Cover


Unsere Geschichte startet im Cafe Susi. Dort nämlich wird unser Protagonist Beule gleich eintreffen. An Beule können Sie sich erinnern? Ein in die Jahre gekommener Kleinkrimineller. Vor kurzem hat er seine Tochter kennen gelernt, aber diese Geschichte wird an anderer Stelle erzählt. Eigentlich geht es darum, wie Beule es bewerkstelligt seinen Hodentumor zu heilen.

Beule kommt regelmäßig ins Cafe Susi, jeden Mittwoch um Viertel nach eins ist er da und bleibt den ganzen Nachmittag, um ein bisschen zu plaudern und auch die eine oder andere Kartenpartie zu spielen. Das hat sich für ihn quasi als Ritual bewährt, und die Herren, es sind fast nur Herren im Cafe Susi, haben sich an ihn gewöhnt. Ich glaube sogar, dass die meisten ihn ganz gern haben. Auf jeden Fall durch diese Regelmäßigkeit ist es der Doris heute sofort aufgefallen, dass Zwanzig nach eins Beule noch immer nicht im Lokal ist. Jetzt werden sie natürlich fragen, wer ist die Doris? Also die Doris ist die Kellnerin im Cafe Susi, zumindest am Mittwoch, Donnerstag und Freitag, weil da bleibt der Chef daheim, und die Doris ist immer sehr gewissenhaft bei der Abrechnung. Deshalb hat sie an diesen Tagen die Verantwortung.

Als Beule dann doch noch um Fünf vor Halb Zwei im Cafe Susi auftaucht, wird er von der Doris sofort in Beschlag genommen. "Ja Grüss sie Herr Mitterlehner," Doris ist die einzige im Cafe Susi, die Beule mit seinem richtigen Namen anspricht: "Sinds krank, weils heute so spät kommen?"

Sehen Sie daran erkennt man eine gute Kellnerin, die weiß sofort was los ist, denn ein normaler Beobachter hätte nicht bemerkt, dass Beule heute eine Spur langsamer gegangen ist. Der traurige Blick, den er eigentlich immer im Gesicht gehabt hat, hat heute noch ein wenig trauriger gewirkt. Natürlich denkt man, wenn man so etwas bemerkt, dass etwas Schlimmes passiert sein muß.

Beule hat sich dann auch gleich zur Frau Doris an die Bar gesetzt, weil das Kartenspielen hat ihn heute sowieso nicht interessiert. Und krank war er wirklich. Der Doktor Kurz vom AKH hat ihm vor zwei Tagen erzählt, dass die Diagnose Hodentumor sei. Natürlich hat Beule das gar nicht so gut aufgenommen, aber sie kennen das sicher, wie das bei den jungen Hupfern ist, die gerade als Assistenzarzt beginnen. Bei denen muss das Zack-Zack gehen, damit niemand zu kurz kommt. Der Doktor Kurz hat aber dann sowieso sofort begonnen weiter zu reden. Beule ist daher erst gar keine Zeit geblieben sich viele Gedanken zum Thema Tumor zu machen. Vor allem deshalb nicht, weil der Herr Doktor sofort begonnen hat zu schwafeln, dass das heute alles schon heilbar ist, er hat dann so seltsame Worte wie Cytostatika, Cisplatin und "Ja damals in den Siebzigern war das anders" gesagt, wobei sich Beule sofort gedacht hat, dass der Arzt ja in den Siebzigern bestenfalls ein Baby war, und sicher nicht weiß wie das damals war.

In den Siebzigern hat Beule auch den Grundstein für seinen Hodenkrebs geholt, und das hat jetzt nichts mit freier Liebe oder so zu tun, wie Sie jetzt möglicherweise glauben, sondern eher damit, dass er mit zwanzig Jahren vollkommen Pleite war, und an einer Studie für ein Kopfschmerzmittel mitgemacht hatte. Natürlich weiß er nicht, dass das Medikament von damals den Grundstein für seinen Tumor heute legte. Der Doktor Kurz kann das auch nicht erahnen, immerhin hat es das Medikament damals nie in den Verkauf geschafft und Medikamentkontrollen sind auch erst zu dieser Zeit so richtig wichtig geworden, davor hat man geschaut, gehts dem Patienten besser? Dann ist es gut. Gehts ihm schlechter? Wird es wohl nicht das Richtige gewesen sein.

Auf jeden Fall konnte Beule nicht all zu viel mit den Ausführungen von Doktor Kurz anfangen. Deshalb ist er, nachdem er einen weiteren Termin für irgendwelche Untersuchungen bekommen hat, nach Hause gegangen und hat sich bei Dr.Wikipedia versucht aufzuklären. Dass sich Beule mit dem Internet ausgekannt hat, war übrigens ein Erfolg seiner langen Jahre in Haft. Um sich die Zeit totzuschlagen hat er sämtliche Kurse besucht, die angeboten wurden, und EDV Kenntnisse wurden oft und gern vermittelt. Heute fragt er sich aber oft, ob er seine Fertigkeiten in der archaischen Programmiersprache Logo je sinnvoll einsetzen wird.

Jetzt erzählt Beule der Doris von allem was er in den beiden letzten Tage zu Hodentumor herausgefunden hat. Vor allem das Medikament Cisplatin hat es ihm da sehr angetan. Er fand es nämlich ausgesprochen witzig, dass Cisplatin nur zufällig entdeckt wurde, weil, und hier zitiere ich Beules Worte der Physiker Barnett Rosenberg: "schauen wollte, wie sich Bakterien in einem elektrischen Feld verhalten."

An dieser Stelle müssen wir den geraden Weg der Geschichte ein wenig verlassen. Ganz zu Beginn der Geschichte habe ich erzählt, dass Beule für die Entwicklung des Medikaments Cisplatin verantwortlich ist, aber entdeckt wurde die Wirkung, da war Beule gerade einmal zehn Jahre. Selbst bei der Zulassung als Medikament war er gerade einmal 19 Jahre alt. Das er trotzdem mitverantwortlich ist, dazu trägt vor allem der letzte Satz bei, den er im vorherigen Absatz gesagt hat.

Sie müssen nämlich wissen, das Cafe Susi ist ein okkulter Ort. Also die Doris und die Gäste von der Doris sind natürlich nicht wirklich Okkultisten, und es ist auch nicht wirklich bekannt, das an diesem Ort seltsame Dinge geschehen, denn eigentlich sind diese Dinge schon passiert. Damals in den Zwanziger Jahren lebte nämlich in dem Haus, das heute das Cafe Susi beherbergt, der Herr Otto Wondraschek.

Der Herr Wondraschek hat damals vor allem dadurch seinen Lebensunterhalt verdient, indem er Damen reiferen Alters die Zukunft voher sagte. Also damals waren das Damen reiferen Alters, heute würden wir sagen Frauen im besten Alter, aber damals gab es das beste Alter nur für Männer. Natürlich war der Herr Wondraschek ein Scharlatan wie mehrere andere Hellseher, weiße Hexen und Medien, die auf die Menschheit losgelassen werden, aber der Herr Wondraschek war auch ein belesener und praktizierender Kabbalist.

Jetzt weiß natürlich nicht jeder, was Kabbala tatsächlich bedeutet, und ich muss zugeben, auch ich habe mich nur rudimentär mit dem Thema beschäftigt, aber generell beschreibt die Kabbala die jüdische Zahlenmystik. Ursprünglich geht es darum göttliche Botschaften überhaupt oder besser zu empfangen, aber wie man sich denken kann haben diese Denker, die mit ihren Symbolen und Zahlen hantieren auch verschiedene andere Einsatzmöglichkeiten entwickelt. Jedenfalls darin kannte sich Otto Wondraschek aus.

Natürlich sollte an dieser Stelle sofort die Frage kommen, wie kommt ein "Otto Wondraschek" aus Wien Meidling zu jüdischer Zahlenmystik? Diese Frage ist einfach beantwortet. Denn besagter Wondraschek war eigentlich ein aus Böhmen emigrierter Jude namens Aaron Heym. Anstatt das Landgut des Vaters an der Lausitz zu übernehmen, beschloss er zu einem Wiener Talmud Lehrer und Kabbalisten zu fahren, damit der ihn als Lehrling aufnimmt. Die ganze Familie Heym war natürlich empört, und der Kontakt riss vollends ab, auch das Geld des Vaters war bald fort, und so musste der tiefreligiöse Aaron in Wien seinen Unterhalt verdienen.

Ein Freund riet ihm dann, dass er als Wahrsager genug verdienen könnte, um seine Studien weiter zu finanzieren, aber sie wissen ja, wie das damals so war, zu einem Juden wollten viele Leute nicht gehen und die Zukunft vorher sagen lassen noch weniger. Der Herr Heym hatte also ein Marketing Problem, so würde man das heute nennen. Da er aber sprach wie die Ziegelböhmen, die im Süden Wiens lebten, beschloss er einer von denen zu werden und beantragte die Namensänderung. Danach florierte sein Geschäft prächtig.

Das erklärt aber natürlich nicht, wie Beule für die Entwicklung von Cisplatin verantwortlich sein könnte, werden Sie jetzt verständlicherweise einwerfen. Wahrscheinlich haben Sie sogar Recht, wenn Sie mich zu mehr Handlung antreiben, aber natürlich ist der Herr Aaron Heym alias Otto Wondraschek sehr wichtig. Denn, und hier kommt seine Aufgabe, er hatte ein wichtiges Band zu seiner Zwillingsschwester. Natürlich wusste er das nicht, denn das Band war emotional oder mystisch oder so. Man konnte es also nicht sehen, und gesprochen, hat er mit seiner Schwester ja auch nicht. Erstens, weil seine Familie den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte, und zweitens weil seine Schwester in der Zwischenzeit nach Amerika ausgewandert war. Sie wusste ja nicht einmal, dass das schwarze Schaf von einem Bruder mittlerweile Wondraschek hieß. Trotzdem war da dieses Band. Das haben Sie sicher schon einmal gehört, dass Zwillinge irgendwie immer miteinander verbunden sind. So war es auch bei diesen beiden, und wenn die Luise, so hieß Wondrascheks Schwester eine Waffeltorte mit Birnen aß, hatte der Wondraschek plötzlich Lust auf Birnen.

Besonders stark war dieses Band, wenn Wondraschek in seinem kabbalistischen Atelier saß, das heute das Cafe Susi ist, und sich in seinen kabbalistischen Techniken übte. Also was weiß ich vielleicht die Zahl Pi auf die 375te Stelle berechnen oder eine 14stellige Primzahl ausdenken. Dann tauschten die beiden nicht einfach nur Gefühle aus, wie den Wunsch auf eine saftige Birne, sondern es konnten dann ganze Wörter und Gedanken auf die Reise gehen. Daran erkennt man, dass der Herr Wondraschek ein guter Kabbalist war, denn er empfing bei seinen Studien ganz schön viele Visionen und Gedanken.

Die stärkste dieser Übertragungen war aber am 25. November 1926. An diesem Tag probierte Wondraschek eine neue Formel zum Empfang von Bildern aus der Zukunft. Diese Technik funktionierte ausgezeichnet, doch ironischerweise war Wondraschek nur das Medium zum Transport dieser Bilder. Er selbst spürte nichts von seinem Erfolg, weshalb er die Technik später auch wieder verwarf. Das Bild aus der Zukunft bekam aber seine SchwesterLuise klar und deutlich zu sehen. Sie hielt auch in ihrem Tagebuch den Satz "schauen wollte, wie sich Bakterien in einem elektrischen Feld verhalten." fest.

Vielleicht fragen Sie, warum ich das Datum so genau erwähne. Immerhin haben wir anfangs erfahren, dass Cisplatin erst in den Sechziger Jahren entdeckt wurde. Der Zeitpunkt ist deshalb wichtig, da Luise während der mentalen Übertragung hochschwanger war, und einen Tag später, nämlich am 26. November, kam ihr Sohn Barnett zur Welt.

Etwa 25 Jahre nach seiner Geburt war der junge Barnett an die Michigan State University als Assistent berufen worden, und er musste für seine zukünftigen Forschungen Forschungsgelder beantragen. Waren Sie jemals im wissenschaftlichen Hamsterrad? Wenn ja werden Sie sicher wissen, dass der Jungakademiker sich von einer Förderung zur nächsten hangelt, bis er es schafft durch eine Professur finanziell abgesichert zu sein. Diese Forschungsanträge müssen eine gewisse Ernsthaftigkeit besitzen und gleichzeitig glamorös mit Erfolgen auf der internationalen Forscherszene winken. Der junge Barnett war dementsprechend gestresst, und hatte auch noch keine Erfahrung in diesem Bereich. Noch dazu hatte der junge Mann großes Leid zu tragen, denn seine Mutter war vor kurzem verstorben, und er musste das Begräbnis organisieren.

In solch einer Situation sucht man Trost und Rat. Aber was sollte er tun, war er doch der letzte Überlebende seiner Familie, und eine eigene hatte er noch nicht gegründet. Deshalb durchforstete er an einem trüben Aprilwochenende den Nachlass seiner Mutter, um durch die Erinnerungen besser mit ihr verbunden zu sein. Natürlich fand er auch vorhin erwähntes Tagebuch. Viele Einträge las er, die mit eigenen Kindheitserinnerungen zusammen passten. Oder eben auch nicht, Sie wissen ja, dass das Gehirn Vergangenes immer so abspeichert, wie man sich erinnern will. Fünfzehn Jahre später weiß das Kind nur noch, dass es vier Wochen Hausarrest hatte, während der Mutter einzig die zerstörte Antiquität im Gedächtnis bleibt.

Auf jeden Fall wollte Barnett auch mit seiner Mutter fühlen und erleben, deshalb durchstöberte er auch Einträge aus der Zeit, als er geboren wurde. Dadurch kam er zu dem ominösen Eintrag, den seine Mutter einen Tag vor seiner Geburt machte.

Zuerst war er ein wenig verstört, wie wenig seine Mutter sich in diesem Eintrag mit ihrem bald geborenen Sohn auseinander setzte, doch bald schon schoss eine geniale und für die Geschichte der Tumorforschung folgenschwere Idee in den Kopf. Als promovierter Physiker hatte er natürlich immer wieder mit elektromagnetischer Strahlung zu tun. Über deren Auswirkung auf den Organismus gab es aber noch keine oder zumindest nur spärliche Arbeiten.

Endlich hatte er ein Thema für seinen Antrag und einige Jahre später konnte er auch erklären, warum sich Bakterien in dem elektrischen Feld, dass er produziert hatte nicht teilten. Das Interessante war nämlich, dass das mit der Elektrizität gar nichts zu tun hatte, sondern dass sich unter den Versuchsbedingungen Cisplatin bildete, das eine starke biologische Wirkung zeigte.

Sie sehen also, die Geschichte konnte sich nur entfalten, weil Beule am richtigen Ort das richtige gesagt hat, damit es zur richtigen Person in der richtigen Zeit gelangen kann. Sie meinen ich erzähle nicht die Wahrheit, und dass es da Unstimmigkeiten gäbe. Ja, der Entdecker des Cisplatin hieß doch gar nicht Heym oder gar Wondraschek, nach Barnetts Familie sondern vielmehr Rosenberg. Natürlich haben Sie in diesem Punkt recht, aber der junge Barnett hieß natürlich mit Nachnamen Rosenberg, denn seine Mutter Luise Heym heiratete in Amerika den Rechtsanwalt Benjamin Rosenberg, der für diese Geschichte nur den Nachnamen und die Vaterschaft beiträgt. Man könnte von ihm noch sagen, dass er durch eine ähnlich verworrene und nicht minder interessante zeitliche Verschiebung von Worten der Erfinder des Namen Alexis ist. Aber das würde den Rahmen dieser Erzählung sprengen.

Zu berichten ist jetzt nur noch, dass Beule, durch die rechtzeitige Therapie wieder vollkommen geheilt werden konnte. Sicherlich an manchen Tagen wünschte er sich auch, dass Cisplatin nie entdeckt worden wäre, denn so eine Chemotherapie ist kein Zuckerschlecken. Am Ende war er dann aber doch glücklich darüber. Genau wie die Doris aus dem Cafe Susi und Beules Tochter Barbara sowieso.

Impressum

Texte: Text: Rene Eichinger Cover: Josef Gicatilla: Porta Lucis (1516)
Tag der Veröffentlichung: 22.01.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dem Entdecker von Cisplatin, der aus einem Zufall eines der erfolgreichsten Medikamente machte

Nächste Seite
Seite 1 /