssen Euch jetzt auch noch dankbar sein?“
Okay, gleich platzte mir die Hutschnur. „Ich bin es, die dankbar ist. Ich bin dankbar dafür, dass wir alle gemeinsam endlich etwas auf die Beine gestellte haben, was wirklich eine Zukunft hat und helfen kann. Und sie brauchen nicht glauben, dass ich mich während der Einsätze im Schloss verkriechen werde, um seelenruhig ein Tässchen Tee zu schlürfen. Auch ich werde meinen Teil dazu beitragen und den Themis auf ihren Missionen folgen. Also tun sie nicht so, als würde ich nur versuchen mich wichtig zu machen.“
Ich starrte ihr fest in die Augen, solange bis sie die Lippen zusammendrückte und den Blick abwandte. Ha, gewonnen.
„Du kannst nicht mitkommen, Cayenne“, erklärte Tristan in die folgende Stille hinein.
Super, der Nächste. „Und warum nicht, wenn ich fragen darf?“
„Du bist unsere Königin. Du bist zu wichtig, als dass wir riskieren könnten, dich zu verlieren.“
„Der Einzige der mich davon abhalten kann ist Miguel und du weißt genauso gut wie ich, dass er nicht auf meine Fähigkeiten verzichten, nur weil mein Hintern sich so phantastisch auf einem Thron macht.“
Da leise Grollen von Sydney hinter mir, ignorierte ich einfach. Seine Meinung kannte ich zur genüge, aber der sichere Käfig, den er sich für mich wünschte, war nichts für mich.
„Und nur um das Mal festzuhalten, mein Thron ist echt unbequem. Da gehe ich auf jeden Fall lieber mit auf Jagd.“ Damit sorgte ich für einzelne Lacher. Obwohl der Scherz gar nicht beabsichtigt war.
Damit kehrten wir zu dem eigentlichen Thema zurück.
Es wurde beschlossen, dass mein Vorschlag einmal ausprobiert werden sollte, wenn sich die Möglichkeit ergab und man das Ergebnis abwarten müsste, um eine endgültige Entscheidung zu treffen.
Zufrieden lehnte ich mich zurück und lauschte den Erfolgsberichten der letzten Woche und den Informationen, die Lucy bei ihrer Arbeit als Maulwurf gesammelt hatte. Sie war inzwischen in dem ganzen Verein so involviert, dass sich selbst die höheren Händler dazu herabließen, mit ihr zu kommunizieren. So hatte sie den Themis schon ein paar Mal wertvolle Tipps geben können, mit denen ein Überfall von vorne herein vereitelt werden konnte. Mittlerweile war dabei nicht mal mehr ihre ständige Anwesenheit vonnöten, sie konnte jetzt aus der Ferne agieren, was ihr einen großen Vorteil bei ihrer Arbeit mit den Themis bot.
Kurz darauf wurde das Meeting für beendet erklärt.
Ein paar wollten sich noch für ein gemeinsames Training in der Turnhalle treffen. Ich schloss mich ihnen sofort an. Natürlich musste ich zuerst noch Aric füttern, ihn zurück zu Samuel bringen, Berater Archie entkommen, ein Telefonat mit Baroness Bea führen und mich umzuziehen, weil Training im Kleid ja doch ein wenig albern wäre. Aber dann war ich sofort dabei.
°°°°°
In einer schwarzen Yogahose und einem weißen Tanktop, betrat ich zusammen mit Sydney und Diego die Trainingshalle, im Keller vom HQ. Sie war eine der wenigen Räume in diesem Gebäude, die bereits fertiggestellt waren und erfreute sich bei allen überaus großer Beliebtheit.
Bereits vor dem Eintreten hatte ich das Lachen und die Rufe gehört und nun konnte ich beobachten, wie sich die einzelnen Trainingspartner gegenseitig aufstachelten und niederrangen. Es wurden Schläge und Tritte ausgeteilt und eingeschenkt. Dabei war man mit seinem Partner nicht allzu nachsichtig, wenn er nicht richtig aufpasste. Schließlich wurde hier für den Ernstfall trainiert.
Ungefähr in der Mitte der Halle entdeckte ich Tristan, der zwei Mal hintereinander von Lucy auf die Matte geschickt wurde. Tja, Lucy war vielleicht kein offizieller Umbra mehr, aber wie es schien, hatte sie in all den Jahren nichts verlernt.
„Ihr solltet euch am Rand ein sicheres Plätzchen suchen“, bemerkte ich und schaute dabei zu, wie Tristan ein drittes Mal auf die Matte geschickt wurde. Uh, das hatte sicher wehgetan. „Sonst kommt vielleicht noch einer auf die Idee, euch beim Training mit einzubeziehen.“
Diego schmunzelte nur, trat aber an den Rand. Sydney jedoch stand dem Ganzen ein wenig skeptisch gegenüber.
„Wenn ich denke, dass es nichts gibt, was Euch daran hindern könnte, an dieser … Orgie teilzunehmen, werdet ihr mir sicher zustimmen.“
„Orgie?“ Das zauberte mit ein Lächeln auf die Lippen. „Ich liebe Orgien.“
Irgendwie schien er das nicht so witzig zu finden. „Dann seid wenigstens vorsichtig.“
„Mach dir keine Sorgen. Das hier ist weitaus ungefährlicher, als sich mit der Politik am Hof zu befassen. Einfach draufschlagen und ausweichen.“ Ich ließ meine Finger sanft durch sein Nackenfell gleiten. „Vielleicht sollte ich diese Taktik in Zukunft auch bei Hofe benutzen. Das würde mir so manche Diskussion ersparen.“
Diese Überlegung ließ ihn leise lachen. „Ich bin mir nicht sicher, ob ein solches Vorgehen Akzeptanz finden würde.“
„Schade, das würde … ah!“
Jemand packte mich von hinten, riss mich herum und warf mich einfach mal rücklings auf die Matte, nur um sich gleich darauf auf mich zu stürzen und mich auf den Boden zu nagen.
Oh Gott, mein Rücken.
„Du warst unaufmerksam“, grinste Murphy auf mich herab.
„Ich war noch nicht mal richtig in der Halle drinnen“, beschwerte ich mich. Also wirklich, man durfte doch wohl noch Zeit haben, sich ein wenig umzusehen. „Das war also nicht fair.“
„Die Skhän spielen auch nicht fair, oder hast du das vergessen?“ Er grinste Spitzbübisch. „Und jetzt zu deiner Strafe.“
„Strafe?“
Grinsend drückte er meine Arme über meinem Kopf auf die Razemat, veränderte seinen Griff dann so, dass er mich mit einer Hand festhalten konnte und fing dann doch tatsächlich an mich abzukitzeln. Wie kindisch was das denn? Und noch viel schlimmer, es war die reinste Folter. Ich war überall kitzlig und das fand er ziemlich schnell heraus. Meine Erbarmenrufe wurden dabei völlig ignoriert. Mich so zu quälen machte ihm unglaublichen Spaß. Kleiner Sadist!
„Murphy bitte“, flehte ich lachend. Gott, ich konnte bald nicht mehr und er hielt mich mit so eiserner Hand fest, dass ich mich nicht von ihm losmachen konnte. Verdammt, ich war vielleicht doch ein wenig eingerostet. Doch dann tauchte aus dem nichts ein feuerroter Haarschopf auf und riss ihn von mir runter.
Ich brauchte einen Moment um wieder zu Atem zu kommen und einen zweiten, um zu kapieren, dass es Lucy war, die mir zu Hilfe gekommen war.
Erstaunt und verblüfft schaute ich dabei zu, wie die beiden auf die Matte fielen, sich einmal herum wälzten und dann auseinander sprangen, um in die Angriffshaltung überzugehen. Einen Moment umkreisten sie sich und dann wurden ein paar gezielte Schläge ausgetauscht.
Lucy hatte mir geholfen. Okay, es war nur ein Spiel, aber trotzdem, Lucy hatte mir geholfen. Diese Tatsache machte mich so perplex, dass ich Tristan erst bemerkte, als er sich mit ins Getümmel warf.
Zu meiner Überraschung, half er aber nicht seiner Freundin, sondern stand Murphy zur Seite. Wahrscheinlich wollte er die Gunst der Stunde nutzen und zur Abwechslung mal Lucy am Boden sehen.
Okay, ich hatte zwar nicht die geringste Ahnung, was das hier zu bedeuten hatte, aber da sie mir geholfen hatte, fand ich es nur fair, wenn auch ich noch ein wenig mitmischte. Leider sah Tristan mich kommen und wich spielend leicht zur Seite aus, während Murphy ganz schön darum zu kämpfen hatte, auf den Beinen zu bleiben.
„Zu langsam.“ Tristan schenkte mir ein Raubtierlächeln und begann mich wachsam zu umkreisen. Das Training hatte bereits leichte Spuren auf ihm hinterlassen.
Da kam mir ein Geistesblitz. „Hey Ladys“, rief ich so laut, dass mich auch alle hören konnten. „Lasst uns den Herren mal zeigen, wer hier die Hosen an hat. Jungs gegen Mädels, auf sie mit Gebrüll!“
Und genau das passierte dann auch. Von einem Moment auf den anderen lag die Hälfte der Kerle unter dem Kriegsgeheul der Damen auf den Matten, einfach weil die Frauen schneller geschaltet hatten. Die andere Hälfte schlug sich zwar wacker, aber da galt, wer auf der Matte lag war tot und die Frauen waren schon nach dem ersten Schlag in der Überzahl.
So viel zum Thema Aufmerksam.
Natürlich ließ ich es mir nicht nehmen, kräftig mitzumischen. Da Tristan sich aber bereits tatkräftig gegen Future und die weißhaarige Alexia wehren musste, machte ich mich daran, Lucy zu helfen, Murphy zu töten. Das stellte sich als schwieriger raus, als gedacht. Zwar schafften Lucy und ich im Team ein paar gute Schläge, aber wenn es daran ging, ihn in die Zange zu nehmen, um ihm auf den Boden zu ringen, wandte er sich schlimmer als eine Schlange.
Dann endlich schaffte ich es. Lucy lenkte ihn mit einem Kick ab, brachte ihn damit aus dem Gleichgewicht, was es mir möglich machte ihm auf dem Rücken zu springen. Ich versuchte ihn mit meinem Schwung umzuwerfen, aber der Kerl war standfester, als mir lieb war.
„Jetzt gib endlich auf!“, schimpfte ich.
„Niemals!“
Während ich da also auf seinem Rücken hing, teilte er weiter Schläge mit Lucy, als wäre ich nichts als ein lästiges Anhängsel. Das war schon ziemlich deprimierend. Na warte, so leicht ließ ich mich nicht ignorieren.
Ich klammerte mich mit den Beinen an seiner Taille fest, veränderte meinen Griff und wollte ihn in den Schwitzkasten nehmen. Ich hätte es auch getan, wenn da nicht plötzlich zwei Arme gewesen wären, die sich um meinen Bauch schlangen und mich einfach von ihm herunter rissen.
Ich verlor den Halt, wurde herumgewirbelt und noch bevor ich ganz verstand, was da gerade geschah, wurde ich mit dem Gesicht voran gegen die Wand gedrückt.
Hastig griff ich nach vorne, um mich von der Wand wegzudrücken, aber mein Gegner schien zu Ahnen, nach was mir der Sinn stand. Er griff nach vorne, nagelte meine Arme an die Wand und drückte seinen ganzen Körper gegen meinen, um mich bewegungsunfähig zu machen.
Mist. Zwar war ich noch nicht tot, aber erst mal außer Gefecht gesetzt.
Während ich überlegte, wie ich mich aus die Klemme befreien konnte, stieg mir auf einmal sein Geruch in die Nase. Wer mich da festhielt, war Raphael.
„Na, gibst du auf?“ Seine Stimme war ein Hauch an meinem Ohr und sorgte bei mir für eine Gänsehaut.
Super, das hatte mir gerade noch gefehlt. „Eigentlich müsstest du mich besser kennen.“
Er lachte leise. Plötzlich wirbelte er mich herum, drückte mich mit dem Rücken gegen die Wand und drängte sich erneut gegen mich.
Ich versuchte ihm bei dem Manöver einen Handkantenschlag gegen den Hals zu versetzen, doch er kannte mich gut genug, um zu wissen, was ich vorhatte. So war es ihm ein Leichtes meine Hand abzufangen, bevor ich ihn treffen konnte. Dann saß ich wieder in der Falle und starrte genau in diese faszinierenden Augen. Das war nicht gut. Das war viel zu nahe.
Auf seinen Lippen lag ein herausforderndes Lächeln.
„Du lebst wohl gerne gefährlich“, sagte ich, einfach um etwas zu sagen.
„Nur mit dir an meiner Seite, Bambi.“
Ich ignorierte sowohl die Anspielung als auch meinen Herzschlag, der nicht nur wegen den Training so schnell schlug. Stattdessen zappelte ich ein wenig herum, was im Grunde nichts weiter brachte, außer dass sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen.
„So wird das aber nichts.“
Na warte. „Deine Frechheiten werden dir schon noch vergehen.“ Ich schenkte ihm ein umwerfendes Lächeln, während ich gleichzeitig mein Knie hochzog. Nicht dass ich beabsichtigte es wirklich zu tun, es ging einfach darum, seine ganzen Möglichkeiten auszuschöpfen. Schade nur, dass er damit gerechnet hatte und dem Angriff spielend leicht auswich.
„Ah ah ah, das ist aber nicht nett.“
„Es ist auch nicht nett, eine wehrlose Frau an die Wand zu drücken.“ Ich versuchte meine Hand in seinem Griff zu drehen, um etwas mehr Spielraum zu bekommen. Er kreuzte sie sofort zwischen unseren Oberkörpern und hielt sie noch ein kleinen wenig fester.
„Und was hast du jetzt vor?“
„Das hier.“ Ich machte meinen Rücken rund und drückte meine Arme gleichzeitig nach vorne. Dann ließ ich mich einfach fallen. Meine Hoffnung war, dass sich durch den Überraschungsmoment sein Griff ein wenig lockern würde, aber das was geschah, war noch viel besser.
Durch das plötzliche Übergewicht, wurde er nach vorne gerissen und knallte mit dem Kopf gegen die Wand. Es gab ein dumpfes Geräusch und dann brachte ich ihn mit einer Beinschere zu Fall.
Er kippte zur Seite und ließ mich dabei los, um seinen Sturz abzufangen. Ich nutzte die Gelegenheit, indem ich ihm noch einen Schlag versetzte, der ihn auf den Rücken rollte. Er versuchte noch wieder hoch zu kommen, doch da hatte ich bereits ein Bein über ihn geschwunden und die Hand zur Faust geballt, als würde ich einen Dolch darin halten. Nur noch ein gezielter Schlag auf sein Herz und schon hatte ich ihn. „Du bist tot“, teilte ich ihm mit.
Er grinste frech. „Das mag vielleicht sein, aber ich gebe einen umwerfenden Leichnam ein.“
„Sind wir heute mal wieder ein wenig eingebildet.“
„Das nennt sich selbstsicher.“ Erlegte seine Hand auf meine, die immer noch auf seinem Herz ruhte und erst jetzt nahm ich wahr, wie schnell es eigentlich schlug. Und das hatte sicher nichts mit unserem kleinen Übungskampf zu tun. Verdammt, das sollte mir nicht auffallen. Das es mir auffiel, war gar nicht gut. „Nicht eingebildet.“
„Was?“ Super, jetzt hatte ich auch noch vergessen, worüber wir gerade noch gesprochen hatten. Cayenne an Gehirn, jemand anwesend da oben?
Raphaels lächelte so, dass seine Fänge herausragten. „Ich habe gesagt, dass ich nicht eingebildet, sondern selbstbewusst bin.“ Er drückte meine Hand und bedachte mich mit einem Blick, der mich hastig in die Flucht schlug.
Ich stand so eilig auf, dass ich fast noch über ihn rüber fiel.
„Cayenne.“ Auch er richtete sich auf. „Ich …“
„Das habt Ihr gut gemacht.“ Sydney tauchte so plötzlich neben mir auf, dass es ein Wunder war, dass ich nicht vor Schreck zusammenzuckte. „Einfach grandios.“
„Du übertreibst maßlos, das war nur Glück.“
Er schmiegte sich so übertrieben auffällig an mein Bein, dass es mich nicht wunderte, dass Raphael sich wortlos umdrehte und ging.
„Das war unnötig gewesen.“
„Ich weiß nicht wovon Ihr sprecht.“
Er sagte das so überzeugend, dass ich ihm geglaubt hätte, wenn ich ihn nicht so gut kennen würde. „Natürlich weißt du das.“
„Nein, weiß ich nicht.“ Nachdem er seine Arbeit getan hatte, drehte er siegreich ab und setzte sich zurück an seinem Platz.
Das würde sicher noch einige Probleme geben. Um die Spannungen zwischen den beiden zu beheben, sollte ich mir dringen etwas einfallen lassen.
Während ich von Sydney zu Raphael schaute, gesellte sich Alexia an meine Seite.
„Er ist wirklich süß.“
„Wer?“
„Der Wolf mit dem sandfarbenen Fell.“
„Du meinst Sydney?“ Überrascht sah ich sie an. Klar, ich wusste das Sydney süß war, aber wenn ich ehrlich war, passte es mir gar nicht, das ihr das auch aufgefallen war.
„Sydney.“ Sie kostete den Namen auf ihrer Zunge aus, als sei er eine süße Versuchung, der sie nur schwer widerstehen konnte. „Ich glaube, ich sollte mich ihm einmal vorstellen.“ Nachdenklich tippte sie sich mit dem Finger gegen das Kinn und den Blick, mit dem sie ihn dabei bedachte, als wollte sie ihn mit Haut und Haaren verschlingen.
Okay, bisher hatte ich Alexia echt gerne gehabt, aber plötzlich mochte ich sie nicht mehr. „Das kannst du dir sparen.“
„Ach ja? Warum?“
Gute Frage. Schade dass ich ihr nicht einfach sagen konnte, dass er mir gehörte, denn das hätte doch ein paar Fragen aufgewirbelt. „Er steht nicht auf Frauen“, hörte ich mich sagen. Was Besseres fiel mir auf die Schnelle leider nicht ein. Entschuldige Sydney.
„Wirklich?“ Sie klang enttäuscht. „Was habe ich nur immer für ein Glück.“
„Tja, so ist das eben. Da musst du doch wohl nach jemand anderem umschauen.“ Lass bloß die Finger von meinem Mann! Ich lächelte sie sehr liebenswert an.
Hinter uns wurden Jubelrufe laut. Der Kampf der Geschlechter war zu Ende und gewonnen hatten – einen Trommelwirbel bitte – die Frauen.
Klar, ich wusste, dass wir das nur geschafft hatten, weil wir nach meinem Aufruf schneller reagiert hatten, aber schon so eine Kleinigkeit konnten die Entscheidung zwischen uns und den Skhän ausmachen.
„Na, glaubst du, du kannst mit mir mithalten?“
Verwundert drehte ich mich herum und musste feststellen, dass ich mich nicht verhört hatte. Diese Frage war wirklich von Lucy gekommen. Ich schaute noch mal über die Schulter, um sicher zu gehen, ob da nicht noch jemand anderes war.
„Ja, ich rede mit dir.“
Okay. „Hab ich irgendein Memo verpasst?“
Sie schnaubte nicht sehr damenhaft. „Du meinst, weil ich es mir nicht nehmen lassen möchte, dir ganz legal den Hintern zu verhauen?“
Gut, wenn sie es so ausdrückte. „So leicht lasse ich mich aber nicht verhauen.“ Ich ging in Angriffsposition.
Lucy lächelte nur und wie ich zehn Minuten später feststellen musste, zurecht. Sie traf mich nicht nur dreimal so oft wie ich sie, ich lag auch so oft auf der Matte, dass ich eigentlich gar nicht mehr aufzustehen brauchte. Das war wirklich frustrierend. Morgen würde ich nicht nur ein Haufen blauer Flecken haben, sondern auch einen fürchterlichen Muskelkater.
So ein ausgiebiges Training hatte ich nicht mehr gehabt, seit … naja, seit ich den Hof vor zweieinhalb Jahren betreten hatte. Genaugenommen hatte ich seit dem gar nicht mehr trainiert. Das bekam ich nun deutlich zu spüren.
Als ich mich, mit schmerzendem Sitzfleisch, mal wieder von der Matte hochrappelte, klingelte das Handy an Lucys Gürtel.
„Hast du keine Angst, dass es beim Training kaputt geht?“
„Es ist schon das dritte diesen Monat.“ Sie sah auf das Display, fluchte sehr ausgefallen und eilte noch während sie das Gespräch annahm aus der Halle. So konnte man dem Training natürlich auch entgehen.
Ich rappelte mich hoch und wollte zu Sydney gegen, hielt aber abrupt inne. Er saß noch am Rand, das war nicht das Problem. Das Problem war das weißhaarige Miststück, das ihm hinter dem Ohr kraulte, obwohl ich ihr doch gesagt hatte, dass sie ihre Pfoten von ihm zu lassen hatte. Gut, das hatte ich nicht gesagt, aber das hätte ich gerne. Und der Idiot schien das auch noch zu genießen!
Mein Odeur explodierte um mich herum und traf genau auf Alexia, die erschrocken zu mir herumwirbelte. Keine Ahnung, was sie da sah, aber sie wurde ziemlich blass um die Nase. Ich war schon dabei, einen Schritt auf sie zuzumachen, als Sydney kaum merklich den Kopf schüttelte und mich wieder zur Räson brachte. Klar, einen Themis in einer Eifersuchtsattacke zu ermorden, könnte einige wenige Fragen aufwerfen, die ich nicht bereit war zu beantworten.
Okay, tief durchatmen. Ruhig Blut. Sie wusste es ja nicht besser und auch wenn es mir gewaltig gegen den Strich ging, konnte ich durchaus verstehen, dass sie versuchte sich an meinen Wolf ranzumachen.
Mit reiner Willensstärke rief ich mein Odeur zurück, aber der Schaden hinsichtlich Alexia war bereits angerichtet. Unter meinem Blick zog sie sich langsam von Sydney zurück. Ob sie etwas ahnte, oder glaubte, ich sei einfach nur durchgeknallt, war mir eigentlich egal. Wichtig war nur, dass sie in Zukunft ihre dreckigen Griffel bei sich behielt.
„Könntet ihr mir mal alle ein Ohr leihen?“
Super, jetzt nervte auch noch Emily.
Ich wandte meinen einschüchternden Blick nicht von Alexia ab. Die würde ich so schnell nicht mehr aus den Augen lassen.
„Wir haben gerade die Information erhalten, dass morgen früh ein paar der höhergestellte Skhän ein Meeting in Kassel abhalten werden. Der Ort ist bisher geheim und wir wissen nicht, wer genau daran teilnehmen wird, aber es geht wohl um ein paar sehr wichtige Daten.“
„Wenn wir diese Daten in die Finger bekommen können“, führte Lucy weiter auf. „Dann können wir den Skhän und den Kunden einen herben Schlag versetzen. So wie mir mein Chef gerade mitgeteilt hat, geht es darin auch viel um die internen Abläufe des Handels. Vielleicht können wir mit ihnen auch Spuren lange verschollener Personen zurückverfolgen. Future, wir brauchen einen von deinen High-Speed-Dingern.“
„Dingern?!“ Future blähte die Backen auf, als würde sie gleich der Schlag treffen. „Das sind keine Dinger, dass sind Multi …“
„Ja, das wissen wir“, unterbrach Emily sie mitten im Satz. „Sorge einfach dafür, dass die Ausrüstung bereit steht. Dies wird kein Rettungseinsatz. Ich brauche drei Leute, die sich im zwei weiteren Themis in Kassel treffen werden. Eure Aufgabe ist es reinzugehen, die Papiere und Daten zu sichern und wieder zu verschwinden. Unbemerkt. Wer meldet sich freiwillig?“
Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass alle Arme nach oben schnellten. Den Skhän den Hintern zu versohlen, würde sich keiner entgehen lassen. Viel wichtiger war es mir im Augenblick, Alexia solange mit Blicken zu taxieren, bis ihr klar war, dass es eine sehr dumme Idee sein würde, Sydney noch einmal hinterm Ohr zu kraulen. Das war mein Privileg, meines ganz alleine.
„Okay, ihr beide und … Euer Majestät, würdet Ihr uns auch mit Eurer Anwesenheit beehren?“
„Natürlich.“ Wenn sie glaubte, dass ich einen Rückzieher machte, hatte sie sich aber geschnitten. Ich winkte Sydney zu mir und machte mich auf den Weg nach draußen. „Zwanzig Minuten, dann können wir los.“
Früher hätte ich nicht mehr als fünf gebraucht, aber früher war ich auch noch keine Königin gewesen und was noch viel wichtiger war, Mutter. Natürlich würde ich Aric nicht mitnehmen können, aber ohne mich von ihm zu verabschieden und mich zu versichern, dass alles in Ordnung war, konnte ich nicht einfach verschwinden.
Ich fand Samuel im Garten. Er saß auf einer Bank und schaute dabei zu, wie Aric auf dem Finger von Umbra Drogan herumkaute. Hm, ich war heute wohl nicht die einzige, die zum Kampftraining musste. Aber der Kleine war wesentlich süßer.
Ich teilte ihnen mit, dass ich ein paar Tage verreisen musste und bat Samuel gemeinsam mit Sydney ein Auge auf Aric zu haben.
„Natürlich, dass ist gar kein Problem.“
„Gut, danke.“ Ich befreite Drogan von meinem beißwütigen Sohn, kuschelte noch ein wenig mit ihm und versprach ihm, bald zurück zu sein. Dann machte ich mich mit Sydney auf den Weg nach oben, um mich umzuziehen.
Zu dieser Gelegenheit, kramte ich ein paar Hosen hervor, die in der hintersten Ecke meines Schrankes schon Staub angesetzt hatten. Zwar war ich jetzt die Königin, doch der Adel würde trotzdem an kollektivem Herzversagen sterben, wenn ich bei Hofe etwas anderes als ein Kleid trug.
Ein Rucksack mit dem Nötigsten war schnell gepackt. Auch meine Skorpionkette gesellte sich zu den Sachen. Dann war ich fertig.
Als ich meine Suite dann verließ, musste ich aber feststellen, dass es da eine Kleinigkeit gab, die ich völlig vergessen hatte. Diego und Ginny. Die beiden standen mit Sack und Pack vor meiner Tür und schienen auf mich zu warten.
„Wenn ich euch befehle hier zu bleiben, würdet ihr nicht auf mich hören, oder?“
Während Diego den Kopf schüttelte, schenkte Ginny mir ein Lächeln, mit dem sie mir mitteilte, dass ich gerne versuchen könnte sie loszuwerden. Meine Chancen auf Erfolg, waren jedoch sehr gering.
Super. „Dann lasst und gehen.“
Bevor ich mich allerdings auf den Weg zu den Anderen begab, machte ich noch einen kurzen Abstecher zu Nikolaj, um ihn über meine Pläne in Kenntnis zu setzten. Natürlich war er alles andere als begeistert und versuchte mich umzustimmen. Als er merkte, dass es nichts brachte, kehrte er mir unzufrieden den Rücken und ließ mich einfach stehen.
Das war neu. „Los, lass uns gehen“, sagte ich zu Sydney und ging mit ihm hinaus zum HQ, wo bereits ein Haufen Themis um zwei Wagen herum standen.
Ich hockte mich zu Sydney und vergrub mein Gesicht an seinem Fell. „Pass gut auf Aric auf.“
„Ich wünschte Ihr würdet nicht gehen. Das ist keine Aufgabe für eine Königin.“
„Als Königin bin ich dazu verpflichtet, das Rudel zu beschützen und genau das werde ich tun.“
„Niemand hat von Euch verlangt, dass Ihr ins Auge des Sturms reisen müsst.“
„Sydney.“ Ich drehte seinen Kopf, bis er mich ansehen musste. „Du weißt wie wichtig mir das ist, also sei nicht sauer, okay?“
Er legte die Ohren an. „Das fällt mir schwer, besonders da er Euch begleiten wird.“
„Er?“ Ich folgte seinem Blick und … oh nein, das Schicksal konnte doch nicht wirklich so fies sein.
Da, an dem Motorrad, auf dem Tristan bereits mit Lucy saß, stand auch Raphael und unterhielt sich mit den beiden. In seiner Hand hielt er eine kleine Reisetasche und wartete scheinbar darauf, dass es endlich los ging. Verdammt, ich hatte mich so auf Alexia konzentriert, dass ich gar nicht mitbekommen hatte, wer außer mir noch für die Mission eingeteilt wurde. „Verflucht!“
„Ja, so könnte man es umschreiben.“
Gott hatte wirklich einen schwarzen Humor. Klar, ich hatte mir Raphael zurückgewünscht, aber das war einfach nur grausam. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen“, redete ich auf ihn ein. Um nun ihn oder mich zu überzeugen, wusste ich nicht so genau. „Tyrone und Letisha sind ja auch dabei, genau wie Diego und Ginny. Ich werde also nicht mit ihm allein sein. Außerdem werde ich den Kopf voll haben. Es wird nichts passieren.“
Liebevoll stupste er mir gegen die Wange. „Euch vertraue ich. Ihr habt mir gestern Euer Wort gegeben und ich habe keinen Grund daran zu zweifel.“ Er sah hinüber zu Raphael, der uns nun seinerseits beobachtete. „Doch ihm traue ich nicht. Er wird versuchen Euch zurückzugewinnen. Er liebt Euch noch immer und ich kann es ihm nicht einmal verdenken.“
„Du sagst so schöne Sachen zu mir.“ Ich küsste ihn noch auf die Schnauze, aber dann war es an der Zeit sich in Bewegung zu setzten. „Und keine Sorge, es wird alles gut gehen.“
Er beugte leicht den Kopf. „Darauf hoffe ich.“
Ich schulterte meinen Rucksack und schlenderte zu den dreien herüber. „So, von mir aus kann es losgehen.“
Tristan nickte. „Ich fahre mit Lucy vor, ihr nehmt den Wagen. Wir treffen uns dann heute Abend bei Bianca.“
Bianca? Moment, da klingelte doch etwas bei mir. „Ist das nicht die Vampirin, bei der wir …“ Ich verstummte, als mir bewusst wurde, dass sowohl Diego, als auch Ginny zuhörten.
„Genau die“, bestätigte Raphael. „Und es wäre nett, wenn du sie dieses Mal nicht anknurren würdest.“ Er zwinkerte mir verspielt zu.
Mein Lächeln verrutschte ein wenig. Damals hatte ich sie angeknurrt, weil sie Raphael angetatscht hatte. „Keine Sorge, dazu besteht kein Grund.“ Denn heute ging mich das nichts mehr an.
Den Blick, den Raphael mir daraufhin zuwarf, konnte ich nicht entziffern.
„Gut, wir fahren dann.“ Tristan schob sein Visier herunter und startete seine Maschine. Zum Abschied hob er noch einmal die Hand, versicherte sich dann, dass Lucy sich auch richtig festhielt und fuhr los.
„Dann sollten wir uns wohl auch langsam auf den Weg machen.“ Raphael schaute von einem zum anderen. „Wer fährt?“
„Ich nicht.“ Ich hatte es in der Zwischenzeit zwar geschafft meinen Führerschein zu machen, doch ich war noch immer lieber Beifahrer. Ich fand den Straßenverkehr halt einfach beängstigend.
„Ich kann fahren“, bot Diego an.
„Na dann los.“
Zwanzig Minuten später fuhren wir aus Silenda raus. Raphael saß vorne neben Diego, ich teilte mir die Rückbank mit Ginny und war heilfroh, meine Umbra bei mir zu haben. Wir würden mehrere Stunden mit dem Wagen unterwegs sein und wenn ich mir vorstellte, dass ich die fast alleine mit Raphael verbracht hätte, dann wurde ich doch ein wenig nervös.
„Das ist fast so wie früher.“ Raphael lächelte mir durch den Rückspiegel zu.
Okay, sehr nervös. „Ähm …“, machte ich und schaute vorsichtig zu Ginny hinüber.
Sie merkte es natürlich. „Wie lange begleite ich Euch nun schon?“
War das eine Fangfrage? „Seit meiner Rückkehr an den Hof.“
„Ja und in all der Zeit sind mir viele Ungereimtheiten aufgefallen, was die Zeit Eures Verschwindens angeht. Besonders seit dem Einzug der Themis. Ich habe nie nachgefragt und das werde ich auch nicht. Ich bin hier um Euch zu beschützen und nicht um Eure Geheimnisse zu ergründen.“
Oh. „Okay.“
„Außerdem ist Diego ein Plappermaul und hat mich schon vor einer ganzen Weile zu einer Eingeweihten gemacht.“
Was?! Ginny wusste über alles Bescheid? „Diego!“
„Du darfst den Fahrer nicht hauen.“ Durch den Rückspiegel warf er mir einen vorsichtigen Blick zu.
„Nein“, stimmte ich ihm knurrig zu. „Aber sobald wir anhalten, kann ich dir den Hintern versohlen.“ Und das würde ich auch tun.
°°°
Die Nacht war bewölkt und tauchte das Gästezimmer von Bianca in tiefe Dunkelheit. Nur die beleuchteten Ziffern des Digitalweckers auf dem Schreibtisch, spendeten ein wenig grünliches Licht.
Auf der aufblasbaren Matratze hinter dem Schreibtisch, lag Ginny. Ich konnte ihre Silhouette im diffusen Licht des Weckers erkennen. Sie schlief. Ganz im Gegenteil zu mir.
Seufzend drehte ich mich auf den Rücken und starrte an die Decke. Dabei versuchte ich Diego nicht zu wecken, der neben mir auf dem ausklappbaren Sofa lag.
Schon seit Stunden wälzte ich mich von einer Seite auf die andere. Ich war unruhig. Vielleicht, weil das seit langem meine erste Mission war. Ach, so ein Blödsinn, der Grund war ein ganz anderer.
Leise drehte ich den Kopf zur Seite und schaute zu der Stelle unter dem Fenster, wo eine weitere Luftmatratze lag. Raphael schlief dort. Das vertraute Geräusch seines Atems war der Grund, warum ich kein Auge zubekam. Er lag auf der Seite und trug nur eine Jogginghose. Die Decke hatte er weggeschoben, als wäre ihm zu warm. Oder als wollte er meine Aufmerksamkeit damit erregen.
Das ist doch Schwachsinn, tadelte ich mich selber und zwang mich meinen Blick auf das Fenster zu richten.
Es war schon Abend gewesen, als wir die Randbezirke von Kassel gestreift hatten. Wir hatten und noch schnell eine Kleinigkeit vom Chinesen besorgt und waren mit unserer Beute dann zu Bianca und ihrer Mitbewohnerin Jasmin gefahren. Tristan und Lucy waren etwas später dazugestoßen.
Als wir uns alle dazu entschlossen hatten, dass es Zeit fürs Bett war, war es bereits sehr spät gewesen. Tristan und Lucy hatten für die Nacht das Wohnzimmer bekommen. Bianca und Jasmin hatten ihre eigenen Zimmer. Ich war mit dem Rest von uns ins Gästezimmer verbannt worden. Im Gegensatz zu mir schien das aber niemanden am Schlaf zu hindern.
Es war einfach seltsam, Raphael so in meiner Nähe zu wissen und mich daran zu erinnern, was wir einmal gewesen waren. Wie Sydney gesagt hatte, ich hatte ihn nicht freiwillig verlassen und wäre ohne Jegor sicher noch immer bei ihm. Aber seit dem war so viel geschehen und nun hatte ich Sydney. Sydney, den ich liebte und der mit vertraute. Ich durfte dieses Vertrauen kein weiteres Mal enttäuschen.
Und dann waren da ja auch noch Vivien und Anouk. Darum musste ich mich von Raphael fernhalten.
„Alles okay mit dir?“
Überrascht zuckte ich zusammen. So ein Mist, Raphael schlief ja gar nicht. Konnte man sich heutzutage eigentlich auf gar nichts mehr verlassen? „Klar, alles bestens.“
„Und warum schläfst du dann nicht?“
Weil du mit im Raum bist und ich einfach nicht aufhören kann daran zu denken. Nein, diesen Gedanken sollte ich besser nicht aussprechen.
Als ich still blieb, richtete er sich leise auf. Gerade in dem Moment kämpfte sich der Mond hinter den Wolken hervor und spendete genug Licht, sodass ich das Muskelspiel unter seiner Haut bewundern konnte.
Super, vielen Dank auch, das hatte ich jetzt wirklich noch gebraucht.
„Wenn du früher nicht schlafen konntest, dann hat dich etwas bedrückt.“
Darauf würde ich mit Sicherheit nicht reagieren.
„Ich kann immer noch gut zuhören, wenn du darüber sprechen möchtest.“
Mit einem tiefen Atemzug richtete ich meinen Blick wieder an die Decke. „Meine Probleme gehen dich schon lange nichts mehr an. Wir sind nur hier, weil wir einen Auftrag haben. Mehr nicht.“ Ich war mir nicht sicher, ob diese Worte ihm, oder mir selber galten.
Raphael schlug die Augen nieder. „Es gab eine Zeit, da hast du mit mir über alles geredet.“ Er kniff die Lippen zusammen. „Was ist nur mit dir passiert?“
„Das Leben“, sagte ich tonlos. „Das ist passiert.“ Ein gemeines Leben, ohne Aussicht auf Besserung.
Er schnaubte abfällig. „Du meinst wohl Sydney ist passiert.“
Oh oh.
„Meinst du ich bin so blind, dass ich nicht bemerke, wie ihr euch anseht? Oder wie eifersüchtig er ist?“ Er schüttelte den Kopf, als sei er es leid, dass diese Gedanken seinen Geist belasteten. „Du magst vielleicht die Gefährtin von König Nikolaj sein, aber zurück an den Hof bist du nur, wegen dem Schreiberling.“
An dieser Stelle war es besser einfach den Mund zu halten. Ich wollte nicht, dass er Sydney für all das verantwortlich machte, einfach weil es nicht stimmte. Aber es war besser, wenn er seinen Unmut auf ihn richtete, anstatt nach der Wahrheit zu suchen und dabei vielleicht auf Dinge stieß, die besser im Verborgenen blieben.
Hinter mir regte Diego sich, drehte sich von einer Seite auf die andere. Ein kurzer Blick zeigte mir, dass seine Augen waren offen. Schlief in diesem Haus eigentlich irgendjemand?
Raphaels Lippen verzogen sich verärgert. „Warum gibst du es nicht einfach zu?“
„Weil es nicht stimmt“, kam es da ganz unerwartet von Diego.
Alarmiert setzte ich mich auf und funkelte ihn an. „Hör auf von Dingen zu sprechen, von denen du nichts weißt.“
Auch Diego blieb nun nicht länger liegen. „Ich weiß, dass du nach deiner Rückkehr furchtbare Angst hattest, deinem Mentor auch nur unter die Augen zu treten.“
„Sei still!“, fauchte ich.
„Und ich weiß auch, dass ihr beide mehrere Wochen gebraucht habt, um wieder halbwegs ungezwungen miteinander umgehen …“
Ich schubste ihn gegen die Wand. „Du sollst still sein, hab ich gesagt!“
„Was?“ Raphael runzelte die Stirn. „Wenn du nicht wegen ihm zurück bist, warum bist du dann von heute auf Morgen einfach verschwunden?“
Als sich nun auch noch Ginny aufsetzte und wachsam in meiner Richtung schaute, spürte ich wie meine Finger anfingen zu zittern.
Diego sah mir direkt in die Augen. „Ich schätze, es hat etwas mit der Abmachung zwischen ihr und König Nikolaj zu tun.“
Diese Worte reichten aus, dass mir das Blut bis auf die Knochen gefror. Diego hatte es nicht vergessen, er hatte nur auf den richtigen Moment gewartet, um es noch einmal zur Sprache zu bringen.
Sie versuchten mich in die Ecke zu drängen. „Hört auf damit“, flüsterte ich und krallte die Hände in die Decke. Mein Herz schlug immer schneller und ich spürte, wie die Welle der Panik sich langsam in mir ausbreitete.
„Abmachung?“, fragte Raphael und schaute argwöhnisch von einem zum anderen.
„Das geht dich nichts an!“, fauchte ich und schaffte es einfach nicht mich zu beruhigen. „Das geht niemanden von euch etwas an!“
Einen Moment war nichts anderes zu hören, als mein hektischer Atem.
„Bambi“, sagte Raphael dann leise. „Sieh mich an.“
Das tat ich nicht. Stattdessen kniff ich die Augen zusammen und versuchte wieder Herr über mich selber zu werden.
„Ihr solltet damit aufhören sie zu bedrängen“, kam es da ganz unerwartet von Ginny.
„Nein“, widersprach Raphael. „Ich will, dass sie endlich mit mir spricht.“ Das Bettzeug auf der Luftmatratze raschelte, als er sich erhob. Ich hörte wie er näher kam, weigerte mich aber weiterhin die Augen zu öffnen.
„Diego“, knurrte Ginny.
Er ignorierte sie. „Cayenne, wir wollen dir doch nur helfen.“
„Das geht nach hinten los“, warnte Ginny.
Als sich das Polster der Couch neben mir senkte, riss ich nicht nur die Augen auf, sondern wich auch noch eilig zurück. „Bleib weg von mir!“, fauchte ich Raphael an. „Lasst mich in Ruhe!“
„Nein“, sagte nun auch noch Diego. Er griff nach meiner Hand und den dem Moment geschah es. Plötzlich fühlte ich mich gefangen und all die Ängste die ich solange unterdrückt hatte, brachen mit einem Mal aus mir hervor.
Meine Krallen fuhren instinktiv aus und noch bevor ich verstand, was ich da überhaupt tat, stürzte ich mich auch schon auf Diego. Ich erwischte ihn irgendwo im Gesicht und hörte meinen eigenen Schrei.
Er durfte mich nicht festhalten, ich war nicht seine Gefangene, das ertrug ich nicht. Ich würde es verhindern, dass mich noch jemand zu seiner Marionette machte. Niemand durfte andere benutzen, das war falsch. Wenn er es doch machte, war er falsch. „Du bist falsch!“, schrie ich ihn an und versuchte erneut nach ihm zu schlagen, aber Diego war schnell genug um mich am Handgelenk abzufangen, bevor ich ihn erwischen konnte. „Nein!“ Meine Stimme überschlug sich fast. Ich versuchte mich freizumachen und erwischte ihn mit dem Knie im Magen. Meine Augen waren riesig vor Panik.
Diego bemerkte sehr schnell, dass er mich nicht unter Kontrolle bekam, solange ich über ihm war. Also packte er mich an den Schultern und rollte sich mit mir herum. Das Schlafsofa war nicht besonders breit. Wir fielen herunter und ich knallte mit dem Rücken auf den Boden.
„Bambi!“
Als ich sein Gewicht auf mir spürte, fing ich an zu schreien. Ich schrie aus vollem Halse, wehrte mich mit Händen und Füßen und schaffte es doch nicht ihn von mir herunter zu stoßen. Meine Sicht begann zu verschwimmen. Die Gesichter über mir wurden zu den Fratzen aus meinen Alpträumen. Er hatte mich, ich war gefangen.
„Was ist los mit ihr?“, fragte Raphael panisch. „Bambi!“
Ich spürte wie der Wolf in mir erwachte und sich einzelne Körperteile von mir veränderten. Ich musste ihn aufhalten, ich musste!
„Ich habe doch gesagt, ihr sollt aufhören!“, fauchte Ginny und rannte quer durch das Zimmer.
Oh Gott, ich schaffte es nicht, er war einfach zu stark. Er klemmte mich einfach zwischen seinen Beinen ein und hielt mich am Boden. „Ich will das nicht“, wimmerte ich. „Geht weg, geht weg von mir!“
Aus dem Flur wurden Schritte laut. In der nächsten Sekunde ging das Licht im Raum an.
„Was ist hier los?“, fragte Lucy.
Diego antwortete ihr nicht. „Ginny, der Kulturbeutel!“ Er hatte alle Mühe mich am Boden zu halten und gleichzeitig meinen Krallen auszuweichen.
Ich trat und schlug um mich, aber er ließ einfach nicht locker. Ich musste hier rauskommen, sonst würde er alles kaputt machen, alles.
„Ginny, schnell!“
„Ich finde ihn nicht!“
„Nicht noch mehr!“, schrie ich und schlug mit dem Kopf auf den Boden. „Ich kann nicht!“ Und noch mal schlug ich meinen Schädel auf den Teppich. „Ich kann nicht!“ Und noch einmal. Ich spürte es nicht. Da war kein Schmerz, nur schier endlose Verzweiflung. „Ich kann nicht!“
„Verdammt, Ryder, halt ihren Kopf fest!“
Als ich den unnachgiebigen Griff seine Hände an meinem Kopf spürte, begann ich aus Leibeskräften zu schreien. Das durfte er nicht. Ich hatte es Sydney versprochen. Es würde nichts passieren, Raphael durfte mich nicht so nahe kommen. „Nein! Nein!“ Aber er ließ nicht los.
„Ginny!“, brüllte Diego.
„Nein, geh weg, das darfst du nicht! Ich hab es ihm versprochen und ich will nicht lügen, keine Lügen mehr! Ich will nicht mehr lügen!“
„Ich hab ihn.“ Von der Seite kam Ginny angestürzt. In ihrer Hand hielt sie einen roten Kulturbeutel, den sie schon aufriss, während sie sich neben mich hockte. „Jemand muss ihren Arm festhalten“, rief sie und und holte eilig das Etui mit meiner Notfallausrüstung heraus. „Jetzt!“
Nach kurzen Zögern, tauchte Lucy neben mir auf. Ihre Augen weiteten sich vor Unglaube, als sie sah, was Ginny in ihrer Hand hielt. „Eine Spritze?“
„Nein, lass das, lass mich los! Ich will das nicht!“
Diegos Gesicht tauchte über meinem auf. „Du musst still halten, Cayenne. Gleich ist alles wieder gut, aber zuerst musst du still halten.“
Etwas Warmes tropfte auf meine Wange. Ich roch Blut. In dem Moment nahm ich Diego richtig wahr. An seiner linken Schläfe hatte er drei blutige Kratzer. Tiefe Kratzer.
Das war ich gewesen, ich hatte ihn verletzt, ich hatte Diego angegriffen. Oh nein, wie hatte ich das nur tun können? „Das wollte ich nicht.“
Ginny zog die Schutzkappe von der Spritze, während Lucy meinen linken Arm auf dem Boden fixierte.
Ich hörte auf mich zu wehren, wartete einfach nur darauf, dass dieser Schrecken endlich ein Ende fand. „Es tut mir leid. Es tut …“
„Warte“, sagte Diego in dem Moment, als Ginny die Spritze ansetzte. Sie zögerte.
„… mir leid. Bitte, es tut mir leid“, weinte ich. Warum konnte das alles nicht einfach aufhören?
„Cayenne?“, fragte Diego vorsichtig.
„Es tut mir leid.“
Diego lockerte wachsam seinen Griff und als ich nicht wieder versuchte ihn anzugreifen, befahl er Raphael und Lucy mich loszulassen.
Die beiden kamen der Aufforderung nur sehr zögerlich nach.
Einen Moment lag ich einfach nur da. Erst als Diego sich sicher war, dass ich ruhig bleiben würde, ließ er mich los und richtete sich auf.
Ich blieb einfach leise murmelnd liegen und entschuldigte mich immer wieder bei ihm. Ich konnte es einfach nicht glauben. Ich hatte ihn angegriffen und ihn verletzt. Ich hatte meinen Diego verletzt.
Tief einatmend zog Diego mich an sich und erlaubte es mir, mich an seiner Brust zu verstecken.
„Was war das eben?“, wünschte Raphael zu erfahren. „Und wofür ist die Spritze?“
Niemand beachtete ihn.
„Cayenne.“ Ginny berührte mich vorsichtig an der Schulter. „Wo ist Eure Dose?“
Dose? Was für eine Dose? Die mit den Pillen. Ich brauchte meine kleinen bunten Pillen. „Mein Döschen.“
„Ja, wo ist sie.“
Sie war in … verdammt! Konzerntrier dich. Wo hatte ich sie hingepackt? „Tasche“, sagte ich und machte mich von Diego frei. „Hosentasche.“
Suchend schaute ich mich um, doch bevor ich sie gefunden hatte, hielt Tristan sie mir bereits vor die Nase.
„Hosentasche“, murmelte ich wieder und begann mit zitternden Fingern darin herumzusuchen. Aber die Tasche war leer. „Leer“, sagte ich und spürte, wie meine Atmung wieder schneller wurde.
„Ruhig“, sagte Diego und legte mir vorsichtig eine Hand auf den Rücken. „Schau in der anderen Tasche nach.“
Die andere, genau. Ich griff in die rechte Hosentasche und da war sie. Als meine Finger sich darum schlossen, war das wie ein Anker, der mir dabei half die Nerven zu behalten. Oder zumindest das, was noch davon übrig war.
Unter den Augen der Anwesenden zog ich mein kleines, schwarzes Pillendöschen heraus. Ich musste nur eine davon schlucken, dann würde es mir sofort wieder besser gehen, aber sie ging nicht auf. Warum bekam ich die nie auf?
„Was hat sie?“, wollte Tristan wissen.
„Gar nichts hat sie“, brummte Diego und sah dabei zu, wie ich an so einer einfachen Aufgabe scheiterte. „Lass mich, ich mach …“
„Nein!“ Bevor Diego mir mein Döschen aus der Hand nehmen konnte, drehte ich mich eilig weg. „Ich kann das, ich mach das selber.“ Wenn meine Finger nur nicht so zittern würden. Warum ging die nur nie … der Verschluss öffnete sich plötzlich und die drei Tabletten flogen im hohen Bogen hinaus.
Verdammt, konnte den rein gar nichts funktionieren?
„Wo sind sie?“ Mit wildem Blick suchte ich den Boden ab, doch der flauschige Teppich verbarg sie vor mir und das Wasser in meinen Augen machte es auch nicht unbedingt einfacher. „Wo sind sie? Ich brauchte sie, wo sind …“
Eine Hand schob sich in mein Sichtfeld. Darin eine von meinen Pillen.
Aus Angst sie könnte wieder verschwinden, packte ich die Hand mit festem Griff, schnappte mir dann die Tablette und schluckte sie ohne Wasser herunter. Ich merkte nicht mal dass es Raphaels Hand war, die ich da umklammerte.
Leider war das nur eine, aber in die Dose gehörten drei. „Wo sind die anderen? Ich brauch sie auch, ich brauche …“
Diego legte vorsichtig seine Arme um mich. „Komm.“
„Aber meine …“
„Wir suchen sie für dich.“
Widerstandslos ließ ich mich von ihm aufs ausgezogene Schlafsofa setzen. Doch erst als ich etwas ruhiger wurde und die Pille begann ihre Wirkung zu entfalten, bemerkte ich, dass ich noch immer Raphaels Hand festhielt. Hastig ließ ich ihn los, schlang die Arme um mich und versuchte durch gleichmäßiges Atmen die Wirkung der Pille zu unterstützen. So hatte Doktor Ambrosius es mir beigebracht. Einatmen, ausatmen, einatmen, ausatmen …
Lucy und Tristan suchten währenddessen den Teppich ab. Diego blieb neben mir, achtsam und besorgt, darauf bedacht, ob das Medikament wirkte, oder ein neuer Anfall sich seinen Weg in die Freiheit erkämpfte. Ginny währenddessen spießte ihn mit einem mörderischen Blick auf.
„Sie ist wirklich verrückt“, hörte ich Jasmin sagen. Sie stand mit Bianca im Türrahmen und hatte die ganze Show von da aus beobachtet. „Ich dachte immer das sind nur dumme Gerüchte, aber …“
„Du solltest besser den Mund halten“, knurrte Ginny.
Sofort verstummte sie.
Ich lachte freudlos. „Lass sie doch, sie hat doch recht.“
„Nein hat sie nicht“, sagte Diego fest und ließ damit keine Wiederworte zu.
Raphael tauchte vor mir auf und hielt mir das offene Döschen hin. Die beiden verschwundenen Pillen lagen darin.
Ich nahm sie entgegen, zählte mit dem Finger. „Eins, zwei.“ Sie waren beide da.
„Mehr haben wir nicht gefunden.“
„Zwei ist richtig. Er gibt mir immer nur drei.“ Ich klappte den Deckel zu und verbarg das Döschen in meiner Hand.
Raphael sah forschend in mein Gesicht. „Cayenne, was war das eben? Wozu sind diese Tabletten?“
Ich kniff die Lippen zusammen. Warum war Sydney nur nicht hier? Dann wäre das sicher nicht passiert. Wenn Sydney bei mir war, konnte ich ruhig bleiben, bei ihm war ich sicher, nur bei ihm. „Ich bin müde.“
Diego drückte mir die Schulter. „Dann leg dich hin.“
Ja, hinlegen. Hinlegen und schlafen. Schlafen war gut, danach sah die Welt doch gleich wieder ganz anders aus.
Mit Diegos Hilfe schaffte ich es unter die Decke. Das Pillendöschen barg ich dabei wie einen Schatz an meiner Brust. Das gab mir Sicherheit, wo es keine Sicherheit gab – nicht für mich.
Ich spürte, wie Ginny sich neben mich setzte und mir vorsichtig über den Kopf strich. „Das ist eure Schuld“, zischte sie und funkelte sowohl Diego, als auch Raphael an. „Ich hab euch gesagt, dass ihr Aufhören sollt. Besonders du müsstest es besser wissen.“ Der letzte Teil ging nur an Diego.
Keiner der beiden Männer widersprach.
„Komm“, sagte Lucy und nahm Diego an die Hand. „Wir schauen uns mal dein Gesicht an. Bianca, hast du hier einen Erste-Hilfe-Kasten, oder sowas?“
„Ja, im Bad. Ich zeig es euch. Jasmin, kannst du mal unten an die Schublade gehen? Ich glaube, da haben wir noch was von Hannahs Salbe.“
„Klar.“ Mit einem nachdenklichen Blick auf mich verschwand sie hinter den anderen Dreien aus dem Raum.
Ich konnte es immer noch nicht glauben, dass ich ihn angegriffen hatte. So was machte ich nicht. Ich war nicht wie König Isaak, der seine Macht nur demonstrieren konnte, indem er mit Tyrannei herrschte. Meine Aufgabe war es, das Rudel zu schützen. Aber ich hatte es nicht beschützt, ich hatte es angegriffen, ich hatte Diego attackiert. „Es tut mir leid.“
„Schhh“, machte Ginny. „Nicht nachdenken. Macht einfach die Augen zu.“
Die Augen konnte ich schließen, doch ich schaffte es nicht die verworrenen Gedanken in meinem Kopf abzustellen. Einen so schlimmen Anfall hatte ich schon lange nicht mehr gehabt. Nicht mal bei Arics Geburt. Vielleicht war ich mittlerweile auf meinem Thron doch besser aufgehoben.
Für diesen Abend war ich am Ende meiner Kraft und die Tablette tat das Restliche. Ich schlief nicht ein und doch war ich nicht richtig wach. Ich hörte um mich herum Stimmen und hörte doch nicht, was sie sagten.
Ich war müde und mein Kopf war wie leergefegt, aber immer wenn ich ein wenig weg driftete, sah ich wieder die entsetzen und besorgten Gesichter.
Ich bekam den Sonnenaufgang mit und hörte wie Jasmin leise durch den Flur huschte, um im Bad zu verschwinden. Raphael stand auf und blieb minutenlang neben mir stehen, bevor er sich anzog und nach unten verschwand.
Lucy und Tristan sagten kurz Bescheid, dass sie sich nun auf den Weg machten und verließen dann das Haus. Kure Zeit später ging auch Ginny hinaus, nur Diego rührte sich nicht von seinem Platz. Der Morgen war schon weit fortgeschritten, als die Erschöpfung mich in einen traumlosen Schlaf zwang.
Als ich stunden später mit einem mörderischen Muskelkater erwachte, war ich mir nicht sicher, ob der von der durchwachsenen Nacht, oder vom Training kam. Er sorgte auf jeden Fall dafür, dass ich beim Aufsetzen das Gesicht verzog.
Von mir einmal abgesehen, war der Raum vollkommen leer. Aber ich hörte Stimmen von unten. Na gut, dann wollten wir uns dem Tag mal stellen.
Als erstes verschwand ich mit meiner Tasche zu einer schnellen Wäsche ins Badezimmer. Danach telefonierte ich erstmal eine halbe Stunde mit Sydney und Aric. Allerdings ließ ich dabei unerwähnt, was in der letzten Nacht vorgefallen. Sydney sollte sich nicht unnötig Sorgen machen.
Als ich mich dann endlich dazu aufraffen konnte, nach unten zu gehen, waren außer mir nur Diego und Tristan da.
„ Letisha ist beim Meeting der Skhän“, erklärte er mir, während er auf den Tasten seines Laptops trommelte. Obwohl ich jahrelang in dieser Branche gearbeitet hatte, fand ich es noch immer seltsam, dass Lucy ein Alias hatte. „Jasmin und Bianca sind gerade unterwegs, um die Grundrisse des Gebäudes zu holen und Ryder ist mit dieser Ginny losgezogen, um etwas zu Essen zu besorgen.“
„Essen ist gut. Ich bin schon halb am verhungern.“ Ich ließ mich neben ihn aufs Sofa plumpsen.
Er schenkte mir ein kleines Lächeln, doch es konnte nicht über den sorgenvollen Ausdruck in seinem Gesicht hinwegtäuschen. Auf seiner Zunge stapelten sich sicher die Fragen, aber Tristan war noch nie jemand gewesen, der mit der Tür ins Haus fiel.
Aus der Küchentür tauchte Diego auf. „Dein Mann hat sich bei mir gemeldet“, erklärte er ganz geschäftig und setzte sich mir gegenüber in den Sessel. An seiner Schläfe klebte ein großes Pflaster. „Ich habe ihm gesagt, dass wir die Nacht durchgearbeitet haben und du deswegen noch schläfst.“
Ich schaffte es kaum ihm in die Augen zu sehen. Klar, er wusste ja dass ich nicht mehr korrekt tickte, aber bisher hatte ich noch nie jemanden verletzt.
„Ich habe ihm auch gesagt, dass ich nicht weiß, ob du heute noch die Zeit findest, dich bei ihm zu melden.“
„Danke.“
Als das Handy auf dem Tisch klingelte, stellte Tristan seinen Rechner zur Seite und griff danach. Ein kurzer Blick, dann drückte er ein paar Tasten und ließ es anschließend in seiner Hose verschwinden. „Das war Letisha. Da muss ich hin.“ Er erhob sich, schnappte sich seine Jacke von der Rückenlehne und zog sie über. „Sie gibt mir die restlichen Informationen, damit heute Abend nichts schieflaufen kann.“
„Dir ist bewusst, dass nur wir drei hier sind und wir alle wissen, wer Letisha ist?“
Das ließ ihn schmunzeln. „Gewohnheitssache, Clem.“
Der Name ließ mich einen Moment melancholisch werden. „So nennt mich heute niemand mehr. Jeder weiß wer ich wirklich bin.“
„Nicht wenn du nachher deine Maske aufsetzt. Wir sind schließlich immer inkognito.“ Er hob die Hand zum Abschied und war dann auch ziemlich schnell verschwunden.
„Clem?“, fragte Diego, als ich Tristan hinterher sah.
„Ich dachte, sie hätten dich über alles aufgeklärt.“
„Nein, nicht über alles. Nur über das, was ich ihrer Meinung nach wissen musste.“
Verständlich. Die Geheimnisse der Themis gingen ihn schließlich nichts an. „ Clementine Joy“, sagte ich und schaute ihn an. „Und wo wir schon mal dabei sind, wie kommst du eigentlich dazu, Ginny zu einer Eingeweihten zu machen?“
„Sie ist dein Umbra, Cayenne. Sie ist ständig in deiner Nähe und hat dadurch schon viel mehr mitbekommen, als sie eigentlich sollte. Es war besser ihr alles zu erzählen, als sie dass sie anfängt, den falschen Leuten Fragen zu stellen.“
Da war leider etwas dran. „Wie lange weiß sie es schon?“
„Ein knappes Jahr.“
„Auch dass ich ein Misto bin?“
Er nickte.
Seufzend lehnte ich mich zurück. Wenn sie es schon fast ein Jahr wusste, brauchte ich nun auch keinen Aufstand mehr zu machen. „Tu mir ein Gefallen und rede mit mir, bevor du wieder jemanden in meine Lebensgeschichte einweihst.“
Dafür bekam ich eines seiner seltenen Lächeln.
„Das mit deinem Gesicht tut mir leid.“
„Mach dir darüber keine Gedanken, es ist gar nicht so schlimm.“
Doch, das war es und das wussten wir beide. Wenn ich nicht mal Halt davor machte jemanden anzugreifen den ich mochte, was konnte dann sonst noch alles passieren? Ich wollte es mir gar nicht ausmalen.
„Weißt du“, sagte er leise. „Auch wenn die Zeiten schwierig waren und wir uns auseinander gelebt haben, ich habe nie aufgehört dich als meine Freundin zu sehen.“
Mein Blick huschte zu seinem Finger, an dem noch immer der Ring glänzte, den ich ihm geschenkt hatte. „Es ist aber nicht mehr wie damals.“ Das würde es niemals wieder sein.
„Und trotzdem bin ich für dich da, wenn du mich brauchst. Vergiss das bitte nicht.“
Das würde ich nicht, aber es änderte auch nichts, den ich war verpflichtet meine Geheimnisse mit ins Gab zu nehmen.
Eine halbe Stunde später tauchten Bianca und Jasmin auf. Die Werwölfin hatte sich mehrere langen Rollen unter den Arm geklemmt, die sie einfach achtlos auf den Tisch fallen ließ. „Diese Bürokraten rauben mir irgendwann noch den letzten Nerv“, beschwerte sie sich und warf mir einen neugierigen Blick zu. „Selbst wenn sie unterm Joch stehen, machen sie noch Schwierigkeiten.“
Ich verzog das Gesicht. Auch wenn es wichtig war, fand ich es nicht gut, wenn man einem Menschen seinen Willen aufzwang. Und gegen das Joch, oder auch die Repression eines Vampirs, konnte man sich nicht wehren. Ich musste es wissen, schließlich hatte ich es bereits am eigenen Leib zu spüren bekommen.
„Er hatte einen ziemlich starken Geist“, bemerkte Bianca und auch von ihr bekam ich einen wachsamen Blick. „Es war klar, dass er Probleme macht.“
Eigentlich sollte es mich nicht wundern, dass ich ein Kuriositätenkabinett war, aber es störte mich. „Wenn ihr mich mal kurz entschuldigt, ich bin mal eben auf dem Klo.“ Ohne noch jemanden zu Wort kommen zu lassen, verschwand ich nach oben und ließ mir reichlich Zeit. Das war gar nicht so einfach, da ich überhaupt nicht aufs Klo musste.
Nachdem ich mir dann eine viertel Stunde lang die Hände gewaschen, die Haare gekämmt und einen Pickel ausgedrückt hatte, beschloss ich, dass es an der Zeit war, wieder nach unten zu gehen.
Das Bild hatte sich bei meiner Rückkehr jedoch deutlich verändert. Die Grundrisse lagen ausgebreitet auf dem Tisch und waren mit Bergen von Fritten und Burgern vollgestellt.
Auf der Lehne neben Diego saß Ginny und biss gerade herzhaft in ein dickes Sandwich. Raphael saß zusammen mit Bianca und Jasmin auf der Couch und zeigte etwas auf dem Grundriss. Als ich jedoch im Raum erschien, schaute er sofort auf.
„Ist Tyrone auch schon zurück?“, fragte ich, ohne mich darum zu kümmern und nahm neben Diego auf dem anderen Sessel Platz. Hm, die Gerüche entlockten mir ein Magenknurren. Ich folgte meiner Nase und zog aus einem der Tüten eine Schale mit Fritten und zwei Cheeseburger.
„Der brauch noch ein bisschen“, erklärte Raphael.
Der erste Biss in meinem Burger war himmlisch. „Hm“, machte ich und leckte mir ein wenig Ketchup von der Lippe. „Lecker.“
„Sogar mit vielen sauren Gurken“, erklärte Raphael. „Und wenn sie dir nicht reichen, hab ich dir auch noch eine extra Schale mit Gurken mitgebracht.“
Nachdem er das gesagt hatte, fiel es mir mit einem Mal nicht mehr so leicht zu lächeln. Das war genau wie früher. „Danke“, brachte ich heraus und konzentrierte mich dann auf den Grundriss. „Haben wir bereits einen konkreten Plan?“
„Nein.“ Er schüttelte den Kopf und holte sich selber einen Burger aus den Tüten. „Bisher nur die grundlegenden Information. Reingehen, Daten sichern und dann möglichst unbemerkt wieder abhauen. Für die Einzelheiten müssen wir auf Tyrone warten.“
Ich studierte die Pläne mit den Kenntnissen, die ich in mir in den Jahren bei den Themis angeeignet hatte. Das war gar nicht so einfach, wo sie doch so vollgestellt waren. „Wissen wir schon, wie wir reinkommen?“
„Durch ein Fenster oder den Hintereingang.“ Raphael zuckte mit den Schultern.
„Tyron ist gerade unterwegs, um das mit Letisha zu besprechen“, erklärte Bianca und nahm sich selber eine Schale mit Pommes. Sie nahm eine Fritte, tunkte sie in den Ketschup und hielt sie dann Raphael hin.
Was zur Hölle sollte das denn?!
„Jasmin wird sich um die Datensicherung kümmern. Ist ziemlich versiert, was Computer und den ganzen Kram angeht.“
Als Raphael ihr die Fritte zwischen zwei Bissen aus der Hand nahm und sich in den Mund steckte, runzelte ich die Stirn. Na wenigstens hatte er sich nicht von ihr füttern lassen.
„Wie sieht es mit der Sicherheitsanlage aus?“, fragte Diego und griff sich eine Serviette, die er an Ginny weiterreichte.
„Kameras, Alarmanlage, schießwütige Bodyguards, abgerichtete Hunde, Laserschranken.“
Meine Augenbraue wanderte ein Stück nach oben.
Jasmin zuckte nur mit den Schultern. „Hab ich alles schon erlebt.“
„Wo? Bei Mission Impossible?“ Ginny tupfte sich einen Soßenfleck vom Hemd.
Dafür bekam sie von der Themis einen giftigen Blick. „Nein, in einem Vorort von Craiova.“
Okay, ich würde mir die Peinlichkeit ersparen, zu fragen, wo genau das lag. „Wir müssen auf jeden Fall von einer Menge Sicherheitsmaßnahmen ausgehen. Nicht nur, dass dort wichtige Daten gebunkert werden, wenn da heute wirklich ein paar von den großen Fischen mitgemischt haben, kann es gut sein, dass sie noch vor Ort sind.“
„Unwahrscheinlich“, widersprach Jasmin sofort. „Das Meeting wird auf dem Abend enden und wir werden erst Nachts einsteigen.“
Die musste auch wirklich zu allem ihren Senf dazugeben.
„Der Sklavenhandel ist ein Nachtgeschäft.“ Raphael spähte zu meinen bisher unberührten Fritten herüber und machte sich dann über einen weiteren Burger her.
Die Wölfin öffnete den Mund, doch bevor sie dazu kam, etwas zu sagen, klingelte es an der Tür. „Ich geh schon.“
Ginny warf ihre Serviette in eine leere Tüte und nahm sich ein zweites Sandwich. Das ich genau in dem Moment zu ihr rüberschaute, war nur Zufall, genau wie das was ich zu sehen bekam.
Diego strich ihr mit dem Zeigefinger unauffällig über die Seite ihres Beins. Hin und her, hin und her. Als sie sich wieder aufrichtete, lag seine Hand wieder in seinem Schoß.
Nanu?
„Wo genau befindet sich das Gebäude?“, wollte Ginny wissen und wickelte ihr Essen aus. Hatte sie das etwa gar nicht mitbekommen?
„Am Rande eines alten Wohngebiets“, erklärte Tristan, als er den Raum betrat. Sein Blick fiel sofort auf das Essen. Er quetschte sich zwischen Bianca und Raphael auf das Sofa und bediente sich dann erstmal an den Tüten.
Das war wie früher. Fastfood und Besprechung. Fehlte eigentlich nur noch, dass Raphael damit anfing, mit meine Fritten zu klauen.
„Also, was hat Letisha gesagt?“, fragte Jasmin, bevor er überhaupt einen Happen abbeißen konnte. Da alle Plätze belegt waren, ließ sie sich kurzerhand auf dem Teppich neben den Tisch nieder.
„Wir müssen in ein Büro.“ Er suchte den Plan ab und zeigte dann auf einen Raum in der dritten Etage. „Hier.“ Einen Biss genehmigte er sich, bevor er weiter sprach. „Letisha sagt, es gibt ein Kellerfenster, durch das wir einsteigen können. Sie wird ein Systemfehler verursachen, dann muss die Anlage neu gestartet werden. Sobald sie uns das Zeichen gibt, haben wir zwei Minuten um uns Zugang zu verschaffen, in das Gebäude einzudringen und das Fenster wieder zu verschließen, bevor die Alarmanlage wieder online geht.“
Zwei Minuten? Das war nicht viel.
„Das bekommen wir hin“, erklärte Raphael und spähte unauffällig zu mir rüber.
Gerade als ich mir eine Pommes nehmen wollte, schnappte er sie sich und steckte sie sich grinsend in den Mund. Jetzt ging das wieder los. Es gab wohl Dinge, die änderten sich trotz aller Widrigkeiten einfach nie.
„Die Wachleute laufen die Korridore alle halbe Stunde ab, auch das Treppenhaus. Das ist unser Zeitfenster. Die erste Etage sollen wir nach Möglichkeit meiden. Wer fährt den Wagen?“
Bianca hob die Hand. „Das kann ich machen.“
„Das heißt, sechs Leute gehen rein.“ Jasmin runzelte die Stirn. „Ist das nicht ein bisschen viel? Wenn nur ein oder zwei reingehen, fallen wir nicht so auf.“
„Und falls ein oder zwei entdeckt werden, können die anderen sich eine nette Inschrift für ihre Grabsteine überlegen.“ Eine weitere Fritte ging mir durch Raphaels Hand flöten.
„Aber nur wenn, wir erwischt werden.“
„Wir können nicht ausschließen erwischt zu werden“, bemerkte Raphael. „Nein, Clem hat Recht, einer bleibt draußen, sechs gehen rein. Das ist sicherer.“
„Außerdem möchte Emiliy, dass wir möglichst niemanden umbringen.“
Nach diesen Worten wurde Tristan von der versammelten Mannschaft angeschaut, als wäre ihm ein zweiter Kopf gewachsen.“
„Schaut nicht so, das war ihre Idee. Zum Einen fällt es dadurch nicht auf, dass wir Letisha nicht umbringen und zum anderen hofft sie, dass der Diebstahl dadurch nicht auf uns zurückfällt. Naja, zumindest nicht, bis es zu spät ist.“
Okay, das klang einleuchtend.
„In Ordnung.“ Tristan legte seinen halb gegessenen Burger zur Seite. „Also, wir machen das folgendermaßen: Sobald wir von Letisha das Zeichen bekommen, steigen wir durchs Kellerfenster ein. Übers Treppenhaus verschaffen wir uns Zutritt zur dritten Etage. Dafür brauchen wir Futures Störgerät, damit wir von den Kameras unentdeckt bleiben.“
„Wie viele Kameras gibt es?“, wollte Ginny wissen.
„Eine auf jeder Etage.“
Also nicht allzu viele. Das war gut.
„Letisha wird im Büro sein und vielleicht auch noch ein paar andere Handlanger. Wir müssen sie von den Schreibtischen fernhalten, damit sie den Alarm nicht auslösen können.
„Wenn Letisha eh da ist, warum klaut sie die Daten nicht einfach?“, wollte Jasmin wissen.
Das brachte ihr eine Menge verstörender Blicke ein.
„Vielleicht damit sie nicht auffliegt?“, fragte ich. „Sie ist unser Maulwurf. Wir brauchen sie in dieser Position. Auch noch nach dem Diebstahl.“
„Und deswegen werde ich sie auch niederschlagen“, erklärte Tristan. „Es muss für die Skhän echt aussehen, damit der Überfall nicht auf sie zurückfallen kann.“
„Ähm“, machte ich. „Ich will ja nicht an deinen Fähigkeiten zweifeln, aber wie oft hat sie dich gestern auf die Matte geschickt?“ Und da hatte sie sich sicher zurückgehalten.
„Ich kann das machen“, sagte Diego. „Sie war mir noch nie gewachsen. Ein gezielter Schlag und sie liegt bewusstlos am Boden.“
Tristan wirkte nicht überzeugt.
„Das einzige, was sie beim Aufwachen haben wird, sind Kopfschmerzen“, versicherte Diego ihm. „Vertrau mir.“
Das fiel ihm nicht ganz einfach. Verständlich, schließlich sprachen wir hier darüber, seine Freundin umzuhauen. Er drückte die Lippen zusammen, nickte dann aber. „Okay, ein Schlag.“
„Ich werde vorsichtig mit ihr sein“, versprach er.
„Gut“, sagte Raphael. „Das klingt doch mal nach einem Plan.“
Alle nickten zustimmend, nur Bianca warf mir vorsichtige Blicke zu und glaubte anscheinend, dass ich sie nicht bemerken würde.
„Was?“, fragte ich schärfer als beabsichtigt.
Sie zögerte einen Moment und strafte dann die Schultern. „Ich weiß nicht ob es so gut ist, sich auf Euch zu verlassen. Was da letzte Nach passiert ist … Ihr habt einen von uns angegriffen.“
„Das ist wahr“, stimmte Jasmin ihr zu. Sie schien nur darauf gelauert zu haben, dass jemand dieses Thema anschnitt.
„Das wird nicht wieder passieren“, versicherte ich ihr.
„Ach ja?“ Jasmin glaubte mir nicht. „Was Ihr da gestern abgezogen habt, kann wohl nicht gerade als normal gewertet werden. Wie können wir uns also sicher sein, dass Ihr uns nicht einfach in den Rücken fallen werdet?“
„Das wird sie nicht“, zischte Raphael, aber auch bei ihm sah ich leichte Zweifel, genau wie bei Tristan. Sie befürchteten wirklich, dass ich den Auftrag in Gefahr bringen könnte, weil sie nicht wussten, was mit mir los war. Sie würden sich nicht voll und ganz auf ihre Aufgabe konzentrieren können, wenn sie die Gefahr in ihrem eigenen Rücken befürchteten. Ich sah unschlüssig zu Diego.
„Du musst wissen, ob du es ihnen erzählst“, sagte er schlicht.
Was konnte es schon schaden. Dass ich sie nicht mehr alle hatte, war ja mittlerweile sowieso schon bekannt. „Okay, wenn wir dieses Thema dann vom Tisch haben, bitte.“ Ich lehnte mich zurück und sah nur Raphael an. Irgendwie machte es das mir leichter meinen Mund zu öffnen. „Ich habe eine psychische Störung, die manchmal zu solchen Anfällen wie letzte Nacht führt. Die Spritze ist für den Notfall und beinhaltet ein Beruhigungsmittel, genau wie die Pille, die ich gestern geschluckt habe. Aber es kommt nicht so oft genug vor, als dass einer von euch Angst haben müsste, dass ich einen von euch attackiere. Genaugenommen war das mein erster Anfall seit Monaten. Es ist also höchst unwahrscheinlich, dass ich heute Nacht austicken werde.“
„Und was kann diese Anfälle auslösen?“, fragte Jasmin. „Nur damit wir wissen, was wir vermeiden sollten.“
Selbstverständlich geht es ihr nur darum. „Ich werde jetzt nicht weiter darüber sprechen. Es besteht keine Gefahr für euch, das ist alles, was ihr wissen müsst.“ Ich nahm eine Fritte und steckte sie mir in den Mund, um damit deutlich zu machen, dass ich nichts weiter dazu sagen würde.
°°°°°
Licht ergoss sich auf die Straße, als die Tür zu der kleinen Eckkneipe geöffnet wurde. Ein Mann torkelte heraus. Einen Moment folgten ihm der Geruch von Alkohol und Zigarettenrauch, genau wie die Stimmen der anderen Besucher. Dann fiel die Tür wieder zu und der Mann lief schwankend die Straße herunter. Mehr als einmal musste er sich dabei an der Hauswand abstützen, um nicht einfach umzufallen.
Ich wich hinter den Brückenpfeiler der kleinen Straßenüberführung zurück, um nicht in sein Sichtfeld zu geraten. Leider hatte ich nicht bemerkt, dass Raphael direkt hinter mich getreten war, um selber einen Blick zu riskieren. Ich stieß gegen ihn, wollte hastig zur Seite ausweichen und latschte dadurch auch noch auf den Fuß.
„Au!“
Oh je. „Warum stehst du auch direkt hinter mir?“
Wirklich?, fragte mich sein Blick.
„Ich hab im Hinterkopf nun mal keine …“
„Pssst“, machte Tristan, ohne das heruntergekommene Gebäude auf der anderen Straßenseite aus den Augen zu lassen. Früher war das mal ein Wohnhaus mit sech Wohnparteien gewesen. Vor ein paar Jahren war es von einer Briefkastenfirma gekauft worden, die es nun für private Zwecke benutzte. Offiziell stellte die Firma Tintenpatronen her. Dank Lucy und Future wussten wir es besser.
Jasmin warf einen ungeduldigen Blick auf ihre Armbanduhr. Von Bianca einmal abgesehen, war sie die einzige, die eine Skimaske trug. Wir anderen verbargen unsere Gesichter hinter Halstüchern. „Wie lange dauert das denn noch?“
Raphael schielte zu ihr herüber. „Geduld ist nicht unbedingt deine Stärke, oder?“
„Pssst“, machte Tristan erneut. Sein Blick war auf ein Fenster in der dritten Etage konzentriert. Es war erhellt und immer mal wieder huschte ein Schemen daran vorbei.
Mein ganzer Körper kribbelte vor Anspannung und Erwartung. Heute Nacht war ich nicht Cayenne, heute war ich Clemintine. Meine Hand schloss sich um den Anhänger an meinem Hals. Heute Nacht war ich der Skorpion der Themis.
„Da“, flüsterte Tristan und zeigte auf das Fenster in der dritten Etage. Es wurde von innen geöffnet, als wollte man ein wenig frische Luft reinlassen. Ganz kurz war Lucy zu sehen, dann verschwand sie wieder im inneren des Raumes. „Das ist unser Zeichen.“
Ich drückte auf die Stoppuhr an meinem Arm. Wir hatten nun eine Minute, um zum Keller zu kommen, dann würde Lucy die Alarmanlage lahmlegen. Dann blieben uns genau zwei Minuten, um in das Gebäude zu gelangen.
„Los“, zischte Jasmin und eilte als erstes aus unserem Versteck.
Ich schaute mich noch einmal schnell um, ob die Straße auch wirklich leer war, bevor ich ihr mit den anderen folgte.
Im Eiltempo ging es hinüber zum anderen Haus. Dabei vermieden wir es in die Reichweite der Kamera zu gelangen, die über dem Eingang angebracht worden war.
Über einen schmalen Weg, ging es auf den Hinterhof des Gebäudes. Das Fenster lag ziemlich versteckt hinter ein paar Mülltonnen. Wir hatten sie vorhin bereits weggeschoben, um nicht behindert zu werden.
„Noch dreizehn Sekunden“, sagte ich.
Raphael hockte sich vor das Fenster, ließ seinen Rucksack von der Schulter rutschen und holte seinen Werkzeugkasten aus.
„Acht Sekunden.“
Er klappte seine Kiste auf und holte einen kleinen Handschrauber und zwei Zangen heraus.
„Drei Sekunden.“
Diegos Blick ging an der Hauswand hoch und behielt das Licht hinter den Fenstern im Auge.
Ich spürte wie mein Puls sich beschleunigte. „Jetzt!“, zischte ich, während Diego sagte. „Licht ist aus.“
Tristan schaltete eine Taschenlampe an und richtete sie genau auf das Fenster, damit Raphael etwas sehen konnte.
Fünf Sekunden, sechs. Komm schon, komm schon.
Der Motor des Handschraubers war nicht sehr laut. Trotzdem dröhnte das Geräusch in meinen Ohren. Unruhig schaute ich nach hinten.
Zweiundzwanzig Sekunden, dreiundzwanzig.
Er tauschte den Handschrauber gegen eine Zange aus. Das Fenster quietschte in den Angeln.
Siebenunddreißig Sekunden, achtunddreißig.
Verdammt, das dauerte zu lange.
Es knackte und dann konnte Raphael das Fenster nach innen aufdrücken. „Los!“
Ginny war die erste. Ohne lange zu fackeln, setzte sie sich mit den Beinen voran ins Fenster, ergriff den Rahmen und schob sich hinein. Schon war sie im Inneren verschwunden. Tja, es hatte wohl Vorteile, so klein und gelenkig zu sein.
Jasmin folgte ihr, sah dabei aber bei weitem nicht so elegant aus. Tristan war der Nächste und nahm sofort Raphaels Werkzeuge entgegen, sobald er drinnen war.
Eine Minute und sechzehn Sekunden.
Raphael schnappte sich seinen Rucksack und verschwand dann auch nach drinnen.
„Jetzt du“, ordnete Diego an und schob mich vors Fenster.
Da ich es niemals so elegant wie Ginny hinbekommen würde, legte ich mich auf den Bauch und schob mich rückwärts hinein.
Mein Oberkörper war noch halb draußen, als mich ein paar sehr vertrauter Hände eilig an der Taille packten und mich in einen leeren Kellerraum voller Spinnweben zogen. Mein Hemd rutschte dabei ein Stück nach oben. Einen kurzen Moment spürte ich seine Berührung direkt auf der Haut. Das war nicht weiter schlimm, sowas konnte passieren. Wäre da nur nicht dieses vertraute Kribbeln, das ich auch früher immer gespürt hatte. Bevor ich näher darüber nachdenken konnte, wurde ich auch schon zur Seite geschoben.
„Wie lange?“, zischte Tristan.
Mist. Ich hob eilig meine Uhr. „Eine Minute, dreiundvierzig Sekunden.“
Kaum hatte ich zu Ende gesprochen, da sprang Diego auch schon herein. Raphael war sofort wieder am Fenster, klappte es zu und begann die Kabel der Alarmanlage wieder zu verbinden.
„Acht“, flüsterte ich und spürte, wie ich langsam nervös wurde. „Sieben, sechs, fünf, vier.“
„Fertig.“ Raphael trat zurück. Auf seiner Stirn glänzten ein paar Schweißperlen, aber er lächelte.
Alle stießen kollektiv erleichtert den Atem aus.
„Das war knapp gewesen“, kommentierte Jasmin.
Raphael wischte sich mit dem Arm über die Stirn und verstaute dann ein paar Werkzeuge in seinen Jackentaschen. Seinen Rucksack schulterte er wieder auf seinem Rücken. „Ich bin wohl ein wenig eingerostet.“
„Ich denke eher, dass es an dem kleinen Fenster lag“, bemerkte Ginny. „Tyrone ist fast stecken geblieben.“
„Ha ha“, machte er.
Ich schmunzelte. „Tja, das kommt davon, wenn man ständig ins Fitnesscenter rennt.“
„Was heißt hier Fitnesscenter? Das hier ist alles Natur.“ Raphael schlug sich auf die Brust, „Gottes Geschenk, sozusagen.“
Ich schnaubte. „An die Welt der Frauen, oder was?“
Bevor Raphael darauf etwas erwidern konnte, fragte Tristan: „Uhrzeit?“ und erinnerte uns damit daran, dass wir uns nicht zu unserem Vergnügen hier waren.
Mit einem Knopfdruck schaltete Stoppuhrfunktion auf die normale Uhrzeit um. „Ein Uhr siebenunddreißig.“ Die Patrouilliere lief immer zur halben Stunde durch den Hausflur. Nach dem Ausfall der Anlage, mussten wir davon ausgehen, dass sie bei dieser Runde besonders gründlich sein würden. Das bedeutete, dass wir jetzt erstmal eine halbe Stunde festsaßen, um nicht ausversehen überrascht zu werden. Wenigstens konnten wir so erstmal wieder zu Atem kommen.
Leider wirkte sich die Warterei nicht besonders gut auf meiner Nerven aus. Immer wieder checkte ich die Uhrzeit, während ich Furchen in den Boden lief. Zwischendurch schüttelte ich die Uhr sogar, weil ich glaubte, sie sei kaputt. Wie sonst konnte es sein, dass die Zeit einfach nicht vergehen wollte?
Als ich zum bestimmt hunderten Mal an Raphael vorbei lief, schnappte er sich meine Hand und zog mich neben sich an die Wand.
„Lass das.“ Ich riss mich von ihm los und wich ein Schritt zur Seite.
„Dann hör auf hier wie ein aufgescheuchtes Hühnchen rumzurennen.“
„Warum, stört es dich?“
„Nein, aber du machst dich damit nur selber verrückt.“
Ich hätte ihm gerne widersprochen, aber leider hatte er damit Recht. Seufzend ließ ich mich neben ihm an der Wand herunter gleiten. „Viel verrückter als ich jetzt schon bin, geht sowieso nicht mehr.“
Die Anspielung verstand er sehr wohl und für einen Moment schien ihm eine Frage auf den Lippen zu liegen, doch dann lehnte er einfach den Kopf zurück und starrte in die Dunkelheit. „Du hast eine neue Kette“, bemerkte er.
„Die alte ist mir abhanden gekommen.“ Oder besser gesagt, man hatte sie mir weggenommen.
„Du hast sie verloren?“
„Nein.“ Ich schüttelte den Kopf und griff nach dem Skorpionanhänger.
Als ich das nicht weiter ausführte, drehte er den Kopf zu mir. „Ich hab im Wohnwagen noch ein paar alte Sachen von dir. Vielleicht hast du ja Lust sie mal durchzugucken.“
Oh nein. „Ich glaub nicht, dass das so eine gute Idee wäre.“
„Warum nicht? Es sind deine Sachen. Und wenn du nett zu mir bist, dann mache ich dir vielleicht sogar überbackene Zucchini.“
Hm, lecker. „Mit Gurken?“
„Natürlich.“ Er lächelte mich mit diesen strahlend blauen Augen an, die mich schon früher immer in ihren Bann gezogen hatten. „Du darfst dir sogar einen Nachtisch wünschen.“
Das klang wirklich toll. Trotzdem verrutschte mein Lächeln ein wenig. „Mach das nicht“, sagte ich leise.
„Was? Dich zum essen einladen?“
„Mich in die Vergangenheit locken.“ Das hatte mir immer nur Probleme gebracht. Das letzte mal hatte es mich sogar einen so hohen Preis gekostet, dass ich nicht wusste, ob ich jemals darüber hinweg kommen würde. Auch wenn ich nach außen normal wirkte, die Schuld nagte noch immer an mir. Das würde wahrscheinlich für den Rest meines Lebens so sein.
„Das war nicht meine Absicht.“ Als ich dazu nichts sagte, berührte er mich vorsichtig an der Hand. Ich wusste, dass ich sie wegziehen sollte, aber das tat ich nicht. „Ich weiß, dass es nicht mehr wie früher ist.“
„Nein, ist es nicht“, sagte ich leise und konnte nicht verhindern, dass ich dabei traurig klang.
„Clem?“, fragte Tristan. „Zeit.“
Scheinbar war ich hier nicht die einzige Ungeduldige. Ich checkte meine Uhr. „Fünf Minuten, dann können wir los.“
Das war zwar nicht der Startschuss gewesen, aber daraufhin rappelten sich alle auf die Beine und begannen sich vorzubereiten.
Während sie ihre Waffen checkten und kontrollierten, ob ihre Tücher und Masken noch richtig saßen, spürte ich, wie die Nervosität in Aufregung umschlug.
Tristan zog aus seiner Jackentasche einen kleinen Mundspiegel, den er unter der Tür hindurch schob. Er selber legte sich flach davor auf den Boden und spähte durch den schmalen Schlitz. Dann hieß es wieder warten. Dieses Mal jedoch dauerte es nur einen Moment, bis er verkündete: „Die Luft ist rein.“
Das war der Startschuss.
Raphael öffnete uns die Tür und schon in der nächsten Minute schlichen wir mit unseren Taschenlampen durch einen schmalen Kellergang und suchten die Treppe. Dank der eingeprägten Grundrisse, war das nicht weiter schwer.
Um in den Hausflur zu gelangen, musste Raphael uns eine weitere Tür öffnen. Dieses Mal sondierte Tristan den Flur dahinter mit seinem Spiegel ein wenig länger, als zuvor, denn hier war die Gefahr auf die Skhän zu treffen viel höher.
„Okay, draußen ist alles ruhig. Jasmine, das Störsignal. Und dann fix nach oben.“
Damit begann der gefährlichste Teil. Wenn wir jetzt erwischt wurden, war es für und gelaufen und wir müssten unerledigter Dinge abziehen müssen.
Ich schloss einen Moment die Augen und atmete tief ein, um mich selber zu beruhigen.
Und dann ging es los. Jasmin verband das Gerät in ihrer Hand über Funk mit den Kameras, machte eine kurze Aufnahme und setzte eine Schleife ein. Sobald das erledigt war, schlichen wir durch die Kellertür in das Treppenhaus, des Altbauhauses. Tristan und Raphael übernahmen die Führung. Ich hielt mich mit Ginny hinten.
Es war still. Die Türen zu den unteren Wohnungen waren nicht mehr vorhanden, die Räume dahinter genauso dunkel und verlassen, wie der Korridor.
In der ersten Etage sah es nicht anders aus, doch als wir uns der Zweiten nährten, hörten wir leise Stimmen aus der rechten Wohnung.
Tristan gab das Zeichen zum Anhalten und spähte vorsichtig um die Ecke.
Ein paar Sekunden stand er einfach nur da, dann winkte er uns eilig weiter.
Im Vorbeihuschen warf ich einen Blick durch die auch hier fehlende Tür. Es war niemand zu sehen, doch in mehreren Räumen brannte Licht und ich fing mindestens fünf verschiedene Stimmen auf.
So leise und schnell ich konnte, lief ich auf den nächsten Treppenabsatz. Plötzlich tönte ein Knarzen durch den Hausflur, das uns alle auf der Stelle erstarren ließ.
Ich schaute nach unten zu Diego, der seinerseits zu der offenen Wohnung schaute.
Die Stimmen unterbrachen sich nicht. Einer der Männer dort lachte sogar. Sie hatten uns nicht gehört. Verdammt, das war knapp gewesen.
Diego gab uns das Zeichen weiter zu gehen und nahm sehr langsam den Fuß von der Treppenstufe. Wieder knarrte es. Leiser dieses Mal. Er versicherte sich noch einmal, dass da wirklich niemand kam, machte dann einen großen Schritt über die knarrende Stufe hinweg und eilte uns hinterher.
Wir sammelten uns auf der Treppe vor dem Absatz der dritten Etage. Jetzt würde es interessant werden.
Ich späte durch das Treppengeländer zu der rechten Wohnung. Auch hier fehlten wieder die Türen. Von drinnen konnte ich Stimmen hören. Das Problem war nur, das auch in der linken Wohnung Licht brannte und dort auch mindestens zwei Leute waren. Naja, außer der eine telefonierte, oder führte Selbstgespräche.
Ich tippte Tristan auf die Schulter und fragte ihn mit einem Handzeichen, ob wir uns aufteilen sollten. Nicht das wir noch hinterrücks überfallen wurden. Doch nachdem er einen Moment nachgedacht hatte, schüttelte er den Kopf und gab uns das Zeichen loszuschlagen.
Raphael postierte sich zur Sicherheit neben der Tür der linken Wohnung, während der Rest von uns in die Rechte huschte.
Diego ging vorne weg. Jasmin und Tristan waren direkt hinter ihm. Ich kam gerade aus der Hocke und wollte ihn hinterher, als ich plötzlich einen Geruch auffing, der mich mitten in der Bewegung erstarren ließ. Keine Ahnung warum, aber dieser Geruch … ich kannte ihn und er ließ bei mir alle Alarmglocken gleichzeitig losschrillen.
Unsicher griff ich nach meinem Anhänger und spähte in die linke Wohnung. Im hinteren Raum brannte Licht, aber die Tür war halb geschlossen und es war niemand zu sehen. Auch die Stimme kam mir nicht bekannt vor.
Woher nur kannte ich diese Witterung?
Da ich drei Sekunden nichts anderes tat als ins Leere zu starren, berührte Ginny mich am Arm und warf mir einen fragenden Blick zu. Auch Raphael hatte die Stirn gerunzelt.
Verdammt, konzentriere dich! Ich schüttelte den Kopf, um zu zeigen, dass da nichts war und schlich den anderen dann hinter.
Von dem Flur gingen vier Türen ab. Rechts die beiden Räume waren dunkel, links leuchtete Licht. Diego hatte sich mit dem Rücken neben der Wand an die vordere Tür gelehnt und späte vorsichtig um die Ecke. Jasmin nutzte die Deckung einer Kommode auf der anderen Seite. Tristan stand in den Schatten daneben.
Ich schlich geduckt zu Diego und warf auf Kniehöhe einen schnellen Blick in den Raum.
Okay, wie es aussah, führten die Türen rechts beide in den selben Raum. Man hatte aus zwei einen gemacht, indem man die Wand dazwischen entfernt hatte. Fünf Schreibtische, zwei Leute. Einer saß mit dem Rücken zu uns, der andere war Lucy.
„... einfach nur satt“, meckerte der schmächtige Kerl und ordnete ein paar Papiere vor seiner Nase. „Ich meine, warum müssen wir uns immer die halbe Nacht um die Ohren hauen?“
„Wenn du nicht endlich still bist, werde ich dich erschießen“, erwiderte Lucy kühl.
Oh ha, hier herrschte wohl kein besonders angenehmes Arbeitsklima.
Diego passte einen günstigen Moment ab und flitzte dann zu der zweiten Tür. Sobald alle in Position waren, gab Tristan den Startschuss.
Diego war in dem Büro, bevor ich mich überhaupt bewegt hatte. Tristan folgte ihm durch die hintere Tür, während ich zusammen mit Jasmin und Ginny die fordere nahm. Raphael gab uns Rückendeckung.
„Was …“, sagte der Kerl am Schreibtisch, als Diego sich bereits auf Lucy stürzte und sie vom Schreibtisch wegriss. Im gleichen Moment wurde der Kerl von Jasmin in den Schwitzkasten genommen und nach hinten gezerrt.
Ich fing den Stuhl ab, bevor er auf den Boden knallen konnte. Wir wollten ja schließlich keine unnötige Aufmerksamkeit erregen.
Als ich wieder aufsah, lag Lucy bereits am Boden. Tristan hockte neben ihm und fühlte ihren Puls. Zum Glück verhüllte das Tuch die Sorge in seinem Gesicht.
„Komm schon, werd ohnmächtig“, murmelte Jasmin und drückte noch ein wenig fester zu. Der Typ griff nach oben und versuchte ihren Arm wegzuziehen, doch die Wölfin gab nicht nach. Es dauerte noch einen Moment, aber dann sank auch er bewusstlos zu Boden.
„Okay, an die Arbeit.“ Tristan ging direkt an Lucys Schreibtisch. „Ryder, such den Safe, Jasmin, die Computer. Clem, behalte die Tür im Auge, der Rest durchsucht die Schreibtische. Nehmt alles mit, was ihr für wichtig haltet.“
Ich nickte und hockte mich wie vorhin schon auf Kniehöhe neben die Tür. Die Leute hatten die Angewohnheit, Dinge die nicht auf ihrer Augenhöhe lagen, eher zu übersehen.
Hinter mir raschelten Papiere. Schnelle Schläge auf die Tastatur. Eilige Schritte.
Alles lief völlig glatt. Das machte mich nervös. Vielleicht lag das aber auch an dem Geruch, der einfach nicht aus meinem Kopf verschwinden wollte. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Wir hatten noch etwas mehr als zehn Minuten, bevor die Aufpasser den nächsten Rundgang machen würden.
Es dauerte noch weitere fünf Minuten, bis wir zum Ende kamen. Erst dann bekam Raphael den Safe auf. Der Rest versammelte sich bereits bei mir.
Tristan half ihm schnell alles in seinen Rucksack zu stopfen und genau in dem Moment, als er ihn zuzog, ging im Hausflur das Licht an.
„Schhhht!“, machte ich und alle erstarrten mitten in der Bewegung.
Aus der linken Wohnung trat ein beleibter Kerl mit schütterem Haar und murmelte ein paar unverständliche Worte. Sein Blick war auf das Tablet in seiner Hand gerichtet. Er kam direkt auf uns zu.
Ich gab den anderen ein Zeichen in Deckung zu gehen und drückte mich selber mit dem Rücken gegen die Wand.
Der Mann trat nichtsahnend in das Büro und noch bevor er realisieren konnte, dass hier etwas nicht stimmte, hatte Tristan ihn bereits gepackt. Das Tablet fiel auf den Boden, der Mann wurde niedergerungen und in der nächsten Minute war er genauso bewusstlos wie die beiden anderen.
Das war knapp gewesen.
Jasmin sackte noch eilig das heruntergefallene Tablet ein.
„Los“, sagte Tristan, ohne noch mal einen Blick zurückzuwerfen. „Lasst uns verschwinden. Ich hab keine Lust auf weitere Überraschungen.“
Das hatten wir alle nicht. Trotzdem mussten wir noch einen Augenblick warten, bis das Licht im Hausflur wieder erlosch. Dann machten wir uns eilig auf dem Weg.
Ich bildete mit Raphael hinter Ginny das Schlusslicht. Die anderen drei waren schon fast auf dem ersten Treppenabsatz, als ich an der linken Wohnung vorbei schlich und mir wieder dieser scheinbar vertraute Geruch in die Nase stieg. Ich machte einen Schritt auf die erste Stufe und dann wusste ich mit einem Mal, warum er mir so bekannt vorkam.
Ich blieb so plötzlich stehen, dass Raphael mich fast runter gestoßen hätte. Tristan und Jasmin waren schon außer Sichtweite.
„Clem?“ Als Raphael mich am Arm berührte, wirbelte ich herum und starrte ihn einen Augenblick einfach nur an. Dann machte sich urplötzlich eine Entschlossenheit bei mir breit, die mich alles andere vergessen ließ.
Wieder besseren Wissens, eilte in die linke Wohnung.
„Clem!“, zischte Raphael, fluchte dann sehr ausgefallen und schlich mir hinterher. Er versuchte mich am Arm zu packen und wieder rauszuziehen, doch ich schüttelte ihn einfach nur ab und eilte den kurzen Flur hinunter.
Draußen vor dem erleuchteten Raum, ging ich in die Hocke und spähte durch den Türspalt.
Tatsächlich, ich hatte mich nicht geirrt, da saß er. „Fletcher“, flüsterte ich und spürte wie der Hass und die Wut von mir Besitz ergriffen.
Dieses Scheusal von einem Handlanger saß an einem Konferenztisch und nippte an einem Glas Wasser. Vor ihm waren ein paar Papiere ausgebreitet.
Raphael versuchte mich erneut wegzuziehen.
Ich warf ihn einen warnenden Blick zu und wollte ihn wegschubsen. Genau in diesem Moment hallte durch den Hausflur ein Schuss.
Alarmiert wirbelten wir herum.
Rufe wurden laut, ein weiterer Schuss, jemand schrie.
Verdammt, ich hatte doch gewusst, dass es bisher zu glatt gelaufen war.
„Geh“, zischte ich Raphael zu und löste den Anhänger von meiner Kette. „Hilf den anderen, ich kümmere mich um den hier.“
„Wenn du glaubst …“
„Nun mach schon!“, fauchte ich ihn an und schubste ihn in Richtung Ausgang.
Er knurrte, wirbelte herum und verschwand.
Ich packte meinen Anhänger fester und spähte wieder durch den Türspalt.
Fletcher hatte sich erhoben und war gerade dabei seine Waffe zu ziehen, aber ich würde nicht zulassen, dass er seinen Freunden half.
Entschlossen richtete ich mich auf, drückte die Tür auf und zeigte mich in meiner vollen Pracht. Und damit er auch wirklich verstand, wen er hier vor sich hatte, zog ich mein Halstuch herunter, damit er mein Gesicht sehen konnte.
Für einen Moment wirkte er wirklich ein kleinen wenig überrascht. „Königin Cayenne.“
„Fletcher“, erwiderte ich genauso ruhig und trat zwei Schritte in den Raum hinein.
Er zog seine Waffe.
Meine Lippen verzogen sich spöttisch. „Was? Wollen sie mich erschießen? Ich glaube nicht, dass ihr Meister sehr begeistert davon wäre.“
Er musterte mich einen langen Moment, ließ die Waffe dann aber ein kleinen Stück sinken und zielte auf mein Bein. „Er brauch sie lebend, nicht gesund.“
„Dann sollten sie aber darauf achten, nicht ausversehen die Oberschenkelvene erwischen.“ Wachsam trat ich weiter in den Raum hinein. Durch meine Abneigung gegen Waffen, trug ich keine bei mir und um den Anhänger benutzen zu können, musste ich näher heran. „Nur ein kleines Stück daneben und ich werde innerhalb von Minuten verbluten.“
Von draußen hörte ich weitere Schüsse. Jemand rief etwas.
Fletcher ließ mich nicht aus den Augen. „Ich bin ein ausgezeichneter Schütze.“ Sein Blick huschte von meinem Hals zu meiner Hand. Aha, er hatte unser Zusammentreffen also auch nicht vergessen.
„Beweisen sie es.“ Ich packte den Stuhl neben mir und warf ihn quer durch den Raum. Fletcher musste sich ducken, um nicht erwischt zu werden. Zwei lange Schritte, mehr brauchte ich nicht, um bei mir zu sein, doch in dem Moment, als ich ihn erreichte, wirbelte er herum und schlug mir die Waffe gegen die Schläfe. Ein Meer aus Sternen explodierte vor meinem inneren Auge.
Ich stürzte mit einem Laut des Schmerzes zu Boden, schaffte es aber noch ihn am Jackett zu packen und riss ihn mit mir herunter.
Der Sturz war schmerzhaft. Ich knallte direkt auf meine Schulter und wurde durch Fletchers Gewicht noch zusätzlich auf den Boden gedrückt. Aber ich weigerte mich ihn loszulassen.
Meine Hand griff den Anhänger ein wenig fester. Fletcher versuchte sich von mir runter zu rollen und zog mich dadurch ein Stück mit sich. Meine Sicht war leicht verschwommen. Ich hob die Hand …
In den Moment hörte ich den Knall. Fast im gleichen Augenblick explodierte ein brennender Schmerz in meinem linken Oberschenkel.
„Ah!“, schrie ich auf und spürte, wie mir die Tränen in die Augen schossen. Instinktiv holte ich mit dem Arm aus und stach zu.
Fletcher erstarrte einen Moment. Dann begann er zu röcheln und griff nach mir. Ich versuchte ihn wegzuschieben, während seine Hand nach meinem Hals fasste, aber er erwischte nur das Tuch. Als er anfing zu krampfen, riss er es mir herunter. Dann kippte er zur Seite.
Fluchend und mit Tränen in den Augen, rutschte ich von ihm weg, bis ich den Tisch im Rücken hatte. Mein Bein brannte wie Feuer und schickte mir noch mal eine extra Ladung Schmerz, als ich mich bewegte. Ich biss die Zähne zusammen.
Mein Anhänger steckte seitlich in Fletchers Hals. Seine Augen waren verdreht und vor seinem Mund bildete sich blutiger Schaum. Als er zu zucken begann, fiel ihm die Waffe aus der Hand.
Ich rutschte noch ein Stück zurück und warf einen Blick auf mein Bein. Die Hose war blutig und eingerissen. Ich konnte die Wunde sehen. „Scheiße!“, fluchte ich. Zwar hatte ich bei meinen Mission immer mal wieder eine Schramme abbekommen, aber das war das erste Mal, dass ich angeschossen wurde.
Die Geräusche von draußen waren ruhiger geworden. Ich hörte keine Schüsse mehr, aber da waren noch immer Rufe und wildes Getrampel.
Dieser ganze Auftrag entwickelte sich mehr und mehr zu einem Desaster. Und aus diesem Grund musste ich auch schnellsten von hier verschwinden. Doch als ich versuchte mich zu bewegen, wurde mir klar, dass das mit dem Schnell nichts werden würde.
Gut, dann musste ich halt langsam verschwinden.
Aber vorher musste ich noch eine Sache erledigen.
Ich beugte mich zu Fletcher vor und zog meinen Anhänger aus seinem Hals. Er zuckte, als würde ihm das Schmerzen bereiten. Es war mir egal. Er war sowieso so gut wie tot.
„Wir sehen uns in der Hölle“, sagte ich zu ihm und wischte meinen Anhänger an seinem Jackett ab. Dann ließ ich ihn in meiner Jackentasche verschwinden.
Okay, jetzt wurde es knifflig werden. Ich griff nach der Kante des Tisches, holte noch einmal tief Luft und stemmte mich dann nach oben. Eine Welle des Schmerzes rollte über mich hinweg. Einen Moment wurde mir schwarz vor Augen, aber ich gab nicht nach, bis ich wieder senkrecht stand. Mein rechtes Bein trug mein ganzes Gewicht.
„Das wird jetzt lustig“, murmelte ich und faste die Tür ins Auge. Noch ein tiefer Atemzug, dann humpelte ich hinüber. Oh Gott. Das waren vielleicht drei Meter, aber der Schmerz war so überwältigend, dass ich es gerade noch schaffte mich an den Türrahmen zu klammern, bevor ich erneut stürzen konnte.
Ich biss die Zähne zusammen. Etwas anderes blieb mir sowieso nicht übrig. Ich wollte auf keinen Fall noch hier sein, wenn neue Skhän auftauchten.
Mühsam arbeitete ich mich vorwärts und benutzte die Wand dabei zur Stütze. Ich hatte gerade mal den halben Flur geschafft, als ich plötzlich eilige Schritte hörte. Im nächsten Moment erschien Raphael in der Wohnungstür. Am Auge hatte er eine Platzwunde und die Knöchel an seinen Händen waren aufgeschürft, aber wenigstens war er in einem Stück und hatte nur dort Löcher, wo welche sein sollten.
Ich grinste ein wenig schief. „Ich glaube da steckt eine Kugel in meinem Bein.“
Es war erschreckend, wie plötzlich jeglicher Ausdruck aus seinem Gesicht verschwand. Wortlos eilte er zu mir, schob mir einen Arm unter die Beine und hob mich hoch, während ich ihm die Arme um den Hals legte. Das Zischen konnte ich mir dabei nicht verkneifen. Verdammt, das tat echt weh.
Als er ohne Rücksicht auf Verluste los eilte, bemerkte ich Diego auf dem Hausflur, der ihm Rückendeckung gab. Auch er sah ziemlich geschunden aus.
Wir liefen das Treppenhaus hinunter.
In der zweiten Etage sah ich mehrere Leichen. Keiner von unseren Leuten. Gut.
„Wo bleibt ihr?!“, rief Tristan aus dem Erdgeschoss. Er stand mit Ginny in der offenen Haustür. Jasmin war nicht zu sehen. „Los, kommt schon.“ Er winkte uns zu sich und verschwand dann selber nach draußen.
Ginny wartete, bis wir bei ihr waren, bevor sie ihm folgte.
Direkt draußen auf der Straße stand der Kombi, mit dem Bianca uns hergefahren hatte. Jasmin saß bereits auf dem Beifahrersitz. Tristan und Ginny kletterten eilig auf den Rücksitz, während Diego den großen Kofferraum öffnete.
Raphael lud mich dort ab, kletterte selber hinterher und schob mich bis an den Rücksitz, damit Diego die Klappe wieder schließen konnte. Ich zischte.
„Bist du verletzt?“, fragte Tristan.
Diego rutschte zu ihm auf den Rücksitz und noch bevor die Tür richtig zu war, trat Bianca bereits das Gaspedal durch.
„Sie wurde angeschossen“, knurrte Raphael und griff nach meiner Hose.
„Was?“ Ginny wirbelte herum.
Ich griff eilig nach vorne und hielt seine Hände fest. Das mir dabei schwarz vor Augen wurde, versuchte ich zu überspielen. „Nein“, sagte ich.
Raphael kniff die Augen ein wenig zusammen. „Ich muss mir das Bein ansehen. Wenn die Kugel wirklich noch drinnen steckt …“
„Nein“, wiederholte ich und warnte ihn mit einem Blick davor, weiter zu machen. „Nicht hier. Ich brauche keine Zuschauer.“ Das Loch in der Hose war knapp unterhalb meiner Narbe. Ich wollte nicht, dass sie jemand sah.
„Verdammt, Bambi, das ist doch jetzt völlig egal. Ich muss …“
„Nein.“
Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. Er ließ los, riss sich das Halstuch vom Gesicht und band es um mein Bein, um die Blutung zu stillen.
Ich keuchte auf und hätte ihm am liebsten ein paar gewischt. „Scheiße!“, fluchte ich und kniff die Augen zusammen. Das tat wirklich weh.
„Oh, verdammt ja!“, rief Jasmin in dem Moment von vorne. In ihrer Hand hielt sie mehrere Papiere. „Schaut euch das an Leute, ich glaube wir haben den Jackpot geknackt.“
Bianca schob die perfekt gezupften Augenbrauen zusammen. „Ich glaube wir sollten das besser später durchschauen.“
„Ich wollte ja nur mal gucken.“ Ihre Augen glänzten vor Freude. „Oh man, wir haben es wirklich geschafft. Wir haben die Unterlagen und es gab keine Toten.“ Sie verstummte einen Moment. „Naja, zumindest nicht auf unserer Seite. Und jetzt können wir den Skhän richtig schön den Hintern versohlen.“
„Bevor wir damit anfangen, sollten wir uns vielleicht erstmal in Sicherheit bringen“, brummte Diego und warf einen Blick durch das Rückfenster.
Die Straße hinter uns war leer. Keine Menschen, keine Autos, keine Verfolger. Aber sicher waren wir deswegen noch lange nicht. Wir mussten Abstand gewinnen, den Wagen loswerden und unsere Wunden lecken. Erst dann würden wir aufatmen können. Immer vorausgesetzt, wir hatten keine verdächtigen Spuren zurückgelassen.
Ja, wir hatten die Papiere, aber der Rest war absolut nicht nicht so gelaufen, wie es sollte. Und damit meinte ich nicht nur mein Bein.
Während wir durch die Nacht fuhren, konnte ich beobachten, wie Tristan sein Handy aus der Tasche zog und einen Blick auf das Display warf. Keine Nachricht. Seine Lippen wurden eine Spur schmaler. Hoffentlich ging es Lucy gut.
°°°
Stunden später, wie es mir schien, lag ich auf dem Schlafsofa im Gästezimmer und versuchte den dumpfen Schmerz in meinem Bein zu ignorieren. Draußen begann es bereits zu dämmern, als Raphael mit einem Medizinkoffer und einem grünen Erste-Hilfe-Kasten in den Raum trat.
Die Platzwunde an seinem Auge war verschwunden. Ich fand es noch heute erstaunlich, wie effektiv die Heilkräfte der Vampire waren.
Ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, schloss er die Tür, stellte dann seine Mitbringsel neben die Couch und setzte sich neben mich. „Hier, nimm die.“ Er drückte mir eine Tablette in die Hand und öffnete dann den Koffer.
Hm, also entweder war das etwas gegen die Schmerzen, oder zur Vorbeugung gegen Entzündungen.
„Schluck sie“, knurrte er mich an, als ich noch versuchte zu entscheiden, ob sich das auch mit meinen anderen Medikamenten vertrug.
Meine Mundwinkel sanken ein wenig herab. „Was ist das?“
„Ibuprofen.“
Na dann runter damit.
Er zog eine Schere aus dem Koffer, drehte sich ein wenig und entfernte als erstes das Halstuch. Dann begann er meine Hose der Länge nach komplett aufzuschneiden. Als er zu dem Teil mit der Wunde kam, rupfte er den Stoff einfach nach oben.
Ich zischte, als sich ein wenig Schorf löste. „Geht das vielleicht auch vorsichtiger?“ Das tat echt weh.
Anstatt zu reagieren, legte er nur die Schere zur Seite und zog mir dann die Hose aus. Dieses Mal aber war er nicht so grob. Wie jeder andere Themis, hatte Auch Raphael einen Crashkurs erhalten, was medizinische Versorgung anging. Selbst ich wusste, wie man so eine Wunde versorgte. Das brauchten wir für diese Arbeit einfach.
Irgendwie behagte es mir nicht, nur im Slip und Shirt neben ihm zu liegen. Nicht dass er das noch nicht gesehen hätte, aber … naja, ich schätze, genau da lag das Problem.
Aber er beachtete das gar nicht. Mit eiserner Miene bereitete er ein paar Tupfer und Tücher vor und nahm dann eine Falsche mit Wunddesinfektionsmittel zur Hand. Er schob ein Handtuch unter mein Bein und kippte das Zeug dann ohne Vorwarnung einfach in die Wunde.
„Scheiße!“ Ich drückte die Lippen zusammen und versuchte gegen das Brennen zu atmen. Verdammt noch mal, das tat weh!
Raphael beachtete mich gar nicht. Er griff sich einfach die Tücher und begann damit die Wunde zu reinigen. Dabei ging er für seine Verhältnisse ziemlich grob vor. Mehr als einmal zuckte ich zusammen und als er einen Tupfer dann auch noch direkt in die Wunde drückte, hätte ich ihm fast eine gescheuert.
„Verdammt noch mal, spinnst du?!“
„Tiefer Streifschuss, direkt unter der Narbe“, sagte er, anstatt zu antworten und tauschte den blutigen Tupfer gegen einen sauberen ein. „Ich muss das nähen.“
„Aber nicht, wenn du weiterhin mit dem Feingefühl von Rambo vergehst. Ich mag mein Bein und würde es gerne noch ein wenig behalten.“
„Dann hättest du dich wohl nicht anschießen lassen sollen“, erwiderte er schlicht und begann nach etwas in dem Koffer zu suchen.
Jetzt reichte es mir aber langsam. „Kannst du mir mal sagen, was mit dir los ist?“
Da er nur still die Sachen aus dem Koffer suchte, die er brauchte, lautete die Antwort wohl nein.
„Ryder, ich rede mit dir.“
Wortlos zog er eine Spritze mit Articain auf, drehte sich dann wieder mir zu und griff nach meinem Bein. Aber als er die Spritze ansetzen wollte, packte ich ihm an Handgelenk und zwang ihn so mich anzuschauen.
„Entweder du sagst mir jetzt, wo dein Problem liegt, oder du verziehst dich. So wie du dich verhältst, lasse ich dich jedenfalls nicht weiter an mir herumdoktern.“
„Alles ist bestens. Wenn du also gestattest, ich würde hier gerne heute noch fertig werden.“ Er zog seinen Arm aus meinem Griff und begann damit die Wunde zu betäuben.
„Hör auf mir einen Bären aufzubinden.“
Als er wieder abwandte, um Nadel und Faden vorzubereiten, hätte ich ihm gerne was an den Kopf geworfen.
„Raphael, bitte.“
Die Erwähnung seines echten Namens, ließ ihn für einen Moment inne halten. „Du hast nicht aufgepasst“, sagte er leise und beträufelte sein Werk dann auch noch mit dem Wunddesinfektionsmittel.
Nicht aufgepasst? „Meinst du die Schusswunde?“
„Ja natürlich meine ich die Schusswunde!“, fauchte er mich an. Seine Augen funkelten vor Zorn. „Erst rennst du in die Wohnung und dann schickst du mich auch noch weg, weil du ja immer alles alleine machen musst. Hat wirklich super geklappt, du kannst stolz auf dich sein. Vielleicht hättest du doch in deinem Schloss bleiben sollen, da wärst du sicher besser aufgehoben.“
„Wie bitte? Ich hab dich nicht weggeschickt, weil ich irgendein Egotrip schiebe, sondern weil …“
„Weil du nicht nachgedacht hast!“, unterbrach er mich und tippte nicht allzu vorsichtig gegen die Wunde. Als ich nicht zuckte, griff er zu der Nadel. „Das hast du auch früher schon nicht. Immer musst alles nach deiner Nase laufen und jetzt hast du die Quittung dafür bekommen. Fast hätte ich dich wieder verloren und das nur, weil du nie auf dich Acht gibst. Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, dein Leben wäre dir völlig egal.“
Nach diesen Worten wurde mir klar, worum es hier eigentlich ging. Warum hatte ich das nicht gleich gesehen? Er hatte Angst um mich gehabt. „Ryder …“
Die Tür zum Gästezimmer ging auf und Bianca steckte ihren Kopf hinein.
Super, die hatte mir jetzt gerade noch gefehlt. „Verschwinde“, knurrte ich und zog eilig eine Decke über mein Bein.
Sie guckte mich verdutzt an, bewegte sich aber sonst nicht.
„Beachte Cayenne nicht. Sie hat Schmerzen und dann ist sie immer unausstehlich.“
Wie bitte?
„Ähm … okay.“ Lächelnd schlüpfte Bianca in den Raum und stellte sich meiner Meinung nach ein wenig zu nahe an Raphael heran. „Ich wollte nur gleich für alle etwas zu Essen besorgen und hab mich gefragt, ob du mitkommen würdest. Du weißt schon, tragen helfen.“
Tragen helfen? Wirklich? Ging es nicht noch ein bisschen offensichtlicher?
„Ja, kann ich machen. Ich will nur noch schnell die Wunde vernähen.“
Was?!
„Das freut mich.“ Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, als hätte sie jedes Recht dazu. Es war genau wie damals, als wir ein paar Tage bei ihr untergekommen waren. Ständig schien sie einen Grund zu suchen, ihn zu befummeln.
Der Wolf in mir erwachte und begann drohend zu knurren.
Raphael warf mir einen finsteren Blick zu. „Lass das, Cayenne.“
Ich schloss den Mund, doch den Blick konnte ich einfach nicht abwenden. Sie hatte Raphael nicht anzufassen.
„Ähm“, machte Bianca und nahm langsam ihre Hand von seiner Schulter. „Ich … ich glaube ich warte dann mal unten.“
Ein „Gute Idee“ konnte ich mir nicht verkneifen.
Als Bianca zögernd den Rückzug antrat, fixierte Raphael mich mit einem Blick, der mich davor warnte, noch mal den Mund aufzumachen. Zu seinem Pech war ich ein Alpha. Es brauchte schon wesentlich mehr, um mich einzuschüchtern.
Ich wartete gerade mal solange, bis sie die Tür geschlossen hatte. „Dir ist klar, dass das mit dem Frühstück nur vorgeschoben ist? Sie will mit dir alleine sein, um dich ungestört antatschen zu können.“
„Selbst wenn es so ist, was geht dich das an?“ Er riss die Decke weg, nahm sich zwei Nadelhalter und begann den ersten Stich zu setzten. „Glaubst du wirklich, während du eine große Königin mit Mann und Kind geworden bist, hat der Rest von uns still in der Ecke gestanden und nur auf deine Rückkehr gewartet?“
Nein, hatte ich nicht. Genaugenommen hatte ich ihm sogar gesagt, er solle sein Leben leben. Und doch war da ein kleiner Teil von mir, der das nicht mit der Realität in Einklang bringen konnte.
Ryder hatte wohl doch recht, ich befand mich wirklich auf einem Egotrip und sah nichts außer mir selber. Aber die Vorstellung, dass er eine andere im Arm halten könnte … dieses Bild ließ sich in meinen Gedanken nicht mal einstellen. Ich meine, ich wusste ja, dass er nichts hatte anbrennen lassen, bevor wir uns kennengelernt hatten. Aber seitdem er in mein Leben getreten, war da immer nur ich gewesen.
Schweigend vermied ich es, noch einmal in seine Richtung zu schauen. Auch er arbeitete nun still. Hin und wieder spürte ich ein leichtes Ziepen am Bein, das war aber auch alles.
Als der letzte Stich gesetzt war und er ein großes, antiseptisches Pflaster auf mein Bein geklebt hatte, war die Stimmung zwischen uns so im Keller, dass ich mich einfach nur noch unwohl fühlte.
„Ich verschwinde mal ins Bad“, murmelte ich, während er schon dabei war, die Utensilien wieder zusammenzuräumen.
„Warte, ich helfe …“
Als die Tür erneut aufging, vermutete ich schon, dass Bianca nicht länger auf ihren kleinen Helfer warten konnte und wollte schon knurren, doch es war Tristan. Er wandte sich direkt an Raphael.
„Murphy ist unten am Telefon und würde gerne mit dir sprechen.“
„Ja ist gut.“ Er schob die blutigen Tupfer in die Tüte und erhob sich dann. „Hast du Lu-, ich meine, Letisha in der Zwischenzeit erreicht?“
Er nickte, auch wenn er nicht allzu glücklich wirkte. „Sie kommt so schnell sie kann. Aber wegen dem Chaos und den Leichen die wir hinterlassen haben, wird das wohl noch ein bisschen dauern.“
„Damit hatten wir ja schon gerechnet.“ Raphael drehte sich noch einmal zu mir um, als wollte er noch etwas sagen, schüttelte dann aber den Kopf und ging hinaus. „Bin gleich wieder da.“
„Danke, darauf kann ich verzichten“, murmelte ich und schob meine Beine ein wenig beschwerlich über die Sofakante. Die Bewegung tat trotz des Schmerzmittels und der Betäubung weh.
„Solltest du nicht besser liegen bleiben?“
Wahrscheinlich. „Ich will nur kurz unter die Dusche, um das ganze Blut und den Schweiß wegzubekommen.“
„Bist du sicher, dass du das schaffst?“
„Ja.“ Nein. „Aber wenn du so besorgt um mich bist, kannst du mir ja vielleicht helfen und mir meine Tasche geben.“
Am Ende gab er mir meine Tasche nicht nur, er brachte sowohl sie, als auch mich in der kleine Bad in er ersten Etage. Es war schon erstaunlich, wie viel Kraft dieser kurze Weg mich kostete.
Als Tristan sah, wie ich mich schwer atmend auf den Klodeckel setzte, runzelte er die Stirn. „Soll ich dir vielleicht Ginny oder Bianca raufschicken, damit sie dir helfen können?“
Aber sicher doch. „Ich schaffe das schon.“
Sein Blick fiel auf die Narbe an meinem Bein. Dadurch, dass wir so lange zusammen gelebt hatten, war er einer der wenigen, der sie kannte. Nicht, dass es das besser machte. „Bist du dir sicher?“
„Bitte Tyrone, wenn ich Hilfe brauche, werde ich mich lautstark bemerkbar machen.“
Das schien ihm nicht besonders zu gefallen. Tristan hatte schon immer einen übertriebenen Beschützerinstinkt gehabt, was mich betraf. Nicht weil er mich so lieb hatte, sondern weil ich sein Alpha war. Er hatte es schon immer als seine Pflicht angesehen, auf mich aufzupassen. „In Ordnung“, murmelte er widerwillig und zog dann die Badezimmertür von außen zu.
Gut, damit begann nun für mich der schwere Teil. Die Hose war ja schon mal aus. Mein Shirt und der BH waren auch kein Problem, doch als ich mir den Slip vom Körper schälen wollte, spürte ich wie die örtliche Betäubung langsam nachließ. Dieses Unterfangen war nicht nur schmerzhaft, sondern auch sehr anstrengend.Wie sollte ich es nur schaffen mich unter die Dusche zu stellen, wenn ich es nicht mal hinbekam aufzustehen, um mich auszuziehen?
Mein Blick fiel auf das Waschbecken neben mir. Nun gut, dann musst es eben erstmal so gehen.
Mühsam drehte ich mich auf dem Klodeckel, stellte den Wasserhahn an und griff nach dem Waschlappen. Trotz allem konnte ich froh sein, dass ich mit nichts als einer Fleischwunde davongekommen war. Die nächste Woche würde nicht einfach werden. Vielleicht würde ich mir sogar eine Krücke besorgen müssen, um mich wenigstens halbwegs ohne Hilfe bewegen zu können. Und Sydney … er würde wohl nicht besonders begeistert sein, wenn er erfuhr, was mit mir passiert war.
Gerade als ich den Waschlappen unter das heiße Wasser hielt, klopfte es an die Tür. „Besetzt.“
„Ich bin es.“
Raphael.
„Und nun?“
„Ich komm jetzt rein.“ Noch während er das sagte, setzte er seine Worte in die Tat um.
„Verdammt noch mal!“ Hastig ließ ich den Waschlappen fallen und riss eines der Handtücher vom Handtuchhalter, um mich damit wenigstens notdürftig zu bedecken. „Hast du eigentlich schon mal was von Privatsphäre gehört?“
Seelenruhig schloss es die Tür. Von innen. „Davon abgesehen, dass ich weiß, wie du nackt aussiehst, ist mir der weibliche Körper alles andere als fremd.“
Danke dass du das noch mal so betonst. „Ist mir egal. Ich will und brauche deine Hilfe nicht, also verschwinde, bevor ich dich rausschmeiße.“
Das ließ ihn die Augenbrauen heben. „Na da bin ich aber mal gespannt, wie du das anstellen willst.“
Klugscheißer. „Raus, hab ich gesagt.“
„Keine Sorge, ich werde schon nicht über dich herfallen. Das ganze Blut ist nicht besonders erotisch.“
Als er zum Waschbecken ging und sich den Lappen schnappte, den ich gerade fallen gelassen hatte, hätte ich ihn fast angeknurrt. „Das ist mir völlig egal. Du hast hier nicht einfach reinzukommen und mir deine Hilfe aufzudrängen. Ich kann das sehr gut alleine.“
„Wärst du vorsichtiger gewesen, dann müsste ich mich dir jetzt nicht aufdrängen.“ Er wrang den Lappen aus und drehte sich zu mir um. „Das hast du selber zu verantworten.“
„Hör endlich auf mich zu bevormunden und so zu tun, als hätte ich laut hier geschrien und mit den Händen gewunken, als Fletcher Gratiskugeln verteilt hat.“
Dafür bekam ich einen wirklich bösen Blick. „Hör auf Witze darüber zu reißen, das ist nicht lustig.“
Nein, das war es nicht, aber wenn ich nicht hin und wieder einen Witz machen würde, hätte ich im Leben nicht viel zu lachen. „Bitte Ryder, verschwinde einfach.“ Ich hatte keine Lust mehr zu streiten. Die ganze Sache war einfach nur noch ermüdend.
„Sobald ich hier fertig bin.“ Er hockte sich vor mich und wollte mir das Handtuch wegnehmen.
Meine einzige Reaktion bestand in einem warnenden und sehr durchdringenden Knurren.
Nun schaute er mich wirklich finster an. „Bin ich dir jetzt so zuwider, dass du dir nicht mal von mir helfen lässt? Oder soll ich mir vielleicht ein paar Narben verpassen? Bei dem blöden Köter machst du sicher nicht solche zicken.“
Das ging nun aber wirklich zu weit. „Halt Sydney da raus.“
„Warum? Ach ja, stimmt ja.“ Er tippte sich gegen den Kopf, als hätte er einen Geistesblitz gehabt. „Du bist ja nicht wegen dem Hund zurück, sondern wegen der ach so geheimnisvollen Abmachung. Angeblich.“
„Warum machst du das?“, fragte ich verständnislos. „Warum willst du dich unbedingt mit mir streiten?“
„Ich?“ Raphael sah aus, als hätte er sich verhört. „Du bist es doch, die hier aus eine Mücke einen Elefanten macht, weil du aus Gott-weiß-was für Gründen Angst davon hast, dass ich ein bisschen Haut von dir sehen könnte.“
„Ich habe keine Angst, dieses Privileg steht dir nur einfach nicht mehr zu“, fauchte ich ihn an. „Wenn du also nicht weißt wohin mit deiner Energie, dann geh doch zu deiner Bianca. Sie wartet sicher schon sehnsüchtig auf dich und wäre bestimmt nicht abgeneigt, dir ein wenig ihrer Haut zu zeigen!“
„Verdammt, Cayenne!“ Wütend fuhr er auf und warf den Lappen zurück ins Waschbecken. „Was soll dieser Schwachsinn? Ich bin hier nicht reingekommen um …“
„Du hättest gar nicht hier reinkommen dürfen!“, unterbrach ich ihn. „Oder würdest du es toll finden, wenn irgendeine Frau einfach zu dir ins Bad platz, wenn du praktisch nackt bist?!“
Etwas an diesen Worten hatte ihn richtig vor den Kopf gestoßen. „Irgendeine?“, fragte er und schnaubte dann abfällig, als könnte er es nicht fassen. „Ich bin für dich also nur noch Irgendjemand?“
Nein, das war er nicht und das war ein großer Teil des Problems. „Du bist hier im Moment jedenfalls nicht willkommen.“
Er kniff die Lippen so fest zusammen, dass sie nur noch eine weiße Linie waren. Dann machte er auf dem Absatz kehrt. „Wenn du es so haben möchtest, bitte, ich werde dir sicher nicht noch einmal zu nahe treten.“ Er riss die Tür auf und schlug sie dann so laut hinter sich zu, dass die anderen unten es sicher gehört hatten.
Mit einem Mal hatte ich das dringende Bedürfnis, mich in der Ecke zusammenzurollen und zu heulen. Stattdessen blieb ich einfach sitzen, drückte das Handtuch an meine Brust und starrte ins Leere.
Verdammt, warum nur musste das so schwer sein? Warum konnte er nicht … was-weiß-ich? Aufhören, oder … Mist. Diese ganze Situation war einfach nur noch scheiße. Er sollte mich in ruhe lassen und er sollte nicht in ruhe lassen. Und ich … „Ach verdammt.“
Niedergeschlagen stützte ich den Kopf in die Hände und wusste einfach nicht mehr, was ich denken sollte. Vielleicht wäre es wirklich besser gewesen, wenn ich ihm nie wieder begegnet wäre. Obwohl, nein. Es wäre nicht besser gewesen, nur leichter. Mein Wohl über seinen stellen zu wollen, war nicht richtig. Er war nun einmal hier und ich würde einfach lernen müssen, mich damit zu arrangieren.
Erschöpft und resigniert nahm ich mir den Lappen wieder und widmete mich meiner eigentlichen Aufgabe. Leider musste ich schon nach kurzer Zeit feststellen, dass das so nichts brachte. Mein ganzes Bein war rot, ich war verschwitzt und fühlte mich klebrig.
Frustriert machte ich mich an die beschwerliche Aufgabe, mich selber in die Dusche zu schaffen und saß dann die nächste halbe Stunde in der Bodenwanne und ließ mich von dem Duschkopf berieseln. Wirklich schwer wurde aber erst das Abtrocknen und das Anziehen. Gott, wie konnte so eine kleine Verletzung nur so schmerzhaft sein? Früher war ich nicht so empfindlich gewesen.
Als ich es endlich schaffte das Bad zu verlassen, begrüßte die Sonne bereits den Tag. Meine Tasche ließ ich einfach stehen, ich brauchte jetzt erstmal einen Platz zum sitzen. Und etwas zu Essen. Bianca und Raphael hatten schließlich etwas besorgen wollen und müssten in der Zwischenzeit auch schon zurück sein.
Der Gedanke an die beiden, ließ mich mit den Zähnen knirschen.
Ich könnte mich im Gästezimmer vergraben und Diego bitten, mir etwas zu bringen, aber ich wollte mich nicht abkapseln. Außerdem wollte ich den Stand der Dinge wissen und herausfinden, was unsere Ausbeute uns gebracht hatte.
Es war zwar anstrengend, aber mit der Hilfe der Wand schaffte ich es durch den Flur. Leider tat sich dort das nächste Problem auf: Die Treppe. Super. War ich in meinem Leben schon mal so hilflos gewesen?
„Diego?“, rief ich. Zwar konnte ich ihn nicht sehen, aber wenn er in der Nähe war, würde er mich hören. Und tatsächlich, gleich darauf erschien er unten an der Treppe. „Kannst du mir nach unten helfen? Ich schaff das irgendwie nicht allein.“
„Natürlich.“ Er joggte die Stufen so locker leicht nach oben, dass ich ihn am liebsten wieder runter geschubst hätte. „Soll ich dich tragen, oder stützen.“
„Stützen. Ein wenig Würde möchte ich gerne noch behalten.“
Schmunzelnd schob er den Arm unter meine Schultern und half mir nach unten.
„Ist das Frühstück schon da?“, fragte ich, als ich die letzte Stufe hinter mich gebracht hatte. „Ich bin fast am verhungern.“
„Ja.“ Er zeigte nach links zur Küche. „Da sind …“ Und verstummte.
Die Tür zur Küche bot nur einen kleinen Einblick in den Raum, doch er reichte, um mich einfach erstarren zu lassen.
Mehrere halb ausgepackte Tüten standen auf der Anrichte. Auf einem Tablett waren sogar schon ein paar Teller und Tassen gestapelt. Daneben lief Kaffee durch die Kaffeemaschine und gab glucksende Geräusche von sich. Aus einem Radio dudelte leise Musik.
Raphael lehnte mit dem Hintern an der Anrichte. Das war nicht weiter schockieren. Was mein Innerstes zu Eis gefrieren ließ, war das, was er dabei tat. Er hielt Bianca im Arm. Seine Arme waren so fest um sie geschlungen, als wollte er mit ihr verschmelzen und … er küsste sie.
Der Schmerz in meinem Bein war nicht zu dem Dolch, der sich bei diesem Anblick in meiner Herz bohrte.
Raphael küsste Bianca. Nein, er küsste sie nicht nur, er schien es auch noch zu genießen. Die Art wie er sie hielt und seine Hand in ihrem Haar vergrub, um sie näher zu sich zu ziehen, ich wusste ganz genau, wie sich das anfühlte.
Der Rahmen der Tür, umrandete dieses befremdliche Szenario wie ein groteskes Bild, das sich wohl auf ewig in meine Hirn brannte, aber ich konnte einfach nicht wegschauen.
Als Bianca sich dann von ihm löste und ihm zärtlich lächelnd über die Wange strich, wurde mein Körper einfach taub.
Raphael legte seine Hand auf ihre und drehte den Kopf, als wollte er ihr einen Kuss in die Handinnenfläche hauchen. Das war der Moment, in dem er mich und Diego im Flur bemerkte. Im ersten Moment schien er erschrocken, doch dann verengten seine Augen sich ein wenig, als wollte er mich herausfordern. Und dann küsste er ihren Handballen, ohne den Blick von mir abzuwenden.
Etwas tief in mir brach einfach.
„Genug gesehen?“, fragte er eiskalt.
Diego begann tief aus der Kehle zu knurren.
Dadurch schien Bianca aufzugehen, dass sie sich nicht länger in trauter Zweisamkeit befanden. Als sie in den Flur schaute, lag dieses Lächeln noch auf ihren Lippen. Als sie uns sah, schwand es langsam.
„Das wäre auch anders gegangen“, grollte Diego. „Du hättest …“
„Nein“, unterbrach ich ihn und befreite mich aus Diegos Griff. „Das ist … tut mir leid.“ Ich musste hier weg. Leider bewegte ich mich zu hastig und versuchte das linke Bein bei meiner Flucht zu belasten. Mein Körper dankte es mir mit einem stechenden Schmerz, der mich nur nicht in die Knie zwang, weil ich mich hastig an der Kommode abstützte. „Scheiße.“ Mir stiegen die Tränen in die Augen und ich war mir nicht sicher, ob das an meinem Bein lag, oder an dem was ich gerade gesehen hatte.
„Warte“, sagte Diego und griff wieder nach mir. „Ich …“
„Nein.“ Ich wehrte ihn ab. „Ich … meine Tasche. Sie steht im Bad. Ich will … bring mich nach Hause.“ Ich kniff die Augen zusammen, um die Tränen zurückzuhalten. Es nützte nichts. „Bitte.“ Ich wollte hier nicht länger bleiben.
„Ginny!“, rief Diego und zog aus seiner Tasche ein Taschentuch, dass er mir reichte.
Diese Geste ließ Raphael die Stirn runzeln. „Weinst du?“
„Was geht dich das an?!“, fauchte ich, ohne mich zu ihm umzudrehen.
In dem Moment trat Ginny in den Flur. Sie musterte unsere Konstellation. „Was ist los?“
„Wir fahren. Cayennes Sachen liegen oben im Bad. Kannst du sie holen? Und hol auch die Unterlagen und die Daten der Skhän. Ich bringe sie schon mal raus.“
„Ja, natürlich.“ Sie warf noch einen Blick zur Küche und verschwand dann nach oben.
„Komm“, sagte Diego. Dieses Mal fragte er gar nicht nach, er schob mir einfach die Arme unter und hob mich hoch.
Wie genau ich dann im Wagen landete, bekam ich nicht wirklich mit. Ich wusste nur noch, wie Diego ihn startete und ich einen letzten Blick durchs Fenster zum Haus warf.
Raphael stand mit verschlossener Mine auf der Veranda und schaute uns hinterher. Bianca war bei ihm und wieder hatte sie ihm eine Hand auf den Arm gelegt.
Ich wandte den Blick ab, um das nicht länger sehen zu müssen.
°°°
Kurz bevor wie auf den Hof fuhren, gab Diego per Telefon durch, dass wir in zehn Minuten da sein würden. Das hatte zur Folge, dass die halbe Besatzung des Schlosses bereits am Portal auf mich wartete, bevor ich überhaupt aus dem Wagen gestiegen war.
„Das nächste Mal schleichen wir uns durch die Hintertür rein“, grummelte ich und ließ mir von Ginny aus dem Wagen helfen. Dabei winkte ich die Leute um mich herum weg. Nach neun Stunden Autobahn, Staus und kleinen Pausen auf Raststätten, hatte ich jetzt wirklich keinen Nerv, mich um all ihre Anliegen zu kümmern. Das konnte bis morgen warten.
„Das würde nichts ändern, die Leute würden einfach dort auf Euch warten.“ Ginny winkte einen Mann heran, der in der Hand zwei Krücken für mich bereit hielt. Ja, auch über meine Schussverletzung wurden einige bereits in Kenntnis gesetzt. Darunter auch Doktor Ambrosius, der zusammen mit dem Krückenträger direkt auf mich zukam.
„Königin Cayenne.“ Er beugte den Kopf leicht. „Wie schlimm ist es? Umbra Diego hat mir keine genaue Auskunft gegeben.“
„Nicht so schlimm.“ Mit einem „Danke“ nahm ich die Krücken entgegen und versuchte mich damit gerade hinzustellen. Das sah einfacher aus, als es war. „Streifschuss, Fleischwunde. Sie wurde bereits genäht.“ Von Raphael.
Der Gedanke an ihn ließ wieder dieses verdammte Bild vor mir erscheinen. Ich schüttelte den Kopf, weil ich nicht mehr sehen wollte, wie er diese dumme Vampirin geküsst hatte.
„Habt Ihr Schmerzen?“
Ja, aber dagegen gab es kein Medikament. „Im Moment geht es. Ich darf das Bein nur nicht belasten.“ Ich hielt Ausschau nach Sydney, doch der war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich war er mit Aric oben und wartete auf mich.
„Ich würde es mir trotzdem gerne anschauen.“
Natürlich würde er das. „Kann das nicht warten? Ich bin müde.“ Es war zwar erst Nachmittag, aber ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und wollte eigentlich nur noch ins Bett, um mich in meinem Kummer zu vergraben.
„Es wäre mir lieber, wenn wir das jetzt gleich erledigen könnten.“
Ach was sollte es, schlimmer konnte es ja eh nicht mehr werden. „Meinetwegen.“
Hinter mir fuhr der Wagen weg. Da Diego aber gerade auf mich zukam, war es wohl einer der anderen fleißigen Helfer, der ihn zurück in die Garage brachte. „Komm, ich bring dich nach oben.“
„Ich habe jetzt Krücken.“ Zur Veranschaulichung, hielt ich eine hoch.
„Und damit schaffst du des über die Treppen bis in die dritte Etage?“
Mist. „Wir brauchen hier dringend einen Fahrstuhl“, murmelte ich und setzte mich humpelnd in Bewegung.
Wie sich herausstellte, stellte bereits die Freitreppe vor dem Portal ein kaum zu überwindendes Hindernis für mich dar. So ergab ich mich meinem Schicksal, reichte Ginny meine Krücken und ließ mich, mit Doktor Ambrosius in meinem Windschatten, von Diego nach oben in meine Suite tragen.
Wie ich gehofft hatte, war Sydney hier. Er kam aus dem Kinderzimmer gelaufen, als Diego mich auf der Couch absetzte.
„Danke. Und bitte tu mir einen Gefallen und bring die Unterlagen zu den Themis. Ich möchte informiert werden, wenn sich daraus etwas ergibt.“ Es war einfacher sich damit zu befassen, als mit … anderen Sachen.
„Natürlich. Und jetzt ruh dich aus.“
„Dir ist bewusst, dass ich hier die allmächtige Königin bin?“
Als Sydney zu mir auf das Sofa sprang, griff ich instinktiv nach seinem Kopf und strich ihm durch das Fell. Das war es, was ich jetzt wirklich brauchte. Einfach nur ein bisschen Sicherheit und Normalität. Und natürlich meinen Lieblingswolf.
„Auch allmächtige Königinnen brauchen hin und wieder ein wenig schlaf.“
Sydney ließ es sich einen Moment gefallen und schnüffelte dann an meinem Bein. Selbst durch die Hose und den Verband konnte er die Wunde riechen. Wenn er es also nicht gewusst hatte, dann wusste er es spätestens jetzt.
„Kusch, Diego.“ Ich winkte ihn weg und hob dann Sydneys Kopf, damit er mir in die Augen sah. „Es ist nicht schlimm“, versicherte ich ihm.
Ob er mir glaubte, wusste ich nicht. Er machte auf jeden Fall Platz, als Diego und Ginny den Raum verließen und Doktor Ambrosius das tat, was er am besten konnte: Mich untersuchen und mir anschließend einen Vortrag halten. Dann verpasste er mir noch eine Spritze und gab mir etwas gegen die Schmerzen. Mit der Naht selber, war er aber zufrieden.
Ich wollte nicht mehr darüber nachdenken.
Als er endlich weg war, brachte Sydney mir meinem Morgenmantel aus dem Schlafzimmer.
„Danke“, sagte ich und schlüpfte hinein. Dabei versuchte ich nicht das Gesicht zu verziehen. Ich wollte nicht, dass er sich unnötig Sorgen machte. „Ist mit Aric alles in Ordnung?“
„Er schläft“, erwiderte er ruhig und musterte mich gründlich. „Was ist geschehen?“
„Ich habe nicht aufgepasste.“ Etwas mühselig angelte ich nach meinen Krücken.
Ich stand noch nicht mal richtig auf meinen Beinen, als er schon die Augen zusammenkniff. „Das habe ich nicht gemeint.“
Das hatte ich befürchtet. Sydney hatte Augen wie ein Adler und bemerkte es immer, wenn mit mir etwas nicht stimmte. Es war, als hätte er ein richtiges Cayenne-Radar, das nur auf mein Wohlbefinden ausgerichtet war. „Es … lass mich erstmal nach Aric schauen.“ Wenn ich Glück hatte, würde ihn das so weit ablenken, dass er es einfach vergaß.
Als ich in das große Kinderzimmer trat, bemerkte ich erst, dass wir nicht so allein war, wie ich mir das erhofft hatte. Samuel saß neben dem Babybettchen in einem Sessel und ließ ein Buch in seinen Schoß sinken, als ich herein kam. „Du wurdest angeschossen.“
„Ich wünsche dir auch einen schönen Tag.“
Samuel runzelte die Stirn, als sei er sich nicht sicher, ob er jetzt darauf eingehen sollte, oder doch lieber bei seinem Thema blieb. „Wünsche ich dir auch.“
Na ging doch. Irgendwann würden wir den Jungen doch noch groß kriegen.
Ich humpelte ans Bettchen und warf einen Blick hinein.
Ein kleiner, goldener Wolf in einem blauen Strampelanzug, hatte sich auf der Decke zusammengerollt. In seiner schnauze hatte er das Ohr seines Plüschhasen. Seine Pfötchen zuckten und seine Lefze ging immer wieder ein kleines Stückchen nach oben.
„Er jagt.“
„Na dann sollten wir in der nächsten Zeit wohl keine echten Hasen in seine Nähe lassen.“
Samuel legte sein Buch aufgeschlagen auf den Sessel und gesellte sich zu uns. „Einen echten Hasen würde er nur erwischen, wenn wir den betäubt vor ihm ablegen würden. Doch dann wäre es zweifelhaft, ob er ein Interesse an ihm hätte, weil der Hase sich ja dann nicht bewegt und der Reiz damit ja nicht mehr vorhanden wäre.“
Ähm ja, genau das hatte ich gemeint. „Sonst war alles okay?“
„Er wollte seinen Brei nicht essen. Stattdessen hat er immer in die Schüssel gebissen. Ich vermute, er zahnt wieder.“ Er nahm sein Buch an sich. „Großmutter hat angerufen und sagt, ich soll dich von ihr grüßen.“
Geneva. Wie ich damals schon vermutet hatte, war der Schicksalsschlag, der fast ihre ganze Familie ausgelöscht hatte, zu viel für sie gewesen. Bis vor kurzen hatte sie noch hier am Hof gelebt, doch kurz bevor ich aus Berlin wiedergekommen war, hatte sie sich auf ein kleines Anwesen in Frankreich zurückgezogen, weil sie es hier einfach nicht mehr ausgehalten hatte. Zu viele Erinnerungen. Das wir bis heute nicht wussten, wer hinter diesem Anschlag steckte und wir somit niemanden zur Rechenschaft ziehen konnten, machte es ihr noch schwerer.
„Und Sadrija ist mit Wächter Danilo aufs Land gefahren. Ich glaube sie denkt darüber nach, eine Familie mit ihm zu gründen.“
Ähm. „Das hat sie gesagt?“
Samuel schüttelte in seiner kühlen Überlegenheit den Kopf. Einmal hin und einmal zurück. „Nein. Sie hat gesagt, dass sie sich ein wenig erholen möchte, aber wie du weißt, bin ich nicht dumm. Ich habe einiges darüber gelesen. Über Blicke und Berührungen von Verliebten. Die beiden zeigen alle Anzeichen dafür. Einmal habe ich ihn früh am Morgen aus ihrem Zimmer schleichen sehen. Außerdem hat sie keine weiteren Wächter mitgenommen. Das ist wohl ein ziemlich deutliches Zeichen dafür, dass sie wohl in ungestörter Zweisamkeit Geschlechtsverkehr miteinander haben wollen.“
Seine Direktheit machte mich mal wieder sprachlos. „Woher weißt du solche Sachen? Du bist doch erst fünfzehn.“ Mein Gott, er war schon fünfzehn. Wo war nur die Zeit geblieben?
„Ich wollte nur, dass du es weißt. Und jetzt werde ich gehen. Ich wünsche dir eine gute Nacht.“
Er warf noch mal einen prüfenden Blick auf Aric, als wollte er sichergehen, dass mit dem Kleinen auch alles in Ordnung war, dann verließ er das Kinderzimmer.
„Manchmal mache ich mir schon ein bisschen Sorgen um ihn“, murmelte ich, als ich ihm hinterher schaute. Ich meine, ich konnte mit ihm und seinen – nennen wir es – Eigenarten umgehen, aber ich hatte schon mehr als einmal erlebt, das andere sich nicht nur daran störten, sondern ihm deswegen auch noch aus dem Weg gingen.
Wie sollte das nur werden, wenn er mal erwachsen war?
In solchen Momenten vermisste ich Blair. Sie hatte immer gewusst, wie sie mit Samuel das Leben erklären musste, damit nicht irgendwann zum Außenseiter wurde. Vielleicht war es ja langsam mal an der Zeit, ihn über seinen richtigen Vater aufzuklären.
„Graf Samuel ist nicht hilflos“, versuchte Sydney mich zu beruhigen. „Ihr müsst Euch nicht sorgen.“
„Das sagst du so einfach.“ Seufzend stützte ich mich auf die Krücken und humpelte zurück ins Wohnzimmer.
Kaum dass ich mich erleichtert auf der Couch nieder ließ, saß Sydney auch schon vor mir und durchleuchtete mich mal wieder mit diesem Blick. „Sagt Ihr mir nun, was geschehen ist?“
Mist. „Würdest du bitte normal mit mir reden? Außer uns ist niemand hier, der dich hören könnte.“
„Ihr weicht mir aus.“
Natürlich tat ich das. Das war besser als ihn anzulügen, oder noch schlimmer, ihm die Wahrheit zu sagen. Aber vielleicht würde er sich mit einer Halbwahrheit zufriedengeben. „Als wir in das Gebäude eingedrungen sind, bin ich Fletcher über den Weg gelaufen. Du weißt schon, dem Handlanger von Jegor. Das hat mich unachtsam werden lassen. Deswegen werde ich mich die nächsten Tage wohl nicht ohne Gehhilfe bewegen können.“
Seine Augen verengten sich eine Spur. „Das habe ich nicht gemeint und das ist Euch auch bewusst, sonst würdet Ihr nicht versuchen meinem Blick ausweichen. Während Ihr unterwegs ward, ist etwas geschehen. Ich kann es spüren, Ihr habt Kummer.“ Er sprang neben mich auf die Couch und schmiegte seine Wange an meine. „Erzählt mir davon.“
Es widerstrebte mir, Sydney mit dem Chaos meiner Gefühle zu belasten. Nicht nur, weil ich ihn nicht verletzen wollte, ich wusste ja selber nicht mal, woran ich war. Da war nur dieser verdammte Schmerz, denn ich jedes Mal wieder spürte, wenn sich das Bild von Raphael und Bianca vor mein inneres Auge schob.
„Cayenne?“
Verdammt, warum musste der Kerl es einem immer so schwer machen? Wenn er nur nicht immer so aufmerksam wäre. Ich hatte ihn schon mehr als einmal verletzt, das wollte ich kein weiteres Mal tun. „Es ist nichts, wirklich.“
„Ich kann doch sehen, dass Ihr mir etwas verschweigt. Bitte, tut das nicht, egal was passiert ist, sprecht mit mir.“
„Nein, ich … ich kann nicht.“ Ich schüttelte den Kopf. „Bitte, Sydney, lass es einfach gut sein.“
Er seufzte. „Habe ich Euch je das Gefühl geben, dass Ihr nicht mit allem zu mir kommen könntet?“
„Nein.“
„Warum glaubt Ihr also, dass Euer Schweigen vorzuziehen wäre?“
Ich kniff die Lippen zusammen.
„Hat es wieder mit dem Vampir zu tun?“
Ich antwortete nicht.
„Das ist es, oder?“ Er ließ den Kopf sinken. „Er ist bei Euch, das war er immer. Ich spüre seine Gegenwart, auch wenn ich mit Euch allein bin. Im Schlaf sprecht Ihr von ihm, das habt Ihr immer getan.“
„Ich weiß“, sagte ich leise. „Ich will das nicht, aber ich … ich kann das nicht einfach abstellen.“
„Das ist mir bewusst.“ Er sprang von der Couch und setzte sich wieder direkt vor mich, sodass ich seinem Blick nicht länger ausweichen konnte. „Ich wusste es seit dem Tag, an dem ich Euch das erste Mal erblickte. Schon damals war er bei Euch gewesen – in jeder Minute, in jedem verträumten Blick.“
„Es tut mir leid.“ Wenn die Gefühle für Raphael einfach verschwinden würden, wäre es viel einfacher, aber so leicht war das nicht. So einfach war es niemals.
„Es muss Euch nicht leidtun, denn es ist nicht Eure Schuld. Niemand kommt gegen seine Gefühle an. Aber trotz diesem Wissen habe ich mich nie von Euch abgewandt. Oder hattet Ihr jemals das Gefühl, dass ich nicht für Euch da war?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Dann bitte, egal was es ist, sprecht mit mir. Es ist nicht gut für Euch, wenn Ihr Euren Kummer in Euch verschließt. Ihr wisst aus der Vergangenheit sehr wohl, was geschehen kann und ich möchte nicht dass dies geschieht. Ich möchte nicht, dass Ihr Euch elend fühlt nur weil Ihr glaubt, dass ich mit Euren Worten nicht zurechtkäme. Und das tut Ihr, das kann ich sehen.“
„Und ich möchte nicht, dass es dir schlecht geht.“
Er schmiegte seinen Kopf in meine Hand. „Dann redet mit mir.“
Aber dann würde ich genau das erreichen, was ich versuchte zu verhindern, verstand er das denn nicht?
„Bitte, Cayenne.“
Verdammt. „Es ist nichts zwischen uns passiert, falls du das glaubst. Ich habe mein Versprechen nicht gebrochen.“
„Dann erzählt mir, was Euch Kummer bereitet.“
Scheiße. „Er hat einen andere geküsst“, sagte ich so leise, dass ich ich selber es kaum verstand. „Eine Frau von den Themis. Ich hab es gesehen und … es hat furchtbar wehgetan. Ich hatte das Gefühl, als würde mir jemand einen Dolch mitten ins Herz rammen. Und wenn ich jetzt daran denke … es ist, als würde ein Teil von mir sterben.“ Meine Hände ballten sich zu Fäuste. „Ich will das nicht fühlen. Ich habe dich und du bist alles was ich jemals wollte. Ich will niemand anders wollen, als dich, aber sobald er da ist …“ Ja, sobald er da war, war es völlig egal, was ich wollte. „Es tut mir so leid, aber ich weiß nicht, was ich dagegen machen soll.“
So wie Sydney aussah, hätte ich ihn genauso gut auch mit einem Vorschlaghammer niederknüppeln können.
„Bitte, es tut mir so leid.“
„Nein, es war gut dass Ihr es mir gesagt habt.“ Sein Blick war auf den Boden gerichtet. „Ich glaube es ist an der Zeit, Euch Raum für Entscheidungen zu geben.“ Damit stand er auf.
Zuerst war mir nicht klar, was er damit meinte, aber als er sich von mit abwandte und Richtung Tür ging, sah ich ihn praktisch aus meinem Leben spazieren. „Wo gehst du hin?“
„In meine Kammer.“ Er blieb nicht mal stehen.
„Aber … was? Nein!“ Ich versuchte aufzuspringen, aber der Schmerz der mir in dem Moment durchs Bein schoss, machte mir nicht nur klar, dass das eine dumme Idee war, er zwang mich mit einem Laut des Schmerzes auch sofort zurück auf die Couch. „Bitte, tu das nicht“, fehlte ich ihn an und griff eilig nach meinen Krücken. Verdammt, ich hätte einfach den Mund halten sollen. „Es tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen, ich dir verspreche dir, das kommt nie wieder vor.“ Ich stemmte mich hoch und humpelte eilig zu ihm hinüber.
Gerade als er die Tür öffnete, erreichte ich ihn und griff einfach nur verzweifelt nach seinen Nacken, damit er nicht einfach verschwinden konnte. Dass ich dabei stürzte und fast auf das kaputte Bein fiel, war mir völlig egal. „Bitte“, flehte ich ihn an und krallte meine Hand in seinen Pelz. „Geh nicht.“
Er schaute mich nicht an. „Glaub mir, in meinem Leben ist mir noch nie etwas so schwer gefallen, aber für dein und mein Seelenwohl ist es besser, wenn du Zeit hast, dir darüber klar zu werden, was du wirklich willst.“ Er ließ die Schultern hängen. „Oder wen.“
„Dich, ich will dich. Ich dachte, du weißt das.“
„Das habe ich auch geglaubt.“
Diese einfachen Worte versetzten mir einen derartigen Schlag, dass meine Hand einfach von seinem Rücken rutschte und ich nichts weiter tun konnte, als er mein Zimmer verließ.
°°°°°
Eine einzelne Träne rollte einsam über meine Wange. Sie lief über mein Kinn und fiel verloren auf den Boden. Eine zweite Träne fand ihren Weg und folgte der Spur des Kummers.
Sydney war gegangen, er war wirklich weg.
Ich fühlte mich … verloren, zerstört, einsam. Aber da war kein Schmerz, nur ein Gefühl von … Chaos. Das war nicht richtig. Die Welt schien sich plötzlich in die falsche Richtung zu drehen. Das Licht war nicht mehr hell, es war dunkel und vor mir tat sich ein Abgrund auf, dessen Kante so rissig und bröckelig war, dass ich jeden Moment in die Tiefe stürzen konnte.
Es war meine eigene Schuld. Solange Raphael in meinem Herzen lebte, würde dort niemals genug Platz für Sydney sein. Und darum würde ihn verlieren. Nicht nur meinen Freund und Geliebten, ich würde meinen Seelenverwandten verlieren.
„Cayenne?“
Langsam hob ich den Kopf.
Nikolaj stand auf dem Flur. Er musste gerade aus seinem Zimmer gekommen sein. Ich hatte es nicht mitbekommen.
Unsicher schaute er den Korridor hinunter um kam dann einen Schritt näher. „Warum weinst du?“
Weil ich in einen meiner Alpträume gefallen war und nicht wusste, wie ich wieder heraus kam.
„Cayenne?“
„Es ist nichts.“ Mit dem Handrücken wischte ich mir über die Augen und versuchte den Schmerz zu verbannen, aber er wollte sich nicht wegsperren lassen. „Wie hältst du das nur aus?“
„Was?“
„Diesen Schmerz, die Liebe. Es zerreißt mich.“
Der Schatten eines traurigen Lächelns erschien auf Nikolajs Lippen. „Es ist nicht einfach“, sagte er leise und schien nicht überrascht, dass ich um seine Gefühle wusste. „Besonders in solchen Momenten. Ich will so gerne dir helfen, aber du verweigerst dich mir.“
Nein, einfach war es wirklich nie.
„Möchtest du darüber sprechen?“
Ich schüttelte den Kopf. „Glaub mir, du willst das nicht hören.“ Denn es würde auch dich verletzten.
Aus dem Kinderzimmer kam ein unleidliches Jaulen. Aric war aufgewacht. Sydneys Sohn. Meine Augen begannen wieder zu brennen.
„Soll ich …“ Nikolaj zeigte nach nebenan. „Soll ich mal nach ihm schauen?“
„Nein, ich … ich mach das schon.“ Ich wischte mir noch mal über das Gesicht und griff dann nach meinen Krücken, um wieder auf die Beine zu kommen. Dabei versuchte ich die Wand als Stütze zu benutzen, um wieder hoch zu kommen. Eine meiner Krücken knallte dabei gegen die Tür und fiel wieder herunter.
„Warte, ich helfe dir.“ Entschlossen griff Nikolaj mir unter den Arm und zog mich auf die Beine. Dann bückte er sich nach der Krücke und reichte sie mir. Da er nicht nachfragte, wusste er es wohl scheinbar schon. Oder er glaubte, dass ich ihm sowieso nicht antworten würde.
Irgendwie machte mich dieser Gedanke noch trauriger. „Danke“, murmelte ich und folgte dann den Lauten, meines kleinen Jungens.
Entgegen meiner Erwartungen stand Aric nicht an seinem Gitterbettchen, um nach Aufmerksamkeit zu verlangen. Er träumte nur und zuckte dabei immer wieder mit den kurzen Beinchen.
Ich lehnte meine rechte Krücke an das Bett und legte ihm vorsichtig die Hand auf die Brust. Sofort wurde er ein wenig ruhiger.
„Brauchst du Hilfe?“
Ich schaute auf und stellte fest, dass Nikolaj mir gefolgt war. Doch er war sich unsicher, ob er das Kinderzimmer betreten durfte. „Nein“, sagte ich nur und zog die Decke über meinen kleinen Liebling. „Er Träumt nur.“
„In Ordnung.“ Er verschränkte die Arme, nur um sie gleich wieder an seine Seiten fallen zu lassen. „Aber du weißt, dass ich helfen würde, wenn du es möchtest. Du müsstest nur etwas sagen.“
„Ich weiß.“ Ich strich Aric über das weiche Babyfell und beneidete ihnen einen kurzen Moment um seine Unschuld und Unwissenheit. Noch verstand er nichts von den Problemen dieser Welt. Oder denen seiner Eltern. Ich musste dafür sorgen, dass er sich diese Unschuld bewahren konnte.
Um ihn nicht noch ausversehen zu wecken, zog ich die Hand zurück und nahm mir meine Krücke wieder. Noch ein kurzer Blick, dann schaltete ich das Nachtlicht ein und humpelte aus dem Raum.
Nikolaj machte mir sofort Platz, um nicht im Weg zu sein. Sein Blick ging quer durch das Wohnzimmer. Er schien nicht gehen zu wollen, wusste gleichzeitig aber auch nicht, wie er das verhindern sollte. „Also, ich denke, ich sollte …“
„Möchtest du dir mit mir ein wenig schlechte Unterhaltung reinziehen?“, fragte ich und humpelte zu meinem großen Sofa. Es war eine Erleichterung sich wieder zu setzen. „Ein wenig Gesellschaft wäre schön.“ Und es würde mich vielleicht ein wenig von den Scherben meines Lebens ablenken.
Für einen Moment sah er als, als hätte ich ihn gebeten, sich in einem Tarzankostüm vom Mondturm zu schwingen. Er schaute hinter sich, als überlegte er, ob ich jemand anderes gemeint haben könnte, aber da stand niemand.
Langsam, als wüsste er nicht genau wie es ging, bewegte er sich durch den Raum und schloss die Zimmertür von innen. Dabei ließ er mich keinen Moment aus den Augen. Es war, als befürchtete er, dass eine hektische Bewegung seinerseits meine Einladung sofort rückgängig machen könnte.
Ich konnte es ihm nicht verdenken. Es war das erste Mal, dass ich ihn gebeten hatte zu bleiben. Eigentlich traurig, wenn man bedachte, wie lange wir nun schon verheiratet waren. „Gibst du mir dir Decke vom Sessel, bevor du herkommst? Ich will nicht nochmal aufstehen.“
Er nickte. Immer noch wortlos.
Ich griff nach dem Telefon auf dem Beistelltisch. „Ich will mir etwas von Collette raufbringen lassen, willst auch was haben?“
Er starrte mich an, als sehe er mich zum ersten Mal und dann langsam, ganz langsam, nickte er.
Ich konnte das Zucken meiner Lippen einfach nicht verhindern. Das war einfach zu niedlich. „Möchtest du mir auch sagen was, oder muss ich raten?“
„Eint“, sagte er hastig.
„Was?“ Das konnte nun wirklich keiner verstehen.
Er kniff die Augen zusammen, atmete einmal tief ein und nahm dann meine Decke zur Hand. „Ich hätte gerne einen Tee.“ Er wagte es kaum mich anzusehen, als er mir die Decke reichte. Glaubte er, dass ich ihn fressen würde, weil er es wagte wirklich einen Wunsch zu äußern?
„Eigentlich hatte ich ja eher an etwas Ungesundes gedacht, wie Chips, Schokolade oder Eis, aber wenn du einen Tee möchtest.“ Ich steckte die Decke um mich fest und wählte die Nummer aus der Küche. Die Bestellung war schnell aufgegeben.
Als ich das Telefon wegstelle, stand Nikolaj noch immer, darum griff ich nach seiner Hand und zog ihn neben mich auf die Couch. „Ist es für dich wirklich ein so großer Schock, dass ich mit dir den Abend verbringen möchte?“
Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die nur sehr entfernt an ein Lächeln erinnerte. „Wenn ich ehrlich sein darf, dann ja.“
„Natürlich darfst du ehrlich sein.“ Ich reichte ihm die Fernbedienung für den Fernseher. „Hier, such du was aus.“
Wieder brauchte er einen Moment, um meiner Aufforderung nachzukommen. „Ich weiß nicht, was du gerne guckst.“
Nein, weil ich es nie zugelassen hatte, dass er mehr als nötig von mir erfuhr. „Früher einmal war ich ein echter Horrorfan, aber dann ist mein Leben selber zum reinsten Horror mutiert und …“ Ich klappte den Mund wieder zu. Keine von uns musste daran erinnert werden, wie wir beide hier gelandet waren. „Such einfach etwas aus.“
Er lehnte sich zurück, legte den Arm auf die Rückenlehne und zappte durch die verschiedenen Kanäle. Bei der gelben Familie aus Springfield blieb er einen kurzen Moment hängen, schaltete dann aber weiter, als glaubte er nicht, dass mir das gefallen könne.
„Du bist ein Simpsonsfan?“ Als er zögernd nickte, blieb mir gar nichts anders übrig, als zu lächeln. „Na dann lass die, ich mag sie auch. Besonders Maggi finde ich toll.“
„Mein Favorit ist Moe.“ Er zappte zurück.
„Moe?“
„Ja, die arme, missverstandene Seele, mit der es das Leben es nicht gut gemeint hat. Aber wenn es darauf ankommt, ist er ein guter Freund.“ Er zuckte leicht mit den Schultern. „Meistens zumindest.“
So hatte ich das noch nie gesehen. „Ich finde Maggi toll, weil sie so schwer zu durchschauen ist.“
„Fast so wir du.“
Ich zog eine Augenbraue nach oben. „Dann bist du die arme, missverstandene Seele?“
Das ließ ihn lächeln. „Arm? Ich bin ein König.“
Okay, das fand ich lustig. „Und so bescheiden.“ Ich nahm mir eines der Zierkissen und stopfte es mir in den Rücken. Dabei glitt mein Blick zum Kinderzimmer. Jetzt war alles wieder ruhig.
„Er ist so groß geworden.“
Nicht wirklich. „Doktor Ambrosius sagt, dass er für sein Alter zu klein ist. Doch das ist nichts Ungewöhnliches bei Frühgeburten. Aber er ist stark, er wird sich nicht unterkriegen lassen.“
„Ja, das ist er.“ Nikolaj warf mir einen vorsichtigen Blick zu, schaute dann aber schnell wieder auf den Fernseher.
„Wir müssen noch einem über Arics Gefährtin sprechen.“
Fast hätte ich geschnaubt. „Ich werde niemanden aussuchen. Er soll selber entscheiden dürfen, wen er lieben möchte. Es wäre nicht fair, wenn ich ihm etwas aufzwinge, was er nicht möchte.“
„Aber was ist mit dem Gesetz?“
Falsches Thema. „Das Gesetzt ist daran schuld, dass es deinem Vater gelungen ist mich hier zu fesseln.“ Bitterkeit stieg in mir auf. „Für uns beide ist dieses Gesetz nichts weiter als eine Fessel, oder willst du mir erklären, dass du glücklich bist, so wie es ist?“
Er brauchte darauf nicht zu regieren, die Antwort kannten wir beide.
„Kennst du das Sprichwort, Regeln sind da um gebrochen zu werden?“
„Dieses Gesetz hat aber einen Grund“, erwiderte er ruhig.
„Ja, ich weiß, aber ich werde meinen Sohn in keine Verbindung zwingen, die ihn unglücklich macht, nur weil es da mal eine Königin gab, die eine Vorliebe für das eigene Geschlecht hatte.“
Nikolaj sah mich zweifelnd an. Er hielt das nicht für die beste Lösung. Für ihn waren die Gesetze der Lykaner mehr, als blöde Regeln die aufs Papier gebracht wurden. „Und der Rat ist damit einverstanden?“
„Nein, aber das ist mir egal. Der Rat kann mir mal den Buckel runterrutschen.“ Warum sollte ich mit diesen Leuten noch kooperieren, nachdem sie mich wieder und wieder im Stich gelassen hatten? Und das, obwohl ich getan hatte, was sie von mir verlangten.
Nachdenklich schaute er zum Kinderzimmer. „Und wenn du das Gesetz abänderst?“
„Inwiefern abändern?“
Er legte die Fernbedienung auf den Tisch und stützte dann die Unterarme auf seine Beine. „Der Rat besteht auf diesem Gesetz, weil es den Fortbestand der Alphas sichert. Sie fürchten sich davor, ohne Führung zu sein. Also sorge dafür, dass die Führung gesichert ist.“
Das hörte sich ganz nett an, aber: „Wie soll ich das anstellen?“
„Indem du bestimmst, dass sich die Nachkommen der Alphas ab sofort ihre Gefährten selber aussuchen dürfen, solange sie es bis zu ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr tun. Falls sie bis dahin keinen passenden Gefährten gefunden haben, übernimmt der amtierende Alpha die Auswahl.“
Den ersten Teil fand ich gut, den letzten nicht. „Einundzwanzig ist sehr jung. Außerdem wäre es das gleiche in grün. Er findet niemanden und ich suche jemanden, den er nehmen muss, wenn auch erst einundzwanzig Jahre später.“
Ein listiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Das schon, aber es steht nirgendwo geschrieben, wie viel Zeit sich der amtierende Alpha für die Suche nach einem geeigneten Gefährten nehmen kann. Es könnte Jahre dauern, bis der richtige Partner gefunden wird.“
Das würde bedeuteten, dass Aric selbst mit dreißig oder vierzig noch seine Ruhe hatte, solange ich nur so tat, als würde ich mich nach einem geeigneten Partner für ihn umschauen. „Das ist genial.“
Dafür bekam ich ein schiefes Lächeln, das ihn wirklich hinreißend aussehen ließ und zum ersten Mal seit ich ihn kannte, schaffte ich es, ihn nicht als Jegors Sohn zu betrachten, sondern einfach nur als Nikolaj. Er war nicht das Monster, dass ich gerne in ihm sehen wollte. Im Grunde war er sogar ein wirklich netter Kerl, der einfach das Pech gehabt hatte, in den falschen Haushalt geboren worden zu sein. „Weißt du, wärst du nicht an mich gefesselt, würdest du da draußen eine Frau sehr glücklich machen.“
Diesen Worten folgte ein Ausdruck, den ich nicht entziffern konnte.
„Mein Gott, hör dir das nur an. Ich glaube nicht, dass ich schon jemals so was Nettes zu dir gesagt habe.“
Etwas in seinem Gesicht veränderte sich und auf einmal schlug die lockere Stimmung um. Sein Blick ging von meinen Augen zu meinen Lippen, bevor er sich hastig von mir abwandte. „Ich denke, ich sollte jetzt gehen.“
Wenn ich sein Verhalten richtig interpretierte, hatte er wahrscheinlich recht. Aber … „Bitte bleib“, bat ich ihn. Ich wollte nicht allein sein, denn dann würde ich nur wieder anfangen zu denken und in diese Spirale wollte ich mich im Moment nicht begeben. „Wir können quatschen, oder einfach nur Fernsehen, ganz wie du möchtest.“
„Ich weiß nicht …“
„Bitte.“
Er zögerte. Wahrscheinlich fragte er sich, warum ich ihn statt Sydney bei mir haben wollte, aber er war nicht so dumm, das Thema auf ihn zu lenken. Zum ersten Mal wollte ich von mir aus einen Abend mit ihm verbringen und das wollte er nicht riskieren. Darum lehnte er sich wieder zurück und packte seinen Arm auf die Rückenlehne.
„Danke.“ Er konnte nicht wissen, was es mir bedeute, dass er mich nicht alleine ließ.
„Alles was du willst“, flüsterte er, als sei es nicht mehr als ein Gedanke, den ich eigentlich gar nicht hören sollte.
Als kurz darauf Collette mit unserer Bestellung kam, teilten wir uns die Fingersandwichs und den Tee, während wir uns einen alten Schwarzweißfilm anschauten.
Der volle Bauch und die wirklich lange Nacht, sorgten dafür, dass ich ziemlich bald schläfrig wurde und es kaum noch schaffte die Augen offen zu halten. Aber ich wollte nicht alleine in mein großes Bett steigen. Daher versuchte ich es mir auf der Couch halbwegs bequem zu machen. Es funktionierte nicht.
„Du kannst dich ruhig an mich lehnen“, bot Nikolaj an, als ich zum dritten mal die Zierkissen in meinem Rücken neu arrangierte.
An Nikolaj lehnen? Dieser Gedanke war irgendwie … seltsam. Wenn wir Wölfe waren, war das ein bisschen was anderes, aber so als Mensch? Ich hatte noch nie neben Nikolaj geschlafen. Okay, in Arkan hatte ich neben ihm geschlafen, aber da war ich so besoffen gewesen, dass ich nichts davon mitbekommen hatte.
„Keine Sorge.“ Er lächelte ein wenig schief. „Ich werde dich nicht anfassen.“
Ja, weil ich ihm dann eine kleben würde. Aber vielleicht … vielleicht konnte ich dann schlafen und würde mich nicht so allein fühlen. „Es könnte passieren, dass ich dich vollsabbere.“
Dafür bekam ich ein wirklich hinreißendes Lächeln.
„Na gut, auf deine Verantwortung.“ Ich nahm eines der Zierkissen und legte es in seinen Schoß. Dann streckte ich mich neben ihm aus und bettete meinen Kopf darauf. Als ich dann einmal tief einatmete, tat er genau das Gleiche. Diese Situation war nicht nur für ihn neu und fremd. Aber es war nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt hätte. Ihn in der Nähe zu haben, gab mir sogar eine gewisse Ruhe und half dabei, dass meine Gedanken nicht abdriften konnten.
„Schlaf ruhig“, sagte er leise und legte eine Hand auf meinen Arm. Ich ließ ihn gewähren und fiel wenig später auch wirklich in einen traumlosen Schlaf.
Am nächsten Morgen wurde ich von einem Klopfen an der Tür geweckt. Verwundert warum ich auf der Couch lag, brauchte ich einen Moment, um mir darüber klar zu werden, dass der Körper an den ich mich kuschelte, Nikolaj gehörte. Eigentlich hätte ich in Panik verfallen sollen, oder ihn anschreien, weil er den Arm um mich gelegt hatte, aber es war … okay.
Als er merkte dass ich wach war, lächelte er mich vorsichtig an. Seine Haare waren vom Schlaf zerwühlt und sein Anzug hatte so viele Falten, wie ein Shar Pei. „Morgen.“
„Morgen.“ Als es erneut an der Tür klopfte, richtete ich mich seufzend auf. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es schon nach neun war.
Ich blinzele einmal, um mich zu versichern, dass ich mich nicht verguckt hatte. Nein, es war wirklich schon nach neun. Mit einem Mal fuhr mir ein furchtbarer Schreck in die Knochen. „Aric!“, rief ich und sprang in meiner Panik auf. Leider vergaß ich dabei mal wieder mein Bein und statt durch den Raum zu eilen, um an sein Bett stürzen zu können, landete ich wenig elegant auf den Knie. „Au,, verdammt!“
Sofort war Nikolaj an meiner Seite. „Alles in Ordnung?“
„Nein, nichts ist in Ordnung. Aric, er hat mich nicht geweckt.“ Mit zusammengebissenen Zähnen und ein wenig Hilfe von Nikolaj, arbeitete ich mich zurück auf die Beine. „Er muss krank sein, sonst würde er doch keine Mahlzeit …“
„Keine Sorge, ich habe ihn gefüttert.“
Das ließ mich innehalten. „Du?“
Nikolaj wirkte etwas verlegen, als er den Mund öffnete. „Naja, Collette hat mir geholfen. Du sahst so erschöpft aus, da wollte ich dich schlafen lassen. Also hab ich Collette gerufen, damit sie mir hilft und dann haben wir ihn zusammen gefüttert und gewickelt.“ Bei dem zweiten Wort verzog er das Gesicht. „So mehr oder weniger.“
Das machte mich echt sprachlos. Nikolaj hatte sich um meinen Sohn gekümmert und sich anschließend wieder zu mir auf die Couch gelegt? Ich war mir nicht ganz sicher, was ich davon halten sollte.
Viel wichtiger war mir im Moment jedoch, warum ich nicht aufgewacht war, als Aric hunger hatte. Sonst weckte mich doch auch der kleinste Pieps von ihm. War ich wirklich so erschöpft gewesen? „Ähm … danke.“
„Du brauchst dich nicht zu bedanken. Es war zur Abwechslung mal ganz nett.“
Ja, weil ich ihn sonst nie an Aric heran ließ.
Als es wieder an der Tür klopfte, erinnerte ich mich daran, warum ich überhaupt wach geworden war. das musste Collette sein.
Damit begann der Tag für mich. Während ich im Bad verschwand, suchte Collette mir Klamotten raus und behielt ein Auge auf Aric. Außerdem bat ich sie Doktor Ambrosius zu rufen, damit er mir ein Schmerzmittel verabreichte. Ehrlich, sonst würde ich den Tag wahrscheinlich nicht überstehen. Aric war so nett mit dem Aufwachen zu warten, bis ich fertig angezogen war. Nikolaj war schon weg, als ich zurück in mein Zimmer kam. Ihn sah ich erst beim Frühstück wieder, das ausnahmsweise einmal sehr harmonisch verlief.
Danach musste ich mich um all die kleinen Dinge kümmern, die sich in den letzten Tagen angesammelt hatten. Das nahm mich so in Anspruch, dass ich sogar das Mittagessen verpasste, aber wenigstens half es mir dabei, mir keine Gedanken um Sydney oder Raphael zu machen. Oder darüber, dass ich keinen von den beiden zu sehen bekam.
Raphael war vermutlich noch mit Tristan in Kassel und wartete auf Lucy. Sydney dagegen … okay, ich dachte doch über die beiden nach.
Einmal war ich kurz am überlegen, ob ich Sydney aufsuchen sollte, aber als ich mir dann wieder in Erinnerung rief, wie wir Gesten auseinander gegangen waren, verließ mich der Mut und ich verkroch mich feige wie ich war, in meiner Arbeit.
Erst am späten Nachmittag, als Murphy an meine Bürotür klopfte, sah ich von dem Papierkrieg auf meinem Schreibtisch auf. Miguel war eingetroffen und ließ anfragen, ob ich Zeit hätte, rüber ins HQ zu kommen. Da ich sowieso eine Pause vertragen konnte, ließ ich mich nicht Zweimal bitten.
Mit Aric unterm Arm machte ich mich auf in die Kommandozentrale, wo es jede Menge Computer, Blinklichter und noch mehr Piepen gab. Außerdem lag ein Summen in der Luft, das mir die Haare zu Berge stehen ließ.
An den Wänden rundherum stand ein Schreibtisch neben dem anderen und in der Raummitte hatte man einen großen Tisch hingestellt, auf dem man problemlos Karten und Baupläne ausbreiten konnte.
Überall im Raum waren Leute verteilt und arbeiteten an den Computern oder brüteten über ein paar unterlagen. Außer der Kerl da hinten in der Ecke. Der machte wohl gerade Pause und schlürfte dabei an seinem Kaffee.
Migule beugte sich bei meinem Eintreffen über Futures Schulter und schaute auf ihren Bildschirm. Seine Glatze verbarg er heute unter einem Hut.
Zu meiner Überraschung war auch Roger da.
„Hey“, begrüßte ich ihn. Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er vorbeigekommen war, um seine Anstellung bei den Themis offiziell zu machen. Ja, hier benutzen alle ein Alias, aber dennoch gab es ein wenig Papierkram und auch Ausweise. Sonst könnte ja jeder hergelaufene Idiot behaupten ein Themis zu sein. „Wie geht es deiner Familie?“
Er warf einen kurzen Blick auf meine Krücke und schenkte mir dann ein Zahnpastalächeln. „Gut. Anouk geht nach dem Sommer in die Schule und freut sich bereits darauf.“
„Na dann kann er seine Bücher in Zukunft ja alleine …“
„Cayenne“, rief Miguel mich und winkte mich zu sich heran. „Komm her und sieh dir das an.“
Na wenn ich so lieb gebeten wurde, konnte ich ja schlecht nein sagen. Ich drängte mich zusammen mit Murphy neben Future an den Schreibtisch und schaute auf ihren Bildschirm. Sie und auch die andern starrten auf etwas, das mich mich an Buchstabensalat erinnerte. Keines der Worte ergab einen Sinn. Waren das überhaupt Worte?
„Das sieht aus, als hätte sich eine Schreibmaschine auf deinen Rechner übergeben“, kommentierte ich.
Future grinste.
„Lass deine überflüssigen Kommentare.“
Ja ja, ich hatte Miguel wirklich lieb.
Er zeigte auf den Bildschirm daneben, wo endlose Reihen von Zahlen über den Monitor tanzten. „Wir versuchen es gerade zu entschlüsseln.“
„Sind das die Daten von den Computern?“
„Nein.“ Future schüttelte den Kopf und hob dann das Tablet vor ihrer Nase hoch. Es war durch ein Kabel mit einem Gerät neben dem Monitor verbunden. „Die Sticks habe ich schon durch, das hier ist viel interessanter. Allein um die Firewall zu knacken, habe ich dreizehn Stunden daran gesessen. Deswegen bin ich auch so hibbelig. Seit gestern Abend habe ich mich nur noch von Kaffee ernährt.“
Dreizehn Stunden. Moment, das war doch das Tablet, von dem beleibten Kerl mit den schütteren Haar. „Du bist immer so hibbelig.“
Sie zeigte mir die Fänge, bevor sie sich wieder dem Bildschirm widmete. „Die Daten darauf sind noch mal extra verschlüsselt und gesichert. Was auch immer hier abgespeichert ist, ich wette meinen Bus darauf, es ist verdammt wichtig.“
Ihren Hippiebus? Dann musste sie sich aber wirklich sicher sein. „Was bedeutet das?“
„Wenn wir ganz großes Glück haben? Das wir den Skähn damit richtig den Hintern versohlen können.“ In heiterer Vorfreude, rieb sie sich die Hände.
Aric hampelte auf meinem Arm herum und versuchte Murphy mit seinen kleinen Wolfszähnchen in den Finger zu schnappen, weil der ihm unterm Kinn kitzelte.
„Vielleicht sind darauf auch Spuren, die zu bereits lange verschwundenen Personen führen“, fügte Miguel noch hinzu.
Niemand sagte etwas dazu, denn alle wussten, dass er noch heute hoffte, wenigstens herauszufinden, was damals mit seiner Gefährtin geschehen war.
„Weißt du schon, wann du den Code geknackt haben wirst?“, fragte ich und drücke Murphy meinen kleinen Wolf in den Arm. Wenn er ihn schon ärgerte, dann konnte er ihn auch selber festhalten. Außerdem war es so einfacher, mich auf der Krücke zu halten. Ich hasste das Teil und freute mich schon darauf, wenn ich es nicht mehr benutzen musste.
„Kann sich nur noch um Stunden handeln.“
„Stunden?“
„Besser als Tage.“
Dagegen konnte man nichts einwenden. „Und der Rest? Also die Papiere und so? Habt ihr darauf auch etwas gefunden?“
Murphy nickte. „Wir haben erst einen Teil durchgearbeitet, aber es sieht bereits jetzt schon vielversprechend aus. Wir haben Transportlisten gefunden, Immobilien und Kontonummern. Ein paar kleinere Fische haben wir schon auswendig machen können und – Au!“ Er zog seinen Finger weg und schüttelte die Hand aus.
Mein kleiner Schatz schaute ihn ganz unschuldig an.
„Miguel hat bereits Teams nach ihnen ausgeschickt“, erklärte Roger. „Wir müssen schnell sein, damit sie uns nicht noch entwischen.“
Das war das Problem, der Zeitdruck. Wenn wir die Daten nicht schnell genug auswerten konnten, hatten die Skhän bereits ihre Sachen gepackt und ihre Spuren verwischt, bevor wir ihnen auf die Schliche kamen. „Haben wir in der Zwischenzeit schon eine Rückmeldung von Letisha?“
Miguel nickte. „Die Skhän hegen keinen Verdacht gegen sie. Trotzdem wird sie erst morgen wieder hier sein können, um einen kompletten Bericht abzugeben. Sie sagt, die Skhän sind gerade ziemlich unruhig und da kann sie nicht so einfach verschwinden.“
Das hatte vielleicht etwas mit dem Tablet zu tun. „Soll ich dir noch ein paar Leute geben, die euch bei der Auswertung der Papiere helfen?“
„Nein, das bekommen wir auch so hin.“ Als jemand nach ihm rief, warf er einen Blick über die Schulter. „Ich wollte nur, dass du über den Stand der Dinge informiert bist.“ Wieder wurde er gerufen. „Wenn du mich entschuldigst.“ Und weg war er.
Damit war die kleine Besprechung dann auch beendet. Murphy gab mir Aric wieder, nachdem er die Hand des großen Mannes ordentlich vollgesabbert hatte und auch Roger verabschiedete sich, um zurück an die Arbeit zu gehen.
Ich bat Future noch mir Bescheid zu geben, wenn sie dem Tablet seine Geheimnisse entlockt hatte und begab mich dann wieder zurück in mein eigenes Büro. Dort versank ich erneut in einem Berg aus Papieren, die die Welt bedeuteten.
Die Sonne stand bereits tief am Himmel, als Samuel mit einem Knall in mein Büro kam. Wortwörtlich. Beim Öffnen rutschte ihm die Klinke aus der Hand und kollidierte mit der Wand. Ich war so in meine Arbeit vertieft, dass ich vor Schreck fast vom Stuhl fiel. „Gott Samuel, nimm ein wenig Rücksicht auf die ältere Generation.“
„Auch wenn wir vom Alter her zehn Jahre auseinander liegen, befinden wir uns theoretisch in der selben Generation. Daraus ergibt sich, dass deine Worte Unsinn sind.“
Manchmal hatte ich den kleinen Klugscheißer echt lieb.
„Und nun beende deine Arbeit, es ist Zeit für das Abendessen.“ Noch bevor ich protestieren konnte, trat er an meinen Schreibtisch, nahm mir den Stift aus der Hand und schob meine Papiere beiseite.
„Hey, Moment mal.“ Ich versuchte meine Dokumente wiederzuholen, da schnappte er sie sich einfach und legte sie am anderen Ende des Raumes auf einen der Sessel. „Gib das her, das ist wichtig.“
„Das kannst du morgen noch machen, jetzt kommst du erst mal mit mir.“ Er ging zu Arics Laufstall und nahm in heraus. „Du brauchst eine Pause.“
Pause hörte sich gut an, aber … „Ich muss das wirklich fertig machen.“
„Nein musst du nicht.“ Als Aric ihm quer über die Wange leckte, ignorierte er das einfach. „Und jetzt komm, sonst befehle ich Umbra Drogan, dass er dich hier raustragen soll.“
Das traute ich ihm glatt zu. „Dir ist schon bewusst, dass ich die Königin bin?“
„Ja.“
Wenigstens hatten wir das geklärt. „Wenn ich mit meinem Terminplan in Verzug komme, bist du schuld.“
„Ist notiert.“
Klugscheißer.
„Und nun komm.“ Er drehte sich herum und marschierte aus dem Büro.
Ich wollte schon folgen, zögerte dann aber. Wenn er jetzt weg war, konnte ich doch wenigstens schnell die Sache mit der Lieferung nach …
„Jetzt, Cayenne.“
Oder auch nicht. Ich sollte ihm dringen mal erklären, wer hier eigentlich die Hosen anhatte – bildlich gesprochen natürlich. Ich nahm mir gerade noch die Zeit den PC runterzufahren, bevor ich ihm auf meiner Krücke hinaus folgte. Zu meiner Verwunderung ging es aber nicht in den Speisesaal, sondern hinaus in den Garten, wo Samuel unter ein paar ausladenden Eichen ein kleines Picknick hatte anrichten lassen.
Neben Tellern und Tassen lagen auf einer großen Decke Pasteten, Braten, Obst, Kuchen, und andere kalte Speisen. „Sag mal, wie viele Leute erwartest du eigentlich zum Essen?“
„Niemanden weiter. Ich hatte nur angenommen, dass auch Sydney uns Gesellschaft leisten würde.“ Er setzte sich zusammen mit Aric auf die Decke und gab dem kleinen einen Vollkornkeks, auf dem er herumkauen konnte. „Dass er nicht bei dir ist, finde ich ein wenig irritierend.“
Das war ein Thema, mit dem ich mich im Moment nicht befassen wollte. „Er hat zu tun“, erklärte ich, um das Thema schnellst möglich abzuschmettern und setzte mich zu ihm auf die Decke.
„Ich glaube dir nicht. Du weichst meinem Blick aus und auch deine Stimme hat sich verändert. Das sind Anzeichen einer Lüge.“
Es war ja auch eine Lüge. Aber das würde ich nicht mit ihm besprechen. „Gibt es eigentlich einen besonderen Grund für dieses Picknick, oder wusstest du einfach nichts besseres mit deiner Zeit anzufangen?“, versuchte ich ihn abzulenken.
Einen kurzen Moment schaute er mich einfach nur an. „Du versuchst da Thema zu wechsel. Mutter hat früher immer gesagt, dass tun die Leute, wenn sie über etwas nicht sprechen wollen. Sie hat auch gesagt, dass man dann entscheiden muss, ob man die Sache auf sich beruhen lässt, oder doch besser noch einmal nachfragt. Dabei kommt es auf die Wichtigkeit des Themas an.“
Aric stieß ein Jauchzen aus, ließ seinen Keks, Keks sein und krabbelte von Samuels Schoß, um sich auf Entdeckungstour zu begeben.
„Lass es gut sein, Samuel“, bat ich ihn und griff mir ein Stück von dem kalten Braten. „Erzähl mir lieber, was dich im Moment so umhertriebt.
Er versuchte zu entscheiden, ob er doch noch einmal nachfragen sollte. Leider waren Zwischenmenschliche Dinge manchmal nicht ganz einfach für ihn, also ließ er es für den Moment gut sein. „Ich möchte dich etwas fragen.“
Am Fuß einer Zierhecke, erregte eine Wurzel Arics Aufmerksamkeit. Sofort tapperte er auf wackligen Beinen dorthin. Doch bevor er hineinbeißen konnte, hob ich ihn hoch und setzte ihn zurück auf die Decke. Es musste nicht sein, dass er Dreck fraß.
„Schieß los.“ Ich biss ein Stück von dem kalten Fleisch ab. Hm, die Küche hier war wirklich fantastisch.
„Es ist etwas … naja …“ Er verstummte.
Das ließ mich aufmerksam werden. Samuel nahm niemals ein Blatt vor dem Mund, egal wie unpassend seine Kommentare und Ansichten waren. „Geht es dir gut?“
„Ich habe keinerlei körperliche Beeinträchtigungen, falls du darauf anspielst.“
Das hatte ich zwar nicht, aber es war gut zu wissen. „Dann stell deine Frage.“
„Es geht um die Beziehungen zwischen Männern und Frauen.“
Beziehungen? Oh Gott, das war ein Thema, in dem ich nicht gut war. Man schaue nur auf den Wirrwarr, der um mich herum tobte. Dafür hatte ich absolut kein Händchen. Aber wenn ich nicht mit ihm darüber sprach, wer sollte es dann tun? „Meinst du richtige Beziehungen, oder … Sex?“
„Ich bin mir im klaren darüber, wie der Geschlechtsakt ablauft und habe auf diesem Gebiet auch bereits praktische Erfahrungen. Du brauchst mich darüber also nicht mehr aufklären.“
Gott, zu viele Informationen!
„Was ich wissen möchte … es gibt da ein Mädchen, ihr Name ist Alice. Ich bin ihr in der Bibliothek in Silenda begegnet und habe sie gebeten, mit mir auszugehen, aber sie hat abgelehnt. Was kann ich tun, damit sie ihre Entscheidung noch einmal überdenkt?“
Ohje. „Das ist nicht ganz einfach zu beantworten, ich kenne ja weder sie noch die Gründe, warum sie nicht mit dir ausgehen will.“ Ich dachte einen Moment nach. „Wie hast du sie denn gefragt?“
„Ich bin zu ihr hingegangen und habe sie gefragt, ob sie am Wochenende mit mir ausgehen will. Daraufhin hat sie gesagt, tut mir leid, aber da habe sie Kopfschmerzen.“
Okay, den Spruch musste ich mir merken. Aber auf einmal kam mir ein Gedanke. „Sag mal, kennt sie dich überhaupt?“
„Ich bin Graf Samuel. Ich war ein Prinz.“
Ja, was sollte ich dazu noch sagen? „Hast du schon einmal mit ihr gesprochen, bevor du sie eingeladen hast?“
Er schüttelte den Kopf. „Ihren Namen weiß ich, weil ihre Freundin sie so genannt hat.“
Okay, damit war klar, wo das Problem lag. „Samuel, nur weil du mal ein Prinz warst, kannst du nicht davon ausgehen, dass jedes Mädchen nur darauf wartet, von dir eingeladen zu werden.“
„Aber ich bezahle doch auch.“
Nein, dazu fiel mir auf die Schnelle nichts ein. „Also, pass auf. Natürlich gibt es Mädchen, die sich davon geschmeichelt fühlen, von dir eingeladen zu werden, einfach weil sie wissen, dass du mal ein Prinz warst und auch Geld hast. Aber es gibt mindestens genauso viele Mädchen, denen das völlig egal ist. Auch unter ihnen wird es die eine oder andere geben, die gerne mit dir ausgehen würden, aber vorher wollen sie dich kennenlernen.“
„Was du sagst, ist unlogisch. Sie würden mich doch bei der Verabredung kennenlernen.“
Auch wieder wahr. „Aber vielleicht würde sie vorher wenigstens ein Gespräch mit dir führen wollen. Du hast gesagt, sie war in der Bibliothek. Dann hat sie sich sicher ein Buch ausgeliehen. Du hättest sie danach fragen und in ein Gespräch verwickeln können. Und wenn du ihr dann sympathisch gewesen wärst, hätte sie vielleicht auch ja gesagt.“
Darüber dachte er einen Moment nach. „Das heißt, wenn sie mich mag, bevor ich sie frage, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie einer Einladung zustimmt.“
Halleluja. „Richtig.“
„Dann muss ich sie also nur dazu bekommen, dass sie mich mag.“
„Ja und nein. Sympathie ist etwas, dass man nicht erzwingen kann. Es könnte trotz deiner Bemühungen passieren, dass sie kein Interesse an dir hat, einfach weil du nicht ihr Typ bist.“
Er runzelte die Stirn. „Langsam finde ich dieses Gespräch ein wenig verwirrend.“
Was wahrscheinlich daran lag, dass ich nicht unbedingt eine Beziehungsexpertin war. Man werfe nur mal einen Blick auf mein Leben.
Ich konnte Raphael nicht haben und verlor jetzt wahrscheinlich auch noch Sydney. Und das nur, weil ich von diesem verfluchten Vampir einfach nicht loskam. Das Sydney mir deswegen Zeit und Raum zum Nachdenken geben wollte, belastete mich dabei zusätzlich. Ich konnte ihn verstehen, natürlich, aber … wie sollte ich eine Entscheidung treffen?
Es war als hätte ich zwei Leben. Zu dem bei den Themis gehörte Raphael, zu dem im Schloss Sydney, aber nun waren die Grenzen verwischt und zwei Welten aufeinander geprallt. Fazit: zwei Welten, zwei Leben, zwei Männer, eine Entscheidung die mein Leben bestimmen würde. Aber was wenn ich mich für die falsche Seite entschied? Woher sollte ich wissen was falsch war, wenn sich beides so richtig anfühlte?
Wobei diese Überlegung eigentlich völlig überflüssig war. Raphael hatte sich schließlich bereits nach einer anderen umgeschaut. Leider war meinem Herz das egal.
„Da kommt Nikolaj“, sagte Samuel und zupfte Aric einen Grashalm aus der Schnauze.
Hm, wenn ich darüber nachdachte, gab es sogar drei Kerle in meinem Leben. Wie im Gottes Namen war das nur passiert?
Ich folgte Samuels Blick und entdeckte Nikolaj in seiner Wolfsgestalt, wie er in unsere Richtung trabte.
Das Spiel von Licht und Schatten malte wunderschöne Muster auf seine einzigartige Fellzeichnung. Bis heute hatte ich keinen anderen Wolf gesehen, der so wunderschön war. Trotzdem wurde ich wachsam, als er Aric mit der Nase anstupste und der Kleine den König spielerisch anknurrte. Nicht dass ich glaubte, dass er meinem Sohn irgendetwas tun würde. „Was machst du hier draußen?Ich dachte, du musst arbeiten, sonst hätte ich dich gefragt, ob du uns zur Jagt begleiten möchtest.“
Ach deswegen war er ein Wolf. Hätte ich mir eigentlich auch denken können. „Samuel hat mich genötigt mit ihm ein Picknick zu machen. Er hat mir meine Papiere geklaut und mich in den Garten gezerrt.“ Naja, so ungefähr.
„Ich hatte eine Frage an sie.“
Nikolaj warf Samuel einen befremdlichen Blick zu. Mit meinem kleinen Cousin hatte er noch nie viel anfangen können. Nach einem kurzen Zögern, legte er sich neben die Decke.
Aric nutzte das sofort aus und begab sich auf die Jagd nach Nikolajs Rute.
„Er ist schon wieder ein Welpe“, bemerkte er nachdenklich.
Aric biss in die Rute, zog … und fiel auf die Nase.
Ich zuckte mit den Schultern. „Bei ihm ist der Wolf halt sehr ausgeprägt.“
Irgendwas an diesem Gedanken schien Nikolaj zu stören.
„Das ist nicht weiter besorgniserregend“, gab nun auch Samuel noch seinen Senf dazu. „Es gibt Lykaner, die neigen halt sehr zu ihrer tierischen Seite. Solange Aric sich hin und wieder verwandelt, ist alles in Ordnung.“
„Und wenn er damit aufhört und Tier bleibt? Ich habe von solchen Wölfen gehört, sie sind … unberechenbar.“
„Er wird sich nicht verlieren.“ Etwas anderes wollte ich gar nicht in Betracht ziehen. Mit Aric war alles völlig in Ordnung. „Also zerbrich dir nicht dein hübsches Köpfchen darüber.“
Beleidigt legte er die Ohren an. „Ich mache mir aber Gedanken. Seine Mutter ist immerhin ein …“ Er verstummte, als ihm klar wurde, was er im Begriff war mich zu beschuldigen.
„Ein Misto“, vervollständigte ich seinen Satz. Vor Samuel konnte ich darüber reden. „Das war es doch, was du gerade sagen wolltest, nicht wahr? Ich habe schlechte Gene, menschliche Gene.“
„Nein, ich meinte damit nicht, dass du …“
„Spar dir deine Worte, Nikolaj, ich will sie nicht hören.“ Ohne ein weiteres Wort schnappte ich mir Aric und meine Krücke und machte mich davon.
Natürlich konnte Nikolaj mich nicht einfach so gehen lassen. Gott, der Junge wusste echt nicht, wann es besser war, einfach mal einen Rückzieher zu machen. „Cayenne, so warte doch, ich wollte dich nicht verärgern, ich hab das nicht so …“
„Lass mich in Ruhe.“ Unbeirrte schritt ich den Weg entlang, auf den Rosensaal zu.
Nikolaj sprang vor mich, sodass ich fast über ihn gefallen wäre. „Bitte, ich habe nicht nachgedacht, bevor ich den Mund geöffnet habe. Ich habe nicht sagen wollen, dass du daran schuld bist, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Ich habe nur gemeint …“
„Mit ihm stimmt alles!“, fauchte ich ihn an. Das gab es doch einfach nicht! Mit jedem Wort das seinen Mund verließ, machte er es nur noch schlimmer. „Mit Aric ist alles völlig in Ordnung, auch wenn seine Mutter nur ein Misto ist.“
„Bitte, ich meinte doch nicht …“
„Noch dazu einer, der über eine Macht gebietet, die sogar die von König Isaac in den Schatten stellt und wenn du nicht willst, das ich dir gleich in deinen vornehmen Hintern trete, um ihn aus dem Weg zu schaffen, dann solltest du dich schleunigst verzeihen.“
„Cayenne …“
Ich holte aus und trat zu. Sein Glück nur, dass er so schnell reagierte und zur Seite sprang. Aber so bestürzt wie er aussah, hätte er wohl nie im Leben damit gerechnet, dass ich meine Drohung wahrmachen würde.
Tja, hinterher war man immer schlauer.
Ohne ihn auch nur noch eines Blickes zu würdigen, ließ ich ihn stehen.
°°°
Unsicher stand ich vor Sydneys Bürotür und wollte nach dem Türknauf greifen, aber auf halbem Wege dorthin verließ mich der Mut. Was wenn er mich nicht sehen wollte? Oder noch schlimmer, wenn er eine Entscheidung von mir verlangte?
Es war nicht gut, jetzt bei ihm aufzutauchen und ihn mit weiteren Männerproblemen zu belasten, nur weil ich selber damit überfordert war. Es war ihm gegenüber unfair, das konnte ich nicht schon wieder tun. Doch … wo sollte ich sonst hin?
Nein, ich sollte …
Die Tür ging auf und mit einem Mal stand ich einer überraschten Nicoletta gegenüber. „Eure Majestät“, sagte sie verwundert und trat dann eilig einen Schritt zur Seite, denn natürlich ging sie davon aus, dass ich zu Sydney wollte.
„Ähm.“ Kurz war ich versucht ihr zu erklären, dass ich mich in der Tür geirrt hatte, damit ich einfach wieder verschwinden könnte, aber nicht mal ich galt als so verrückt, dass ich nicht mehr wusste, wo ich war und wo ich hinwollte. Und dann bemerkte ich auch noch Sydney an seinem Schreibtisch.
Er beobachtete mich aus traurigen Augen. Zwar versuchte er es nicht zu zeigen, doch vor mir konnte er seinen Kummer nicht verstecken. Dafür kannte ich ihn einfach zu gut. Es tat mir weh ihn so zu sehen. Er war sonst immer so stark.
Okay, ich würde bleiben, wenigstens für einen Moment. Aber ich würde ihm nicht erzählen, warum ich ursprünglich gekommen war.
Zögernd trat ich an Nicoletta vorbei in sein Büro.
Nicoletta schien zu spüren, dass hier etwas im Argen lag. „Wir sehen uns dann morgen“, verabschiedete sie sich und verschwand zur Tür hinaus.
Oder sie wollte einfach nur Feierabend machen.
Leider entstand mit ihrem Verschwinden eine drückende Stimmung im Raum, die mich wünschen ließ, sie wäre nicht gegangen. Sie hätte als Puffer fungieren können. Nicht dass ich glaubte einen zu benötigen, aber es war leichter meine Aufmerksamkeit auf das ungeschickte Ding zu richten, als auf Sydney. Nicoletta hätte bestimmt einen Weg gefunden, die aufkommende Stille zu durchbrechen. Vielleicht wäre sie über ihre Füße gestolpert, oder hätte mal wieder etwas über Sydneys Bücher verschüttete und damit Wochenlange Arbeit ruiniert.
War bereist vorgekommen, öfter als einem Schreiber lieb sein konnte. Trotzdem hatte Sydney seine Assistentin behalten. Angeblich war sie außerhalb meiner Reichweite eine super Fachkraft.
Wenigstens konnte ich Aric noch im Arm halten. Das gab mir zumindest eine kleine Beschäftigung.
Sydney war der Erste, der das unangenehme Schweigen nicht mehr aushielt. „Wünscht ihr etwas, Königin Cayenne?“
Königin Cayenne? Das fing gar nicht gut an. „Ähm … nein, ich wollte einfach nur mal schauen, was du so treibst.“
„Ihr lügt.“
Mist. War ja irgendwie klar gewesen, dass er das bemerken würde. „Tu einfach so als wäre es die Wahrheit, okay?“ Ich wollte ihn nicht schon wieder vor den Kopf stoßen.
„Nein, keine Lügen zwischen uns. Sprecht mit mir, oder geht.“
„Bitte Sydney, ich …“
„Nein. Eure geistige Gesundheit hängt schon seit Jahren an einem seidenen Faden und ich werde nicht zulassen, dass es wieder schlimmer wird, nur weil Ihr glaubt, dass Ihr mich vor der Wahrheit schützen müsstet.“ Er drehte sich zu mir herum. „Habt Vertrauen, ich halte mehr als, als Ihr glaubt, also sagt mir, was Euch zu mir geführt hat.“
Das war keine Bitte, nicht mal im Ansatz.
„Es ist wieder der Vampir.“
Dieses Mal konnte ich ganz ehrlich den Kopf schütteln. „Nein, ich wollte einfach nur mit dir reden. Wir haben uns den ganzen Tag noch nicht gesehen.“
„Und das aus gutem Grund.“ Als er mein betroffenen Gesichtsausdruck bemerkte, wurde seine Stimme sanfter. „Glaubt mir, es war auch für mich nicht einfach, Euch nicht aufzusuchen, aber es war das Beste. Ihr braucht Zeit, Zeit um mit Euch und Euren Gefühlen ins Reine zu kommen. Ich gebe sie Euch, ich bin nicht aus der Welt.“
Diese Worte machten mich ohne ersichtlichen Grund einfach nur sauer. Vielleicht waren das aber auch noch die Nachwirkungen von der Begegnung mit Nikolaj. „Warum glaubst du immer zu wissen, was das Beste für mich ist?“, fuhr ich ihn an. „Klar, du bist ein bisschen älter, aber deswegen hast du die Weisheit noch lange nicht mit Löffeln gefressen. Ich hab in meinem Leben garantiert mehr durchgemacht als du, also wie wäre es, wenn du zur Abwechslung mal nach meinen Weisheiten fragen würdest und nicht immer darauf bestehst, dass der ach so schlaue Sydney alles besser weiß.“
„Das habe ich nie behauptet.“
„Aber du tust immer so!“, fauchte ich ihn an. „Dein gönnerhaftes Getue und … und dieses blöde Zeitgeben kannst du dir sonst wo hinstecken, denn es bringt nichts und … Scheiße! Nikolaj hat Aric Fehlerhaft bezeichnet, weil seine Mutter ein Misto ist – deswegen bin ich gekommen. Aber das ist kaum schlimmer, als ein Mann, der seine Freundin für geisteskrank hält. Und wenn du mich jetzt entschuldigst, die Geisteskranke hat noch zu arbeiten.“
Als ich Kehrt machte und aus dem Raum stürmte, schürte der betroffene Ausdruck in Sydney Augen meine Wut gleich noch weiter an. Was hatte er für ein Recht mich so anzusehen? Er war es schließlich, der mich beleidigt hatte. Am liebsten hätte ich ihm meine Krücke über den Kopf gezogen.
Ich hatte es so satt, mir neben ihm wie eine dumme Göre vorzukommen, die nichts von der Welt verstand. Er versteckte sich seit Jahren hinter den Mauern des Schlosses. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie es dort draußen zuging. Ich war es, die immer wieder dort raus ging und da war nicht er es, der an meiner Seite war und mir half mit allem zurecht zu kommen.
Nicht er war es gewesen, der mich nach dem Schuss ins Bein Sicherheit getragen hatte. Nicht er war es gewesen der meine Wunde versorgt hatte und sauer war, weil ich nicht besser auf mich aufgepasste hatte. Natürlich war er es nicht. Im Gegensatz zu Raphael war er ein feiges Kaninchen, das sich in seinen Bau verkroch, sobald jemand auch nur in seine Richtung nieste. Gott, Sydney war so ein Feigling.
Aber das Schlimmste an diesem Streit war, dass Sydney mir nicht folgte. Kein „Cayenne warte“, oder „das habe ich nicht so gemeint“ Er ließ mich einfach gehen.
Dieser elende Wolf ließ es zu, dass ich verschwand, nachdem ich ihn so angemacht hatte. Er sollte mir hinterherlaufen und … ach keine Ahnung, mir vielleicht gegen mein Bein Pinkeln, aber nein, ein Sydney tat so etwas natürlich nicht. Immer korrekt, immer anständig und wenn seine Freundin zur Tür hinaus spazierte, na dann war das eben so. Er war ja schließlich nicht aus der Welt und ich wusste, wo ich ihn finden könnte. Aber wenn er glaubte, dass ich zurückkommen würde, hatte er sich geschnitten. Dieses Mal hatte er Scheiße gebaut.
Ich merkte gar nicht wohin mich meine Beine trugen, bis ich ein sehr vernehmliches Miauen neben mir hörte. Ich war in der Menagerie gelandet und wurde von meinem persönlichen Begrüßungskomitee empfangen.
„Na, du kleine Kratzbürste?“ Ich hockte mich etwas umständlich hin, um Elvis hinter dem Ohr zu kraulen. Der verengte die Augen zu schlitzen, als er den kleinen Wolf in meinen Armen bemerkte. Es passte ihm gar nicht, dass sein Stammplatz besetzt war. Er Quakte verärgert. „Na na, keine Eifersüchteleien. Du bist und bleibst meine erste große Liebe.“
Das schien ihm nicht im Mindesten zu besänftigen. Er funkelte Aric feindlich an und peitschte wild mit dem Schwanz.
Das erregte natürlich Arics Aufmerksamkeit. Alles was sich bewegte fand er toll, aber als er versuchte nach dem Schwanz zu schnappen und Elvis nur den Bruchteil einer Sekunde später nach meinem kleinen Jungen schlagen wollte, sah ich mich dann doch gezwungen einzuschreiten. „Elvis, nein!“ Aric hielt ich einfach das Schnäuzchen zu. „Vertragt euch.“
Elvis schmiegte sich einmal schnurrender Weise um meine Beine, miaute mich dann auffordernd an und lief auf den Trailer zu, als wäre nichts gewesen. Katzen!
Unschlüssig überlegte ich, ob ich das wirklich tun sollte. Ich wusste genau, was dieser Kater von mir wollte, aber einfach in den Wohnwagen gehen? Andererseits … Raphael war ja noch mit Tristan in Kassel und irgendjemand musste ja schließlich meinen Süßen füttern. Ich würde dem Wohnwagen nur einen kurzen Besuch abstatten und mich dann wieder verziehen. Niemand würde es jemals erfahren.
Okay, beschlossen, ich folgte Elvis.
Mein alter Wohnwagen hatte sich in all den Jahren kaum verändert. Im Kotflügel war immer noch die Beule, die ich schon seit Jahren hatte entfernen lassen wollen. Der Aufkleber „Home sweet Home“ klebte noch an der Stoßstange und der untere Teil war so verdreckt, als wäre er seit Jahren nicht gewaschen worden – was leider der Wahrheit entsprach. Irgendwie waren Raphael und ich nie dazu gekommen. Außerdem, wenn störte schon ein wenig Dreck, solange wir saubere Wäsche, einen vollen Kühlschrank und ein Bett hatten, in dem wir uns abends aneinander kuscheln konnten.
Als ich den Wohnwagen betrat, wurde ich einen Moment von der Vergangenheit überwältigt. Plötzlich sah ich mich in jeder Ecke mit Raphael. In der Küchenzeile, wie er den Kochlöffel schwang und ich ungeduldig um ihn herumtänzelte, weil ich hunger hatte. Der Schrank über der Essnische hatte eine kaputte Tür, die mir mehr als einmal fast auf den Kopf gefallen war. Am Tisch fehlte eine Ecke. Raphael hatte versucht ein Regal für mich zu zimmern und dabei nicht nur das Brett, sondern auch gleich noch den Tisch mit angesägt.
Als Aric in meinen Armen anfing zu zappeln, setzte ich ihn auf den Boden. Dabei streifte mein Blick ein kleines Regalbrett – ja, das war besagtes Regal, wegen dem der Tisch jetzt nur noch drei Ecken hatte. Darauf stand ein einziges Foto. Es zeigte mich in Raphaels Armen, vor einem Restaurant in New Orleans. Er hatte mich nach einem Auftrag dahin ausgeführt.
Ich erinnerte mich noch genau an diesen Tag. Der Vollmond war gerade vorbei gewesen. Wir hatten einen Tipp auf einen Haushalt erhalten, in dem vier Sklaven gehalten wurden. Am Abend hatte ich einfach nur noch ins Bett gewollt, aber Raphael wollte unbedingt ausgehen. Ein Essen, ein Spaziergang am Stand, die Musik. Dieser Abend war wunderschön gewesen.
Als es hinter mir schepperte, wäre ich vor Schreck beinahe an die Decke gesprungen. Elvis fauchte und als ich mich umdrehte, entdeckte ich einen kleinen Wolf, verheddert in einer Tischdecke. Daneben eine verbeulte Blechbox die mir nur allzu bekannt vorkam. Das war meine Blechbox, meine kleine Truhe, in der ich in den Jahren meine Schätze gesammelt hatte. Die Mappe mit dem Bild von Tristan, der Fotostreifen, das Bild von meinem Vater, der kleine Plastikring …
Ich sah auf den Ring, den ich heute trug. Eine Fessel, die mein Leben bestimmte. Er musste ein Vermögen gekostet haben. Und doch war der kleine Plastikring so viel wertvoller.
Erst als Aric ein klägliches Wimmern von sich gab, stellte ich meine Krücke zur Seite und kniete ich mich etwas schwerfällig zu ihm, um ihn aus seiner misslichen Lage zu befreien. Dafür bekam ich nicht mal Dankbarkeit, Aric watschelte einfach wieder los, um seine Nase in andere Dinge zu stecken, die ihm auf den Kopf fallen konnten. Ich jedoch blieb auf dem Boden und zog die alte Blechbox zu mir heran.
Es war eine riesige Weihnachtskeksdose die ich vor knapp drei Jahren in Aalen auf einem Weihnachtsmarkt erstanden hatte. Ich hatte immer vorgehabt sie bis obenhin mit Keksen für Raphael zu füllen, hatte es aber nie geschafft. Es gab immer so viel zu tun, immer beschäftigt, immer unterwegs und die paar Plätzchen die wir dann doch gebacken hatten, hatten wir auch immer am gleichen Tag vertilgt. Aber die Keksdose mit dem detaillierten Weihnachtsschlitten war zu schade gewesen, um sie in der Ecke verstauben zu lassen. Für meine Schätze war sie genau richtig.
Sie jetzt in der Hand zu halten, brachte so viel zurück, doch eine Sache tat sich ganz deutlich hervor, warum stand sie hier vorne auf dem Tisch?
Verdammt, ich hätte den Wohnwagen nie betreten sollen, das wühlte mich viel zu sehr auf. Warum hatte ich es dann getan?
„Miauuuuu!“
Ach ja, wegen der hungrigen Heulsuse auf der Küchenzeile. „Sag mal, seit wann darfst du denn da oben sitzen?“
„Mau.“
„War ja klar, dass ich diese Antwort bekomme.“ Ich stellte die Dose zurück auf den Tisch, schubste den Kater von der Anrichte und machte mich auf die Suche nach dem Katzenfutter. Das war schnell gefunden, es stand immer noch da wo es hingehörte. Elvis war schnell gefüttert und trieb zum Dank seinen Motor auf Hochtouren. Nicht mal von Aric ließ er sich stören, der neugierig seine Nase in Elvis' Napf steckte.
Auf einem Bein humpelnd setzte mich in die Essnische und zog die Dose zu mir heran. Doch bevor ich sie öffnete, starrte ich bestimmt zehn Minuten auf den Deckel. Es war einfach schwer, in meine Erinnerung abzutauchen.
Das Erste was mir in die Hand fiel, war eine alte, kleine, einarmige Stoffpuppe ohne Augen. Sie hatte einem kleinen Mädchen gehört, das heute nicht mehr lebte. Genaugenommen hatte ich das kleine Vampirmädchen nur wenige Minuten gekannt, bevor sie in meinem Armen gestorben war. Die Puppe war eine Mahnung an mich selber, nie wieder zu spät zu kommen.
Ich legte sie zur Seite und griff nach der Jakobsmuschel. Sie war von dem Abend meines zwanzigsten Geburtstags. Raphael und Tristan hatten mich in ein edles und völlig überteuertes Restaurant eingeladen und ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben Muscheln bestellt. Es war auch das letzte Mal gewesen, wofür der Kellner sicher dankbar war, denn ihm hatte ich das glibbrige Zeug nach dem ersten Bissen ins Gesicht gespuckt. Oberpeinlich.
Bei der Erinnerung musste ich schmunzeln. Ich legte die Muschel zur Seite und griff nach einem Haufen alter Fotos, die wir auf unseren Reisen geschossen hatten. Ein Bild von Tristan, der völlig verschlafen morgens mit der Zahnbürste im Mund vor dem Spiegel stand. Raphael an der Cote azure vor dem Panorama des nächtlichen Meeres. Ich in der Türkei mit einer alten Straßenkatze im Arm. Das Vieh war mir überall hin gefolgt. Ich hätte die Katze am liebsten behalten, aber Elvis hatte ganz entschieden etwas dagegen gehabt.
Ein paar dutzend Bilder ließen mich schmunzeln. Es waren schöne Erinnerungen, aus einer Zeit, in der mein Leben endlich einen Sinn bekommen hatte. Naja, nachdem es zuerst völlig den Bach runtergegangen war. Aber ich war trotz allem glücklich gewesen. Ich vermisste es.
Als Aric gähnte, hätte ich ihn eigentlich in sein Bettchen bringen müssen, aber ich wollte noch nicht gehen. Kurzentschlossen legte ich ihn in Raphaels Bett. Der Kleine rollte sich sofort zusammen und mein Weltbild geriet ein wenig ins Schwanken, als Elvis zu ihm sprang und sich schnurrend an ihn schmiegte. „Da versteh einer die Katzen.“
Es war echt süß wie die beiden da langen und nach kurzer Überlegung holte ich den alten Fotoapparat aus seiner Schublade – Raphael hatte nichts verändert, es war wirklich noch alles da wo es hingehörte – und verewigte dieses Bild für die Nachwelt. Ein Küsschen für jedes Köpfchen, dann saß ich wieder vor der Dose. Es war wie ein Zwang, dem ich mich nicht entziehen konnte. Nach dem Streit mit Sydney war diese Flucht in die Vergangenheit genau das was ich brauchte.
Ich fand meinen ersten Ohrring von Romy. Damals war der Mechanismus noch nicht richtig ausgereift gewesen. Bei seinem ersten Einsatz hatte sich der Knopf verhakt und war unbrauchbar geworden. Eigentlich war er seitdem nichts weiter als ein Stück fürs Altmetall, ich wusste selbst nicht, warum ich ihn aufgehoben hatte.
Ganz unten in der Blechbox lag die Ledermappe die mir Tristan vor so vielen Jahren bei einem Mittagessen mit den Jungs überreicht hatte. Die alte Zeichnung hatte ich so oft in den Händen gehabt, dass sie an manchen Stellen schon ganz abgegriffen und verwischt war, aber wenn ich sie mir ansah, konnte ich mich an jedes Detail dieser Tage erinnern. Ich mit Hexenhut, das brachte mich zum Lachen. Damals war das Leben noch schön und geordnet gewesen.
Ich legte die Mappe beiseite, nahm Münzen aus Pakistan in die Hand, zwei alte Eintrittskarten von einer Mario Barth Show, eine Hasenpfote von Hanna und die sie mir aufgezwungen hatte. Angeblich sollte ich damit niemals Pech in der Liebe haben. Schade dass sie nicht funktionierte.
In dieser Dose fand ich so viele Dinge aus meiner Vergangenheit, aber was ich nicht fand, war mein kleiner Plastikring.
Zweimal ging ich alles durch und dann noch ein drittes Mal, in der Hoffnung, ihn einfach übersehen zu haben, aber er war nicht da. Wie konnte das sein? Er musste hier drin sein, ich hatte ihn nie rausgenommen, weil ich immer Angst hatte, ich könnte ihn verlieren.
Vielleicht hatte Raphael ihn ja herausgenommen und … ja was? Ihn weggepackt? In den Mülleimer geschmissen? Das würde er mir nicht antun, er wusste genau, wie viel mir dieser Ring bedeutete. Wahrscheinlich hatte er ihn einfach in einer der Schubladen gelegt. Genau, das musste es sein. Er war sicher noch im Wohnwagen, ich musste ihn nur finden.
Warum mir das Plötzlich so wichtig war, wusste ich nicht, aber ich stellte beinahe den ganzen Camper auf den Kopf, um ihn zu finden. Sogar im Bad und unter den Möbeln suchte ich, aber er blieb verschwunden.
Ich hockte auf dem Boden und versuchte mit sehr viel Körpereinsatz die festgeschraubte Bank aus dem Boden zu reißen, als die Tür zum Wohnwagen aufging und kein anderer als Raphael persönlich hereinkam.
Als er mich sah, blieb er stehen, zog eine Augenbraue hoch und verschränkte die Arme vor der Brust. In seinem Gesicht war nicht zu lesen, was er dachte. „Würdest du mir erklären, warum du den Wohnwagen auseinander nimmst?“
Verdammt, warum war der nicht mehr in Kassel? „Mein Ring ist weg.“ Ich zeigte auf die Blechdose. „Ich kann ihn nicht finden.“
„Dein Ring?“
„Ja, der pinke Plastikring mit einem blauen Stern. Du weißt schon, der mit dem du mir einen Antrag in der Eisdiele gemacht hast und mich damit fast umgebracht hast.“ Meine Hände rutschten ab, die Bank knallte auf den Boden und ich klemmte mir dabei auch noch den Finger. Verdammt.
„Du sagst so schöne Dinge.“
Ich ignorierte ihn und rappelte mich vom Boden auf. „Wo ist mein Ring? Ich weiß genau, dass ich ihn in meine Schatzkiste gelegt habe, das habe ich immer, also musst du ihn rausgenommen haben.“
Sein Blick schweifte auf den Tisch mit der Blechbox und meinen verteilten Schätzen. Er seufzte, schloss dann die Tür von innen und lehnte sich dann dagegen. „Warum suchst du ihn?“
„Es ist meiner.“ Mehr brauchte er nicht zu wissen.
„Du hast ihn zurückgelassen. Mit allem anderen.“ Seine Augen trübten sich. „Mit mir.“
Verdammt, das hatte mir gerade noch gefehlt. Ich kniff die Lippen zusammen.
„Du wirst es mir nicht erzählen, oder?“
Das konnte ich nicht. „Es gibt nichts zu erzählen.“
„Lügnerin.“
Sag mal, ging es noch? Er war heute bereits der zweite, der mich so bezeichnete. „Ich glaube, es ist Zeit für mich zu verschwinden.“ Lügnerin, darüber kam ich nicht hinweg. Nicht weil er mich damit beleidigt hatte, sondern weil es die Wahrheit war. Ich war eine Lügnerin. Mein ganzes Leben bestand aus einer einzigen Lüge. Angefangen damit das ich ein Misto war, bis hin zu Aric. Schon seit meiner Geburt war alles und jeder um mich herum eine Lüge. Ich hasste das so sehr.
Ich wollte meinen Sohn aus dem Bett holen, aber bevor ich auch nur einen Schritt getan hatte, war Raphael da. Er berührte mich nicht, stand einfach nur vor mir. „Bitte bleib. Ich wollte sowieso mit dir reden.“
„Warum?“, fragte ich bitter. Ich wollte ihn nicht sehen, nicht nach unserer letzten Begegnung. Wegen ihm hatte ich Sydney wehgetan. Mit dieser Schlampe hatte er mir wehgetan. Die ganze verfluchte Welt war einfach nur zum kotzen. „Bianca würde sich als Gesprächspartner sicher besser anbieten.“ Obwohl ich nicht glaubte, dass sie viel miteinander Kommunizierten, jedenfalls nicht auf akustischer Ebene, nicht wenn er noch genauso wie früher war.
„Es war nicht das, wonach es aussah.“
„Ach nein? Dann hat sie dir also nicht die Zunge bis zum Anschlag in den Hals geschoben? Ist sie vielleicht gestolpert und auf deinem Mund gelandet, sodass dir gar nichts anderes übrig blieb, als die Gunst der Stunde zu nutzen?“, fragte ich schnippisch. „Und dass du sie im Arm gehalten hast, ist dann wohl eine Ausgeburt meiner geisteskranken Phantasie, den hey, ich bin ja nicht ganz richtig im Kopf, das wissen in der Zwischenzeit ja alle. Wen also würde es wundern, wenn zu den Ausrastern jetzt auch noch Halluzination hinzu kämen?“ Ich schnippte mit den Fingern, als wäre das die Lösung. „Das solltest du echt ausnutzen, mach mir glaubhaft, dass ich halluziniere und das Ganze nie passiert ist.“
Natürlich tat er nichts dergleichen. „Ich habe nie behauptet, dass du verrückt bist.“
„Da bist du aber wahrscheinlich der einzige.“ Selbst Sydney hatte in der Zwischenzeit erkannt, dass mir nicht mehr zu helfen war. „Und jetzt lass mich bitte Aric nehmen und einfach verschwinden.“ Damit ich mich an einen Ort zurückziehen konnte, wo ich mich in meinem Leid suhlen konnte, ohne neugierige Zuschauer ertragen zu müssen.
Raphael riskierte einen Blick über die Schulter zu meinem schlafenden Sohn. „Du solltest ihn nicht wecken, Kinder brauchen ihren Schlaf.“
„Und was soll ich stattdessen tun? Ihn hier bei dir lassen?“
Um den Mund machte sich ein ärgerlicher Zug breit. „Glaubst du, dass ich ihm etwas tun würde?“
Würde er? Eigentlich hätte meine Antwort darauf sofort „Nein“ sein müssen, schließlich versuchte er seit Jahren die Welt ein kleinen wenig besser zu machen, aber Aric war das Kind von einem anderen, von einem Wolf und … ach scheiße.
Erschöpft ließ ich mich auf die Sitzbank fallen. „Ich weiß nicht mehr was ich denken soll.“ Und so traurig es war, es entsprach der Wahrheit. „Irgendwie entgleitet mir zurzeit alles und dabei wollte ich es doch besser machen. Ich hatte gedacht, mit dem Einzug der Themis käme ich endlich vorwärts, aber alles wird nur … schlimmer.“
Raphael brauchte seine Zeit, bis er darauf reagierte, dann seufzte er und strich in gewohnter Manier über seinen Kopf. „Möchtest du mir davon erzählen?“
Oh ja, das wollte ich, wie sehr ich das wollte konnte keiner ahnen. Jetzt, nachdem Sydney nicht mehr da war um mir zuzuhören, brauchte ich jemand anderes, dem ich mich anvertrauen konnte, einfach nur um an meinen Problemen nicht zu ersticken. Trotzdem schüttelte ich den Kopf. „Nein, es … ich krieg das schon hin.“
Raphael wartete einen Moment in der Hoffnung, dass ich es mir vielleicht noch anders überlegte, dann seufzte er und ging zum Kühlschrank. „Was ich da in Biancas Haus gesagt habe war ernst gemeint, du kannst mit mir über alles reden.“
„Es gibt nichts zu erzählen.“
Meiner Lügen leid, ignorierte er sie einfach, nahm eine Wodkaflasche heraus und stellte sie zusammen mit zwei cl-Gläsern zwischen uns auf den Tisch.
Ich sah erst die Flasche an, dann ihn an „Du weißt schon noch, dass ich nichts trinke?“ Das bekam mir einfach nicht. Ich schoss dabei immer übers Ziel hinaus und verzapfte dann Müll, mit dem ich mich hinterher herumplagen musste.
„Lass uns heute mal eine Ausnahme machen, wir können das beide gebrauchen.“ Er schraubte die Flasche auf, machte beide Gläser voll und schob mir eines davon zu. „Oder verträgt sich das nicht mit deinen Medikamenten?“
Na das Thema musste er ja jetzt unbedingt anschneiden.
Ich schnappte mir das Glas und leerte den Inhalt in einem Zug. Dann schob ich es ihm zu, damit er es mir erneut füllte. „Du wolltest mit mir reden? Dann tu es.“
Er sah mich zweifelnd an. „Nicht, wenn du jetzt schon wieder so aggressiv wirst.“
„Ich werde nicht aggressiv“, knurrte ich und leere das neu aufgefüllte Glas ein weiteres Mal.
„Nein, ich sehe schon, du bist die Ruhe und Ausgeglichenheit in einer Person.“
„Und du bist ein Blödmann.“
Er grinste. „Ja, aber das wusstest du von Anfang an. Ich habe daraus nie eine Geheimnis gemacht.“
Meine Mundwinkel zuckten nach oben. „Ich wiederhole: Blödmann.“
Er füllte mein Glas ein weiteres Mal auf. „Bist du jetzt ruhig genug um dich ernsteren Themen zu widmen, ohne dass du das Bedürfnis verspürst, mir gleich an die Gurgel zu gehen, oder sollen wir lieber noch ein wenig rumschäkern? Ich bin für beides zu haben.“
Und noch einmal, Blödmann. „Das kann ich nicht versprechen, kommt darauf an, was du mit mir zu besprechen hast.“ Ich stieß mit ihm an und ein weiteres Mal brannte sich der Wodka einen Weg durch meine Kehle. „Aber ich werde erst mal zuhören, bevor ich ausraste, ist das ein Angebot?“
„Wohl das Beste, das ich heute Abend bekommen kann.“ Er lehnte sich auf der Bank zurück und holte tief Luft, als müsse er sich auf seine nächsten Worte innerlich vorbereiten. „Drei Fragen. Wenn du sie nicht beantwortest, okay. Es würde mich natürlich freuen, aber ich werde dich nicht drängen. Bist du einverstanden?“
Sonst würde ich ja wohl nicht mehr hier sitzen. „Schieß los.“
„Okay, also erstens, wer ist Fletcher?“
War ja irgendwie klar gewesen, dass er sich mit solchem Scheiß beschäftigte. „Ein toter Mann.“
Raphael stieß ungeduldig die Luft aus. „Das ist jeder, der von deinem Stachel berührt wurde, aber das war nicht das, was ich wissen wollte, und das weißt du.“
Oh man, warum konnte er es nicht einfach gut sein lassen? Aber bitte, wenn er wollte, dann würde er es eben zu hören bekommen. „Er hat für einen Skhän gearbeitet, für den Mann, der Vivien so viele Jahre gefangen gehalten hat.“
Das machte ihn nicht nur Mundtot, ich glaubte einen Moment, dass er völlig vergaß, wie Atmen funktionierte. Ob nun, weil ich ihm wirklich geantwortet hatte, oder weil er erst in dem Moment erfasst hatte, was genau ich da gesagt hatte.
Aber sein Schweigen gab mir die Gelegenheit noch etwas hinzuzufügen. „Damals hatte ich nicht die Chance ihm an die Kehle zu gehen. Die … Umstände haben es nicht zugelassen. Nun, habe ich das nachgeholt.“ Da Raphael keine Anstalten machte mein Glas neu aufzufüllen, übernahm ich das eben selber und kippte es mir gleich hinter die Binde. Wenn ich sehr viel Glück hatte, würde der Alkohol die aufsteigenden Erinnerungen einfach wegschwämmen. „Zweite Frage?“
Er brauchte einen Moment – und einen weiteren Drink – um sein Hirn wieder zum Laufen zu bringen. Tja, das war wohl eine Information, mit der er nicht gerechnet hätte. „Ähm ja … Diego. Er hat von einer Abmachung gesprochen, was hat er damit gemeint?“
Dazu sagte ich lange Zeit nichts. Wie konnte ich auch? Niemand hätte jemals etwas davon erfahren sollen, das hatte ich geschworen. „Frag nichts, von dem du weißt, dass ich es dir nicht beantworten werde“, sagte ich schließlich. „Diego hat davon nur erfahren, weil er gelauscht hat. Es geht ihn nichts an und dich auch nichts an, es ist meine Sache.“ Damit war dieses Thema für mich beendet und ein weiterer Rachenputzer fand seinen Weg in meinen Magen.
Hui, ich sollte wohl etwas langsamer machen. Viel vertrug ich nicht und ich hatte jetzt schon … wie viele Gläser getrunken? Drei? Vier? Egal, ich spürte den Alkohol auf jeden Fall schon. „Und deine dritte Frage?“
Er spannte den Kiefer an. Passte ihm wohl nicht, dass ich ihn im Dunklen tappen ließ. Tja Pech gehabt, es ging nicht anders. „Ich würde gerne von dir wissen …“ Er unterbrach sich.
Ich wartete einen Moment. „Ja?“
Diese kristallenen blauen Augen fixierten mich mit einer Intensität, die mir den Atem verschlug und plötzlich wollte ich gar nicht mehr wissen, was ihn so brennend interessierte,. Aber er öffnete schon den Mund. „Liebst du mich noch?“
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War das sein Ernst? Gestern noch hatte er knutschend mit Bianca in der Küche gestanden und mir damit sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass mich dieser Teil seines Lebens nichts mehr anging und jetzt saß er hier und fragte mich allen Ernstes, ob ich noch romantische Gefühle für ihn hegte?
Die Antwort war ein klares Ja. Ja, natürlich liebte ich ihn noch, dass war es doch gerade das, was mich in eine solche Bredouille mit Sydney gebracht hatte. Aber wie konnte er, nachdem was er getan hatte, hier sitzen und auf meine Antwort warten? „Warum fragst du mich das?“
„Weil mich diese Frage beschäftigt, darum.“ Er fuhr sich nervös über die Haare? „Ich frage mich das, weil du in dem einen Moment kühl bist und in dem nächsten genau wie früher. In Berlin bist du praktisch über mich hergefallen, aber dann bist du wieder so distanziert. Du hast geweint, als du … du … scheiße.“ Er nahm einen kräftigen Schluck – direkt aus der Flasche.
Es schien ihm wirklich wichtig zu sein, aber das ergab doch keinen Sinn. „Du hast jetzt Bianca, dich sollte nicht interessieren, was ich empfinde.“ Ich verstummte kurz. „Oder auch nicht empfinde.“
„Verdammt noch mal, das mit Bianca hast du in den völlig falschen Hals bekommen. Ja, sie steht auf mich, aber sie hat mich geküsst. Das ging alles von ihr aus.“
„So hat das aber nicht ausgesehen.“ Die bittere Wahrheit fraß sich in meine Seele. „Du hast mich direkt angesehen. Du wolltest, dass ich es sehe. Und jetzt versuch nicht dich rauszureden, so verrückt, dass ich mir sowas in der Zwischenzeit selber ausdenke, bin ich noch nicht.“
„Ich war verletzt“, sagte er leise. „Was du da im Bad gesagt hast, hat echt wehgetan.“
„Dann hast du es also aus Rache getan?“ Ich schnaubte. „Du konntest gar nicht wissen, dass ich im Flur stehen würde. Das war nur Zufall gewesen.“
Das brachte ihn erst mal zum Schweigen. Er spielte mit dem Glas in seiner Hand, schob es zwischen seinen Händen hin und her, füllte es dann, um es gleich wieder in einem Zug zu leeren. „Es war das erste Mal, dass ich eine andere geküsst habe, seit du mich verlassen hast“, gestand er mir dann. „Ich … ich … ach verflucht noch mal, du bist unerreichbar für mich, ich musste es einfach versuchen. Ich hab gehofft dich damit endlich aus dem Kopf zu bekommen, aber es hat sich völlig falsch angefühlt. Und als du dann … als ich dann deine Tränen gesehen habe … dann … es war als …“ Er verstummte, schnappte sich die Flasche und brannte seine Kehle mit weiterem Wodka aus.
Sollte das wirklich das heißen, was ich vermutete? Verdammt nein, das durfte es nicht. Ich war gerade dabei mich mit der bitteren Aussicht anzufreunden, dass er eine andere hatte, er konnte doch nicht einfach daherkommen und alles wieder kaputt machen.
„Ach, weißt du was vergiss es einfach. Tu einfach so, als hätte ich nichts gesagt.“
Wie konnte ich das, wo das doch genau die Worte waren, die ich hören wollte und die ich gleichzeitig so sehr fürchtete? Er durfte mich nicht lieben. Ich hatte doch Sydney und … Nikolaj. „Ich habe ein Kind von einem anderen.“
Er schnaubte. „Ist mir aufgefallen. Es liegt in meinem Bett.“
„Ich bin Nikolajs Gefährtin.“
„Na über den mache ich mir weniger Gedanken, als über den Schreiberling oder Diego.“
„Diego?“ Hatte ich das wirklich gerade richtig verstanden?
Raphael stieß gefrustet die Luft aus. „Verkauf mich nicht für dumm. Diego wäre mir gestern fast an die Kehle gesprungen und auch sonst scheint ihr beiden wieder ziemlich dicke miteinander zu sein.“
Das war nicht sein Ernst, oder? Er war eifersüchtig auf Diego? Auf meinen Diego?
Es begann in der Brust, ein kleines Glucksen, das sich schnell zu einem herzhaften Lachanfall entfaltete. Allein dieser Gedanke war so abwegig, dass ich gar nicht anders konnte. „Gott, ich und Diego? Das ist so … absurd.“ Das musste ich ihm unbedingt erzählen. Er wurde ich auf dem Boden kugeln. Wie kam Raphael nur auf diesen Gedanken?
Japsend wischte ich mir die Lachtränen aus den Augenwinkeln. Diego war … nun ja, Diego eben. Selbst in unseren besten Zeiten wäre das, auf das Raphael anspielte, undenkbar gewesen. Wir sprachen hier immerhin von Diego.
„Ich bin entzückt, dass dich dieses Thema so amüsiert, aber ich hatte das ernst gemeint.“ Er schnipste den Flaschendeckel in meine Richtung. „Nur so als kleiner Hinweis.“
„Dein Ernst?“ Nur mit Mühe und Not schaffte ich es den nächsten Lacher hinunterzuschlucken. Es war aber auch lächerlich. „Hallo? Wir reden hier von Diego. Klar, er hatte schon immer einen extremen Beschützerinstinkt, aber alles andere? Niemals. Ich bin für ihn wahrscheinlich noch immer das kleine Blondchen, das ihm total besoffen in den Wagen gepinkelt hat.“ Als ich von Raphael diesen seltsamen Blick bekam, verstummte ich einen Moment. „Was ist?“
„Du weißt es wirklich nicht, oder?“
„Was soll ich nicht wissen?“ Er konnte mir doch jetzt nicht mehr solche Fragen stellen, ich hatte schon … wie viele Drinks? Egal, Zeit einen weiteren zu nehmen. Das Glas war gefühlt, also runter damit.
„Das Diego damals ziemlich heftig in dich verknallt war.“
Ja, aber sicher doch. Ich knallte mein Glas zurück auf den Tisch. „Das hast du dir gerade ausgedacht.“
„Nein, es ist wahr. Frag Tristan, wenn du mir nicht glaubst, oder noch besser, frag Diego selbst. Ich weiß ja nicht wie es heute ist, aber als ich dich kennen gelernt habe, hat der Junge den Boden unter deinen Füßen angebetet.“
Das war doch absurd. „Bist du dir sicher, dass wie hier von dem selben Kerl sprechen? Groß, breite Schultern, sieht auf jeden finster nieder, der sich auch nur auf zwei Meter an mich herantraut?“
„Du hast keine Ahnung, wie begehrt du bei den Typen bist, oder? Oder wie oft ich anderen Kerlen klar machen musste, dass sie ihre Finger bei sich lassen sollten, wenn sie sie behalten wollten.“
„Jetzt übertreibst du aber entschieden.“ Das wurde gerade irgendwie unangenehm, ja fast unheimlich. Raphael redete sich da etwas ein. Ich füllte unsere Gläser erneut und schaffte es dabei so zu zielen, dass fast nichts danebenging.
„Nein, das ist mein vollster Ernst, das kannst du mir glauben. Du hast an jedem Finger mindestens einen Kerl und es gab Zeiten, da hat mich das echt in den Wahnsinn getrieben.“
Ach ja? „An jedem Finger nur einen?“
„Du glaubst mir nicht?“
Ein Blick genügte als Antwort.
„Okay, pass auf, ich zeig es dir.“ Er leerte sein Glas noch in einem schnell Zug und rutschte dann neben mir auf die Bank.
Hatte jemand den Thermostat hochgedreht, oder warum wurde es plötzlich so heiß?
„Also, fangen wir an.“ Er nahm meine rechte Hand in seine und drückte meinen Daumen hoch. Dabei schickte er mir einen Stromstoß unter die Haut, den ich versuchte zu ignorieren, erfolglos. Hey, was war nur plötzlich los? Gehirn an Hormone, das war jetzt aber echt der falsche Zeitpunkt für solche Spielchen. „Nummer eins, Tristan.“
„Tristan? Jetzt nimmst du mich aber wirklich auf den Arm. Der hat doch nur Augen für Lucy.“
„Nein, er liebt dich, zwar nur wie eine Schwester die er niemals haben wollte, weil er schon zwei hat, aber er liebt dich.“
„Hm, irgendwie kam das jetzt nicht sonderlich schmeichelhaft rüber.“
Raphael grinste nur und bog meinen Zeigefinger hoch. „Als zweites haben wir da Roger.“
„Roger schimpft immer nur mit mir“, wehrte ich sofort ab.
„Roger liebt dich schon allein dafür, dass du ihm Vivien zurückgegeben hast. Du glaubst gar nicht was er sich für Sorgen gemacht hat, damals als du einfach …“ Er verstummte und verschwand einen Moment in düsteren Erinnerungen. „Egal. Auf Position drei haben wir Murphy.“ Mein Mittelfinger gesellte sich zu den anderen. „Und bevor du jetzt anfängst lautstark zu protestieren, ich weiß das er dich toll findet. Er hat es mir mehr als einmal gesagt.“ Das schien ihm nicht sonderlich zu gefallen. „Sehr direkt sogar.“
„Ich bin ja auch toll.“
Dafür bekam ich ein Lächeln. „Der Ringfinger präsentiert Diego, zu dem ich nichts weiter erläutern muss, da wir das Thema gerade erst hatten.“
„Was aber noch lange nicht heißt, dass ich dir auch glaube. Dieser Gedanke ist einfach lächerlich.“
„Lächerlich oder nicht, es ist so.“
Oh Mann. „Okay, und für wen steht der kleine Finger?“ So langsam gefiel mir das Spiel. Wer würde es nicht mögen von allen Seiten heiß begehrt zu werden? Oberflächlich betrachtet war das nämlich ein ganz netter Gedanke.
„Na für deinen Cousin.“
„Samuel kommt erst an fünfter Stelle?“
Raphael zuckte nichtssagend mit den Schultern. „Er ist immerhin noch an der ersten Hand.“
„Und die anderen fünf Finger bekommst du auch noch voll?“ Mir würden Maximal noch drei Namen einfallen, was aber auch auf meinen leicht benebelten Zustand zurückzuführen sein könnte.
„Aber locker.“ Er nahm meine andere Hand und drehte mich dabei so, dass ich ihm gegenüber saß. Der kleine Finger wurde als erstes hochgedrückt. „Dieser Fratz ist Aric.“
Fratz, wie süß. „Weil jeder kleine Junge seine Mami liebt.“
„Du hast es erfasst.“
Wir grinsten uns an.
„Und für wen steht der Ringfinger?“, wollte ich wissen.
„Sydney.“ Dieser Name kam ihm nicht so einfach über die Lippen und ich musste nun wirklich kein Genie sein, um den Grund zu kennen.
„Da wäre ich mir an deiner stelle nicht mehr so sicher“, rutschte es mir raus, aber auf seinen fragenden Blick hin, schüttelte ich nur den Kopf. Ich hatte jetzt keine Lust über diesen Wolf zu sprechen und schon gar nicht mit Raphael. „Wer ist der nächste auf der Liste?“
Etwas Schelmisches blitzte in seinen Augen auf. „Yannick Scherer.“
„Yannick?“ Ich stieß einen Lacher aus. „Mann, an den habe ich schon seit Jahren nicht mehr gedacht.“
„Wahrscheinlich kann er das von sich nicht behaupten. Du hinterlässt bei jedem einen bleibenden Eindruck und es würde mich echt nicht wundern, wenn du noch heute hin und wieder durch seine Träume geisterst.“
„Du bist ein Spinner.“
„Mag sein, aber das hat mich noch nie gestört. Und dich auch nicht, wenn ich dich daran erinnern darf.“
„Wer hat das behauptet? Nur weil ich nie etwas gesagt habe, heißt das noch lange nicht, dass es mich nicht gestört hat.“
„Wer spinnt hier jetzt rum?“
„Das liegt am Alkohol.“
„Von wegen.“
„Okay, Schluss damit, zurück zu mir. Wer ist der äh … achte? Wer ist der achte auf meiner Liste?“
„Neunte.“
Besserwisser. „Dann eben neunte, wer ist es?“
„Der Vater deines Sohns.“
„Du meinst Nikolaj.“ Natürlich meinte er Nikolaj. Alle Welt glaubte, dass Nikolaj Arics Vater war, ihn selber eingeschlossen.
Was Raphael wohl sagen würde, wenn er die Wahrheit wüsste? Ich war mir nicht sicher, ob ich das wirklich herausfinden wollte.
„Und für wen steht der Daumen?“, fragte ich ein wenig zögernd.
Er brauchte einen Moment, bis sein Mund sich öffnete. „Kannst du dir das nicht denken?“ Seine Finger strichen über meine Handinnenfläche und mich überlief ein wohliger Schauder.
„Ich möchte es hören.“ Denn nur so konnte ich mir wirklich sicher sein.
Er zögerte, doch dann sagt er: „Der Daumen steht für den Namen Raphael.“
Mein Herz machte einen freudigen Satz. Mein Hirn dagegen schrie mir zu, dass es an der Zeit war schnellstens das Weite zu suchen. Doch stattdessen erwiderte ich einfach nur diesen intensiven Blick und erinnerte mich an all die Momente der Zweisamkeit mit ihm.
Er war der erste Mann gewesen, dem ich erlaubt hatte mich auf eine Art zu berühren, wie es noch keiner vor ihm getan hatte. Raphael war es gewesen, der mir beigebracht hatte, dass das Wort Liebe mehr bedeutete, als ein Blumenstaus zum Valentinstag.
Als er mich losließ, um seine Hand an meine Wange zu legen, begann mein Herz ein kleinen wenig schneller zu schlagen. Er war mir so nahe. Und dieser Ausdruck in seinen Augen … es war nicht das erste Mal, dass ich ihn sah.
Ich wusste, dass es besser gewesen wäre, mich vor ihm zurückzuziehen, doch als er sich langsam vorbeugte, war ich einfach nicht fähig ihn zurückzuweisen.
Seine Lippen waren nur noch ein Hauch von meinen entfernt, als ich endlich meine Stimme wiederfand. „Tu das nicht.“
„Warum?“
Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut. „Weil ich dich nicht aufhalten werde.“ Und ich mich vor dem fürchtete, was danach passieren könnte.
„Umso besser.“ Er überbrückte das kleine Stück, dass uns noch trennte und auf einmal war ich genau da, wo ich sein wollte.
Die Berührung seiner Lippen war mir so vertraut, dass ich den Kuss ohne das kleinste Zögern erwiderte. Erst nur sanft, doch es wurde schnell mehr daraus. Ich packte ihn an seinem Hemd und zog ihn noch näher an mich heran. Ich war einfach nur berauscht von diesem Gefühl und seiner Nähe.
„Bambi“, murmelte er an meinen Lippen, packte mich an der Hüfte und zog mich rittlings auf seinen Schoß. Das war durch mein Kleid nicht ganz einfach. Ich musste den Rock erst hochziehen, um mir nicht selber im Weg zu sein. Dann kam ich mit der Wunde auch noch an den Tisch. Zum Glück waren die Schmerzmittel von Doktor Ambrosius so gut, dass ich nur einen kurzen Stich spürte. Konnte aber auch an Raphaels Hand liegen, die vorsichtig an dem großen Pflaster entlang strich.
„Es tut nicht weh“, versicherte ich ihm und senke meine Lippen auf seine. Das würde ihn hoffentlich ablenken.
Die Gänsehaut die ich daraufhin bekam, hatte nichts mit der kühlen Luft an meinen nackten Beinen zu tun. Es waren seine Hände, die sich an ihnen hinauf schoben und sich auf meinen Hintern legten, um mich noch näher an sich zu drücken.
Gott, wie ich das vermisst hatte. Es war so lange her.
Langsam griff ich nach seinem Zopf und löste das Gummi daraus, damit ich meine Hände in seinen Haaren vergraben konnte. Als ich dabei seinen Nacken streifte, schauderte er. Lächelnd bewegte ich mich gegen ihn und spürte, das nicht nur meine Lust anstieg.
Ich schob meine Hände unter den Kragen seines Hemdes. Seine Haut zu berühren, war wie eine Reise in längst vergangene Zeiten. Ich kannte das kleine Tal an seinen Schlüsselbeinen genauso wie die kleine Narbe daneben.
Als seine Lippen damit begannen sich einen Weg über meine Kinnlinie zu meiner Halsbeuge zu küssen, lehnte ich den Kopf zurück, damit er besser heran kam. Oh Gott, dieses Gefühl. Mein ganzer Körper schien zu erblühen. Er erinnerte sich an all diese Berührungen und kam ihm sogar noch entgegen.
Aber das reichte mir nicht. Sein Hemd war im Weg, seine Jeans, alles war im Weg. „Die Klamotten müssen runter.“
Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Nichts dagegen.“ Seinen Worten folgten taten. Er griff nach dem Reißverschluss an meinen Rücken und zog ihn ganz bis nach unten. Der Stoff klaffte einfach zu den Seiten auf und so war es mir ein leichtes, den oberen Teil des Kleides einfach abzustreifen.
Als ich dann auch noch nach hinten griff und meinen BH löste, verdunkelte sich die Farbe seiner Augen. Einen kurzen Moment schien ihm sogar der Atem zu stocken, bevor seine Hand hob und sie über mich wandern ließ, ohne mich zu berühren. Nur die Wärme seines Körper streichelte mich.
Ich warf das störende Kleidungsstück einfach weg und seufzte zufrieden, als er sich vorbeugte und damit begann meine Brust zu küssen. „Du auch“, murmelte ich und zog an seinem Hemd, ich wollte ihn Haut an Haut haben.
Als er nicht reagierte, drückte ich ihn von mir weg und griff nach seinem Saum. Ich schob das Hemd hoch, um endlich sein Haut berühren zu können und gerade als ich ihm sagen wollte, dass er die Arme hochnehmen sollte, bemerkte ich etwas, dass vor seiner Brust baumelte. „Mein Ring.“
Er hielt inne und tastete mit der rechten Hand nach der silbernen Kette mit dem Plastikschmuckstück. „Du hast ihn immer so gerne gehabt.“
„Verdammt, ich hätte vorhin fast den ganzen Wohnwagen in Brand gesteckt, weil ich ihn nicht finden konnte. Warum hast du mir nicht gesagt, dass du ihn trägst?“
„Ich wollte nicht, dass du ihn mir wegnimmst.“ Ein zarter Kuss auf mein Schlüsselbein. „So habe ich immer ein Stück von dir bei mir.“ Ein weiterer auf meinen Hals. Als er mir dann vorsichtig in die zarte Haut biss und mit seinen Fangzähnen über meine Schlagader kratzte, wäre ich fast zu einem Wachspfützchen zusammengeschmolzen.
„Zieh das endlich aus“, befahl ich und rupfte wieder an seinem Hemd.
Dieses Mal kam er meiner Aufforderung nach und während es noch zu Boden segelte, konnte ich meine Hände endlich ungehindert über seine Haut wandern lassen.
Eine Weile gab ich mich damit zufrieden, einfach nur hier mit ihm zu sitzen und mich mit Küssen und Berührungen verwöhnen zu lassen. Doch irgendwann war das nicht mehr genug. „Bett“, brachte ich atemlos hervor und vereinigte meine Lippen erneut mit seine.
„Ist besetzt“, murmelte er und drückte mich ein wenig fester an sich.
Mist, da lag ja Aric. Dann eben anders. „Bad. Lass uns duschen gehen.“ Oh Gott, was machte er da bloß mit seinen Händen? Dafür sollte er einen Waffenschein beantragen.
„Gute Idee.“ Er raubte mir einen weiteren atemberaubenden Kuss.
Ich versuchte rückwärts von ihm runter zu rutschen, ohne mich dabei von ihm zu lösen. Meine Hüfte stieß gegen den Tisch, mein Knie gegen die Bank und gleichzeitig musste ich auch noch mein Gewicht auf dem rechten Bein balancieren. Wenigstens rutschte das Kleid einfach an mir herunter herunter, sobald ich aufrecht stand.
Wer hier anschließend wen in das kleine Duschbad zerrte und schob, konnte ich nicht genau bestimmen. Es war auch egal, Hauptsache, wir kamen dort gemeinsam an.
Die Farbe in seine Augen war noch intensiver geworden. Ich konnte mein Spiegelbild in ihnen sehen, als er mich mit dem Rücken gegen die Dusche drängte. Mir wurde schmerzlich bewusst, wie sehr ich das alles vermisst hatte, wie sehr er mir gefehlt hatte und wie sehr ich das hier brauchte.
„Zieh dich aus“, murmelte ich an seinen Lippen und griff nach dem Knopf an seiner Hose. Er half mir dabei auch noch das letzte, störende Kleidungsstück loszuwerden und als wir es dann irgendwie in die Duschkabine schafften, vergaßen wir völlig, das Wasser aufzudrehen.
Raphael presste mich mit seinem gesamten Körper gegen die Wand und ergriff erneut von meinem Mund Besitz. Seine Hände waren überall.
Langsam küsste er sich an meinem Körper hinab. Die Duschkabine war nichts sonderlich groß und doch schaffte er es sich hinzuknien und …
Oh Gott.
Mein Kopf sank in den Nacken und meine Augen schlossen sich flatternd, während die Empfindungen durch meinen Körper rasten und mit jedem Moment intensiver wurden. Mein Herz trommelte wie wild in meiner Brust und mein Atem wurde immer schneller.
Ich wand mich in seinen Berührungen, aber er hielt mich fest. Ich hatte keine Chance ihm zu entkommen. Meine Hände krallten sich in sein Haar. Er hob mein Bein auf seine Schulter, um noch besser heranzukommen und dann …
Die Welle schlug so plötzlich über mir zusammen, dass ich fast in die Knie gegangen wäre. Ich ließ mich von ihr mitreißen und davon tragen und war für einen Moment nichts weiter als ein einziges, mächtiges Gefühl.
Seine Berührungen und die zarten Küsse, die er auf meinen Hüftknochen hauchte, halfen mir dabei ins Hier und Jetzt zurück zu finden. Er ließ mich nicht aus den Augen, als meine Atmung und mein Herzschlag sich wieder ein wenig beruhigten. Er brauchte das hier genauso dringend wie ich. Das und noch viel mehr.
Ich stellte mein Bein zurück auf den Boden und zog ihn zu mir nach oben, bis unsere Lippen ein weiteres Mal miteinander verschmolzen.
Seine Hände packten mich an den Schenkeln. Ich klammerte mich an seine Schultern, als er mich hochhob und dann wurden wir von der Vergangenheit verschlungen.
Es war genau das, wonach ich mich solange gesehnt hatte. Nie hätte ich geglaubt, dass ich Raphael noch einmal so nahe sein würde. Mein Körper erinnerte sich an jede Berührung und an jede Bewegung. Solange er mir so nahe war, konnte ich mir vorstellen, dass die vergangenen Jahre nix weiter als eine Ausgeburt meiner blühenden Phantasie gewesen waren. Es war nur wichtig, dass wir beide nun hier waren. Niemand würde uns diesen Moment nehmen können.
Am Ende standen wir beide schwer atmend da. So eng umschlungen, als befürchteten wir, der andere würde sich einfach in Luft auflösen, wenn wir nur ein wenig lockerer ließen. Es war perfekt, bis auf eine klitzekleine Kleinigkeit. „Der Wasserhahn drückt mir in den Rücken.“
Raphael lachte an meiner Halsbeuge, die er mit seinen Lippen liebkoste. „Du schaffst es doch immer wieder einen auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.“
„Tut mir ja leid, aber das drückt ganz furchtbar. Wenn wir die Plätze tauschen, können wir meinetwegen noch tagelang hier stehen bleiben, aber mit dem Hahn im Rücken, werde ich mich schon in den nächsten Minuten davon machen.“
„Na das können wir ja nicht zulassen.“ Er drehte mich ein wenig und plötzlich prasselte eiskaltes Wasser auf mich nieder. Ich stieß einen spitzen Schrei aus und versuchte von dem Wasser wegzukommen, aber er ließ mich natürlich nicht gehen. „Du Schuft, das hast du mit Absicht getan!“
„Du wolltest doch duschen.“
„Ja, aber doch nicht in der Arktis!“
Er grinste nur und ließ seine Hände über meinen Rücken zu meinem Hintern gleiten, während ich mich an ihn festklammerte. „Keine Sorge, es wird gleich warm und bis dahin sorge ich dafür, dass du nicht auskühlst.“
Nach diesen Worten verloren wir uns ein weiteres Mal ineinander.
Erst das unselige Quengeln von Aric lockte uns aus dem Bad. Ich wickelte mich in ein paar Handtücher, suchte in der Küchenzeile Bananen und Kekse zusammen und verarbeitete sie zu einem gleichmäßigen Brei, der von einem halb verwandelten Aric verschlungen wurde, als wäre es die erste Mahlzeit, die ihm im seinem Leben vergönnt war.
Raphael hatte in der Zwischenzeit eine alte Jogginghose übergezogen und suchte für mich ein verwaschenes T-Shirt von sich raus. Dann ließ er sich neben mir aufs Bett sinken und beobachtete, wie Aric mit Zähnen und Klauen versuchte seinen Brei zu verspeisen. Es landete mehr auf seinem Sabberlatz – ein umfunktioniertes Handtuch – als in seinem Mund. Kein Wunder bei den vielen Zähnen. Und er knurrte unheimlich niedlich dabei. Wenn ich ihn so sah, bekam ich das Lächeln einfach nicht aus dem Gesicht. Natürlich konnte es auch an dem liegen, was ich die letzte Stunde im Bad getrieben hatte.
„Ich hab ihn noch nie als richtiges Baby gesehen.“
„Das war er seit seiner Geburt ja auch nicht mehr.“ Ein weiterer Löffel landete halb in Arics Nase, weil er sich nach Elvis umdrehen musste. „Nikolaj sagt … Nikolaj hat gesagt, dass mit ihm etwas nicht stimmt, weil ich ein Misto bin.“ Ich konnte die leichte Verbitterung nicht aus meiner Stimmer heraushalten. „Er ist der Ansicht, dass ich schlechte Gene habe und Aric deswegen meistens ein kleiner Welpe oder ein Halbwolf ist. So als wäre irgendwas mit ihm nicht in Ordnung.“
Raphael schnaubte verächtlich. „Wenn hier mit irgendwem was nicht in Ordnung ist, dann wohl eher mit ihm. Ich meine, wie kann man auf den kleinen Kerl nicht stolz sein? Schau ihn dir doch nur mal an. Dann liebt er eben seinen Schwanz, na und? Welcher Mann tut das nicht?“
Wir sprachen hier von der kleinen Rute an seinem Hintern. Nur um keine falschen Schlüsse aufkommen zu lassen.
„Danke.“ Ein wirklich ehrliches Lächeln legte sich auf meine Lippen. „Das habe ich jetzt wirklich hören müssen.“
„Ich weiß.“ Er strich mir in einer zärtlichen Geste die Haare hinter mein Ohr und hauchte mir einen Kuss auf die Wange, der mich schaudern ließ. „Lass dich von dem Schwätzer nicht verunsichern.“
Leider war das gar nicht so einfach, denn seit dem Nikolaj das gesagt hatte, spukte der Gedanke immer wieder durch den Kopf. Nicht das ich glaubte, er würde recht haben, aber … was wenn er eben doch recht hatte?
„Lass das Grübeln.“ Raphael drückte meine Bein und lehnte sich dann zurück, während Aric seinen Brei begeistert mit dem Kater teilte. Nicht das Elvis ein besonders großes Interesse an Bananenmatsch hatte. Meine Kratzbürste ließ sich nicht mal dazu herab, an dem Fleck zu schnüffeln, den Aric direkt vor seiner Nase platzierte.
Leider war das mit dem Grübeln nicht so leicht abzustellen. Besonders nicht, da Aric sich vor Beendigung der Mahlzeit schon wieder in einen kleinen Welpen verwandelt hatte, der kein Interesse daran hatte, die Reste seines Breis zu vertilgen.
Also stellte ich die Schüssel weg, beseitigte die Reste und putzte meinem Schatz das Schnäuzchen ab.
Als er nach dem Essen herzhaft gähnte, wollte ich ihn hinlegen, aber wie kleine Kinder nun mal so waren, wollte er noch nicht schlafen. Darum setzte ich ihn neben mich und ließ ihn mit Elvis spielen – sehr zum Leidwesen des Katers.
Ich räumte das dreckige Geschirr weg und tauschte das Handtuch gegen das Shirt von Raphael ein. Er reichte mir bis auf die Oberschenkel.
„Der Kleine ist ganz schön mutig“, bemerkte Raphael, als Aric einen tollpatschigen Angriff auf Elvis verübte.
Der fauchte den kleinen Welpen an, sprang dann über ihn hinweg und setzte sich neben Raphael auf eines der Kissen.
„Tja, er wächst ja auch zwischen einem Haufen Werwölfe auf.“ Ich hängte noch die Handtücher über die Lehne der Bank, humpelte dann zum Bett zurück und kletterte neben Raphael ins Bett.
„Ja, nicht so wie du“, spottete er.
„Hey, ich hab nicht gewusst, dass alle meine Nachbarn auf Pelz stehen.“ Welcher normale Mensch würde auch schon auf einen so abwegigen Gedanken kommen?
Raphael schüttelte bei der Erinnerung an damals lächeln den Kopf. „Mann, du warst damals so ein richtiges Mädchen.“
„Ich bin auch heute noch ein Mädchen.“
„Nein, heute bist du eine Kriegerin.“ Er beugte sich vor und küsste mich. „Meine Kriegerin.“
Seine Kriegerin? War ich das wirklich? Ich meine, ich fand es schon toll hier und die letzten Stunden waren einfach nur wundervoll gewesen, aber konnten wir beide wirklich da weitermachen, wo wir vor so langer Zeit aufgehört hatten? Und was war mit Sydney? Ich konnte ihn doch nicht einfach so verlassen. Und das Rudel und Nikolaj und Markis Jegor und Vivien und Anouk.
Plötzlich brach alles wieder über mich hinein. Ich trug Verantwortung und so schön die Zeit hier drin mit ihm auch war, ich konnte meinem Leben dort draußen nicht entfliehen, nicht ohne Unheil über all die zu bringen, die mir so sehr am Herzen lagen.
Raphael spürte wohl die Veränderung, die sich plötzlich in mir stattfand. Er legte mir die Hand an die Wange und hauchte einen weiteren Kuss auf meine Lippen. „Schhh, hör auf so viel nachzudenken.“
„Aber …“
„Bitte, zieh dich nicht wieder vor mir zurück.“
Das wollte ich ja nicht, aber leider war das nicht so einfach. Ich war nicht frei, auf keine Art und das durfte ich niemals vergessen.
„Cayenne.“ Er legte auch die zweite Hand an mein Gesicht. „Ich bin nicht dumm, ich weiß dass es Hindernisse und Schranken gibt, die uns Behindern, aber ich weiß auch, dass ich dich nicht noch einmal verlieren will. Wir können es schaffen. Das haben wir schon früher. Weißt du nicht mehr? Wir sind Überlebenskünstler, wir beide zusammen.“
Das war früher einmal, aber jetzt? Diese Hindernisse und Schranken, von denen er da sprach, waren unüberwindbar. Für uns gab es keine gemeinsame Zukunft. „Raphael, das ist nicht so einfach wie du dir das Vorstellst. Es gibt da … gewisse Dinge. Ich kann das nicht.“
„Willst du es denn?“
Das war eine ausgezeichnete Frage. Die Antwort lautete sowohl ja, als auch nein, denn er war nicht der einzige Mann, der in meinem Herzen wohnte. „Ich weiß nicht wie ich das schaffen soll.“
„Wenn du es willst, dann finden wir einen Weg.“ Seine Lippen strichen zärtlich über meine und einen Moment genoss ich es einfach nur. „Gemeinsam.“
Als es neben mir ein wenig unleidlich wimmerte, löste ich mich von Raphael. Aric beobachtete uns und es schien ihm nicht zu gefallen, dass meine Aufmerksamkeit nicht zu hundert Prozent bei ihm war.
Ich zog ihn auf meinen Schoss, wo er es sich sofort bequem machte. Er war der Einzige in meinem Leben, für den ich alles andere aufgeben würde. Mein Herz, meine Seele und meine Liebe.
„Ich hätte niemals gedacht, dass du ein Kindermensch bist“, überlegte Raphael. „Als ich dich kennenlernte, hast du dich vor allem gefürchtet, was dir nur bis zum Bauchnabel ging.“
Ich zuckte die Schultern. „Die Zeit verändert die Leute eben.“ Ich legte den Kopf schief. „Und außerdem bin ich gar kein Mensch.“
„Das wusste ich vom ersten Moment an.“
Da Elvis Aric nicht länger als Gefahr für sein sauberes Fell einstufte, stand er auf, doch anstatt zu versuchen meinem Sohn den Platz in meinem Schoß streitig zu machen, kletterte er auf Raphaels Beine und rollte sich dort zusammen.
Das war der Augenblick, in dem ich erkannte, dass die Zeit nicht nur mich verändert hatte.
„Er hat dich jetzt lieber als mich.“
Raphael warf dem Kater einen kritischen Blick zu. „Er hat die letzten Jahre bei mir gelebt. Und im Gegensatz zu dir, hat er bei mir immer etwas vom Tisch bekommen. Du kennst doch den Spruch, Liebe geht durch den Magen.“
Trotzdem fand ich es traurig. Ein weiteres Zeichen dafür, dass nichts mehr so war, wie es einmal war.
„Hey.“ Er rutschte weiter zu mir und zog mich in seine Arme. Dabei streifte die Kette mit meinem Ring über meine Haut. „Sei nicht traurig.“
„Alles hat sich verändert.“
„Das bringt die Zeit mit sich. Dagegen kommt niemand an.“
„Ich wünschte, alles wäre wieder wie früher. Da war das Leben noch einfach.“
„Jetzt hörst du dich an wie eine alte Frau, die ihr ganzes Leben schon hinter sich hat.“
„Manchmal habe ich das Gefühl, dass es genau so ist.“ Oder vielleicht war das auch einfach nur ein Wunsch. Wenn ich mein Leben hinter mir hätte, gäbe es keine Ketten mehr, die mich fesseln könnten.
Raphaels Gedanken schienen in eine ganz ähnliche Richtung zu gehen. „Erzählst du es mir?“, fragte er leise. „Irgendwann einmal?“
Das würde ich so gerne, aber ich konnte nicht. Dass ich es Sydney erzählt hatte, war schon riskant gewesen, jetzt noch Raphael einzuweihen, war nicht mehr zu verantworten. Je mehr Leute davon wussten, desto eher konnte etwas nach außen dringen und das konnte ich einfach nicht riskieren. Außerdem würde Raphael sich von einer einfachen Bitte nicht so einfach aufhalten lassen. Er würde Markis Jegor und Nikolaj jagen, und dann würde seine Familie Vivien und Anouk wegsperren, damit ihnen nichts passieren konnte. Das durfte ich nicht zulassen. Die beiden waren so lange Gefangene gewesen, sie hatten ihre Freiheit verdient.
„Cayenne?“
„Ich kann nicht.“ Und daran zerbrach ich fast. „Es tut mir leid.“
„Irgendwann werde ich erfahren, was damals passiert ist.“
Nur wenn ich es nicht verhindern konnte. „Bitte such nicht weiter nach Antworten.“ Ich löse mich ein kleines Stückchen von ihm, um ihm in die Augen sehen zu können. „Lass die Vergangenheit einfach ruhen.“
Er spannte den Kiefer an und wich meinem Blick aus. „Du weißt nicht was du da von mir verlangst.“
„Doch, das weiß ich, aber du weißt nicht, was du mit deiner Suche auslösen könntest. Vertrau mir einfach, wenn ich dir sage, dass es so das Beste ist.“
„Für wen?“
„Für alle. Für mich.“ Ich drehte sein Gesicht zu mir. „Und auch für dich.“
Er versprach mir nicht, dass aufgab, er schwieg einfach.
Dieser Sturschädel.
°°°
Ein Kuss im Nacken weckte mich. Eine Hand auf meiner Taille, ein warmer Körper in meinem Rücken. Im ersten Moment glaubte ich, Sydney sei bei mir und fragte mich schon, ob er mir meinen kleinen Ausbruch verziehen hatte, aber dann schlug mir Raphaels Geruch in die Nase und eine Mischung aus Enttäuschung und Glückseligkeit machte sich in mir breit. Ziemlich paradox.
Neben mir, eingemummelt in einer Decke, lag Aric zwischen mir und der Wand, damit er nicht ausversehen aus dem Bett fallen konnte. Er lag ganz still da und träumte friedlich vor sich hin. Ich liebte es, ihm dabei zuzuschauen, wenn er schlief.
Als sich da eine äußerst freche Hand langsam unter mein Shirt schummelte, drehte ich mich auf den Rücken und schaute zu Raphael. Seine Augen waren noch geschlossen, doch seine vorwitzigen Finger machten mir sehr deutlich, dass er nicht mehr schlief. „Wer geht denn da schon am frühen Morgen auf Tuchfühlung?“
Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das mich seine spitzen Fänge sehen ließ. „Ich habe leider keine Kontrolle darüber“, erklärte er und rückte ein wenig näher. Seine Lippen hauchten einen Kuss auf meine.
„Vielleicht sollte ich dich dann lieber festbinden.“
„Dazu müsstest du mir erstmal entkommen“, raunte er an meinen Lippen und begann mich dann richtig zu küssen.
Ich ließ es mir gefallen und schmiegte mich ein wenig enger an ihn. Vielleicht lag es daran, dass ich gerade erst aufgewacht war, doch dieser Moment war wie ein lange vergessener Traum, von dem ich nicht zu hoffen gewagt hatte, dass ich ihn noch einmal erleben durfte.
Als seine Hand sich dann jedoch einen Weg in tiefere Gefilde suchte, hielt ich sie fest. „Nicht neben Aric.“
Raphael hielt kurz inne und seufzte dann aus tiefsten Herzen. „Tut mir leid, an den Kleinen hab ich gar nicht mehr gedacht.“
Das ließ mich schmunzeln. „Ist mir aufgefallen.“
Er richtete sich ein wenig auf und schaute dann über mich hinweg zu dem kleinen Fellknäuel, dass unter der Decke kaum zu sehen war. „In Ordnung“, sagte er dann und schlug die Decke zur Seite. Er nahm meine Hand, stieg aus dem Bett und zog mich dabei mit sich mit.
„Hey“, beschwerte ich mich.
„Pssst“, machte er und zog mich auf die Beine. Die schnelle Bewegung sorgte dafür, dass die Wunde an meinem Bein leicht schmerze, aber ich ließ mir nichts anmerken.
Sobald ich neben ihm stand, zog er den graumelierten Vorhang vor das Bett und trennte so den Schlafbereich vom Rest des Wohnwagens ab. Dann griff er nach mir uns zog mich wieder an sich heran. „Problem gelöst.“
Mein Mundwinkel kletterte ein Stück nach oben. „Und jetzt? Willst du wieder duschen gehen?“
„Nein.“ Er packte mich an der Hüfte, drehte mich herum und im nächsten Moment saß ich mit dem Hintern auf dem Tisch. „Ich will ja nicht, dass der Wasserhahn dir wieder in den Rücken drückt.“
„Wie zuvorkommend.“
Als er sich vorbeugte, um mich zu küssen, schlang ich meine Beine um seine Hüfte, um ihn näher an mich zu ziehen. Dabei genoss ich es, wie sich sein fester Leib an mich drückte und er seine Hände sich quälend langsam unter mein Shirt schob.
Jede einzelne Berührung sandte kleine elektrische Stöße unter meine Haut. Mein Körper erwachte zum Leben. Es war berauschend.
Während sein Kuss mir die Sinne vernebelte, strich ich mit den Händen seine Seite hinab, bis ich den Saum seiner Hose erreichte. Mit dem Finger zog ich daran eine Linie entlang und erfreute mich daran, wie seine Bauchmuskeln unter dieser Berührung zuckten.
Erst als er mit einer Hand meinen Schenkel packte und sich gegen mich drängte, ließ ich meine Hand in seine Hose gleiten und umfasste ihn.
„Gott, Bambi“, fluchte er und packte den Saum von meinem Shirt. Im nächsten Moment hatte er es mich schon vom Leib gerissen und küsste mich so stürmisch, als wollte er mich verschlingen. Ich war ihm völlig ausgeliefert.
Mit meiner freien Hand versuchte ich ihm die Hose über den Hintern zu schieben, doch sie steckte zwischen uns fest. Dann eben anders. Ich nahm auch meine zweite Hand zur Hilfe und schon rutschte das störende Ding an seinen Beinen hinunter. Nun war uns nichts mehr im Weg.
Ich zog ihn an mein Gesicht und …
Die Tür zum Wohnwagen wurde geöffnet und ein nichtsahnender Tristan trat herein, blieb aber sofort stehen, als er sah, was wir hier auf dem Tisch trieben.
Einen Moment schaute er uns genauso entgeistert an, wie wir ihn. Dann drehte er sich abrupt um, riss dabei auch noch ausversehen eine Schüssel von der Anrichte und floh nach draußen. Dabei machte er so viel Krach, dass Aric davon wach wurde.
Entnervt ließ ich den Kopf in den Nacken fallen. „Warum nur passiert mir das nur ständig?“ War es denn wirklich zu viel verlangt, dass die Leute anklopften, bevor sie einen Raum betraten?
Raphael zog eine Augenbraue nach oben. „Ständig?“
Ähm … ja. „Ach nichts.“
Hinter dem Vorhang begann Aric zu wimmern.
Damit waren unsere morgendlichen Aktivitäten beendet.
Seufzend rückte Raphael von mir ab und zog seine Hose wieder hoch. Dann schob er den Vorhang zur Seite und schnappte sich den kleinen Welpen, der da mit großen unschuldigen Augen an der Bettkante stand.
Ich kletterte vom Tisch und schnappte mir das Shirt vom Boden. Ich hatte es mir gerade übergezogen, als es zögernd an der Tür klopfte.
Raphael linste aus dem Fenster und lächelte. „Tyrone.“
„Na wenigstens hat er dieses Mal angeklopft.“ Ich klaubte mir mein Kleid vom Boden. „Bekommst du das mit Aric kurz hin? Ich würde gerne duschen gehen.“
„Kein Problem, wir zwei machen das schon, nicht war mein Kleiner?“ Er kitzelte Aric unterm Kinn, bis dieser versuchte ihm in die Finger zu beißen.
„Danke.“ Damit verschwand ich für eine schnelle Dusche im kleinen Bad.
Als ich wieder heraus kam, beseitigte Raphael gerade die Spuren unseres ausschweifenden Abends. Tristan saß mit Aric auf dem Schoß auf der Bank und fütterte meinen Sohn zu meinem entsetzen mit Brot.
„Nein, gib ihm das nicht, davon bekommt er Verstopfungen.“
Tristan schaute zu mir auf. „Er hatte hunger.“
„Klar hat er hunger. Es ist ja auch schon …“ Ich sah mich nach einer Uhr um, fand aber keine. Uhren waren hier schon immer Mangelware gewesen. „Wie spät ist es?“
„Kurz vor zehn“, half Raphael mir aus.
„Zehn?“ Mich traf fast der Schlag.
Tristan legte das Brot zur Seite, was Aric gar nicht lustig fand. Er begann auf seinem Arm zu zappeln, weil er es wiederhaben wollte. „Deswegen bin ich hier. Ich dachte, dass Raphael vielleicht weiß wo du bist. Das ganze Schloss ist bereits auf der Suche nach dir.“
„Fantastisch.“ Ich schnappte mir meine Schuhe.“
„Und dein Gefährte will wohl auch dringend mit dir sprechen.“ Er schaute von mir zu Raphael. Es gab da wohl gerade mehr als eine Frage, die ihn beschäftigte, aber er hielt den Mund. „Außerdem will Miguel dich im HQ sehen.“
„Ich bin begeistert.“ Ich schnappte mir Aric und meine Krücke und wandte mich zum Gehen. Langsam begann mein Bein doch ein wenig zu schmerzen. Doch bevor ich die Tür erreichte, legte Raphael mir eine Hand auf den Arm und hielt mich damit noch einen Moment zurück.
Er brauchte den Mund nicht zu öffnen, ich verstand auch so, was er von mir wollte. „Bitte denk nicht, dass ich es bereue, denn das tue ich nicht, aber …“ Ich biss mir auf die Unterlippe.
„Ich weiß schon.“ Er beugte sich vor und hauchte mir einen federleichten Kuss auf die Lippen, den ich bis in die Zehenspitzen fühlte. „Denk einfach nur darüber nach.“ Sein Blick hielt mich noch einen Moment gefangen. „Ich habe das ernst gemeint, zusammen schaffen wir alles.“
Nein, aus dieser Falle würde ich niemals entkommen. „Ich melde mich, wenn ich ein bisschen Zeit habe.“ Ich hob noch die Hand zum Abschied für Tristan und eilte dann aus dem Trailer. Ich hatte die Menagerie noch nicht einmal verlassen, als ich von Weiten auch schon den ersten Wächter sah, der nach mir Ausschau hielt. Jetzt brauchte ich schnellstens eine gute Ausrede, die erklärte, wo ich die ganze Zeit gesteckt hatte.
Andererseits, ich war die Königin und damit war ich niemanden Rechenschaft schuldig. Höchstens Sydney.
Der Gedanke an ihn brachte mich einen Moment aus dem Schritt.
Solange ich bei Raphael gewesen war, hatte ich alles andere verdrängen können, doch jetzt begann die Schuld mich niederzudrücken. Das war hier geschehen war, ging weit über einen Kuss auf offener Straße hinaus.
Wie sollte ich Sydney nur je wieder unter die Augen treten? Raphael wohnte noch immer in meinem Herzen. Nach dieser Nacht hatte er sich sogar noch tiefer darin eingenistet. Hatte ich vorher schon Schwierigkeiten gehabt meine Gefühle zu ordnen, so war das jetzt unmöglich.
Bevor der Wächter mich entdecken konnte, verschwand ich durch den Garten und betrat das Schloss durch den Rosensaal. Wenn ich mich geschickt anstellte, dann konnte ich mich unbemerkt auf mein Zimmer schleichen und …
„Königin Cayenne!“
War ja irgendwie klar gewesen.
Ein langer Mann mit einem schmalen Gesicht kam im Eilschritt auf mich zu. Mein Truchsess. „Leukos sei Dank, da seid ihr ja. Wo wart ihr nur? Wir haben Euch schon überall gesucht.“
Als wenn die Welt zusammenbräche, wenn ich mal ein paar Stunden unerreichbar war. „Ich wüsste nicht was Sie das angeht.“ Außerdem hatte ich noch immer keine passende Ausrede parat.
„Ähm … natürlich nicht. Verzeiht meine Unverfrorenheit, aber wir alle haben uns gesorgt …“
Während er weiter katzbuckelte, lief ich durch die Gänge. Aric wurde langsam grantig. Er hatte Hunger und niemanden schien diese Tatsache zu interessieren. Ich musste für meinen kleinen Wolf dringend etwas Essbares auftreiben, bevor er noch anfing die Dienerschaft anzuknabbern. Außerdem brauchte er ein Bad und ich saubere Klamotten.
„… und die Küche braucht eine Entscheidung für das Dinner am Ende der Woche.“
„Darum soll sich Nikolaj kümmern.“
„Ähm ja, nun gut. Aber das Ratsmitglied Baroness Bea versucht Euch schon seit den frühen Morgenstunden zu erreichen und …“
„Ich habe ihr bereits mehrfach gesagt, dass sie sich für Termine mit Berater Archie in Verbindung setzen soll. Ich habe keine Zeit für ihre ständigen Wehwehchen.“
Ein paar Wächter kamen uns entgegen und verschwanden in den Speisesaal der Bediensteten.
„Natürlich, natürlich. Aber dann wäre da noch …“
Ich musste tief durchatmen, um ich nicht zum Teufel zu jagen. „In Ordnung“, unterbrach ich ihn, bevor er noch weitere nervtötende Anliegen vorbringen konnte. „Ich habe gerade zu tun. Sobald ich Zeit habe, werde ich nach Ihnen rufen lassen, aber bis dahin möchte ich nicht weiter von Ihnen belästigt werden.“ Ich wartete gar nicht erst auf eine Erwiderung, sondern ließ ihn einfach stehen.
Auf dem Weg zur Haupttreppe, kamen noch weitere Leute, um noch weitere Angelegenheiten vorzutragen. Ich schickte sie alle weg. Bevor ich mich mit dem ganzen Kram befasste, wollte ich wenigstens frische Klamotten anziehen.
Dass ich aus dem Untergrund aufgetaucht war, verbreitete sich wie ein Lauffeier. Ich konnte es nur immer wieder sagen: Die Schlossbewohner waren die größten Klatschmäuler, auf dieser und jeder anderen Welt.
Und dann kam Diego auf mich zu. „Oh Gott sei Dank, endlich jemand der nichts von mir will.“ Bevor er noch ein Wort sagen konnte, drückte ich ihm Aric in die Hand. „Hier, bitte besorge ihm etwas zu essen, ich muss ganz schnell nach oben. Wenn du Hilfe brauchst, dann frag Collette, oder Samuel, die wissen was er mag und was nicht.“
Diego drückte den kleinen, sich windenden Wolf an seine Brust. Die Kratzer an seiner Schläfe waren fast verheilt, aber sie würden auf ewig ein Zeichen dafür sein, dass ich ihn angegriffen hatte, dass ich mich nicht hatte beherrschen können. „Eigentlich bin ich hier, um dir etwas mitzuteilen.“
„Oh, du nicht auch noch.“ Kam den heute niemand ohne mich klar? Ich setzte meinen Weg fort. „Also schieß los, welche Problematik bringst du zu mir? Ein Dokument das dringen unterschrieben werden muss? Ein Anruf um jemand aus dem Knast zu holen? Oh bitte lass es ein tiefes Loch sein, in das ich mich stürzen kann.“
Diegos Mund verzog sich zu seinem halben Lächeln. „Ganz so dramatisch ist es nicht. Es sind nur ein paar Kleinigkeiten. Tyrone und Lucy sind wieder da.“
„Ich weiß, ich hab Tyrone schon gesehen.“
„Außerdem möchte Miguel mit dir sprechen.“
„Auch das ist mir bereits zu Ohren gekommen.“
Diego warf mir einen schiefen Blick zu. „Ist dir auch schon bekannt, dass König Nikolaj nach dir sucht?“
„Wenn ich jetzt Ja sage, haust du mich dann?“
„Geh nicht, ich brauche beide Hände, um deinen Sohn festzuhalten.“
„Was für ein Glück für mich.“
Wir bogen in die Haupthalle ab.
Ich war schon halb durch, als ich Nikolaj bemerkte, der die Treppe herunter kam. Direkt neben ihm lief sein Vater Markis Jegor Komarow.
Ich blieb abrupt stehen.
„Hättest du mir nicht sagen können, dass mein Schwiegervater zu Besuch ist? Dann wäre ich nämlich in der Versenkung geblieben.“
„Ich wusste nicht, dass er da ist.“ Diego schaute zu den beiden Männern, die auch uns schon entdeckt hatten und nun direkt auf uns zukamen. „Er muss gerade erst gekommen sein.“
Fantastisch. Konnte dieser Morgen eigentlich noch besser werden? „Gib Aric bitte was zu essen. Wir sehen uns dann später.“
Er nickte. „Ich sage Ginny Bescheid, damit sie zu dir runter kommt.“
„Lass es. Mir wird schon nichts passieren, nur weil ich ein wenig alleine herumlaufe.“ Ohne ihm die Chance auf eine Erwiderung zu geben, setzte ich mich in Bewegung. Bei den Gesprächen mit Jegor brauchte ich keine Zeugen und so gezielt wie er auf mich zukam, wollte er mit mir sprechen.
„Da bist du ja“, begrüßte Nikolaj mich und beugte sich vor, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben.
Ich versteifte mich ein wenig. Nicht weil er das tat, sondern wegen dem, was er gestern gesagt hatte. Ich hatte es nicht vergessen und das teilte ich ihm auch mit meinem Blick mit. „Du wolltest etwas von mir?“
„Cayenne. Was ich da gestern gesagt habe, tut mir leid. Ich hab nicht nachgedacht.“
Definitiv nicht. „War es das?“
So wie er mich anschaute, nein. „Vater wollte mir dir sprechen.“
Manchmal hasste ich es recht zu behalten. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf Jegor, achtete dabei aber peinlichst genau darauf, dass Nikolaj zwischen uns stand. Diesem Mann wollte ich nicht zu nahe sein. „Was wollen sie?“
„Muss ich den einen Grund haben, um meine Familie zu besuchen?“
„Sie tun nichts ohne einen Grund.“
„Wie gut Ihr mich in der Zwischenzeit doch kennt.“ Seine Lippen verzogen sich zu einer Parodie eines Lächelns. „Lasst uns doch ein paar Schritte zusammen gehen.“
Er wollte mit mir spazieren gehen? Er hatte schon bemerkt, dass ich hier auf einer Krücke stand, oder?
„Worauf wartet Ihr?“
Das war eindeutig ein Befehl. Ich schaute zu Nikolaj und war kurz versucht seine Hand zu ergreifen. Dann war er eben ein Dummkopf. Aber besser er, als allein mit Jegor.
„Nein.“ Der Markis schüttelte den Kopf. „Wir werden Nikolaj nicht brauchen.“
Das wollte mir absolut nicht gefallen, aber auch wenn Nikolaj die Stirn runzelte, er würde seinem Vater nicht widersprechen.
„Kommt nun.“
Als er einen Arm nach mir ausstreckte, wich ich automatisch vor ihm zurück. „Fassen sie mich nicht an“, knurrte ich und setzte mich dann alleine in Bewegung.
Draußen im Vorhof herrschte reger Betrieb. Neben Wächtern und anderen Bediensteten, trieben hier auch ein paar der Themis hier ihr Unwesen. Ein paar hoben die Hand, als ich an ihnen vorbei kam. Emily warf mir nur einen abschätzenden Blick zu.
Als Jegor nur schweigend neben mir her schlenderte, machte ich den Anfang. „Sie wollten etwas von mir.“
„Langsam glaube ich, dass Ihr meine Gesellschaft nicht so sehr schätzt, wie eine Schwiegertochter das sollte.“
Nicht mal die Ratten aus der Kanalisation würden seine Gesellschaft schätzen. „Ich habe einfach sehr viel zu tun.“
„Natürlich, ich will Euch auch gar nicht lange aufhalten.“ Unten an der Freitreppe blieb er stehen. „Ich habe Euch ein Geschenk mitgebracht.“
„Ich will es nicht“, sagte ich ohne groß darüber nachzudenken. Egal was von diesem Mistkerl kam, es würde mich sicher nicht gefallen.
„Aber das wäre sehr unhöflich von Euch. Ich bin deswegen extra hergefahren.“
Das gefiel mir noch viel weniger.
Jegor griff in die Innentasche seines Jacketts und zog eine kleine Holzschatulle mit filigranen Schnitzereien hervor. „Es ist nur einen Kleinigkeit, aber ich bestehe darauf, dass Ihr es annehmt.“
Ich wollte das Teil nicht anfassen, aber mein Wille zählte hier nicht, ich musste das tun, was er wollte. Also lehnte ich meine Krücke an meine Hüfte und nahm das Kästchen entgegen. Später konnte ich es ja immer noch verbrennen und die Asche mit Salz tränken, damit das Böse darin auf ewig zerstört würde.
„Öffnet sie“, forderte er mich auf.
Ein äußerst ungutes Gefühl machte sich in mir breit, als ich die Schatulle in meine Hand drehte. Sie war durch einen Klipp verschlossen.
Ich drückte ihn hoch und klappte das Kästchen auf. Die Scharniere gaben federleicht nach. Im ersten Moment war ich mir nicht ganz sicher, was ich da sah. Es war ein schwarzes Tuch, mit ein paar dunklen Flecken. Erst als mir der Geruch von geronnenem Blut in die Nase stieg und ich einen Hauch von Fletchers Witterung daran wahrnahm, wurde mir klar was das war. Und auch was es bedeutete.
Es war mein Halstuch. Fletcher hatte es mir in Kassel heruntergerissen, während mein Gift ihn dahingerafft hatte.
Ich klappte das Kästchen eilig wieder zu und begegnete wachsam seinen Blick. Wie hatte ich nur so dumm sein können, das zurückzulassen?
„Ihr und Eure Leute waren es, die in das Büro in Kassel eingedrungen sind.“
Mist. „Die Themis haben nur ihre Arbeit gemacht.“
„Es gefällt mir aber nicht, wie gründlich sie das in der letzten Zeit tun.“
Und noch mal Mist. Wenn ich jetzt nicht ganz vorsichtig war, würde ich das sicher bald bereuen. „Ich habe ein Auge darauf. Weder sie noch ihre Geschäfte sind in Gefahr. Wir schalten nur ihre Konkurrenz aus.“
Seine Lippen verzogen sich zu seinem süffisanten Lächeln. „Ihr habt Fletcher ausgeschaltet.“
„Er hat die Waffe auf mich gerichtet“, verteidigte ich mich.
Plötzlich schoss seine Hand nach vorne und packte mich grob am Oberarm. Er zerrte mich mit einem Ruck zu sich heran. Meine Krücke fiel klappernd zu Boden.
„Ihr solltet vorsichtig sein, Königin Cayenne“, zischte er mir ins Gesicht. „Sonst könnte ich auf die Idee kommen, Euch an unsere Abmachung zu erinnern.“
Ich konnte es nicht verhindern, dass mein Herz vor Furcht ein wenig schneller schlug und ich wieder an diesen Moment in seinem Büro denken musste. „Ich habe die Abmachung nicht vergessen.“
Oben vom Portal ertönte ein sehr durchdringendes Knurren. Nikolaj war uns nach draußen gefolgt und so wie er seinen Vater ansah, gefiel es ihm gar nicht, dass er mich festhielt. Das trug nicht gerade zur Besserung von Jegors Laune bei.
Nur sehr langsam ließ er mich los und trat einen Schritt zurück. „Vergesst besser nicht, um was es hier geht. Ihr tut, was ich sage.“
„Ich weiß.“
„Dann seht zu, dass sowas kein weiteres Mal vorkommt. Ich werde Angriffe auf meine Leute und Geschäfte nicht tolerieren. Habt Ihr mich verstanden?“
Scheiße. „Ja.“
„Gut.“
Als hinter ihm jemand meinen Namen rief, drehte er sich herum. Lucy stand vor dem Eingang des HQs und winkte mich ungeduldig zu sich.
Bei ihrem Anblick zog Jegor erstaunt eine Augenbraue nach oben. „Mercedes?“
Mercedes? Wollte er jetzt ein Auto?
„So also seid Ihr auf das Büro in Kassel gestoßen.“
Was? Oh nein. „Kommen sie ihr nicht zu nahe.“
„Warum? Weil sie Euer kleiner Maulwurf ist?“
Verdammt, er hatte sie also wirklich erkannt.
„Ihr sorgt wohl besser dafür, dass sie sich nicht noch einmal in einer unserer Geschäftsstellen auftaucht. Es würde nicht gut für sie enden.“
„Drohen sie mir nicht, das bekommt ihnen nicht gut.“
„Nein Königin Cayenne, droht Ihr mir nicht.“ Er wandte sich von mir ab. „Habt noch viel Freude an Eurem Geschenk.“
Gegen den eiskalten Schauder, der über meinen Rücken jagte, konnte ich nichts ausrichten. Er hatte Lucy erkannt. Er wusste nun, dass sie zu den Themis gehörte. Sie durfte nie wieder einen Fuß über die Schwelle eines Skhän setzten.
„Cayenne!“, rief Lucy erneut und winkte mich ungeduldig zu sich.
Verdammt, wie sollte ich ihr nur erklären, dass sie nicht mehr zu den Skhän durfte? In ihrer Position war sie für uns eigentlich unentbehrlich. Sie von ihrem Posten abzuziehen, wäre nicht nur ein Schlag gegen sie, es würde uns Jahre zurückwerfen und den Themis damit einen herben Schlag versetzen.
Aber ich durfte auch nicht erlauben, dass ihr etwas passierte.
Ich warf einen Blick hinauf zu Nikolaj, der seinen Vater mit finsteren Blicken nachstellte, kam dann aber Lucys Aufforderung nach. Naja, nachdem ich meine Krücke aufgehoben hatte und die Schatulle in meiner Rocktasche verschwunden war. „Was ist los?“
„Was los ist? Future hat den Code geknackt, das ist los.“
°°°
Die Zentrale der Themis war ein einziges Gewimmel, von aufgescheuchten Leuten, die geschäftig von einer Seite zur anderen rannten. Jeder Computer war besetzt, die Drucker pfiffen bereits aus dem letzten Loch und der große Tisch in der Mitte, war zwischen den Leuten kaum noch zu erkennen.
Als ich in der Raum kam, musste ich eilig zur Seite treten, um nicht von einem Mann mit einem Stapel Papieren in der Hand über den Haufen gerannt zu werden. Also so viel Hektik hatte ich unter den Themis noch nie erlebt.
„Jetzt komm schon“, trieb Lucy mich an und quetschte sich zwischen Sergio und Alexia an den Tisch.
Ich wollte ihr folgen, aber da trat Murphy mir in den Weg. „Da bist du ja endlich. Komm mit.“ Und schon verschwand er in dem kleinen Nebenraum. Dort war es nicht ganz so chaotisch. Auch hier gab es neben mehreren Aktenschränken einen großen Tisch, nur war dieser an die Wand geschoben.
Entgegen meiner Erwartung, befand Miguel sich nicht unter den anwesenden. Dafür befanden sich aber neben Romy und Roger auch noch Tristan und Raphael im Raum. Und sie alle brüteten über den ausgebreiteten Unterlagen vor ihren Nasen.
„Das müssen wir vor Ort entscheiden, das kann ich von hier aus nicht sagen“, überlegte Romy, als ich mich zu ihnen gesellte. Sie tippte auf ein Foto und zeigte dann auf den Grundriss eines Hauses daneben. „Das müsste diese Seite sein. Dort sollten wir am einfachsten eindringen können.“
Raphael nickte. Dabei warf er mir einen kleinen Seitenblick zu und lächelte mich spitzbübisch an.
Es hätte mich nicht überraschen sollen, ihn hier zu sehen, schließlich gehörte er zu den Themis, aber ihn so schnell wieder zu sehen, kam doch ein wenig unerwartet.
„Wie willst du es also machen?“, fragte er Roger.
„Sieben Leute in dieses Haus. Drei hier, fünf da und vier in das in Liezen.“ Nacheinander zeigte er auf verschiedene Stapel von Bildern, ausgedruckten Papieren und verschiedenen Dokumenten, die zwischen den Bauplänen und Grundrissen auf dem Tisch verteilt waren.
Ich stellte mich zwischen ihm und Murphy an den Tisch und ließ meine Augen über die ganzen Unterlagen wandern. „Ihr habt die Daten entschlüsselt?“
Murphy nickte. „Heute morgen um drei hat Future es endlich hinbekommen und was da drauf war … wow. Wir werden den Skhän einen Schlag versetzen, von dem sie sich nicht so schnell erholen werden.“
Dieser Gedanke sollte mich eigentlich glücklich stimmen, doch das Gespräch mit Jegor spukte mir noch immer durch den Kopf. Wie sollte ich nur erklären, dass Lucy nicht mehr zu den Skhän durfte? „Was war denn da drauf?“
„Kontaktdaten hochrangiger Skhän“, erklärte Roger und zog eine Liste mit Namen zu sich heran. „Kontodaten, E-Mail-Adressen, Schriftverkehr. Dieses Tablet hat und praktisch ein Personalverzeichnis und auch Kundenlisten in die Hand gespielt.“
Das war … heftig.
„Es ist so viel, dass Miguel mehrere Gruppen und Teamleiter einteilen musste, damit wir das ganze überhaupt koordinieren können“, erklärte Murphy. „Romeo kümmert sich um diese Häuser.“ Er machte eine ausladenden Geste über den ganzen Tisch.
„Wo ist Miguel?“, fragte ich und ließ meine Augen über die Fotos und Bilder gleiten.
Die Antwort bekam ich nicht mehr mit, denn zwischen den ganzen Fotos entdecke ich ein Bild, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Nein. Nein, das konnte nicht sein.
Entsetzt nahm ich ein DIN A4 großes Foto eines Hauses zur Hand. Ich kannte dieses Haus. Ich kannte diese Auffahrt und auch diese Haustür, genauso wie ich die Räume im Inneren kannte. Scheiße nein, das war Jegors Haus!
Meine Finger krampften sich um das Bild. „Wo habt ihr das her?“
„Aus dem Ordner.“ Murphy griff sich den Pappordner, der unter dem Bild gelegen hatte und schob ihn mir zu. „Die Zentrale ist seit Stunden damit beschäftigt, die Daten auszuwerten. Sie haben zu den einzelne Namen Dossiers angefertigt. Wenn sie genug für einen Übergriff haben, bekommen die Teamleiter die Akten, um das weitere Vorgehen zu planen. Dieses Haus gehört … Moment.“ Er schlug die Alte auf und ging den Steckbrief auf der obersten Seite durch. Darauf war sogar ein altes Passbild von einer molligen Frau mit einem runden Gesicht abgebildet. „ Natasha Wolkow.“ Er zog auch noch die Kopie eines alten Führerscheins hervor.
Natasha Wolkow?
„Das ist ja seltsam“, murmelte er, als er den Steckbrief und den Führerschein näher in Augenschein nahm Dann begann in der Akte zu blättern.
Oh nein.
„Was ist seltsam?“ Raphael beugte sich zur Seite, um auch einen Blick darauf zu erhaschen.
„Das hier.“ Murphy zupfte eines der Blätter heraus und legte es oben auf. Es war eine Sterbeurkunde. „Laut den Papieren, ist die Frau seit rund vierzig Jahren tot.“
Tristan tippte mit dem Finger auf den Tisch. „Vielleicht benutzt da jemand die Identität einer Toten, um unter dem Radar zu bleiben.“
„Dass sollten wir auf jeden Fall überprüfen.“ Raphael nahm den Steckbrief zur Hand. „Wenn jemand solche Tricks benutzt, hat er sicher etwas zu verbergen.“
Roger nickte. „Ich setze es am Besten auf die Prioritätenliste und …“
„Nein!“ Ich riss Raphael den Steckbrief aus der Hand, Murphy den Totenschein und ließ die beiden Papiere eilig in der Akte verschwinden. „Ich meine, das musst du nicht. Vergesst das Haus einfach, ich werde mich darum kümmern.“
Raphael zog eine Augenbraue hoch. „Du willst dich darum kümmern?“
Ich schnappte mir auch noch die restlichen Sachen von dem Stapel, genau wie die Fotos daneben und ließ alles in dem Ordner verschwinden.
„Bambi?“
Verdammt, verdammt, verdammt! „Das habe ich ja wohl gerade gesagt. Ihr kümmert euch um die anderen und ich … ich kümmere mich um dieses. Alleine. Ich rede gleich mit Miguel. Wo ist er?“
Nicht nur einer warf mir einen komischen Blick zu.
„Du willst dich allein darum kümmern?“, fragte Tristan.
„Ja.“ Moment, falsch, wir arbeiteten niemals allein. „Ich meine natürlich nein. Ich werde mit Miguel sprechen.“ Ich ließ meinen Blick noch mal schnell über die Unterlagen auf dem Tisch wandern, um sicher zu gehen, dass ich auch nichts übersehen hatte. „Ihr macht … ich macht hier am Besten einfach weiter.“
Murphy musterte mich ein wenig eingehender. „Ist mit dir alles in Ordnung? Du wirkst ein wenig nervös.“
Nervös? Nein. Kurz vor einer Panikattacke? Da kamen wir der Sache schon ein wenig näher. „Das ist nur die Aufregung“, erklärte ich und kehrte ihnen den Rücken. „Wir sehen uns nachher.“ Und jetzt nichts wie raus hier, bevor noch jemand auf die Idee kam, dass ich hier etwas vertuschen wollte.
Leider reichte es nicht, mit die ganzen Unterlagen anzueignen, der der Name Natasha Wolkow war noch im System. Sie müssten nur einmal nachschauen, dann könnten sie sich den ganzen Kram wiederholen. Darum humpelte ich auf meiner Krücke quer durch die Zentrale zu Future. Der Name und alles was damit zusammenhing, musste verschwinden.
Während ich den Ordner so an meine Brust drückte, gesellte ich mich an die Seite der quirligen Vampirin.
Ihr Arbeitsplatz war übersät mit Kaffeebechern, Energiedrinks und Schokoriegeln „Hast du in den letzten Tagen überhaupt geschlafen?“
„Natürlich.“
Ich musterte die dunklen Ringe unter ihren Augen. „Bist du dir sicher?“
Sie grinste, ohne von ihrem Bildschirm aufzuschauen. „Miguel hat mich vorhin ins Bett geschickt und mir verboten wiederzukommen, bevor ich nicht mindestens zwei Stunden geschlafen habe.“
Irgendwie bezweifelte ich, dass sie das getan hatte, aber im Moment interessierte mich das eher weniger. Ich musste die verdammten Daten manipulieren, um ein großes Unglück zu verhindern. „Hey, kannst du mir einen Gefallen tun? Irgendeiner von den Neuen hat sich einen blöden Scherz erlaubt und einen Namen ins System eingegeben, der da nicht hinein gehört. Kannst du ihn löschen und alles was du im Zusammenhang damit findest?“
Future schaute mich ein wenig verständnislos an. „Wer macht den so ein Blödsinn?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Mir wurde nur gesagt, dass ich dafür sorgen soll, dass der Name von den Festplatten verschwindet.“ Bitte, tu es einfach und stell keine weiteren Fragen. Ich würde dafür so schon in die Hölle kommen.
Future schüttelte ungläubig den Kopf. „Weil wir ja nicht schon genug zu tun haben. Gib mir den Namen.“
„Natasha Wolkow.“
Sie begann ihre Tastatur zu malträtieren. Ein Fenster öffnete sich, dann noch eines. Ein Klick hier, ein Klick dort. Dann scrollte sie durch eine Liste. „Ah, hier haben wir die Dame ja.“ Sie klickte die Datei an und runzelte dann die Stirn. Nach einem Moment fragte sie dann: „Bist du dir sicher, dass ich das löschen soll? Das ist schon bei den Teamleitern.“
Mist. „Nein, nicht mehr. Es ist uns zum Glück aufgefallen, bevor Romeo ein Team in das Haus der Dame geschickt hat. Die Frau hätte wahrscheinlich ein Herzinfarkt bekommen, wenn wir ihr Haus gestürmt hätten.“
„Mein Gott, das ist aber ein echt dummer Scherz.“ Future schüttelte wieder den Kopf und fing dann an die Daten und alles was zu ihnen gehörte von der Festplatte zu tilgen.
Ich sah mich währenddessen unruhig um. Wenn irgendjemand mitbekam, was ich hier tat, würde ich das Vertrauen der Themis auf ewig verlieren. Aber ich konnte auf keinen Fall riskieren, dass irgendjemand auf Jegor aufmerksam wurde.
„So, uuund … alles weg.“ Future grinste mich an. „Und wenn du herausbekommst, wer diesen Unfug verzapft hat, dann hau ihm bitte eine runter.“
Damit müsste ich dann wohl mir eine knallen. Oder Jegor. „Alle Daten sind weg?“, fragte ich, um auf Nummer sicher zu gehen. „Von allen Geräten?“
„Jup, nichts mehr da.“
„Auch nicht auf externen Geräten?“
Nun schaute sie mich ein wenig seltsam an. „Wenn sie angeschlossen sind, dann ja.“
Wenn sie angeschlossen waren. Das war eine Einschränkung. Gar nicht gut. Aber wenn ich jetzt noch mehr drängte, dann würde sie vielleicht misstrauisch werden. Ich musste einfach hoffen, dass wirklich alle Daten verschwunden waren. „Okay, danke dir. Wir sehen uns dann später.“
Als ich mich abwandte, verspürte ich ein kleinen wenig Erleichterung. Jetzt musste ich nur noch das Zeug in meinen Armen vernichten, dann hatte ich die Katastrophe in letzter Sekunde abgewandt. Hoffentlich. Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was geschehen wäre, wenn ich die Unterlagen nicht rechtzeitig erkannt hätte.
Ich atmete einmal tief ein, um mich selber zu beruhigen. Dabei bemerkte ich, dass Tristan in der Tür zu dem kleinen Nebenraum stand und mich stirnrunzelnd beobachtete. Hatte er etwas gesehen? Ahnte er was?
Verdammt, ich durfte mich nicht selber verrückt machen. Ich hob die Hand zu zum Gruß und wollte mich dann eilig davon machen. Leider funktionierte das nicht so schnell, wie ich mir das vorstellte. Kaum dass ich einen Fuß aus der Zentrale gesetzt hatte, rief jemand meinen Namen. Miguel.
Werd jetzt bloß nicht nervös. Ich drehte mich herum.
Miguel kam mit langen Schritten den Korridor herunter. „Ich warte bereits den ganzen Morgen auf dich“, begrüßte er mich.
„Ich war beschäftigt“, erklärte ich und versicherte mich mit einem schnellen Blick, dass nichts aus meinem Ordner herausschaute.
„Ja, wir sind hier auch beschäftigt. Komm.“ Ohne auf mich zu warten, trat er in die Zentrale.
Verdammt. Ich musste ihm folgen, alles andere wäre zu auffällig.
„Wir haben die Themis in ganz Europa informiert und auf verschiedene Stützpunkte zusammengezogen“, erklärte er und trat an einen Computer in der Ecke. Ohne sich hinzusetzen, begann er auf der Tastatur zu tippen. „Wir wollen ein Exempel statuieren und die ganzen Rattenlöcher gleichzeitig ausräuchern, damit keiner von ihnen vorgewarnt ist. Aber dafür brauche ich mehr Leute. Ich wollte dich bitten, uns Wächter zu geben, alle die du entbehren kannst, damit wir so schnell wie möglich zuschlagen können.“
Das würde nicht ganz einfach zu koordinieren sein, aber wenn es uns wirklich gelang, konnten wir sie damit bis ins Mark treffen. „Kein Problem. Wann brauchst du die Wächter?“
„Sofort. Die Themis stehen schon in den Startlöchern und warten nur darauf, dass sie loslegen können.“
„In Ordnung. Ich werde meinen Großwächter Edward zu dir schicken.“ Ein lautes Lachen, machte mich auf den Tisch in der Mitte aufmerksam. Lucy hatte den Kopf in den Nacken geschmissen und schien sich köstlich über etwas zu amüsieren, was Alexia zu ihr gesagt hatte. „Er wird die Wächter zuteilen und dir bei der Koordinierung helfen.“
„Ich hätte auch nichts gegen zwei drei Umbras, wenn du welche entbehren kannst.“
„Ich werde sehen, was sich machen lässt.“ Unschlüssig schaute ich von Lucy zu ihm. „Du könntest auch etwas für mich tun.“
„Hat das noch Zeit?“, fragte er, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. „Wir sind hier gerade ein wenig beschäftigt.“
„Nein, es hat keine Zeit und es dauert auch nicht lange.“ Ich warf einen kurzen Blick zu Lucy. „Aber es ist überaus wichtig.“
„Wichtig?“
Lebenswichtig sogar. „Du musst Letisha von ihrem Posten abziehen. Sie darf nicht mehr zu den Skhän gehen, sie wurde als Maulwurf enttarnt.“
Miguels Finger verharrten mitten in der Bewegung. „Was redest du da? Ich habe erst vor einer Stunde ihnen Bericht bekommen. Die Skhän hegen keinerlei Verdacht gegen sie.“
„Vielleicht war das noch so, als sie das letzte Mal bei ihnen war, aber jetzt ist es anders. Letisha ist entlarvt und wenn du sie noch einmal zu den Skhän schickst, wird ein schneller Tod für sie das wohl noch humanste Schicksal sein.“
Miguel reichtet sich langsam auf. „Woher weißt du das?“
Das war eine ausgezeichnete Frage. Schade nur, dass ich darauf keine zufriedenstellende Antwort hatte. „Ich habe meine Quellen.“
„Quellen? Das ist deine Antwort?“ Nun ging auch sein Blick kurz zu Lucy. „Sie ist die beste Informationsquelle, die wir jemals hatten. Es ist uns noch nie zuvor gelungen, jemanden so tief hinter die feindlichen Linien zu bringen. Jemanden neues einzuschleusen würde Jahre in Anspruch nehmen.“
„Das ist mir bewusst, aber es ändert nichts daran, dass sie dort nicht mehr sicher ist. Du musst sie von dem Posten abziehen.“
Miguel schüttelte den Kopf und schnaubte. Er konnte kaum glauben, was ich hier sagte. „Wer ist deine Quelle?“
Dazu schwieg ich wohl besser.
„Wirklich?“, fragte er. „Du tauchst hier auf, erzählst mir sowas und willst mir dann noch nicht mal sagen, woher du das weißt?“
„Es ist egal, woher ich das weiß, wichtig ist nur, dass sie nicht mehr dort hin geht.“ Ich sah ihm fest in die Augen. „Bitte. Ich würde nicht zu dir kommen, wenn ich mir nicht sicher wäre.“
Er stemmte die Arme in die Hüfte und begann unwillig auf seiner Unterlippe herumzukauen. „Wir können nicht so einfach auf sie verzichten.“
„Wenn du das so siehst, dann werde ich sie einsperren lassen.“
„Was?“ Damit hatte er nicht gerechnet.
„Es tut mir leid, ich will das nicht, aber ich werde nicht zulassen, dass ihr etwas passiert. Letisha kann nicht mehr zurück. Wenn du das nicht einsiehst, werde ich sie zu ihrer eigenen Sicherheit einsperren lassen, bis ihr alle Vernunft angenommen habt.“ Ich drückte den Ordner ein wenig fester an mich. Alles nur wegen diesem Mistkerl. „Versteh mich bitte, Miguel. Ich will dir nicht in deine Arbeit hinein pfuschen, aber dieses Mal musst du auf mich hören.“
Das wollte er nicht und das nicht nur, weil ich ein Alpha war und er mich alleine wegen dieser Tatsache nicht besonders leiden konnte. Aber er merkte wie ernst es mir war. „Na gut, okay, ich werde mit ihr reden.“ Er schnaubte. „Sie wird nicht sehr erfreut sein.“
Nein, das würde sie nicht. „Danke, du machst das Richtige.“
„Ja, das werden wir wohl noch merken, nicht wahr?“ Er wandte sich wieder dem Computer zu. „Wenn du dann bitte das mit den Wächter in die Wege leiten könntest, wir wollen heute Abend gerne zuschlagen.“
Ja, das war auch eine nette Möglichkeit mir mitzuteilen, dass ich jetzt besser verschwand. „Natürlich. Ich werde dir gleich meinen Großwächter schicken.“ Bevor ich mich abwandte und ging, warf ich noch mal eine Blick zu Lucy.
Nein, sie würde wirklich nicht erfreut sein, wenn sie erfuhr, dass ich ihre Arbeit sabotierte. Aber besser so, als wenn sie starb, weil ich nichts unternahm.
Mit den Papieren im Arm humpelte ich zurück ins Schloss und verbarrikadierte mich in meinem Büro an der Bibliothek. Ich musste dieses Zeug vernichten, damit es niemanden mehr in die Hände fallen konnte. Was bot sich da auf die Schnelle besser an, als mein Kamin?
Ich warf alles hinein und verbannte es bis nur noch Asche davon übrig war. Niemand würde in Markis Jegors Haus eindringen, das durfte ich nicht zulassen, denn es würde viel zu viele Leute unglücklich machen.
Erst als wirklich nichts mehr übrig war, griff ich zum Telefon und bestellte Großwächter Edward rüber zu den Themis. Danach begann für mich der ganz normale Altgaswahnsinn. Umziehen, Medikamente, Besprechungen. Gegen zwei schaffte ich es meinen Sohn ganze fünf Minuten bei seinem Mittagsschläfchen zu beobachten, bevor die Arbeit wieder an meine Tür klopfte.
Wie die meisten meiner Nachmittage, verbrachte ich auch diesen in meinem Büro über einem Berg von Papieren, aber heute bekam ich kaum etwas auf die Reihe. Nicht nur weil die Ereignisse mir noch immer im Kopf herumspukten und mich immer wieder ablenkten. Sydney fehlte mir.
Selbst wenn er nur still im Raum lag und mich beobachtete, war das Arbeiten angenehmer. Und in einer solchen Situation hätte ich wirklich jemanden zum Reden gebraucht, dem ich mich anvertrauen konnte und der meinen Standpunkt und meine Reaktion verstehen würde.
Aber ich traute mich nicht ihn aufzusuchen. Nicht nur wegen unserer letzten Begegnung, auch wegen dem, was in der letzten Nacht geschehen war.
Es war mein Ernst gewesen, ich bereute es nicht und das verschlimmerte mein schlechtest Gewissen auch noch.
Sydney wollte, dass ich nachdachte und mir über meine Gefühle klar wurde. Er wollte eine Entscheidung zwischen ihm und Raphael. Aber wie sollte ich das machen?
Mit Raphael zusammen zu sein, hatte sich richtig angefühlt. Lag es daran, dass Sydney und ich uns schon lange nicht mehr so nahe gewesen waren, oder weil es einfach richtig?
Als meine Gedanken sich nur noch im Kreis drehten, beschloss ich einen abendlichen Spaziergang durch den Garten zu machen. Ich musste einfach meinen Kopf frei bekommen, wenn ich nicht wollte, dass er demnächst explodierte.
Die kühle Abendluft war angenehm und für Ende März auch sogar ziemlich warm. Einen Moment konnte ich die Einsamkeit hier draußen wirklich genießen und den ganzen Stress beiseiteschieben. Doch dann schoss Lucy um die Ecke und sie war richtig angepisst.
„Was bildest du dir eigentlich ein wer du bist?!“, fauchte sie mich schon von Weitem an und erregte damit meine Aufmerksamkeit. „Du kannst mich doch nicht einfach so von meinem Posten abziehen!“
Direkt hinter ihr waren Raphael und Tristan. Der Blondschopf wirkte nicht weniger wüten, als Lucy, nur Raphael war eher nachdenklich.
„Ich habe dich nicht abgezogen, sondern Miguel. Solche Entscheidungen stehen mir nicht zu.“
„Miguel hat gesagt, dass du ihn angewiesen hast, weil meine Deckung aufgeflogen sei!“
„Ich habe es empfohlen“, erwiderte ich ruhig. Auf ihr Geschrei durfte ich mich nicht einlassen. Sie hatte alles Recht der Welt sauer zu sein, aber es half niemanden, wenn ich zurück schrie. „Genaugenommen habe ich ihm gesagt, entweder er zieht dich ab, oder ich lasse dich einsperren.“
„WAS?!“ Das kam zur allgemeinen Überraschung von Tristan. Er sah aus, als wollte er mir gleich den Kopf abreißen. „Ich warne dich, Cayenne, treib es nicht zu weit. Wenn du ihr auch nur ein Haar krümmst, dann …“
„Du solltest diesen Satz besser nicht beenden“, warnte Raphael.
„Warum? Irgendjemand muss ihren ganzen Eskapaden doch mal einen Riegel vorschieben und das hier geht einfach zu weit!“
„Cayenne hat sicher einen guten Grund, warum sie das tut. Also halt dich zurück.“
„Eine wage Auskunft, mehr hat sie uns nicht gegeben.“ Seine Augen richteten sich auf mich und ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn schon einmal so wütend erlebt zu haben. „Warum gibst du uns nicht mehr? Warum sagst du uns nicht, woher du deine Informationen hast? Ich habe deine ewige Geheimniskrämerei und Halbwahrheiten sowas von satt, sag uns endlich, woher du das weißt!“
Ich kniff die Lippen zusammen. Ich verstand ihn ja, aber ich war hier nicht der Feind. Es war nicht fair, dass er mich so anknurrte, weil ich seine Freundin beschützen wollte. Selbst Lucy war bei Tristans Ausbruch verstummt.
„Sag es uns“, knurrte er mich an.
Ich hielt seinem Blick stand,.
„SAG ES UNS!“ Er kam einen wütenden Schritt näher.
Ich wich nicht zurück. Ich war die Königin, ich hatte mehr Macht und wenn ich es wollte, konnte ich ihn allein durch seine Instinkte in die Flucht schlagen. „Das Einzige was ihr wissen müsst, ist, dass der Auftrag bei den Skhän nicht mehr sicher ist.“ Ich richtete meine nächsten Worte direkt an sie. „Du bist enttarnt, sie wissen dass du für die Themis arbeitest und wenn du dich nicht von ihnen fernhältst, dann lasse ich dich einsperren und bewachen, bis du wieder zur Vernunft kommst.“
„Das kannst du nicht tun, dazu hast du kein Recht!“
„Ich kann und ich werde.“ Ich wollte nicht zusehen, wie diese Familie ein zweites Mal brach, dazu hatte ich nicht die Kraft.
„Du bist ein mieses Stück Scheiße! Ein machthungriges Miststück, das keinen Deut besser ist, als König Isaac!“ Sie fauchte mir diese Worte direkt ins Gesicht und fügte dann noch hinzu: „Wärst du doch damals bloß draufgegangen und nicht Prinz Kaidan.“ Damit wandte sie sich von mir ab und stampfte wütend davon.
Auch Tristan warf mir noch einen drohenden Blick zu, bevor er ihr folgte und mich mit Raphael allein zurück ließ.
Ich versuchte es mir nicht anmerken zu lassen, aber diese Worte trafen mich – besonders da die Beziehung zwischen uns gerade erst ein wenig besser geworden war. Natürlich, sie war wütend, aber ich wollte sie doch nur beschützen.
Raphael kam mit langsamen Schritten auf mich zu und zog mich in seine Arme. „Sie hat das nicht so gemeint“, versuchte er mich zu trösten.
„Doch, das hat sie und das weißt du ganz genau.“
„Sie ist nur wütend.“
„Und das mit gutem Grund.“ Sie hatte so hart dafür gearbeitet, bei den Skhän in eine Position zu kommen, die sich für die Themis rechnete. Jedes Mal wenn sie dorthin musste, hatte sie mit ihrem Leben gespielt und jetzt machte ich ihr alles kaputt.
„Warum kannst du nicht einfach sagen, woher du es weißt, hm?“ Er neigte den Kopf so, dass er mir ins Gesicht sehen konnte. „Was kann denn schon Schreckliches passieren?“
Ich biss mir auf die Lippen. Er hatte ja keinen blassen Schimmer, was für eine Lawine es auslösen würde, wenn ich den Mund aufmachte.
„Bitte, Cayenne, rede doch endlich mit mir.“
„Ich … ich kann nicht.“ Ich machte mich von ihm frei und kehrte ihm den Rücken. „Bitte, hör auf mich weiter zu bedrängen. Ich werde es dir nicht sagen und dein ständiges fragen macht mich nur sauer.“
„Warum? Glaubst du ich würde damit hausieren gehen?“ Er trat wieder an mich heran und legte mir von hinten die Hände an die Taille. „Oder das ich deine Geheimnisse nicht bewahren würde?“
„Nein.“
„Dann vertraust du mir nicht.“
Das war unfair. „Das hat nichts mit Vertrauen zu tun, es ist einfach etwas, das dich nichts angeht.“
Er drehte mich wieder zu sich herum und schaute mir fest in die Augen. Die Farbe seiner Pupillen verdunkelte sich ein wenig. Wäre er nicht Raphael, würde das ausreichen, um mich in Panik zu versetzen, aber Raphael würde seine Repression beim mir niemals einsetzen.
„Warum machst du nicht endlich den Mund auf?“, fragte er leise.
Verdammt. „Weil es geht nicht.“
„Warum geht es nicht?“
„Hör auf, Raphael.“
„Erst wenn du mir einen Grund nennst.“
„Das geht nicht.“ Ich wollte mich wieder von ihm frei machen, aber er hielt mich fest. „Verdammt, lass mich los.“
„Warum?“
Konnte er nicht endlich aufhören? „Bitte, lass es doch einfach.“
„Warum?“
„Verdammt, Raphael, hör endlich auf. Ich kann es dir nicht sagen, akzeptiere das doch einfach!“
Natürlich tat er das nicht. „Nein, ich will wissen warum.“
„Ich werde es dir nicht sagen!“
„Warum?“
„Weil dann ein jemand sterben wird, darum!“ Scheiße! Ich stieß ihn von mir weg und fuhr mir unruhig mit den Händen durch die kurzen Haare. Das hätte ich nicht sagen dürfen. Warum hatte er mich denn nicht einfach in Ruhe gelassen?
Nach dieser Eröffnung, brauchte Raphael einen Moment, um seine Stimme wiederzufinden. „Was sagst du da?“
Ich wandte mich ab und wollte loslaufen, bevor ich noch etwas verriet, was mir wirklich leidtun würde. Doch leider packte Raphael meinen Arm und hielt mich fest.
„Du wirst jetzt nicht einfach davon laufen, nicht bevor du mir geantwortet hast. Wer wird sterben?“
Ich schüttelte nur unwillig den Kopf, nicht bereit auch nur noch ein weiteres Wort zu dem Thema fallen zu lassen.
Er wartete auf eine Antwort und als keine kam, begann er unwillig den Kopf zu schütteln. „Verdammt, in was hast du dich da reingeritten? Ich verstehe es nicht, nichts von dem was du sagst, ergibt irgendeinen Sinn.“
Aber auch nur, weil ihm ein Haufen Puzzleteile fehlten.
Ich wollte mich abwenden, doch da ergriff er mein Kinn und drehte meinen Kopf, sodass ich ihn ansehen musste.
„Warum lässt du dir nicht helfen?“, fragte er leise.
„Weil niemand in der Lage ist mir zu helfen.“
Er schüttelte den Kopf, nicht bereits das einzusehen. „Das kannst du doch gar nicht wissen.“
Leider tat ich das doch. „Bitte, lass es jetzt einfach gut sein.“
„Aber …“
„Bitte.“ Er sollte einfach aufhören. Ich wollte nicht mehr daran denken und auch nicht mehr darüber reden. Ich wollte das ganze einfach vergessen.
Raphael seufzte schwer. „Okay, ich werde nicht mehr fragen.“
°°°°°
„… alles ist niedergebrannt, es ist nichts mehr da.“ Die Stimme der braunhaarigen Lykanerin brach einfach weg. „Ich weiß nicht … ich weiß nicht mehr weiter.“
Ich erhob mich von meinem Thron und stieg von dem Podest, um mit der Frau auf gleicher Augenhöhe zu sprechen.
Wie jeden letzten Samstag im Monat, war heute Tag der offenen Tür und bereits seit Stunden hörte ich mir die Gesuche der Bittsteller an, doch diese Frau hatte wirklich einen Schicksalsschlag nach dem anderen einstecken müssen.
Erst war ihr Haus nach einem Kurzschluss bis auf die Grundmauern niedergebrannt und die Versicherung weigerte sich für den Schaden aufzukommen. Infolge dessen hatte sie ihren Job verloren und war kurz darauf auch noch schwanger geworden. Leider schien ihr Freund etwas gegen Kinder zu haben. Kaum dass er von dem drohenden Nachwuchs erfahren hatte, war er einfach verschwunden. Sie hatte auch weiter keine Familie und stand nun völlig mittellos ganz alleine da.
„Bitte, ich weiß nicht mehr, was ich tun soll“, sagte sie, als ich meine Hand auf ihre legte.
„Sie hätten gleich zu mir kommen sollen und nicht bis heute warten. Ich werde dafür sorgen, dass man Ihnen hilft. Es kommt alles wieder in Ordnung, das verspreche ich Ihnen.“
„Oh danke, vielen Dank.“ Sie umklammerte meine Hand so fest, dass es schon beinahe wehtat. „Ihr seid zu gütig.“
Das zauberte ein nicht ganz ehrliches Lächeln auf mein Gesicht. Güte war etwas, dass ich nicht wirklich in mir trug. „Ist doch selbstverständlich. Ich werde mich noch heute darum kümmern, dass alles in die Wege geleitet wird, aber bis es soweit ist, würde ich mich freuen, wenn sie Gast in diesem Schloss sein würden.“
„Was?“ Damit hatte sie nun gar nicht gerechnet.
„Bis wir alles geklärt haben, beziehen sie hier ein Zimmer. Sie können sich ausruhen und ein wenig entspannen, während alles weitere für Sie geklärt wird.“
Erst schaute sie mich nur an und dann begann sie aus tiefstem Herzen zu weinen. Diese Frau hatte in der letzten Zeit so viel Schlechtes erlebt, dass so ein bisschen Freundlichkeit für sie das pure Glück war. Dabei machte es mir nicht mal Umstände. Ich hatte so viele leere Zimmer und Mäulchen mehr, das mitgefüttert wurde, fiel bei den ganzen Leuten hier nun wirklich nicht weiter ins Gewicht.
Sie bedankte sich noch dutzende von Malen, bevor ich sie mit einem Bediensteten wegschickte, der ihr ein Zimmer geben würde.
Manchmal war es einfach nur schrecklich, was den Leuten so passierte.
Müde rieb ich mir übers Gesicht mich und quälte zurück auf meinen Thron. Der bisherige Tag war sehr lang gewesen und er schien einfach kein Ende nehmen zu wollen. Mir knurrte der Magen, vom vielen Sitzen tat mir der Hintern weh und auch wenn ich keine Krücke mehr brauchte, die Wunde an meinem Bein pochte noch immer munter vor sich hin.
„Vielleicht solltest du für heute Schluss machen.“ Nikolaj legte zögernd seine Hand auf meine und drückte sie leicht. „Du bist erschöpft.“
„Nein, ich kann die Leute da draußen nicht einfach wegschicken.“ Ich ließ die Hand sinken und gab dem Wächter an der Tür mit einem Zeichen zu verstehen, dass er den nächsten hereinschicken sollte.
Außer mir und Nikolaj befanden sich im Thronsaal noch ein halbes Dutzend Umbras und doppelt so viele Wächter. Sie waren nicht nur zu unserem Schutz hier, sondern auch, um für Ordnung zu sorgen.
Etwas seitlich saß eine ältere Dame, die alles dokumentierte, war hier besprochen wurde, damit wir auch nichts vergessen konnten. Dabei gab es so einige Dinge, die gerne vergessen würde. Wie zum Beispiel die Sache mit Lucy.
Zwei Tage waren seit unserem Zusammenstoß vergangen. Seit dem ging sie mir aus dem Weg. Zwar hielt sie sich an Miguels Entscheidung, aber sie ließ keine Gelegenheit aus, um ihren Unmut über mich Ausdruck zu verleihen. Und Tristan half ihr auch noch dabei.
Er war stinksauer auf mich und auch wenn ich es versuchte zu verbergen, verletzte mich seine abweisende Art.
Mit Raphael dagegen lief es gut. Abends konnte ich mich bei ihm verschanzen und alles andere einfach aussperren. Es war nicht das, was wir früher hatten, aber wir nährten uns langsam wieder an. Wäre da nur nicht mein extrem schlechtes Gewissen.
Wenn ich mit Raphael zusammen war, kam meine Welt für kurze Zeit zur Ruhe, doch sobald ich aus dieser kleinen Blase des heimlichen Glücks heraustrat, musste ich an Sydney denken.
Ich hatte ihn nicht mehr aufgesucht, seit ich ihn so angeschrien hatte und er hatte sich nicht die Mühe gemacht, einfach mal bei mir vorbeizuschauen. Er fehlte mir. Er fehlte mir so unglaublich und trotzdem ging ich immer wieder zu Raphael. Ich traute mich nicht mehr, ihm unter die Augen zu treten. Er wollte mich ja auch gar nicht sehen, nicht solange ich keine Entscheidung getroffen hatte und für die war ich einfach noch nicht bereit.
„Das dauert aber ganz schon lange“, überlegte Nikolaj in meine Gedanken hinein und furchte die Stirn dabei ein wenig.
Jetzt wo er es sagte … es sollte schon längst der nächste Bittsteller im Saal sein. „Vielleicht haben sie wieder eine Diskussion darüber, wer als nächstes an der Reihe ist. Wir sollten überlegen, in Zukunft Nummern zu verteilen.“
„Dann würden sie vermutlich anfangen, sich um die Nummern zu streiten.“
Wahrscheinlich. Ich lehnte mich zurück und zog ein Knie unters Kinn. Wenn das so weiterging, würde ich auf diesem Sitz bald festwachsen.
Während wir weiter warteten, schweiften meine Gedanken zu den Themis. Die Ausräucherung der Skhän war auf ganzer Linie ein voller Erfolg gewesen. Wir hatten keine Toten zu verzeichnen, nur ein paar Verletzte, die mit ein wenig Ruhe alle wieder auf die Beine kommen würden.
Die Zahl der geretteten Sklaven ging weit über unsere Erwartungen hinaus und auch wenn die meisten von ihnen bereits auf dem Weg zurück zu ihren Familien waren, würden wir wohl noch Wochenlang mit den Folgen dieser Ausräucherung zu tun haben.
Doch das war es wert. Nicht nur, weil wir ihnen hatten helfen können, wir hatten auch ein so große Loch in die Reihen der Skhän gesprengt, dass es mit ein bisschen Glück Jahre dauern würde, bevor sie wieder halbwegs auf die Beine kamen.
Natürlich hatte es Tote gegeben und die, die wir hatten lebend gefangennehmen können, würden nach einer Überprüfung entweder aus dem Rudel verstoßen oder hingerichtet werden.
Das klang vielleicht hart, aber nur so wurden wir Herr der Lage.
Und jetzt wo sie geschwächt waren, durften wir natürlich nicht nachlassen. Ich hatte schon mit Murphy gesprochen und weitere Pläne geschmiedet. Jetzt waren die Skhän schwach, jetzt mussten wir wieder zuschlagen, immer und immer wieder, bis sie einfach nicht mehr in der Lage wären, sich davon zu erholen. Das war mein Ziel.
Nikolaj trommelte unruhig auf seiner Lehne herum. „Was ist da nur los?“
„Keine Ahnung.“ Ich ließ mein Bein sinken und stand auf. „Aber ich werde mal nachsehen.“ Sofort waren Diego und Ginny hinter mir. Das Augenverdrehen konnte ich mir gerade noch so verkneifen. „Immer mit der Ruhe, ich will nur in die Eingangshalle gehen und nicht in den Krieg ziehen.“
Das schien in ihren Augen keinen großen Unterschied zu machen.
Bitte, dann sollten sie halt machen.
Ich gab dem Wächter an der Tür ein Zeichen, sie für mich zu öffnen, doch ich kam nicht mehr dazu hindurch zu gehen, weil in dem Moment Umbra Logan durch die Tür geeilt kam und mich dadurch in den Saal zurückdrängte.
„Es gibt ein Problem.“
Etwas in seiner Stimme, versetzte mich sofort in Alarmbereitschaft. „Was für ein Problem?“
„Wir haben einen unidentifizierten Eindringling im Schloss. Ein Wächter wurde bewusstlos aufgefunden und einer der Bittsteller behauptet, etwas Großes draußen herumschleichen gesehen zu haben. Es war aber zu schnell wieder verschwunden, um näheres erkennen zu können. Ich habe die Wachen bei Prinz Aric bereits verdoppelt.“
„Moment, was? Warum sollte den hier jemand eindringen?“ Was gab es in diesem Schloss den schon großartig? Naja, abgesehen von den ganzen Wertsachen und jeder Menge Themis. Ach ja, ich lebte hier ja auch noch. „Schon gut, darauf brauchen Sie nicht zu antworten.“
An meiner Seite erschien Nikolaj mit seinen Umbras. „Wir müssen Cayenne in Sicherheit bringen.“
„Bitte?“ Ich sollte mich verstecken, während hier irgendjemand in meinem Heim sein Unwesen trieb? „Ich werde mich bestimmt nicht irgendwo verkriechen.“ Das konnten sie direkt vergessen.
„Bitte Cayenne, tu einmal was man dir sagt.“
„Euer Gefährte hat Recht“, mischte sich Umbra Logan ein. „Ihr müsst Euch …“
„Ich muss da raus und sehen was los ist. Ich kann mich doch nicht einfach wie ein Kaninchen in einem Loch verstecken.“
„Aber Königin Cayenne, Ihr müsst …“
„Hören sie auf damit und machen sie sich lieber nützlich. Ich will weitere Wächter und Umbra bei Aric und Samuel und zwar pronto, also los.“
„Cayenne“, beschwor Nikolaj mich. „So sei doch vernünftig.“
„Das bin ich und deswegen werde ich jetzt auch …“
Ein markerschütternder Schrei aus der Eingangshalle, ließ uns alle herumfahren. Nicht mal den Bruchteil einer Sekunde später war ich durch die Tür gestürmt und was ich da sah, war so unglaublich, dass ich ein paar Mal blinzeln musste, um mich zu vergewissern, dass meine Augen mich nicht betrogen.
Mitten in meiner Eingangshalle stand ein Ailuranthrop.
Fauchend und schwanzpeitschend trieb er die Bittsteller auseinander und schien unter den Leuten nach jemand zu suchen.
Ein paar Wächter versuchten den schwarzen Panther einzukreisen. Er war mager, kaum mehr als ein Skelett. Die Haut spannte über den Knochen und ließ mich jede einzelne Rippe erkennen. Der schwarze Pelz war stumpf und ungepflegt und der Geruch, der von diesem Vieh ausging … igitt.
Neben mir gab Nikolaj ein ersticktes Geräusch von sich und zog damit die Aufmerksamkeit des Werleoparden direkt auf uns. Genauer gesagt auf mich.
Er hörte auf zu fauchen und neigte den Kopf ein wenig zur Seite. „In der Stunde der Entscheidung, wird er sich verlieren und damit zur Offenbarung des Verborgenen.“
Meine Augen wurden ein wenig größer. „Tarajika?“
„Hörst du? Sie erinnert sich an mich.“
Mit wem genau sie da sprach, erschloss sich mir nicht. Im nächsten Moment war mir das auch völlig egal, denn plötzlich sprang sie los und stürzte direkt auf mich zu.
Ich hatte keine Chance auszuweichen. Ich Körper war wie ein Rammbock, der uns beide zu Boden riss.
Ich knallte so hart auf den Boden, dass mir die Kopfschmerzen sicher ein paar Tage erhalten bleiben würden. Dann schob sie ihren riesigen Schädel direkt vor mein Gesicht. Ich konnte ihren fauligen Atem riechen und nein, mir entgingen auch ihre riesigen Zähne nicht.
Diego und Ginny stürzten schon auf mich zu, da sagte sie ganz unerwartet: „Klopf Klopf.“
Ich brauchte eine wertvolle Sekunde, um diese zwei Worte zu verarbeiten. „Stopp!“, rief ich dann und entließ eine Welle meines Odeurs. Die war nicht für Tarajika gedacht, sondern für die ganzen Lykaner, um uns herum.
„Komm schon Cayenne“, ermutigte sie mich. „Spiel mit mir. Klopf Klopf.“
Nikolaj war kreidebleich geworden.
Diego und Ginny hielten an und auch die anderen Lykaner wagten es nicht mehr sich zu bewegen. Ob nun wegen dem Vieh, dass da auf mir drauf hockte, oder wegen dem Odeur, wusste ich nicht. Vielleicht eine Mischung aus beidem.
Als ich nichts weiter tat, als sie schon allein wegen der Absurdität dieser Situation anzustarren, wippte sie ungeduldig mit dem Kopf. „Klopf, Klopf“, sagte sie noch einmal sehr nachdrücklich.
Okay, das hier wurde langsam zu einem der schrägsten Tage meines Lebens. „Wer ist da?“
„Ich.“
Die Umbra und Wächter standen unschlüssig um uns herum, und wussten nicht recht was sie tun sollten. Ihre Königin lag unter einem Ailuranthropen begraben, wollte aber nicht gerettet werden.
„Wer ich?“
„Na ich, du Dumpfbacke. Siehst du mich nicht?“ Sie verlagerte ihr Gewicht ein wenig und kicherte wie ein kleines Mädchen. „Ich sitze doch direkt auf dir drauf.“
Also an dieser Stelle musste ich einmal erwähnen, dass ich ihre Klopf-Klopf-Witze absolut nicht lustig fand. „Wenn es dir keine Umstände macht, würde ich es begrüßen, wenn du dich neben mich setzt. Deine Pfote drückte mir in den Bauch.“
Sie hob besagte Pfote, als wunderte sie sich, dass es ihre war. Dann zuckte sie nur mit den Schultern und sprang neben mich. Gott, sie sah noch schlimmer aus, als bei unserem letzten Treffen. Sie war nicht nur mager und ungepflegt, sie war auch völlig verwahrlost. Was hatte Jegor nur …
Oh mein Gott.
Ich setzte mich so abrupt auf, dass ich die Lykaner um mich herum damit halb erschreckte und wieder in Alarmbereitschaft versetzte. Tarajka war hier, Jegors Tarajika. Kein Wunder, dass Nikolaj so blass war.
„Ähm“, machte und wurde mir erst dann der Zuschauermenge um uns herum bewusst. Das konnte ich jetzt gar nicht gebrauchen. „Umbra Logen, bitte sorgen sie dafür, dass die Eingangshalle sich leer, ich werde heute niemanden mehr empfangen. Und du kommst mit mir“, sagte ich zu Tarajika und hoffte, dass sie auf mich hören würde.
Sie schaute mich aus großen, unschuldigen Augen an. „Du hast nicht bitte gesagt.“
Ich hatte nicht … verdammt, das war doch gerade völlig scheiß egal. Tarajika war hier, in meinem Schloss! Ich musste herausfinden, wie das passiert war und vor allen Dingen, was das zu bedeuten hatte. „Bitte“, beschwor ich sie und warf einen nervösen Blick zu Nikolaj. Auch er schien mit dieser Situation ein wenig überfordert zu sein.
„In Ordnung.“ Der magere Panther sprang auf die Beine, hüpfte drei Schritte vorwärts und blieb dann wieder stehen. „Ich habe hunger.“
Ich war gerade dabei mir den Dreck vom Kleid zu klopfen, hielt dann aber wieder inne. „Was?“
„Hunger“, wiederholte sie, als wäre ich schwer von Begriff. „Mika sagt, du hast Essen.“
Wer zur Hölle war jetzt wieder Mika? „Ja, ich …“ Ich schaute mich um und pikte mir den erstbesten Lykaner heraus, den meine Augen erfassten. „Würden Sie bitte in die Küche gehen und etwas Essbares für unseren Gast besorgen?“
„Natürlich.“ Noch eine kleine Verbeugung und dann befand er sich auch schon auf den Weg in die Küche.
„Und du komm jetzt bitte mit“,
Tarajika ließ den Blick einmal durch den Saal schweifen. „Für eine Sklavin hast du es ganz schön weit gebracht.“
Ich versteifte mich bei ihren Worten und spürte plötzlich einen sehr eindringlichen Blick im Rücken, der nur von Diego stammen konnte. Scheiße! „Tarajika, bitte.“
„Na gut.“ Sie gesellte sich an meine Seite und folgte mir dann quer durch die Eingangshalle.
Wir hatten die Bibliothek fast erreicht, als ich meine Schatten bemerkte. „Ihr bleibt hier“, befahl ich und hielt der Katze die Tür auf.
Diegos Gesicht wurde finster.
„Das ist keine Bitte“, sagte ich sehr nachdrücklich, als er sich wieder in Bewegung setzten wollte. Ich warnte alle noch mit einem Blick davor mir hinterher zu kommen, dann folgte ich Tarajika in die Bibliothek, die sie mit großen Augen anschaute. Doch erst, als ich die Tür fest hinter mir verschlossen hatte, wandte ich mich an sie. „Warum bist du hier?“ Nein, ich konnte einfach nicht mehr warten, bis wir in meinem Büro waren. Da sie hier war, machte mich wirklich unruhig.
Die große Katze drehte mir den Kopf zu, neigte ihn dann ein wenig zur Seite und sagte: „Sage ich dir nicht.“
Nein, ich würde mich jetzt nicht aufregen. „Bitte Tarajika.“
„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf und schaute dann zu den Regal hinüber.
Als ich ihrem Blick folgte, versteifte ich mich ein wenig. Ein Stück den Gang hinunter stand Sydney aufrecht an einem der Regale, als würde er ein Buch suchen. Jetzt jedoch schaute er mich an.
Dieser unerwartete Anblick versetzte mir einen Stich. Ich hatte ihn seit Tagen nicht mehr gesehen und erst in diesem Moment merkte ich, wie sehr ich ihn vermisste. Aber er hatte mich die ganze Zeit nicht einmal aufgesucht und ich … ich war zu feige, um ihn aus eigenem Antrieb unter die Nase zu treten.
Langsam glitt sein Blick von mir zu Tarajika und blieb auf ihr heften. Zögernd, als wollte er sich eigentlich davon abhalten, ließ er sich auf den Boden fallen. Dann machte er einen Schritt auf mich zu. Und noch einen.
„Ich habe immer noch Hunger.“
Mist. „Ja, dein Essen kommt gleich, aber … bitte, wie bist du hier her gekommen?“
„Gelaufen.“ Sie ließ sich auf den Boden plumpsen, drehte sich auf den Rücken und streckte die Beine in die Luft, als wäre das hier irgendein Spiel. „Es war gar nicht so weit. Aber meine Pfoten tun weh. Ich bin schon lange nicht mehr so viel gelaufen.“
Ja, denn in ihrem Käfig bei Jegor hatte sie nicht viel Platz gehabt. Und damit waren wir wohl beim wichtigsten Teil angekommen. „Warum bist du nicht mehr bei Jegor? Wie bist du entkommen?“ Und warum zur Hölle bist du jetzt ausgerechnet hier?
„Das willst du wissen?“
„Ja.“
„Willst du es wirklich wissen?“
Was? „Ja, das habe ich doch wohl gerade gesagt.“
Sie drehte sich auf die Seite und blinzelte mich an. „Der Mann hat mich aus dem Käfig gelassen.“
Verdammt, warum war eine Unterhaltung mit einem Ailuranthropen eigentlich niemals einfach? „Was für ein Mann.“ Ich warf einen Blick zur Seite. Sydney stand jetzt praktisch direkt neben mir und auch er schien sich zu fragen, was die Katze hier machte.
„Der Mann, der nach dir roch.“ Sie rollte sich wieder auf den Rücken und schlug in der Luft nach unsichtbaren Gegnern. „Sie kamen in der Nacht. Carla und Antonia waren unten eingesperrt. Antonia sieht genauso aus wie Vivien, aber sie weint viel mehr.“
Meine Unruhe verwandelte sich in etwas Eiskaltes, das mich zu lähmen versuchte. Ein Mann der nach mir gerochen hatte? Sprach sie von Raphael? Aber nein, das war nicht möglich. Wie sollte er in Jegors Haus kommen? Ich hatte doch alle Spuren vernichtet. „Was ist mit Jegor?“, fragte ich leise.
Sie kicherte. „Er war nicht da. Die Männer mit den Zeichen kamen und befreiten uns, aber er war gerade unterwegs. Ob er mich wohl vermisst?“
Mit jedem ihrer Worte fraß sich die kalte Angst tiefer in meiner Herz. Das konnte nicht sein. Ich musste hier etwas falsch verstehen. „Zeichen?“
„Er wird sich sicher wundern wo wie alle sind, wenn er nach Hause kommt. Keine Carla mehr, die sein Essen kocht, keine Antonia, die abends mit ihm kuschelt.“ Sie schnurrte, als fände sie das alles äußerst amüsant. „Und eine freie Tarajika. Was meinst du, ob er jetzt Angst hat?“
Verdammt. „Tarajika, bitte, konzentriere dich. Von was für einem Zeichen hast du gesprochen?“
„Von dem Zeichen hinter deinem Ohr.“
Wie von selbst legte meine Hand sich bei diesen Worten auf das kleine Tattoo hinter meinem Ohr. Das Omega der Themis.
Sie rollte sich wieder herum und setzte sich auf. „Sie rochen nach dir und sie trugen dein Zeichen. Sie sind hier.“ Sie nickte, um ihren eigenen Worten Nachdruck zu verleihen. „Ich habe den Mann mit der krummen Nase gesehen.“
Oh mein Gott. „Murphy.“ Murphy war in Jegors Haus gewesen. Murphy hatte Tarajika rausgelassen und jetzt war sie hier. Die Erkenntnis war wie in Schlag ins Gesicht. Die Themis waren in Jegors Haus gewesen.
Ich warf Sydney einen entsetzten Blick zu, überwand dann das kurze Stück zur Tür und riss sie auf.
Mein hektisches Auftauchen versetzte die Lykaner in der Eingangshalle erneut in Alarmbereitschaft, doch ich beachtete sie gar nicht. Von einem einzigen Gedanken angetrieben, stürmte ich an ihnen vorbei zum Portal hinaus. Es war mir egal, dass Sydney und Tarajika mir folgten und es interessierte mich auch nicht, dass Diego und Ginny sich an meine Fersen hefteten. Ich musste zu Murphy. Ich musste herausfinden, was da passiert war. Ich musste mich versichern, dass das hier nur ein schrecklicher Alptraum war.
Draußen waren noch einige Bittsteller, die bei meinem Auftauchen aufschauten, aber ich rannte einfach an ihnen vorbei.
Zwei Minuten, mehr brauchte ich nicht um das HQ zu erreichen. Und ob es nun Glück war, oder eine einfache Fügung des Schicksals, ich brauchte das Gebäude nicht mal betreten, um Murphy zu finden, denn er saß zusammen mit ein paar anderen Themis draußen auf einer Bank und ärgerte Future. Tristan, Raphael und Roger waren bei ihnen. Miguel hatte eine Zigarette im Mund.
Als ich nur noch wenige Meter von ihnen entfernt war, bemerkte Tristan mich. Seine Augen wurden sofort ein kleinen wenig schmaler. In ihnen spiegelten sich seine Wut und Enttäuschung.
Ich beachtete es nicht, denn im Augenblick galt meine Aufmerksamkeit allein Murphy. „Sag mir, dass du nicht in dem Haus warst.“
Etwas verwirrt runzelte er die Stirn. „Welches Haus?“
„Das Haus!“, fauchte ich und zeigte auf Tarajika, die langsam herangeschlichen kam und vorsichtig an Miguels Bein schnüffelte. Als er sie nicht daran hinderte, stellte sie sich auf die Hinterbeine und schnüffelte auch noch an seiner Schulter.
„Du meinst das Haus, um das du dich alleine kümmern wolltest?“, fagte Tristan distanziert. „Das Haus von Natasha Wolkow?“
Mein Kopf wirbelte zu ihm herum. Oh nein, er hatte sich den Namen gemerkt.
„Du hast versucht unsere Daten zu manipulieren und einen Skhän zu decken“, kam es da von Miguel.
Rapahel schaute ihn verständnislos an. „Was erzählst du da für einen Müll?“
„Keinen Müll“, sagte nun auch Roger. „Frag Future. Cayenne hat versucht einen Namen aus der Datenbank verschwinden zu lassen. Tyrone hat es bemerkt und uns darauf aufmerksam gemacht.“ Er sah mich direkt an. „Zum Glück für uns, hat Future ein photographisches Gedächtnis. Ich habe sofort ein Team losgeschickt, als ich das erfahren habe. Es wurden zwei Sklavinnen gefunden und ein … Ailuranthrop.“
Besagter Ailuranthrop schlich nun um Tristan herum und roch an seiner Hand.
„Nein.“ Damit war auch meine letzte Hoffnung gestorben. „Du weißt nicht was du angerichtet hast.“
„Was ich angerichtet habe?“ Roger sah aus, als würde er mich gerne übers Knie legen wollen. „Du hast versucht unsere Arbeit zu sabotieren!“
Da Tristan ihr wohl zu langweilig wurde, schlenderte Tarajika zu Murphy und sprang neben ihm auf die Bank. Sie beobachtete ihn kurz und begann dann an seinem Gesicht zu schnüffeln.
„Ähm“, machte er nur, hielt sie aber nicht ab.
„Ich habe versucht das Rudel zu beschützen!“, fauchte ich ihn an. „Aber jetzt … du hast alles kaputt gemacht.“ Als ich den vollen Umfang dieser Worte begriff, wich ich entsetzt vor ihm zurück. „Warum habt ihr mir nicht einfach vertraut?“
„Wir sollen jemanden vertrauen, der uns hintergeht?“, fragte Tristan ungläubig. „Nicht nur dass du immerzu lügst und uns im Dunkeln tappen lässt, jetzt arbeitest du auch noch gegen uns.“
Das war nicht wahr. In den letzten Jahren hatte ich alles für sie gegeben. Mein Leben, meine Freiheit, meine Liebe. „Ruf Vivien an.“
„Was?“
Ich drehte mich zu Roger um. „Ruf Vivien an!“
Roger schaute mich ein wenig perplex an, rührte aber keinen Muskel.
Ich schleuderte ihm mein Odeur mit einer solchen Macht um die Ohren, dass nicht nur er erschrocken vor mir zurück wich. Murphy fiel vor Schreck sogar fast von der Bank. „Du sollst verdammt noch mal dein scheiß Handy nehmen und bei Vivien anrufen, sofort!“ Ich musste wissen, dass es ihr und Anouk gut ging.
Nur zögernd zog Roger sein Handy aus seiner Hosentasche. Dabei ließ er mich keinen Moment aus den Augen. Genaugenommen ließ mich gerade niemand aus den Augen. Außer Tarajika. Die war mittlerweile bei Raphael angekommen. Nachdem sie kurz an ihm geschnüffelt hatte, schmiegte sie sich schnurrend an um seine Beine. Das schien er ein wenig irritierend zu finden.
Ich befahl mir selber ruhig zu bleiben. Vielleicht war ja noch alles in Ordnung und ich könnte das alles wieder irgendwie hinbiegen. Doch um mich herum war es so still, dass ich das Tuten von Rogers Handy hören konnte. Und mit jedem weiteren Tuten wurde ich ein kleinen wenig verzweifelter. Warum hob denn keiner ab? So schwer war es doch gar nicht ein Telefon zu bedienen.
Meine wachsende Nervosität übertrug sich auch auf Roger. Dann sprang die Mailbox an. Er legte auf und wählte erneut, doch das Ergebnis blieb das gleiche.
Ein vertrauter Wolfskopf schob sich unter meine Hand. Ich merkte kaum, wie ich mich in Sydney Fell verkrallte, weil ich einfach etwas brauchte, an dem ich mich festhalten konnte.
Roger wählte erneut. Es klingelte, einmal, zweimal …
„Amber? Kannst du mir …“
Ich riss ihm das Handy aus der Hand, weil ich einfach nicht länger tatenlos daneben stehen konnte. „Amber, hier ist Cayenne.“
„Kö-königin Cayenne?“, fragte sie ungläubig.
„Ja, du musst mir sagen wo Vivien ist. Es ist wichtig.“
„Ähm … die wollte zu einer Nachbarin, ein Buch zurückbringen.“
„Wann? Wie lange ist sie schon weg?“
„Schon länger, ein paar Stunden schätze ich.“
Ein paar Stunden? Oh Gott.
„Schon komisch, sie hätte eigentlich längst zurück sein müssen.“
Oh nein. Meine Hand krampfte sich um das Gerät.
„Aber vielleicht wollte sie ja noch woanders hin. Moment, ich frag mal.“ Danach war ihre Stimme etwas leiser, als hielte sie das Telefon vom Mund weg. „Anouk, weißt du wann deine Mutter zurückkommen wollte?“ Es entstand ein Moment der Stille, dann war sie wieder am Hören. „Anouk sagt …“
„Anouk ist da?“
„Äh ja, er spielt nebenan, wollt Ihr ihn sprechen?“
Oh danke. Danke danke danke. Anouk war da, mit ihm war alles in Ordnung. „Nein, aber ich muss wissen wo Vivien ist, es ist wirklich dringend.“
„Ähm, okay, ich kann ja kurz mal zur Nachbarin laufen, und …“
„Nein!“ Bei meinem panischen Ausruf, zuckte nicht nur einer zusammen, aber sie durfte das Haus nicht verlassen, nachher verschwand sie auch noch. Und Anouk, sie durfte ihn nicht alleine lassen. „Nein, bleib da wo du bist.“
„O-kay.“ Ihre Stimme machte sehr deutlich, dass sie mich für nicht mehr ganz sauber hielt. „Dann könnte ich auch anrufen. Vielleicht ist Vivien ja noch auf ein Kaffee zu ihr rein.“
„Ja, bitte mach das. Und ruf mich danach zurück, es ist wirklich wichtig.“
„Mach ich.“
Sie legte auf und mir blieb nichts anderes übrig, als auf ihren Rückruf zu warten. Aber Anouk war da und damit in Sicherheit. Das waren gute Nachrichten. Vivien ging es bestimmt auch gut. Ich musste nur daran glauben, dann würde sicher wieder alles in Ordnung kommen.
Unruhig starrte auch auf das Handy und wartete auf den Rückruf. Scheiße, wie lange dauerte es denn, die Nachbarin anzurufen?
„Würdest du mir erklären, was das zu bedeuten hat?“, fragte Roger.
Ich ignorierte ihn. Ich konnte nichts sagen, nicht bevor ich mir nicht sicher war.
„Cayenne …“
Ich machte eine abweisende Geste mit der Hand. „Sprich mich nicht an.“
Verärgert funkelte er mich an. „Erst soll ich aus heiterem Himmel meine Frau anrufen und jetzt …“
„Ich hab gesagt, dass du ruhig sein sollst!“
Sydney stupste mir gegen mein Bein. „Ihr müsst Euch beruhigen.“
„Wie soll ich mich den bitte beruhigen? Weißt du was hier gerade passiert? Sie waren in seinem Haus!“
„Ihr wisst nicht mit Sicherheit, dass etwas geschehen ist. Vielleicht ist ja auch alles in Ordnung.“
„Und wenn nicht? Was soll ich machen, wenn er …“ Das Handy in meiner Hand schrillte los und klebte kaum eine Sekunde später schon wieder an meinem Ohr. „Hast du sie gefunden?“ Bitte sag ja, oh bitte sag das alles in Ordnung ist und dass es ihr gut geht.
„Nein. Unsere Nachbarin sagt, dass Vivien gar nicht bei ihr aufgetaucht ist. An ihr Handy geht sie auch nicht. Jetzt mach ich mir echt Sorgen …“
Diese wenigen Worte reichten, damit sich vor mir ein endlos tiefer Abgrund auftat und mit einem Schlag wusste ich, was geschehen war.
Meine Hand sank einfach runter. „Er hat sie“, hauchte ich. Mein Herz zog sich vor Schmerz zusammen. Ich hatte alles getan was ich konnte, um sie zu beschützen und doch hatte er sie sich zurückgeholt. Ich hatte geschworen, dass sie frei sein würde. Ich hatte versagt.
„Cayenne, was ist los?“, wollte Roger wissen. „Du machst mir langsam Angst.“
Ich schaute von ihm zu Raphael und Tristan. „Alles war umsonst gewesen“, sagte ich leise. „Warum nur habt ihr mir nicht einfach vertraut?“
Sydney stupste mir gegen die Hand.
„Ihr müsst Euch zusammenreißen.“
Ich konnte Sydney nur anstarren. „Was sollte das jetzt noch bringen?“
„Ihr seid die Königin“, rief Sydney mir in Erinnerung, als glaubte er, ich hätte das vergessen. „Ihr beschützt das Rudel und jetzt ist die Zeit gekommen, etwas zu unternehmen. Keine Fesseln mehr.“
Keine Fesseln mehr.
Als mir die Bedeutung dessen aufging, wurden meine Augen ein kleinen wenig größer. Sydney hatte recht, Vivien war weg und damit hatte er sein Druckmittel gegen mich verloren. „Keine Fesseln mehr“, wiederholte ich und … „Anouk.“ Ich riss das Telefon zurück an mein Ohr.
„… Ihr noch da? Hallo? Königin Cayenne? Ich …“
„Hör mir jetzt genau zu, Amber, das ist sehr wichtig. Bleib mit Anouk im Haus. Hol auch deinen Vater und Marica.“
Als Raphael den Namen seiner Mutter aus meinem Mund hörte, runzelte er die Stirn.
„Verbarrikadiert euch im Haus und lasst niemanden hinein. Ich schicke Wächter, sie werden euch …“
„Was? Warum, was ist …“
„Unterbrich mich nicht!“
Sofort war es wieder still.
Verdammt, sie anzubrüllen brachte rein gar nichts, doch meine Nerven lagen blank. „Bleibt im Haus. Meine Wächter werden euch abholen und in mein Schloss bringen. Öffnet niemanden außer ihnen die Tür, hast du mich verstanden?“
„Ja … ja hab ich.“
„Gut, und denk dran, nicht das Haus verlassen.“ Ich legte auf und tauschte Rogers Handy gegen meines aus. Das Adressbuch war schnell aufgerufen. Irgendwo musste ich die Nummer von Markis Jegor haben. „Ginny, ich möchte, dass du dich mit dem Revier in Arkan in Verbindung setzt. Sie sollen alle Wächter die sie entbehren können zum Haus der Familie Maas schicken und es umstellen. Niemand darf es betreten, bis die Schlosswächter bei ihnen sind. Geh zu Großwächter Edward, er soll zehn seiner fähigsten Leute hinschicken. Die Familie muss abgeholt und hergebracht werden. Außerdem will ich, dass irgendjemand das Handy von Vivien Maas ortet.“ Verdammt, wo war nur diese dämliche Nummer?
„Verstanden.“ Ginny machte auf dem Absatz kehrt und zog ihr Handy bereits während des Laufens aus der Tasche.
„Cayenne“, begann Roger wieder. „Würdest du mir jetzt bitte sagen …“
„Was zum Teufel habe ich getan, dass ihr glauben konntet, ich würde euch hintergehen?!“, fuhr ich ihm einfach über den Mund und starrte dann direkt Tristan an. „Du hättest wissen müssen, dass ich so eine Aktion nicht grundlos durchziehen würde!“
Er wirkte nicht mehr so verärgert, nur noch unsicher. „Du tust so viele seltsame Dinge.“
„Das ist deine verdammte Entschuldigung? Warum bist du nicht zu mir gekommen, um mit mir zu reden?!“
„Du sprichst doch nicht mit uns!“, fauchte er zurück. „Du sagst immer nur etwas und wir müssen es dann so hinnehmen!“
„Ich habe nur versucht euch zu beschützen, du Arschloch! Es war mir verboten etwas zu sagen! Aber das ist jetzt alles völlig egal. Die ganzen verdammten, scheiß Opfer sind jetzt völlig egal, denn er hat sie sich wieder geholt und das ist allein dein Verdienst!“
Tristan sah mich völlig verständnislos an. „Wovon redest du?“
„Von Vivien! Ich rede von Vivien, verdammt Scheiße! Ihr ward in seinem Haus und das ist seine Rache. Und jetzt ist auch noch Anouks Leben in Gefahr!“
„Was?“ Unruhig schaute Tristan von mir zu Raphael und wieder zurück. „Ich versteh nicht.“
„Natürlich verstehst du es nicht du elender …“
„Königin Cayenne, reist Euch zusammen.“
„Scheiße.“ Ich schleuderte mein Handy im hohen Bogen auf die Erde. Diego musste zur Seite springen, um nicht getroffen zu werden. „Ich finde die verfluchte Nummer nicht.“
Völlig am Ende mit meinem Latein, begann ich auf und ab zu laufen und mir nervös die Haare zu raufen. Ich brauchte einen Einfall, eine rettende Idee, die alles wieder in Ordnung bringen würde. „Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll.“
Raphael trat näher, vorsichtig, als hätte er Angst mich sonst zu verschrecken. „Cayenne, wer hat er Vivien?“
Ich hielt an und sah ihm direkt in die blauen Augen. Diese wunderschönen, kristallenen Augen. „Ich habe versucht sie zu beschützen, das musst du mir glauben. Ich hab das alles nur getan, um sie zu beschützen. Sie und Anouk. Ich konnte Anouk doch nicht sterben lassen.“
„Was hast du getan? Vor wem musstest du sie beschützen?“
„Ihr müsst zu Nikolaj gehen“, mischte Sydney sich ein.
„Was? Was soll ich denn jetzt noch … Nikolaj.“ Aber natürlich! Warum war mir das nur nicht gleich in den Sinn gekommen? „Wo ist Nikolaj?“
„Noch im Schloss“, sagte Tarajika und sprang aufregt auf die Beine. „Er weiß, dass er jetzt geliefert ist.“
°°°
Nikolaj befand sich noch immer im Thronsaal. Unruhig lief er vor dem Thronpodest auf und ab, blieb aber sofort stehen, als ich mit meinem Gefolge in den Saal stürmte.
„Er hat Vivien!“, schrie ich ihm bereits von Weitem entgegen.
Seine Augen weiteten sich kaum merklich. „Was?“
„Vivien ist verschwunden!“, fauchte ich und kam vor ihm zum Stehen. „Er hat sie sich zurück geholt! Und du verdammter Mistkerl …“ Ich holte aus und wollte zuschlagen, doch Nikolaj hob nicht einmal den Arm um mich abzuwehren. Meine Hand flog bereits auf sein Gesicht zu, aber alles was er tat, war die Augen zuzukneifen und den Kopf zur Seite zu drehen. Es waren nur Bruchteile von Sekunden, doch sie reichten um mich Nikolajs aufkeimende Furcht bemerken zu lassen. Nicht weil ich ihn schlagen wollte, sondern wegen allem anderen.
Ich konnte nicht. Kurz bevor ich ihn traf, hielt ich an, weil ich ihn nicht schlagen konnte. Nikolaj hätte das niemals erlaubt.
Einen Moment starrte ich ihn einfach nur mit erhobener Hand an, dann wirbelte ich mit einem Schrei herum und schlug in die Luft. Irgendwo musste ich dies angestauten Gefühle ja loswerden. „Ich habe alles getan!“, schrie ich ihn an. „Alles!“
„Cayenne …“
„Ich habe mein ganzes, verdammtes Leben geopfert und doch ist sie wieder bei ihm!“
Unsicher schaute Nikolaj von mir zu der versammelten Mannschaft hinter mir. „Es tut mir leid, ich wusste es nicht. Er hat mir nichts gesagt, das musst du mir glauben. Wäre es anders, hätte ich es dir Bescheid gegeben.“
So schwer es mir in diesem Moment auch fiel, ich glaubte ihm. „Ich muss ihn finden.“
„Ich weiß nicht wo er ist.“
„Dann ruf ihn an. Mit dir wird er sicher sprechen.“
Er schnaubte verächtlich. „Mein Vater sagt mir nie mehr, als er für nötig hält.“
„Dann bring ihn dazu. Du bist schlau genug, ich weiß das du es kannst.“ Ich flehte ihn mit Augen an. „Bitte, Nikolaj, ich kann sie nicht bei ihm lassen. Nicht noch mal, das wird sie nicht verkraften.“
Er drücke die Lippen aufeinander. In seinem Kopf arbeitete es, er wollte mir helfen, es war ihm noch nie leichtgefallen, sich gegen seinen Vater zu behaupten.
„Verdammt, Cayenne, sagt mir endlich was hier los ist!“, forderte Roger. „Was ist mit meiner Frau?“
„Ich kenne einen Witz“, kam es da ganz unpassend von Tarajika. Sie tapste neben uns herum und schien zu versuchen, nicht auf die Linien auf dem Boden zu treten. „Wie viele Gehirnzellen besitzt ein Werwolf?“
Ich war hier im Moment wohl nicht die einzige, die sie völlig verständnislos anschaute.
„Das kommt auf die Anzahl ihrer Flöhe an! Habt ihr verstanden? Flöhe!“ Sie kicherte und machte dann einen Satz Richtung Nikolaj. Er war nicht der einzige, der sich anspannte, aber sie hatte gar nicht vor ihn anzugreifen. Sie hüpfte einfach an ihm vorbei und begann dann damit die beiden Throne auf dem Podest neugierig unter die Lupe zu nehmen.
Ich griff nach Nikolajs Hand. Wir hatten im Augenblick wohl ein bisschen was Wichtigeres zu tun, als Tarajikas Witzen zu lauschen. „Bitte.“ Verdammt, spring doch einfach über deinen Schatten.
Nach einem Moment senkte er resigniert den Kopf und zog sein Handy aus der Hosentasche. „Ich weiß nicht, ob das etwas bringt.“
„Hab Vertrauen, er wird mit dir reden.“ Ich drückte seine Hand ein wenig. „Versuch herauszufinden, wo er ist und wo er Vivien hingebracht …“
„Verdammt, sagst du mir jetzt endlich, was mit meiner Frau ist?!“, brüllte Roger mich an.
Ich drehte mich nicht mal zu ihm herum. „Sei jetzt still, oder ich lasse dich abführen.“
„Du kannst doch nicht einfach …“
„Lass es nicht drauf ankommen, Romeo!“ Ich funkelte ihn warnend an. „Du bist genauso schuld daran! Anstatt zu mir zu kommen und mich zu fragen, warum ich das getan habe, hast du hinter meinem Rücken ein Team in das Haus geschickt!“
Nikolaj schaute von mir zu Roger und hob dann sein Handy. „Ich möchte Sie alle bitten jetzt ruhig zu sein.“ Die Nummer seines Vaters kannte er aus dem Kopf. Nur ein paar Tasten gedrückt, dann noch auf Lautsprecher.
Tuuut, tuuut, tuuut.
„Ja bitte?“
„Vater, ich bin es, Nikolaj.“ Seine Stimme zitterte ganz leicht „Ich muss mit dir reden.“
„Nikolaj, wie nett das du dich mal meldest. Deine Gefährtin ist nicht zufällig in der Nähe?“
„Nein, aber … irgendwas muss passiert sein. Tarajika ist hier aufgetaucht und Cayenne ist kurz davor alles preiszugeben. Sie sagt Vivien sei verschwunden.“
Er lachte leise. „Vivien ist nicht verschwunden, sie ist genau dort wo sie hingehört.“
Als Roger den Mund aufmachen wollte, klatschte Diego ihm eine Hand davor.
Nikolaj kniff die Augen ganz leicht zusammen. „Was hast du getan?“
„Was ich getan habe?!“, donnerte er. „Sie! Sie hat etwas getan, deine verdorbene Gefährtin! Sie hat Fletcher getötet, sie hat diese Gutmenschen in mein Haus geschickt und damit die Abmachung gebrochen! Ich hatte jedes Recht das zu tun. Ich habe sie gewarnt!“
„Cayenne hätte die Abmahnung niemals gebrochen, das weißt du genauso gut wie ich. Die Themis müssen anders auf dich gekommen sein.“
Am anderen Ende wurde geknurrt. „Du hast nicht den Hauch einer Ahnung von den Dingen, die deine Frau treibt, wenn du ihr den Rücken kehrst. Immer hab ich alles für dich regeln müssen, dabei hattest du nichts anderes zu tun, als sie im Auge zu behalten. So viel Zeit und Geld habe ich in dich investiert, für nichts, und wieder nichts. Hätte ich nur vorher gewusst, was für ein Versager aus dir wird, hätte ich mir diese ganzen Plackerei um dich gespart!“
Nikolaj sah aus, als sei er geschlagen worden und rang sichtlich um Fassung, bevor er die nächsten Worte rausbrachte. „Ich habe alles getan, was du von mir verlangt hast“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Du hast Cayenne nie unter Kontrolle halten können! Du bist nichts weiter als ihr kleines Hündchen und für mich damit eine einzige Enttäuschung.“
Dieses Ekelpacket. Nikolaj hatte nie etwas anderes gewollt, als die Anerkennung seines Vaters und dieses Arschloch zerriss ihn gerade in der Luft.
Ich beugte mich zu Nikolajs Ohr und flüsterte ihm zu, dass er nach Vivien fragen sollte.
„Wo ist Vivien?“
„Vivien ist bei mir, nicht wahr mein Schatz?“
Und dann hörten wir das Wimmern, gefolgt von einem Schluchzen. „Hör auf Jegor. Bitte, tu das nicht, ich flehe dich an.“
Markis Schleim lachte nur.
Ich schaffte es nicht länger ruhig zu bleiben. „Du mieses Stück Scheiße, nimm deine beschissenen Pfoten von ihr!“
Roger knurrte und versuchte sich von Diego frei zu machen.
„Ah, meine geliebte Schwiegertochter ist also doch anwesend. Ich hatte mich schon gewundert, Nikolaj besaß nie das Rückgrat, sich mir alleine zu stellen.“
Nikolaj drückte die Lippen so fest aufeinander, dass nichts als ein dünner, weißer Strich übrig blieb.
„Nikolaj hat mehr Rückgrat in seinem kleinen Finger, als Sie in ihrem ganzen jämmerlichen Leben jemals besitzen werden. Sie können sich nur groß fühlen, wenn sie andere klein machen, aber ihr Sohn ist ein König und das Rudel liebt seinen König. Sie dagegen sind unwichtig. Niemand würde es bemerken, wenn sie einfach verschwinden.“
Er knurrte. „Es ist nicht von Vorteil, wenn Ihr mich wütend macht.“
„Nein, Jegor, es ist nicht von Vorteil, wenn sie mich wütend machen. Sie haben keine Ahnung, wozu ich fähig bin. Ich habe alles getan, was sie von mir verlangt haben. Ich habe ihre Konkurrenz ausgeschaltet und die Themis von ihren Geschäften ferngehalten. Sie haben von mir Status, Anerkennung und Macht bekommen. Ich habe sogar Nikolaj geheiratet und dennoch haben sie die Abmachung gebrochen. Damit sind sie jetzt Freiwild.“
„Ich habe noch immer Vivien bei mir, das solltet Ihr nicht vergessen, Königin Cayenne.“
„Und genau das wird ihr Untergang sein. Ich werde ihnen alles nehmen, ihr Vermögen, ihre Geschäfte. Ich werde sie finden und töten. Ihre Zeit ist vorbei, Markis Jegor Komarow, schreiben Sie schon mal ihr Testament.“
„Um Eure Drohungen wahr machen zu können, müsstet Ihr mich erst einmal finden.“ Damit beendete er das Gespräch. Einen Moment hörte ich noch das Besetztzeichen, dann schaltete Nikolaj sein Handy aus und stecke es zurück in seine Hosentasche.
„Es tut mir leid“, hörte ich ihn sagen.
Ich stand nur da und konnte nichts tun. Jegor hatte recht, solange ich nicht wusste wo er war, war ich machtlos, und Vivien ein weiteres Mal ausgeliefert. Ich hatte versagt.
„Cayenne?“
Ich wandte mich zu Tristan um. Er war ganz blass.
„Was ist mit Vivien?“
Oh Gott, wie sollte ich ihm das bloß erklären?
„Bitte, sag uns was hier los ist.“
„Ich weiß nicht …“ Ich biss mir auf die Lippe und schaute zu Sydney. Auf einmal hätte ich am liebsten einfach nur geweint, doch meine Augen waren trocken. „Wo soll ich anfangen?“
„In der Nacht des Einbruchs in das Großlager der Skhän.“ Er schaute kurz zu Raphael und kam dann zu mir. Wie hunderte Mal zuvor, schob er seinen Schädel unter meine Hand. „Erzählt von der toten Wölfin.“
„Luna“, flüsterte ich. „Sie war nicht auf ihrem Posten, also bin ich sie suchen gegangen.“ Ich sank auf die Knie und vergrub meine Hände in Sydneys Pelz. „Damit hat alles angefangen.“ Damit begann die Reise in meine Vergangenheit.
Die Geschichte kam nur stockend über meine Lippen. Es war nicht einfach nach so langer Zeit darüber zu sprechen, doch ich erzählte ihnen von dem Großlager und wie Jegor mich entführt hatte. Ich berichtete ihnen, wie er mich in sein Haus gebracht hatte und wie ich plötzlich Vivien gegenübergestanden hatte. „Ich war gelinde gesagt, überrascht gewesen, aber damit fing der Alptraum erst richtig an. Jegor hat ziemlich schnell verstanden, was Vivien für mich bedeutet und hat das ausgenutzt. Er machte mir ein Angebot. Wenn ich einwilligte, mit seinem Sohn aufs Schloss zurückzukehren und ihn zu meinem Gefährten zu nehmen, dann würde er Vivien und Anouk zurück nach Hause schicken.“
Es krachte und dann hörte ich das würgende Geräusch. Raphael hatte sich auf Nikolaj gestürzt und drückte ihm die Luftzufuhr ab. Sein Gesicht war vor Hass so verzerrt, dass ich es kaum wiedererkannte.
„Nein!“ Ich sprang auf und stieß Raphael mit vollem Körpereinsatz zur Seite. Dann baute ich mich schützend vor Nikolaj auf. „Fass ihn nicht an, keiner von euch!“ Ich sah jedem in die Augen. „Er kann nichts dafür, er wurde von Jegor ebenso benutzt wie ich.“
Raphaels Augen blitzen unheimlich. „Er trägt genauso viel Schuld!“
„Nein, tut er nicht! Du hast keine Ahnung, was Nikolaj und ich unter Jegor durchmachen mussten, also halte dich gefälligst zurück!“ Ich schaute ihn warnend an. „Er ist genauso ein Opfer wie ich.“
Nikolaj wich meinem Blick aus. Vielleicht war es ihm peinlich, aber ich hatte schon vor langer Zeit erkannt, dass es ihm wichtig war, von seinem Vater so akzeptiert zu werden, wie er war. Er hatte es nie anders gelernt und es war wichtig, dass auch die anderen es verstanden.
Raphael presste die Lippen zusammen und für einen Moment glaubte ich, dass er einfach auf meine Worte scheißen würde und mich notfalls einfach zur Seite schubsen würde, um an Nikolaj heranzukommen. Doch dann wirbelte er herum und marschierte zum Fenster.
Ich wäre so gerne zu ihm gegangen, aber in diesem Moment konnte ich ihm nicht helfen. Das was geschehen war, ließ sich nun leider nicht mehr rückgängig machen.
„Das heißt, du bist auf das Angebot eingegangen“, sagte Diego und durchbrach damit die Stille.
Ich schnaubte. „Nein, bin ich nicht, das konnte ich nicht. Meine Freiheit war nicht weniger wert als Viviens. Es tut mir leid euch das sagen zu müssen, aber so selbstlos bin ich nicht. Nein, ich bin nicht auf diesen Deal eingegangen.“
„Und warum bist du am Ende dann doch hier gelandet?“, wollte Raphael wissen.
„Weil Markis Jegor immer bekommt, was er will“, sagte ich bitter.
Als ich nicht weitersprach, öffnete Nikolaj den Mund. Seine Stimme war rau und kratzig. Das hatte er wohl Raphael zu verdanken. „Mein Vater erpresste sie. Entweder sie ging auf sein Angebot ein, oder Anouk würde noch im gleichen Moment vor ihren Augen sterben.“
Niemand brauchte fragen, wie es dann weitergegangen war, das war mittlerweile mehr als offensichtlich.
Diego schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber warum bist du nicht zu uns gekommen? Warum hast du nie etwas gesagt?“
„Und damit riskieren, dass Vivien und Anouk von einer Gefangenschaft in die nächste kamen? Was glaubst du was passiert wäre, wenn ihre Familie die Wahrheit wüsste? Sie hätten sie weggesperrt, um sie zu beschützen. Das wäre falsch gewesen, das konnte ich nicht zulassen“
„Ich versteh nicht“, sagte Tristan. „Warum hätten wir sie wegsperren sollen?“
„Weil Jegor damit gedroht hat, sie zurückzuholen und Anouk zu töten, sollte ich mich jemals gegen ihn stellen. Und sollte ich auf die Idee kommen, ihn zu verraten, ihn einzulochen, oder umzubringen, dann hatte er sich mir einer Handvoll Skhän rückversichert, die sich an seiner Stelle um Vivien und Anouk kümmern würden.“ Ich rieb mir über die Stirn. „Mir blieb nichts anderes übrig, als Nikolajs Antrag anzunehmen, um seine Gefährtin zu werden.“
„Und dann kam Silvester.“ Nikolaj atmete einmal tief ein, also müsste er sich seelisch auf seine Hinrichtung vorbereiten. „Mein Vater wollte weitaus mehr, als nur seinen Sohn mit einer Prinzessin zu vermählen, er wollte die Macht des Thrones.“
„Was?“ Verständnislos wandte ich mich ihm zu. „Was erzählst du da?“
Er warf mir einen unsicheren Blick zu. „Mein Vater … er steckt hinter dem Anschlag auf die Königsfamilie.“
Mir entglitt jeder Gesichtsmuskel. „Dein Vater ist dafür verantwortlich?“
„Er wollte die absolute Macht, darum hat er jemanden arrangiert, der die Bomben legt. Mir hat er die Aufgabe gegeben, Cayenne von der Terrasse fernzuhalten.“ Sein Mund verzog sich leicht. „Das war gar nicht so einfach gewesen. Aus verständlichen Gründen, hat sie meine Gegenwart nicht unbedingt genossen.“
Plötzlich erinnerter ich mich daran wie Nikolaj versucht hatte, mich zurück auf mein Zimmer zu bringen, wie nervös er war, und dass er sich erst entspannt hatte, als ich zugestimmte hatte, mit ihm einen Spaziergang zu machen. Und ich erinnerte mich auch daran, wie er geholfen hatte, die Verwundeten und Toten zu bergen. „Du hast gewusst, was passieren würde?“
„Er hat es mir Silvester gesagt, als schon alles vorbereitet war.“ Er rieb sich über die Augen. „Ich hab versucht meinen Vater davon abzubringen und sich mit dem zufrieden zu geben, was wir bisher erreichten hatten, aber er wollte nicht.“
„Weil er mich zur Königin machen wollte, damit du König werden konntest.“
„Damit er noch mehr Macht bekam.“
Ich konnte es nicht glauben. Jegors Verstrickungen waren noch viel weitreichender, als ich für möglich gehalten hatte. Er hatte einen schrecklichen Schicksalsschlag nicht nur ausgenutzt, er hatte ihn sogar herbeigeführt. Und ich war völlig ahnungslos gewesen.
Ich warf einen Blick zu Sydney. Auch ihn schien diese Neuigkeit zu ein wenig zu überrumpeln.
„Ich dachte, dass er es damit gut sein ließe“, bekannte Nikolaj. „Aber kaum dass Cayenne ihren Platz auf dem Thron eingenommen hatte, verlangte er, noch etwas.“
„Noch etwas?“ Was kam den jetzt noch?
„Er wollte einen Erben.“
Die vorherige Eröffnung war schon ein Schock gewesen, diese Worte gaben mir fast den Rest. „Was sagst du da?“
Nikolaj schüttelte resigniert den Kopf, als wüsste er es selber nicht so genau. „Vater wollte ein Enkelkind.“
„Aber ich dachte … du kamst doch immer und wolltest …“ Ich verstummte.
Seine Lippen verzogen sich zu einem sehr unglücklichen Lächeln. „Nicht ich wollte das, sondern mein Vater.“
„Das heißt, du wolltest nie ein Kind?“
„Doch, irgendwann, aber nicht so.“ Seufzend fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. „So wie es zwischen uns war … Gott, Cayenne, ich kann bis heute nicht mal deine Hand nehmen, ohne dass du davor zurück schreckst. Ich wollte … ich weiß nicht. Egal.“
Er wollte ehrliche und aufrichtige Zuneigung, bevor er mit mir den nächsten Schritt ging. Aber Jegor hatte anderes im Sinn. Nur … „Warum? Was will dein Vater von Aric? Er ist doch nur ein Baby.“
„Ich weiß es nicht. Er hat seit dem nichts mehr von mir verlangt. Aber Aric muss für ihn sehr wichtig sein. Er hat sich über seine Geburt wirklich gefreut und …“
„Essen!“ Tarajika sprang vom Podest und rutschte bei der Landung beinahe auf dem Parkett aus. Sie schlitterte ein Stück, fand dann ihr Gleichgewicht wieder und rannte dem Mann mit de großen Tablett am Ende des Saals aufgeregt entgegen.
Dieser stellte das Tablett eilig auf dem Boden ab, um von der mageren Katze nicht über den Haufen gerannt zu werden. Gleich darauf war der Raum mit ihrem Schmatzen erfüllt.
„Was wirst du nun tun?“, fragte Nikolaj in die Stille hinein.
Ja, das war eine wirklich ausgezeichnete Frage. „Wenn ich das nur wüsste.“
„Du musst ihn suchen lassen“, erklärte Diego. „Das ganze Rudel muss nach Markis Jegor Ausschau halten.“
Ja, das war vermutlich die beste Option, die wir im Moment hatten. Irgendwo mussten wir schließlich mit der Suche beginnen.
Also ließ ich Großwächter Edward rufen und leitete eine weltweite Fahndung gegen Markis Jegor Komarow, wegen Erpressung, Sklavenhandel, Entführung und Königsmord in die Wege. Jeder Wolf auf diesem verdammten Planeten sollte nach ihm und Vivien Ausschau halten. Außerdem veranlasste ich erhöhte Sicherheit für Aric. Umbra Joel, Umbra Kimberly und Umbra Logen durften ihm nicht mehr von seiner Seite weichen, bis ich Markis Schleim persönlich das Licht ausgeknipst hatte.
Das Wissen, dass Jegor ein besonderes Interesse an meinem Sohn hatte, machte mich unruhig und das nicht nur, weil ich nicht wusste, was er mit meinem kleinen Jungen vorhatte. Jetzt wo alles aufgeflogen war, würde Jegor unberechenbar sein. Er hatte schließlich nichts mehr zu verlieren und das machte mir an der ganzen Sache wohl am meisten Angst.
Die Dinge entglitten meiner Kontrolle.
„Gut. Und sehen sie zu, dass die Nachricht sich auch über die Medien verbreitet“, befahl ich Edward. „Je mehr Leute bei der Suche helfen, desto …“
Ein Tippen auf der Schulter unterbrach mich.
Tristan stand schräg hinter mir und schien sich in seiner Haut sehr unwohl zu fühlen. Unentwegt verlagerte er sein Gewicht von einem Bein auf das andere. „Das mit Letisha, woher wusstest du … also, wenn sie zu den Skhän geht, wird …“
„Hast du sie gehen lassen?!“, quiekte ich entsetzt. Sein Gesichtsausdruck war mir Antwort genug. Das hatte mir jetzt gerade noch gefehlt. „Scheiße, hol sie sofort zurück, Jegor hat sie erkannt, sie darf da nicht mehr hin!“
Diese Worte hatte Tristan wohl am meisten gefürchtet. Ich hatte den Mann noch nie so blass gesehen, wie in dem Moment, als er sein Handy zückte und eilig bei seiner Freundin anrief.
Gott, warum hörten mir diese verdammten Idioten eigentlich nie zu? Ich hatte eine klare und deutliche Aussprache und …
Aus dem Augenwinkel sah ich eine Bewegung, ein sandfarbener Wolf, der sich mit hängendem Kopf auf die Tür zubewegte. „Sydney?“
Er blieb stehen, wandte sich aber nicht zu mir um.
„Wo … wohin gehst du?“
Er seufzte schwer. „Habt Ihr Euch schon entschieden?“
Was? Wie konnte er nur jetzt daran denken? „Nein, aber …“
„Dann gehe ich in meine Kammer.“ Einen kurzen Moment zögerte er noch, als würde er darauf warten, dass ich ihn aufhielt und auch wenn ich es gerne getan hätte, ich konnte nicht. Nicht nur wegen meinem schlechten Gewissen und all dem, was gerade um mich herum los war, ich hatte einfach Angst vor dieser Entscheidung. Und darum konnte ich nichts anderes tun, als ein weiteres Mal zuzusehen, wie er einfach ging.
Während ich ihm noch hinterher schaute, trabte Tarajika an meine Seite. „Ich bin Müde. Mika sagt, du hast ganz viele Betten. Ich habe schon lange nicht mehr in einem Bett geschlafen.“
Also langsam fand ich diese Katze ein wenig irritierend. Manchmal hatte man wirklich das Gefühl, es mit einem Kleinkind zu tun zu haben. „Ja, warte, ich werde die ein Zimmer geben.“
„Gibt es da auch etwas zu essen?“
Hatte sie nicht gerade erst gegessen? „Ja, ich werde dir etwas bringen lassen.“ Ich winkte einen der Wächter heran und gab ihm den Auftrag, Tarajika unterzubringen. Und auch, dass man sie im Auge behielt. Ich wollte nicht, dass sie hier allein auf dem Hof herumstromerte, sie war schließlich immer noch ein Ailuranthrop. Noch dazu einer, der mehrere Jahre in Gefangenschaft gelebt hatte. Ich wollte gar nicht so genau wissen, was das alles bei ihr angerichtet hatte.
Erschöpft schaute ich mich nach Raphael um und entdeckte dabei Nikolaj, der niedergeschlagen auf den Stufen des Podestes saß. Dieser Abend hatte ihn wohl an die Grenzen seiner Belastbarkeit gebracht. Damit das alles herausgekommen war, stand er kurz davor, alles zu verlieren.
Er tat mir leid.
„Okay, Edward, kümmern sie sich bitte um alles, was wir gerade besprochen haben. Ich werde mich jetzt zurückziehen.“
„Natürlich, Eure Majestät.“
„Danke.“ Ich drückte ihm die Schulter und wandte mich dann zu Nikolaj um. „Komm“, sagte ich zu ihm und nahm seine Hand.
Überrascht schaute er zu mir auf und wurde dann sofort misstrauisch. „Was hast du vor?“ Klar dass er so reagierte. Er musste befürchten, dass ich ihn einsperren lassen ließ. Vor zwei Jahren hätte ich das vermutlich auch noch getan. Heute wusste ich es besser.
„Ich bring dich nach oben.“ Ich zog an seiner Hand, bis er sich erhob.
„Warum?“
„Weil ich das Gefühl kenne, von einem Moment auf den anderen alles zu verlieren.“ Es riss einem nicht einfach nur den Boden unter den Füßen weg, es stieß einen in einen Abgrund, aus dem man nicht mehr allein heraus kam.
Ich hatte damals Sydney gehabt, Nikolaj hatte jedoch nur mich.
Nikolaj senkte beschämt den Kopf, ließ sich von mir aber widerstandslos durch den Saal führen. Wir hatten ihn fast durchquert, als sich mir Roger in den Weg stellte.
Das Leid stand ihm ins Gesicht geschrieben, er sah … gebrochen aus. „Du hättest es mir sagen müssen.“
„Du hättest mir einfach nur vertrauen müssen“, erwiderte ich ruhig und sah ihm solange in die Augen, bis er den Blick senkte. Nein, diesen schwarzen Peter würde ich mir nicht in die Schuhe schieben lassen. Vielleicht hatte ich nicht immer das Richtige getan, aber ich hatte alles in meiner Macht stehende unternommen, um ihm und seiner Familie ein schönes Leben zu ermöglichen. Was jetzt passiert war, war nicht meine Schuld.
Als ich mich abwandte, begegnete ich Raphaels Blick. Er stand weiter hinten und nachdem was er hier alles erfahren hatte, wollte er sicher mit mir reden. Ich wollte mit ihm reden. Ich wollte, dass er mich in den Arm nahm und mir versicherte, dass alles wieder gut werden würde. Aber hier vor den Augen all der anderen, war das im Moment nicht möglich.
Also blieb mir gar nichts anderes übrig, als Nikolajs Hand ein wenig fester zu nehmen und mich von Raphael abzuwenden. Ich würde später mit ihm reden.
Nikolaj ließ sich von mir ohne Gegenwehr nach oben in sein Zimmer bringen, doch dann stand er einfach nur da und schien nicht recht zu wissen, was er tun sollte. Er wirkte … verloren.
„Nikolaj.“ Als er nicht reagierte, trat ich vor ihn und nahm sein Gesicht zwischen die Hände. „Wir bekommen das hin, hörst du? Wir …“
„Wir?“ Er schnaubte und drehte sich aus meiner Berührung. „Es ist alles vorbei und mein Vater hat gesagt …“ Er verstummte und schüttelte den Kopf, als könnte er es nicht glauben, dass er noch einen Gedanken an seinen Vater verschwendete.
Ich verstand es. Nikolaj war in gewisser Weise von seinem Vater abhängig und nachdem was Jegor vorhin zu ihm gesagt hatte, musste für ihn eine Welt zusammengebrochen sein. „Was dein Vater gesagt hat, ist nicht wahr, hörst du?“
„Aber er hat …“
„Nein! Dein Vater ist ein Lügner und hat einen Sohn wie dich gar nicht verdient. Sieh dich doch nur an, das Rudel liebt dich. Nicht wegen ihm, sondern weil du ein guter König bist. Noch vor unserer Gefährtenzeremonie habe ich von allen Seiten gehört, was für ein großartiger Mann du bist und soll ich dir etwas sagen? Sie hatten recht. Du hast ein gutes Herz, Nikolaj und nur das ist wichtig. Ich habe es vielleicht erst spät erkannt, aber ich war in solchen Dingen ja noch nie besonders schnell.“
„Ich habe dich genötigt meine Frau zu werden.“
„Nein, das hast du nicht getan, das war Jegor. Du hast dich nicht dagegen aufgelehnt, das ist wahr, aber du bist mir nie ohne meine Erlaubnis zu nahe getreten.“
Er gab ein ersticktes Geräusch von sich. „Wie kannst du, nach allem was passiert ist, noch sowas sagen?“
„Weil es die Wahrheit ist. Wir haben beide unter deinem Vater gelitten und lange Zeit habe ich dich dafür gehasst, aber mir ist schon vor einiger ganzen Weile klar geworden, dass du nicht besser dran bist als ich. Wenn man es genau nimmt, hat es dich sogar schlimmer getroffen, immerhin ist der Kerl dein Vater und bist bei ihm aufwachsen.“
„Ich hätte bei dieser Scharade niemals mitspielen dürfen“, sagte er schwach und ließ sich dann auf die Kante seiner Couch sinken. „Ich hätte nein sagen müssen.“
Dem würde ich nicht widersprechen. „Wir können es jetzt leider nicht mehr ändern.“ Ich setzte mich zu ihm und nahm seine Hand.
„Wie soll es den jetzt weitergehen?“, fragte er leise.
Ja, darüber hatte ich auch schon nachgedacht, nur leider war mir noch keine zufriedenstellende Lösung gekommen. „Du bist mein König und ich deine Königin. Alles andere wird sich zeigen.“
„Das Rudel wird mich nicht länger als seinen König akzeptieren, nicht … nicht wenn es die Wahrheit erfährt.“
„Sie werden dich nicht akzeptieren, wenn sie erfahren, dass du mich geheiratet hast, um mich vor einem Leben als Sklavin zu bewahren? Oder dass du unter der Fuchtel einer der größten Sklavenhändler dieser Zeit aufwachsen musstest? Glaubst du nicht auch, dass sie dir dankbar dafür sein werden, dass du mich die letzten Jahre vor deinem Vater geschützt hast?“
„Du würdest für mich lügen?“
„Es ist keine Lüge, sondern eine Auslegung von Tatsachen. Und niemand wird dich neben deinem Vater als den Bösen betrachten. In ihren Augen wirst du nach wie vor mein Retter sein, der mich unter allen Umständen beschützt hat und das ist ja nun keine Lüge.“
„Das werden aber nicht alle so sehen.“ Er jedenfalls sah es nicht so.
„Ich sehe es so und nur das ist wichtig.“ Denn ich war der Alpha und das Rudel würde meinem Beispiel folgen. „Komm“, sagte ich und zog an seiner Hand. „Leg dich hin.“
„Ich soll …“ Verwundert runzelte er die Stirn. „Warum?“
Oh Mann. „Tu es doch einfach. Na los.“ Ich zog noch mal, aber Nikolaj brauchte trotzdem noch etwas, bevor er meiner Aufforderung nachkam und sich neben mir ausstreckte. Seinen Kopf bettete er auf einem Kissen, direkt neben meiner Hüfte.
Auch ich machte es mir ein wenig bequemer und hüllte ihn dann in seine sanfte Wolke meines Odeurs. Das wirkte nicht nur beruhigend, es konnte ihm vielleicht auch helfen, ein wenig zu entspannen. „Und jetzt denk nicht mehr daran.“
Ich hob die Hand und begann ihm sanft durchs Haar zu streicheln. Lykaner brauchten Berührungen genauso wie Luft zum atmen. In Stresssituationen waren sie noch wichtiger. Sie gaben einem das Gefühl von Verbundenheit und Stärke und im Moment war er nicht der einzige in diesem Raum, der das Gefühl von Nähe ein wenig gebrauchen konnte. Außerdem wäre es sicher nicht verkehrt, ihn auf andere Gedanken zu bringen.
„Darf ich dich mal etwas fragen? Etwas … Persönliches.“
Er spannte sich leicht an. Wahrscheinlich fürchtete er sich vor dem, was da kam. „Was möchtest du wissen?“
„Was ist mit deiner Mutter? Du hast noch nie über sie gesprochen.“
Er seufzte erleichtert. Keine Ahnung was er erwartet hatte, aber sicher nicht das. „Weil ich nichts über sie weiß. Vater hat mir nie verraten, wer sie war oder warum sie nicht bei uns war. Wenn ich nach ihr gefragt habe, ist er immer furchtbar wütend geworden, also hab ich nicht mehr gefragt.“
„Du kennst deine Mutter nicht?“
Er schüttelte den Kopf. „Das was für mich einer Mutter wahrscheinlich noch am nächsten kommt, war die Sklavin, die mich aufgezogen hat. Tamara.“
Nicht nur bei einem Sklavenhändler aufgewachsen, sondern auch noch von einer Sklavin aufgezogen. Es war ein Wunder, dass er nicht völlig verkorkst war. „Wie ist sie denn so?“, fragte ich leise und strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht.
„Sie war, naja, ich schätze sie war wie eine Mutter.“
„War?“
„Ich denke ja. Ich meine, ich weiß es nicht mit Sicherheit, aber nachdem mein Vater mich mit sechs Jahren in ein Internat gesteckt hatte, habe ich sie nicht wiedergesehen. Ich weiß nicht was aus ihr geworden ist, sie war einfach … weg.“
Das musste wirklich schwer für ihn gewesen sein.
„Sie hat immer gerne gelacht“, erzählte er leise. „Und gesungen. Sie hatte eine wunderschöne Stimme.“
„Du vermisst sie.“
„Ich kann mich kaum noch an sie erinnern.“ Was ihm wohl am meisten zu schaffen machte.
Vielleicht war dieser Themenwechsel doch keine so gute Idee gewesen. „Mach die Augen zu“, forderte ich ihn auf und ließ mein Odeur seine Seele streichen. „Ich bleibe, bis du eingeschlafen bist.“ Das allerdings dauerte noch ein Weilchen. Auch wenn es schon nach zehn am Abend war und meine Anwesenheit ihn wenig beruhigte, seine Gedanken konnte er genauso wenig abstellen, wie ich die meinen.
Als ich mich dann vom Sofa erhob und ihn noch mit einer Decke zudeckte, war es schon weit nach Mitternacht. Ich löschte das Licht, bevor ich sein Zimmer verließ und wusste dann erstmal nicht, was ich tun sollte.
Sydney hatte gesagt: Keine Fesseln mehr und einen kurzen Moment hatte ich das auch geglaubt, aber wenn man es genau betrachtete, stimmte es gar nicht. Ich war noch immer die Königin und daran würde auch die Wahrheit nichts ändern können. Nikolaj war mein Gefährte und Sydney und Raphael … diese Entscheidung stand auch noch aus.
Aber jetzt war nicht die richtige Zeit, sich damit zu befassen. Heute war schon zu viel passiert, das konnte ich nicht auch noch. Aber etwas anderes konnte ich heute noch tun. Raphael würde sicher noch mit mir sprechen wollen.
So stand ich kurz darauf in der Menagerie vor dem Trailer und klopfte an die Tür. Drinnen brannte noch Licht, also hatte Raphael sich noch nicht schlafen gelegt. Wahrscheinlich wurde er von den gleichen Gedanken geplagt, die auch mich belasteten.
Ich musste nicht lange warten, bevor die Tür von innen geöffnet wurde und ein breiter Lichtstreifen auf mich fiel.
„Cayenne?“ Raphael wirkte fertig.
„Ich wollte nicht stören, ich dachte nur … also, vielleicht …“ Ich biss mir auf die Unterlippe. Auf einmal kam ich mir ziemlich dumm vor. Warum sollte er jetzt mit mir reden wollen? Wegen mir befand sich seine Schwester schließlich wieder in der Hand eines Psychopathen. „Ich glaube ich gehe besser wieder.“ Hastig wandte ich mich ab und landete genau in Raphaels Armen. Er stand so plötzlich vor mir, dass ich in ihn hineinlief und als ich zurückweichen wollte, zog er mich einfach noch fester an sich.
Er küsste meine Schläfe, legte sein Kinn auf meinen Scheitel und in dieser Wärme fiel mein Widerstand einfach in sich zusammen.
„Es tut mir leid“, flüsterte ich. „Es tut mir so leid. Ich wollte Vivien …“
„Schhhh, es ist nicht deine Schuld.“
Da war ich anderer Meinung.
„Du hättest mit mir reden müssen“, sagte er leise. „Schon am Anfang hättest du mir sagen müssen was los war.“
„Und dich damit zwingen eine Wahl zwischen mir und Vivien zu treffen? Das konnte ich dir nicht antun.“
„Zusammen wäre uns eine Lösung eingefallen.“
„Es gab keine Lösung.“
Da er daraufhin schwieg, war er wohl auch schon zu diesem Schluss gelangt.
„Ich kann nicht mehr, Raphael.“ Ich schmiegte mich enger an ihn. „Ich bin am Ende.“
„Du bist nicht alleine.“ Er löste sich leicht von mir und hob mein Kinn an. „Ich bin immer für dich da, zusammen schaffen wir das schon.“
„Und wenn nicht? Was ist wenn ich Vivien nicht finden kann, wenn Jegor …“
„Wir schaffen das“, sagte er in der Inbrunst der Überzeugung. „Und nun komm, ich muss wieder rein.“
Warum er wieder rein musste, erfuhr ich, sobald ich den Wohnwagen betrat. Raphael war nicht alleine, Tristan war bei ihm und wenn ich schon dachte, dass Roger völlig am Ende war, so fand ich für Tristans Zustand keine Worte mehr.
Er saß am Tisch, in der Hand eine fast leere Schnapsflasche und starrte auf die Holzplatte, als hätte sie eine besonders ausgefallene Maserung. Vielleicht starrte er aber auch einfach hindurch, ohne wirklich etwas zu sehen. Er war so blass.
„Es ist meine schuld“, sagte er, ohne den Blick heben. „Ich war so sauer auf dich, weil du Letisha gedroht hast. Ich dachte dass du das nur wegen eurem dummen Disput tust. Und als ich dann gemerkt habe, dass du versuchst einen Skhän zu schützen … ich habe nicht mehr klar gedacht und dann … oh Gott.“ Er vergrub das Gesicht in der Hand.
Ich löste mich von Raphaels Seite und setzte mich neben Tristan. Eigentlich war ich erschöpft und wollte selber nichts anders, als mich zurückziehen, doch Tristan so zu sehen, tat mir weh. „Wir haben Jahrelang nach Vivien gesucht und egal wie schwer es war, wir haben niemals aufgegeben.“ Ich begann ihn mit meinem Odeur zu umspielen. „Und am Ende haben wir sie nach Hause geholt.“
Raphael setzte sich uns gegenüber auf die Bank.
„Wir werden sie auch dieses Mal finden. Egal wie lange es dauert, wir werden sie wieder nach Hause bringen.“ Ich drückte ihn ein wenig fester. „Ich werde sie nach Hause bringen und dann wird Markis Jegor für all das bezahlen, was er uns angetan hat. Das schwöre ich dir.“
Er gab ein ersticktes Geräusch von sich.
„Mach dir keine …“
Als die Tür ohne Anklopfen aufging und eine rotwangige Lucy hereinplatzte, schaute ich auf.
„Ich bin gerade fünf Stunden lag nach Kassel gefahren, nur um kurz vor meinem Ziel wegen eines Notfalls, den mir niemand näher beschreiben will, zurückgerufen zu werden. Ich sollte jetzt im Büro von meinem Chef sitzen und weiß noch immer nicht, wie ich meine Abwesenheit erklären soll. Wenn mir also nicht sofort jemand sagt, was hier los ist, werde ich jemanden den Kopf abreißen.“ Sie schaute von einem zum Anderen und erst dann schien sie Tristans Verfassung wirklich zu bemerken. „Schatz?“
„Es ist wohl besser, wenn du dich hinsetzt“, sagte Raphael. „Das hier ist eine längere Geschichte.“
°°°°°
Als Samuel in nichts als einer kurzen Hose in mein Büro spazierte, war ich kurz davor, mein Telefon durchs nächste Fenster zu schmeißen. „Verdammt noch mal, sie sollen sich mehr Mühe geben! Irgendeine Spur muss doch zu finden sein, er kann sich schließlich nicht einfach in Luft auflösen.“
„Es gibt keine Spur“, sagte Eddy am anderen Ende der Leitung. „Wir haben unsere besten Leute in sein Haus geschickt. Momentan sind wir noch dabei seine Unterlagen und seinen Computer auszuwerten, aber bisher haben wir nichts gefunden, das uns auch nur einen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort liefert.“
Das konnte einfach nicht sein! Wir hatten schon seine Reiseroute verfolgt, aber die Spur verlor sich in Frankreich. Die Konten von denen wir wussten waren gesperrt, wir hatten jeden Skhän der uns in den letzten Stunden zwischen die Finger gekommen war, ausgequetscht, aber niemand schien irgendwas zu wissen. Es war zum Verrücktwerden. „Wir müssen irgendetwas übersehen. Ich will, dass ihr alles noch einmal durchgeht. Checkt seine Konten und haltet die Augen nach weiteren Immobilien offen. Sucht auch unter dem Namen Natasha Wolkow. Flugzeuge, Busbahnhöfe, Schiffshäfen, alles soll überwacht werden.“
„Ich werde alles in die Wege leiten.“
Da Samuel merkte, dass das hier noch einen Moment dauerte, schlenderte er zu Arics Laufstall und wurde sofort mit einem euphorisch Jaulen begrüßt. Der Kleine tappste freudig am Gitter herum und als Samuel sich dann auch noch erbarmte ihn herauszuholen, wurde ihm zum Dank von meinem Sohn mit sehr viel Begeisterung das Kinn abgeleckt.
„Was ist mit den Hinweisen aus dem Rudel?“, fragte ich meinen Großwächter und tippte dabei immer wieder mit meinem Stift auf die Schreibtischplatte. Ja, ich war nervös. Und ungeduldig. Es ging mir alles einfach zu langsam. „Irgendetwas Brauchbares dabei?“
„Bis jetzt nicht.“
„Natürlich nicht.“ Warum fragte ich eigentlich noch? Wäre ein guter Hinweis dabei gewesen, hätte man mir in der Zwischenzeit schon Bescheid gegeben.
„Ich habe noch keine Rückmeldung von den Leuten aus seinem Sommerhaus, vielleicht finden die etwas.“
Das Haus in Spanien. Ja, der werte Markis ließ es sich gut gehen. Nicht mal ich hatte ein Haus in Spanien. „Hoffentlich. Ich werde mich noch einmal mit den einzelnen Wächterstellen in Verbindung setzten, vielleicht habe die in der Zwischenzeit ja etwas herausbekommen. Und Sie sagen mir sofort Bescheid, wenn es etwas Neues gibt.“
„Natürlich, Königin Cayenne.“
Ich legte auf, ließ meinen Stift fallen und schloss für einen Moment die Augen.
Bereits seit Stunden saß ich hier und tat nichts anderes als die Suchaktion nach Vivien und Jegor zu koordinieren, doch bis jetzt war ich keinen Schritt weiter gekommen. Überall fanden sich Spuren von dem Markis, aber sie alle verliefen im Sande. Und dazu kam auch noch, dass ein Teil meiner Geschichte bereits an die Öffentlichkeit gedrungen war. Ich musste mich also nicht nur um die Auffindung eines gefährlichen Kriminellen kümmern, sondern auch noch darum, dass Nikolaj nicht von einem wütenden Pulk mit Mistgabeln und brennenden Fackeln aus der Stadt gejagt wurde.
Wie er befürchtet hatte, waren nicht alle von seiner Unschuld überzeugt. Aber das würde ich schon hinbekommen. Irgendwann, wenn ich mal wieder ein bisschen Zeit hatte.
Ich seufzte und wollte gerade erneut nach dem Hörer greifen, als mir auffiel, dass Samuel ja mit im Raum war.
Er hatte in der Zwischenzeit auch die Wahrheit erfahren. Ich hatte nicht gewusst, dass kleine Alphas so wütend werden konnten. Und schon gar nicht Samuel, der normalerweise erst nachdachte, bevor handelte – eine Eigenschaft, die ich schon ein wenig beneidete.
„Bitte, sag mir dass du gute Neuigkeiten für mich hast“, bat ich ihn.
„Es könnte dir gut tun, wenn du diese Arbeit für ein paar Stunden den Fachkräften überlassen würdest und dich mit etwas anderem beschäftigst.“
Na klar, als wenn ich in so einer Situation einfach die Füße hochlegen könnte. „Wolltest du etwas Bestimmtes?“, fragte ich ein wenig bissig. Ich wusste, er konnte nichts dafür, aber ich war frustriert. Es musste so viel erledigt werden und ich wusste gar nicht wo ich zuerst anfangen sollte.
Zum Glück nahm Samuel meine Laune nicht persönlich. „Ich mache mir Sorgen um Sadrija. Ich kann sie seit vier Tagen nicht erreichen.“ Er setzte den zappelnden Wolfs-Aric auf den Boden, wo er versuchte sich spielerisch auf das Fell vor dem Kamin zu stürzen. Nur leider spielten seine Beine dabei nicht so mit, wie er es sich vorstellte. „Eigentlich sprechen wir jeden Abend miteinander, daher bin ich ein wenig beunruhigt und befürchte, dass etwas passiert sein könnte.“
Na das würde mir jetzt noch fehlen. „Ist sie immer noch in dem Ferienhaus?“
„Soweit ich weiß, ja.“
„Sie ist doch mit einem Wächter gefahren, oder?“
„Ja.“
Na dann war die Sache doch glasklar. „Wahrscheinlich will sie einfach nicht gestört werden.“
Das war wohl nicht das, was Samuel hatte hören wollen. „Ich würde mich besser fühlen, wenn das jemand überprüfen könnte. Würdest du jemanden hinschicken, der sich von ihrer Unversehrtheit versichert?“
Mein Gott, der Kleine war ja schon fast so paranoid wie ich. Die drei Umbra im Raum die ich zu Arics Leibwache erklärt hatte, konnten das sicher bezeugen. „Ich hab im Moment niemanden übrig. Alle sind auf der Suche nach dem Markis und die Wächter, die noch hier sind, werden hier gebraucht. Ich wüsste nicht wenn ich schicken …“
„Bitte, Cayenne.“ Er sah mich so flehentlich an, dass Widerstand sofort ins wackeln geriet.
Ich zögerte noch, gab mich dann aber mit einem Seufzer geschlagen. Na super, wo sollte ich jetzt jemanden herbekommen, der dem Liebesspiel einer ehemaligen Prinzessin auf den Grund ging? „Ich werde sehen, was ich machen kann.“
Er atmete erleichtert aus. „Danke.“
Was man nicht alles für die liebe Familie tat. „Aber erst muss ich noch ein Telefonat führen.“
Er nickte und ließ sich auf einem der Sessel nieder. Entweder er wollte sicher stellen, dass ich das auch wirklich tat, oder – und wahrscheinlicher – er genoss einfach nur die Klimaanlage hier drin. Schon den ganzen Tag war es brühend heiß, weswegen nicht nur die Wölfe unter ihrem Pelz schwitzten.
Ich nahm den Telefonhörer erneut in die Hand, doch bevor ich auch nur eine Zahl drücken konnte, klopfte es an der Tür. „Was ist denn nun schon wieder?“ War es denn wirklich zu viel verlangt, in Ruhe nach einer vermissten Frau zu suchen?
Dem Klopfen folgte zögernd ein Diener. „Euer Majestät.“ Er verbeugte sich und verbrauchte damit noch mehr von meiner nicht vorhandenen Zeit. „Ihr habt gewünscht informiert zu werden, sobald die Familie Maas im Hof eintrifft. Sie sind eben vorgefahren.“
Damit rückte alles andere auf meiner Lister erst mal in den Hintergrund. „Danke. Tun sie mir bitte einen Gefallen: Gehen sie rüber ins HQ und suchen sie die Themis Romeo, Ryder und Tyrone. Sie sollen sich mit mir in der Auffahrt treffen.“
„Sehr wohl Majestät.“ Er verbeugte sich noch mal und dann war er weg.
„Samuel, ich kümmere mich um den Wächter, sobald ich zurück bin.“
„In Ordnung.“
Ich legte den Telefonhörer zurück auf die Station, klaubte dann meinen Sohn vom Boden und machte mich mit einem halben Dutzend Umbras im Gepäck auf den Weg nach draußen zur Schlossauffahrt.
Gerade als ich nach draußen unter die heiße Sonne trat, wurden an der schwarzen Limousine, die unten vor der Freitreppe stand, die Wagentüren geöffnet.
Der erste Maas, der aus dem Wagen purzelte, war eine junge Frau, die vom Scheitel bis zur Sohle in ein schwarzes Spitzenkleid gehüllt war. Die Haare schwarz, die Fingernägel schwarz, ja selbst ihre Lippen waren schwarz angemalt. Tristans kleine Schwester Amber war ganz und gar ein Gothic-Girl.
Direkt hinter ihr stieg ein Mann in den mittleren Jahren aus. Er hatte hohe Geheimratsecken und einen kleinen Bauch, ansonsten war er seinem Sohn Tristan wie aus dem Gesicht geschnitten – oder eben auch umgekehrt.
Dann sah ich Anouk. Er kletterte vom Sitz und griff dann sofort nach der Hand seines Großvaters. Und wie all die anderen Male, als ich ihn gesehen hatte, drückte er auch dieses Mal ein Buch an seine Brust.
Ich ließ gerade die letzte Stufe der Freitreppe hinter mir, als auch die großgewachsene Marica aus dem Wagen stieg und sich kritisch umschaute. „Hallo“, begrüßte ich sie und reichte Tristans Vater Oliver meine freie Hand. „Es tut mir leid, dass ich sie so plötzlich habe herbringen lassen, aber die Umstände erforderten mein sofortiges Handeln.“
„Das ist in Ordnung.“ Oliver hatte eine sehr tiefe Stimme. „Ich möchte nur wissen, was mit meiner Tochter ist.“
Anouk zupfte an meinem Kleid.
Ich lächelte ihn an und strich ihm über den Kopf. „Das kann ich verstehen, aber leider kann ich noch nichts genaues sagen. Meine Leute …“
„Raphael!“
Als ich Raphaels richtigen Namen aus dem Mund seiner Mutter hörte, schaute ich erschrocken auf. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie sie losrannte. In der nächsten Minute schon, fiel sie ihrem Sohn, der gerade mit Lucy, Tristan und Roger auf uns zukam, auch schon um den Hals.
Raphael stand einen Moment etwas verdattert da. Erst dann schloss er seine Arme auch um sie und rückte sie ganz fest an sich.
Wieder einmal wurde mir bewusst, wie sehr er seine Familie doch eigentlich brauchte. Hoffentlich tat er nie wieder sowas dummes, wie einfach untertauchen.
„Papa“, rief Anouk und streckte die Arme nach seinem Vater aus, kaum dass der in Reichweite war. Roger nahm den sechsjährigen auch direkt auf den Arm und drückte ihn an sich. Er sah gelinde gesagt scheiße aus. Wahrscheinlich hatte er in der letzten Nach noch weniger geschlafen, als ich.
„Ich möchte ja nicht unverschämt sein, aber was ist hier eigentlich los?“, wollte Amber wissen. Sie schaute von mir zu Tristan und wieder zurück. „Die Wächter haben nur erzählt, dass Vivien schon wieder entführt wurde.“
„Das ist richtig. Der Mann, der sie schon einmal entführt hat, hat sie sich wieder geholt.“
Roger gab ein ersticktes Geräusch von sich.
„Was?“ Amber schaute mich an, als wäre mir gerade ein zweiter Kopf gewachsen. „Aber … wie?“
„Das wissen wir leider noch nicht.“ Genaugenommen wussten wir rein gar nichts.
Oliver war ein wenig blasser geworden. „Gibt es denn schon Hinweise auf ihren Verbleib?“
Es widerstrebte mir, aber ich musste den Kopf schütteln. „Meine Leute sind dran. Ich habe alle verfügbaren Kräfte mobilisiert und auch das Rudel hält Ausschau, aber bisher haben wir noch keine Spur. Tut mir leid.“
„Und was werdet Ihr nun unternehmen?“, fragte Amber mich ganz direkt.
„Alles was in meiner Macht steht.“
„Ich will helfen“, sagte sie fest. „Gebt mir eine Aufgabe. Ich werde dafür sorgen, dass dieser Flachwixer seine eigenen Eier zum Frühstück verspeist!“
Das nannte man dann wohl eine Kämpfernatur. Leider bezweifelte ich, dass ihre Familie allzu erfreut wäre, wenn ich sie auf die Jagd nach einem gefährlichen Skhän schicken würde. „Dein Kampfgeist in allen Ehren, aber …“ Mein Handy klingelte. „ Moment.“ Ich drückte Ginny Aric in den Arm und angelte mein Telefon aus meiner Rocktasche. „Ja?“
Es war Großwächter Edward. „Königin Cayenne, meine Leute aus Spanien haben sich zurückgemeldet und es gibt eine neue Spur.“
„Habt ihr sie?“ War das wirklich möglich? Konnte ich so schnell Erfolg haben?
„Nein.“
Nein, natürlich nicht. „In Ordnung, dann … finden sie sich in zehn Minuten zu einer Besprechung im HQ der Themis ein.“
„Sehr wohl, Eure Majestät.“
„Dann bis gleich.“ Ich legte auf und ließ meine Handy wieder in meiner Rocktasche verschwinden. „Ginny, bring Aric bitte zu Samuel. Und sorge bitte dafür, dass unser Besuch Zimmer bekommt. Sie sind meine persönlichen Gäste und bekommen alles, was sie sich wünschen.“
„Sehr wohl, Königin Cayenne.“ Sie nickte mir zu. „Kommen sie bitte alle mit mir.“
„Geht mit ihr“, wandte ich mich noch mal direkt an die Familie. „Sobald es etwas Neues gibt, werde ich euch Bescheid sagen. Und keine Sorge, ich werde Vivien finden.“
Amber machte einen Schritt auf mich zu. „Ich will helfen.“
„Das geht nicht.“ Meine Stimme ließ keine Wiederworte zu. Ich hatte jetzt keine Zeit mich mit ihr zu befassen, ich musste mit Eddy sprechen. Eine Spur, das war im Moment wichtiger, als die Gefühle eines kleinen Mädchens. „Diego, du bleibst bei mir, der Rest geht mit Aric.“
Auch Tristan und Lucy begleiteten ihre Familie ins Schloss. Genau wie Marica. Das war gut. Vielleicht würde es Tristan ein wenig helfen.
Ich hätte es begrüßt, dass auch Roger sie begleitete, aber er wollte unbedingt an der Besprechung teilnehmen. Das er dazu allerdings auch Anouk mitnahm, gefiel mir nicht besonders. Ich konnte es zwar verstehen, aber Kinder hatten bei sowas nichts zu suchen.
Zehn Minuten später fand ich mich inklusive Miguel und Raphael in einem kleinen Konferenzraum wieder.
Eddy war bereits mit ein paar Wächtern anwesend und begann sofort zu berichten. Leider war die Spur nicht unbedingt das, was ich mir erhofft hatte. Er war nur ein Hinweis, auf eine weitere Immobilie in Amsterdam. Es wurde bereits ein Team aus Wächtern dorthin geschickt, doch die erste Durchsuchung hatte nur ein paar leere Räume ergeben.
Wieder keine brauchbare Spur. Auch die Themis waren mit ihrer Suche noch nicht weiter gekommen. Nicht mal Futures Recherche hatte brauchbare Ergebnisse gebracht. Es war zum Verrücktwerden.
Als Miguel dann auch noch anmerkte, dass Jegor mit einer falschen Identität untergetaucht sein könnte, warf ich sie alle Raus. Ich brauchte einen Moment, um meine Gedanken zu ordnen. Irgendetwas übersahen wir die ganze Zeit. Es war sicher nur eine Kleinigkeit, der man einfach keine Beachtung schenkte, weil sie auf dem ersten Blick zu unbedeutend wirkte. Aber sie war sicher da, ich musste nur meinen Grips anstrengen und sie finden.
„Du solltest dich mal einen Augenblick entspannen.“
Überrascht drehte ich mich herum und sah Raphael, der von innen an der geschlossenen Tür stand. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass außer mir noch jemand im Raum war.
Gott, ich musste wirklich am Ende mit meiner Kraft sein, wenn mir so etwas Auffälliges schon entging. „Ich habe keine Zeit mich zu entspannen, ich muss Vivien finden.“
„Du musst dabei aber auch ein wenig an dich selber denken. Es hilft niemanden, wenn du dich völlig verausgabst und am Ende unter der Last, die du dir selber auferlegt hast, zusammenbrichst.“
Selber auferlegt? Das war echt der Witz des Jahres, nein, des Jahrhunderts. „Hör auf von Dingen zu sprechen, von denen du nichts verstehst“, ranzte ich ihn an. Ich war frustriert und fühlte mich unnütz und ausgebrannt. Es machte mich fertig, dass ich keine Spur hatte.
„Vielleicht verstehe ich von diesen Dingen nicht so viel wie du, aber ich verstehe sehr viel von dir.“ Er löste sich von seinem Platz und legte mir die Hände auf die Hüfte. „Und ich weiß, was du brauchst.“
„Ja ich auch, Jegor und ein scharfes Hackebeil.“
„Ich meinte davon abgesehen.“ Er nahm mein Kinn zwischen die Finger und zog mich an seine Lippen heran. Die erste Berührung war nur ein zartes Streifen, doch schon die zweite, spürte ich bis hinunter in die Zehenspitzen.
Eigentlich sollte ich ihn abweisen und ihm erklären, dass ein bisschen Knutschen mich bei meinem Problem auch nicht weiter brachte, aber als er mich dann näher zu sich zog, überlegte ich, dass so eine kleine Ablenkung vielleicht helfen könnte auf andere Gedanken zu kommen.
Als er merkte, dass ich mich darauf einließ, schob er mich rückwärts, bis der Tisch den weiteren Weg behinderte. Aber das war nicht weiter schlimm. Er schob einfach meinen Rock hoch und hob mich dann auf die Tischplatte. Dabei unterbrach er die Verbindung zwischen uns keinen Moment.
Dieser Kuss … er war unglaublich. Ich konnte praktisch spüren, wie er mich wenigstens für eine kleine Weile von meinen Problemen forttrug. Als er dann auch noch meinen Rock höher schob und sich zwischen meine Schenkel drängte, schlang ich die Beine um seine Hüfte und zog ihn näher an mich. Der kleine Stich, den ich dabei in Schusswunde verspürte, wurde einfach von den ganzen anderen Gefühlen verschluckt.
Langsam ließ Raphael eine Hand an meinem Schenkel hinauf wandern und als er dann meine Mitte erreichte, schnappte ich nach Luft.
Gott, wie stellte der Kerl das nur an?
Ich vergrub die Hände in seinen kräftigen Schultern und drängte mich gegen seine Hand, damit …
Das Geräusch der sich öffnenden Tür, veranlasste mich nicht nur dazu erschrocken aufzuschauen, im gleichen Zug riss ich auch meinen Rock herunter. Es musst nun wirklich niemand sehen, wo Raphael überall seine Hände hatte.
Von der Tür aus, schaute mir Nikolaj entgegen. Seine Lippen wurden eine Spur schmaler und der Blick in seinen Augen … mich so zu sehen, tat ihm wirklich weh.
„Nikolaj, ich …“
Er schüttelte nur den Kopf und trat wortlos den Rückzug an.
„Wenn ich den zwischen die Finger bekomme, dann werde ich …“
„Gar nichts wirst du mit ihm tun!“, fuhr ich Raphael sofort über den Mund, bevor er vor mir in allen Einzelheiten ausbreiten konnte, welchen qualvollen und blutigen Tod er sich für meinen Gefährten ausgemalt hatte. „Ich verbiete es dir.“
Raphael sah mich an, als käme ich vom Mond. „Dir ist klar, dass ich keiner deiner Wölfe bin?“ Er zog seine Hand hervor und legte sie auf mein Bein. „Ich lasse mir von dir nichts befehlen.“
Ach wirklich? Na wenn er es so wollte, konnte er es auch so haben. „Ich bin eine Königin, die Königin. Alpha des Rudels der Könige. Lass es nicht darauf ankommen, Raphael, denn auch wenn ich dir nichts befehlen kann, so habe ich doch tausende von Lykanern, unter denen sich sicher zwei oder drei Leute finden lassen, die sich auf dich draufzusetzen, wenn du ihrem König an die Gurgel willst.“
Er starrte mich finster an. „Warum beschützt du ihn? Ist dir nicht klar, was er dir angetan hat? Was er uns angetan hat?“
Ich schüttelte den Kopf. „Du verstehst das nicht. Nikolaj ist mit seinem Leben schon gestraft genug, ich werde nicht zulassen, dass du ihm noch mehr schadest. Außerdem ist er mein König und …“
„Und er Vater deines Kindes“, sagte er bitter.
Eigentlich hatte ich ja sagen wollen, dass es außer mir niemanden gab, der ihn beschützte, aber dass Raphael zu diesen Schluss kam, hätte mich nicht wundern sollen.
Bei dem Ausdruck in meinem Gesicht zog er die Augenbrauen zusammen. Keine Ahnung, was er da in meinen Augen lass, aber er schien plötzlich zu wissen, dass es da noch ein paar Geheimnisse gab, die ich vor ihm verbarg.
Ich wich seinem Blick aus.
„Was, Cayenne?“
„Nichts.“ Ich schob ihn von mir und brachte meine Garderobe wieder in Ordnung. „Ich muss jetzt weiterarbeiten.“
„Cayenne.“ Als ich nicht reagierte und nur versuchte schnellstens an ihm vorbeizukommen, schnappte er mich beim Arm. „Nikolaj ist doch Arics Vater, oder?“
„Was ist das denn für eine Frage?“
„Eine ganz einfache. Eine Ja, oder Nein Frage, also?“
Ich kniff die Lippen zusammen.
Diese kleine Reaktion musste ihm schon gereicht haben, er erkannte die Wahrheit auch ohne, dass ich sie aussprach. „Er ist es nicht, aber wer …“ Die Erleuchtung kam ihm von ganz alleine. „Sydney.“ Er ließ mich los und wich einen Schritt vor mir zurück. „Verdammt, Cayenne, was hast du jetzt schon wieder angestellt? Warum hast du … ach Scheiße!“ Er wirbelte herum und riss die Tür mit so viel Krach auf, dass sie gegen die Wand knallte.
Ein paar Schaulustige spähten neugierig in den Raum, als Raphael nach draußen stürmte.
Verdammt, das hätte er nicht erfahren sollen. Außer Sydney und mir wusste das sonst niemand. Naja, vielleicht noch Nicoletta. Manchmal war sie in wirklich ungünstigen Momenten zur Arbeit gekommen.
Alexia nährte sich mir vorsichtig. „Alles okay bei dir?“
„Ja klar, alles bestens.“
„Du bist eine echt miserable Lügnerin.“
Nein, das war ich nicht, das hatte die Vergangenheit oft genug bewiesen, nur sah ich gerade kein Grund, meine Gemütsverfassung zu verbergen. „Er hat nur etwas erfahren, was ihm gefällt, aber er wird schon darüber hinwegkommen.“
„Hoffentlich bevor er das HQ zerlegt. Was die Türen hier in der letzten Zeit aushalten müssen, geht auf keine Kuhhaut.“
„Auf keine Kuhhaut? Also wirklich, Alexia, so etwas sagt doch heutzutage niemand mehr.“ Schon klar, das war gerade völlig irrelevant, aber wenn ich mich mit so etwas belanglosem beschäftigen konnte, musste ich nicht darüber nachdenken, was gerade passiert war. Würde Raphael es für sich behalten? Ich musste dringend mit ihm sprechen. „Okay, egal, ich muss jetzt wieder an die Arbeit.“
Ich trat an ihr vorbei aus dem Raum und machte mich auf dem Weg durch den langen Korridor. Als ich an der Zentrale vorbei kam, warf ich gewohnheitsmäßig einen Blick hinein. Hey, Moment mal, war das nicht Anouk, der da bei Future auf dem Schoß saß?
Irritiert blieb ich stehen und schaute mich nach Roger um. Die Zentrale war voll, doch von seinem Vater sah ich nicht die geringste Spur.
Verwundeter ging ich zu den beiden hinüber.
Future hielt dem Kleinen eine Videokamera vor die Nase. „ … du hier drauf drückst, kannst du dir das, was du gerade gefilmt hast, abschauen. Siehst du?“
Er nickte. „Und wenn du auf diesen Knopf drückst, kannst du damit auch Fotos machen. Du musst nur …“
„Wo ist Romeo?“, unterbrach ich die beiden.
Future zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Als er aus eurer Besprechung kam, meinte er, dass ich kurz ein Auge auf den Kurzen haben sollte und dann war er weg.“
Das war doch wohl nicht sein ernst. Was war nur mit Roger los? Erst wollte er Anouk um nichts auf der Welt aus der Hand geben und jetzt ließ er ihn einfach so hier stehen? „Weißt du wo dein Vater hin wollte?“, fragte ich den Kleinen ganz direkt.
Er schüttelte nur den Kopf.
Super, einfach klasse. „Na komm, ich bring dich zu deinem Großvater.“
„Okay.“ Anouk wollte Future die Videokamera zurückgeben, doch die hob nur die Hände. „Nein, du kannst sie haben, ich habe noch genug andere Kameras.“
Anouk richtete seinen fragenden Blick an mich und erst als ich nickte, gab er ein leises „Danke“ von sich. Er würde die Zeit bei Markis Jegor wohl niemals völlig überwinden.
„Na dann komm.“ Ich streckte ihm die Hand hin.
„Warte“, sagte Future und drehte sich auf ihrem Stuhl herum. „Hast du noch den Stick mit den Unterlagen aus Komarows Safe?“
„Ja, der liegt oben in meinem Büro. Ich bin noch nicht dazu gekommen, ihn mir anzuschauen.“
„Könntest du ihn mir bringen? Ich bräuchte ihn.“
Ich sah auf die Uhr über der Tür. Eigentlich hatte ich gar keine Zeit jetzt noch irgendwelche Botengänge zu machen, aber noch weniger wollte ich, dass jemand seine Nase in meine privaten Sachen steckte. „Ja, in Ordnung, ich hole ihn dir.“
„Danke.“ Und schon galt ihre ganze Aufmerksamkeit wieder dem Computer.
„Na dann wollen wir mal.“ Mit Anouk an der Hand machte ich mich auf den Weg zu meiner Suite. Dabei versuchte ich Anouk ein paar Mal anzusprechen, aber die Videokamera in seiner Hand war wesentlich interessanter.
Auf der letzten Treppenflucht begegnete ich Samuel. Er hatte Aric auf dem Arm. „Hast du dich schon um den Wächter gekümmert?“
„Was für ein Wächter?“
Wir erreichten den Korridor der direkt zu meiner Zimmertür führte.
„Der Wächter, den du zu Sadrija schicken wolltest.“
„Mist.“ Den hatte ich ja ganz vergessen. Oh Mann, wenn mein Kopf nicht festgewachsen wäre, würde ich wohl schon seit meiner Kindheit ohne herumrennen. „Ich kümmere mich gleich darum, ich muss nur noch schnell etwas aus meinem Büro holen und zu den Themis bringen.“
„Das kann ich doch auch machen. Und du schickst einen Wächter zu Sadrija.“
Ein wenig Arbeit abgenommen zu bekommen, wäre wirklich nicht schlecht. „Gut, ich hole es nur schnell.“ Ich öffnete meine Zimmertür und ließ meine Anhängsel hinein. „Wartet kurz.“
Während ich nach nebenan in mein privates Büro ging, blieben die anderen Im Wohnzimmer. Ich musste ein wenig zwischen meinen Papieren kramen, um den Stick zu finden und schmiss dann auch noch ausversehen meinen Stiftbecher um.
Genervt von mir selber, begann ich damit ihn wieder einzuräumen.
„Das solltest du lassen“, sagte Samuel im Nebenraum. „Cayenne mag es nicht, wenn jemand ihre Sachen anfasst, da ist sie sehr eigen.“
Was hieß hier eigen? Das waren meinen Sachen, da hatte niemand anderes was dran zu suchen.
„Aber da ist Blut dran“, sagte Anouk.
Blut? Was hatte ich den in meinem Zimmer, an dem Blut sein könnte?
„Blut?“ Samuel klang verwundert. „Zeig mal her.“
Ich ließ die Stifte liegen und ging zu den andern nach Nebenan. Als ich sie mit dem Holzkästchen von Jegor in der Hand sah, bekam ich fast einen Herzinfarkt. „Fasst das nicht an!“
Die beiden schraken so sehr zusammen, dass das Kästchen auf dem Boden landete und sein Inhalt sich über den Teppich verteilte.
Anouk trat beschämt ein paar Schritte zurück, aber Samuel runzelte verwirrt die Stirn und bückte sich nach etwas, dass wie ein braunes Seil aussah. Nach einem Moment hielt er es sich an die Nase und schnüffelte daran. Auf seiner Stirn erschienen tiefe Falten. „Was ist das?“
„Eine kleine Aufmerksamkeit, bei der ich noch nicht dazu gekommen bin, die finsteren Dämonen auszutreiben. Ist schon gut Anouk“, sagte ich zu dem Kurzen, der wohl fürchtete, dass ich ihn jetzt durch den Fleischwolf drehte. Ich sammelte das Kästchen vom Boden auf, wollte das Halstuch wieder reinlegen, als mir ein weißer Zettel auffiel, den ich bisher nicht bemerkt hatte.
„Aufmerksamkeit?“
Ich stellte das Kästchen auf den Boden, nahm den Zettel und lass die drei Worte darauf: Auge um Auge. Ähm … okay, damit konnte ich nicht viel anfangen. Hieß das nicht eigentlich Auge um Auge, Zahn um Zahn?
Auf der Suche nach weiteren Worten, drehte ich den Zettel herum, aber da war nichts. Was hatte das nun wieder zu bedeuten und warum …
„Cayenne, würdest du mir bitte einen Augenblick zuhören? Warum hast du hier einen Zopf von Sadrija?“
Ich schaute verwirrt auf. „Was?“
Aric tapperte zu Anouk und winselte ihn vom Boden an.
„Zopf.“ Samuel hielt mir das Objekt vor die Nase. „Das sind Sadrijas Haare. Du weißt doch wer Sadrija ist, oder?“
„Das sind …“ Meine Augen weiteten sich. Ich riss Samuel den Zopf aus der Hand und hielt ihn mir vor die Nase. Ich musste nur einmal einatmen und schon war jeder Zweifel ausgeschlossen. Das waren wirklich Sadrijas Haare. Markis Jegor Komarow hatte mir Sadrijas Haare gegeben. Sadrija war seit Tagen nicht zu erreichen, Markis Jegor war mit Vivien verschwunden, aber vorher hatte er mir noch ein kleines Geschenk hinterlassen. Er hatte Gräfin Sadrija.
Auge um Auge.
Als mir die Tragweite dieser einfachen Worte klar wurde, flatterte der Zettel einfach zu Boden. Markis Jegor hatte nicht nur Vivien, er hatte auch Gräfin Sadrija.
„Cayenne?“ Samuel beugte sich vor. „Stimmt etwas nicht?“
Aber er wollte keine weitere Sklavin, er wollte sich rächen. Ich hatte Fletcher getötet. Das Andenken an ihn, hatte er mir extra mitgebracht. Und er hatte noch eines dazu gelegt.
Jegor wollte keine Sklavin, er wollte Vergeltung für den Tod von Fletcher.
„Cayenne?“
Meine Beine gaben nach und ich sackte einfach in mich zusammen. „Sie ist tot.“
„Wer ist tot?“
Ich glaubte das Samuel die Antwort schon ahnte, aber er wollte es aus meinem Mund hören. „Sadrija ist tot, Jegor hat sie getötet.“ Und das war allein meine Schuld.
°°°
Verärgert knallte ich die Schublade von meinem Schreibtisch zu und als sich dabei auch noch mein Block in der Ritze verging, hättet ich das Teil am liebsten vom Mondturm geschubst. Da es aber ziemlich umständlich wäre, den ganzen Schreibtisch dort hinauf zu tragen, verlegte ich mich einfach darauf zu knurren. „Verdammt, kann den gar nichts klappen?“ Nicht nur das weiterhin jede Spur von Gräfin Sadrija fehlte, jetzt war auch noch mein verfluchtes Siegel verschwunden. Diese Tage konnten wirklich nicht mehr schlimmer werden.
Deprimiert lehnte ich mich in meinen Schreibtischstuhl und vergrub das Gesicht in den Händen. Alles wuchs mir über den Kopf, ich kam einfach nicht mehr klar.
Aric saß in seinem Ställchen und beobachtete mich mit großen Augen.
Zwei Tage war es nun her, dass ich Jegors Geschenk richtig verstanden hatte, zwei Tage voller Zweifel und Selbstvorwürfe, in denn ich nichts anderes getan hatte, als den Markis zu suchen. Die Lykaner auf der ganzen Welt taten das, aber wir hatten noch nicht mal den kleinsten Anhaltspunkt und mit jedem verstreichenden Tag würde es schwieriger werden.
Sadrija und der Wächter Danilo waren verschwunden, das Ferienhaus in das sie sich zurückgezogen hatten, leer. Niemand wusste was mit ihnen geschehen war. Kein Blut, keine umgeworfenen Möbel, kein Anzeichen auf gewaltsames Eindringen. Es war als hätten die beiden das Haus zu einem nachmittäglichen Spaziergang verlassen und waren einfach nicht zurückgekommen.
Tristan und seine Familie waren völlig am Ende. Roger benahm sich total neben der Spur. In dem einen Moment war er der kühle, unnahbare Umbra, im nächsten ein liebender Vater und dann … ja und dann schlug er in seiner Verzweiflung das HQ kurz und klein. Irgendwie erinnerte mich das ein wenig an mich selber.
Mein einziger Ruhepol, den ich die letzten Tage hatte finden können, war bei Raphael. Leider war er seit dem kleinen Zwischenfall mit Nikolaj ein wenig … schwierig. Die ganze Geschichte zwischen Nikolaj, Sydney und mir belastete ihn. Es gab viele Dinge, die er einfach nicht verstand.
Mehr denn jäh sehnte ich mich nach Sydney. Er war nicht nur immer für mich da gewesen, ihn musste ich nicht erst erklären, was los war. Und im Moment hätte ich ihn so dringend gebraucht. Warum nur verstand er das nicht?
„Was suchst du denn?“, fragte Diego in die Stille hinein.
Ha! Wo sollte ich da nur anfangen? Von Vivien und Markis Jegor mal abgesehen, glaubte ich so langsam auch, dass ich meinen Verstand verloren hatte. „Mein Siegel. Ich finde es nicht.“
„Komm, ich helfe dir suchen, es muss ja hier irgendwo sein.“ Er ging neben mir in die Hocke und machte sich daran die verklemmte Schublade in Ordnung zu bringen.
Während ich ihn bei seinen wenigen handwerklichen Talenten beobachtet, musste ich daran denken, was Raphael zu mir gesagt hatte. „Darf ich dich mal etwas fragen?“
„Nur zu.“
„Es ist etwas Privates.“
„Das hat dich früher auch nicht gestört.“ Ein kleiner Schubs, ein Ruckeln und die Schublade war offen. Ah, seine handwerklichen Fähigkeiten hatten sich wohl ein wenig erweitert.
„Ryder hat da etwas gesagt. Also, ich halte das ja für ausgemachten Blödsinn, nur damit du es gleich weißt, aber ich wollte dich trotzdem fragen.“
Er wartete.
Nun hab dich mal nicht so, er wird dich schon nicht gleich fressen. „Bist du … warst du … also Ryder sagt, dass du früher in mich verliebt warst.“
Dafür bekam ich dieses seltenen halben Lächeln. Er erhob sich und lehnte sich neben mir an die Schreibtischkante. „Er hat recht.“
Mir fiel die Kinnlade runter – wortwörtlich.
„Nun schau nicht so entsetzt. Es ist schon lange her.“
Naja, so lange war das ja auch noch nicht. „Aber heute bist du nicht mehr … ich meine …“ Oh man, das war so abwegig, dass ich es gar nicht in Worte fassen konnte. Raphael hatte recht gehabt?
„Nein“, lachte er.
„Gott sei Dank.“
„Hey, du brauchst nicht gleich so erleichtert sein.“
„Sorry, nur der Gedanke, der ist irgendwie …“ Ich machte eine vage Handbewegung.
„Seltsam?“, bot er an. „Glaub mir, das war es auch für mich. Du warst schließlich nicht nur mein Schützling, sondern auch noch meine beste Freundin. Diese Gefühle sind einfach gekommen.“
Tja, was sollte ich dazu noch großartig sagen? „Und heute? Ich habe dich nie mit einer Frau gesehen.“
Er lächelte verschmitzt. „Nur weil du mich nicht gesehen hast, heißt das noch lange nicht, dass es da niemanden gab.“
„Erzähl.“
„Naja, eine Zeitlang war ich mit Penelope liiert. Sie arbeitet hier in der Küche. Mit Nicoletta hatte ich auch hin und wieder etwas am Laufen.“
„Sydneys Nicoletta?“ Scheiße, alleine diesen Namen auszusprechen, versetzte mir einen Stich ins Herz. Ich hatte ihn seit Tagen nicht gesprochen und nur einmal kurz aus der Ferne gesehen. Klar, ich hatte Raphael, aber Sydney … ich vermisste ihn.
„Kennst du sonst noch eine Nicoletta?“
„Hm? Nein.“ Mist, ich sollte wohl besser beim Thema bleiben, sonst könnte auffallen, dass mit mir etwas nicht stimmte. Von dem offensichtlichen einmal ganz abgesehen, aber der Gedanke an Sydney ließ sich jetzt nicht mehr verdrängen. Ich sehnte mich so furchtbar nach ihm, und hier mit Diego über seine Liebschaften zu sprechen, half auch nicht wirklich. Heuchle wenigstens Interesse, auch wenn es dir schwerfällt. „Und nun, wer ist jetzt deinem Charme verfallen?“
„Ginny.“
„Ginny?“ Dann hatte ich mir das in Kassel also doch nicht nur eingebildet.
„Sie ist … etwas Besonderes.“ Der sanfte Ausdruck in seinen Augen ließ mich erahnen, wie besonders sie für ihn war.
Mit einem Mal wurde das Sehnen nach Sydney so stark, dass ich nicht mehr länger sitzen bleiben konnte. „Entschuldige mich, ich muss kurz etwas erledigen.“ Eilig nahm ich Aric aus seinen Ställchen.
„Alles okay mit dir?“
„Ja ja, alles bestens, bleib bitte hier.“ Dafür brauchte ich nun wirklich keine Zuschauer.
Ich suchte Sydney in seinem Büro. Natürlich war er nicht da. Also machte ich mich auf direktem Wege auf ins Labyrinth. Wenn er dort auch nicht war, dann … ja, keine Ahnung. Ich brauchte nicht noch jemand auf meiner Liste der Verschwundenen. Allein der Gedanke daran, dass Markis Jegor ihn zwischen seine Flossen bekommen hatte, ließ mein Herz vor Panik eifrig in meiner Brust galoppieren.
Nein!
Ich verbot mir diesen Gedanken. Sydney war hier, ihm ging es gut, ich musste ihn nur finden. Und ich fand ihn.
Er saß unter unserem Baum, die Schnauze in den wolkenverhangenen Himmel erhoben. Da würde heute noch so einiges runter kommen. Er musste mich gehört haben, aber er zeigte es nicht.
„Sydney?“
Als ich näher kam, senkte er seufzend den Kopf. Vielleicht war es jetzt ja so weit und er hatte die Schnauze gestrichen voll von mir. Das würde seine abweisende Art erklären.
„Sydney, bitte, benimm dich endlich wieder normal, wie mein Sydney.“ Ich brauchte ihn doch so sehr. „Bitte.“
„Ihr könnt immer zu mir kommen, das habe ich Euch versprochen. Wenn Ihr mich braucht, werde ich für Euch da sein.“
„Du siehst mich ja nicht mal an.“ Mein kleiner Wolf zappelte auf meinem Arm. Er wollte runter und spielen, doch ich behielt ihn bei mir. Im Moment brauchte ich etwas, an dem ich mich festhalten konnte.
Sydney schloss die Augen. „Nie habe ich etwas von Euch gewollt, Euch im Gegenzug aber alles gegeben, was mir nur möglich war und jetzt, zum ersten Mal, habe ich eine Bitte an Euch, Ihr müsst nur diese eine Entscheidung treffen.“
„Aber dafür habe ich jetzt keinen Kopf, verstehst du das denn nicht? Ich hab keine Zeit mich mit meinen Gedanken auseinanderzusetzen, ich weiß nicht wie ich mich entscheiden soll und …“
Er schlug die Augen auf und fixierte mich. „Ihr seid die Königin, Ihr seid das Glied, das uns alle zusammenhält, Ihr müsst täglich wichtige Entscheidungen treffen, die ganze Leben verändern. Ich weiß dass diese nicht leicht ist, aber ich kann nicht neben Euch stehen und zusehen, wie Ihr Euch nach diesem Vampir sehnt, versteht Ihr das nicht?“
„Ich sehne mich nach dir, Sydney, ich vermisse dich, ich will dass es wieder wie früher wird. Bitte wende dich nicht von mir ab.“
„Entscheidet Euch.“
„Das kann ich nicht.“
„Dann kann ich nicht an Eurer Seite weilen, es tut mir leid.“ Er erhob sich.
Ich sah die Sehnsucht in seinen Augen und verstand nicht, wie er einfach wieder gehen konnte, wo er doch das Gleiche wollte wie ich. „Bitte Sydney, verlass mich nicht.“
„Entscheide dich, Cayenne, er oder ich, du kannst uns nicht beide habe, das erträgt keiner von uns, auch du nicht.“ Damit ließ er mich allein.
Dieser sture Wolf! Warum machte er es uns so schwer? Ich verstand ihn ja und ich wollte nicht egoistisch sein, aber ich konnte Raphael doch nicht einfach so davon jagen. Doch genauso wenig konnte ich Sydney gehen lassen und genau das würde er tun, wenn ich nicht bald meine Wahl traf.
Alles entglitt mir.
„Scheiße!“ Nicht sonderlich elegant, ließ ich mich ins Gras plumpsen. Mein Sohn fand das natürlich toll, endlich durfte er wieder durch die Gegend stolpern. „Was soll ich nur machen?“
Aric sah mich mit großen Augen an. Dann steckte er die Nase ins Gras und schreckte einen Grashüpfer auf. Nun, der war wohl interessanter, als die langweiligen Probleme seiner Mutter. Aber als dann plötzlich ein zweiter Grashüpfer seinen Weg kreuzte, verharrte er auf dem Fleck und schien nicht zu wissen, welchen der beiden er folgen sollte.
Damit stand er vor dem gleichen Problem wie ich mit Sydney und Raphael. Oh Gott, jetzt fing ich schon an meine Beziehungen mit Grashüpfern zu vergleichen. „Mir ist wirklich nicht mehr zu helfen.“
Seufzend ließ ich mich auf den Rücken fallen und starrte hinauf in den Himmel. Der April hatte voll zugeschlagen. Gestern noch waren die Temperaturen kaum auszuhalten gewesen und heute mussten wir befürchten, dass es noch einen ordentlichen Regenguss gab.
Da Aric mit seinem Grashüpfer Problem nicht weiter kam, drehte er sich herum und kletterte halb auf meinen Bauch. Dabei konnte ich zusehen, wie aus seinen kleinen Pfoten langsam Hände wurden und die Schnauze in seinem Gesicht sich zurückbildete, bis da ein kleiner jauchzender Mund war. Er lächelte mich an und präsentierte mir dabei seine ersten beiden Zähnchen.
„Du hast nicht zufällig einen Tipp für mich, der alle meine Probleme verschwinden lässt?“
Er bückte sich, wobei er beinahe Übergewicht bekam, grabschte nach etwas im Gras und legte es mir dann auf den Bauch. Erst glaubte ich es sei ein Stein, doch bei näherer Betrachtung: „Ein Dreckklumpen.“ Ich tätschelte ihm das Köpfchen. „Danke mein Schatz.“
Er freute sich, nahm eine Hand hoch und landete prompt auf dem Windelpopo.
„Wenigstens einer meiner Männer macht keine Probleme“, murmelte ich und bemerkte eine Bewegung im Augenwinkel. Als ich den Kopf ein wenig drehte, sah ich den Ailuranthrop Tarajika um die Hecke streifen. Sie sah schon ein wenig besser aus. Zwar war sie noch immer rappeldürr und das Fell wirkte noch immer dumpf und ungepflegt, aber sie hatte einen kleinen Kullerbauch. Außerdem stank sie nicht mehr so extrem.
Wahrscheinlich war es albern, aber als sie sich näherte, setzte ich mich auf und hob Aric auf meinen Schoss. Ich konnte diese Katze einfach nicht einschätzen. Wenn man es genau nahm, dann wusste ich bis jetzt nicht mal, warum sie eigentlich hier am Hof war.
„Glaubst du, ich fresse Kinder?“, fragte sie und schlenderte an mir vorbei. Sie schnupperte an dem Baum, unter dem Sydney immer saß, schnaubte dann, als wäre ich der Geruch unangenehm und trat einen Schritt zurück. „Ich bin doch nicht wie deine Wächter.“
Bitte? „Wie kommst du darauf, dass meine Wächter Kinder fressen würden?“
„Weil ich es gerade gesehen habe.“ Sie schaute am Baum hinauf, als überlegte sie, ob es sich lohnen würde dort hinauf zu klettern. Dann drehte sie sich aber und setzte sich genau auf Sydneys Platz. „Der arme, kleine Junge. Ich glaube er hat Angst.“
Moment. „Was für ein kleiner Junge? Wovon sprichst du?“
„Von dem Jungen am Tor. Er hat geknurrt, als sie ihn aus dem Auto gezogen haben.“
Nein, ich konnte mir absolut keinen Reim auf diese Worte machen. Meine Wächter fraßen keine Kinder. Aber … „Meine Wächter haben vorne am Tor einen Jungen aus dem Auto gezogen?“
Sie schaute mich an, blinzelte einmal und begann dann damit sich zu putzen.
Katzen!
Eigentlich sollte ich ihr Gequatsche als Unfug abtun, doch irgendwas daran irritierte mich so sehr, dass ich genervt von mir selber meinen Sohn aufsammelte und mich auf dem Weg zum Haupttor machte.
Tarajika begleitete mich nicht.
Ich hatte den Vorhof gerade hinter mir gelassen, als ich den silbernen Opel direkt vor dem Tor bemerkte. Zwei Dutzend Wächter turnten um ihn herum. Ein paar Wölfe streiften mit gefletschten Zähnen und aufgestelltem Nackenfell um ihn herum. Die Luft vibrierte von ihrem Knurren.
Direkt daneben versuchten drei Wächter einem Mann mit einer fiesen Narbe über dem Auge Handschellen anzulegen, doch der wehrte sich nach Leibeskräften. Ein Stück daneben stand ein blonder Mann von eher schlackiger Natur, der von einer Frau festgehalten wurde. Moment, das war doch meine alte Haushälterin Victoria.
Ach du … Kacke.
Ich beschleunigte meinen Schritt. „Verdammt noch mal, kann mir mal jemand erklären, was hier los ist?“
Das Knurren hörte auf. Selbst der Mann wehrte sich bei meiner Stimme nicht länger. Alle schauten mich an.
„Heute noch?“
„Zwei Abtrünnige“, grollte einer der Wächter. „Sie wollten sich Zugang zum Schloss verschaffen.“
Was?
Der Wächter mit einen Tribialtattoo auf dem rechten Oberarm trat vor. „Diese beiden Abtrünnigen wollten zu Euch. Als wir ihnen sagten, dass sie besser ganz schnell wieder verschwinden, haben sie versucht einfach durch das Tor zu fahren.“
Ich trat etwas näher. Der schlackige Mann grinste mich ein wenig schief an. Verdammte Scheiße, das war kein kleiner Junge, das war Nathan! „Wer von ihnen kam auf die Idee, zwei unbewaffnete Männer festzunehmen, nur weil sie mich sprechen wollten?“
„Ich“, sagte der Wächter stolz. Nach einen Moment fügte er dann noch hinzu: „Außer es war ein Fehler, dann war es Victorias Idee.“
„Hardy!“, beschwerte Victoria sich sofort.
„Was?“
Manchmal konnte ich mir bei diesen Wölfen wirklich nur noch an den Kopf fassen. „Lasst die beiden los und zwar sofort. Parkt den Wagen an der Seite und geht dann zurück an die Arbeit und zwar alle.“
„Aber Königin“, fing ein anderer an. „Es sind Abtrünnige und …“
„Sofort.“ Mit einem Blick machte ich ihnen sehr deutlich, dass ich mich nicht wiederholen würde und auch, dass hier gleich Köpfe rollen würden, wenn sie meiner Aufforderung nicht auf der Stelle nachkamen.
Unwillig traten die Wölfe zurück. Sie lauerten und grollten leise, als Victoria Nathan die Handschellen abnahmen. Einer fletschte sogar die Zähne, als die drei Wächter den anderen Mann losließen. Es war Nathans Lebensgefährte Cooper, wie ich feststellte. Sollten die Abtrünnigen auch nur eine falsche Bewegung machen, würden die Wölfe sich sofort auf sie stürzen.
„Schluss jetzt“, befahl ich und sah ihnen nacheinander in die Augen. „Diese Männer sind Freunde von mir und ich wünsche, dass sie dementsprechend behandelt werden.“
Cooper schnaubte abwertend und zupfte an seinem Hemd, bis es wieder richtig saß.
Okay, Nathan war ein Freund, Cooper war … blöd.
Sobald Nathan von seinen Handschellen erlöst war, zeigte er meinen Wächtern den Mittelfinger und trat dann wachsam an mich heran. „Also an deinem Begrüßungskomitee musst du noch ein bisschen feilen“, bemerkte er. Er war in etwas so groß wie ich und auch genauso blond. Neben der Lederhose und dem schwarzen T-Shirt, mit dem brennenden Skelett darauf, trug er in seiner Unterlippe noch ein Piercing. Er war auch kein einfacher Lykaner, er war ein Beta in seinem Rudel.
„Nicht das ich mich nicht freue dich zu sehen, aber dein Besuch könnte kaum unpassender sein“, begrüßte ich ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Cooper streckte ich die Hand entgegen.
Er sah sie an, drehte sich dann weg und tat so, als hätte er sie nicht bemerkt.
Mein Gott, der Kerl war so ein … grrr!
„Ja, ich habe bereits gehört, mit was du dich hier so herumplagen musst.“ Nathan drehte sich leicht zur Seite, um einen der Wächter im Auge behalten zu können. „Können wir uns irgendwo unter vier Augen unterhalten?“
Diese Frage hatte in leises Grollen von Wächter Hardy zur Folge, doch ein Blick von mir genügte, damit er es sofort wieder unterließ. Nein, Abtrünnige erfreuten sich hier wirklich keiner großen Beliebtheit.
„Ist etwas passiert?“ Oh bitte nicht.
„Das möchte ich nicht hier besprechen.“
Verständlich, auch wenn es mich unruhig machte. Ich konnte nicht noch mehr Katastrophen gebrauchen. „Na gut. Am Besten, wir gehen in mein Büro, da sind wir ungestört.“
„Königin Cayenne.“ Victoria trat ein paar Schritte vor. „Es ist nicht ratsam sich mit einem Abtrünnigen zurückzuziehen.“
Oh, wie diese ganzen Vorurteile mich nervten. „Nathan ist ein Freund, er wird mir schon nichts tun.“
„Es wäre aber ratsamer …“
„Ich glaube ich habe mich gerade klar und deutlich ausgedrückt“, warnte ich sie. Nach den letzten Tagen hing meine Geduld nur noch an einem seidenen Faden und es war nicht ratsam, sie weiter zu strapazieren. „So, dann kommt mal.“ Ich kehrte meinen Wächtern den Rücken. „Und wenn jemand so freundlich wäre den Wagen zur Seite zu fahren, er blockiert den Weg.“
Ich bekam einige unzufriedene Blicke, aber wenigstens widersprach keiner mehr.
Als ich mich in Bewegung setzte, kam Nathan direkt an meine Seite. Cooper ließ sich ein wenig zurück fallen. Entweder weil er Nathan den Rücken decken wollte, oder – und wahrscheinlicher – weil er mich nicht leiden konnte.
Nathan beugte sich zur Seite und musterte den kleinen Wolf/Jungen in meinem Arm. „Also das ist dann wohl die Frucht deiner Lenden.“
„Sagt man das nicht eigentlich nur zu Männern?“, überlegte ich laut.
Die Wächter verfolgten uns mit Argusaugen und auch jeder anderen dem wir begegneten, war den Abtrünnigen gegenüber misstrauisch. Sie rochen anderes als das Rudel und lebten nicht nach unseren Gesetzten. Aber vor allen Dingen folgten sie nicht mir und wurden damit zu einer potentielle Gefahr.
„Und was sagt man dann zu Frauen?“
Ich zuckte die Schultern. „Weiß nicht.“
„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“, ließ Cooper verlauten.
„Na das wollen wir mal nicht hoffen.“
Dafür verdiente Nathan sich einen Knuff in die Seite.
„Au-a, du bist ja immer noch so brutal.“ Übertrieben auffällig rieb er über die Stelle, die ich getroffen hatte.
„Nun tu mal nicht so, als würde dir gleich der Arm abfallen.“ Manchmal war Nathan wirklich schlimmer als ein Mädchen.
Das ignorierte er. „Der Kleine ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten.“
Ich war ja immer der Meinung, dass er nach seinem anderen Elternteil kam. „Möchtest du ihn mal halten?“
„Klar.“
Mitten auf der Freitreppe zum Portal übergab ich ihm meinen Sohn. Der begann sofort damit an Nathan herumzuschnüffeln und steckte sich dann kurzerhand einen seiner Finger in den Mund.
Augenblicklich ertönte um mich herum mehrtöniges Knurren.
„Verdammt noch mal, seid ihr jetzt ruhig!“, fuhr ich die Wölfe an. „Habt ihr alle nichts zu tun? Los, an die Arbeit, bevor ihr keine mehr habt!“
Sie waren nicht ganz so schnell weg wie sonst, fügten sich aber.
Ich konnte nur den Kopf schütteln.
„Uh, da kann ja endlich jemand seine herrische Seite ausleben.“
„Ich bin nicht herrisch, ich bin genervt.“ Ich betrat als erste das Schloss. Augenblicklich waren die Augen von einem Dutzend Bediensteten auf uns gerichtet und das Knurren ging von vorne los. „Na sag mal, was ist heute mit euch los? Muss ich heute alles dreimal sagen? Wer nicht in zwei Sekunden wieder an seiner Arbeit ist, kann sich eine Neue suchen, habt ihr mich verstanden?“ Um den Ernst meiner Worte etwas Nachdruck zu verleihen, ließ ich mein Odeur ein wenig spielen. Das tiefe Grollen erstarb, nur einer brauchte wohl noch eine Extraeinladung. Ich sah mich um nach … Sydney?
Er in der Tür zur Bibliothek. Sein gesträubtes Fell ließ ihn doppelt so groß wirken und der Blick mit der er Nathan fixierte, wünschte ich nicht mal meinem schlimmsten Feind. Obwohl, wenn ich so darüber nachdachte, war es genau das, was ich Markis Schleim wünschte.
„Sydney?“
Ohne mich zu beachten, machte er einen drohenden Schritt auf Nathan zu. „Lass das Kind runter, und weich zurück.“
„Sydney!“ Was bitte war denn jetzt verkehrt? Als ich mich dann vor Nathan stellen wollte, schnappte er auch noch nach mir. Ich war so baff, dass ich mich von ihm abdrängen ließ.
„Lass den Prinzen los, sofort!“
Nathan schluckte, setzte Aric dann vorsichtig auf den Boden und wich mit jedem Schritt den Sydney auf ihn zukam, weiter zurück.
Die ganze Situation war so surreal, dass ich nicht wusste, was ich machen sollte. Ich stand einfach nur da und starrte auf die Szenerie, die sich vor mir abspielte. Was war nur in Sydney gefahren? Das passte so gar nicht zu ihm.
Ohne Nathan auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen, biss Sydney in Arics Strampler und zog ihn rückwärts von den Abtrünnigen weg. Ein letztes warnendes Knurren von ihm, dann war in der Eingangshalle nur noch das Klacken von Sydney Krallen auf dem Parkett zu hören. Er zog Aric zu Diego, übergab ihm den Kleinen und musste noch etwas gesagt haben, denn Diego nickte und verschwand sofort. Alle anderen Umbra im Raum folgten ihm in die Eingeweide des Mauerwerks.
Und ich? Ich konnte noch immer nichts anderes tun, als meinen Mentor fassungslos anzuglotzen. Nicht nur dass er nach mir geschnappt hatte, er hatte sich mir in aller Öffentlichkeit widersetzt, einen direkten Befehl missachtet und damit meine Stellung infrage gestellt. War ihm eigentlich klar, was ich jetzt gezwungen war zu tun?
„Also, unser Alpha würde sich das nicht gefallen lassen“, bemerkte Cooper ein wenig herablassend.
Ruhig Blut. Ich drehte mich herum und fixierte Sydney mit der Genauigkeit eines Zielfernrohrs. „Geh in mein Büro.“ Ganz leise sagte ich diese Worte, aber meine Wut war deutlich herauszuhören.
Dieses Mal folgte Sydney meinem Befehl, doch er sah nicht reumütig aus, ganz im Gegenteil, er war sauer, stinksauer. Was bitte hatte er für ein Recht verärgert zu sein? Er konnte froh sein, wenn ich ihm nicht vor aller Augen den Hals umdrehte. „Und ihr anderen, verschwindet endlich!“
Ich hatte die Bediensteten noch nie so schnell laufen sehen. Es war als lösten sie sich einfach in Luft auf. Nicht mal einer der Wächter wagte es zurückzubleiben. Nur Nathan und Cooper standen noch da und wussten scheinbar nicht recht wohin mit sich.
Ich atmete einmal tief ein und zog mein Odeur zurück. „Kommt“, sagte ich zu den beiden und folgte Sydney in mein Büro.
Der saß bereits vor meinem Kamin auf dem Lammfell und starrte finster vor sich hin.
„Setzt euch da hin“, wies ich meinen Besuch an, knallte die Tür zu und fuhr zu Sydney herum. „Was glaubst du …“
„Ihr seid so dumm!“
Das verschlug mir erst mal die Sprache.
„Ihr könnt Euren Sohn, den Prinzen, unsere Zukunft, doch nicht in die Arme eines Abtrünnigen geben und das auch noch vor den Augen des Rudels! Nun seid Ihr schon so lange Königin und doch handelt Ihr so töricht! Was habt Ihr Euch nur dabei gedacht?!“
„Das ich … er …“, stotterte ich, bevor die Wut zu mir zurückkehrte. „Was fällt dir ein mich so anzuschreien? Hast du eigentlich eine Ahnung was du da gerade getan hast?“
„Ich habe einen Aufruhr verhindert. Von den anderen hat es sich ja niemand getraut, sich Euch zu widersetzen. Ihr seid so dumm!“ Er stand auf und begann unruhig im Raum auf und abzulaufen. „Ihr habt sie erlebt, Ihr habt ihren Unmut gespürt, aber anstatt darauf einzugehen, habt Ihr ihnen einfach nur den Mund verboten und sie weggeschickt. Was glaubt Ihr was das für einen Eindruck macht, wenn Ihr Ihren Prinzen so einfach in die Hand eines Abtrünnigen gebt?“
„Das ist Nathan, er ist mein Freund, er hätte Aric niemals …“
„Darum geht es hier doch gar nicht!“ Sydney fletschte die Zähne. „Das Rudel vertraut den Abtrünnigen nicht und das aus gutem Grund. Zu viele von ihnen sind Verstoßene und hegen Hass auf uns, ob nun gerechtfertigt, oder nicht, sie sind in ihren Augen …“
„Ja ja, ich …“
„Unterbrecht mich nicht!“
Mein Mund klappte zu. Was war nur in Sydney gefahren? So hatte er sich noch nie benommen. Ich konnte es einfach nicht fassen, er führte sich auf wie mein … Mentor. Wie mein Mentor, der sich gezwungen sieht mich zu maßregeln.
„Ihr müsst denken, bevor Ihr handelt. Trefft keine Entscheidungen aus dem Bauch heraus, schalltet vorher Euren Kopf ein. Das war schon immer Euer größtes Problem, Ihr entscheidet mit dem Herz und nicht mit dem Verstand. Das könnt Ihr Euch in Eurer Position nicht leisten und schon gar nicht im Moment, wo sowieso alles im Argen liegt. Ihr müsst nun mehr denn je auf Euer Handeln achten. Benehmt Euch endlich wie eine Erwachsene!“
Das hatte er jetzt nicht gesagt. „Da spricht der Richtige. Wer benimmt sich in den letzten Tagen denn wie ein stures, bockiges Kind? Ich bin das sicher nicht. Du hast mir den Rücken gekehrt, du gehst mir aus dem Weg und jetzt platzt du hier einfach rein als gehörte dir die Welt und stellst mich vor dem Rudel bloß! Eigentlich müsste ich dir jetzt den Hintern versohlen, um meinen …“
„Ich habe euch nicht den Rücken gekehrt, ich gebe Euch nur Bedenkzeit.“
„Ich will deine beschissene Bedenkzeit nicht, ich will dass alles wieder normal läuft und dass du endlich wieder normal bist!“
Sydney legte die Ohren an. „Wo wart ihr heute Nacht.“
Das nahm mir die Luft aus den Segeln. „Was?“
„Ganz einfache Frage: Wo habt Ihr die vergangene Nacht verbracht? Und die davor, und die Nächte davor? Wo seid Ihr gewesen?“
Bei Raphael. Ich kniff die Lippen zusammen. Das gehörte jetzt nicht hier her. Außerdem schienen Nathan und Cooper sich langsam zu fragen, wo sie hier hineingeraten waren. „Ich habe jetzt Wichtigeres zu tun, als mich mit dir über dieses Thema auseinanderzusetzen.“ Nicht nur, weil noch andere anwesend waren, nein, ich schämte mich auch. Jedes Mal wenn ich zu Raphael ging, betrog ich Sydney und immer wenn ich mich nach Sydney sehnte, hinterging ich Raphael. Manchmal war es wirklich scheiße ich zu sein.
„Natürlich“, höhnte Sydney. „Ihr habt immer Wichtigeres zu tun, wenn es darum geht, Euch mit meinem Anliegen zu beschäftigen.“
Ich warf ihm einen warnenden Blick zu. „Treib es nicht zu weit.“ Wo war nur mein süßer, verständnisvoller Sydney geblieben? Mein Leben war doch wohl schon schwer genug, ich brauchte niemanden, der noch ein paar weitere Pfund Last auf meine Schultern lud.
Stumm kehrte Sydney mir den Rücken und legte sich vor dem leeren Kamin. Dabei sah er einfach nur müde aus, als sei er diese ganze Geschichte leid, als wolle er nicht noch mehr Kraft in mich Investieren, weil er nicht glaubte, dass es noch einen Sinn hätte.
Ich wandte mich von ihm ab und ließ mich in einen meiner Sessel fallen, bevor ich noch mein letztes bisschen Stolz einbüßte und ihn auf Knien anflehte, mir zu vergeben. Ein kleines bisschen Würde stand sogar mir zu. „Du wolltest mit mir sprechen?“, fragte ich Nathan, der sich mit seinem Freund noch an der Tür herumdrückte.
Nathans Blick huschte zu Sydney. „Ich wollte mit dir allein reden.“
„Setz dich hin und rede, tu einfach so, als wäre Sydney ein Bettvorläger.“
„Cayenne, es ist wirklich …“
„Sprecht, oder geht, Abtrünniger.“ Sydney erhob sich von seinem Platz und setzte sich an meine Seite. „Die Königin hat keine Geheimnisse vor mir.“
Nathan wartete darauf, dass ich widersprach. Als das nicht passierte, seufzte er. „Ich würde wirklich lieber allein mit dir sprechen.“
„Nathan, bitte, sag einfach was du zu sagen hast, ich habe heute wirklich noch einiges zu erledigen.“ Ich lehnte mich zurück. Auch wenn mir nicht gefiel, was Sydney mir an den Kopf geknallt hatte, so fand ich es doch schön, dass er trotz unseres Disputs an meiner Seite blieb. Ich würde ihn sicher nicht davon schicken. „Sydney ist vertrauenswürdig, er hat schon Dinge für sich behalten, bei denen dir die Haare zu Berge stehen würden.“
Die Zweifel blieben bei Nathan, aber er setzte sich endlich. Sydney behielt er dabei genaustens im Auge. Mein Mentor hatte ihm wohl einen ziemlich großen Schrecken eingejagt. „Gero hat mich geschickt. Er hat von deiner Situation gehört.“ Ein kurzer Blick auf Sydney. „Er würde sich gerne mit dir unterhalten, von Alpha zu Alpha.“
„Von welcher Situation?“
„Du suchst einen Wolf, einen Königsmörder.“
Ich horchte auf. Das war bis zu den Abtrünnigen vorgedrungen? „Und was hat Gero zu diesem Thema beizutragen? Normalerweise interessiert ihr euch nicht für die Belange des Rudels der Könige. Ganz im Gegenteil.“
Noch ein Blick zu Sydney. „Triff dich mit Gero, er hat Informationen für dich, aber er gibt sie dir nur, wenn er dafür auch etwas von dir bekommt. Und du musst zu ihm fahren, allein.“
„Nein!“, kam es sofort von Sydney.
„Sydney.“
„Nein.“ Sein Kopf flog regelrecht hin und her, als er ihn schüttelte. „Das könnt Ihr nicht tun. Sie sind Abtrünnige, Ihr könnte nicht wissen, was sie im Schilde führen.“
Nathans Gesicht bekam einen leicht angesäuerten Zug. „Cayenne ist eine Freundin, niemand würde es wagen ihr ein Haar zu krümmen.“
„Das Rudel der Könige ist bei den Abtrünnigen verhasst. Vielleicht habt ihr unsere Königin vor Jahren einmal für eine der euren gehalten, aber jetzt gehört sie nicht nur zu uns, sie führt uns auch noch an. Es wäre mehr als nur töricht, sie euch auszuliefern und das auch noch alleine.“
„Sydney, Nathan ist mit mir befreundet.“
„Aber er gehört nicht zu Eurem Rudel.“ Er knurrte beinahe. „Versteht doch, er mag Euer Freund sein, aber wenn sein Alpha es ihm befiehlt, würde er Euch trotzdem in eine Falle locken.“
Ich wollte ihm widersprechen, aber das konnte ich nicht, denn er hatte recht. Genauso wenig konnte ich aber so eine Gelegenheit ungenutzt lassen. „Ich muss Vivien finden, ich hab es …“
„Ihr habt für diese Frau schon genug gegeben, Ihr habt Euer ganzes Leben nach ihr ausgerichtet, irgendwann muss einmal Schluss sein. Ihr könnt nicht immer für die Fehler anderer einstehen und wenn Ihr es Euch noch so sehr wünscht, das ist unmöglich. Ihr geht nicht zu den Abtrünnigen!“
Sag mal, das gab es doch wirklich nicht, jetzt gab er mir auch noch Befehle. Ich seufzte. Vielleicht sollte ich es mal mit einer anderen Strategie probieren. „Was für Informationen sind das, die Gero für mich hat?“
„Er hat Informationen darüber, wie du deinen Königsmörder finden kannst.“
Was?!
„Ihr könnt nicht gehen, Ihr seid das wichtigste Glied dieses Rudels“, sagte Sydney, bevor ich auf Nathans Worte reagieren konnte. „Wenn Euch etwas passiert, fällt alles auseinander.“ Er sah mir direkt in die Augen. „Die Abtrünnigen sind Mörder, Verräter und Verbrecher, die zum Teil aus sehr gutem Grund keine Mitglieder des Rudels mehr sind.“
Ach Sydney. „Geros Rudel besteht zu einem großen Teil aus Streunern.“
„Ein großer Teil sind nicht alle. Ich verstehe, dass Ihr Eurem Freund trauen wollt, aber nicht so, nicht wenn es Euch das Leben kosten könnte.“
Er hatte recht. Einfach so zu Gero zu gehen und dann auch noch ganz allein, durfte ich nicht mal in Betracht ziehen. Ich hatte ihm zwar nie etwas getan, aber ich war Gero auch nie begegnet und konnte daher auch nicht wissen, was er für ein Mann war. „Gibt es keine andere Möglichkeit mit Gero zu sprechen?“
Nathan schüttelte den Kopf. „Er besteht darauf, dass du zu ihm kommst. Er traut dir und deinem Rudel nicht.“
Das nannte man dann wohl eine Zwickmühle. „Und wie soll ich dann Gero trauen?“
„Es gibt keinen Abtrünnigen, dem man vertrauen kann.“
Sydneys geknurrte Worte, sorgten bei mir für einen Geistesblitz. „Das ist es“, sagte ich und sprang aus dem Sessel. Die drei Kerle konnten nur noch dabei zuschauen, wie ich an meinen Schreibtisch stürzte und mir mein Telefon von der Station schnappte. Die Nummer war schnell gewählt.
„Ja bitte?“, fragte eine Männerstimme am anderen Ende.
„Schicken sie Umbra Drogan in mein Büro und zwar sofort.“
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„Geht es dir gut?“
„Mit mir ist alles in Ordnung.“
Das glaubte ich ihm nicht eine Sekunde. Der Kopf war gesengt, die Ohren angelegt und sein Blick huschte unentwegt von links nach rechts. Er war unruhig. Es fehlte eigentlich nur noch, dass er die Rute zwischen die Beine klemmte und sich ängstlich winselnd hinter mir verkroch. Nicht das ich glaubte, Sydney würde sowas jemals tun. „Wenn dir das zu viel wird …“
„Es wird mir nicht zu viel.“
Dieser sture Wolf! Am liebsten hätte ich ihn … grrr! Aber diskutieren würde nichts bringen, dass hatte ich bereits heute Morgen am Wagen probiert.
„Und du bist schön artig, nicht wahr mein Schatz?“ Ich schnappte mir Arics Gesicht und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Das fand er so toll, dass er freudig jauchzend nach meinem Gesicht griff, um es mir gleichzutun. Dabei erkannte ich zwei Dinge. Zum einen, benutzte er mal wieder sehr viel Sabber und zum anderen, Finger und Augen vertrugen sich nicht unbedingt. Aber solange es den kleinen Schatz amüsierte, wie ich mir nach seiner Liebesbekundung die Wange sauber wischte, würde ich nichts sagen.
Erst nachdem ich mich gründlich verabschiedet hatte, überließ ich ihm Samuels fähigen Armen. „Wenn etwas sein sollte, mein Handy ist an, du kannst mich jederzeit erreichen.“
Darauf ging er nicht ein, denn das erzählte ich ihm jedes Mal. Stattdessen schaute er mich nur böse an. Genau wie die anderen Fünfmillionen Lykaner um mich herum, war er von meinen Plänen nicht begeistert und dass ich seine Meinung bei meiner Entscheidung nicht berücksichtigt hatte, verstimmte ihn. Das ließ er mich nun spüren, indem er mich mit Schweigen und Blicken strafte.
Super. „Mach dir keine Sorgen.“ Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter und drücke sie leicht. „Ich passe auf, mir wird schon nichts passieren.“
„Das zu wissen, ist eine erwiesene Unmöglichkeit. Du kannst es nur hoffen, aber die Wahrscheinlichkeit spricht gegen dich.“
Gut, dann wurde ich jetzt halt nur noch mit bösen Blicken gestraft. „Ich bin so bald wie möglich zurück.“ Auch er bekam von mir einen Kuss auf die Wange, bevor ich an den schwarzen Wagen trat.
Diego hatte bereits hinterm Steuer Platz genommen, Ginny verstaute noch ihre Tasche im Kofferraum. Nathan und Cooper saßen schon in ihrem silbernen Auto. Alles stand in den Startlöchern und wartete nur noch auf mich.
„In Ordnung. Pass gut auf meinen kleinen Schatz auf. Ich melde mich, sobald ich kann.“
Samuel nickte ein wenig steif und trat ein Stück zurück, damit ich genug Platz hatte, um die hintere Tür aufzuziehen. Ich schmiss meine Tasche auf den Rücksitz, setzte mich daneben und wollte gerade meine Beinen in dem kleinen Raum zwischen den Sitzen verstauen, als Sydney durch das Portal auf die Freitreppe geschossen kam. Alarmiert hielt ich inne. Verdammt, was war denn jetzt schon wieder passiert?
Zwei lange Sätze, mehr brauchte der große Wolf nicht, um mich zu erreichen und schwer atmend vor mir zum Stehen zu kommen.
„Was ist los?“ Meine Sorge zwang mich dazu sofort die Hand nach ihm auszustrecken und sie ihn beruhigend an den Kopf zu legen.
Er starrte mich mit angelegten Ohren an. Dann schaute er kurz zum Wagen, bevor der den Kopf senkte. „Ich möchte Euch begleiten.“
Moment, was? „Du willst mich begleiten?“ Ich zeigte auf das Auto. „Zu Gero?“
„Ja.“
Nein, das konnte ich auch nicht glauben, nachdem er es ein zweites Mal gesagt hatte. „Du willst wirklich mit mir …“
„Königin Cayenne“, unterbrach er mich. „Ich bin mir sehr wohl bewusst, um was ich Euch hier bitte und auch was es bedeutet. Doch Ihr fahrt nun einmal ohne Begleitung in ein feindliches Revier und auch wenn ich kein Wächter bin, so wird meine Anwesenheit doch dafür sorgen, dass niemand übereilt handelt.“
Ach Sydney. Wenn Geros Rudel mir wirklich an den Kragen wollte, dann würde auch ein Zeuge sie nicht davon abhalten. „Ich fahre nicht allein, Diego und Ginny kommen mit.“
„Eure Umbras dürfen das Heim der Streuner aber nicht betreten. Ich hingegen bin für niemanden eine Gefahr.“
Da hatte er vermutlich recht. Aber ich wusste nur zu gut, wie sehr es Sydney ängstigte, das Schlossgelände zu verlassen. Diese Welt dort draußen war nicht seine. „Sydney, du kennst doch den Plan, du weißt dass mir nichts passieren kann. Du brauchst dir also keine …“
„Bitte.“
Ach verdammt. Das Sydney von sich aus diese Mauern verlassen wollte, war für mich wie ein Wunder. Aber ausgerechnet jetzt musste ich zu einem der wichtigsten Gespräche meines Lebens. Von dieser Unterhaltung hing das Leben einer Frau ab und Sydney … ich fürchtete wohl einfach, dass er nicht klarkommen würde. „Du fühlst dich doch außerhalb dieser Mauern gar nicht wohl. Ich glaub nicht, dass ein Ausflug das Richtige für dich ist.“
Er schaute mich nur stumm an.
Männer! „Bist du dir wirklich sicher?“
„Ja, ich möchte Euch begleiten.“
Ich war mir aber nicht sicher, ob ich das wirklich erlauben sollte. Klar, er war ein erwachsener Mann und schon lange alt genug, um seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Aber … naja, er war eben auch Sydney.
Trotz der Zweifel die ich hegte, stieg ich wieder aus, damit er auf den Rücksitz springen konnte und hoffte, dass ich damit keinen Fehler begann.
Jetzt, stunden später, als wir durch eine Hotellobby liefen, in der es von Lykanern aus Geros Rudel nur so wimmelte, war ich noch immer nicht wirklich überzeugt. Zum Teil lag das sicher an den ganzen feindlichen Blicken, die man uns zuwarf, aber vor allen Dingen lag es an seiner geduckten Haltung. Sydney fühlte sich hier absolut nicht wohl. „Du kannst auch draußen bei Diego und Ginny warten.“
Er zog den Kopf ein, als hätte er eine Schelte bekommen.
Na toll. „Es war ja nur ein Vorschlag gewesen.“
Nathan warf uns über seine Schulter hinweg, einen Blick zu. „Gero erwartet dich in der fünften Etage.“ Er drückte den Knopf für den Aufzug und trat dann zur Seite. „Ich darf nicht mit hoch. Du weißt schon, Alphakram.“
Wahrscheinlich wollte Nathan einfach nicht zwischen die Fronten geraten.
Während wir auf den Aufzug warteten, schaute ich mich ein wenig in der Lobby um. Es war kein Zufall, dass wir gerade dieses Hotel gewählt hatten. Hier, in diesem Gebäude, hatte das Rudel aus Itzehoe seinen Hauptsitz. Die ganzen oberen Etagen wurden von dem Rudel bewohnt, nur die unteren Etagen waren für zahlende Gäste reserviert.
Jup, das hier war nicht nur der Unterschlupf vom Rudel der Stadt, es war ein wirklich funktionierendes Hotel. Ich war noch nie hier gewesen, aber Nathan hatte früher immer viel von diesem Ort erzählt.
Als der Aufzug mit einem Pling bei uns ankam, wünschte Nathan uns noch viel Glück und schickte uns dann nach oben in die fünfte Etage.
Während der Fahrt juckte es mich in den Händen, Sydney zu berühren, doch wie schon im Auto, traute ich mich nicht. Da stand einfach zu viel zwischen uns. Mit einer kleinen Berührung, konnte ich das alles sicher nicht aus der Welt schaffen. Also beherrschte ich mich und tat nichts anderes, als stur auf die Fahrstuhltür zu starren, bis sie uns entließ.
Draußen auf dem Korridor, lehnte ein Mann an der Wand und schien uns zu erwarten. „Cayenne, richtig?“
Ich nickte und trat hinter Sydney aus dem Fahrstuhl.
Der Mann hatte nur einen kurzen Blick für meinen Begleiter übrig, bevor er sich wieder auf mich konzentrierte. „Hi, ich bin Javan, der Sohn von Gero.“
Der Name sagte mir etwas. Nathan hatte damals ein paar Mal von ihm erzählt. Er war auch ein Misto, aber im Gegensatz zu mir, war der Wolf in ihm nie erwacht. „Hallo.“ Ich reichte ihm die Hand und stellte dabei fest, dass er zwar nach Lykaner roch, dieser Geruch aber nur an ihm haftete. Javan war ein Mensch. Interessant. Und verwirrend, wenn man bedachte, wer sein Vater war.
„Na dann komm mal, mein Vater erwartet dich schon.“
Okay, jetzt wurde es ernst. Ich versicherte mich noch einmal, dass mit Sydney alles in Ordnung war und folgte Javan dann den Korridor hinunter. Er brachte uns zu einer Flügeltür am anderen Ende. Ein Schild darauf verkündete, dass dieser Raum privat war, Javan jedoch klopfte ohne zu zögern an. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann wurde die Tür von innen geöffnet.
Der Mann dahinter hatte eine wettergegerbte Haut. Er war nicht groß, aber muskulös und das Haar auf seinem Kopf hatte bereits vor einiger Zeit mit einem strategischen Rückzug begonnen. Das herausragendste Merkmal an ihm, war jedoch seine Aura. Er war unverkennbar ein Alpha und er zeigte es mir in aller Deutlichkeit.
Ich musste mich stark zusammenreißen, um dem Instinkt ihn anzuknurren nicht nachzugeben. „Sie müssen Gero sein.“
Klare und wache Augen musterten mich. „Königin Cayenne.“ Sein Blick wanderte zu Sydney. „Es ist unüblich, bei so einem Treffen mit Zähnen und Krallen zu erscheinen. Sollte mir das zu denken geben?“
Als er anfing sein Odeur in meine Richtung zu drängen, hatte ich einen kurzen Moment das starke Bedürfnis, ihm an die Kehle zu springen. Aber ich war zivilisiert und verfügte über Selbstbeherrschung. Also verlegte ich mich darauf, ihn einfach nur anzulächeln. „Sydney ist Historiker, er begleitet mich in einer beratenden Funktion und er verwandelt sich niemals.“
„Niemals?“ Gero musterte ihn mit neuem Interesse. „Ein Verlorener.“ Als er plötzlich anfing sein Odeur in Sydney Richtung zu drängen und Syndey damit zwang zurückzutreten, war es vorbei mit den Höflichkeiten.
Ich knurrte und zwar sehr deutlich. „Das“, erklärte ich ihm warnend, „ist etwas das ich nicht erlauben werde.“ Ich schob mich direkt vor Sydney. „Wenn sie ihre Machtspielchen mit mir abziehen, wünsche ich ihnen viel Glück. Wenn sie das bei ihm machen, wird Glück allein ihnen nicht mehr helfen. Haben wir uns verstanden?“
Sehr langsam bereitete sich auf seinen Lippen ein Lächeln aus. „Ich wollte nur ihre Reaktion testen.“
Ich hatte gewusst, dass dieses Treffen anstrengend werden würde. „Sie haben meine Reaktion gesehen und das ist die einzige Warnung, die sie bekommen werden. Kommt das noch mal vor, werden sie eine andere Reaktion zu spüren bekommen.“
Bedroht schien er sich zwar nicht gerade zu fühlen, aber wenigstens hörte er endlich mit diesem blöden Spielchen auf und trat ein Stück zurück. „Kommen sie herein, wir haben eine Menge zu besprechen.“
Das Zimmer, dass ich daraufhin betrat, erinnerte mich an einen Raum aus schöner wohnen. Eine gemütliche Couchkombination in der Raummitte, helle Wände, Beistelltische, Pflanzen. Auf dem Boden lag ein pastellfarbener Teppich und die eine Wand wurde von einem riesigen Gemälde eingenommen. Nein, es war ein Druck von Vincent van Goghs berühmten Kunstwerk Sternennacht.
Außer mir und Gero waren noch drei weitere Leute im Raum, aber nur für einen von ihnen hatte ich Augen. „Mama.“
Einen Moment vergaß ich einfach wer ich war und wieso ich überhaupt gekommen war. Ich sah nur meine Mutter und flog durch den Raum. Ich hatte gewusst, dass sie hier sein würde und doch war es für mich ein kleines Wunder, sie in den Arm zu schließen und ganz fest an mich zu drücken.
„Oh Gott Cayenne, mein Schatz, ich hab dich so vermisst“, murmelte sie, während sie ihrerseits ihre Arme um mich schloss.
Sydney hatte recht gehabt, es gab keinen Abtrünnigen oder Streuner, dem ich zu hundert Prozent vertrauen konnte. Mit einer Ausnahme: Meine Mutter.
Darum hatte ich gestern Umbra Drogan rufen lassen. Meine verstorbene Tante Blair hatte in der Vergangenheit immer mal wieder Kontakt zu meiner Mutter gehabt und ich hatte gehofft, dass er wüsste, wie sie das angestellt hatte. Leider hatte er mir da nicht helfen können, aber während des Gesprächs mit ihm, war der Name von Mamas Pseudo-Gefährten gefallen: Ayko. Von dem hatten wir zwar auch keine Nummer oder Adresse, aber Nathan kannte den Namen. Einen schnellen Anruf bei Gero später, hielt ich die Nummer meiner Mutter in der Hand.
Es war mir nicht ganz leicht gefallen bei ihr anzurufen, nicht nachdem wie wir beim letzten Mal auseinander gegangen waren. Aber dieses Treffen war wichtig und sie kannte sich, was die Abtrünnigen betraf, viel besser aus als ich. Mit ihrer Hilfe hatten wir ein Treffen organisieren können, gegen das sich selbst Sydney nicht gesträubt hatte – naja, zumindest nicht allzu sehr.
Und jetzt stand ich hier und hielt sie im Arm und alles andere war für den Moment einfach nur egal.
„Es tut mir leid, was ich bei unserem letzten Treffen gesagt habe“, gab ich zu und drückte sie noch ein wenig fester an mich. „Ich hab das nicht so gemeint.“
„Schhhh“, sagte sie nur. „Das weiß ich doch. Und jetzt weiß ich auch warum du es getan hast.“ Sie wich ein Stück zurück und legte mir eine Hand auf die Wange. „Ich bin so stolz auf dich.“
Es war wirklich schön das zu hören. „Es tut mir trotzdem Leid, aber damals … ich konnte nicht gehen.“
„Ich weiß, ich habe davon gehört.“ Sie legte mir auch die andere Hand an die Wange. „Du hast nichts falsch gemacht.“
Ich hatte eine Menge Dinge falsch gemacht, aber dieses Mal würde ich alles richtig machen. „Ich bin einfach froh, dass du hier bist.“
„Ach Schatz.“ Und damit landete ich ein zweites Mal in ihren Armen. Es war mir egal, was Gero und die anderen dazu sagten, ich war einen Moment einfach nur glücklich und das wollte ich mir nicht nehmen lassen.
Aber leider waren wir aus einem bestimmten Grund hier und auch wenn ich eigentlich noch so viel zu erzählen hatte, jetzt war es erstmal wichtiger an Vivien zu denken. Ich brauchte zwar noch ein wenig, aber dann schaffte ich es, die Umklammerung meiner Mutter zu lösen und einen Schritt zurück zu weichen. Dabei merkte ich sehr wohl, wie sie unauffällig die Hand hob und sich eine Träne von der Wange wischte.
„Wie rührend“, kam es von der Frau im Sessel. Sie hatte mausgraues Haar, aber das lag nicht an ihrem Alter. Sie wirkte kaum älter, als meine Mutter. Und sie hatte eine so große Brust, dass man gar nicht anders konnte, als sie zu bemerken. Die enge Bluse spannte nicht nur darüber, ich rechnete jeden Moment mit fliegenden Knöpfen. „Ich liebe Familienzusammenführungen.“
Ich war mir nicht sicher, ob das ein verbaler Schlag sein sollte, ihr lächeln gab nichts preis. „Und sie sind?“
„Ich bin der Grund, warum du hier bist.“
Sehr kryptisch. Ich schaute zu Gero.
„Diese Perle ist unsere Divana.“ Gero ging zu ihr, nahm ihre Hand und hauchte ihr ein Kuss auf die Knöchel. „Sie ist der Alpha vom Aalen-Rudel.“
„Und Ayko kennst du ja schon“, fügte meine Mutter hinzu und ließ sich neben dem dunkelhäutigen Mann mit der breiten Nase auf die Couch sinken.
Ich nickte ihrem Pseudogefährten zu. „Hallo.“
„Das war zwar ein wenig steif, aber immer noch höflicher, als beim letzten Mal.“
Ja, weil ich ihn beim letzten Mal zur Begrüßung angeknurrt hatte. Ich schenkte ihm ein halbes Lächeln.
„Komm Schatz.“ Mama klopfte neben sich auf die Couch. „Setz dich.“
Dieser Aufforderung kam ich umgehend nach. Während ich ihre Hand nahm, schlich auch Sydney näher und setzte sich an meine Füße. Er versuchte es sich nicht anmerken zu lassen, aber ich spürte seine Unruhe. Gerne hätte ich ihm einfach die Hand ins Fell gelegt, stattdessen umspielte ich ihn mit einem Hauch von meinem Odeur. Vielleicht half ihm das ja ein wenig.
Warum nur war er nicht einfach Zuhause geblieben?
„Also“, begann Gero dann auch ganz direkt und setzte sich in den verbleibenden Sessel. „Vor zwei Tagen bekam ich einen Anruf von unserer liebreizenden Divana. Ihr war ein Gerücht zu Ohren gekommen. Von Lügen, Intrigen, und Mord. Und auch davon, dass das Rudel der Könige nun einen Sklavenhändler namens Jegor Komarow sucht.“
Wow, das Klatschnetzwerk der Lykaner funktionierte scheinbar über die Rudelgrenzen hinaus. Ich war beeindruckt.
„Wie es der Zufall so will, kennt Divana eine Möglichkeit an diesen Mann heranzukommen, nur leider wusste sie nicht, wie sie an die Königin des Rudels herankommen sollte. Aber sie wusste aus früheren Erzählungen, dass ich einen Weg kannte.“
„Nathan.“
Das entlockte ihm ein Zahnpastalächeln. „Sie wandte sich also an mich und bat mich, dieses Treffen in die Wege zu leiten. Und sobald sie mir ihre Zusage gegeben hatte, dass auch ich von dieser Information profitieren würde, organisierte ich dieses Treffen.“
Naja, so mehr oder weniger. „Ich habe schon verstanden, sie wollen für die Information eine Gegenleistung. Also bitte, sagen sie mir einfach ihren Preis. Was wollen sie? Geld? Land? Wertanlagen? Vielleicht ein eigenes Pony?“
Ayko gab ein halb ersticktes Lachen von sich. „Ich möchte bitte das Pony.“
Okay, vielleicht war der Kerl ja doch ganz nett.
Divana neigte den Kopf leicht zur Seite. „Warum bist du eigentlich hier, Ayko? Ich wüsste nicht, was du zu diesem Treffen beigetragen hast.“
„Ich? Ich hab die Mutter der Königin.“ Er legte meiner Mutter einen Arm um die Schultern. „Ohne diese Frau wäre keiner von uns hier, da Cayenne uns genauso wenig traut, wie wir ihr.“
Sie winkte ab, als wäre das völlig irrelevant. „Du bist doch nur hier, weil du auch ein Stück vom Kuchen abhaben möchtest.“
„Das auch“, gestand er ein und schaute zu mir. „So eine Gelegenheit bekommt man schließlich nur einmal im Leben.“
Okay, langsam machten sie mich neugierig. „Ich will ja nicht drängeln, aber hier geht es um das Leben einer Frau, darum möchte ich sie bitten, zum Thema zurückzukehren. Was erwarten sie als Gegenleistung von mir?“
Gero und Divana tauschten einen Blick. Dann sagte Gero: „Eigenständigkeit. Wir möchten komplette Unabhängigkeit vom Rudel der Könige. Das bedeutet, dass man nicht nur unsere Regel, sondern auch unsere Reviergrenzen respektiert.“
„Wir wollen keine Streuner und Abtrünnigen mehr sein, sondern als offizielle Rudel anerkannt werden, denn auch wenn die Lykaner in deinem Rudel das glauben, wir sind nicht der Abfall dieser Gesellschaft.“
Das machte mich einen Moment sprachlos. Mit vielem hatte ich gerechnet, aber nicht damit. „Das kann ich nicht tun.“
Die beiden schauten mich nur an.
„Es ist nicht so, dass ich nicht will, aber unsere Gesetze erlauben es nicht, dass es neben dem Rudel noch ein anderes gibt.“ Und in der Vergangenheit hatte ich bereits mehr als einmal festgestellt, dass ich die Gesetze nicht einfach ändern konnte, nur weil sie mir nicht gefielen.
„Das ist so nicht ganz richtig“, warf meine Mutter ein. „Es stimmt schon, dass das Rudel der Könige immer sagt, sie seien das einzige Rudel, aber es ist kein niedergeschriebenes Gesetz.“
Was? „Natürlich ist es das.“ Oder?
Mama schüttelte den Kopf. „Ein solches Gesetz wurde niemals formuliert, denn um es zu rechtfertigen, hätten sie vorher anerkennen müssen, dass es außer ihnen noch andere Rudel gibt. Da sie die Existenz der anderen Rudel aber zu jeder Zeit leugneten, war es niemals nötig, etwas in der Art schriftlich festzuhalten. Man braucht keine Gesetze für Dinge, die es nicht gibt, daher ist es nichts anderes, als eine mündliche Überlieferung.“
Okay, das war mir neu. „Du sagst also, der Rat steigt mir nicht aufs Dach, wenn ich der Unabhängigkeit zustimme?“
Das ließ sie lächeln. „Wenn er noch genauso konservativ wie damals ist, wird er das auf jeden Fall tun, aber er kann nicht dagegen unternehmen.“
„Ich sollte mit meinen Problem wohl öfter mal zu dir kommen“, murmelte ich griff gewohnheitsmäßig nach Sydneys Kopf. Erst als ich sein Fell an meinen Fingern spürte, wurde mir klar, was ich da tat versteifte mich. Ich warf ihm einen unsicheren Blick zu, den er ruhig erwiderte und zwang mich dann, meine Hand wieder zurückzuziehen.
Er protestierte nicht, aber er schien auch nicht glücklich damit.
„Heißt das, wir sind im Geschäft?“, fragte Divana.
Mein erster Impuls war es ja zu sagen, doch dann dachte ich noch mal darüber nach. Eigene Rudel würden sicher das eine oder andere Problem mit sich bringen und das nicht nur, weil im Moment praktisch alles mein Revier war. Es wäre eine Umstellung für die Lykaner in meinem Rudel und dann wären da sicher noch einige politische Fragen zu klären. Sollte es einen Pufferbereich geben, oder würden die Grenzen dicht an dicht liegen? Wie sollte man es handhaben, wenn ein Wolf in das falsche Revier geriet? Oder wie würde man Streuner und Abtrünnige in Zukunft bezeichnen?
Okay, die letzte Frage war eher uninteressant.
„Wir werden noch ein paar Dinge klären müssen, aber ja. Meinetwegen könnt ihr eigenständig sein, komplett mit Reviergrenze und eigenen Gesetzen. Aber das bedeutet nicht, das meine Regeln außer Kraft treten. Auf meinem Revier werden sie noch immer gelten.“
Divana lächelte verschlagen. „Wir würden das gerne schriftlich festhalten. Nur zur Sicherheit, versteht sich.“
Wie aufs Kommando nahm Gero einen Ordner vom Beistelltisch und überreichte ihn mir. „Wir haben sogar schon einen Vertrag aufgesetzt.“
So viel zum Thema Vertrauen.
Ich nahm den Ordner, schlug ihn auf und musste feststellen, dass da jemand seine Hausaufgaben gemacht hatte.
„Ihr erwartet doch nicht wirklich, dass ich jetzt und hier zwischen Tür und Angel einen Vertrag unterschreibe, der …“ Ich blätterte durch. „... siebzehn Seiten beinhaltet, ohne zu wissen, was da eigentlich drin steht und ohne ihn geprüft zu haben.“
Divana zeigte mir ein paar perlweißer Zähne. „Keine Unterschrift, keine Informationen.“
„Keine Informationen, keine Eigenständigkeit“, hielt ich dagegen.
Ihr Lächeln verblasste ein wenig. „Dann befinden wir uns wohl in einer Pattsituation.“
Das durfte doch wohl nicht wahr sein. „Ich habe nicht abgelehnt, ich habe nur gesagt, dass ich nichts unterschreiben werde, was ich nicht vorher auf Herz und Nieren geprüft habe und dazu habe ich im Moment nicht die Zeit.“
„Vielleicht sollten sie sie sich nehmen“, überlegte Gero.
Auf einmal hatte ich das wirklich dringende Bedürfnis, ihn anzuknurren.
„Königin Cayenne, dürfte ich einen Vorschlag machen?“
Überrascht schaute ich zu Sydney. „Natürlich.“
„Ihr und die anderen Alphas könntet einen vorläufigen Vertrag aufsetzen, der sowohl Eure, als auch ihre Interessen vertritt. Nehmt darin die Punkte auf, die Euch und auch ihnen wichtig sind und bei allen beteiligten Zustimmung finden. Dieser Vertrag behält seine Gültigkeit, bis ein endgültiger Vertrag formuliert und unterschrieben werden kann.“
Diese Idee war gar nicht so schlecht. „Darauf würde ich mich einlassen.“ Ich schaute zu den anderen Alphas. „Wäre das für sie alle in Ordnung?“
„Ich weiß nicht“, gestand Gero. „Wie können wir uns sicher sein, dass sie nicht einfach versuchen uns zu hintergehen?“
„Ein wenig Vertrauen gehört schon dazu. Ich gebe schließlich meinen Unterschrift auf ein anderes Dokument und muss auch darauf vertrauen, dass ich dafür bekomme, weswegen ich hier bin.“
Dem konnte keiner widersprechen.
„Also, ich mache es“, verkündete Ayko.
Ja, durch meine Mutter hatte er die Sicherheit, dass ich ihn nicht hintergehen konnte. Wenn ich ihm schadete, würde ich schließlich auch ihr schaden und das war etwas, das ich niemals tun würde. Nur leider kam es nicht auf ihn an, denn die Information die ich brauchte, hatte Divana. Deswegen wandte ich mich auch direkt an sie. „Wie sieht es mit ihnen aus? Sie haben noch gar nichts dazu gesagt.“
„Es ist nicht ganz das, was ich mir erhofft hatte, aber ich hatte auch mit einem dummen, kleinen Mädchen gerechnet, dass sich mehr für Kleidung und Make-Up interessiert, als für Politik und die Belange des Rudels.“
Wie nett. „Ich bin halt vielschichtig.“
Sie spitzte die Lippen ein wenig und musterte mich eindringlich. Vielleicht versuchte sie auch mich niederzustarren, doch da war sie an den falschen Alpha geraten. „Na gut“, gab sie schließlich nach. „Wenn Gero seine Einwilligung gibt, werde auch ich diesen Vorvertrag unterschreiben.“
Damit befand sich nun Gero im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. „In Ordnung, auch ich werde unterschreiben.“
Fantastisch. „Dann lassen sie uns anfangen.“
Die nächste halbe Stunde arbeitete ich mit den anderen daran, ein vorläufiges Schriftstück anzufertigen, das zu unserer aller Zufriedenheit fand. Mit meiner Unterschrift, wurde das Ganze dann amtlich. Als dann alles soweit fertig war, konnten wir uns dem eigentlichen Thema widmen. „Markis Komarow“, erinnerte ich sie und legte den Stift zur Seite.
„Natürlich“, sagte Divana und nahm sich ihr Exemplar des Vertrags. „Aber vorher gäbe es da noch eine Kleinigkeit zu … bemerken.“
Ihr Ton gefiel mir nicht. „Was für eine Kleinigkeit?“ Wenn die glaubten mich wie eine Weihnachtsgans ausnehmen zu können, dann hatten sie sich aber geschnitten.
Sie musterte mich mit einem Blick, den ich nicht entziffern konnte. „Weißt du, warum die Skhän dem Rudel der Könige so extrem schaden, die Abtrünnigen und Streuner aber weitestgehend in Ruhe lassen?“
Ich schüttelte den Kopf. Das hatte ich mich zwar auch schon gefragt, war aber nie zu einem zufriedenstellenden Ergebnis gekommen.
„Wir haben ein Abkommen mit den Händlern. Sie lassen uns in Frieden, wenn wir ihnen dafür unter die Arme greifen.“
„Was?!“ Das war doch wohl ein schlechter Scherz. „Sie arbeiten für die Skhän?“
„Sie müssen verstehen, Cayenne, das Leben außerhalb des Rudels ist anders“, erklärte Gero und schlug die Beine übereinander. „Wir leben in keinen Verbänden, wir haben andere Regeln und wir tun alles was nötig ist, um unsere Leute zu beschützen. Unsere Kinder sollen in Sicherheit aufwachsen können.“
„Zu dem Preis, dass andere Kinder es nicht können.“
„Es ist nicht optimal“, bemerkte Ayko. „Aber es ist die beste Möglichkeit, die wir haben.“
Was, er auch? Bedeutete das etwa, dass meine Mutter da auch mitmachte?
„Es Tut mir leid, Schatz, aber jeder versucht auf seine Weise zu überleben.“
Ich konnte nichts anderes tun, als sie fassungslos anzustarren. Natürlich mussten sie einen Weg finden ihre Familien und Freunde zu schützen, aber so?
„Weiß Nathan davon?“ Hatte ich mich so in meinem Freunden getäuscht?
Gero schüttelte den Kopf. „Die wenigsten Lykaner aus unseren Rudeln wissen davon. Eigentlich nur die Alphas und die Leute, die direkt mit den Skhän zu tun haben und wir möchten auch, dass das auch so bleibt.“
„Und was erwarten sie jetzt von mir?“
„Nichts“, sagte Divana. „Du musstest das nur wissen, damit du mir glaubst.“
„Leite keine Schritte ein“, fügte meine Mutter noch hinzu.
Ich kniff die Augen leicht zusammen. Meine Mutter verlangte doch nicht wirklich gerade von mir, die Füße still zu halten, damit sie ungehindert ihren Geschäften nachgehen konnten. „Die Skhän sind eine Plage.“
„Das wissen wir“, stimmte Divana mir zu. „Daher beobachten wir auch schon seit einer Weile sehr wohlwollend, wie du versuchst das in den Griff zu bekommen.“
Ich fixierte sie. Das weder sie noch die andern auf die Idee gekommen waren, mich bei meinem Kampf zu unterstützen, konnte ich verstehen. Das Rudel er Könige war nun einmal nicht besonders nett zu Ausstehenden. Aber ich würde mich nicht mehr in meiner Arbeit einschränken lassen. Nie wieder. „Wenn ich einen Skhän vor der Nase habe, werde ich nicht Halt machen, nur weil er einer von euren Leuten sein könnte.“
„Das erwartet hier auch niemand“, erklärte Ayko.
„Berufsrisiko“, lächelte Divana. „Wir wissen, auf was wir uns da einlassen. Und auch wir werden nicht zögern, unsere Waffen auf dich zu richten.“
Mama zog die Lippe hoch und knurrte leise.
„Ganz ruhig.“ Ayko drücke ihre Schulter leicht. Wobei es eher so wirkte, dass er schnell zupacken wollte, sollte sie aufspringen. „Das war keine Drohung, nur eine Tatsache.“
„Sie sollte trotzdem aufpassen, was sie sagt.“
„Okay, Auszeit.“ Ich hob die Hände und gab das Zeichen, bevor sie doch noch auf die Idee kamen, sie gegenseitig die Haare auszureißen. „Ich habe es verstanden. Ich muss ehrlich gestehen, dass es mir nicht gefällt, aber werde ich nichts dagegen unternehmen.“ Vorläufig. Wenn wir den Vertrag ausarbeiteten, würde ich diesen Punkt allerdings noch einmal auf den Tisch bringen.
„Nun gut, wir werden sehen, was dein Wort wert ist“, bemerkte Divana und atmete einmal tief ein, wodurch ihre Bluse gleich noch ein bisschen mehr spannte. „Also, du suchst nach Jegor Komarow. Ich kann dir zwar nicht sagen wo er ist, aber ich weiß aus zuverlässiger Quelle, wer dir das sagen kann.“
Zuverlässige Quelle, klar. „Und wer kann mir das sagen?“
„Ich weiß nicht, ob du schon mal von ihm gehört hast. Er ist auch ein Skhän und noch dazu einer der engsten Freunde von Markis Komarow. Sein Name ist Bork Viran.“
Was? „Der Bork Viran vom Blutmond?“
„Du bist ihm also schon mal begegnet?“
Natürlich war ich das. Genaugenommen war er sogar der erste Sklavenhändler gewesen, dem ich jemals gegenüber gestanden hatte. Sowas vergaß man nicht. Aber etwas daran irritierte mich. „Der Blutmond existiert nicht mehr, Viran ist schon vor Jahren von der Bildfläche verschwunden.“ Das wusste ich genau, denn die Themis waren es gewesen, die den Laden niedergebrannt hatten. Meine Hoffnung war sogar gewesen, dass dieses perverse Schwein in den Flammen seinen Tod gefunden hatte. „Lebt Bork Viran überhaupt noch?“
„Oh ja.“ Divana verzog angewidert das Gesicht. „Er ist sogar sehr lebendig. Er hat einen neuen Laden, den er mit ein wenig Hilfe von Ihrem alten Bekannten Markis Komarow aufgebaut hat und frönt dort weiterhin seinen lukrativen Geschäften.“
Gut zu wissen. „Wo finde ich Bork Viran?“
„Sein neues Etablissement hat den einfallsreichen Namen Element und kann nur mit einer persönlichen Einladung betreten werden.“
„Ich besorge mir meine Einladung schon, ich brauche nur die Adresse.“
Divana zog einen zusammengefalteten Zettel aus ihrer Hosentasche und übergab ihn mir. „Um sechs Uhr abends wird der Laden geöffnet. Er hat immer mindestens ein Dutzend Männer und Frauen bei sich, die für seine Sicherheit sorgen.“
„Na dann sollte ich bei meinem Besuch bei ihm, wohl ein paar mehr mitbringen.“ Ich studierte die Adresse auf dem Zettel. Köln.
„Das wäre wohl keine schlechte Idee.“
Ich tauschte den Zettel gegen meine Handy aus. „Vermutlich befinden sich auch Sklaven in dem Laden.“
„Sie sind im Keller.“
Wo auch sonst. „Wie sicher ist es, dass er weiß, wo sich der Markis aufhält?“
„Sehr sicher“, sagte Gero. „Die beiden sind nicht nur Geschäftspartner, sondern auch sehr eng miteinander befreundet. Wenn jemand weiß wo Jegor Komarow sich aufhält, dann er.“
Damit fügte sich ein weiteres Puzzelteilchen an seinen Platz. Das würde auch erklären, wie Vivien damals von Amsterdam in Jegors Fänge geraten war. Wenn ich nur daran dachte, dass wir Vivien damals so nahe gewesen waren, dann packte mich die Wut.
Ich scrollte durch mein Adressbuch, bis ich die Nummer von meinem Großwächter auf dem Display hatte.
Es klingelte drei Mal, bevor Eddy am anderen Ende abnahm. „Großwächter Edward am Apparat.“
„Ich bin es, Cayenne. Hören sie mir jetzt gut zu: Ich möchte, dass Sie jeden verfügbaren Wächtern, den sie auftreiben können nach Köln schaffen. Sagen sie auch Miguel Bescheid, damit er auch ein paar Leute schicken kann. Die Umbra sollen zurückbleiben, ich will nicht das Aric ungeschützt ist. Ich will, dass alle bis heute Abend um acht vor Ort sind. Haben sie das soweit verstanden?“
„Natürlich, ich werde sofort alles in die Wege leiten.“
„Danke. Und noch was: Bringen sie bitte Leukos Seele mit.“
Darauf folgte ein Moment des Schweigens. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich Euch richtig verstanden habe. Ich soll Leukos Seele aus der Schatzkammer holen und mitbringen?“
„Ja, ich möchte, dass sie mir Leukos Seele bringen.“
Er schwieg einen Moment. „Wie Ihr wünscht.“
„Guter Mann. Bis später.“ Ich legte auf und sah in die Runde. Damit war wohl der Zeitpunkt für den Abschied gekommen. „Tja, ich werde dann mal“, sagte ich etwas ambitionslos. Ich wusste wie wichtig das war, aber es widerstrebte mir, meine Mutter so schnell wieder zu verlassen.
Die jedoch griff nur lächelnd nach meiner Hand. „Wir werden telefonieren, oder? Ich rufe dich an. Sagen wir Sonntag?“
Diese wenigen Worte rechten aus, um mir ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Früher hatten wir jeden Sonntag telefoniert und sie hatte es nicht vergessen. „Das würde mich freuen.“
„Und vielleicht kannst du mir ja dann auch von meinem Enkel erzählen.“
Erst als sie das bemerkte, fiel mir auf, dass ich meinen Sohn bisher mit keinem Wort erwähnt hatte. „Aric“, sagte ich und lächelte. „Sein Name ist Aric.“ Ich griff in meine Brieftasche und zog ein Foto von meinem Sohn hervor, auf dem er gerade an Sydney gekuschelt schlief. Ich hatte es gemacht, bevor Raphael an den Hof gekommen war. Das war noch gar nicht so lange her und doch hatte sich seit dem so viel verändert.
„Das ist er“, sagte ich und reichte ihr das Foto. Die Zeit musste ich mir einfach noch nehmen.
Mama nahm es und begann zu lächeln. „Es sieht genauso aus wie du.“
Nein, er sah genauso aus wie Sydney. Ich warf ihm einen Blick zu, aber er schaute in die andere Richtung.
„Vielleicht … vielleicht stellst du ihn mir irgendwann mal persönlich vor“, sagte meine Mutter vorsichtig.
„Ja, das mache ich ganz bestimmt.“ Aber jetzt war es an der Zeit aufzubrechen.
Eine halbe Stunde später, befand ich mich wieder in meinem Wagen und war auf dem Weg zum nächsten Flughafen. Okay, wir mussten noch einen kurzen Boxenstopp einlegen, um für Sydney eine Hose zu kaufen. Er war nun einmal hier und würde daher mit mir mitkommen müssen, aber ein Wolf im Flugzeug wäre schwerlich zu erklären. Es tat mir leid, aber er musste sich verwandeln.
Während der Fahrt hing ich pausenlos am Telefon und tat nichts anderes, als die ganze Aktion mit Edward, Umbra Drogan und Miguel zu organisieren. Selbst Collette rief ich einmal kurz an und bat sie, mir ein paar Klamotten einzupacken. Vor allen Dingen Hosen. Meine Kette trug ich ja schon am Hals.
In der ganzen Aufregung vergaß ich beinahe, dass ich ja auch am Flughafen Bescheid sagen musste. Ich besaß zwei eigene Maschinen, die aber nicht reichen würden, weswegen ich noch Tickets auf anderen Flügen buchen musste. Das waren zum Glück die größten Schwierigkeiten, mit denen ich mich rumplagen musste.
Erst als wir im Flugzeug saßen und die Stewardess mich bat das Handy auszuschalten, konnte ich einmal tief durchatmen. Endlich kam Bewegung in die Sache und ich war nicht länger zum Nichtstun verdammt. Was ich allerdings mit Sydney machen sollte, war mir nicht ganz klar.
Aus dem Augenwinkel beobachtete ich ihm. Auf der Toilette hatte er sich die Kleidung angezogen, die Diego ihm gekauft hatte. Ein weißes Shirt und eine einfache Jeans. Er sah so seltsam darin aus. Ich meine, auch wenn das letzte Mal schon ein Weilchen her war, ich wusste sehr genau, wie er als Mensch aussah, doch ihn in Kleidung zu sehen, war als würde da ein Fremder neben mir sitzen. Ein ziemlich nervöser Fremder.
Immer wieder blähte er die Nase, oder schaute von links nach rechts. Als weiter hinten jemand laut lachte, zuckte er zusammen und fuhr sich anschließend nervös mit der Zunge über die Lippen. Die Hektik fraß ihn beinahe auf.
Seufzend griff ich seine Hand und musste gestehen, dass ich mich freute, als seine Finger sich ohne zögern um meine Schlossen. Ich genoss es einfach, ein kleinen wenig Normalität zurückzubekommen.
„Ihr seht erschöpft aus.“
Das sagte der Richtige. „Wir sind ja auch schon seit den frühen Morgenstunden unterwegs.“
Als er den Kopf drehte, geriet die Kette an seinem Hals in Bewegung und das silberne Kätzchen blitzte kurz unter seinem Ausschnitt hervor. „Ihr solltet Euch trotzdem ein wenig Ruhe gönnen.“
„Bald ist das vorbei. Wir gehen da jetzt hin, entlocken Bork Viran wo Jegor sich versteckt hat, dann müssen wir ihn nur noch einkassieren und die ganze Geschichte hat endlich ein Ende.“
„Und was kommt dann?“
Ich wusste nur zu gut, dass er nicht von meiner Regentschaft sprach, leider. „Sydney, nicht jetzt. Ich … gib mir noch ein wenig Zeit. Ich weiß das ist viel verlangt, aber das ist für mich nicht so einfach. Ich weiß nicht … was wenn …“ Ich kniff die Lippen zusammen. Das war nun wirklich nichts, was ich mit ihm besprechen konnte.
„Wenn was?“
Ich schüttelte nur den Kopf. „Ach nichts.“
„Bitte, sagt es mir. Ich möchte es hören.“
„Das letzte Mal als ich dir etwas gesagt habe, was du unbedingt hören wolltest, bist du anschließend zur Tür hinaus spaziert.“ An einer Wiederholen dessen war ich nicht interessiert. Schon klar, nur weil er jetzt hier war, hieß das noch lange nicht, dass zwischen uns alles geklärt war, aber es war ein Anfang und den wollte ich nicht gefährden.
„Auch ich brauchte Zeit zum nachdenken.“ Seine Augen waren eindringlich auf mich gerichtet. „Ich verspreche Euch, dass ich dieses Mal nicht gehen werde.“
Mist, wie ich seine Edelmüdigkeit manchmal verabscheute. Wer konnte bei diesen Augen schon widerstehen? Das war nicht fair. „Du kannst es einfach nicht lassen, oder?“
„Nein, ich fürchte dieser Charakterzug gehört zu mir. Also bitte, sprecht.“
Ich zögerte.
„Cayenne, bitte.“
Schlimmer konnte es ja eh kaum werden. „Was ist, wenn ich mich falsch entscheide?“
„Und wenn Ihr Euch richtig entscheidet?“
Wenn ich mich … verdammt, bei den ganzen Gedanken die ich die ganze Zeit versuchte zu verdrängen, war mir nie in den Sinn gekommen, dass ich mich auch richtig entscheiden könnte. Ich sah das Glas wirklich immer halbleer.
„Vertraut auf Euer Herz, es wird Euch den richtigen Weg weisen.“
„Und wenn dieser Weg mich von dir fortführt?“ Allein der Gedanke daran, machte mir Angst. Ein Leben ohne Sydney? Undenkbar. Aber ein Leben ohne Raphael wollte ich mir auch nicht vorstellen.
„Ich habe Euch einmal das Versprechen gegeben, immer für Euch da zu sein, aber nie einen Grund an mir zu zweifeln. Habt Vertrauen, es wird sich alles finden.“
Das blieb dann wohl zu hoffen.
°°°
Misstrauisch beobachtete ich den Mann auf der anderen Straßenseite, der sich immer wieder unauffällig über die Schulter schaute. Der Wind stand günstig für mich und meine Leute, selbst wenn er ein Lykaner wäre konnte er uns nicht entdecken. Aber er war nur ein Mensch, der sich ein weiteres Mal versicherte, dass niemand ihn beobachtete, bevor er den etwas abseits gelegenen Flachbau betrat.
Ein dezentes Schild über der Tür verkündete, dass sich in diesen vier Wänden das Elementar befand. Selbst durch die Schallisolation hindurch konnte ich mit meinem guten Gehör die Bässe in dem Laden wahrnehmen.
„Vielleicht wäre es besser, wenn wir später noch einmal wiederkommen“, bemerkte Miguel.
Neben ihm, Raphael und Großwächter Edward, standen auch noch Victoria und Wächter Hardy mit mir zusammen hinter der Reklametafel eines Bushäuschens. Es war kein optimales Versteck, aber immer noch besser, als direkt vor dem Club herumzulungern. Außerdem hatte ich den Laden von hier aus prima im Blick.
„Dann ist vielleicht weniger los.“
„Nein“, sagte ich. „Im Moment ist Bork Viran da drin, aber wir haben keine Ahnung wie lange noch. Ich will nicht riskieren, dass er uns entwischt, weil er einfach zur Hintertür hinaus spaziert.“
„Die Hintertür ist auch gesichert“, erklärte Wächter Hardy.
Okay, der Schlauste war der Kerl offenbar nicht. „Sie wissen was eine Metapher ist?“
Er grinste. „Ich wollte es nur mal erwähnt haben.“
„Ich muss dem Käpten der Themis zustimmen“, bemerkte Eddy. „In diesem Club werden auch Menschen bewirtet. Wir können da nicht einfach durch die Vordertür stürmen und Herrn Viran festnehmen, das würde für zu viel Aufsehen sorgen. Was ist wenn jemand die Polizei ruft?“
„Da Miguel ein mehr als ein Dutzend Vampire mitgebracht hat, ist das kein Problem. Sollten die Menschen etwas sehen, was sie nicht sehen sollen, können sie die Leute repressionieren.“ Das war zwar nicht optimal, einfach weil ich Gedankenkontrolle verabscheute, aber immer noch besser, als diesen Widerling dort drinnen entkommen zu lassen. „Eine Gruppe von Lykanern soll die Straße im Auge behalten und darauf achten, dass niemand abhaut. Ich will Leute an allen Seiten, auch auf dem Dach, wenn möglich. Der Rest geht mit mir rein.
Wir schalten seine Sicherheitsleute aus, greifen uns Bork Viran und während die Vampire sich mit den Menschen befassen, geht eine kleine Gruppe nach unten in den Keller und befreit die Sklaven. Schnell und effektiv.“
„Ich weiß nicht ob das so eine gute Idee ist, mit der Tür ins Haus zu fallen, Bambi. Die Passanten auf der Straße könnten etwas mitbekommen.“
„Genauso gut könnte uns jeden Moment der Himmel auf den Kopf fallen und trotzdem stehen wir hier draußen.“ Ich trat etwas tiefer in die Schatten. „Macht eure Leute bereit, in zwanzig Minuten ist Zugriff. Victoria?“
„Ja?“
„Du und Wächter Hardy tragen die Verantwortung für Leukos Seele. Ihr bleibt draußen, bis wir drinnen alles so weit gesichert haben, erst dann stoßt ihr zu uns.“
Die beiden nickten.
„Miguel? Würdest du mit deinen Leuten die Hintertür und den Lieferantenzugang übernehmen?“
„Kein Problem.“
„Okay, dann ab mit euch, die Nacht hällt nicht ewig.“
Edward schien mit meinem Plan nicht ganz zufrieden zu sein, fügte sich aber genau wie die anderen und machte sich mit ihnen zusammen auf dem Weg zu unserer Sammelstelle ein paar Straßen weiter. Ich blieb mit Raphael zurück und behielt das Element im Auge.
Sydney hatte ich in einem kleinen Hotel untergebracht. Mich zu Gero zu begleiten war eine Sache, doch es war eine ganz andere, einen Einsatz mitzumachen. Hierfür war er einfach nicht gemacht. Das Problem daran war nur, dass auch Nikolaj sich in diesem Hotel befand.
Ich war ziemlich überrascht gewesen, ihn am Flughafen zu sehen, nachdem ich aus dem Flugzeug gestiegen war. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, die Wächter zu begleiten, als er mitbekommen hatte, was los war. Er wollte helfen und Wiedergutmachung leisten. Ich war mir nicht ganz sicher, was ich davon halten sollte.
Sobald wir allein waren, trat Raphael von hinten an mich heran und schlang seine Arme um meine Mitte.
Ich gestattete es mir, mich für einen Augenblick, in seiner warmen Umarmung zu entspannen und bekam eine Gänsehaut, als er mir einen Kuss auf die zarte Haut im Nacken hauchte. „Dir ist aber schon klar, dass hier nicht der richtige Moment für sowas ist?“
„Für sowas gibt es keine falschen Momente. Außerdem bist du angespannt wie ein Drahtseil, so kann ich dich nicht da reingehen lassen.“ Sein warmer Atem auf meiner Haut, jagte mir einen wohligen Schauder über den Rücken.
„Aber Beine aus Wackelpudding, sind auch nicht gerade von Vorteil.“
Er lachte leise an meinen Hals. „Ich fang dich schon auf, bevor du zu Boden gehst.“
„Ich glaube nicht, dass es sehr beeindruckend wäre, wenn die große, böse Königin auf den Armen eines Vampirs den Laden stürmt.“
„Vielleicht nicht beeindruckend, aber einmalig.“ Mit einem Ruck drehte er mich zu sich herum, sodass seine Lippen nur einen Hauch über meinen schwebten. Seine Augen nahmen mich sofort gefangen. „Ich habe dich vermisst, Bambi.“
„Ich war doch nur einen Tag weg gewesen.“
„Viel zu lange nach meinem Geschmack.“ Als er meine Lippen mit seinen streifte, spürte ich das bis in die Zehenspitzen. Nur zu gerne ließ ich mich von ihm verführen, doch plötzlich schob sich das Bild von Sydney vor mein inneres Auge. Ein wunderschöner Wolf, der langsam zum Mann wurde.
Ich versteifte mich ein wenig. Verdammt, warum musste ich ausgerechnet in diesem Moment an Sydney denken? Ich versuchte ihn aus meinem Kopf zu verbannen, doch er wurde nur noch präsenter. Das war, als hätte ich eine Leuchtreklame von ihn in meinem Kopf.
„Mist.“ So konnte ich das nicht. Ich wich vor ihm zurück und drehte meinen Kopf weg. Dabei hielt ich meinen Blick gesenkt.
„Cayenne?“ Als ich nicht aufschaute, wollte er nach meinem Kinn greifen, doch ich entzog mich ihm und nahm wieder meinen Posten neben der Reklametafel ein. Diese Schuldgefühle fraßen mich langsam von innen heraus auf.
„Wir sollten uns auf unsere Aufgabe konzentrieren.“
Leider ließ Raphael sich nicht so einfach abspeisen. „Cayenne, sieh mich an.“
Verdammt noch mal, warum mussten Männer es einem immer so schwerer machen?
„Bitte, sieh mich an.“ Als er ein weiteres Mal nach meinem Kinn griff, ließ ich es zu, dass er es zu sich herum drehte. „Ich liebe dich, das weißt du, oder?“
Ja, das wusste ich. Schon damals hatte ich es gewusst und wäre Markis Jegor nicht zwischen uns gekommen, wäre ich noch heute an seiner Seite, das wusste ich mit Sicherheit. Vielleicht war das die Antwort auf meine Frage. Raphael war der Erste gewesen. Mit ihm hatte ich so viel erlebt und soviel Neues entdeckt. Er war meine erste, wirkliche Liebe gewesen und hatte mir eine Welt gezeigt, von der ich nicht geahnt hatte, dass sie existierte.
„Und ich werde es immer tun.“
Langsam drehte ich mich zu ihm herum und nahm sein Gesicht zwischen meine Hände. „Ich weiß“, murmelte ich und hauchte ihm einen zärtlichen Kuss auf die Lippen. Nie wieder würde ich jemanden wie ihn finden, deswegen sollte ich ihn so gut wie möglich festhalten.
Das Geräusch von Schritten, ließ mich einen abrupten Rückzug antreten. Raphael zu küssen, war die eine Sache. Es vor den Augen des Rudels zu machen, eine ganz andere. Darum drehte ich ihm eilig den Rücken zu und richtete meinen Blick wieder auf den Nachtclub.
Es war Großwächter Edward, der neben mir auftauchte. „In fünf Minuten werden alle auf ihren Positionen sein, dann können wir zuschlagen.“
Wie lange fünf Minuten sich hinziehen konnten, erfuhr ich in den nächsten fünf Minuten. Es war wirklich eine kleine Ewigkeit, aber dann fiel der Startschuss.
Zwei Gruppen positionierten sich am Vordereingang und dem Hinterausgang. Eine dritte fiel mit der Tür ins Haus, wortwörtlich. Leider war ich nicht dabei, ich bildete zusammen mit den Themis die Verstärkung, die mit der zweiten Welle reinging.
So stand ich noch immer ungeduldig auf der anderen Straßenseite, lauschte den überraschten Ausrufen der Besucher des Elements und behielt die Umgebung im Auge, um eingreifen zu können, falls einer der Passanten zu neugierig werden sollte.
Neben mir stand Victoria. Durch einem Stöpsel in ihrem Ohr, war sie mit ihrem Vater im Element verbunden und sobald er das Zeichen gab, konnte auch ich endlich den Laden stürmen. Doch das dauerte und dauerte und dauerte … nun gut, vielleicht gerade mal zwei Minuten, doch nach meinem Zeitbemessen war das viel zu lange. Ich wollte diesen Mistkerl von seinem Sklavenhändler jetzt zwischen die Finger bekommen.
Als wir dann das Okay bekamen, war ich die erste, die in den Laden stürmte. Und staunte.
Schwarzlicht und indirekte Beleuchtung, tauchen den Club in ein mystisches Farbenspiel. Alle vier Elemente waren hier vertreten und in die Dekoration eingearbeitet. Rot für Feuer, blau für Wasser, gelb für Wind und Grün für die Erde. Die Möbel waren Designerobjekte, die aussahen, als wären sie aus rohem Holz gehauen, so naturgetreu und mit dicken, grünen Polsterungen für den Sitzkomfort.
In mehreren Glaskästen, die die Tanzfläche vom Loungeteil abtrennten tanzten echte Flammen. Künstliche Wasserfälle rahmten die Bar ein, und Kletterpflanzen schlängelten sich um die Einrichtung. Aber der reine Wahnsinn waren die deckenhohen Glasröhren, in denen Bork Viran es irgendwie gelungen war, kleine Miniwirbelstürme zu erzeugen. Luft wurde mir klar. Geschmack hatte der Mistkerl ja, das musste ich widerwillig zugeben. Doch so beeindruckend das alles auch war, es war nur nebensächlich, denn mein Ziel war die Galerie, die hoch oben unter der Decke schwebte und ich war mir sicher, dort würde ich finden, weswegen ich gekommen war.
Die obere Plattform war mit stabilen Drahtseilen an den Dachbalken befestigt und konnte nur durch eine gläserne Treppe erreicht werden. Es sah aus, als würde sie in der Luft schweben.
Ich stürmte in dem Moment hinauf, in dem ein Schuss ertönte. Noch in der gleichen Sekunde kippte einer der Sicherheitsleute von Viran über die Seilbarriere und landete in einem seltsamen Winkel auf dem Boden. Ein paar der Gäste schrien erschrocken auf, doch ich machte mir keine Sorgen, sie waren Unbeteiligte, ihnen würde nichts geschehen. Die Wächter hatten sie an die Seite gedrängt und die Vampire waren schon fleißig dabei ihre Gedächtnisse zu manipulieren.
Ich schob mich mit langen Schritten durch das Chaos nach oben auf die Plattform. Borks Leibwächter waren alle ausgeschaltet. Entweder bewusstlos, oder festgenommen.
Mitten in diesem Durcheinander saß Bork Viran auf einer riesigen, blauen Designercouch, die nur das Thema Wasser haben konnte. Sie sah aus, als wäre sie aus einer Welle gemacht. Sowas brauchte ich für mein Wohnzimmer.
Ein halbes Dutzend Wächter umringt ihn und hielten ihre Waffen feuerbereit in der Hand. Sein Haar war mit den Jahren nun vollends ergraut und leicht zurückgegangen, doch sowohl an dem dicken Bauch, als auch an dem kalten Blick aus seinen Schweinsäuglein hatte sich nichts geändert. Wütend funkelten mich diese Augen an und versprachen mir alle Schmerzen dieser Welt, wenn er nur die Chance dazu bekam.
„So sieht man sich wieder.“ Ich umrundete meine Wächter und baute mich dann direkt vor ihm auf. Raphael und Miguel waren nur einen Schritt hinter mir.
Bork Viran schielte zur Seite.
„Ah ah ah-h.“ Ich wackelte mit dem Finger. „Sie kommen hier nicht weg, bis Sie mir eine Frage beantwortet haben.“ Nachdenklich tippte ich gegen mein Kinn. „Genaugenommen kommen Sie hier auch nicht weg, wenn Sie meine Frage beantwortet haben, aber es wäre wirklich besser für Ihre Gesundheit, wenn Sie …“
„Ich werde dir gar nichts sagen, du dumme Nutte!“
Ich schüttelte über seine Ausdrucksweise den Kopf. „Es ist sehr unhöflich, jemanden einfach zu unterbrechen. Hat Ihre Mutter ihnen den gar keine Manieren beigebracht?“ Ich wartete gar nicht erst auf eine Antwort, die sowieso nur eine weitere Beleidigung gewesen wäre. „Ein kleines Vögelchen hat mir gezwitschert, dass Sie mir sagen können, wo wir ihren guten, alten Bekannten Markis Jegor Komarow finden können.“
„Ich weiß von gar nichts.“
Er wollte also den Unwissenden spielen? Ich hatte so meine Methoden seine Zunge zu lockern. „Eddy, sagen Sie doch bitte Victoria und Hardy Bescheid, dass ich sie gerne hier sehen möchte.“ Ich zog meine Lederjacke aus und reichte sie einem Wächter. Alles nur Show, aber manchmal reichte es, um die Leute einzuschüchtern. „Sie wissen wer ich bin?“
„Der Alpha des Rudels der Könige.“
Natürlich erkannte er mich nicht mehr als die Sklavin, die vor so vielen Jahren vor ihm gestanden hatte. Bis auf die Länge meiner Haare war heute ja auch alles anders an mir. Gut, ich hatte noch das gleiche Gesicht, aber ich war älter geworden. „Und ich weiß auch wer Sie sind. Freund von Markis Komarow und Sklavenhändler. Sie …“
„Mit solchen Dingen habe ich nichts am Hut!“, brauste er auf und wollte aufspringen, doch die Wächter drückten ihn sofort wieder zurück in die Polster.
Mein Blick wurde mindestens so kalt wie seiner. Die Zeit für Spielchen war vorbei, jetzt wurden andere Seiten aufgezogen. „Ich werde nur ein einziges Mal im Guten fragen und ich rate Ihnen dringen, ehrlich zu antworten. Wo ist Makis Jegor Komarow und tun sie nicht so als ob sie ihn nicht kennen, ich weiß das es so ist.“
„Fick dich, Schlampe!“
„Bitte, wie sie wollen.“ Ich schleuderte ihm mein Odeur entgegen. Unter der Wucht dieser verborgenen Attacke wurde er weiß wie ein Lacken und leckte sich nervös über die Lippen.
Während ich auf Victoria wartete, schwitzte Bork Viran unter diesem Druck wie ein Schwein. Er wusste nur zu genau, dass er in der Klemme steckte. Wäre er vernünftig, würde er einfach antworten, doch ein Mann wie er, würde lieber sterben, als sich einem anderen zu unterwerfen. Aber ich war vorbereitet.
Auf leisen Pfoten schlich eine riesige Katze auf die Plattform. Das schummrige Licht ließ seltsame Schatten auf Tarajikas Fell entstehen. „Kleine Wölfe sind so drollig und so wollig und so mollig, dass man sie am liebsten küsst. Aber auch die kleinen Katzen, haben Tatzen, welche kratzen. Also Vorsicht! Dass ihr's wisst!“ Sie kicherte und schlich um das Sofa von herum.
Ja, auch sie hatte es sich nicht nehmen lassen, die Themis und meine Wächter zu begleiten.
„Bambi.“ Raphael machte mich auf das Geschehen unten im Laden aufmerksam. Murphy und ein paar andere Themis führten aus dem Keller eine Gruppe Vampire nach draußen. Sie alle waren abgemagert, dreckig und ausgezehrt.
„Kein Skhän also. Dann muss das wohl die Putzkolonne sein. Ich hatte sie doch ein wenig schlauer eingeschätzt. Mein Fehler.“
Er knirschte so laut mit den Zähnen, dass er wohl bald keine mehr hatte.
Als Victoria und Hardy auf der Galerie auftauchten, trat ich ein Stück zurück, damit Herr Viran sie verzierte Holzkiste in ihren Armen bemerken konnte.
„Wissen sie was das ist?“, fragte ich und ließ meinen Finger über den Rahmen wandern. „Hier drinnen bewahre ich Leukos Seele auf.“
Seine Augen wurden ein wenig größer. Er leckte sich nervös über die Lippen, gab aber sonst keinen Ton von sich.
Ich klappte den Deckel der kleinen Truhe auf und strich mit dem Zeigefinger über die glatte Oberfläche des blauen Topas. Sofort wurde alles um mich herum viel intensiver. Die Farben, die Gerüche, die Geräusche. Und ich wusste auch ohne Spiegel, dass in meinen Augen nun der Wolf stand. „Wissen sie, was man über Leukos Seele sagt?“
Seine Lippen wurden eine Spur schmaler.
Nun gut, dann würde ich ihn eben ein wenig aufklären. „Leukos Seele erkennt die Seinen und entlarvt die Täuscher. Den einen schenkt er Frieden, den anderen den Wahnsinn und wer sich seinem Urteil ergibt, kann niemals zurück.“ Vorsichtig nahm ich den Topas von seinem Seidenkissen. Er war in etwa so groß wie eine Faust, dabei aber flach. „Wissen sie was das bedeutet?“
Ich hielt den Stein mit Absicht so, dass er ihn sehen konnte. „Im Grunde bedeutet es, fasse diesen Stein nicht an, wenn du kein Alpha bist. Solltest du es dennoch tun, ist der Preis der Wahnsinn. Vielleicht enden Sie dann als wilder Wolf, der nichts mehr Menschliches an sich hat und für den die einzige Erlösung der Tod wäre. Vielleicht werden sie dadurch aber auch nur zu einem sabbernden Haufen, der den Rest seines erbärmlichen Daseins in der Ecke vor sich hinvegetiert. Oder er lässt sie Dinge sehen und fühlen, die so grausam sind, dass ihr einziger Ausweg aus diesem Horror es sein wird, mit dem Kopf frontal gegen eine Mauer zu rennen, so oft, bis ihr Schädel einfach platzt. Ich hab es noch nie ausprobiert, ich weiß also nicht, was passieren wird, aber ich bin auf jeden Fall gespannt.“
„Du bluffst nur, du willst mir nur Angst machen, aber das wird nicht funktionieren. Vor so einem kleinen Flittchen wie dir fürchte ich mich nicht!“
„Wenn Sie meinen.“ Ich gab den Wächtern ein Zeichen, woraufhin sie Viran an den Armen packten und ihn festhielten, sodass er sich nicht wehren konnte, als ich mich ihm nährte.
Er riss die Augen auf, wehrte sich heftig. „Das kannst du nicht machen!“
„Ich bin die verrückte Königin, ich mache ständig Dinge, die die Leute nicht von mir erwarten, also warum nicht auch das? Es wird mir ein Vergnügen sein, ihren Willen zu brechen und sie an ihren Platz zu verweisen. Ich werde sie lehren was es heißt gehorsam zu sein.“ Den Spruch hatte er mir damals an den Kopf geknallt und ich fand, dass er in dieser Situation irgendwie passend war.
Panisch beobachtete er, wie der Stein auf ihn zukam. Er fing an heftig zu zappel und versuchte sich loszureißen. Meine kleine Showeinlage hatte ihm wohl doch ein wenig Angst gemacht. „Okay, okay, ich sage ihnen wo Jegor ist, nur nehmen sie dieses Ding aus meinem Gesicht!“
Ich stoppte. „Ich weiß nicht, eigentlich hatte ich mich jetzt auf mein Experiment gefreut. Vielleicht sollte ich nur ein ganz kleines bisschen …“
„Nein! Ich sage alles, ich schwöre es.“
Ich tat so, als müsste ich noch einmal darüber nachdenken und zog den Stein dann mit einem Seufzen zurück. „In Ordnung. Sie bekommen eine Chance mir zu sagen was sie wissen und sie sollten besser nicht lügen. Haben wir uns verstanden?“
Er nicke eifrig. „Jegor ist in Frankreich. Es gibt da ein Hotel in den Wäldern Bois Grand, das ist in der Nähe von Maurt, an der N122. Es heißt, Hotel Sonora. Ich weiß nicht wo genau, aber irgendwo dort in der Nähe, besitzt er ein kleines Häuschen, von dem nicht mal sein Sohn weiß.“
„Und dort ist er jetzt?“, versicherte ich mich noch einmal.
„Ich wüsste nicht, wo er sonst sein könnte. Es ist das einzige Haus, das weder auf seinem, noch auf dem Namen seiner toten Gefährtin läuft.“
„Tote Gefährtin?“
„Natasha Wolkow, sie ist bei der Geburt der Tochter gestorben.“
Jegor hatte eine Tochter? Warum hatte ich noch nie etwas von ihr gehört? Ich würde Nikolaj darauf ansprechen müssen. Jedenfalls war jetzt geklärt, wer diese Natasha Wolkow war. „Gibt es sonst noch etwas, dass sie mir mitteilen sollten? Denken sie besser genau darüber nach, denn jede böse Überraschung wird auf sie zurückfallen.“
„Ich weiß sonst nichts, ich verspreche es. Jegor hat sich mir nicht anvertraut.“
Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm glauben sollte, aber wenigstens hatten wir einen Hinweis bekommen, dem wir umgehend nachgehen konnten.
„Ich hoffe für Sie, dass es die Wahrheit war und jetzt schafft ihn mir aus den Augen, bevor ich noch etwas Unüberlegtes tue. Großwächter Edward?“
„Hier, Euer Majestät.“
Guter Mann, immer sofort zur Stelle, wenn man ihn brauchte. „Räumen Sie auf und bringen sie die Wächter ins Flugzeug, wir fahren nach Frankreich, sofort!“
Tarajika strich um meine Beine und dann um die von Raphael. „Wir sind nur selten, was wir uns erträumen, aber niemals was wir scheinen.“ Sie kicherte.
Also langsam fand ich sie wirklich seltsam.
°°°°°
So schnell wie ich mir das erhoffte, funktionierte es dann leider doch nicht. Wir mussten im Club erst noch für Ordnung sorgen und beweise für die Themis sichern, mir denen sie vielleicht auch noch anderen Skhän auf die Schliche kamen. Außerdem mussten auch die Sklaven versorgt und nach Hause gebracht werden.
Als wir dann soweit fertig waren, war der Vormittag bereits weit fortgeschritten und die Wächter und Themis erschöpft. Sie brauchten Schlaf. Das gefiel mir nicht. Ich war so nahe dran den Markis zwischen die Finger zu bekommen, dass ich keine Verzögerungen mehr wollte. Aber ich konnte ihre Erschöpfung auch nicht ignorieren.
Ich gab ihnen fünf Stunden, in denen sie sich ausruhen konnten, keine Minute mehr. Wenn ihnen das nicht reichte, dann sollten sie im Flugzeug weiterschlafen. Ich dagegen bekam kein Auge zu. Erst saß ich im Hotel rum und wartete darauf, dass die anderen endlich aus den Betten fallen würden und dann saß ich im Flugzeug rum, versuchte meinen Magen bei mir zu behalten und wartete darauf, dass die Maschine endlich wieder den Boden berührte.
Als wir am späten Nachmittag in Frankreich landeten, wurden wir von einem Wolkenbruch empfangen. Wären wir nicht gerade auf der suche nach einer Frau und ihrem Entführer, würde mich das auch gar nicht weiter stören, so jedoch behinderte es nicht nur unsere Sicht, der Regen sorgte auch dafür, dass wir nur langsam voran kamen. Wir mussten nämlich noch mit unseren Mietwagen bei diesem Unwetter über zwei Stunden durch die Gegend fahren.
Als wir dann an dem Hotel Sonora ankamen, wurde es bereits dunkel. Naja, noch dunkler. Natürlich wollte ich mich trotzdem sofort auf die Suche nach Jegor machen, aber wir mussten uns erst neu organisieren.
Wie sich schnell herausstellte, hatte das Hotel gar nicht genug Kapazitäten, um all die Leute unterzubringen, die mich begleiteten. Selbst als wir einzelne Zimmer doppelt und dreifach zuordneten, musste der Hotelbesitzer noch drei von seinen Cottages oben am See zur Verfügung stellen, damit niemand im Auto schlafen musste.
Eines davon wurde mir und Nikolaj zugewiesen. Das zweite gab ich Sydney und Tarajika und im dritten brachte ich neben Diego und Ginny noch drei Wächter unter. Die restlichen Wächter und Themis blieben unten im Hauptbau.
Die Dunkelheit und der starke Regen zwangen uns dann auch auf unsere Zimmer. Das gefiel mir nicht, aber eine Suche bei diesen Wetterverhältnissen wäre nutzlos. In der Dunkelheit konnten wir nichts sehen und der Regen verwischte jede Witterung. So fand ich mich mitten in der Nacht in einem kleinen Cottage wieder und lief ruhelos Furchen in den sauteuren Teppich.
„Cayenne, legt dich hin, du musst dich ausruhen.“
Nikolaj war bei mir. Zwar hatte jeder von uns beiden sein eigenes Schlafzimmer in diesem Cottage, den Wohnraum jedoch teilten wir uns.
„Cayenne.“
„Ich kann mich jetzt nicht ausruhen. Es gibt noch so viel zu tun, ich muss sofort zur Stelle sein, wenn Eddy mich brauch.“
„Die Wächter werden auch ein paar Stunden ohne dich auskommen, dafür wurden sie ausgebildet, weißt du?“
Ich warf ihm einen giftigen Blick zu. „Klugscheißer.“
Er seufzte. „Wenn du schon nicht schlafen willst, dann setzt dich wenigsten hin, so machst du mich auch noch ganz wuschig.“
„Wuschig?“ Meine Mundwinkel zuckten Richtung Himmel.
„Ja wuschig und nun komm.“ Er klopfte neben sich aufs Sofa. „Wir können fernsehen. Laufen heute nicht die Simpsons?“
Na wie sollte ich da widerstehen?
Doch davon abgesehen, dass die gelbe Familie nirgends zu finden war, war auch alles auf Französisch. Ich hätte in der Schule wirklich besser aufpassen sollen, denn im Grunde war abgesehen von ein paar Flüchen in dieser Sprache, nichts mehr hängen geblieben. Und bei denen wusste ich nicht mal, was sie bedeuteten, es konnten also genauso gut Pizzabestellungen sein. Schlussendlich blieben wir an eine Musikshow hängen. Für sowas musste man kein Sprachgenie sein.
So saß ich an Nikolaj gelehnt da, doch statt der Fernsehsendung, galt meine ganze Aufmerksamkeit der Uhr an der Wand darüber. Ich verfluchte jede weitere Sekunde, die mich zum …
„Ich habe eine Bitte an dich.“
… Nichtstun verdammte …
„Wenn die Wächter das Haus von meinem Vater gefunden haben, dann will ich euch begleiten.“
… und … Moment, hatte ich wirklich gerade gehört, was ich glaubte? „Du willst mit zur Jagd nach deinem Vater?“ Ich war ein wenig verblüfft. Bisher hatte ich angenommen, er war mitgekommen, weil er auf irgendeine Art Wiedergutmachung leisten wollte, aber das? „Ich weiß nicht, Nikolaj. Nimm es mir nicht übel, aber ich glaube nicht, dass die Jagd auf Jegor das Richtige für dich …“
„Ich muss mitkommen, Cayenne. Ich will ihm zeigen, nein, ich muss ihm zeigen, dass ich von ihm abgewandt habe. Er soll verstehen, dass ich … das ich … ach, ich weiß auch nicht.“
„Dass ihm nichts mehr geblieben ist. Das er alles verloren hat, sogar seinen Sohn.“
Er seufzte ohne mich anzusehen. „Ja, ich denke, darum geht es mir.“
Nicht ganz, dachte ich. Er wollte seinen Vater genauso verletzten, wie dieser es mit ihm getan hatte. Er wollte seinen Vater im Staub kriechen sehen und dass der seine Fehler anerkannte und es ihm leid tat und obwohl ich mir über die Richtigkeit dieses Tuns nicht ganz sicher war, sagte ich: „Ja“, denn wer war ich schon, dass ich ihm diesen kleinen Racheakt versagte?
„Danke.“
„Keine Ursache.“
„Nein, ich meine es ernst.“ Federleicht wanderten seine Finger über mein Haar. „Ich danke dir für alles, was du für mich getan hast.“
Ich versteifte mich unter dieser Berührung. Nicht das sie unangenehm war, aber sie bedeutete für ihn etwas, dass er niemals von mir bekommen würde. „Nikolaj, lass das.“ Ich schob seinen Arm weg. „Ich möchte das nicht.“
„Nein, natürlich nicht.“ Sofort zog er sich in sein Schneckenhaus zurück.
Na toll, das hatte ich nun auch nicht erreichen wollen. „Nikolaj, komm schon, so war das nicht gemeint.“
„Nein, du hast recht, es war unangebracht.“
„Darum geht es doch gar nicht.“ Ich rutsche nach vorne an die Kante, um ihm ins Gesicht sehen zu können und nahm seine Hand, die er direkt versuchte halbherzig aus meinem Griff zu befreien. Nicht mit mir Junge. „Ich möchte dich nicht verletzten, aber wenn ich das zulasse, bringe ich dich damit nur auf falsche Gedanken. Du bist ein Freund, Nikolaj, nur ein Freund, das musst du verstehen.“
So wie er die Lippen aufeinander drücke, war es wohl nicht das, was er hatte hören wollen.
„Nun komm schon, sei nicht sauer.“ So leicht ließ er sich leider nicht aus der Reserve locken, also machte ich es wie früher und tat das erstbeste was mir in den Sinn kam. Ohne lang darüber nachzudenken, streckte ich die Hand aus und … kitzelte ihn.
Nikolaj war richtig kitzlig. Er lachte, sprang auf und sah mich völlig irritiert an. „Was sollte das denn?“
Ich zuckte nur grinsend mit den Schultern. „Ich weiß nicht, war gerade so verlockend.“
Er machte den Mund auf, dann wieder zu und schnaubte. „Cayenne, nur weil du …“
Bevor er weiterreden konnte, stürzte ich mich auf ihn. Zusammen krachten wir auf den Boden, ich auf ihm drauf und dann ging die Tortur für ihn weiter. Ich kitzelte ihn solange, bis er gar nicht anders konnte, als zu lachen. Er versuchte mich abzuwerfen, aber ich klemmte einfach Beine um ihn fest und machte weiter. Leider war er viel stärker als ich und ich hatte alle Mühe mich oben zu halten. Ich schaffte es. Für ungefähr zwei Minuten, dann hatte er meine Hände gepackt und drehte den Spieß einfach um.
Einen Moment schien er zu überlegen. Ich blieb ganz still und wartete einfach ab. Ganz langsam breitete sich ein Lächeln auf seinen Lippen aus und dann kitzelte er mich. Das Problem dabei? Ich war mindestens genauso kitzlig wie er und ich hasste es abgekitzelt zu werden. So hatte ich eine Weile zu kämpfen, bis ich es schaffte mich loszureißen und schnappte mir dann ein Kissen von der Couch, das direkt in seinem Gesicht landete. Er versuchte mich zu schnappen. Nur ein kurzer Satz und ich war aus seiner Reichweite.
„Zu langsam!“, höhnte ich und brachte mich dann eilig hinter der Couch in Sicherheit.
Mit ihm hier rumzutollen, machte Spaß und für kurze Zeit konnte ich wirklich vergessen, welcher Sturm um mich herum tobte.
Die ganze Sache endete damit, dass wir uns Kissen um die Ohren schlugen und zum Schluss völlig außer Puste, in einem Meer aus Federn, auf den Boden saßen. Ja, wir hatten es wirklich geschafft eines der Kissen zu aufzureißen. Das würde das Hotel mir sicher auf meine Rechnung setzten.
Als er den Mund öffnete, ergriff ich ein Kissen. „Sag nichts Falsches, sonst …“ Ich wedelte drohend mit dem Kissen vor seiner Nase herum.
„Eigentlich wollte ich nur sagen, dass wir das öfter machen sollten. Ich weiß nicht, wann ich dich das letzte Mal habe so viel lachen sehen.“
Das traurige daran? Er hatte recht. „Das kann ich nur zurückgeben.“ Und dann warf ich das Kissen doch, einfach weil ich es konnte.
„Hey!“
„Was denn? Du sahst müde aus, da wollte ich dir einfach nur ein Kissen reichen.“
Er knurrte verspielt und warf das Kissen zurück. Ich wich zur Seite und es segelte direkt in die Lampe auf dem Beistelltisch. Die hatte dem Teil nichts entgegenzusetzen, aber sie war wenigstens stabil genug, dem harten Boden zu widerstehen.
Ich lachte. „Na das hätte ja klappen können.“ Als ich mich wieder zu Nikolaj drehte, sah er mich mit einem Blick an, der uns wieder an den Anfang dieser kleinen Runde brachte. „Nikolaj, wir …“
„Ich weiß, Cayenne, ich bin nicht dumm.“ Er rieb sich übers Gesicht. „Es ist nur … das ist nicht so einfach.“ Und dann, urplötzlich rückte er so nahe, dass er mir fast auf dem Schoss saß. Sein warmer Atem wanderte über mein Gesicht, als er mir eine Feder aus dem Haar zog. „Nur einmal.“
„Was?“ Hatte ich ihn gerade richtig verstanden?
„Nur ein Kuss. Kein Zwang, keine Erpressung, du bist jetzt frei von mir und meinem Vater, du kannst machen was immer du willst.“
Oh gut, er hatte also doch nicht gemeint was ich geglaubt hatte, puh. Meiner Phantasie sollte man wirklich einen Riegel vorschieben. „Nikolaj, ein Kuss würde nichts ändern. Du wirst nie mehr als ein einfacher Freund für mich sein.“
„Das weiß ich.“ Und trotzdem flehten seine Augen geradezu nach dieser Berührung.
„Warum willst du es dann?“ Ich verstand es wirklich nicht. Er würde sich damit doch nur selber quälen, oder?
„Weil es mein Traum ist, so hätte es immer sein sollen. Ich wünsche mir, dass du mich küsst. Nicht weil du es musst, sondern weil du es willst, verstehst du das?“
Ja das tat ich, aber es änderte nichts an den Tatsachen. „Nikolaj, das ist …“
„Nur ein einziges Mal, danach werde ich dich nie wieder darum bitten.“
„Es wäre nur ein Kuss.“
„Ja, nur ein Kuss“, hauchte er.
Auch ich senkte aus unerfindlichem Grund die Stimme. „Es würde nichts ändern.“
„Doch, für mich würde sich alles ändern.“
Und da verstand ich. Es ging nicht um den Kuss an sich, sondern darum was er bedeutete. Er bedeutete, dass ich ihm aus freien Stücken gab, wonach er sich so sehnte. Dieser Moment hatte nichts mit mir als Königin zu tun, oder mit dem Rudel. Es war einfach ein Augenblick zwischen einem Mann und einer Frau, ein Augenblick der nur uns gehörte und ihm die Welt bedeuten würde. „Nur ein Mal“, flüsterte ich und ich glaubte wirklich, dass er aufhörte zu atmen, als ich mich zu ihm vorbeugte und unsere Lippen miteinander verschmolz.
Ich schloss die Augen. Dieser Kuss war anders, als alle anderen, die wir miteinander geteilt hatten. Er war sanft und vorsichtig. Unser Atem vermischte sich, und es kribbelte angenehm, aber es war nicht annähernd das, was ich mit Raphael, oder Sydney hatte. Es war nur ein schwacher abklatscht und doch gab ich alles was ich zu geben hatte, weil ich wusste, wie wichtig dieser Moment für ihn war.
Nichts als unsere Lippen berührten sich. Keine Hände, kein Körperkontakt. Einen solch keuchen Kuss hatte ich noch nie getauscht. Es war ein seltsames Gefühl, aber nicht unangenehm. Ich öffnete meine Lippen, damit er weiter vordringen konnte, ließ ihn sich nehmen, was er sich wünschte und genoss sogar.
Er war es, der sich als erstes zurückzog, die Lippen leicht geschwollen, der Blick glasig und berauscht. Er schloss die Augen und lehnte seine Stirn an meine. Sein Atem roch nach Zahnpasta. „Danke.“
Ich schwieg, was sollte ich auch sagen? Gern geschehen, aber denk dran, eine weitere Kostprobe wird es nicht geben? Das wäre nicht besonders nett.
Ohne mich aus den Augen zu lassen, hauchte er mir noch einen letzten Kuss auf die Lippen, bevor er sich vom Boden erhob. „Ich denke, ich werde jetzt schlafen gehen.“
„Okay.“
Ihm schien noch etwas auf dem Herzen zu liegen, doch dann sagte er auch nur „Okay“ und verschwand dann in sein Zimmer.
Ich hoffte nur, dass ich wirklich keine Fehler gemacht hatte, bevor ich seinem Beispiel folgte. Leider war an Schlaf aber trotzdem nicht zu denken. Stundenlang wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, nur um dann mit dem ersten Morgenlicht wieder aus dem Bett zu steigen. Was mich nicht schlafen ließ, war die Erwartung an den folgenden Tag. Und der kam, in Form von Edward, der an meine Tür klopfte.
„Hat man schon mit der Suche begonnen?“, war meine Begrüßung, als ich ihn in das Cottage hinein ließ.
Er nickte. „Sobald der Regen nachgelassen hat, habe ich mehrere Suchtrupps losgeschickt, aber bisher haben sie im Wald keine Hütte gefunden.“
„Dann erweitern sie das Suchgebiet. Und fragen sie bei den Hotelangestellten nach. Wenn es hier ein Haus gibt, dann kennen sie das sicher.“
„Ich habe bereits gefragt, doch sie alle behaupten, dass die einzigen Häuser, die es hier in der Nähe gibt, zum Hotel gehören.“
Das ließ mich aufhorchen. „Sind sie sicher?“ Bork hatte sehr überzeugend geklungen, als er von dem Haus in den Wäldern von Bois Grand gesprochen hatte.
„Ich kann es nur so weitergeben, wie es mir gesagt wurde. Aber wir können nicht ausschließen, dass wir an der falschen Stelle suchen.“
Das war etwas, was ich absolut nicht hören wollte. „Wir können aber auch nicht ausschließen, dass er hier irgendwo versteckt eine kleine Hütte hat. Darum will ich, dass die Suchanstrengungen verdoppelt werden. Geht als Wölfe in den Wald, dreht jeden Stein zweimal um und vergesst dabei nicht: Wir suchen nicht nur einen Mörder, vor allen anderen Dingen, suchen wir eine Frau.“
Er nickte. „Ich werde sehen, was sich machen lässt.“
„Tun sie das. Ich ziehe mich nur noch um, dann stoße ich zu den Suchtrupps.“
„Natürlich.“
Vorher rief ich allerdings noch im Schloss an, um mich nach meinem Sohn zu erkunden. Erst nachdem Samuel mir fünf Mal versichert hatte, dass Aric noch in einem Stück war und sein Zimmer beinahe vor Umbras platzte, gab ich mich zufrieden und widmete mich meiner Aufgabe.
Es wurde ein sehr langer Tag. Die Wälder um das Hotel herum waren nicht nur groß, sie waren auch noch nass und da es immer wieder anfing zu regnen, wurde es auch nicht besser.
Ich schlug mich zusammen mit Raphael und einem halben Duzend Themis durch das Unterholz des Waldes. Es wäre einfacher, wenn ich mich verwandeln würde, aber das würde die Kommunikation mit den Vampiren in meiner Gruppe erheblich einschränken. Nicht das Romy viel zu sagen hatte, aber Raphael war nicht so wortkarg wie sie.
Leider schien es keinen Unterschied zu machen, wie wir uns durch den Wald bewegten. Wir fanden weder ein Haus, noch eine Spur von Vivien oder Jegor und mit jeder weiteren Stunde die verstrich, bezweifelte ich mehr, dass wir uns an der richtigen Stelle befanden.
Als wir gegen Mittag noch immer nichts gefunden hatten und wegen dem Wetter, bis auf die Knochen durchweicht waren, rief ich bei meinen Leuten in Silenda an. Bork Viran war nach meiner Befragung in den Hof gebracht worden und nun sollten die Wächter ihn einer weiteren Befragung unterziehen.
Leider ergab die Rückmeldung nichts neues. Bork behauptete steif und fest, dass Jegor hier sein müsste. Scheinbar wusste der Markis das nur nicht.
Als es am Abend zu dämmern begann, war ich wegen der schlaflosen Nacht nicht nur am Ende meiner Kraft, ich war auch frustriert, wütend und enttäuscht. Dann hatten wir schon eine heiße Spur und die verlief doch wieder im Sande.
„Das bringt doch nichts“, schimpfte ich und trat nach einem Farn. Jegor wäre mir lieber gewesen, aber der glänzte ja nun mal durch Abwesenheit.
Romy und Murphy warfen mir einen Blick zu, gingen dann aber weiter. Genau wie Tristan. Nur Raphael trat an meine Seite und ergriff meine Hand. „Wir dürfen nicht aufgeben.“
„Ich gebe doch gar nicht auf, nur …“ Ich versuchte die richtigen Worte zu finden. „Ich habe uns hier her gebracht, verstehst du? Wir sind irgendwo im Nirwana, in dem es nichts außer Bäume gibt. Keine Vivien und erst recht keinen Jegor.“
Er ließ sich von meiner Unzufriedenheit nicht mitreißen. Ganz ruhig legte er mir eine Hand an die Wange und zwang mich ihm ins Gesicht zu schauen. „Du hast Vivien schon einmal nach Hause gebracht, du wirst es auch ein zweites Mal schaffen.“
„Das war nichts als Zufall gewesen.“ Ich wollte mich von ihm zurückziehen, doch er schlang einen Arm um meine Taille und vereitelte damit meinen Fluchtversuch. „Außerdem hat es Jahre gedauert. Vivien wird das nicht noch einmal durchstehen.“
„Vivien ist stark.“
So konnte er auch nur reden, weil er ein Mann war. Er wusste nicht was es bedeutete auf diese Art erniedrigt und benutzt zu werden. Er hatte es gesehen – viele Male sogar – es aber nie am eigenen Leib zu spüren bekommen. Nicht das ich ihm so eine Erfahrung wünschte, aber deswegen konnte ich nicht viel auf seine Worte geben.
Ich hatte Vivien damals in die Augen gesehen. In ihnen hatte es weder Freude noch Leben gegeben und ich wollte mir nicht ausmalen, was eine zweite Gefangenschaft in ihr auslöste. Es musste die Hölle für sie sein. „Du hast keine Ahnung, von was du da redest.“
„Ach Bambi.“ Raphael zog mich an sich und bettete meinen Kopf an seiner Brust.
Ich hörte seinen kräftigen Herzschlag, der stetig mit dem Regen konkurrierte und merkte wie es mir half ein wenig ruhiger zu werden.
„Du musst aufhören dir Vorwürfe zu machen, du kannst nichts dafür. Um sie und meine Familie zu beschützen, hast du alles getan, was in deiner Macht stand.“ Raphael hob mein Kinn, sodass ich ihm in die Augen sehen musste. „Du hast mich beschützt.“
Nein, in erster Linie hatte ich versagt. Und damit, dass ich nun keinen der beiden finden konnte, hatte ich sogar ein zweites Mal versagt.
„Hey.“ Er strich mir eine Strähne hinters Ohr. „Auch du hast deine Grenzen.“
Aber hatte ich die auch schön voll und ganz ausgeschöpft? Da war ich mir nicht so sicher. „Es muss doch noch irgendwas geben, was ich tun kann.“
„Du hast für heute genug getan.“ Seinen Daumen wanderte über meine viel zu dunklen Augenringe. „Du siehst müde aus.“
„Ich hab ja auch seit zwei Tagen nicht geschlafen.“
„Geh ins Hotel und ruh dich aus.“
Jetzt? „Aber ich muss doch …“
„Wir machen das schon. Und sollte es Neuigkeiten geben, sage ich dir sofort Bescheid. Versprochen. Außerdem hilfst du niemanden damit, wenn du im entscheidenden Augenblick einfach umkippst.“ Ein kleines, hinterhältiges Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Und wenn du schön artig bist und tust was ich dir sage, dann bekommst du später eine Überraschung von mir.“
Hmmm, das hörte sich doch mal interessant an. „Und worin besteht diese Überraschung?“
Seine Augen blitzten auf. Einen kurzen Moment fixierte er einen Punkt hinter mir und dann überfiel er mich praktisch.
Hui, was war denn jetzt los? Ich wollte mich ja nicht beschweren, aber so stürmisch hatte ich ihn nur selten erlebt. Es war nicht nur der Kuss, auch die Art wie er mich festhielt und mich an sich drückte. Er eroberte meine Lippen ohne um Erlaubnis zu fragen. Eine Hand legte sich besitzergreifend um meinen Nacken und mir der anderen drängte er mich an seinen Körper.
Ich hatte nicht wirklich etwas dagegen, doch sein Eifer irritierte mich ein wenig. Genau wie der Ort und die Situation. Und dann spürte ich plötzlich den Blick.
Ich wollte mich sofort von Raphael losreißen, doch er schien es geahnt zu haben, denn er hielt mich nur noch fester. Er erlaubte gerade mal, dass ich den Kopf drehte, bis ich ihn sah.
Sydney.
Nur wenige Meter von uns entfernt, stand er neben einer alten Eiche und beobachtete uns wortlos. Er versuchte es zu verbergen, aber ich sah den Schmerz in seinen Augen, bevor er sich mit hängendem Kopf abwandte und zwischen den Sträuchern verschwand.
„Nein!“ Ich wollte ihm hinterher laufen, doch Raphael ließ mich noch immer nicht los. „Verdammt, was soll das?!“ Ich wollte nach ihm schlagen, aber dann bemerkte ich den Triumph in seinen Augen und mir wurde klar, dass Raphael gewusst hatte, das Sydney hinter mir stand. Das war gerade nichts weiter als eine Show gewesen.„Nimm jetzt deine Finger von mir!“ Ich versuchte mich von ihm freizumachen, doch damit erreichte ich nur, dass er mir ins Gesicht schaute.
„Jetzt versteht er, Bambi.“
Bitte? „Aber doch nicht so. Ich hätte …“
„Du hättest gar nichts getan, weil du ihn nicht verletzen wolltest.“ Er löste die Hand in meinem Nacken und strich mir meine kurzen Haare hinters Ohr. „Sowas kannst du nicht, nicht bei denen, die dir am Herzen liegen, dafür bist du zu weich.“
Ich und weich? Ich war knallhart.
„Das ist einer der Gründe, warum ich mein Herz schon vor langer Zeit an dich verloren habe.“
Mit seinem Süßholzraspeln war er bei mir gerade definitiv an der falschen Adresse. „Aber das wäre auch anders gegangen.“ Als ich wieder zu zappeln begann, ließ er mich endlich los. „Du hättest ihn nicht verletzen müssen, nicht so.“
„Er musste endlich erkennen, wie die Dinge liegen. Es weiter herauszuzögern, wäre einfach nur grausam.“
Über uns in der Baumkrone Kicherte es. In einer der Astgabeln lag Tarajika und schien sich köstlich zu amüsieren.
„Grausam ist das was man nicht sieht, obwohl man es direkt vor Augen hat.“
Was? Erst Sydney und jetzt sie. Wo kamen die nur alle her?
„Und wenn man es dann erkennt, ist es schon viel zu spät.“ Ziemlich elegant für so ein Skelett, ließ sie sich aus dem Baum fallen und begann uns zu umrunden. Sie schmiegte sich um meine Beine und schaute Raphael dann äußerst seltsam an. „Manchmal ist es gar nicht so schlecht, blind zu sein. Leider öffnet uns die Welt immer die Augen.“
Sie seufzte, wandte sich dann ab und trottete in den Wald hinein.
O-kay. „Das war seltsam.“ Selbst für ihre Verhältnisse.
„Sie scheint ein wenig … hm.“
„Durchgeknallt?“
„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Exzentrisch.“
Diese Erklärung war genauso gut wie jede andere.
Ich rieb mir über die Augen und schaute in die Richtung, in die Sydney verschwunden war.
„Es tut mir leid, Bambi.“ Raphael griff nach meiner Hand und drückte sie ganz leicht. „Ich wollte nur, dass er es endlich versteht.“
Sydney verstand mehr als ihm klar war, nur er selber schien nicht zu verstehen. Ich genoss das Zusammensein mit Raphael, wirklich. Ich liebte unsere Neckereien, aber ich war nicht bereit Sydney gehen zu lassen – noch nicht. „Ich glaube du hast recht. Ich sollte besser ins Hotel zurück gehen.“ Vielleicht brachte mir das ja endlich die heißersehnte Erleuchtung, denn ich wusste wirklich nicht mehr, was ich machen sollte.
°°°
Warme Lippen streiften meine Wange und zogen zärtlich meine Kinnlinie nach. Ein federleichter Kuss auf die Halsbeuge, jagte mir einen angenehmen Schauder über den Rücken. Heißer Atem strich mir über die empfindliche Haut hinter meinem Ohr, bevor Zähne vorsichtig daran knabberten. Ich erzitterte und spürte, wie mein Körper langsam erwachte.
Während Zähne und Lippen mich von einem Traum in den nächsten zogen, spürte ich eine raue Hand, die sich langsam unter meiner Decke voran tastete. Sie strich über mein Bein, immer weiter daran hinauf. Jede Berührung hinterließ ein angenehmes Kribbeln. Doch dann hielt sie zielsicher auf die wulstige Narbe zu.
„Nein!“ Ich schlug die Augen auf und war für einen kurzen Moment orientierungslos. Das hier war kein Traum. Verdammt, ich lag nicht mal mehr allein in meinem Bett! Im Zimmer war es zu dunkel, um mehr als einen Schemen auszumachen, aber trotz meiner vom Schlaf verschleierten Sinne, erkannte ich diesen Geruch.
Sydney.
Der Himmel draußen war dunkel und verhangen. Unaufhörlich prasselte der Regen gegen das Fenster des Cottages. Donner grollte. Eins, zwei, drei, vier … für einen kurzen Moment wurde das Zimmer von einem Blitz erhellt, Sydneys Gesicht jedoch blieb im Schatten verborgen.
Langsam schon er seine Hand weiter an meinem Bein hinauf. Sein Finger krochen über die Täler und Berge meiner Narbe. Sydney wusste ganz genau, dass ich es nicht mochte dort berührt zu werden und schon gar nicht so!
„Verdammt, was …“
Bevor ich seine Hand wegschlagen konnte, packte er mich an den Schultern und drückte mich fest in die Matratze. In der nächsten Sekunde spürte ich seine Zähne an der Kehle und die Luft war erfüllt von seinem Knurren.
Sofort raste mein Puls und Adrenalin jagte durch meine Venen. Das Ganze war so schnell geschehen, dass ich gar nicht anders konnte als mit klopfendem Herzen dazuliegen.
Er wollte mich nicht verletzten, darum ging es her nicht, er dominierte mich und zwar sehr heftig. Für mich wäre es ein leichtes gewesen, ihn auf seinem Platz zu verweisen, doch das wollte ich gar nicht. Mein Körper schrie geradezu danach stillzuhalten und abzuwarten. Sydney war schon immer mehr Wolf als Mensch gewesen und von dieser menschlichen Hülle würde ich mich nicht täuschen lassen. Da hockte ein Wolf über mir, der mir mein Herz bis zum Hals schlagen ließ.
Was für ein Wahnsinnsgefühl.
Als er merkte, dass ich mich nicht wehrte und ihn gewähren ließ, nahm er eine Hand von meiner Schulter und riss mir mit einem Ruck die Decke vom Körper.
Ich zuckte zusammen, wodurch er seinen Biss fast schmerzhaft verstärkte. Er würde mich nicht gehen lassen, bevor er bekommen hatte, weshalb er gekommen war. Allein bei diesem Gedanken lief es mir heiß und kalt den Rücken runter und ich musste mich zusammenreißen, trotz meiner Aufregung still zu liegen.
Wieder strich er mir mit der Hand über mein Bein und schob dabei mein Shirt ein wenig hoch. Das einzige Geräusch im Raum war unser leicht unruhiger Atem, der über den Guss, der gegen das Fenster prasselte, kaum zu hören war.
Ob ich ihn berühren durfte? Langsam hob ich den Arm, bis meine Finger weiches, leicht feuchtes Haar berührten. War er draußen gewesen? Ich strich durch die sandfarbende Mähne, glitt in seinen Nacken, auf seinen Rücken. Gott, wie ich es vermisst hatte, ihn so zu berühren. Allein sein Geruch in der Nase zu haben, ließ mein Herz ein kleinen wenig schneller schlagen.
Langsam lockerte sich der Biss an meiner Kehle. Er hauchte einen Kuss auf die sensible Stelle und begann dann damit mein Shirt immer höher zu schieben. Sobald er am Bauchnabel angekommen war, rutschte er ein wenig herunter und begann an meinem Bauch zu knabbern. Erst nur dort unten, aber langsam bahnte er sich mit Küssen einen Weg nach oben.
Mit jedem Zentimeter ging mein Atem ein wenig schneller. Ein Stück noch, dann lagen seine Lippen auf meiner Brust. Die Berührung dort war nur ein Hauch, doch das Gefühl der Verbundenheit so tief, dass sich meiner Kehle ein leises Stöhnen entrang.
Plötzlich packte er mich an Nacken und Taille und riss mich rittlings in die Senkrechte. Er war mir so nahe. Ich konnte seinen heißen Atem auf meinen Lippen spüren und seine Augen … ich hatte hier einen Wolf vor mir. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.
Er starrte mich an, als wollte er mich mit seinem Blick hypnotisieren. „Nicht er“, grollte er leise und noch bevor ich diesen beiden Worten einen Sinn geben konnte, lagen seine Lippen auf meinen.
Das war wohl sie Stelle, an der sich mein rationales Denken für eine ganze Weile verabschiedete. Ich fühlte seine Hand an meinem ganzen Körper, spürte wie unsere Erregung im Gleichklang wuchs. Da war nichts anderes, als die Berührung des anderen.
Das erste Kleidungsstück, das auf Nimmerwiedersehen verschwand, war mein Shirt. Der Slip folgte nicht viel später. Sydney war schon nackt, da brauchte ich nicht mehr nachhelfen.
Es war aufregend und seltsam. Sydney war im Bett schon immer sehr dominant gewesen, aber dieses Mal war es weitaus mehr.
Wenn ich nach oben wollte, verwies er mich mit einem Knurren nach unten, wenn ich ihn zu mehr Eile treiben wollte, drückte er mich in das Lacken, bis ich meinen Widerstand aufgab.
Ich stöhnte und wand mich unter ihm, als seine Lippen über meinen Bauch wanderten und mir kleine Stromstöße direkt in die unteren Regionen sandten. Meine Hände hatten sich in sein Haar verkrallt und mittlerweile war er nicht mehr der Einzige in diesem Bett, der nicht mehr ganz bei Sinnen war.
Er zwickte mir zärtlich in den Bauch, wofür ich ihn anknurrte. Diese Behandlung würde ich nicht lange aushalten, ohne über ihn herzufallen und mir einfach zu nehmen, was ich wollte.
„Sydney“, stöhnte ich, als er die empfindliche Stelle liebkoste, an der Schenkel und Hüfte miteinander verschmolzen. Ich zog ihn an mir hinauf, bis ich seine Lippen erreichte und ihn küssen konnte, doch als ich meine Beine um ihn schlingen wollte, machte er sich sofort von mir frei und warf mich praktisch auf den Bauch. Dann war er auch schon über mir, faste meinen Nacken mit den Zähnen, und krallte sich mir den Händen in meine Hüften. So verharrte er bewegungslos über mir und grollte leise wenn ich mich in seinem Griff zu sehr wandte. Er würde sich das Zepter nicht aus der Hand nehmen lassen, nicht hier, niemals hier.
Ich kauerte keuchend unter ihm und konnte nichts weiter tun, als zu warten, was geschehen würde. Sein Atem fiel gegen meine Haut, als seine Hand sich zögernd von meiner Hüfte löste und zu meinem Bauch wanderte. Immer höher, bis er die weiche Haut meiner Brust berührte. Er löste seine Zähne, hauchte einen Kuss in meinen Nacken, der mich erbeben ließ, während er sich von hinten an mich drängte. Danach konnte ich nichts weiter tun als zu fühlen.
Ihm so nah zu sein und auf diese Art bei mir zu haben, ließ mich innerlich brennen. Mit ihm war ich nicht allein, niemals, nicht mal dann, wenn er nicht da war. Mit ihm zusammen lebte ich in einem Kokon, der nur uns beiden gehörte. Ich sehne mich nach diesem Mann auf eine Art, die mir fast die Seele zerriss. Würde er mich verlassen, würde ich daran zugrunde gehen.
Ich wusste nicht wie lange wir miteinander zugange waren, doch als die Luft mit unserem Geruch geschwängert war, kuschelte ich mich eng an seine Brust und nur seine Haut verhinderte, dass ich in ihn hineinkroch.
Zuckenden Blitze in der Ferne erhellten für einen Augenblick das Zimmer, während ich mich in seiner Wärme sonnte und so gerne ich einfach schweigend genossen hätte, gab es da doch eine Frage, die mir auf der Seele brannte. „Warum bist du hier?“
Seine Finger strichen zärtlich über meinen Arm und jagten mir eine angenehme Gänsehaut nach der anderen über die Haut. „Ist das nicht offensichtlich?“, fragte er verspielt mit einem Lächeln in der Stimme.
„Du Schuft.“ Ich gab ihm einen Klaps auf die Brust. „Du weißt genau was ich meinte. Du hast dich so seltsam benommen, als ich aufgewacht bin.“
Über uns donnerte es. Die Scheiben klirrten und gleich darauf ließ ein Blitz den schwarzen Himmel einen Moment taghell erstrahlen.
Sydney ließ sich Zeit mit seiner Antwort. „Ich habe dich vermisst, Cayenne.“ Er rollte sich auf mich, legte seine Stirn an meine und wickelte die Arme um mich. „Ich habe deine Haut vermisst, die so weich ist, dass ich sie immerzu berühren möchte, deine Augen, diese unheimlich tiefen Seen, in den ich mich immerwährend verlieren könnte, deine Stimme, die wie ein Melodie in meinen Ohren klingt, dein Lachen, das sogar das Zwitschern der Vögel in den Schatten stellt und deine unglaublichen Lippen, eine einzige Sünde, der ich nicht widerstehen kann.“
Oh wow, einfach nur wow. Mit jedem weiteren seiner Worte, hatte sich ein entzücktes Lächeln auf meinen Lippen breit gemacht. „Versuchst du mich hier gerade um den kleinen Finger zu wickeln?“
„Dies ist mir schon vor langer Zeit gelungen.“ Er hauchte mir einen Kuss auf die Lippen, nur ein zartes Streichen auf meiner Haut, kaum mehr als ein Flügelschlag, aber ich war sofort Feuer und Flamme.
Was genau danach geschah, konnte ich nur raten. Ich war völlig eingetaucht in diese kleine Welt, die nur uns beiden gehörte. Ein leises Stöhnen kam über meine Lippen, als Sydney mich mit seinem Kuss in andere Hemisphären beförderte.
Das war wohl auch der Grund, warum ich nicht mitbekam, wie die Zimmertür von außen geöffnet wurde. Ich war nur etwas verwundert, als Sydney plötzlich den Kopf hochriss und besagte Tür anknurrte. Oder besser gesagt, die Person die in dem Rahmen stand und nicht fassen konnte, was sie da sah. Erst die wütende Stimme riss mich aus meinem Nebel und der geistige Aufprall der folgte war wirklich heftig.
„Du dreckige Töle!“
Mein Kopf wirbelte herum und ich musste mit wachsendem Entsetzen feststellen, dass es Raphael war, der mir da einen unangekündigten Besuch abstattete.
Sein Gesicht war vor Wut verzerrt und der Hass in seinen Augen ließen ihn zu einem Fremden werden. Nur einen Moment stand er an der Tür, im nächsten war er am Bett und riss Sydney von mir herunter.
„Raphael, nein!“
Sydney war stark, aber Vampire waren unheimlich schnell und selbst seine Verwandlung schützte ihn nur bedingt vor Raphaels Schlag. Er gab ein Jaulen von sich, knallte auf den Boden und rollte sich eilig weg, als Raphael sich ein weiteres Mal auf ihn stürzte.
„Hört auf!“
Sydney kam wieder auf die Beine und alles von dem sanftmütigen Historiker war von ihm abgefallen. Seine Lefzen hatte er so weit hochgezogen, dass mir sein Zahnfleisch entgegen blitzte. Sein Kopf war eine gerade Linie mit seinem Rückgrat und seine Rute stand steil nach oben. Er war von Natur aus schon ein extrem großer Wolf, doch mit dem gestäubten Fell wirkte er sofort um einiges größer.
Leider ließ Raphael sich davon nicht einschüchtern. Seine Fänge waren zu voller Länge ausgefahren und drückten sich in seine Unterlippe. „Du wirst deine dreckigen Pfoten nie wieder an Cayenne legen!“, fauchte er den Wolf an.
Sydney Knurren wurde lauter. „Daran wirst du mich nicht hindern.“ Ihm schien völlig entfallen zu sein, dass ein Vampir ihn nicht verstehen konnte.
Während jeder auf den ersten Schritt des anderen wartete, waren ihre Muskel bis zum zerreißen gespannt. Wenn ich nicht sofort etwas unternahm, konnte das hier ganz schnell, ganz böse werden. Die würden sich gegenseitig in der Luft zerreißen und das nur, weil mein Hirn das Denken eingestellt hatte.
In diesem Moment wurde mir mit aller Macht klar, dass ich während der ganzen Zeit mit Sydney nicht einen Gedanken an Raphael verschwendet hatte. „Hör auf, bevor …“ Weiter kam ich nicht. Meine Stimme musste den Startschuss gegeben haben, denn schon in der nächsten Sekunde prallten sie in einem wütenden Knäuel aufeinander. „Scheiße!“
Das Laken notdürftig um mich gewickelt, warf ich mich zwischen die Beiden. Schade nur, dass keiner von ihnen Rücksicht darauf nahm und ich als Stoßdämpfer fungierte. Sydney stieß mich in die Seite, damit ich aus dem Weg war und bevor ich ihn zu fassen bekam, hatte er sich schon wieder auf Raphael gestürzt. Mit seinem starken Kiefer würde er ihm glatt das Genick brechen.
„Sydney, hör auf!“
Der Befehl ließ ihn nicht nur erstarrten, er half Raphael auch darauf, seinem Konkurrenten auf den Rücken zu springen.
„Nein, Raphael. Verdammt!“
Raphael versucht mühsam Sydney auf den Boden zu drücken. Seine Oberlippe war weit zurückgezogen und die Farbe seiner Augen hatte sich vor Wut verdunkelt. Er war völlig von Sinnen und würde Sydney an die Kehle gehen, sollte er die Möglichkeit dazu bekommen. Er drückte das knurrende und sich windende Bündel nach unten, um zu verhindern, dass Sydney nach seinem Gesicht schnappen konnte.
„Sydney, nein!“ So eine Scheiße! Ich rappelte mich auf die Beine. Meine Brust tat weh. Wer auch immer mich da getroffen hatte, er hatte ganze Arbeit geleistet, das würde ich auch morgen noch spüren. Ich warf mich auf Raphaels Rücken und schlag meinen Arm um seine Kehle. „Lass los!“, fauchte ich und zog solange, bis Raphael nach oben griff, um sich von mir zu befreien. Dabei bekamen wir Übergewicht und ich knallte mit ihm zusammen auf dem Rücken.
Als Raphael versuchte sofort wieder auf die Beine zu kommen, stieß ich ihn zur Seite und sprang auf die Beine. In der nächsten Sekunde stand ich zwischen den beiden.
„Hört auf damit!“ Schwer atmend schaute ich von einem zum anderen.
Sydney rappelte sich in meinem Rücken gerade zurück auf die Beine. Raphael ließ er dabei keinen Moment aus den Augen. Nur eine falsche Bewegung und er würde sich sofort wieder auf den Vampir stürzen.
„Sydney, ich verbiete dir Raphael noch einmal anzugreifen und du“, ich streckte warnend den Finger aus, als Raphael einen Schritt auf mich zumachte. „Du bleibst wo du bist.“
Schlagartig wurde Raphael distanziert. „Nicht nur dass du diese verdammte Töle von Nikolaj beschützt, jetzt lässt du dich auch noch von Freddy Krüger durchfi- …“
BATSCH.
Ich dachte gar nicht darüber nach. Ich hob einfach die Hand und scheuerte ihm eine, nur um gleich darauf einfach zu erstarren. Ich hatte Raphael so heftig geschlagen, dass seine Wange sofort leuchtend rot wurde.
Er schaute mich genauso fassungslos an, wie ich ihn.
Die folgende Stille wurde allein durch den kräftigen Sturm vor dem Fenster gefüllt, der dort draußen langsam Amok zu laufen schien.
Sehr langsam hob Raphael die Hand an seine Wange. Wie ich leider zugeben musste, was es nicht das erste Mal gewesen, dass ich das getan hatte, aber ich hatte nie mit der Kraft eines Werwolfs zugeschlagen.
„Raphael, ich …“
„Spar dir deine Worte.“ Drei Sekunden, so lange dauerte er es, bis er zur Tür hinaus gestürmt war.
Scheiße, was hatte ich getan? Oh Gott, Raphael. Ich musste … verdammt, so durfte ich ihn nicht gehen lassen, ich musste ihm folgen!
Das Laken fiel auf den Boden, als ich mir meine Hose griff und das Shirt überstreifte, in dem ich geschlafen hatte. Dann rannte ich, um zu verhindern, dass er ein weiteres Mal aus meinem Leben verschwand.
Barfuß jagte ich aus dem Cottage hinaus auf die nasse Wiese. Von oben prasselte der Regen auf mich nieder und machte es mir schwer mich zu orientieren. Der Sturm blies die Gerüche einfach weg und die dichten Schleier verhinderten eine weite Sicht.
Schon nach zwei Schritten war ich bis auf die Haut durchnässt.
Ungeduldig wischte ich mir die Sturmfluten aus meinem Gesicht und da entdeckte ich ihn, wie er mit hochgezogenen Schultern am Rande des Waldes entlang lief. „Raphael!“
Er blieb nicht stehen und zeigte auch keine andere Reaktion, auf meine Stimme.
Scheiße. So schnell meine Beine mich trugen, rannte ich durch das Gewitter. „Raphael, warte!“
Er wurde nicht schneller, hielt aber auch nicht an.
Meine Füße klatschten durch Pfützen und der Regen fiel in Sturzbächen über meinen Kopf. Ich kam näher. „Raphael!“ Verdammt, bitte bleib doch stehen. Ich packte ihn an seiner Jacke. „Bitte, warte, du musst mir zuhören.“
Er schnaubte nur abfällig und mit einem solch kalten Blick, dass ich bis ins Mark gefror. Mit einer einfachen Bewegung riss er sich von mir so heftig los, dass ich fast gefallen wäre.
Ich rannte um ihn herum, verstellte ihm den Weg. Er durfte nicht gehen, er musste mich anhören. „Nein, bleib, bitte, hör mir zu.“ Ich streckte meine Hand nach ihm aus. Er wich davor zurück, als wäre es das Widerlichste, was ihm jemals untergekommen wäre. Diese Reaktion tat so weh, dass ich den Schmerz fast körperlich spürte. „Bitte“, flehte ich. Ich wollte ihn nicht noch einmal verlieren.
Er sah mich nur abschätzen an. Und dann stellte er eine Frage, mit der ich im Moment überhaupt nicht gerechnet hätte. Nur ganz leise, so dass die Worte in den Fluten die er Himmel über uns ausschüttete fast verloren gingen. „Liebst du mich?“
Warum stellte er eine solche Frage? Er wusste es doch. „Natürlich tu ich das“, beeilte ich mich zu sagen.
Er kniff die Augen zusammen. „Sag es.“
„Was?“ Was sollte ich sagen? Was wollte er hören? In diesem Moment hätte ich alles getan, was er wollte, er durfte mich nur nicht wieder verlassen.
„Sag. Es.“ Als ich ihn nur ratlos und panisch ansah, schüttelte er den Kopf, als könnte er das alles gar nicht glauben. Oder einfach als hielte er mich für unterbelichtet. „Du hast es mir nie gesagt, ich liebe dich, drei klitzekleine Worte, die du dich nie überwunden hast auszusprechen.“
Doch das hatte ich, ein einziges Mal und nicht er war es gewesen, für den sie bestimmt waren.
„Sag es!“, schrie er mit so viel Wut in der Stimme, dass ich darunter zusammenfuhr.
Meine Augen begannen zu brennen und nicht mal der kühlende Regen konnte diesem Schmerz Einhalt gebieten. „Ich liebe dich.“
„Und warum bumst du dann diesen hässlichen Köter?!“, fauchte er mich an. Er riss die Arme nach oben und zerraufte sich die Haare. Irgendwann in der Keilerei mit Sydney musste sein Zopf aufgegangen sein. „Warum öffnest du für diese Hackfresse deine Beine? Warum?!“
Nun flossen die ersten Tränen. Wie die Regentropen perlten sie über meine Wangen. Seine Worte schmerzten, aber das schlimmste daran war, dass es meine eigene Schuld war. „Es … es tut mir leid“, schluchzte ich.
„Egal wie oft du mich weggeschickt und abgewiesen hast, ich bin jedes Mal wie ein dummer Hund zu dir zurückgekehrt!“, donnerte er weiter. „Ich habe mich auf die erbärmlichste Weise von dir erniedrigen lassen. Nicht mal wenn du nachts in meinen Armen gelegen hast, es aber sein Name gewesen war, den du geflüstert hast, hab ich dich im Stich gelassen und das ist nun der Dank?!“
Ich wollte den Mund öffnen, wollte etwas sagen, musste etwas sagen, doch er war noch lange nicht fertig.
„Um bei dir sein zu können, habe ich nicht nur mein Leben riskiert, ich habe über alles was du verbockt hast, hinweggesehen. Ich habe dir Zeit gegeben, wenn du sie brauchtest, ich war sofort zu Stelle, wenn du mich gerufen hast, ja ich habe nicht mal etwas gegen Aric gesagt, obwohl es verdammt wehgetan hat und das alles nur für dich! Du musstest es tun, es war deine Pflicht, aber du hattest heute keinen Grund dazu diese widerliche Töle von einem Narbengesicht zu ficken, KEINEN!“
Nach diesen Worten war ich das sprichwörtliche Häufchen Elend. Er hatte recht, mit allem und doch wünschte ich mir, dass er mich einfach in den Arm zog und mir erklärte, dass alles wieder gut werden würde, dass wir wie immer einen Ausweg finden würden, solange wir nur zusammen waren, aber das tat er nicht. Er stand nur da und bedachte mich mit diesem eiskalten Ausdruck, der mehr schmerzte, als wenn er mich einfach geschlagen hätte.
„Es tut … mir leid.“
„Das sollte es auch.“ Damit ließ er mich stehen und verschwand in der Dunkelheit.
Ich konnte ihm nicht folgen, die Kraft hatte mich einfach verlassen. Das würde er mir niemals verzeihen. Ich hatte nicht nur sein Vertrauen missbraucht, ich hatte ihn gedemütigt und verletzt. Dieser Schmerz … da reichte kein Pflaster. Was hatte ich nur getan?
„Es tut dir also leid?“
Erschrocken wirbelte ich herum. Direkt hinter mir stand Sydney. Sein Fell war klitschnass und der Ausdruck in seinen Augen traurig. Hatte er alles gehört, was ich gesagt hatte? Bitte nein. „Sydney …“
Er wandte sich ohne ein weiteres Wort ab und verschwand in die andere Richtung.
Das war der Moment, in dem meine Beine einfach unter mir wegknickten. Im strömenden Regen sackte ich in mich zusammen und saß dann in dem Scherbenhaufen, der von meinem Leben noch übrig geblieben war. Jetzt waren sie beide weg und das war allein meine Schuld. Ich hatte so lange gezögert, weil ich keinen von ihnen aufgeben konnte und jetzt hatte ich beide verloren. Mir blieben nur noch die Tränen in meinem Gesicht und das erdrückende Gefühl der Einsamkeit.
„Oh, wie herzzerreißend. Hat jemand ein Taschentuch?“
Die Stimme ließ mich nicht nur erschrocken herumwirbeln, einen Moment zweifelte ich sogar an meinem Verstand. Jegor. Verdammte scheiße, da stand Jegor!
Wo kam der den plötzlich her? Sein dunkler Anzug ließ ihn fast mit der Nacht und den Schatten der Bäume verschmelzen. Aber die Waffe in seiner Hand, die bemerkte ich dennoch, als wäre sie ein Leuchtfeuer.
Unwillkürlich wich ich vor ihm zurück. Es war Jahre her, dass ich diesen Mann das letzte Mal mit einer Waffe in der Hand gesehen hatte, doch ich erinnerte mich nur zu genau daran, wie eiskalt er damit getötet hatte.
„Oh, Ihr wollt uns doch nicht schon verlassen, oder?“ Als er einen Schritt auf mich zumachte, sprang ich auf die Beine. Ich wirbelte herum und …
Ein Amboss traf mich im Gesicht und schleuderte mich zurück in den Matsch. Schmerz explodierte in meinem Kopf. Okay, es war kein Amboss, sondern eine Faust, aber es hatte sich wie einer angefühlt. Meine Sicht verschwamm, doch das hatte nichts mit den Tränen zu tun. Ich musste ein paar Mal blinzeln und ein Mund voll Dreck ausspucken.
„Ihr solltest uns vielleicht noch ein wenig Gesellschaft leisten.“
Langsam versuchte ich mich auf die Arme zu stemmen, doch das schien dem Herren nicht schnell genug zu gehen. Er machte mit der Hand eine Bewegung und im nächsten Moment wurde ich zurück auf die Beine gerissen. Erst da wurde mir bewusst, dass er nicht allein war. Jemand drehte mir die Arme auf den Rücken und hielt mich dann mit eisernem Griff fest.
Ich atmete gegen den Schmerz und versuchte mich zu orientieren.
Hinter einzelnen Fenstern im Hotel brannte noch Licht, doch das waren von hier aus dreihundert Meter entfernt. Durch die Bäume würde man dort unten nicht sehen, was hier los war und der starke Regen würde jeden meiner Rufe abwürgen.
Durch den Sturm und die Nacht war ich nicht ganz sicher, aber wenn ich mich nicht irrte, hatte Jegor sieben Freunde mitgebracht. Alles Lykaner. Praktisch.
Jegor kam langsam herangeschlendert. Der Regen hatte auch ihn bis auf die Knochen durchweicht. Die Waffen in seiner Hand hielt er wie ein modisches Accessoire. „Ich finde es überaus zuvorkommend von Euch, dass ihr zu mir gekommen seid und mir damit den Weg erspart, Euch holen zu müssen.“
„Bitte schön.“ Die drei Cottages standen weit auseinander und waren durch weitere Bäume voneinander getrennt, aber das waren nur fünfzig Meter. Vielleicht konnte ich Diego und Ginny alarmieren.
Jegor verzog die Lippen. „Das Ihr selbst in einer solchen Situation von so vorlaut seid. Ihr scheint das kleinste bisschen Selbsterhaltungstrieb zu besitzen.“
„Doch, das tue ich, nur lasse ich mir von unbedeutenden Wichtigtuern keine Angst machen.“
Jetzt!
Ich ließ mein Odeur um mich herum mit einer solchen Kraft explodieren, dass Jegor instinktiv zurückzuckte. Ich wollte nach hinten austreten, doch irgendwie hatte mein Odeur keinen Einfluss auf den Kerl der mich festhielt. Er trat mir einfach die Beine weg und stieß mich zurück auf die Erde.
Der Aufprall war nicht ganz so hart wie der Letzte, aber er tat weh. Warum funktionierte mein Odeur nicht?
„Oh, habe ich vergessen Euch darüber zu informieren, dass ich mich seit dem Beginn unserer Abmachung nur noch mit ausgesuchten Männern umgebe?“ Jegors Lächeln wollte mir gar nicht gefallen. „Sie alle sind genau wie Fletcher.“
Scheiße, Abstare. Sie ließen sich von mir nicht kontrollieren. Jetzt bekam ich Angst. Kräftemäßig war mir einer von ihnen schon überlegen, gegen alle zusammen hatte ich nicht die geringste Chance. Ich brauchte Hilfe. Denk nach.
„Oh, plötzlich seid Ihr nicht mehr so vorlaut.“ Er trat etwas näher und hockte sich direkt vor mich. „Wolltet Ihr mich nicht töten? Also los, worauf wartet Ihr? Ich werde mich auch nicht wehren.“
Aber seine Leute würden mich in der Luft zerfetzen.
„Habt Ihr nichts mehr zu sagen?“
Doch, eines gab es.
Ich schlug ihm gegen die Brust. Das brachte ihn zwar nicht zu Fall, aber aus dem Gleichgewicht. Diesen Moment nutzte ich, um den Kopf in den Nacken zu werfen und zu heulen. Meine Stimme schallte durch den Wald und ließ sogar das Geräusch des Regens einen Moment verblassen. Doch dann traf mich ein Fuß im Magen.
Mein Heulen brach ab. Nicht nur, weil der Tritt mir die Luft aus den Lungen gedrückt hatte, es tat so fürchterlich weh, dass ich mich zusammenrollen musste.
Scheiße. Hatte es gereicht? Hatte mich irgendjemand gehört?
Jegor richtete sich mit einem wütenden Blick auf mich auf. „Bringt sie in das Cottage, sofort!“
Als einer von den Kerlen sich nach mir bückte, holte ich instinktiv mit dem Bein aus und trat ihm mitten ins Gesicht. Er jaulte auf und fasste sich ins Gesicht. Zu meinem Pech waren da aber noch sechs andere.
Ich bekam einen Stoß in den Rücken und wurde gleich darauf von einem Riesen mit grauen Haaren auf die Beine gezogen.
„Lass die Sperenzchen“, knurrte er mich an und drehte mir dann einen Arm auf den Rücken. „Und jetzt beweg dich.“
Er gab mir gar nicht die Gelegenheit zu reagieren, er schob mich einfach nach vorne. Mir blieb nur die Wahl zwischen laufen und auf die Nase fallen. Ich entschied mich für das Laufen und versuchte angestrengt einen Weg aus dieser Miesere zu finden.
Jegor war hier und er hatte mich nicht direkt umgebracht. Das bedeutete, er wollte etwas von mir. Vielleicht konnte ich das zu meinen Gunsten ausnutzen. Die Frage war nur, was er wollte. Verdammt, hatte mich den wirklich keiner gehört?
Ich wurde unerbittlich zur Bewegung gedrängt. Jegor hatte die Führung unserer kleinen Gruppe übernommen. Ich brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass er direkt auf mein Cottage zulief.
Unruhig spähte ich durch die Dunkelheit und hoffte das kleine Häuschen von Diego und Ginny zu sehen, aber die Regenschlieren machten es unmöglich, mehr als ein paar Meter weit zu sehen. Das andere Haus war noch weiter entfernt, aber ich konnte wohl weder auf Tarajika, noch auf Sydney hoffen.
Oh Gott, was sollte ich nur machen?
„Da!“, rief plötzlich einer der Kerle und zeigte nach links zwischen die Bäume.
Alle, mich eingeschlossen, schauten in die Richtung, in die er zeigte. Einen kurzen Moment sah ich den riesigen Kopf eines Wolfes, doch als ihm klar wurde, dass man ihn bemerkt hatte, ging er sofort in Deckung.
Ich hatte ihn trotzdem erkannt. Das war Sydney.
Mit einem Mal begann mein Herz wie wild zu schlagen. Sydney war hier. Er hatte gesehen was los war und konnte Hilfe …
„Erschießt ihn.“
„Nein!“
In dem Moment in dem ich schrie, riss der Kerl neben mir die Arm hoch und feuerte ins Gebüsch. Es war nur ein leises Pffft, kaum zu hören durch Schalldämpfer und Regen, aber was ich sehr deutlich hörte, war das Aufjaulen im Gebüsch.
Mein Herz schien einfach stehenbleiben zu wollen. Er hatte getroffen. Der Mistkerl hatte ihn getroffen. „Sydney!“
Mein Schrei hallte zwischen den Bäumen wieder, aber Sydneys Kopf tauchte nicht wieder auf. Ich sah auch keine Bewegung in den Büschen. Da war nur der Regen.
„Nein.“ Mein Blick flog hektisch hin und her. „Nein.“ Oh Gott, wo war er? Warum tauchte er nicht wieder auf? Zeig dich, du verdammter Wolf!
„Wie mir scheint, kanntet Ihr ihn.“
Mein Kopf wirbelte zu Jegor herum.
„Wie schade für ihn. Abmarsch.“
„Nein!“ Ich begann mich so heftig zu wehren, dass der grauhaarige Kerl Probleme hatte, mich festzuhalten. Ich musste zu Sydney und mich versichern, dass mit ihm alles in Ordnung war. Oh Gott, sie hatten auf ihn geschossen.
„Verdammt, halt still!“
Meine Verwandlung setzte ein. „Sydney!“, schrie ich und biss nach dem Typen, der frontal auf mich zukam. „Nein, lasst mich los, ihr sollt eure Finger wegnehmen! Sydney!“
„Sorgt dafür, dass dieses Theater aufhört.“
Ein heftiger Schlag gegen den Hinterkopf ließ ein Meer von Sternen vor meinen Augen explodieren. Meine Beine knickten weg und ich fiel nur nicht, weil der grauhaarige Kerl mich festhielt.
„Du, sieh nach ob der Kerl noch lebt und falls er es noch tut, erledige ihn“, Befahl Jegor. „Und der Rest von euch: Mir nach, los jetzt.“
Ich wurde zur Seite gezerrt. Irgendwo zwischen dem ganzen Schmerz, der durch meinen Körper tobte, schrie meine Seele einen Namen. Immer und immer wieder. Sydney. Mein Blick wollte sich irgendwie nicht mehr richtig aufklaren, aber ich schaffte es den Kopf so weit zu drehen, um den Busch zu sehen. Warum regte sich dort nur nichts?
Bitte Sydney, sei nicht tot.
°°°°°
Als ich hinter Jegor in das Cottage gestoßen wurde, versuchte ich einen Blick zurückzuwerfen, doch erst versperrten die Männer mir die Sicht und dann schlossen die Arschlöcher auch noch die Tür.
Ich versuchte mich in dem Griff des Grauhaarigen aufzubäumen. Ich musste hier raus und nach Sydney schauen. Er war nicht tot, bestimmt nicht. Er durfte einfach nicht tot sein, aber er war sicher verletzt. Ich musste ihn helfen.
„Verdammt noch mal, jetzt halt endlich still!“, fauchte der Grauhaarige.
„Dann nimm endlich deine Pfoten von mir!“, fauchte ich zurück und trat nach hinten aus.
Ich erwischte ihn nicht, er wich rechtzeitig aus. Nur stieß er dadurch gegen die Stehlampe. Sie fiel um und knallte auf den Boden. Der Lampenschirm zerbrach und das Licht erlosch.
„Könnte ihr nicht vorsichtiger sein?“, knurrte Jegor. „Hier, bindet sie auf den Stuhl.“
„Nein!“ Ich begann wieder zu zerren und zu ziehen. Verdammt, was nützte es ein halber Werwolf zu sein, wenn man nicht mal die Kraft besaß, sich zu befreien?
Als der Kerl damit begann mich durch den Raum zu zerren, schrie ich. Nicht nur vor Wut, es war reine Verzweiflung. Mir war egal, was sie mit mir taten, doch sie sollten mich wenigstens Sydney helfen lassen. Oh Gott, was wenn er so schwer verletzt war, dass er sich nicht bewegen konnte? Und wenn dieser Lakai von Jegor ihn fand … oh Gott. Ich begann mich heftiger zu wehren.
Zwei weitere Männer setzten sich in Bewegung, um dem Grauhaarigen bei seinem Unterfangen zu helfen.
„Nein!“, schrie ich. „Bleibt weg von mir, sonst …“
„Was ist hier los?“
Jeder Kopf im Raum wandte sich nach rechts.
Scheiße, Nikolaj. Er sah aus, als hätte er gerade noch geschlafen. Der Lärm musste ihn aus seinem Zimmer gelockt haben.
„Verschwinde!“, brüllte ich. „Lauf weg!“
Bevor er es überhaupt schaffte einen Muskel zu bewegen, waren drei Waffen auf seinen Kopf gerichtet.
„Nein, lasst ihn in ruhe! Und lasst mich in Ruhe! Wenn ihr nicht …“
Ich erstarrte, als ich das Klicken einer Waffe an meinem Ohr hörte und sich der kalte Lauf gegen meine Schläfe drückte. „Das reicht jetzt“, sagte Jegor leise, aber nachdrücklich. „Wenn Ihr nun bitte so freundlich wärt Euch still und leise hinzusetzen, wäre ich Euch sehr verbunden.“
Nikolajs Augen wurden ein wenig größer. „Vater, das geht zu weit! Wenn du nicht sofort deine Finger von ihr lässt, dann …“
„Dann was?“, fragte Jegor und drehte sich halb zu seinem Sohn herum. „Was willst du tun, Nikolaj? Jeder hier hat eine Waffe, drei davon sind auf deinen Kopf gerichtet und es beeindruckt hier niemanden, dass du ein König bist.“
Ganz ruhig schaute Nikolaj von einem zum anderen. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Ihm würde Jegor nichts tun, aber bei mir sah die ganze Sache schon anders aus. „Was willst du von ihr?“
„Das was ich immer wollte, schon von der ersten Minute an.“
Nicht das uns diese kryptische Aussage viel mitteilte.
Nikolajs Blick begegnete meinem. „Es ist vorbei, Vater. Du solltest besser aufhören, so machst du es nur schlimmer.“
„Schlimmer? Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin hier um es besser zu machen.“
„Das ganze Rudel ist auf der Suche nach dir“, versuchte Nikolaj auf seinen Vater einzuwirken. „Das ganze Hotel ist voll mit unseren Leuten. Wenn du aufgibst …“
„Aufgeben?“ Jegor schnaubte belustigt. „Warum sollte ich den Aufgeben? Jahre der Arbeit und nun bin ich nur noch einen Schritt von meinem Ziel entfernt. Niemand wird mich jetzt noch aufhalten können und schon gar nicht du. Aber wenn du artig bist, dann warfst du zuschauen.“ Er drehte sich wieder zu mir herum und deutete mit der Waffe auf den Stuhl. „Hinsetzen, jetzt.“
„Vater, wenn du nur …“
Jegor wirbelte mit erhobener Waffe herum. Vier Schritte brauchte er, dann stand er direkt vor seinem Sohn und hielt ihm die Pistole an die Stirn.
Nikolaj taumelte einen erschrockenen Schritt zurück. Leider war direkt hinter ihm die Wand, weswegen er nicht weit kam. Seine Augen wurden wein wenig größer und ich sah wie er angestrengt schluckte.
„Wenn du nicht der zweite sein möchtest, der heute Nacht stirbt, bist du jetzt besser ein braver, kleiner König und hältst den Mund.“
Verunsichert huschte Nikolajs Blick von seinem Vater zu mir. Seine Zunge schnellte hervor und leckte nervös über seine Lippen, aber er blieb still.
„Warum nicht gleich so?“ Langsam ließ Jegor die Waffe sinken. Dabei fixierte er Nikolaj mit einem Blick, der ihn davor warnte, irgendwelche Dummheiten zu tun, wie zum Beispiel, mir zu Hilfe zu eilen.
Erst als Nikolaj ergeben die Lippen aufeinander drückte und den Kopf senkte, kehrte Jegor ihm zufrieden den Rücken. Und das war der Moment in dem Nikolaj sich auf seinen Vater stürzte.
„Nein!“, schrie ich noch, als die beiden zu Boden gingen. Jegor fiel die Waffe aus der Hand. Sie rutschte unter das Sofa. Zu weit weg, um damit etwas anzufangen.
Das war einfach nur dumm. Gegen Jegor allein konnte er bestehen, aber nicht gegen die ganzen Männer. Doch davon ließ Nikolaj sich nicht aufhalten. Er holte aus und schlug so fest zu, dass sein Vater sicher Sterne sah. Dabei begann er sich zu verwandeln und schaffte es sogar noch ein zweites Mal zuzuschlagen, bevor einer von Jegors Lakaien ihn am Arm zu fassen bekam.
Nikolaj versuchte noch nach hinten zu schlagen, da wurde er auch schon von Jegor heruntergerissen und knallte mit dem Kopf voran gegen die Wand. Er gab einen Laut des Schmerzes von sich und glitt an der Wand herab. An der Tapete blieb ein Blutfleck zurück.
„Nein!“, schrie ich und begann mich wieder zu wehren. „Lasst ihn in Ruhe!“
Zornfunkelnd arbeitete Jegor sich auf die Beine und wirbelte zu seinem Sohn herum. „Du undankbarer, kleiner Hurensohn! Nur wegen mir bist du heute dort, wo du bist und trotzdem fällst du mir in den Rücken?!“
Nikolaj fasste sich vorsichtig an den Kopf. Seine Bewegung war träge und er schien den Blick nicht richtig fokussieren zu können.
„Gehen sie weg von ihm!“
„Das war dein letzter Fehler gewesen, Nikolaj.“ Da er seine eigene Waffe verloren hatte, schnappte er sich die von dem Typen neben sich und dann hörte ich nur noch den Knall.
Nikolajs Kopf ruckte nach hinten. Auf seinem Gesicht machte sich ein erstaunter Ausdruck breit. Einen kurzen Moment schien sein Blick sogar noch mal klar zu werden. Er schaute mir direkt in die Augen und dann sackte er einfach leblos in sich zusammen.
„Neiiin!“, schrie ich und konnte nicht fassen, was da gerade passiert war. Jegor hatte Nikolaj erschossen. Oh mein Gott, er hatte seinen eigenen Sohn getötet! „Sie Monster! Er ist ihr Sohn! Ist ihnen denn nicht mal die Familie heilig?!“
Ganz langsam drehte er sich zu mir herum. Die Waffe hatte er noch immer in der Hand. „Meine Familie war das wichtigste in meinem Leben, aber dann kam Eure Familie und hat mir alles genommen.“
Was? „Nikolaj gehörte auch zu ihrer Familie und sie haben ihn getötet!“
„Nikolaj gehörte nie zu meiner Familie.“ Völlig entspannt, ließ er die Waffe unter seinem nassen Jackett verschwinden. „Er war schon vor seiner Geburt nur ein Mittel zum Zweck. Und ich muss leider sagen, dass er mich immer und immer wieder zutiefst enttäuscht hat. Von so niederem Blut kann man wohl auch nicht mehr erwarten.“
Ich war … keine Ahnung. Entsetzt, geschockt, verstört. „Aber … er war ihr Sohn. Er hat sie geliebt.“
„Nikolaj wurde nur geboren, um Euch zu heiraten. Und wenn ihr nun so gütig wärt, setzt Euch endlich.“
Ich war nicht fähig mich zu bewegen, Jegors kleinen Helferlein ging es da aber ganz anders. Der Grauhaarige packte mich an der Schulter und drückte mich auf den Schreibtischstuhl. Ein zweiter zurrte mir währenddessen die Hände an die Stuhllehnen.
Ich wehrte mich nicht. Der Anblick von Nikolaj nahm mich so gefangen, dass ich für alles um mich herum taub wurde. Er hatte mir helfen wollen, nur deswegen hatte Jegor geschossen. Du dummer, dummer Kerl, warum hast du das nur getan?
Eine Träne rann über meine Wange und tropfte mir vom Kinn.
„Oh“, machte Jegor. „Jetzt sagt nicht, er hätte Euch etwas bedeutet.“
Hass, das war es, was bei diesen Worten in mir hochbrodelte. Purer, unverfälschter Hass. „Dafür werden sie büßen.“
„So allerliebst Eure Drohungen auch sind, die einzige Person in diesem Raum, die büßen wird, seid ihr. Nur noch Ihr müsst sterben, dann habe ich meinen Schwur erfüllt.“
Schwur? „Warum? Was habe ich ihnen getan?“
„Ihr habt meine Tochter getötet.“
„Was?“ War er verrückt geworden? „Sie haben keine Tochter.“
Nach diesen Worten schaute er mich an, als wollte er meinen Kopf allein durch einen Blick zum explodieren bringen. Da war nichts als heiße Wut. „Nein“, sagte er leise. „Dank Eurer Familie habe ich keine Tochter mehr.“
Dann meinte er also nicht, dass ich seine Tochter getötet hatte, sondern dass meine Familie daran schuld war. „Aber sie können die Leute doch nicht reihenweise umbringen, weil ihnen etwas schreckliches widerfahren ist.“
Ganz in Ruhe, als hätte er alle Zeit der Welt, schlenderte er durch das Wohnzimmer und setzte sich dann auf die Couch. Er holte eine Zigarre aus seiner Jackentasche, zündete sie an und blies genüsslich den Rauch aus. Aber seine Ruhe konnte mich nicht täuschen, ich spürte die Wut, die unter der Oberfläche lauerte. „Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich Euch eine Geschichte erzähle.“
Mein Blick glitt einen kurzen Moment zum Fenster. Der Regen prasselte noch immer in Strömen dagegen. Draußen war es so dunkel, dass ich nichts erkennen konnte. Die Sorge um Sydney fraß mich fast auf. Wenigstens war der Lakai noch nicht zurück gekommen. Vielleicht hatte Sydney es geschafft ihm zu entkommen und Hilfe war unterwegs. Ich flehte darum, dass Hilfe unterwegs war.
„Wisst Ihr, ich war damals noch recht jung, als ich meine Natasha zum ersten Mal erblickte. Sie war nicht nur die Liebe meines Lebens, sie war meine Gefährtin und als sie dann schwanger wurde, war unser Glück perfekt. Aber dann, kurz vor der Geburt unserer Tochter, hatte sie einen schweren Autounfall. Die Ärzte konnten unser Baby retten, doch für sie kam jede Hilfe zu spät.“
Wäre er nicht der Mann, der er war, würde er mir wohl leidtun. So jedoch hatte ich nur Mitgefühl für Natasha und ihre Tochter.
„Anfangs war es schwer, aber Sonora war so ein kleiner Engel. Nur weil es sie gab, habe ich die Zeit damals überstanden.“
Moment, was hatte er gerade gesagt? „Sonora?“
Er nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarre und klopfte die Asche direkt über dem Teppich ab. „Ja Sonora. So hieß meine Tochter.“
Verdammte Scheiße, Hotel Sonora! Bork du elender Mistkerl! Kein Wunder, dass wir Jegors versteckte Hütte nicht hatten finden können, wir hatten uns direkt in ihr einquartiert!
„Sie war das schönste Wesen, was jemals einen Fuß auf diesen Planeten gesetzt hatte“, schwärmte er. „Schon als Baby, hat sie den ganzen Tag gelächelt. Sie war immer höflich und zuvorkommend und sie liebte das Leben. Sonora war mein ganzer Stolz.“ Das leicht entrückte Lächeln auf seinem Gesicht wich abgrundtiefem Hass. „Und dann wurde Prinz Christopher auf sie aufmerksam.“
Prinz Christopher? War das nicht der Kerl, den man vor über zwanzig Jahren tot am verfluchten Weiher gefunden hatte? Nur kurz nachdem man dort ein totes Mädchen … mir schwante Böses.
„Ich hatte geschäftlich am Hof zu tun und Sonora hat mich begleitet. Sie war wie immer die schönste Blume im Garten gewesen. Ich hätte wissen müssen, dass dieser Hurenbock Gefallen an ihr finden würde. Was ich aber nicht geahnt hatte war, dass Sonora sich geschmeichelt fühlte, das Interesse eines Prinzen geweckt zu haben. Es störte sie nicht mal, dass er weitaus älter war als sie.“
Der grauhaarige Kerl setzte sich in Bewegung und verschwand in Nikolajs Zimmer.
Jegor starrte auf die Glut seiner Zigarre. „Ich versuchte sie von ihm fernzuhalten, doch ich hatte oft im Schloss zu tun und nach diesem ersten Treffen bestand Prinz Christopher darauf, dass ich sie auch in Zukunft mitbrachte, damit er sie sehen konnte.“ Seine Lippen wurden zu einem dünnen Strich. „Dem ausdrücklichen Befehl eines Alphas widersetzt man sich nicht.“
Nein, das tat man nicht.
„Natürlich habe ich mit ihr geredet und sie davor gewarnt, Prinz Christophers Nähe zu suchen, aber ich konnte nicht immer da sein um auf sie aufzupassen. Ich versuchte an ihre Vernunft zu appellieren und ihr zu erklären, dass dieser Mann nichts Gutes mit ihr im Sinn hatte, doch eines Morgens war sie verschwunden.“ Die Erinnerung schien ihm Schmerzen zu bereiten. „Fast zwei Tage blieb sie verschollen. Erst dann wurde ihre Leiche auf einer kleinen Lichtung in den Wäldern gefunden. Man hatte ihr die Kehle durchgeschnitten.“
Mit einem weißen Laken bewaffnet, tauchte der grauhaarige Mann wieder im Wohnzimmer auf. Er ging zu Nikolaj und deckte ihn damit zu.
Als wenn es das besser machen würde.
„Es gab keine Spuren auf den Täter. Niemand sagte mir was geschehen war, niemand übernahm die Verantwortung für diese unverzeihliche Tat. Doch dann tauchte Prinz Christopher bei mir auf und gestand mir was er in seiner Gier getan hatte. Er flehte mich an ihm zu verzeihen. Er sprach immerzu von ihren Augen, sie verfolgten ihn bis in seine Träume.“ Seine Maske der Gleichgültigkeit bekam die ersten Risse. „Er hat sie mir genommen und damit alles zerstört, was mir wichtig war! Er hat sich genommen, was ihm nicht gehörte! Erst ihre Unschuld und dann ihr Leben! Und Eure Familie hat es gewusst! Aber sie haben nichts unternommen. Sie haben die ganze Sache vertuscht und damit meinen Zorn auf sich gezogen. Ich habe Rache geschworen und die werde ich auch bekommen!“
„Sie wollen mich also töten, weil irgendein Verrückter zu einer Zeit, wo ich noch nicht mal auf der Welt war, ihre Tochter umgebracht hat?“
„Oh nein.“ Er schüttelte den Kopf. „So einfach ist das nicht. Ihr müsst verstehen, damals war eine sehr unruhige Zeit. Eure Mutter war kurz zuvor mit ihrem Menschen verschwunden, darum konnten sie Prinz Christopher nicht bestrafen. Sie haben die Geschichte vertuscht, weil sie sich keinen weiteren Skandal erlauben konnten. Der Verlust eines weiteren Alphas, hätte im Rudel nur für einen Aufruhr gesorgt.“ Er grollte leise. „Aber ich konnte ihn bestrafen.“
„Sie haben ihn getötet.“
Obwohl das keine Frage war, nickte er. „Und ich habe es genossen.“ Er lächelte. „Ich lud ihm zu einem Jagdausflug ein. Er kehrte nicht mehr von ihm zurück.“
Ich erinnerte mich, das hatte Kaidan mir mal erzählt. Damals hatte ich überlegt, ob Isaac selber seinen Bruder umgebracht hatte, um einmal den Thron besteigen zu können. Ich hatte mich geirrt.
„Es war tragisch. Alle glaubten, er wäre von einer verirrten Kugel getroffen worden. Der damalige König starb durch die Trauer um diesen Verlust und so kam König Isaac an die Macht.“ Er sog wieder an seine Zigarre und entließ dann den Rauch in einer grauen Wolke. „Leider währte dieses Hochgefühl nicht sehr lange an. Ja, Prinz Christopher war tot, doch der Rest der Familie lebte noch. Aber auch sie hatten Schuld. Sie haben diese unmenschliche Tat vertuscht und deswegen mussten auch sie bestraft werden.“
Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Isaac seinen Bruder umgebracht hätte.
„Doch an den Rest der Alphas heran zu kommen, erwies sich als schwerer, als ich angenommen hatte. Nicht nur wegen dem verstorbenen Prinzen und dem darauffolgendem Tod von König Malik, es war fast ein Jahr vergangen und plötzlich offenbarte sich dem neuen König ein wirklich ernstzunehmendes Problem. Man hatte Eure Mutter gefunden und sie hatte ein Kind von einem Menschen.“ Seine Lippen verzogen sich listig. „Ich weiß gar nicht mehr, warum ich an diesem Tag dort gewesen war, doch ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie ich an dem Büro Eures Großvaters vorbei ging und ihn von Eurer Mutter und Euch sprechen hörte und plötzlich wusste ich sehr genau, wie ich diese Familie zugrunde richten würde.“
Er lehnte sich ein wenig vor und stützte die Arme auf die Beine. „Ich trat vor Euren Großvater und stellte ihn vor die Wahl. Entweder mein Sohn würde der Auserwählte sein, der Euch einmal ehelichen durfte, oder das Rudel würde nicht nur von Euch, sondern auch von den Taten von Prinz Christopher erfahren.“
„Sie haben ihn erpresst.“
„Ich habe die Dinge in die Wege geleitet“, erwiderte er schlicht. „Das Problem war nur, ich hatte keinen Sohn, darum gab mir König Isaac ein Jahr, diesen Zustand zu ändern.“
Was?!
„An Frauen hat es mir nie gemangelt, nicht mal als ich noch mit Natasha zusammen war. Aber ich brauchte keine Frau, ich brauchte einen Sohn. Das war zum Glück ein leicht zu überwindendes Hindernis.“ Er nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarre und aschte dann einfach auf den Boden. „Ihr müsst wissen, schon damals bereiteten die Skhän dem Rudel große Schwierigkeiten. Ich hatte mich nie wirklich dafür interessiert, aber nun waren sie genau das was ich brauchte. Ich ging zu einem Händler und kaufte mir fünf Frauen.“ Er lächelte. „Das war sozusagen mein Einstig in dieses Gewerbe.“
Wie krank war das denn?
„Ich brauchte nur ein paar Wochen, um sie all zu schwängern. Die erste Frau gebar mir ein Mädchen. Ich verkaufte sie zusammen mit dem Baby. Aber dann kam Nikolaj und meine Pläne begannen Früchte zu tragen. Jetzt musste ich nur noch darauf waren, dass der Wolf in Euch erwachte.“
Er war verrückt. Der Tod seiner Tochter hatte ihn verrückt werden lassen. Das war doch absolut nicht mehr menschlich.
„Aber das tat er nicht.“ Er ließ es wie einen Vorwurf klingen. „Die Jahre vergingen und egal wie oft ich mich nach Euch erkundigte, Ihr ward nie mehr als ein unbedeutender Mensch. Aber in gewisser Weise war das auch mein Glück, denn nur so fand ich Vivien. Überrascht?“
„Verwirrt trifft es wohl eher.“ Nicht nur wegen der ganzen Informationen. Was hatte ich den bitte mit Vivien zu tun gehabt, bevor die Brüder in mein Leben geplatzt waren? Aber wo wir schob mal beim Thema waren: „Wo ist Vivien?“
„Oh, sorgt Euch nicht.“ Er winkte ab, als sei es völlig unbedeutend. „Sie ist sicher untergebracht und wartet auf meine Rückkehr.“
Na das bezweifelte ich aber.
„Wie dem auch sei. Es ist nun ungefähr zehn Jahre her. Ich weiß noch, es war ein herrlicher Sommertag. Ich war als Gast zum Geburtstag von Prinzessin Blair geladen und da entdeckte ich sie. Sie stand ein wenig Abseits und schien auf jemanden zu warten und als ich mich ihr nähren wollte, erfuhr ich auch auf wen. Es war dieser Umbra.“
Sprach er von Roger? Moment, zehn Jahre? Das war drei Jahre vor ihrer Entführung.
„In dem Moment nahm ich es sportlich, doch eine Zeitlang tauchte sie immer mal wieder am Hof auf und ich muss gestehen, ich habe in dieser Zeit eine gewisse Schwäche für sie entwickelt. Als sie dann nicht mehr am Hof erschien, weil dieser Umbra seinen Dienst quittiert hatte, dachte ich, ich könnte sie nun vergessen, aber leider spukte sie weiter in meinem Kopf herum. Darum machte ich mich irgendwann auf die Suche nach ihr. Sie lebte in einem kleinen Dorf namens Arkan, aber das wisst Ihr ja bereits.“
Oh mein Gott. „Sie waren es“, flüsterte ich im Moment der Erkenntnis. „Sie haben die Überfall auf Arkan in Auftrag gegeben, um an Vivien heranzukommen.“
„Wie schlau Ihr doch seid.“ Er setzte die Zigarre an die Lippen, nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch dann genüsslich in meiner Richtung. „Nur Vivien zu entführen, wäre zu auffällig gewesen, darum habe ich es den Fängern überlassen, sie zu holen. So bekam ich nicht nur Vivien, durch den Verkauf der anderen Mädchen, verdiente ich auch noch etwas Geld und niemand brachte den Vorfall mit mir in Verbindung.“
„Sie sind krank“, spie ich ihm entgegen, bevor ich darüber nachdenken konnte.
Seine Augen verengten sich ein wenig. „Ihr solltet mehr Acht auf das geben, was Ihr sagt. Ihr befindet Euch noch immer in meiner Gewalt.“
Als wenn er mich noch darauf hinweisen müsste. Die Kabelbinder an meinen Händen waren so eng, dass sie mir schon die ganze Zeit das Blut abschnürten.
„Wie dem auch sei. Vivien war nun …“
Ein plötzliches Klopfen an der Tür, ließ Jegor nicht nur verstummen, es jagte mein Adrenalinspiegel in Sekunden so hoch, dass mir ganz trieselig im Kopf wurde. Doch bevor ich die Gelegenheit bekam einen Mucks von mir zu geben, klatschte mir der Kleiderschrank neben mir seine Hand auf den Mund.
Es klopfte ein weiteres Mal.
Alle Männer schauten zu Jegor, doch der schien offensichtlich nicht mit einer Störung gerechnet zu haben. Einen Moment war er unschlüssig. Dann wandte er sich mit einem Flüstern an mich. „Fragt wer da ist. Und keine Mätzchen, sonst wir der, der da draußen ist, als nächstes sterben.“
Scheiße!
Als es zum dritten Mal klopfte, nahm der Kleiderschrank seine Hand von meinem Mund.
„Wer ist da?“, fragte ich widerwillig.
„Ich bin es, Collette.“
Was? Davon abgesehen, dass Collette gar nicht hier war, erkannte ich diese Stimme. Das war nicht Collette, das war Ginny. Mit einem Mal begann mein Herz ein wenig schneller zu schlagen. Hatte Sydney Hilfe geholt?
„Wer ist Collette?“, fragte Jegor mich leise.
Kurz dachte ich über eine Lüge nach, aber warum eigentlich? „Collette ist meine Kammerzofe.“
Jegor gab seinen Männern ein Zeichen, woraufhin sich zwei von ihnen in Bewegung setzten. Einer positionierte sich neben der Tür, während der andere dahinter trat und sie auf Jegors Zeichen hin aufzog.
Draußen stand wirklich Ginny. Klitschnass und in einer Zimmermädchenuniform.
„Königin Cayenne?“ Als Ginny einen Schritt in den Raum machte, wollte ich ihr zurufen, dass sie die Beine in die Hand nehmen und verschwinden sollte, doch da hatte ich schon wieder eine Hand auf den Mund. „Wo seid …“ Sie verstummte, als sie mich sah.
In diesem Moment packte der zweite Mann sie am Arm und riss sie in den Raum hinein.
Ginny stolperte nach vorne, trat auf den Saum ihres Kleides und fiel mit einem Laut des Schmerzes auf die Knie.
Der erste Mann schlug die Tür wieder zu und richtete seine Waffe auf meine Umbra.
Ginny starrte einen Moment in den Lauf, dann schaute sie sich panisch um und begann zu wimmern. „Bitte, tun sie mir nicht.“ Sie hob schützend die Hände vor ihr Gesicht. „Bitte.“
Ich runzelte die Stirn. Nicht nur wegen ihres unterwürfigen Verhaltens, auch wegen dem Kleid. Mit ihrem offenen Haar, wirkte sie wie ein halbes Kind.
„Das ist Eure Kammerzofe?“, fragte Jegor.
Mist. Ich nuschelte etwas hinter der Hand.
Genervt schaute Jegor zu seinem Mann. „Lass sie los.“
Sobald die Hand weg war, wiederholte ich meine Worte: „Sie ist älter, als sie aussieht.“ Und sie war wahrscheinlich der gefährlichste Lykaner in diesem Raum.
Jegor wandte sich direkt an sie. „Was willst du um diese Zeit hier?“
„Ich sehe jeden Tag um diese Zeit nach der Königin, falls sie noch etwas braucht.“
Er musterte sie kritisch. „Wer weiß, dass du hier bist?“
„Niemand. Die Meisten sind schon zu Bett gegangen. Bitte, tun sie mir nichts, ich wollte doch nur meiner Arbeit nachkommen.“ Zum Ende hin klang ihre Stimme richtig weinerlich. Gute Schauspielerin.
Jegor seufzte genervt. „Setzt sie irgendwo in die Ecke, ich befasse mich später mir ihr.“
Der Mann mit der Waffe kam der Aufforderung sofort nach. Er packte Ginny am Arm und zerrte sie auf die Beine. Dabei geriet das Laken in der Ecke in ihren Blick. Es war nicht mehr ganz weiß. Auf der Höhe von Nikolajs Stirn, hatte es sich rot verfärbt.
Ihre Lippen wurden ein wenig schmaler, als der Kerl sie in die Ecke zerrte und sie dort auf einen Hocker drückte.
Ich versuchte ihren Blick aufzufangen. Wenn sie hier war, dann wussten doch sicher auch die anderen was los war, sie gab sich sicher nicht umsonst als meine Kammerzofe aus. Hatten sie Sydney gefunden? War Hilfe unterwegs? Warum war sie allein hier, wo waren die andern?
Nichts davon fragte ich laut und da sie den Kopf gesenkt hielt, gab es auch nichts woran ich mich orientieren konnte.
„So, nach dieser Unterbrechung, wo war ich stehen geblieben? Ach ja. Vivien wurde ein Teil meines Haushalts. Am Anfang sprach sie noch oft davon, dass ihr Verlobter sie finden würde.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem hämischen Grinsen. „Dem war natürlich nicht so, auch wenn ich gestehen muss, dass er ein oder zwei Mal nahe dran gewesen war. Aber seine Suche nach ihr brachte mich auf eine Idee. Wenn ich ihn nur dazu bekam auf die richtige Art nach ihr zu suchen, würde er mir bei meiner Rache behilflich sein können.“
Verdammt, warum schaute Ginny mich nicht an?
„Also beauftragte ich meine Leute, ihn zu finden und mir mitzuteilen, wo er sich aufhielt. Zu dieser Zeit war der gute Mann ein wenig neben sich und ging oft und gerne in Bars, um seinen Kummer zu ertränken. An einem dieser Abende stieß ich zu ihm und verwickelte ihn in ein Gespräch. Er war bereits so betrunken, dass er kaum merkte, einen Lykaner neben sich zu haben. Ich gab ihm einen aus und nachdem er mir ausführlich erzählt hatte, was ihn bedrückte, erzählte ich ihm von dem Geheimnis der verborgenen Prinzessin.“
Mir entglitt jeder Gesichtsmuskel und Ginnys Anwesenheit war mir auf einmal völlig egal. Es war bereits Jahre her, aber ich erinnerte mich noch genau, wie Raphael und Future mich am Flughafen entführt hatten. Und ich wusste auch noch, wie Raphael mir von einem betrunkenen Kerl in einer Kneipe erzählt hatte, der sie erst auf die Idee gebracht hatte, nach mir zu suchen.
Das war Jegor gewesen. Er hatte dafür gesorgt, dass ich aus meiner heilen Welt gerissen wurde.
Ich hatte geglaubt, dass er mein Leben erst zur Hölle gemacht hatte, als er mich zwang Nikolaj zu heiraten. Aber nein, er war vom ersten Tag an für all das verantwortlich.
„Es war nicht schwer gewesen, ihn davon zu überzeugen, sich auf die Suche nach Euch zu begeben. Ein kleiner Schubs, ein unauffälliger Hinweis und schon war er Feuer und Flamme für den Plan, den er glaubte selbst gefasst zu haben.“
Ich würde Roger verbieten, jemals wieder einen Tropfen Alkohol anzufassen.
„Zu meiner Zufriedenheit begann mein Plan schon nach wenigen Wochen Früchte zu tragen. Ich weiß nicht genau, wie er es angestellt hat, aber der schlafende Wolf wurde geweckt und als Ihr dann in den Hof kamt und so widerwillig wart, war es ein leichtes für mich König Isaac einzuflüstern, die Verbindung mit meinem Sohn schon frühzeitig einzugehen. Ich sagte ihm, dass sich Euer Verhalten mit einem Gefährten an der Seite bessern würde, da Ihr dann endlich verstehen würdet, wo Euer Platz war.“
Was, auch dafür war er verantwortlich? Gab es überhaupt einen Abschnitt in meinem Leben, in dem er nicht seine Finger drin hatte?
„Natürlich hättet Ihr Euch das ersparen können, wenn Ihr auf Eurem Ball nur freundlicher zu mir gewesen wärt. Ihr hättet nur mit Nikolaj tanzen müssen und alles wäre anders gelaufen. Leider war es meinem Sohn nicht gestattet, sich Euch aus eigenem Antrieb zu nähern und dann kam auch noch Prinz Kai und holte mich von Euch weg. Doch kurz darauf die Verbindung zu meinem Sohn in Aussicht gestellt zu bekommen, war ein ausreichender Ersatz.“
Ich konnte mir ein hämisches Lächeln einfach nicht verkneifen. „Nur bin ich dann verschwunden und lange Zeit konnte mich niemand finden.“
„Ja.“ Er klopfte seine Zigarre ab. „Das war nicht sehr höflich von Euch gewesen.“
„Die Höflichkeiten sind mir bei all den Erniedrigungen leider ausgegangen.“
Er ignorierte diesen Einwurf einfach. „Nach Jahren der Suche war mir das Schicksal dann aber wieder hold. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie überrascht und auch erfreut ich war, als ich Euch im Lager der Skhän entdeckte, besonders da es nur ein Zufall war, dass ich mich an diesem Abend dort aufgehalten hatte.“
Was für ein Glück für mich.
„Von da an verlief endlich alles wie am Schnürchen. Indem Ihr Vivien und Anouk beschützen wolltet, konnte ich alles von Euch verlangen was ich wollte, Ihr hättet es mit Freuden getan. Ihr seid mit Nikolaj an den Hof zurückgekehrt und als die bevorstehende Vermählung unter Dach und Fach war, musste ich mir nur noch die Königsfamilie vom Hals schaffen. Zu meinem Bedauern haben ein Paar von ihnen Überlebt, aber niemand der mir wirklich gefährlich werden konnte. Nun wart Ihr endlich so weit an der Seite meines Sohnes den Thron zu besteigen, wenn auch nur mit ein wenig Überredungskunst.“
Plötzlich standen mir die Gesichter von Kaidan und Blair vor den Augen. Er hatte ihr Leben nur beendet, um meines zu ruinieren. „Sie sind ein Monster! Sie haben unschuldige getötet, weil …“
„Keiner von ihnen war unschuldig!“, fauchte er mich an. „Sie alle wussten was geschehen war!“
„Elias war gerade mal zwei Jahre!“, fauchte ich zurück.
Markis Jegor blinzelte, ein Mal, zwei Mal. Es war als wurde ihm erst in diesem Moment bewusst, dass er auch Kinder auf dem Gewissen hatte. „Kollateralschaden“, sagte er dann und drückte seine Zigarre auf dem Sofakissen aus.
Bei so viel Kaltschnäuzigkeit wusste ich wirklich nicht mehr, was ich sagen sollte. Ja, ihm war ein nicht wiedergutzumachendes Unrecht widerfahren, aber das gab ihm nicht lange nicht das Recht, Unschuldige dafür büßen zu lassen.
„Mittlerweile ist es sowieso uninteressant. Ich hatte Euch endlich dort, wo ich Euch haben wollte und seit Aric geboren wurde, bin ich nur noch einen Schritt von meinem Ziel entfernt.“
Als er den Namen meines Sohnes in den Mund nahm, wurde mir eiskalt. Dieser Mann war für die schlimmsten Zeiten meines Lebens verantwortlich. Ich würde ihn in der Luft zerreißen, sollte er meinem Jungen jemals zu nahe kommen.
Jogor griff in seine Jackentasche. Ich befürchtete schon, dass er seine Waffe ziehen würde, doch stattdessen zog er einen Briefumschlag hervor. „Eigentlich hatte ich ja vorgehabt damit noch ein paar Jahre zu warten, einfach weil ich mit Windelkindern nichts anfangen kann, aber da Ihr Euer Schweigen ja brechen musstet, habt Ihr mich gezwungen, meine Pläne vorzuverlegen.“
Jetzt kam es, jetzt würde er mir verraten, warum er mich hier reingeschleift hatte, anstatt mich einfach draußen wie Sydney zu erschießen.
Oh Gott Sydney, hoffentlich ging es ihm gut. Jegors Lakai war bisher jedenfalls noch nicht wieder aufgetaucht. Das war doch ein gutes Zeichen. Oder?
„Wollt Ihr gar nicht wissen, was das ist?“, fragte Jegor lauernd und hielt den Umschlag ein wenig höher.
Wenn er mich schon so fragte: Nein. Da ihm meine Antwort nicht gefallen würde, zog ich es vor den Mund zu halten.
„Nun gut, wie Ihr wollt.“ Er zog zwei Bögen Papier aus dem Umschlag und kam mit ihnen zu mir geschlendert. „Das“, sagte er. „Ist die Zukunft.“
Nein, das wollte mir gar nicht gefallen.
„Ich möchte, dass Ihr ein neues Gesetz erlasst“, erklärte er und hielt mir einen der Zettel vor die Nase. Verdammt, da war mein Siegel drauf! Wie kam er daran? „Ich schätze, es wird auch beim Rat rege Zustimmung finden.“
„Der Rat mag keine neuen Gesetze.“
„Oh Glaubt mir, dieses hier wird er lieben.“ Er drehte den Bogen herum, sodass er selber ein Blick darauf werfen konnte. „Nach diesem Gesetz, werden in Zukunft auch minderjährige Alphas befähigt sein, das Rudel anzuführen, solange es einen geeigneten Vormund in der Familie gibt. Nehmen wir zum Beispiel Euch. Euer Gefährte ist tot und Ihr werdet es auch bald sein. Der nächste Verwandte von Aric wäre somit ich. Dieses Gesetz würde mir erlauben, das Rudel anzuführen, bis Aric einundzwanzig ist.“
Das konnte doch nicht sein Ernst sein. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was ihm solch ein Fall für Möglichkeiten eröffnen könnte. „Sie vergessen, dass Aric noch mehr Verwandte hat, die nicht nur geeigneter wären, sondern ihn auch kennen und lieben.“
„Oh, das habe ich sehr wohl bedacht. Deswegen habe ich auch ein zweites Schriftstück aufgesetzt, in dem Ihr mir die Vormundschaft für Aric überschreibt.“ Er lächelte mich an. „Das einzige was jetzt noch fehlt, ist Eure Unterschrift.“
Verrückt, dieser Mann war eindeutig verrückt. „Sie sind ein gesuchter Verbrecher“, erklärte ich ihm. „Das ganze Rudel weiß inzwischen, dass sie nicht nur ein Sklavenhändler und Entführer sind, sondern auch ein Königsmörder. Sie wissen dass sie ich mich erpresst und Nikolaj misshandelt haben. Und jetzt haben sie ein weiteres Mal ihren König ermordet. Niemand wird sie auch nur in die Nähe meines Sohnes lassen.“
Zu meinem Erstaunen lächelte er. „Das glaubt auch nur Ihr. Ihr müsst Euren Verdacht einfach widerrufen, jeder im Rudel weiß, dass Ihr verrückt seid.“
Dann wollten wir ihm mal den Wind aus den Segeln nehmen. „Wie mir scheint, haben sie an alles gedacht. Ihr Plan wird trotzdem nicht funktionieren.“
„Ach nein und warum nicht?“, fragte er nur mäßig interessiert.
Davon abgesehen, dass die meisten Leute Grips besaßen? „Weil Nikolai nicht der Vater von Aric ist und der richtige Vater es niemals zulassen wird, dass sie meinen Sohn in die Finger bekommen. Es ist aus, Markis Jegor, sie haben verloren und es gibt nichts mehr, was sie noch tun können.“
Einen Moment geschah gar nichts. Dann verzerrte sich sein Gesicht vor unbändiger Wut. Der Schlag kam nicht unerwartet, aber er ließ mich wünschen, ein wenig Zurückhaltung geübt zu haben. Als er dann auch noch die Hände um meinen Hals legte und zudrückte, feuerte ich instinktiv mein Odeur ab.
„Jetzt!“, schrie Ginny und irgendwo hinter mir krachte es.
Die Männer um uns herum kamen in Bewegung. Zwei stürzten Richtung Ginny. Ein Fenster explodierte im Scherbenregen, von draußen krachte etwas gegen die Tür.
Mir wurde die Luft knapp. Ich konnte mich nicht wehren. Meine Arme waren auf die Stuhllehen festgebunden. Nicht mal nach ihm treten konnte ich, weil er falsch stand und so blieb mir gar nichts anderes übrig, als mich darauf vorzubereiten, dass jetzt alles zu Ende war. Wenigstens war Aric in Sicherheit.
Meine Lungen schienen zu platzen, mein Hirn war wie Watte. Irgendwo in der Ferne hörte ich jemanden rufen. Vor meinen Augen tanzten schwarze Flecken …
Plötzlich wurde Jegor von mir weggerissen und ich bekam wieder Luft. Ich begann hektisch zu atmen und so viel wie möglich davon in meine Lungen zu pumpen.
„Geht es dir gut?“
Raphael. Er griff besorgt nach meinem Gesicht und plötzlich wurde mir klar, was der Lärm um mich herum zu bedeuten hatte. Hilfe war da. Vor Erleichterung hätte ich beinahe angefangen zu heulen.
„Bambi, bist du bei mir?“
„Ja.“ Ich nickte und konnte dabei zuschauen, wie Diego den Grauhaarigen niederrang.
„Okay.“ Er griff hektisch in seine Jackentasche und zog ein Messer heraus, während ich irgendwo hinter mir Victoria rufen hörte. „Ich bring dich hier raus, keine Angst, alles wird wieder gut.“ Er setzte das Messer an und zerschnitt den rechten Kabelbinder.
„Sydney“, sagte ich panisch und griff nach seinem Arm, als er auch den zweiten Kabelbinder durchschneiden wollte. Meine Stimme war rau und mein Hals tat furchtbar weh. „Sie haben auf ihn geschossen.“
Raphaels Lippen wurden eine Spur schmaler. „Keine Sorge, der Köter lebt noch.“
Das zu hören erleichterte mich so sehr, dass ich ihn nicht mal für die Beleidigung anpflaumte. „Wo ist er? Da war noch ein Mann, der hat nach ihm gesucht.“
„Wir haben den Kerl bereits ausgeschaltet.“
Hinter mir krachte es. Ich hörte Ginny schimpfen und knurren. Irgendwo jaulte jemand auf.
Raphael setzte das Messer an den zweiten Kabelbinder an.
„Und Sydney?“
„Verdammt, kannst du es nicht gut sein lassen?!“, fauchte er mich an und zerschnitt meine Fessel. „Die blöde Töte hat nur einen Streifschuss abbekommen!“
„Nur?“ Ich schaute ihn verständnislos an. „Er hätte sterben können.“
„Hätte er es mal getan!“
Das machte mich für einen Moment sprachlos. „Das ist nicht dein Ernst.“
Als er nicht antwortete, wusste ich ich nicht, was ich denken sollte. Nachdem was geschehen war … okay, ich verstand, dass er nicht gut auf Sydney oder mich zu sprechen war, aber das ging zu weit. Klar, auch Sydney hatte schon mehr als einmal erklärt, dass er Raphael gerne in der Luft zerreißen würde, aber ich wusste, dass es niemals dazu kommen würde, weil ihm klar war, dass er mich damit zutiefst verletzen würde.
Als Raphael sein Messer zurück in die Jackentasche steckte, griff ich erneut nach seinem Arm. „Sag mir, dass das nicht dein Ernst war.“
„Ist die eigentlich klar, in welcher Situation wir uns gerade befinden? Ich sitze hier und rette deinen Arsch und das Erste was du fragst ist, wie es dem verdammten Freddy Krüger geht!“
„Ja, weil er …“
Irgendwo im Raum wurde eine Kugel abgefeuert. Noch in der gleichen Sekunde rammte mich etwas in die Seite und riss mich samt Stuhl zu Boden. Raphael landete direkt neben mir.
Ich wandte mich herum, um meinen Angreifer eine zu verpassen, bemerkte aber noch rechtzeitig, dass es sich um Miguel handelte.
„Kopf runter“, fauchte er mich an, als ein weiterer Schuss durch den Raum peitschte.
Ich knurrte. „Er wurde angeschossen, also werde ich doch wohl noch fragen dürfen!“
Miguel warf einen Blick über die Schulter. „Los, hinter die Couch.“
Raphael versetzte dem Stuhl im Liegen einen Tritt und beförderte ihn damit zu Nikolajs Zimmer, in dem ein paar schießwütige Abstare Deckung gesucht hatten.
Ich sprang in die Hocke und huschte hinter die Couch, wo bereits Murphy und Lucy saßen. Miguel und Raphael waren direkt hinter mir.
„Du hast nicht gefragt, weil er angeschossen wurde, sondern weil du mit ihm herumvögelst!“, nahm Raphael das Gespräch wieder auf, sobald wie halbwegs in Deckung waren.
„Nein, ich habe gefragt, weil ich ihn liebe, du Riesenarschloch!“
Plötzlich sah Raphael aus, als wenn ich ihn geschlagen hätte. Seine Lippen öffnete sich ein wenig, bevor er sie fest aufeinander drückte. Die Farbe in seinen Augen verdunkelte sich. Da war Wut, aber vor allen Dingen Kummer. Damit hatte ich ihn verletzt.
Scheiße. „Ryder, ich …“
Direkt hinter uns knallte eine Kugel in die Wand. Putz spritzte und rieselte auf uns nieder.
„Keine Ahnung, was ihr für ein Problem habt“, mischte Miguel sich ein und zog seine Waffe. „Aber meint ihr nicht, dass es bessere Zeitpunkte gibt, das zu klären?“ Er spähte über die Sofalehne, zog den Kopf aber sofort wieder zurück. Noch in der gleichen Sekunde hörte ich den nächsten Schuss.
„Es gibt nichts zu klären“, knurrte Raphael und zog seine eigene Waffe. Er warf mir einen giftigen Blick zu. „Es wurde alles gesagt.“
Die Endgültigkeit dieser Worte, versetzte mir einen Stich, aber gleichzeitig empfand ich auch eine gewisse Erleichterung, die mich ein wenig verstörte. Er hatte es gerade beendet. Was auch immer es war, was zwischen und herrschte, Raphael hatte gerade den Schlussstrich gezogen und ich fühlte mich … erleichtert.
Lucy überprüfte das Magazin in ihrer Waffe. „Also wenn denen nicht bald die Kugeln ausgehen, sitzen wir morgen noch hier.“
„Wir müssen irgendwie an sie herankommen.“ Murphy spähte rüber zur Tür und sofort erklang der nächste Schuss.
„Ich bin für alle Ideen offen.“ Lucy steckte das Magazin wieder zurück und schaute von einem zum anderen. „Also, irgendwelche Vorschläge?“
„Ich mach das.“ Und bevor noch jemand reagieren konnte, sprang Raphael einfach aus der Deckung.
„Nein!“ Ich wollte sofort hinterher, aber Murphy packte mich am Arm und riss mich zurück.
„Bist du verrückt?!“, fauchte er mich an.
Was das eine rhetorische Frage? „Lass mich los, verdammt noch mal!“
In schneller Folge wurden drei Kugeln abgefeuert. Und dann hörte ich das Geräusch, dass ich wohl am meisten gefürchtet hatte: Raphaels Aufschrei.
Oh mein Gott. Ich stieß Murphy weg und kam aus der Deckung. Im gleichen Moment hörte ich, wie in Nikolajs Zimmer mindestens zwei Fensterscheiben zerbrachen. Raphael hockte mit schmerzverzerrtem Gesicht direkt vor der Tür und hielt sich die Schulter, aber es flogen keine Kugeln mehr durch die Gegend. Stattdessen hörte ich aus dem Nebenraum Kampfgeräusche.
„Die anderen müssen durch die Fenster eingedrungen sein“, rief Lucy und schwang sich über die Couch. Themis und Wächter, die hinter Schränken und anderen Möbelstücken Deckung gesucht hatten, setzten sich in Bewegung. Ginny eilte zu Sergio, der mit einer blutenden Wunde an der Wand lehnte.
Während die anderen alle ins Nebenzimmer rannten, hechtete ich an Raphaels Seite. „Bist du bescheuert?!“, fauchte ich ihn an und griff nach seiner Schulter. Seine Hand war schon ganz blutig. „Wolltest du dich umbringen?“
„Was interessiert es dich?“, fragte er und biss die Zähne zusammen. „Du hast ja jetzt deine räudige Töle, also brauchst du mich nicht mehr.“
Das war … ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. „Und deswegen glaubst du, dass du mir nicht mehr wichtig wärst?“
Als er den Blick hob und mich anschaute, sprühten seine Augen vor Zorn. „Ich bin dir wichtig?“
„Was ist das denn für eine dumme Frage? Natürlich bist du das!“
„Wichtiger als er?“
Ich wollte ja sagen, damit er sowas Dummes nie wieder tat, aber ich schaffte es nicht mal den Mund zu öffnen.
„Dein Schweigen ist wohl Antwort genug.“ Er schnaubte, als könnte er es selber nicht fassen. „Ich bin so ein Idiot.“
„Nein, du …“
„Hör auf damit!“, fauchte er mich an. „Gib es doch einfach zu, du willst ihn, nicht mich!“
Er hatte Recht. Ich wollte ihn nicht verlieren, aber ein Leben ohne Sydney wäre für mich undenkbar. „Es tut mir leid.“
„Drauf geschissen.“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht erhob er sich.
Erst da fiel mir auf, dass es verhältnismäßig ruhig geworden war. Unentschlossen sah ich zwischen ihm und Nikolajs Zimmer hin und her. „Verdammt“, fluchte ich dann und wandte mich von ihm ab. Es tat mir im Herzen weh und ich musste das Brennen in meinen Augen unterdrücken, aber jetzt war keine Zeit zum Trauern. Ich musste herausfinde, was hier los war. Und ich musste Jegor zur Stecke bringen.
Doch als ich in den Nebenraum trat, musste ich feststellen, dass es dort keinen Markis gab. Da waren Themis und Wächter. Drei der Abstare wurden gerade festgenommen und ein paar Leute wurden Versorgt, aber der Mann, der für all das verantwortlich war, befand sich nicht im Raum. „Wo ist Jegor?“
Alle schauten auf und sahen sich um, aber keiner Antwortete.
„Sagt mir nicht, er ist entkommen.“
„Er ist während der Schießerei durchs Fenster abgehauen“, sagte Diego und sicherte seine Waffe.
Nein, das konnte nicht sein. „Ist ihm jemand gefolgt?“ Sagt ja. Bitte, sagt ja.
„Er kann noch nicht weit sein“, erklärte Miguel stattdessen.
Mein Odeur explodierte um mich herum. Dieser Mann, der mich zu einem Bauern auf seinem Schachbrett gemacht und so viele Leben zerstört hatte, war entkommen?! „Sucht ihn!“, befahl ich mit meiner ganzen Alphaautorität. Ein paar der umstehenden Leute wurden durch die Wucht meiner Stimme in ihre anderen Gestalt gezwungen. „Ich will, dass ihr ihn finden. Sofort!“
°°°
„Blut“, erklärte Diego und hob die Nase. Die Wolken am Himmel waren so dicht, dass die Nacht noch viel dunkler erschien und der Regen machte es schwer, Jegors Fährte zu folgen.
Ich überprüfte die Spur. Es war nicht die erste, die wir gefunden hatten. Jegor musste sich während des Kampfes verletzt haben.
„Wir müssten ihn fast eingeholt haben“, sagte Murphy und schaute sich aufmerksam um.
Ich knurrte unwillig. „Weiter.“
Auf diesen Befehl hin setzten sich an die fünfzig Wölfe wie ein einziges Wesen in Bewegung. Es wurde nicht gebellt, oder geknurrt, unsere einzigen Geräusche waren die Schritte im Unterholz.
Über uns stieß ein Vogel einen Warnruf aus. Die Tiere des Waldes suchten eilig Deckung in ihren Verstecken. Keiner von ihnen wollte die nächste Mahlzeit auf der Speisekarte der Wölfe sein. Aber ich war nicht hungrig, jedenfalls nicht nach einer Mahlzeit. Mein Anliegen war viel menschlicher: Vergeltung.
Der Regen hatte nachgelassen, doch noch immer rieselten feine Fäden vom Himmel und machten es mir schwer, die Witterung von Jegor zu behalten. Aber ich würde ihn nicht entkommen lassen. Dieses Mal war Jegor fällig.
Ich zog das Tempo noch einmal an und hetzte in langen Sätzen durch den Wald. Meine Wut und das Jagdfieber stachelten auch die anderen an. Äste knackten, Blätter raschelten. Ein aufgeschreckter Hase rannte in seiner Panik mitten zwischen die Wölfe, bevor er sich unter einem Busch in Sicherheit bringen konnte.
„Da!“, rief Tristan plötzlich.
Ich verlangsamte mein Tempo, bis ich stehen blieb und folgte seiner Blickrichtung. Alle Wölfe um mich herum taten es mir gleich.
Um zu erkennen, was Tristan entdeckt hatte, musste ich die Augen ein wenig zusammen kneifen, aber dann sah ich ihn. Auf einer Anhöhe verschwand gerade ein fuchsfarbener Wolf humpelnd hinter einem Baum.
Hinter mir wurde geknurrt und dann preschte Roger mit gebleckten Zähnen an mir vorbei.
„Nein, warte!“
Er hörte nicht.
„Verdammt.“ Ich warf den Kopf in den Nacken und heulte. Mein Ruf wurden von meinen Wölfen erwidert und dann rannten sie rechts und links an mir vorbei. „Setzt ihn fest!“, befahl ich und rannte selber los. „Aber tötet ihn nicht!“ Denn das wollte ich selber machen. Ich würde dafür sorgen, dass dieser Mann nie wieder jemanden ein Leid zufügte.
Schon bevor ich die Anhöhe mit den Tannen erreicht hatte, hörte ich das Jaulen und Knurren, das mehr als nur eine heftige Beißerei sein musste. Ich strenge mich noch ein bisschen an und gab alles war ich hatte. Zwar schaffte ich es so nicht als erste oben zu sein, aber ich war rechtzeitig da, um Roger daran zu hindern, Jegor umzubringen.
„Schluss damit!“, knurrte ich und entließ mein Odeur, sobald ich oben auf der Anhöhe stand.
Roger, der Jegor mit den Zähnen im Nacken gepackt hatte und ihn wie ein lebloses Kuscheltier schüttelte, knurrte unwillig.
„Sofort!“
Unter der Wucht meines Befehls duckte Roger sich. „Er hat Vivien!“
Nicht mehr lange. „Ich werde mich nicht wiederholen“, knurrte ich und machte einen drohenden Schritt auf die beiden zu.
Er wollte nicht, aber er schaffte es auch nicht meinem Blick standzuhalten. Je näher ich kam, desto tiefer duckte er sich, während Jegor in dem Versuch sich zu befreien mit seinen Pfoten den Boden aufwühlte. Letztendlich öffnete er die Schnauze und spuckte Jegor mit einem Büschel Fell aus, bevor er sich geduckt zurückzog.
Jegor wollte sofort losrennen, doch es gab keinen Fluchtweg. Er war von uns umzingelt und jeder der Wölfe war bereit zuzubeißen, sollte er ihnen zu nahe kommen. Sein Fell war völlig durchnässt. An der Schulter hatte er eine blutende Wunde und er konnte das rechte Hinterbein nicht richtig belasten. Er bleckte die Zähne. Seine Rute hatte er bis unter den Bauch geklemmt. Er hatte Angst und das zurecht, denn es war vorbei.
„Sie haben meinen Leben ruiniert“, sagte ich als ich direkt vor ihm zum Stehen kam.
Er duckte sich noch tiefer, aber nun huschte sein verängstigter Blick nicht mehr hin und her, er war allein auf mich gerichtet.
„Anstatt sich mit dem zufriedenzugeben, was Ihnen geblieben war und noch mal von vorne anzufangen, haben sie mit ihrem Hass alles zerstört. Sie haben Unschuldige getötet und versklavt. Sie haben Freuen missbraucht und damit genau das getan, wofür sie Prinz Christopher und meine ganze Familie verurteilt haben. Sie haben ein Leben auf dem Leid anderer aufgebaut und sich dabei wie ein König gefühlt. Aber sie sind kein König, sie sind ein unbedeutender Bauer, dem niemand eine Träne nachweinen wird.“
Jegor winselte verängstigt.
„Nichts von dem können sie jemals wieder gut machen, doch vielleicht stimmt eine letzte gute Tat ihren Schöpfer milde und er wird sie nicht bis in alle Ewigkeiten in den Feuern der Verdammnis brennen lassen.“ Ich senkte den Kopf, bis ich ihm direkt in die Augen sehen konnte. „Wo ist Vivien?“
Sein Blick flitzte nach links, wo Roger stand. An der Schläfe hatte er eine tiefe Wunde und sein Auge begann zuzuschwellen. Und dann fing er doch tatsächlich an zu lachen. „Ich habe es Euch doch schon gesagt: Sie ist sicher untergebracht und wartet auf meine Rückkehr.“
Ich kniff die Augen leicht zusammen. „Sie werden nicht zurückkehren.“
„Dann wird sie wohl bis ans Ende ihrer Tage auf mir warten.“
Ich bleckte die Zähne und musste mich wirklich zusammenreißen, um nicht auf diesen Mistkerl loszugehen. Wenn er glaubte, sich auf diese Art retten zu können, war er schief gewickelt.
Er nahm den Kopf ein wenig höher. „Wie lange kann man ohne Wasser überleben?“
„Wenn sie mir nicht sagen, wo Vivien ist, dann werden sie es am eigenen Leib erfahren.“
„Dann werden wir beide wenigstens wieder zusammen sein. Was meint Ihr, würde Vivien das gefallen?“
Mit einem Knurren machte Roger einen Satz nach vorne und schnappte in die Luft. Seine Muskeln waren zum zerreißen gespannt.
Auch ich war kurz davor die Geduld zu verlieren. „Wenn sie mich nicht sofort sagen …“
Hinter mir jaulte ein Wolf.
Ich schaute gerade rechtzeitig über die Schulter, um zu sehen, wie Tarajika den Kreis der Wölfe durchbracht und sich mit einem fürchterlichen Fauchen direkt auf Jegor stürzte.
„Nein!“, schrie ich schon, da schlug sie ihren auch schon mit ihren riesigen Tatzen zu Boden.
Jegor schrie auf, als sie ihm die Halbe Brust mit ihren Krallen aufriss. Er versuchte sich wegzurollen, doch da traf ihn der nächste Hieb, der ihn zu Boden schleuderte.
Tarajika setzte nach, stürzte sich auf ihn und versenkte sie ihre Zähne in seiner Kehle. Jegors Jaulen hallte über die Lichtung, aber nur bis sie ihren Kopf hochriss und ihn durch die Wucht wegschleuderte.
Die Wölfe sprangen auseinander, als Jegor auf sie zugeflogen kam. Er krachte gegen einen Baumstamm und blieb dann zwischen den Wurzeln regungslos liegen. Dort wo eigentlich seine Kehle sein sollte, war nur noch ein blutiges Loch.
Das ganze dauerte vielleicht fünf Sekunden. Fünf irreale Sekunden, in denen ich nichts anderes tun konnte, als fassungslos dabei zuzuschauen, wie Tarajika den einzigen Mann umbrachte, der wusste wo Vivien war.
Knurrend wirbelte ich zu ihr herum. „Warum hast du das getan?!“ Wie sollte ich denn jetzt Vivien finden?
Sie schaute mich nur an. Ein völlig abgemagerte Panther, mit einer blutverschmierten Schnauze. Aber ihre Augen … das kam nicht vom Regen, das war eine Träne. „Geh ins Hotel“, sagte sie, als hätte sie gehört, was ich zu ihr gesagt hatte. „Im rechten Anbau gibt es ein Lagerraum ganz am Ende von Korridor. Hinter dem dritten Regal von links, ist eine geheime Tür. Dort ist Vivien.“
Was? Woher wusste sie das?
Sie wich einen Schritt vor mir zurück. „Er wird niemals wieder jemanden in einen Käfig sperren.“ Einen Moment schaute sie mich noch an. Dann fauchte sie, wirbelte herum und jagte davon, als sei der Teufel hinter ihr her.
Ein Teil der Wölfe wollte sich sofort an die Verfolgung machen.
„Nein“, sagte ich und schaute dabei zu, wie sie zwischen den Bäumen verschwand und mit der Nacht verschmolz. Dabei fiel mir zum ersten Mal auf, dass sie sich in der ganzen Zeit am Hof nicht einmal verwandelt hatte. Ich hatte sie als Panther kennengelernt und so verließ sie uns nun auch wieder. „Lasst sie gehen.“
„Aber was ist, wenn sie nicht die Wahrheit gesagt hat?“, wollte Roger wissen.
„Dann würde es auch nichts mehr bringen, sie einzufangen.“ Denn Jegor würde tot bleiben und es war fraglich, ob seine Lakaien wüssten, wo sie war.
Roger knurrte unwillig. „Ich hätte ihn töten müssen!“
Vielleicht. Aber jetzt war es zu spät. „Lass und Vivien holen.“ Denn erst wenn sie wieder dort war wo sie hingehörte, konnte dieser Alptraum endlich eine Ende haben.
°°°
„In Ordnung, ich lasse dann die beiden Punkte wie besprochen ändern. Wir sehen uns dann nächste Woche, um den Vertrag zu unterschreiben.“
„Ich werde da sein“, erklärte Gero und beendete das Telefonat.
Auch ich legte auf und stellte den Hörer zurück auf seine Station. Dabei konnte ich mir ein genervtes Seufzen nicht verkneifen. Diese Verträge mit den anderen Rudeln würden mir noch den letzten Nerv rauben und das nicht nur wegen ihrer sturen Alphas.
„Vielleicht solltet Ihr Euch mal eine Pause gönnen“, bemerkte Sydney, als er mit einem dicken Wälzer unter dem Arm aus meinem privaten Arbeitszimmer kam. Er war nicht nur ein Mann, er trug auch eine Jogginghose. Sie saß ziemlich knapp auf seinen Hüften, wodurch der Verband um seine Taille nur noch deutlicher wurde.
Raphael hatte recht gehabt, es war wirklich nur ein Streifschuss an der Hüfte gewesen. Und sobald er verheilt war, würde die Narbe unter all den anderen einfach verschwinden. Aber die Erinnerung daran, wie er gejault hatte und die Angst, die ich in diesem Moment um ihn gehabt hatte, würde ich wohl niemals vergessen können.
„Lehnt Euch zurück und entspannt Euch ein wenig.“
„Und das sagt der Kerl, der vor nicht mal einer Woche angeschossen wurde und trotzdem ständig schwere Bücher hin und her schleppt, anstatt mal auf seinem Hintern sitzen zu bleiben.“ Ich ließ den Kopf auf die Rückenlehne fallen und beobachtete halb über Kopf, wie Sydney hinter das Sofa trat und sich über mich beugte.
„Die Wunde ist kaum noch zu sehen.“
Fast weg, so so. „Das heißt, du bist wieder voll einsatzfähig?“
Das entlockte ihm ein leises Lachen. „In einem gewissen Rahmen“, räumte er ein und streifte mit seine Lippen über meine, sodass ich davon eine Gänsehaut bekam. Dann begann er mich über Kopf zu küssen.
Wow, das fühlte sich toll an.
Ich legte ihm eine Hand an die Wange, damit er mir nicht wieder so schnell entkam und vertiefte den Kuss ein wenig. Er ließ sich nur zu gerne mitreißen.
Um ein Haar hätte ich ihn verloren. Nicht wegen dem Schuss, sondern aus reiner Dummheit. Er hatte erst fast sterben müssen, damit ich kapierte, was ich wirklich wollte – nein, nicht nur wollte, was ich brauchte. Ich brauchte Sydney wie die Luft zum atmen, denn er war das fehlende Stück, das mich komplett machte.
Als würde Sydney die kleine Veränderung in mir spüren, löste er sich ein Stück von mir. Wie er es schon tausende Mal getan hatte, versuchte er in mir zu lesen. „Was bedrückt Euch?“
Er würde wohl niemals ganz normal mit mir sprechen. „Ich musst nur gerade daran denken, wie kurz davor ich gewesen war, dich zu verlieren.“ Ich strich mit dem Daumen an seinem Auge entlang. „Ich weiß gar nicht, wie ich ohne dich leben soll.“
Sein Blick wurde ein wenig weicher. „Ich war zu keiner Zeit in Lebensgefahr.“
„Und trotzdem hätte ich dich fast verloren.“ Und es wäre auch noch meine eigene Schuld gewesen.
„Nein, hättet Ihr nicht. Das hätte ich niemals zugelassen.“ Er hauchte mir noch einen Kuss auf die Lippen, umrundete dann samt seines Buches die Couch und ließ sich vorsichtig neben mich in das Polster sinken.
Fast verheilt also, aha.
„Vielleicht war Euch das nicht bewusst, aber ich habe Euch zu keiner Zeit aus den Augen gelassen. Auch wenn Ihr zu Raphael gegangen seid, so wusste ich doch, dass ich es am Ende sein würde, der Euch im Arm halten dürfte.“
Ach wirklich? „Seit wann bist du denn so selbstsicher?“
Das ließ ihn lächeln. „Menschen die zusammengehören, finden trotz aller Widrigkeiten wieder zusammen. Dabei ist es egal was zwischen ihnen passiert ist oder wie viele Fehler gemacht wurden, sie werden sich immer nahe sein. Außerdem kenne ich Euch. Ihr habt Euch in den letzten Jahren weiterentwickelt, Raphael hat das nicht. Was euch beide verbunden hat, existierte nicht mehr, aber ihr selber musstet das bemerken, um es auch zu verstehen. Vorher war es keinen von euch beiden möglich, dass was einst gewesen war, hinter euch zurück zu lassen.“
„Du meinst, dass Raphael noch in der Vergangenheit feststeckt?“
„Ich denke, dass er sich an etwas klammert, das mit den Jahren verloren ging. Er hat wohl gehofft, dass er es mit dir zusammen wiederfinden könnte. Doch jetzt wo er gescheitert ist …“ Er verstummte, ohne den Satz zu beenden.
Ja, jetzt wo er gescheitert war, war er wieder verschwunden. Noch in der gleichen Nacht hatte er das Weite gesucht.
Zuerst hatte ich geglaubt, dass wir einen Skhän übersehen hatten und der sich ihn geholt hatte, doch bevor ich alle in Panik versetzen konnte, hatte Tristan erklärt, dass Raphael nicht entführt sondern abgereist war. Ohne ein Wort. Ohne sich bei mir zu verabschieden. Direkt nachdem er sich versichert hatte, dass mit Vivien alles in Ordnung war.
Ja, wir hatten sie dort gefunden, wo wir dank Tarajika gesucht hatte. Hinter dieser versteckten Tür war ein kleines Apartment gewesen. Vivien hatte festgekettet im Schlafzimmer auf dem Bett gesessen und war in Tränen ausgebrochen, als Roger auf sie zugestürmt war.
Sie war etwas verstört und verängstigt, aber körperlich fehlte ihr nichts weiter. Was den Rest betraf … das würde wohl nur die Zeit zeigen können.
Ich fragte mich nur, woher – und vor allen Dingen – wie lange Tarajika gewusst hatte, wo wir sie finden konnten, bevor sie es uns gesagt hatte. Fragen konnte ich sie nicht, denn sie war nicht mehr aus dem Wald zurückgekehrt. Ich war mir nicht sicher, ob ich darüber glücklich oder traurig sein sollte, ich wusste nur, dieser Tag hatte viele Leben verändert. Ihres. Viviens. Meines. Und ja, auch Raphaels.
Ich hatte keine Ahnung, wo er im Moment war, oder was er gerade tat, aber Tristan hatte mir versichert, dass er es wusste. Raphael war also nicht wirklich verschwunden. Er wollte nur einfach nicht, dass ich wusste, wo er war.
Das machte mich traurig, aber ich konnte es ihm nicht verübeln. Wie Sydney schon gesagt hatte, ich war an meinem Leben gereift, jetzt war es an der Zeit, dass er es auch tat. Wenigstens wusste dieses Mal seine Familie, wo er war und konnte sich um ihn kümmern. „Ich hoffe nur, es geht ihm gut.“
„Er wird sicher ein wenig Zeit brauchen.“ Sydney griff meine Hand und drückte sie ganz leicht. „Auch er wird verstehen, dass es so das Beste für euch beide ist.“
„Das sagst du doch nur, damit du mich behalten kannst.“
„Natürlich.“ Er hob meine Hand an seine Lippen und hauchte mir einen Kuss auf die Knöcheln, der meine Haut kribbeln ließ. „Ohne dich, kann ich nicht vollkommen sein. Du bist das Stück, das mein Glück ausmacht.“
Awww! „Wenn du nicht gleich aufhörst solche Sachen zu sagen, dann werde ich dich einfach auf den Rücken werfen und so schnell nicht wieder weg lassen.“
„Das ist ausgesprochen … verlockend.“
Wollte er mich jetzt ärgern, oder legte er es wirklich darauf an? „Wolltest du nicht arbeiten?“
„Was ich hier mache, gehört nicht wirklich zu meiner Arbeit. Es ist eher ein privates Projekt.“
„Was, schreibst du jetzt einen Roman?“ Ich zog das Buch heran, mit dem er sich die letzten beiden Stunden beschäftigt hatte. Schon die erste Seite ließ mich stutzen. Da stand mein Name. „ Königin Cayenne Amarok.“ Ich zog die einzelnen Worte mit dem Finger nach.
„Ich schreibe Eure Geschichte – Eure wahre Geschichte – so wie ich es für Prinzessin Sadrija getan habe.“
Ja, Sadrija. Niemand wusste, was aus ihr geworden war. Die Skhän, die wir festgesetzt hatten, konnten uns keinen Hinweis liefern und auch bei den Dokumenten und Daten, die wir von Jegor hatten, ließ sich keine Spur finden. Es war, als hätte sie sich einfach in Luft aufgelöst. Manche glaubten, dass sie mit dem Wächter Danilo durchgebrannt sei, ich glaubte, dass Jegor sie getötet hatte. Wahrscheinlich würden wir nie erfahren was genau passiert war. Sicher war nur, dass sie verschwunden war.
„Hältst du das für eine gute Idee?“, fragte ich und schob das Buch wieder auf den Tisch.
„Es wird denen die Augen öffnen, die blind für die Wahrheit sind.“
Schade nur, dass niemals jemand ein Buch über meine wahre Lebensgeschichte lesen durfte. Jedenfalls nicht solange ich noch lebte. „Vielleicht solltest du dich besser mit Arics Lebensweg befassen. Das ist bei Weitem nicht so …“
Ein Klopfen an der Tür unterbrach mich. Kurz war ich versucht es zu ignorieren, aber es war erst kurz nach zwölf und damit befand ich mich noch in meiner Dienstzeit. Also legte ich die Papiere auf meinem Schoß zur Seite und kümmerte mich um den Störenfried.
Als ich die Tür jedoch öffnete, war ich ein kleinen wenig überrascht. „Doktor Ambrosius.“
„Eure Majestät.“ Wie es der Anstand verlange, machte er eine leichte Verbeugung vor mir. „Ich hoffe ich störe nicht, aber ich müsste dringend mit Euch sprechen.“
Oh oh, das hörte sich aber nicht sehr gut an. „Ist etwas passiert?“
„Ja, so könnte man es auch sehen. Dürfte ich einen Moment herein kommen?“
Nachdem er das gerade gesagt hatte? Am liebsten hätte ich ihm die Tür wieder vor der Nase zugeknallt. Stattdessen zog ich sie aber weiter auf und ließ ihn hinein. „Um was geht es denn?“
„Um Eure letzte Blutanalyse.“
Nun wurde auch Sydney aufmerksam. Wenn Doktor Ambrosius mit mir über meinen letzten Bluttest sprechen wollte, dann war irgendwas nicht so wie es sein sollte und das fand nicht nur ich besorgniserregend.
„Geht es um meine Medikamente?“, fragte ich und ließ mich auf die Lehne meines Sessels sinken.
„In gewisser Weise, ja.“ Er stellte seine Tasche auf meinem Tisch ab, öffnete sie und holte einen Stapel Papiere heraus. Als er dann auch noch begann darin zu lesen, wurde ich ein kleinen wenig ungeduldig.
„Müssen sie wieder umgestellt werden?“
„Ja.“ Er nickte. „Und ich werde Euch wohl auch wie beim letzten Mal zusätzlich Folsäure verschreiben.“
Er wollte … Moment. „Folsäure?“ War das sein Ernst? „Sie meinen … ich bin …“
„Ihr seid schwanger, Euer Majestät.“
Das hätte mich in diesem Moment wohl nicht unvorbereiteter treffen können. Ich war schwanger? „Wirklich?“
„Der Bluttest ist eindeutig.“
Fassungslos schaute ich zu Sydney, den diese Nachricht wohl nicht weniger überraschte als mich. „Ich bekomme ein Baby.“
„So ist es, Eure Majestät.“
Ich hörte den Doktor gar nicht. Mein Blick war allein auf Sydney gerichtet. Ich war schwanger. Ich würde ein Kind bekommen. Nein, wir würden ein Kind bekommen. Ich und Sydney.
Mit einem Jubelschrei sprang ich auf und warf mich neben Sydney auf die Couch. „Hast du das gehört?!“, fragte ich und drückte ihn überschwänglich an mich. Ich konnte es kaum glauben. „Wir bekommen ein Baby!“
„Ja“, sagte er langsam. Diese Tatsache schien irgendwie nicht richtig in seinem Kopf anzukommen. Doch dann schnappte er sich einfach mein Gesicht und küsste mich, als gäbe es keinen Morgen mehr. Erst als sich neben uns jemand dezent räusperte, fiel mir wieder ein, dass wir ja nicht allein im Raum waren.
Ich riss mich ruckartig von Sydney los und wollte zurückweichen, doch noch während der Bewegung, stoppte ich.
Es gab für uns keinen Grund mehr sich zu verstecken. Jegor war tot, Raphael war weg und Nikolaj war seinem eigenen Vater zum Opfer gefallen. Ich würde Sydney niemals offiziell zu meinem Gefährten nehmen können, einfach weil Lykaner sich in ihrem Leben nur einmal banden und Nikolaj bereits mein offizieller Partner gewesen war. Aber ich würde mich nicht länger verstecken müssen.
Darum griff ich zögernd nach Sydneys Hand. „Ist das okay für dich?“ Wenn nämlich heraus kam, dass zwischen uns mehr als nur Freundschaft war, würde das sicher einiges an Trubel mit sich bringen.
Zur Antwort hauchte er mir einen Kuss auf die Lippen. „Solange du mich willst, wird es nichts geben, was mich von dir fernhalten kann.“
Das war wieder so ein Moment, in dem ich mich einfach fragen musste, wie ich mir einen solchen Mann verdient hatte. Und wie ich dieses verdammte Lächeln wieder aus meinem Gesicht bekam. Selbst als ich den etwas irritierten Blick von meinem Doktor auffing, konnte ich nicht aufhören zu grinsen. „Da wird man schon ein wenig neidisch, oder?“, zog ich ihn auf.
Sydney gab ein leises Lachen von sich.
Doktor Ambrosius schaute jedoch nur zwischen uns hin und her. „Dieses Baby … wer ist sein Vater?“
Mein erster Impuls war es Nikolaj zu sagen, doch dann wurde mir klar, dass ich das gar nicht tun musste. Meine Fesseln waren weg und deswegen durfte der echte Erzeuger dieses Mal der Vater dieses Kindes sein. „Sydney.“
Wieder schaute Doktor Ambrosius von einem zum anderen. „Werdet Ihr das offiziell machen?“
„Ja.“ Ich legte Sydney eine Hand an die Wange und versank einen Moment in den Augen des Wolfes. „Sydney und ich bekommen ein Baby.“
Als sich plötzlich die Tür zu meiner Suite öffnete, wusste ich sofort, dass es nur Samuel sein konnte. Bis heute war kein Schloss vor ihm sicher. „Da möchte jemand zu seiner Mami“, erklärte er und trat ein Stück zur Seite, damit Aric auf seinen kleinen Beinchen hereinwatscheln konnte.
Ich ließ mich auf den Boden gleiten und nahm einen überschwänglichen, kleinen Wolf in Empfang.
Es hatte lange gedauert, viele hätten es gar nicht so weit geschafft, aber der Schrecken lag endlich hinter uns. Bis auf die Tatsache, dass ich ein Misto war, gab es keine Geheimnisse mehr. Keine Erpressung, kein Zwiespalt und auch die Attacken der Skhän waren so weit zurückgegangen, dass ich mittlerweile von einer gewissen Kontrolle sprechen konnte. Natürlich glaubte ich nicht, dass dieser Frieden ewig vorhalten würde. Früher oder später würden sie sich wieder organisieren, doch wenn es so weit war, würde ich bereit sein. Bis dahin allerdings, würde ich das tun, was Tarajika einst zu mir gesagt hatte: Ich würde leben, Tag für Tag.
°°°°°
„Pandu! Pandu, komm schnell!“
Der Ruf schreckte Pandu so sehr auf, dass er beinahe seine Angel in den Fluss hätte fallen lassen. Der Fisch, der gerade am Schwimmer gezupft hatte, war damit auch weg. Verärgert drehte er sich zu dem vierzehnjährigen Sohn seines Freundes herum. „Bijan, warum schreist du hier herum? Ich bin nicht taub.“
„Du musst kommen.“ Der dunkelhäutige Junge, wedelte sie wild mit seinen Armen. „Papa hat Dirus gefunden.“
Es dauerte einen Moment, bis die Worte wirklich bei Pandu angekommen waren und selbst dann konnte er sie nicht glauben. „Bist du sicher?“
„Ja, deswegen soll ich dich ja holen. Komm.“ Er winkte dem Anführer des Cross-River-Rudel aus Nigeria, ihm zu folgen und tauchte dann wieder in den dichten Urwald unter.
Pandu schüttelte seine Überraschung ab, ließ die Angel einfach fallen und folgte dem Jungen in das kleine Dorf der Ailuranthropen.
Ein paar Leute schauten auf, als er an ihnen vorbei rannte. Ein Leopard sprang eilig zur Seite und seine Tochter Luela rief ihm sogar etwas hinterher, doch das hier war zu wichtig, um sich davon ablenken zu lassen. Er jagte quer durch das Dorf und erreichte die Bambushütte seines Freundes Hisham, gerade als Bijan darin verschwand.
Die Hütte seines Freundes war ihm genauso vertraut, wie seine eigene und so fand er Hisham zielsicher im hinteren Teil, wo er über einem Laptop brütete.
„Komm“, rief Bijan wieder und winkte ihn herein.
Hisham schaute auf. „Das musst du dir ansehen. Ich habe es gerade gefunden.“
Stirnrunzelnd nährte Pandu sich, als Hisham den Laptop so drehte, dass er den Bildschirm sehen konnte. Es war eine Videodatei, die sein Freund mit einem Tastendruck startete.
Vier junge Menschen fuhren in einem Auto über eine Autobahn. Einer von ihnen hatte eine Kamera in der Hand und filmte die Frau auf dem Vordersitz.
„Hör endlich damit auf“, schimpfte sie und drückte die Kamera weg, wodurch das Bild sehr verwackelte.
„Oh Scheiße! Schaut euch das an, da vor dem Fenster!“
„Ach du Kacke!“, rief nun auch der Fahrer.
„Was?“ Der Kerl schwenkte die Kamera herum. Das Bild wackelte hin und her, bevor es den Blick durch das Seitenfenster preis gab. „Oh mein Gott, ist das ein Panther?“
Genau neben dem Wagen, in der kleinen Pufferzone zwischen den beiden Leitplanken, die die Fahrbahnen voneinander trennen, rannte ein schwarzer Leopard entlang. Der Wagen war langsam genug, dass der Panther ihn überholen konnte.
„Halt drauf, halt drauf!“
„Lass das Fenster runter!“
„Es klemmt!“
Wieder wackelte das Bild. Als es das nächste Mal zum Stillstand kam, war der Panther schon weiter vorne und rannte neben einem Motorrad her.
„Scheiße, ich glaub, der will den Motorradfahrer fressen!“
„Fuck! Tritt auf die Bremse!“
Hektik und Bewegung kam auf. Das Bild zuckte hin und her. Quetschende Autoreifen. Die Kamera fiel auf den Boden. Es fielen ein paar Flüche.
„Bei Euch alles okay?“
„Ja, aber wo ist die verdammte Kamera?“
„Da!“
Verwackelte Bilder, das Geräusch von sich öffnenden Wagentüren. Das Bild zeigte den Straßenbelag, bevor die Kamera wieder hochgerissen wurde und den Motorradfahrer zeigte. Und eine nackte, dunkelhäutige Frau. Sie neben dem vorderen Wagen und zog sich an ihm auf die Beine.
„Hast du das gesehen?“, rief der Kameramann aufgeregt. „Oh scheiße, hast du das gesehen?!“
Während der Motorradfahrer eilig von seiner Maschine stieg, knöpfte er sein Hemd auf, riss es sich von den Schultern und wickelte die Frau bereits darin ein, bevor sie richtig auf den Beinen stand. Als er den Helm vom Kopf zog, trat ein junger Mann mit kurzem Haar zutage. Er war nur von hinten zu sehen.
Hisham stoppte das Video und schaute zu seinem Anführer auf. „Das Video wurde vor einer halben Stunde online gestellt.“
„Wie alt ist es?“
„Wenn man den Kommentaren trauen kann, einen Tag.“
„Wo?“
„Ich weiß es nicht, nicht genau. Die Straßenschilder deuten auf eine Autobahn in Deutschland hi. Da schau.“ Er zeigte auf ein Schild, dass am Rand nur halb zu sehen war. „Es sieht aus wie ein Unfall. Ich muss noch ein bisschen recherchieren, aber ich finde heraus, wo genau das ist..“
„Bijan, holen Rahsaan.“ Er musste das sehen. Und sobald Hisham etwas genaueres wusste, würden sie sich auf den Weg machen, um Tarajika zu holen. Dann würde sie für ihr Verbrechen sterben.
°°°°°
Cover: Cover by Kathrin Franke-Mois - Epic Moon Coverdesign
Tag der Veröffentlichung: 25.12.2012
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