„Wie viel ist ein Herz wert, das nicht schlägt?
Wer will den Tod lieben, wenn er die Unsterblichkeit nicht kennt?“
Prolog
Ich hatte nie gedacht, dass sich mein Leben jemals ändern würde, dass sich mein gesamtes Ich, mein Glaube und meine Auffassung vom Leben so wenden würden. Ich hatte es nicht für möglich gehalten mein altes, sorgenfreies Leben gegen die Unendlichkeit zu tauschen.
Ich war schon immer anders als andere, so dachte ich jedenfalls. Ich hatte nie Probleme mit meinem Dad, ich hatte noch nie auch nur einen einzigen Pickel oder Stimmungsschwankungen, wie die meisten in meinem Alter. Ich musste sehr früh erwachsen werden und mich um Dad kümmern. Er war nie ein guter Hausmann und ich schätze, wenn ich nicht so früh gelernt hätte zu kochen, wären wir beide verhungert.
Ich lebte bei Dad solange ich denken konnte. Wir wohnten in einer kleinen Stadt namens Monterey in Kalifornien. Ich liebte das Meer und die Palmen. Ich ging auf eine kleine Schule in unserer Stadt. Wirkliche Freunde hatte ich dort nicht, aber ich spürte auch nicht das Bedürfnis welche zu haben.
Meine Mum kannte ich erst seit ein paar Monaten. Sie und Dad hatten sich kurz nach meiner Geburt getrennt.
Es fiel mir schwer zu glauben, dass Rose meine Mutter war. Das einzige, was wir gemeinsam hatten waren die langen braunen Haare, die in großen Locken über unsere Schultern fielen. Ihre Augen waren silbern. Ich hatte noch nie in meinem Leben Augen gesehen, die im Licht funkelten wie tausende Diamanten. Ihre Haut war blass und ihre Lippen rot. Unter ihren Augen waren stets dunkle Schatten zu sehen und doch war sie der schönste Mensch, den ich je gesehen hatte.
Ich dagegen war nicht einmal halb so schön. Meine braunen Augen und meine leicht olivfarbene Haut, durch die an meinen Wangen stets das Warme rot meines Blutes schimmerte, waren genau das Gegenteil von Rose´s. Wie also konnte sie meine Mutter sein?
Es war eigentlich ein ganz normaler Samstag. Ich hatte gekocht und nun saßen wir schweigend am Tisch und aßen. Normalerweise sagte Dad nie ein Wort, wenn wir aßen, doch plötzlich begann er etwas stockend zu reden.
„Du wirst zu Rose ziehen. In einer Woche.“
Er schaute nicht auf, als er diese zwei Sätze sagte. Er zeigte keine Gefühlsregung.
„Was? Was soll ich denn bei Mum?“
„Das kann ich dir jetzt nicht erklären. Du wirst es bald herausfinden und dann wirst du mir dankbar für diese Entscheidung sein.“
Noch immer schaute er nicht von seinem Teller auf.
„Aber Dad…“
„Nichts aber. Du ziehst nach Kanada, in einer Woche.“
Rose lebte in einer kleinen Stadt im Süden Kanadas. Dort gab es weder Strand noch Palmen. Dort regnete es fast jeden Tag und die Sonne schien nur selten. Was sollte ich dort und vor allem warum?
Ich wusste nichts mehr dazu zu sagen, beschloss einen Spaziergang zu machen und rannte aus der Küche.
„Juliet! Warte doch!“, rief Dad mir hinterher, aber ich zog meine Jacke an und verschwand.
Ich rannte zum Strand direkt vor unserem Haus. Ich merkte, wie Tränen über meine Wange liefen. Ich hatte so viele Fragen im Kopf und gleichzeitig so viele mögliche Antworten, doch keine schien mir wirklich simpel. Ich rannte immer weiter am Meer entlang. Meine Füße hinterließen tiefe Spuren im goldgelben Sand. Irgendwann wurde ich langsamer. Ich überlegte, was Dad damit meinte, als er sagte ich würde den Grund noch herausfinden. Dies war der Moment, in dem ich mich fragte, was ich zu verlieren hatte. Ich kam zu dem Entschluss, dass ich zwar Dad und das Meer vermissen würde, allerdings konnte ich ja oft zu Besuch kommen. Ich hatte hier keine Freunde, die ich vermissen würde.
Ich hielt an und schaute auf die endlosen Weiten des Meeres und überlegte weiter, wie schön es wäre meine Mutter näher kennen zu lernen und vor allem nahm ich mir vor, herauszufinden, warum Dad mich fortschickte.
Eine ganze Weile stand ich einfach nur da und schaute den Wellen zu. Nach ein paar Stunden kam ich wieder zu Hause an. Als ich die Tür öffnete hörte ich den Fernseher im Wohnzimmer. Ich setzte mich neben Dad auf die Couch. Eine Weile schwiegen wir beide, bis ich das Wort ergriff.
„Okay.“
Dad schaute mich nur verwundert an.
„Okay. Ich ziehe zu Mum!“
„Es tut mir so leid Juli, aber du wirst es verstehen. Früher oder später wirst du mich verstehen.“
„Ja, das hoffe ich auch Dad.“
Den ganzen Abend saßen wir da und unterhielten uns darüber, was sein wird, wenn ich weg bin, wo Dad sein Essen her bekommt und wie oft ich ihn besuchen kann. Wir planten alles durch und am Ende weinten wir beide. Ich wollte eigentlich nicht weg von hier, aber ich hatte beschlossen es zu versuchen und vielleicht würde ich glücklich werden.
Die ganze nächste Woche war ich damit beschäftigt alles zu planen und meine Sachen zu packen. An meinem letzten Freitag in Monterey hatte ich nichts anderes im Kopf, als meine neue Schule, in einer neuen Stadt, in einem anderen Land. Bald würde ich so weit weg von Dad sein, und ich wusste nicht, wann ich ihn wieder sehen würde. Der bloße Gedanke daran machte mich traurig. Ich konnte mir nicht vorstellen mit Rose zu leben. Ich wusste nicht, über was ich mich mit ihr unterhalten sollte, oder was ich mit ihr unternehmen konnte. In diesem Moment wurde mir klar, wie wenig ich über meine eigene Mutter wusste und ich nahm mir vor sie kennenzulernen, sie auszufragen und so viel mit ihr zu unternehmen, wie nur ginge, doch ich wusste nicht, dass alles anders kommen würde.
1. Kapitel
Da stand ich nun am Flughafen. Meine Koffer, bepackt mit nur einem Bruchteil meines Hab und Guts, standen rechts und links neben mir, während Dad und ich uns verabschiedeten. Er drückte mich an sich so fest er konnte und ich spürte, wie mein Lieblingspulli seine Tränen aufsog. In diesem Moment wünschte ich, meine Eltern wären nicht getrennt.
„Pass auf dich auf und hör auf deine Mutter!“
Die typischen Worte eines besorgten Vaters.
„Bald wirst du verstehen, warum du fort musst von hier, Juli. Ich hoffe du wirst mir verzeihen.“
„Dad, was hat das alles zu bedeuten? Was meinst du damit?“
„Du bist anders als andere, Juli. Du warst immer schon anders. Du wirst bald nicht mehr du selbst sein, aber ich hoffe, du vergisst mich nie.“
„Aber Dad, wie könnte ich dich vergessen? Was willst du mir damit sagen? Was heißt ich werde mich verändern?“
„Geh jetzt, sonst verpasst du deinen Flug!“
Er wusste nicht, wie gerne ich diesen Flug verpasst hätte. Ein Flug in mein neues Leben. Ich würde erst noch bemerken, wie bedeutend dieser Flug für mein Leben war, denn es war ein Flug in unendliche Unsterblichkeit.
Ein letztes Mal umarmte er mich, der Mann, der mich siebzehn Jahre lang behütet hatte. Der Mann, der ohne mich nicht zurecht kommen würde, das wusste ich. Also warum wollte er, dass ich gehe? Es blieb keine Zeit mehr für Fragen. Langsam ging ich den langen Flur entlang. Bevor ich endgültig verschwand, drehte ich mich um und formte mit meinen Lippen die Worte „Ich liebe dich, Dad“. Er verstand und rief so laut er konnte:“Ich dich auch Juli“.
Ich schaute aus dem winzigen Fenster und sah das Wolkenmeer unter mir. Ich wusste, dass es nun kein Zurück mehr geben würde. Als mir das bewusst wurde, flossen wieder Tränen über meine Wangen. Ich dachte zuerst an Dad, dann an das Meer und die Palmen. Ich versuchte das Bild, welches ich in diesem Moment im Kopf hatte, für immer zu speichern, um es in Momenten des Schmerzes wieder aus meinem Gedächtnis hervorzuholen. Ich wusste noch nicht, dass ich dieses Bild in meinem Kopf öfter brauchen würde als gedacht. Ich schloss die Augen und versuchte zu schlafen.
Ich fand mich wieder, auf einer großen Wiese, so idyllisch, so unreal und doch zum greifen nahe. Ich sah die endlos vielen bunten Blumen und der Wind wehte durch mein gelocktes Haar. Ein paar Meter entfernt von mir Stand ein körpergroßer Spiegel. Ich ging-nein, ich schwebte zu ihm. Ich sah eine wunderschöne junge Frau. Ihr braun gelocktes Haar fiel über ihre zierlichen Schultern. Ihre Augen funkelten wie tausende Diamanten in einem satten Silberton. Ihre Haut war blass wie Schnee und ihre Lippen rot wie Blut. Unter ihren Augen waren leichte Schatten zu erahnen.
Es war nicht ich, die ich im Spiegel sah. Ich sah meine Mutter. Ihr jugendliches Gesicht und ihr strahlendes Lächeln. Ich erschrak, als ich meine Hände hob und meine Schneeweiße Haut betrachtete.
„Mam wir landen jetzt! Mam?“
Die Stimme der Stewardess weckte mich aus meinem Traum.
„Mam wir werden jetzt landen. Bitte legen sie den Sicherheitsgurt an!“
Völlig perplex tat ich sofort, was sie verlangte und überlegte dann, was dieser merkwürdige Traum zu bedeuten hatte.
Als ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen hatte, war es bereits dunkel geworden. Ich betrat die Empfangshalle, schaute mich um und sah das Gesicht aus meinem Traum. Rose trug einen engen grünen Mantel, darunter blaue Röhrenjeans und flache schwarze Schuhe. Es war September, sonst hätte sie sicher ein Kleid getragen. Ihr wunderschönes Gesicht war von einem strahlenden Lächeln erfüllt.
„Hallo Juliet!“
„Nenn mich Juli, bitte.“, sagte ich und umarmte sie herzlich. Ihre eiskalte Wange schmiegte sich an meine und ich schauderte kurz.
„Oh entschuldige, ich bin ein Bisschen kalt.“
„Das macht nichts. Draußen ist bestimmt nicht bestes Wetter.“
„Ja, es ist sehr kalt. Ich hoffe du hast warme Sachen dabei.“
Ja sicher, weil man in Kalifornien auch Wintermäntel brauchte. Ich vermisste die Wärme bereits.
„Komm mit! Wir fahren jetzt erst einmal nach Hause, damit du auspacken kannst!“
Rose lebte in einem kleinen Haus ganz in der Nähe des Waldes, in einer kleinen Stadt namens Wolfville. Als wir am Haus ankamen war es mittlerweile stockduster geworden. Rose hielt an und schaltete den Motor aus. Kaum war ich ausgestiegen, stand sie schon mit beiden Koffern vor der Haustür. Sie schwebte regelrecht die Treppen hinauf, wobei man bedenken musste, dass sie in jeder Hand einen fünfzehn Kilogramm schweren Koffer trug.
„Das ist dein neues Zimmer.“
Ich betrat einen kleinen Raum ganz am Ende des endlos scheinenden Flures. Das erste, was ich sah, war ein riesiger Spiegel, der das Zimmer optisch größer wirken lies. Er erinnerte mich an den Spiegel aus meinem Traum, doch in diesem Spiegel sah ich nicht Rose sondern mich, was mich sehr beruhigte. An der Wand stand ein kleines Bett mit violetter Bettwäsche. Gegenüber der Tür befand sich ein vergleichsweise winziges Fenster, durch das das Mondlicht direkt auf den Kirschholzboden fiel. Gegenüber dem Bett stand ein kleiner Schreibtisch auf dem ein Computer, scheinbar ein Relikt aus alten Zeiten, stand.
„Gefällt es dir? Der Computer ist ein wenig alt, aber er erfüllt seinen Zweck.“
„Ja, es ist schön.“
„Das freut mich. Ich schätze du bist etwas erschöpft. Da vorne links ist das Badezimmer. Handtücher sind im Schrank. Gute Nacht Juliet!“
„Juli! Nenn mich Juli!“
„Gute Nacht Juli.“
„Gute Nacht Mum.“
Ich beschloss heute nicht mehr zu duschen und zog mir direkt meinen bequemen Jogginganzug an und setzte mich auf mein Bett. Ich schaute aus dem Fenster und betrachtete den Mond. Hier in Kanada sah er irgendwie anders aus. So hell und groß. Hier war er viel schöner als zu Hause. Das war wohl der falsche Gedanke, denn schon flossen die Tränen wieder unaufhaltsam über meine Wangen. Ich kramte das Bild von Dad und dem Strand aus meinem Kopf hervor, legte mich hin, schloss die Augen und begann in Erinnerungen zu schwelgen.
Ich musste eingeschlafen sein, denn als ich aufwachte schien leichtes Morgenrot durch das Fenster auf den Boden. Ich hörte aus dem Wohnzimmer immernoch den Fernseher laufen. Hatte Rose die ganze Nacht fern gesehen?
Ich riss die Decke beiseite und stand auf, um auf die Uhr zu schauen, die auf dem Schreibtisch stand. Sechs Uhr und ich war hell wach. Ich ging den endlos langen Flur entlang, bis ins Badezimmer. Ich betrat einen kleinen Raum. In einer Ecke befand sich eine Duschkabine und in der anderen eine Toilette. An der Wand war ein kleines Waschbecken angebracht. Alles in einem nicht sehr luxuriös. Trotz alledem ging ich duschen und ging in mein Zimmer um mich anzuziehen. Ich kramte meine Lieblingsbluse aus einem der Koffer hervor und schlüpfte in eine Jeans. Als ich die Treppe herunterkam, vernahm ich Rose´s zärtliche Stimme.
„Möchtest du etwas essen? Ich habe extra für dich eingekauft.“
Als ich die Küche betrat erblickte ich ein regelrechtes Buffet. Rose hatte alles Mögliche auf dem Tisch ausgebreitet und war nun damit beschäftigt Brote für die Schule zu schmieren. Das hatte ich ja ganz vergessen. Aufgrund Dads schlechter Planungskünste musste ich direkt einen Tag nach meiner Ankunft in die Schule. Ich schaute auf die große Uhr über der Tür und bemerkte, dass ich mich ziemlich beeilen musste, um noch pünktlich an zu kommen. Ich schaufelte schnell ein paar Löffel Cornflakes in mich hinein, rannte die Treppe hinauf, nahm mein Schreibzeug, rannte die Treppe wieder hinunter und zog hastig meine Jacke an. Rose, welche mir die Butterbrote reichte, kramte den Autoschlüssel aus ihrer Tasche und öffnete die Tür-
„Ich fahre dich. Es ist dein erster Tag. Ich zeige dir, wo du langlaufen musst.“
„Danke, das wäre nett.“
Als ich auf schaute, saß sie bereits im Auto und drehte den Zündschlüssel um, während ich immernoch damit beschäftigt war meine Schuhe zu binden. Ich stutze, doch dann dachte ich mir, dass es bestimmt die Müdigkeit wäre und ich deshalb alles nur verzögert wahrnehmen würde. Endlich fertig, ging ich zum Auto und stieg ein. Da saß ich nun. In einer neuen Stadt in einem anderen Land, auf dem Weg zu meinem ersten Schultag in Kanada.
„Mum, darf ich dich etwas fragen?“
„Aber sicher Juli.“
„Warum hat mich Dad hierher geschickt? Warum musste ich weg von zu Hause?“
„Wir sind jetzt da. Reden wir später darüber okay? Es dauert etwas länger, dir das alles zu erklären.“
Widerwillig stieg ich aus dem Wagen.
Kaum stand ich auf dem Parkplatz, schon war ich von einer Horde von Menschen umzingelt.
„Hallo, du musst Juliet Hall sein!“
„Juli, nenn mich Juli.“
„Okay! Hallo Juli! Ich bin Alex!“
Alex war ein zierliches Mädchen. Ihre rotblonden Haare wunden sich in großen Wellen an ihren Schultern herunter und ihre grünen Augen schauten mich neugierig an.
„Hey, ich bin Collin und das sind Angela, Jonny und Layla. Andrew ist heute nicht da.“
„Ja! Warum darf Andrew eigentlich immer länger Urlaub machen?“
Das kleinere Mädchen, deren lange schwarze Haare glatt über ihre Schultern hingen, verschränkte eingeschnappt die Arme vor der Brust. Layla war mir gleich sympathisch.
„Ich muss ins Sekretariat. Kann mir jemand von euch sagen, wo ich das finde?“
„Ich bring dich hin!“, rief Layla, bevor einer der anderen auch nur Luft holen konnte.
„Oh, das ist nett!“
„Mach ich doch gern! Komm mit! Bis nachher Leute!“
Ich folgte ihr durch die langen Flure und bekam einen ersten Eindruck von meiner neuen Schule.
„So, da sind wir.“
Wir standen vor einer Glastür, auf der dick und fett das Wort –Sekretariat- geschrieben stand. Layla hatte ihre Mühe die massive Tür zu öffnen. Sie ging zum Empfangstresen und redete auf die Sekretärin ein, die gerade dabei war mit einer uralten Schreibmaschine ein Blatt zu beschreiben.
„Hallo Mrs. Hutson! Das ist Juliet, die neue Schülerin. Ich nehme an, sie möchte ihre Kurse wissen und einen Raumplan haben. Denken sie, dass das möglich wäre, denn der Unterricht fängt gleich an und wir haben es eilig, also wär es schön, wenn…“
„Jaja, ist schon gut! Ich hab ja verstanden. Hier!“
„Vielen Dank! Komm Juli!“
Anstatt mir meinen Kursplan zu geben, studierte sie ihn gründlich.
„Wir haben jetzt zusammen Chemie! Komm, ich weiß wo es lang geht!“
Sie führte mich über drei Flure und eine große Treppe zum Chemieraum. Alle saßen schon auf ihren Plätzen. Der Raum ähnelte dem Chemieraum meiner alten Schule sehr. Layla setze sich neben ein mir bereits bekanntes Gesicht. Alex begrüßte mich erneut und Layla fing direkt an freudig auf sie ein zu reden.
Die letzte Reihe war leer. Ich setzte mich auf den Platz am Fenster, packte meine Sachen aus und wartete auf den Stundenbeginn.
Mein erster Schultag verlief ohne Probleme. Ich hatte das Glück, dass an jedem Kurs den ich besuchte auch eine mir schon bekannte Person teilnahm und somit hatte ich keine Probleme von Raum zu Raum zu kommen.
Nach einem anstrengenden Schultag fand ich Gott sei Dank den Weg zu Roses Haus beim ersten Versuch. Ich öffnete die Tür und als ich auf schaute, stand auch schon Rose vor meiner Nase. Ich stutzte kurz. Hatte sie etwa schon auf mich gewartet oder wie ist sie sonst so schnell zur Tür gekommen?
„Hallo Juli! Hast du Hunger? Ich kann nicht besonders gut kochen, aber ich dachte vielleicht kannst du es mir zeigen?“
„Nein, danke. Im Moment habe ich keinen Hunger.“
„Okay! Sag es mir, wenn du etwas brauchst!“
Mit einem leisen „Mhh“ verschwand ich nach oben in mein Zimmer, nicht sicher, ob sie meine leise Zustimmung gehört hatte.
Ich beschloss Dad eine Mail zu schreiben und schaltete den steinalten Computer an. Tatsächlich funktionierte er einwandfrei. Vielleicht ein wenig langsam, aber man konnte sich nicht beschweren. Ohne groß zu überlegen begann ich zu tippen.
-Hi Dad,
ich hoffe, du hast dir gemerkt, wie man den Computer bedient und kannst nun meine erste Nachricht an dich aus meinem neuen Zuhause lesen.
Mir geht es sehr gut hier. Mum versucht mir alles recht zu machen und ich muss sagen, dass es ihr recht gut gelingt, bis auf die Kleinigkeit, dass sie mir immernoch nicht den Grund meines Umzuges erklärt hat. Um ehrlich zu sein, hoffe ich, dass du dich vielleicht doch dazu entscheidest, es mir zu sagen.
Heute war mein erster Tag in der neuen Schule. Ich habe ein paar nette Leute kennengelernt. Die Lehrer sind auch nicht viel anders als Daheim.
Bitte melde dich schnell!
In Liebe,
Juli.-
Nachdem ich die Nachricht versandt hatte, beschloss ich schlafen zu gehen. Zum Glück war morgen Samstag und ich konnte ausschlafen.
Als ich ins Bett stieg und, wie jede Nacht, wieder den Traum träumte, der mir bereits im Flugzeug Angst bereitete, wusste ich nicht, dass morgen mein gesamtes Leben auf dem Kopf stehen würde.
2. Kapitel
Schweißgebadet wachte ich auf. Dieser verfluchte Traum bereitete mir immer mehr Angst. Jeden Morgen grübelte ich über diese letzte Szene, in der ich meine Hand hob und meine Schneeweiße Haut betrachtete. Ich wurde einfach nicht schlau aus diesem Traum.
Wie jeden Morgen ging ich zum Schreibtisch, um auf die Uhr zu schauen. Auf dem Weg dorthin kam ich an dem großen Spiegel vorbei. Wieder war ich erleichtert, als ich mein Spiegelbild erblickte.
Neun Uhr. Für meine Verhältnisse hatte ich lange geschlafen. Immernoch schweißnass trottete ich in Richtung Badezimmer. Unten lief der Fernseher, wie fast immer. Das Ganze wurde immer merkwürdiger. Noch nie hatte ich Rose abends ins Schlafzimmer gehen hören und jeden Morgen, egal wie früh es war, lief der Fernseher.
Heißes Wasser prasselte auf meine Haut. Ich schloss die Augen und dachte an zu Hause. Die Wellen und der Strand. Abrupt wurde ich aus meinem Tagtraum gerissen, als Rose von außen an der Tür klopfte.
„Guten Morgen Juli! Ich habe Frühstück gemacht. Komm bitte runter, wenn du fertig bist, ja?“
„Okay, aber ich möchte vorher noch schnell meine Mails lesen.“
„Mach das und bestell deinem Dad einen schönen Gruß, wenn du ihm schreibst!“
Ich hörte Rose´s Schritte kaum, als sie die Treppe herunter ging. Ich stieg rasch aus der Dusche, wickelte mir ein Handtuch um die nassen Haare und eilte in mein Zimmer um den Computer anzuschalten. Während er hoch fuhr, zog ich mir schnell ein paar Sachen an und setzte mich auf den alten Holzstuhl.
Der Computer zeigte eine neue Nachricht an. Voller Vorfreude öffnete ich die Mail.
-Liebe Juli,
ich vermisse dich sehr. Du fehlst mir jede Minute, doch ich weiß, dass es besser so ist. Sonst klappt alles super. Mrs. Stevenson bringt mir jeden Tag eine warme Mahlzeit vorbei. Diese Frau ist ein Engel.
Es freut mich, dass du dich bereits eingelebt hast.
Ich bin etwas verwundert, dass Rose noch nicht mit dir geredet hat. Es würde zu lange dauern, dir alles zu erklären, aber ich habe dieser Nachricht einen Link angehangen, der dir vielleicht weiter helfen kann.
Ich vermisse und liebe dich.
Dad
Ganz am Ende der Nachricht befand sich eine Verlinkung mit dem Titel „Silberaugen“. Ich stutze und klickte zögerlich auf den Link. Rasch öffnete sich eine Seite mit Mythen und Sagen. Erst dachte ich, ich wäre falsch, doch da war wieder dieser ominöse Titel.
In diesem Text ging es um die sogenannten Silberaugen. Ich überlegte, was das Ganze mit mir zu tun hatte. Der Text war übersät mit vielen fettgedruckten Adjektiven. Leicht genervt begann ich das erste Adjektiv zu lesen.
- Schneeweiße Haut. Das Erste an das ich dachte, war mein Traum. Ich dachte an die Stelle, als ich meine Hand hob und meine schneeweiße Haut sah. Ich schauderte kurz und las weiter.
- blutrote Lippen, silbern funkelnde Augen. Mir wurde ziemlich mulmig, als ich bemerkte, dass diese Worte die Frau aus dem Spiegel, also Rose, haargenau beschrieben.
- kalthäutig. Ich erinnerte mich an meine Ankunft am Flughafen und an Rose´s Umarmung. Ihre Haut war kalt wie Eis.
- Schnelligkeit. Bis jetzt hatte ich immer gedacht, dass mir meine Fantasie einen Streich spielte, wenn Rose von einer Sekunde auf die andere den Ort wechselte.
- übernatürliche Stärke. Als ich in Wolfville ankam trug Rose zwei fünfzehn Kilogramm schwere Koffer mit Leichtigkeit die Treppe hinauf.
- schlafen nicht. Schon oft hatte ich mich gefragt wann Rose schlief. Ich hatte sie seit meiner Ankunft noch nie zu Bett gehen gehört.
- Essen nicht. Tatsächlich hatte Rose seit meiner Ankunft in meiner Gegenwart noch nie etwas gegessen.
- Unsterblichkeit und ewige Jugend. Rose war tatsächlich fast zu jung, um meine Mutter zu sein. Es existierten nur wenige Fotos von Rose und mir als Baby, aber auf den wenigen, die es gab, sah sie haargenau aus wie heute.
Der letzte Punkt machte mir klar, was Rose war.
- TRINKEN BLUT.
Geschockt schaltete ich den Computer ab und ging zum Bett. Ich setzte mich und schaute aus dem Fenster. Meine Mutter war ein Vampir.
„Juli? Kommst du?“, rief ihre zärtliche Stimme. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass dieses zarte Wesen ein Monster sein sollte.
Zögernd ging ich die Treppe hinunter. Noch bevor ich mich setzen konnte, brach Rose das Schweigen.
„Wir müssen reden!“
Mein Herz blieb fast stehen und ich brachte nur ein leises „Mhh“ heraus.
„Du willst doch wissen, warum du hier bist. Also ich…ich…“
„Du bist ein…ein Vampir!“
Sie starrte mich verwundert an. Langsam beruhigte sich ihr Blick.
„Wieso weißt du…“
„Dad hat mir einen Link geschickt zu einer Seite. Die Beschreibung passte auf dich.“
„Juli! Ich…“
„Du trinkst Menschenblut? Du sollst ein Monster sein? Und meine Mutter?“
„Oh nein Juli. Ich trinke kein Menschenblut. Ich bringe es nicht übers Herz Menschen zu töten. Meine eigene Tochter ist ein Mensch. Noch! Ich trinke ausschließlich Tierblut.“
„D-du bist wirklich meine Mutter? Und Dad? Was ist er? Was heißt denn ich bin NOCH ein Mensch?“
„Dein Dad ist ein Mensch. Du bist nur zur Hälfte Vampir. Halbvampire sind Menschen, bis sie ausgewachsen sind. Dann verwandeln sie sich in Vampire.“
„Du willst damit sagen, ich werde zum Vampir?“
„Du könntest jeden Morgen aufwachen und eine von uns sein.“
„In dem Text stand etwas von Unsterblichkeit und ewiger Jugend.“
„Wenn du zum Vampir wirst, wird dein Herz aufhören zu schlagen. Dann beginnt für dich die Ewigkeit. Nichts und Niemand wird dich töten können.“
„Du meinst ich werde unsterblich sein? Ich werde für immer Leben und mein Herz wird nie mehr schlagen?“
„Ja, so ist es.“
„Ich schätze ich lass dich kurz allein.“
Da saß ich nun. Ich konnte mich nicht bewegen. Alles ging mir noch einmal durch den Kopf. Mein gesamtes Ich, mein Glaube und meine Auffassung vom Leben hatten sich innerhalb einer Minute für immer verändert. Nicht nur, dass meine Mutter ein Vampir war, eine Gestalt, die für mich bis jetzt nur als ausgedachte Figur aus Horrorgeschichten existierte. Ich selbst sollte ein Vampir sein. Ich sollte ein blutsaugendes Monster sein, das für immer leben wird, sofern man ohne Herzschlag leben konnte.
Alles schien mir so unwahr, doch gleichzeitig wusste ich, dass ich nicht träumte.
Noch völlig unter Schock ging ich ins Wohnzimmer und setzte mich neben Rose. Den ganzen Tag unterhielten wir uns über die Mythen, was an ihnen Wahrheit und was nur Fantasie war. Ich gab mich erleichtert, als ich wusste, dass ich nicht als Fledermaus umher fliegen musste. Alles in einem war ich sehr erstaunt wie sehr sich der wahre Vampir von dem aus den Schauergeschichten unterschied.
Rose erklärte mir, warum ich von zu Hause fort musste. Sie meinte, dass ich als junger Vampir unberechenbar sein konnte und eine Gefahr für alle Menschen in meiner Umgebung darstellen konnte, deshalb musste ich zu Rose, damit sie mir beibringen konnte, wie man das Verlangen nach menschlichem Blut im Griff hatte.
Diese ganzen Theorien um meine Person schienen mir sehr fremd. Es konnte Dies passieren oder es konnte Das passieren, aber nichts war sicher. Rose erklärte, dass es genauso gut sein konnte, dass ich kein Verlangen nach Menschenblut hatte, weil ich selbst einmal einer war. In dieser Hinsicht musste ich mich wohl überraschen lassen.
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch ging ich spät abends ins Bett. Ich beschloss meinen Schlaf zu genießen, denn ich wusste, es konnte das letze Mal sein.
Ich fand mich wieder auf der bereits bekannten Wiese. Es kam mir schöner vor als die anderen Male, die ich inmitten dieser Blütenpracht stand. Die Tautropfen funkelten im Licht wie kleine Diamanten. Dieses Mal fühlte ich mich sehr wohl.
Wie die anderen Male schwebte ich regelrecht zu dem riesigen Spiegel, der dem in meinem Zimmer glich. Wieder erblickte ich diese vollkommene Person. Ihre langen braunen Haare fielen in großen Locken an ihren Schultern herab und verschmolzen regelrecht mit dem cremefarbenen Kleid, was ihren zierlichen Körper umschmeichelte und dessen Saum sanft auf den grünen Halmen der Gräser ruhte. Ihre Lippen waren voll und blutrot. Ihr Mund stand leicht offen und brachte so ihre strahlend weißen Zähne zum Vorschein. Ihre Augen funkelten silbern. Unter ihnen waren leichte Schatten zu erahnen.
Ich ging einen weiteren Schritt auf den Spiegel zu und diese wunderschöne Gestalt tat es mir gleich. Ich erschrak kurz und hob langsam meine Hand. Lange betrachtete ich meine schneeweiße Haut.
Hinter mir vernahm ich leise Schritte. Ich schaute über meine Schulter und sah Rose auf mich zu kommen. Als sie neben mir war, blickte sie in den Spiegel und deutete mit der Hand auf mittlerweile zwei wunderschöne Gestalten.
Plötzlich wurde mir klar, dass diese Frau im Spiegel nicht meine Mutter, sondern ich war. Meine Mutter stand schließlich direkt neben mir und ich wirkte wie ihr Ebenbild.
Lange schauten wir den Schmetterlingen zu und niemand sagte ein Wort.
Sanft erwachte ich aus meinem endlich vollendeten Traum. Ich war sehr erleichtert, da mir dieser Traum wohl keine Schwierigkeiten mehr bereiten würde.
Das Morgenrot schien bereits durch das Fenster auf den Boden meines Zimmers. Ich schob die Bettdecke beiseite und stand auf.
Wie jeden Morgen wollte ich zuerst zum Schreibtisch, um auf die Uhr zu schauen. Ehe ich mich umsehen konnte war ich am Tisch. Ich stutzte. Normalerweise brauchte ich in etwa drei Schritte von meinem Bett bis hierher, aber irgendwie hatte ich das Gefühl ich hatte nur einen Schritt gemacht, und das ziemlich schnell. Sechs Uhr. Ich war erstaunt, so früh wach zu sein, obwohl ich gestern erst spät ins Bett gegangen war.
Leise schlich eine Ahnung durch meinen Kopf und mit einem weiteren schnellen Schritt stand ich vor dem Spiegel. Was ich dann sah, ließ mich erschaudern. Ich sah ein wunderschönes Wesen, genau das Wesen aus meinem Traum. Ich ging einen Schritt nach rechts und das Spiegelbild tat es mir gleich. Ich ging einen Schritt nach links und auch das wunderschöne Wesen bewegte sich im selben Moment.
Als ich meine Hand hob und meine schneeweiße Haut erblickte begann ich zu schreien.
„Mum! Mum komm schnell!“
Es dauerte keine halbe Sekunde, als Rose in meiner Tür stand. Ihr Gesichtsausdruck war starr. Sie brachte kein Wort heraus, bis ich begann zu reden.
„Mum, bin ich…“
„Ja.“
Sie trat völlig erstaunt näher und beäugte mich.
„Du bist wunderschön. Wie fühlst du dich?“
Als sie das fragte spürte ich, dass meine Kehle trocken war, wie staub. Es brannte wie Feuer.
„Hast du ein Glas Wasser?“, röchelte ich.
Ein Schmunzeln fuhr über ihre Lippen.
„Wasser wird nicht helfen Juli. Du hast Durst nach Blut!“
Bei diesem Satz erschrak ich. Ich und Blut trinken?
Im selben Moment vernahm ich etwas Köstliches. Es roch sehr süß und äußerst verlockend.
„Was ist das? Was riecht hier so gut?“
„Oh, jetzt wo du es sagst. Am Waldrand muss eine Gruppe Rehe rast machen.“
„Ich rieche Rehe? Es riecht aber lecker!“
„Das ist gut!“, sagte sie amüsiert.
„Komm mit!“
Sie packte meinen Arm und ehe ich mich umsehen konnte standen wir am Waldrand. Der Geruch wurde intensiver und ich merkte, wie sich jeder Muskel meines Körpers anspannte. Rose bemerkte das anscheinend auch und begann mir zu erklären.
„Entspann dich. Die Rehe haben keine Chance. Lass deinen Instinkten freien Lauf. Sie wissen was zu tun ist.“
Nach diesen Worten verschwand ich im Wald. Die Bäume sausten an mir vorbei. Ich rannte unwahrscheinlich schnell, doch ich spürte keine Erschöpfung. Der süße Duft wurde immer stärker und ich hörte Herzschläge, die das warme Blut durch die zarten Körper pumpten.
In der Ferne erblickte ich ein Reh und blieb abrupt stehen. Mein Körper schien ohne meinen Verstand zu handeln und ich ließ ihm freie Bahn. Wie von selbst stürzte ich mich mit einem Schritt auf das fünfzig Meter entfernte Wild. Ich hatte keinerlei Mühe es festzuhalten. Ich spürte die Kraft, die sich in mir verbarg. Vom Instinkt getrieben schlug ich meine Zähne in die Kehle des Tieres. Es tat unwahrscheinlich gut, als das warme Blut meinen Hals hinab floss und mich mit einer wohligen Wärme füllte.
Nach Beenden meines kleinen Ausfluges rannte ich zurück zum Haus. Das Brennen in meiner Kehle war verschwunden. Ich fühlte mich keines Wegs unwohl. Ich war stolz, dass ich mich von Tieren ernähren konnte, anstatt von Menschen.
Mein Gehirn begann anders zu funktionieren. Ich spürte, wie mir immer mehr bewusst wurde, was ich war, ich aber keineswegs ein Problem damit hatte.
„Ich bin sehr stolz auf dich!“
„Mum?“
„Ja?“
„Werde ich wirklich für immer Leben?
„Ja Liebes. Und für immer beginnt jetzt!“
Ein Lächeln fuhr über meine Lippen. Ich wusste, dass dies mein Schicksal war und hoffte glücklich zu werden. Für immer.
Doch was ich nicht wusste war, dass ich die Unsterblichkeit noch oft verfluchen würde.
3. Kapitel
Neuer Tag, neues Glück. So sagt man immer, doch in meiner Welt lagen Glück und Unglück nah beieinander.
Die ganze Nacht waren wir unterwegs und Rose zeigte mir alles, was ich wissen musste um meine Kräfte zu beherrschen. Ich hatte das Gefühl, mich gut unter Kontrolle zu haben. Ich widerstand sogar dem Drang, das Wild zu jagen, welches mich umgab. Wenn ich satt war, konnte mein Verstand besser arbeiten.
Vor dem kommenden Tag hatte ich mich die ganze Nacht gefürchtet. Es war Montag und mir stand ein Tag in der Schule bevor. Mein erster Schultag als Vampir. Ich wusste, dass ich mich hassen würde, wenn ich auch nur einem Menschen etwas antun würde. Sogar bei dem bloßen Gedanken daran, stellten sich mir die Nackenhaare auf.
Trotz dass ich die ganze Nacht unterwegs war, spürte ich keine Ermüdung und es gefiel mir. Sechs Uhr. Es war Zeit, mich für die Schule fertig zu machen, meine von der Jagt beschmutzten Sachen zu wechseln und mein stark verändertes Aussehen so gut wie möglich zu tarnen.
Mit einem Rollkragenpulli bekleidet, um möglichst wenig von meiner blassen Haut zu zeigen, war ich eine Minute vor Stundenbeginn aufbruchsfertig. Wiederholt warnte mich Rose, nicht zu nah an die Menschen heran zu gehen. Ich umarmte sie kurz und begann zu rennen –nein- zu fliegen. Am besten an meinem Vampirdasein war für mich die Schnelligkeit. Nach einer halben Minute stand ich vor dem Schultor. Alle waren schon hinein gegangen. Vom Inneren der Schule hörte ich tausende Geräusche. Es schien, als ob ich alle Geräusche hören konnte. Am lautesten jedoch, hörte ich die Herzschläge jedes einzelnen der hunderten von Schülern. Ich hörte, wie das Herz jedes Einzelnen sein Blut durch seine Adern pumpte. Mir stieg ein kaum unwiderstehlicher Duft in die Nase. So also rochen Menschen. Das schlimmste war, dass sie so viel besser rochen, als die Rehe im Wald. In diesem Moment war ich froh, dass mein Magen halbwegs voll war und ich meinen Durst zügeln konnte. Trotz alledem verspürte ich einen brennenden Schmerz in meiner Kehle. Ich hoffte ich konnte widerstehen.
Zögernd betrat ich das Gebäude und der süßliche Duft umhüllte mich ganz. Um mich herum pulsierten tausende Herzen. Leicht irritiert rannte ich zu meinem Raum. Als ich den Chemieraum betrat, waren es noch dreißig Sekunden bis zum Stundenbeginn. Der Duft intensivierte sich noch mehr.
Als ich Layla erblickte, wirkte sie geschockt. Mit offenem Mund starrte sie mich an. Als Alex ihr einen Stoß in die Seite verpasste, zwängte sie sich ein Lächeln auf und brachte ein leises „Hallo“ heraus. Ich stutzte, doch es blieb keine Zeit, also versuchte ich in einem möglichst unauffälligen Tempo zu meinem Platz zu gelangen.
Meine Bank war nicht länger leer. Ein Junge saß auf dem Platz ganz links. Ich blieb stehen, als ich ihn sah. Seine Haut war blass und seine Haare schwarz wie Pech. Seine stahlblauen Augen waren ganz auf mich fixiert. Seine Lippen waren schmal und blass. Ich konnte es nicht beschreiben, doch ich fühlte mich unter seinen Blicken wie magnetisiert. Zögernd ging ich auf ihn zu und spürte, wie ich mich mit jedem Schritt besser fühlte, doch als ich nur wenige Meter von ihm entfernt war, stieg mir sein Duft in die Nase. Das war so viel besser, als das Reh. Er roch sogar besser, als die gesamte Klasse. Ich spürte, wie das Raubtier in mir von mir Besitz ergreifen wollte, doch ich war stärker. Dennoch viel es mir leicht, mich ihm zu nähren. Seine Nähe strahlte Geborgenheit aus, was etwas merkwürdig klangt, wenn man wusste, dass er so zerbrechlich war, im Gegensatz zu mir.
Ich wollte ihm nicht weh tun, deshalb beschloss ich, nicht zu atmen. Eine weitere vorteilhafte Eigenschaft war es, dass Vampire ihre Lungen nicht brauchten. Das einzige, wozu Atmen noch gut war, war zu riechen und genau das wollte ich in diesem Moment nicht. Ich war wie unter Spannung. Immer wieder spürte ich, wie mir die Gedanken entglitten und sich mein Gehirn den besten Weg ausmalte, ihn zu töten – Alle zu töten.
Die Stunde zog sich dahin wie Kaugummi. Es schien kein Ende in Sicht. Ich fühlte mich, als säße ich in einer Slomotion fest. Immer wieder verspürte ich den Drang, diesem Jungen näher zu sein und gleichzeitig den Willen ihn zu töten. Diese Gefühle verwirrten mich sehr.
Erst nach der Stunde erfuhr ich wer er war. Sein Name war Andrew und er kam jetzt erst aus dem Urlaub zurück. Er war ein guter Freund von Layla und Alex, was mir, wie ich dachte, eine gute Gelegenheit verschaffte, ihn näher kennen zu lernen, denn Irgendetwas, und ich wusste nicht genau was, machte ihn besonders.
In der Cafeteria saßen alle an einem Tisch. Komischerweise hielten sich Alex und Layla, welche mich an meinem ersten Tag freudig begrüßten, sehr auf Abstand und schienen hingegen regelrecht an Andrew zu kleben. Ständig schauten sie zu mir herüber und flüsterten sich hin und wieder etwas zu, was ich nicht verstand, was eigentlich unmöglich war, denn ich hörte, was alle sprachen, egal wie weit sie auch entfernt saßen.
„Hey ich bin Andrew!“
Lächelnd streckte er mir seine Hand entgegen.
„Juli.“, antwortete ich kurz und knapp, ohne ihm die Hand zu reichen. Ich wollte ihm einen Herzinfarkt ersparen, denn meine Körpertemperatur lag bei fünfundzwanzig Grad.
Layla und Alex waren wie versteinert und schienen, als ob sie jeden Moment auf mich springen würden.
„Du bist also die Neue?“
„Ja, die bin ich.“
„Herzlich Willkommen in Wolfville.“
„Danke.“
Alle setzten das Essen fort. Außer mir, denn ich durfte das köstlichste am Tisch nicht haben.
Nach der Schule ging ich rasch ein Stück in den Wald, damit mich keiner nach Hause rennen sah. Auf dem gesamten Weg machte ich mir Gedanken über dass, was ich fühlte, wenn ich in Andrews Nähe war. Einerseits dürstete es mich nach seinem Blut. Mehr, als nach dem jedes anderen. Andererseits fühlte ich mich in seinen Bann gezogen und wie gelähmt in seiner Nähe. Irgendetwas an ihm war anders und es lag an mir, herauszufinden, was das war.
Als ich die Tür öffnete, stand Rose schon vor mir. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie schien besorgt.
„Ist dir jemand gefolgt?“
„Nein, ich denke nicht.“
„Ich kann sie aber riechen. Riechst du das?“
„Was?“
„Riech doch mal!“
Fragend schaute ich sie an und atmete tief ein.
„Ihh, was stinkt hier denn so?“
Immernoch waren ihre Augen weit aufgerissen. Sie starrte in den Wald.
„Feen!“
„Was?“
„Da draußen sind Feen. Zwei schätze ich. Sie müssen dir gefolgt sein!“
„Du willst mir erzählen, dass es so etwas wie Feen gibt?“
„Ja, warte hier!“
Blitzschnell war sie im Wald verschwunden. Ehe ich über ihre Worte nachdenken konnte, stand sie auch schonwieder vor mir.
„Es waren zwei. Draußen im Wald. Sie müssen dir gefolgt sein!“
„Wie?“
„Gibt es in deiner Schule zwei Mädchen, eine mit schwarzen langen Haaren, die andere mit rotem gelocktem Haar?“
„War die schwarzhaarige etwas kleiner?“
„Ja! Kennst du sie?“
„Layla und Alex!“
Geschockt starrte ich Rose an.
„Sie sind Feen?“
„Ja. Komm mit!“
Wir gingen ins Wohnzimmer und Rose bat mich, mich zu setzen. Ich war sehr gespannt auf ihre Erklärung, denn dass außer Vampiren noch weitere Fabelwesen existierten, wusste ich nicht.
„Du meinst also die beiden sind Feen? Mit Flügeln und Feenstaub?“
„Wie du sicher schon gemerkt hast, unterscheiden sich die echten Wesen sehr von denen, aus Büchern und Geschichten. Diese Feen haben weder Flügel, noch Feenstaub. Es sind dennoch magische Wesen, die aus ihrer eigenen Welt, Avalon, auf die Erde kommen, um die Menschen vor Vampiren zu beschützen. Nicht alle Vampire haben entschieden, so zu leben, wie wir es tun, Juli! Genauer gesagt ist unsere Familie die einzige. Alle anderen ernähren sich von Menschenblut und die Aufgabe der Feen ist es, die Menschen vor ihnen zu beschützen und sie zu bekämpfen.“
„Aber was hat das mit mir zu tun? Ich trinke kein Menschenblut!“
„Du bist eine Neugeborene Juli! Der Instinkt der meisten Neugeborenen schaltet das Gehirn für eine gewisse Dauer ab. Sie sind unberechenbar. Ich nehme an, die Feen sind hier, um dich zu bewachen.“
„Aber was können Feen denn schon ausrichten? Ich meine, ich bin stark!“
Ein Schmunzeln fuhr ihr über die Lippen.
„Feen sind auch sehr stark, wenn nicht sogar stärker, als mancher Vampir. Sie besitzen eine Art Zauberkräfte. Jede Fee hat eine andere Kraft. Die einen können dich Lähmen und die anderen können dich blind machen. Sie besitzen alle Waffen, um dich unschädlich zu machen. Mit Feen ist nicht zu scherzen.“
„Da war noch etwas heute. Da war so ein Junge. Er roch besser, als alle anderen. Ich musste meine Gedanken sehr zügeln. Außerdem fühlte ich mich auf eine gewisse Weise magnetisiert.“
„Oh nein! Darum sind sie gekommen. Du musst dich von ihm fern halten, Juli!“
„Wieso? Was ist mit ihm?“
„Er ist das für dich, was dein Vater für mich ist. Für Vampire gibt es immer nur ein Wesen, bei dem sie so fühlen. Dies kann entweder ein anderer Vampir oder ein Mensch sein. Du musst wissen, dass Halbvampire besonders gefährlich sind, da sie sich irgendwann plötzlich verwandeln und dann eine enorme Gefahr darstellen können. Ich schätze die Feen wollen mit aller Macht verhindern, dass neue Halbvampire entstehen.“
„Du meinst also Andrew ist sozusagen für mich bestimmt? Und die Feen wollen nicht, dass wir zusammen sind? Kann ich denn da nichts machen? Ich meine, ich will keinen Menschen lieben. Ich hätte immer Angst ihm weh zu tun.“
„Vielleicht irre ich mich ja auch, aber wenn es so ist, dann hast du keine Wahl.“
„Ich werde mich von ihm fernhalten und mein Leben leben.“
„Wenn das nur so einfach wäre Juli. Gegen die Liebe ist selbst ein Vampir machtlos. Andrew wird in deiner Nähe ständiger Gefahr ausgesetzt, aber das weiß er nicht und es wäre besser, wenn das so bleibt.“
„So jetzt noch mal langsam. Ich und Andrew sind füreinander bestimmt. Ich kann nichts dagegen machen. Ich könnte ihn ohne Probleme umbringen und deshalb wollen die Feen mich von ihm fern halten UND das ganze Spiel ist unendlich.“
„Ja, bis auf die Sache mit dem unendlich. Du darfst nicht vergessen, dass Andrew ein Mensch ist. Er wir altern und sterben, außer...aber nein...das ist ausgeschlossen.“
„Was ist ausgeschlossen?“
„Nehmen wir mal an, du könntest die Feen davon überzeugen, dass du keine Gefahr für Menschen darstellst und mit Andrew zusammen sein. Es gäbe eine Möglichkeit, für immer mit ihm zusammen zu sein und Halbvampire als Nachfahren zu vermeiden.“
„Du meinst...?“
„Ja, es gibt eine Möglichkeit, Menschen zu Vampiren zu machen, aber dies fordert gute Nerven. Man müsste ihn beißen, ohne ihn auszusaugen.“
„Aber Mum, was ist, wenn ich ihn nicht zum Vampir machen will? Was ist, wenn ich ihn auch nicht lieben will? Es reicht mir bereits, dass ich ein Vampir bin. Ich will nicht über das Schicksal anderer bestimmen müssen“
„Du hast keine Wahl, denn das ist DEIN Schicksal!“
Tag der Veröffentlichung: 23.01.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch meinen Freundinen Anna, Lisa und Anne, weil ihr mich zum Lesen gebracht habt. Ohne euch wär auch dieses Buch nicht entstanden.
Danke