Aliens in meiner
Wohnung,
Yeah
Der Flur meiner Wohnung, die ich mit meinen Söhnen teile, hat die Form eines L.
Ab und zu ist mein Mann auch bei uns. Er arbeitet in einer anderen Stadt und wir sehen uns selten.
Meine Söhne, der "Große" schon 18 und der "Kleine" fast 16 Jahre alt, sind lebensbejahende, aufgeschlossene und wilde Zeitgenossen, die jeden Undergroundstyle kennen, Undergroundmusik hören und philosophisch daher reden.
Trotzdem, oder obwohl sie so dermaßen underground sind, haben sie eine Meinung zum Problem Israel, zur Syrienproblematik und sie hassen Sexismus und Homophobie.
Der Große schrieb erst vor einigen Wochen eine Facharbeit über Xenophobie und der Kleine über die Geschehnisse in Rostock Lichtenhagen und die Untätigkeit der Politik zu dieser Zeit.
Der Weltschmerz der Beiden ist unendlich und die Wut über untätige Politiker ebenfalls.
In Vorbereitung auf einen Essaywettbewerb las ich kürzlich bei Bookrix ein Essay von Johann Gottfried Herder, Briefe zur Beförderung der Humanität. Vielen Dank an Karl, alias Sternwald11
Ein wunderschönes Essay.
Der kleinere der beiden Jungs kam dazu und ich sagte ihm auf die Frage, und,... was geht?, dass ich das Gelesene nur schwer verstehen kann.
Er schlug vor, es laut vorzulesen und so lagen wir auf dem Sofa und er begann.
Als wir fertig waren, uns ausgetauscht hatten, war ich der Meinung, dass Herder wundervolle Dinge geschrieben hat und mein Jüngerer stimmte mir zu. Er sagte:
Ey, der Herder ist der Oberburner Instant King für mich. Noch vor Goethe.
Und seine Gestik unterstrich das Gesagte und die Ernsthaftigkeit der Aussage so: Sein rechter Arm ging im Bogen nach oben. Mit seiner Hand, er ließ Zeige und Ringfinger sowie den Daumen abgespreizt, zum Laptop
zeigen und ein Yeah! rufen. So beendete er seine, mir durchaus wichtige, Meinung.
Er verließ mein Zimmer und ich schaute ihm nach, glücklich, dass der an Goethe und Herder interessiert ist, aber unfähig zu handeln, weil ich mir sicher bin, ihm die deutsche Sprache nach bestem Wissen und Gewissen beigebracht zu haben und nun glaubte ich, es mit einem Alien von einem Stern ganz weit weg zu tun zu haben.
Die L- Form meines Flurs erlaubt es uns, im kürzeren Stück des L einen großen Esstisch aufzustellen, an dem wir gern Alle zusammen Essen, mit Freunden Spieleabende haben und ausgiebig Kaffee trinken oder die Probleme des Tages besprechen.
Wir legen Wert darauf, wenigstens eine Mahlzeit am Tag dort gemeinsam einzunehmen und, sofern das möglich ist.
Vor einigen Wochen begann mein Dienst an einem Samstagmorgen. Die Arbeit war schon um 13.00 Uhr getan und mein Mann, der ausschlafen konnte, hatte das Mittagessen um 14.00 Uhr fertig. Ich kam also von der Arbeit und wir setzten uns zum Essen.
Die Jungs hatten schon am Abend zuvor das Wochenende eingeläutet und waren mit ihren Freunden gegen 21.00 Uhr aus der Wohnung verschwunden.
Mit einem Tschüss Maaarm, love you, und einem Kuss von Beiden auf meiner Wange, zwanzig Euro weniger in meiner Tasche, kehrte plötzlich Stille ein.
Mit bester Wochenendstimmung ging es ins Leben hinaus und wer weiß, was das Leben in dieser Nacht für die Beiden bereithalten sollte. Wenn sie die Wohnung an solchen Abenden verlassen, frage ich mich, wo meine Unbeschwertheit geblieben ist und ich gönne ihnen diese Freiheit der Jugend, die auch ich so gern und bis zum letzten Tropfen ausgekostet habe.
Der Jüngere war, als wir beim Mittagessen saßen, noch nicht aus seinem Zimmer heraus gekommen. Wir fragten ihn nicht, ob er sich zu uns setzen wolle, wahrscheinlich schlief er noch halb. Der Große war gar nicht nach Hause gekommen. Vermutlich tanzte er noch irgendwo oder grillte am See.
Wir zwei erwachsenen (alten?) Leute, mitten im Leben, von den Verpflichtungen geführt und gebremst, saßen dort und aßen, planten unser, wahrscheinlich ruhiges, Wochenende.
Plötzlich hörte ich Schritte im Treppenhaus, das große Alien kam nach Hause. Er steckte seinen Schlüssel von draußen in die Tür und schloss auf.
Er drehte sich beim Betreten der Wohnung halb nach links und sah uns dort unser Mittagessen einnehmen.
Ein freundliches Lächeln erstrahlte auf seinem Gesicht, welches, zumindest mir sagte, dass die Nacht erlebnisreich und aufregend gewesen war.
Er trug riesen Kopfhörer auf den Ohren, eine Röhrenjeans, ein Shirt mit dem Aufdruck 04277 und eine braune Jacke mit bunten Streifen über der Brust. Die Bauchtasche hatte er, wie immer, dabei und seine Schuhe ließ er vor der Tür stehen.
Sein Gesicht war fast völlig von einer blauen Plastiksonnenbrille verdeckt, die mit einer weißen Umrandung versehen war, was sie ungeheuer groß erscheinen ließ.
Ich sah seine Augen durch das braune Glas nicht.
Er hob den rechten Arm und nur sein Zeigefinger war nach oben gerichtet. Das Einzige, was er sagte war Jooo! In diesem Moment öffnete der Kleine die Tür zu seinem Zimmer. Er trug nur seine Shorts, was mir sagte, dass ich Recht hatte, er hatte noch geschlafen. Er sah den Großen, der ging auf den Kleinen zu, der Kleine sagte im ruhigen Ton, Jooo.
Der Große nahm die Hand des Kleinen, ihre Körper bewegten sich aufeinander zu und ihre rechten Schultern berührten sich. Gleich danach berührten sich ihre Köpfe leicht an der Stirn und sie schauten sich freundschaftlich in die Augen. Der Große sagte, Jo man Alter, Alles klar? und der Kleine antwortete, Joo!
Ein wohlwollendes Kopfnicken des Großen bedeutete wohl, dass er sich freute, dass auch der Abend des Kleinen ein Erfolg war und dass sein Abend ebenfalls befriedigend geendet hatte.
Der Kleine lächelte den Großen an, nickte ebenfalls und die "Unterhaltung“ der Beiden war beendet.
Ich bin mir sicher, sie hatten sich in dem Moment mit diesen Bewegungen und Geräuschen so viel gesagt, sich die Nacht erzählt, sich einen ruhigen Tag gewünscht, sich möglicher Weise sogar für den Abend miteinander verabredet und sich gesagt, dass sie sich mögen.
Der Kleine schaute noch kurz zu uns, lächelte und schloss die Tür hinter sich wieder. Der Große ging zur benachbarten Tür, hob noch kurz seine Hand in unsere Richtung und verschwand in seinem Zimmer. Mein Mann und ich schauten uns an. Er hob die Schultern und ich schaute nur, mein Mann sagte:
Ich weiß es auch nicht!
Ich blieb still.
Der Schlüssel drehte sich im Schloss der Tür des Großen und ich sollte beide Aliens an diesem Tag vor sechs Uhr abends nicht wieder sehen.
Bild: from the happiest girls alien
Tag der Veröffentlichung: 08.04.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Oli und Nils. Danke, dass ich teilhaben durfte.