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Der Junge zieht langsam mit schlurfendem Schritt zum nächsten Passanten. „Hast ah paar Euro?“ Wie eine Litanei dringt es an meine Ohren. Beschämt schaue ich zu Boden. Warum habe ich ihm nichts gegeben? Ein stummes Schütteln des Kopfes musste dem Jungen reichen. Wie alt kann er sein? Nicht älter als 19 Jahre. Das Geld hätte ihm nicht geholfen. Natürlich nicht. Ich hätte ihn einladen sollen, auf einen Kaffee mit ihm gehen. Versuchen mit ihm zu sprechen.

Darum müssen sich Sozialarbeiter kümmern, rede ich mir ein. Dabei starre ich weiter in mein Buch, dass zum Lesen aufgeschlagen in meiner Hand liegt, ohne auch nur ein Wort davon aufzunehmen. Eigentlich ist es zu kalt, um an der Bushaltestelle zu lesen, aber so ein Buch ist ein perfekter Schutzschild. Keiler sprechen einem nicht an, und auch die meisten Bettler bekommt man nicht mit.

Es ist nicht so, dass ich kein Geld gebe, eigentlich gebe ich sogar fast jedem, der auf der Straße sitzt, einige Münzen. Nur Schnorrer bekommen nichts von mir. Wie kann es sein, dass der Junge aufs Betteln angewiesen ist? Wo kommt er her, warum will ich ihm nicht helfen? Ich versuche den Faden im Buch wieder zu finden.

Bei den anderen Menschen hatte er auch kein Glück, er zieht weiter, sucht wo anders ein wenig Geld um sich Essen, Trinken, wahrscheinlich Drogen zu kaufen. Ich habe ja auch nicht viel, versuche ich mich vor mir selbst zu rechtfertigen.

Natürlich geht es vielen Menschen besser, aber gerade vorhin habe ich mein Abendessen bei der Fast Food Kette eingenommen. So schlecht kann es mir also auch wieder nicht gehen. In meinem Kopf gehen die Gedanken hin und her. Ich kenne das und weiß es wird bald aufhören. Mein schlechtes Gewissen hat keine Chance gegen meinen Selbstbetrug.

In der Kurve zur Bushaltestelle bleibt ein Auto stehen. Eine Frau steigt noch aus dem rollenden Wagen und versucht schnell davon zu kommen. Der Lenker springt aus dem Wagen und schneidet ihr den Weg ab.

Ich stehe direkt daneben und kann die Situation genau beobachten – Voyeur, denke ich mir kurz. Dann sehe ich hinüber.

Die Frau ist sehr erregt, sie möchte weg, doch der Mann steht vor ihr und hält sie fest. Ich bemerke nicht wie die beiden aussehen, was sie anhaben. Dazu fehlt es mir an Mut genauer hinzusehen, aber sie spricht laut und deutlich, ich kann jedes Wort verstehen. Er spricht leiser und nuschelt, vielleicht ist er betrunken.

Ich bin der näheste Passant an dem Pärchen und ich mache einen weiteren Schritt auf die beiden zu, denn die Frau scheint bedrängt zu sein. Ich muss eingreifen, ich muss ihr helfen. Doch da ist wieder diese Angst, sie schraubt mich hier am Boden fest.

Es ist nicht deine Angelegenheit flüstert sie mir zu. Die Frau schaut sehr wehrhaft aus. Kein Grund einzugreifen. Ich lasse mich von meiner Furcht überzeugen und beobachte. Ich bin nicht der Einzige. Die drei anderen Wartenden an der Haltestelle sehen auch hinüber, dann tun sie so, als hätten sie nichts bemerkt.

Die beiden Streitenden bekommen von mir nichts mit, sie sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt. „Ich geh nicht wieder mit.“ Die Frau wiederholt den Satz jetzt schon zum fünften Mal. Der Mann hält sie fest umklammert und versucht sie zu beruhigen. Sein Griff lässt ihr wenig Spielraum, es scheint aber nicht so, als würde sie Schmerzen haben. Vielleicht ist sie aber zu aufgebracht, um das wahrzunehmen?

Ich sollte versuchen den Streit zu schlichten. Ein weiterer Schritt bringt mich auf etwa fünf Meter heran. Wenn er wirklich betrunken ist, knallt er mir vielleicht eine. Ich war noch nie in einer Schlägerei, halte mich immer im Hintergrund, provoziere nie. Ich will ein gutes Vorbild sein für andere. Jeder sollte so friedlich leben wie ich. Aber gehört dazu nicht auch, dass man in solch einer Situation hilft? Mein Gewissen versucht mich zu einem weiteren Schritt zu bewegen, doch eine innere Stimme hat Angst, einen Schlag ab zu bekommen. Vielleicht hat der Kerl ein Messer.

Ich betrachte ihn noch einmal. Er passt in das Klischee des kleinen Gangsters. Aber das tun 80 Prozent der Leute in dieser Gegend, versucht mich mein Gewissen zu beruhigen. Ich gehe Phrasen durch, die ich sagen könnte. Sie beginnen alle irgendwie mit „Entschuldigen Sie“. Das klingt absolut lächerlich. Ich bin lächerlich.

Die Frau konnte sich aus der Umarmung befreien, ich habe keine Ahnung wie das passiert ist. Sie schreit den Mann jetzt an, dass sie genug von ihm hat. Er nuschelt weiter, versucht sie aber nicht mehr zu umklammern, er hält sie nur noch an einem Arm fest, ich zweifle aber nicht daran, dass sie aus diesem Griff nicht entkommen wird.

Ich hole tief Luft und will einen weiteren Schritt auf das Paar zu gehen. Mein mutigeres Ich hat recht; ich werde eingreifen.

Plötzlich sticht ein Lichtstrahl durch die Nacht. Ein Bus versucht in die Gasse zu biegen und an die Haltestelle zu fahren. Das Auto des Mannes steht allerdings im Weg, und der Busfahrer beginnt sofort zu Hupen.

Zuerst bemerkt das Paar den Bus gar nicht. Sie sind weiter in dem heftigen Gespräch verwickelt. Jetzt blickt der Mann auf. Er sieht direkt zum Busfahrer, der jetzt auch ungeduldig die Lichthupe betätigt, um das Hindernis zu verscheuchen.

Der Mann versucht die Frau noch einmal in Richtung Auto zu zerren, doch sie bleibt standhaft. Wahrscheinlich wittert sie ihre Chance davon zu kommen. Er hechtet zu seinem Wagen, lässt den Motor an und rauscht in unglaublichem Tempo die Straße entlang, damit der Bus seinen Dienst verrichten kann.

Die Frau ist so schnell verschwunden, dass ich gar nicht bemerke, um welche der drei möglichen Ecken sie eben gehuscht ist. Sie hat es geschafft. Ist davon gekommen. Ganz allein. Sie hat meine Hilfe nicht gebraucht.

Ich schleiche langsam zum Bus um einzusteigen. Ich fühle mich gefangen und befreit gleichzeitig. Mein erleichtertes Ich versucht mir zu erklären, dass ich eingegriffen hätte, wenn der Mann handgreiflich geworden wäre. Das andere Ich spricht nicht mit mir. Es hält mich für einen Feigling. Es weiß, dass ich mich belüge.

Vielleicht muss ich mich bei der nächsten Gelegenheit nicht belügen. Den jungen Schnorrer werde ich einladen. Aber damit belüge ich mich wohl wieder.

Impressum

Texte: Text: Rene Eichinger Cover: http://www.evelynebob.de
Tag der Veröffentlichung: 05.01.2012

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