Cover

Prolog

 

Vor ihnen erstreckte sich die Erde, tausende von Meter weit. Ein runder Ball voller Leben, Lichter vibrierten an seiner Oberfläche und spazierten in kurzen Bögen von einem Fleck zum anderen. Von hier aus konnte man alles genau sehen, jedes Auto, jedes sich umarmende Paar, jedes nächtlich erleuchtete Gebäude. Es war ein wunderbarer Anblick der Alex mit einer Wonne von Glücklichkeit erfüllte und es kam ihn kurz in den Sinn, sich einfach in diese Welt fallen zu lassen und von ihr aufgesaugt zu werden wie in ein schwarzes Loch. Sie saßen auf einem Abhang, weit weg von der Welt, an einem Ort an dem es weder Wasser noch Luft noch sonst ein Element gab das den Menschen bekannt war. Es war einerseits leer, andererseits gefüllt mit Lichtern und Farben, mit leisen, säuselnden Tönen und beschäftigten Wesen die die Ruhe auf der Erde aufrechterhielten. Kleine Wesen, Wesen mit Flügelchen und Kopfbekleidung, reich bekleidet in Gold und Kristallen. Auf einer Art ähnelten sie den Menschen, sie hatten genauso wie sie Gesichter und auch ihre Körperstruktur war der der Menschen ähnlich. Trotzdem umgab sie eine vollkommen andere Aura, etwas Gebanntes, Magisches. Wie verzaubert betrachtete Alex das auf der Erde herrschende Spektakel, die Menschenmassen die umherrannten, als eine sanfte Berührung ihn aus seinen Träumen riss. Er wirbelte herum und blickte dem warmen Lächeln von Lydia entgegen. Die Abendlichter ließen sie schöner erscheinen als sonst, und Alex überkam die Lust, sie an sich zu reißen. Die Vernunft überwog jedoch, stattdessen blinzelte er sie fragend an. »Schöner Abend, nicht wahr? Ezra hat schon den Mond heraufbeschworen«, begrüßte sie ihn und ließ sich neben ihm nieder. Kleine Blümchen in allen existierenden Farbenkombinationen schmückten die Wiese, auf der sie zusammen saßen. »Ja, es ist wunderbar. Ich wünschte, ich könnte für einen Tag einer von ihnen sein«, gestand er und bereute sofort seine Worte. Lydia würde sie nicht verstehen – niemand wollte hier ein Mensch sein. Menschen waren sterblich und machtlos. Doch Lydia rümpfte weder ihr Näschen noch hielt sie ihm lange Reden, sie legte ihren Kopf auf seine Schulter und schloss ihre Augen.

»Wir sind nicht dafür geschaffen wie sie zu sein. Wir sind dazu verdammt, auf ewig zu dienen und die Aufgaben zu erfüllen, die uns auferlegt wurden«, sagte Lydia ruhig. Sie hat wohl Recht, dachte Alex, doch insgeheim hoffte er, irgendwann mal etwas erleben zu dürfen was dem nahe kam, was er dort unten beobachten konnte. Irgendwo auf der Welt wurde ein Kind geboren, die erschöpften Eltern versammelten sich um ihr Neugeborenes und weinten dicke Freudentränen. An einem anderen Fleck erlebte ein Mädchen gerade ihren ersten Kuss, ihr Herz raste wie verrückt und Endorphine jagten durch ihren kleinen, zierlichen Körper. Alex saugte das alles auf wie ein Schwamm, das nervöse Zittern, die schwitzigen Hände und die vor Aufregung pochenden Herzen. Dann richtete er sich langsam auf, so, dass Lydia noch rechtzeitig ihren Kopf wegziehen konnte. Sie schob sich eine lange, helle Strähne hinters Ohr und schaute an Alex hinauf. »Da wir gerade von Aufgaben reden – es wird ziemlich dunkel und auch ich hab noch eine Menge zu erledigen«, verkündete er und nickte ihr verabschiedend entgegen.

Nur wenige Minuten später durchzog ein weites Sternennetz den Nachthimmel über der Erde. Alex hüpfte von Stelle zu Stelle und verteilte die funkelnden Gesteinsbrocken im dunklen Nichts. Nachdem sein Werk vollendet war hielt er einen kurzen Moment inne und warf einen Blick auf die nun schlummernden Menschen. Eine himmlische Ruhe hatte sich über den Planeten gelegt. Morgen wurde es weitergehen wie zuvor. Jemand würde die Sonne heraufbeschwören, ein anderer dafür sorgen, dass die Menschen mit reichlich Wind und Stürmen versorgt wurden. Jede Nacht machte sich Alex daran, den Menschen ein Kunstwerk aus hellen Sternen darzubieten. Das war der Lauf der Dinge dort oben, und daran durfte sich einfach nichts ändern.

Alex lehnte sich zurück und genoss das letzte bisschen Ruhe.

Wie gerne er jetzt auch in einem hölzernen Bett liegen würde, auf einer Matratze mit Daunenkissen, neben Lydia. Wie sehr er sich wünschte sterblich zu sein!

1

 

»Sind da Spuren von Erdnüssen in dem Baumkuchen? Ich bin allergisch und könnte deswegen leicht im Krankenhaus landen«, maulte der gut genährte Mann und rückte seine Hornbrille zurecht, musterte die Speisekarte intensiv.

»Ich denke nicht«, sagte ich leise und klammerte meine Hände um den kleinen Block in meiner rechten Hand. Es war kurz vor Ladenschluss und eine Gruppe Touristen hielt es für eine gute Idee, noch für einen Abendssnack vorbeizuschauen. Das Restaurant gehörte meiner Tante und da ich selbst so gut wie pleite war nutzte ich jede kleine Möglichkeit, etwas Geld dazu zu verdienen. Hätte ich gewusst, dass hungrige Menschen so lästig seien können, hätte ich den Job bestimmt nicht angenommen. Die Dame mittleren Alters am anderen Ende des Tisches leckte sich genüsslich den Finger und blätterte um. Es kam mir fast so vor, als würden sich die laminierten Seiten des Menüs in Zeitlupe drehen. Langsam sanken meine Augenlider, doch die Gäste kamen ihnen zuvor.

»Wir nehmen zwei Stücke Baumkuchen. So, das ist jetzt endgültig entschieden. Und machen sie uns bitte noch zwei Cappuchinos. Dankeschön!« Ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen stopfte die Dame mir die Speisekarten in die Hand und ich es fiel mir schwer alles gleichzeitig zu balancieren, ohne den Kugelschreiber und den Block in meiner Hand fallen zu lassen. Seufzend schwang ich hinüber zum Küchenfenster und kritzelte die Bestellung auf eines der Blätter, riss es ab und befestigte es mithilfe einer roten Wäscheklammer an einem Faden der sich durch die kleine Küche zog. Aufgeregt huschte meine Tante herüber und las sich die Bestellung durch. »Katie! Du kannst schon gehen, wenn du möchtest. Ich will dich nicht unnötig lange arbeiten lassen, so eine schlechte Chefin bin ich nicht«, sagte sie und mir kamen vor Erleichterung fast die Tränen. Ich hatte einen langen Tag hinter mir und sehnte sich zunehmend nach einer heißen Dusche und meinem gemütlichen Bett daheim. Dankend nickte ich ihr zu und löste die Schürze von meiner Hüfte.

Draußen war es bereits stockdunkel. Es war Sommer hier in Missouri und die Luft lag dicht und still da, so dicht, dass es mir fast schwer fiel vernünftig zu atmen. Nachdem ich meinen Rucksack auf dem Beifahrersitz verstaut hatte stellte ich den Motor an und fuhr meinen kleinen, alten VW in Richtung Autobahn. Das Restaurant lieg etwas außerhalb der Stadt, was meiner Tante ganz recht war. Ihre Kundschaft bestand fast ausschließlich aus LKW-Fahrern und Touristen, die sich auf der Durchfahrt befanden. Und die ließen oft einen guten Batzen Trinkgeld da. Hin und wieder schielte ich zu meinem Handy hinüber, das auf dem Beifahrersitz lag. Neue Nachrichten. Wahrscheinlich von Leo. Ich hatte versprochen, ihm bei seinem Geschichtsprojekt zu helfen, aber das ist mal wieder nichts geworden. Wir waren bereits im Kindergarten beste Freunde und daran hatte sich nichts geändert, aber mittlerweile schien unsere Freundschaft immer mehr zu bröckeln. Ich hatte aufgrund meiner zahlreichen Minijobs kaum Zeit mehr für ihn, und er hatte eine Freundin, die mich nicht ausstehen konnte. Also war unsere gemeinsame Zeit recht beschränkt. Ich hielt kurz an einer Tankstelle an um mir etwas zu trinken zu kaufen und meine Nachrichten zu checken.

 

Leo: Ist das dein Ernst? Das ist das fünfte Mal, dass du dein Versprechen brichst. Du bist mir diesmal echt was schuldig.

 

Ich spülte mein schlechtes Gewissen mit eiskaltem Mineralwasser herunter und lehnte mich weiter in meinem Sitz zurück.

 

Ich: Es tut mir leid. Morgen. 3 Uhr. Im Polly's.

 

Das Polly's war schon immer unser kleiner, privater Treffpunkt für Krisenberatungen gewesen. Es war ein kleines, schlecht besuchtes Café am Rande der Stadt. Es war optisch nicht wirklich auffällig, aber wir liebten es, weil es uns die Privatsphäre bot, die wir brauchten. Und auch wenn das Essen absolut ungenießbar war, bestellten wir uns so gut wie jedes Mal ein kleines Stück Kuchen oder einen schlecht gebrühten Kaffee.

 

Leo: Okay. Du bezahlst.

 

Erleichtert belächelte ich mein Handydisplay und warf es zurück auf den Beifahrersitz. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits halb elf war. Meine Mutter durfte noch nicht zuhause sein. Sie war Krankenschwester und opferte sich ständig für die Nachtschicht auf. Wenn es etwas gab, dass meine Mutter ganz und gar nicht konnte, dann war es Nein sagen. Sie war einfach viel zu gütig, und ich war insgeheim ganz froh, dass es mir nicht so ging. Mein Vater verließ sie als er herausfand, dass sie mit mir schwanger war. Beide waren ziemlich jung und er war einfach nicht bereit dazu, eine so große Verantwortung zu übernehmen. Jahre vergingen und es fiel meiner Mutter immer schwieriger, uns über Wasser zu halten. Irgendwann stieß sie dann auf Jarrod, einen relativ gutaussehenden Handwerker, und der war bereit uns zur Seite zu stehen und entwickelte sich letztendlich zu meinem Vater. Es war uns schon immer schwer gefallen, genug Geld einzubringen. Das war unter anderem auch der Grund dafür, dass ich mir mehrere Minijobs zugelegt hatte.

Ich drückte ein paar Knöpfchen auf dem Armaturenbrett bis leise Radiomusik ertönte und kurbelte das Fenster herunter. Es war etwas schwül, der angenehme Fahrtwind prickelte erlösend auf meiner Haut und erquickte mich. Dieser Weg war mir allzu vertraut, obwohl hier alle Straßen gleich aussahen fand ich mich immer zurecht. Da war das Haus der Atkinsons, die kleine Gartenlaube die an das Backsteinhaus angrenzte, die Parkbank die an die schmale Straße angrenzte, der Maschendrahtzaun der das Anwesen von Mr. Philips vor Streunern und Mardern schützte.

In der Ferne flackerte das Licht einer Straßenlaterne auf und es dauerte einige Sekunden, bis ich erkannte, dass neben ihr etwas auf dem Boden kauerte. Zuerst hielt ich es für einen Müllsack, den jemand fälschlicherweise dort liegengelassen hatte, aber das Etwas begann sich langsam zu strecken und zu bewegen. Mein Herz setzte fast aus, ich riss das Lenkrad zur Seite und hielt kurz am Bürgersteig. Tatsächlich schien es lebendig zu sein. Ein zusammengekauerter Mensch, der zu träumen schien und verwirrt um sich griff. Auch ein Obdachloser schien es nicht zu sein – es war ein Mann, nein, - ein Junge. Er war ungefähr in meinem Alter und sah gepflegt aus, etwas benebelt, ja, aber gepflegt. Ein Partygänger, der ein bisschen was intus hatte und den Weg nach Hause nicht mehr fand? Möglich. Ich musterte ihn durchdringend um herauszufinden, ob mir sein Gesicht bekannt vorkam. Dabei vergaß ich fast zu schlucken, mein Hals brannte rau und meine inzwischen feuchte Hand suchte nach der Wasserflasche. Plötzlich hob er den Kopf und starrte mir direkt ins Gesicht. Erschrocken ließ ich meine Hand sinken. Er hatte dunkles, dichtes Haar und einen etwas gebräunten Teint. Seine Augen funkelten mich hell an, fast so, als würde er um Hilfe schreien. Aber er regte sich nicht und machte auch keine Anstalten, sich zu bewegen. Die Kleidung die er trug erinnerte nicht an Party – er trug ein viel zu weit geschnittenes, weißes Hemd und eine schwarze Stoffhose. Seine Füße waren nackt und seine Fußsohlen schwarz und blau vom Laufen. In meinem Kopf kämpften die Gedanken miteinander. Etwas in mir schrie, dass ich mich so schnell wie möglich verziehen sollte. Er könnte ein Mörder oder Vergewaltiger sein, und er war verdammt merkwürdig gekleidet. Andererseits hörte ich die Stimme meiner Mutter sagen: Es geht ihm schlecht. Biete ihm deine Hilfe an. Nach Minuten des stillen Debattierens entschloss ich mich dazu, ihm wenigstens einen Schluck Wasser anzubieten.

Vorsichtig öffnete ich die Tür und griff nach meiner Wasserflasche, warf sicherheitshalber einen Blick zum Unbekannten. Keine einzige Bewegung. Mit schmerzendem Magen bewegte ich mich auf ihn zu und hockte mich in ein paar Meter Entfernung vor ihm hin, um ihm direkt in die Augen sehen zu können. Dunkelrote Augenringe zierten seine großen, grauen Augen und ließen ihn älter aussehen als er wahrscheinlich war. Als er mich erkannte, weiteten sich seine Pupillen.

»Geht es dir gut?«, vergewisserte ich mich und streckte meine Hand mit der Wasserflasche zu ihm aus.

»Gut? Ich … ich weiß nicht«, stammelte er und sah sich um, als hätte er keine Ahnung, wo er sich befindet. Dann fixierten seine Augen die Wasserflasche und wanderten um Erlaubnis bittend zu meinem Gesicht. Ich nickte stumm und schwenkte die Flasche hin und her, um ihm zu signalisieren, dass sie nun ihm gehörte.

Dankbar nahm er sie an und führte sie sich an den Mund. Mit dem ersten Wassertropfen auf seiner Zunge erhellte sich sein Blick, er saugte gierig daran und verschlucke sich schließlich, hustete heftig los. »Wasser? Das ist Wasser!«, erkannte er in der Stimme eines Forschers, der gerade ein vollkommen neues Gebiet entdeckt hatte. »Ja, das ist Wasser«, lachte ich nervös und sah mich zum Auto um. Ich hatte getan, was mir meine Mutter gesagt hatte. Jetzt war es Zeit für mich nach Hause zu fahren. Langsam richtete ich mich auf, doch er griff nach meinem Handgelenk. Mein Herz schlug gegen meinen Brustkorb. Was, wenn er doch ein Verrückter war? Doch er schien mich nicht verletzen zu wollen. Stattdessen stellte er sich hin und ich musste mit Entsetzen feststellen, dass er mindestens zwanzig Zentimeter größer war als ich. Er betrachte mich genau, prüfte mich von oben bis unten und ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss.

»Wo bin ich?«, fragte er schließlich und rieb sich den Schädel.

»Eh … Mill Road. Hast du dich verlaufen? Wo kommst du her?«, antwortete und fragte ich zugleich.

Seine stahlgrauen Augen wanderten zum Himmel hinauf, als würde er darauf hinweisen. Dann schenkte er mir seine Aufmerksamkeit.

»Ja … Ich meine, nein. Ich weiß einfach nur nicht, wo ich hin soll. Ich habe kein Zuhause«, meinte er und seine Stimme zitterte leicht, vor Verzweiflung oder Unsicherheit.

»Oh, ein paar Meter von hier ist ein Hostel«, sagte ich matt und zuckte mit den Schultern. Wie viel hatte der Typ getrunken?

»Nein, ich habe kein … Kein Geld«, stammelte er und hielt sich, sich seiner miserablen Lage bewusst, den Kopf. Ich schluckte. Ich konnte ihn wohl kaum mitnehmen. Schließlich kannte ich ihn nicht.

»Es tut mir leid«, entfuhr es mir bloß und ich drehte mich langsam zum Auto um. Zunächst blieb er wie angewurzelt stehen, immer noch durch und durch verwirrt. Dann lief er auf mich zu und klopfte an die Fensterscheibe.

»Bitte hilf mir«, flehte er und sah sich panisch um. Ich fuhr instinktiv die Fensterscheibe hoch und spürte, wie mein Herz drohte zu zerplatzen. Ich schwebte in Gefahr. Das war ein Fremder, ein großer, gut gebauter Fremder! Ich hätte nicht aussteigen sollen. Ich hätte ihm nicht meine Hilfe anbieten sollen.

»Ich kann dich zum Hostel bringen«, wiederholte ich, weil es der einzige Kompromiss war, der mir eingefallen war.

»Ich kann dir ein Zimmer für eine Nacht bezahlen«

Sein Gesichtsausdruck hellte augenblicklich auf. Er verbeugte sich vor mir, und mir war diese Geste unangenehm. Dann entsicherte ich das Auto und bedeutete ihm, sich auf den Beifahrersitz zu schwingen. Seine Augen weiteten sich erneut beim Anblick meines Autos. »Das ist also ein Auto«, flüsterte er leise und strich mit einer Hand über das Armaturenbrett. »Bist du ein Amish oder so?«, fragte ich verwundert und fuhr los, um das Theater so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Seine dunklen Locken fielen ihm ins Gesicht und erst im fahlen Licht der Straßenlaternen erkannte ich, dass er von oben bis unten durchnässt war. Was auch immer er erlebt hatte, es war sicherlich nicht einfach gewesen.

Meine humoröse Frage blieb unbeantwortet und schon nach wenigen Minuten hielt ich vor dem Hostel. Ich drückte ihm etwa dreißig Dollar in die Hand und wartete darauf, dass er verschwand. Unerwarteterweise griff er gleich nach meiner Hand und drückte sie, führte sie dann vorsichtig zu seinen Lippen um dann den Handrücken zu küssen. Die Berührung jagte mir ein Zittern über den Rücken und ich zog die Hand schnell weg.

»Also … Gute Nacht«, drängte ich ihn.

»Danke für alles. Gute Nacht«, flötete er und verschwomm mit der Dunkelheit. Ich sah nur noch, wie seine Silhouette im grellen Licht des Hostels verblasste. Dann griff ich mir mein Handy.

 

Ich: Ich habe gerade etwas verdammt Merkwürdiges erlebt.

2

 Leo nippte gerade an seinem Eistee als ich Polly's betrat. Wie üblich hatte ich mich verspätet – ich konnte mir es einfach nicht leisten, früher mit der Arbeit aufzuhören. Dementsprechend sauer schien Leo zu sein. Er fuhr sich durch sein kurzes, hellbraunes Haar und beäugte mich kritisch als ich ihm entgegenkam.

»Sorry!«, platzte es aus mir heraus und ich warf mich müde auf den Stuhl ihm gegenüber. Er zuckte apathisch mit den Schultern und schlang den Eistee hinunter. Heute war es noch wärmer als gestern.

»Wie läuft das Projekt?«, informierte ich mich vorsichtig, in der Hoffnung, er hatte nicht alles ganz alleine gemacht.

»Gut, gut. Bin fertig« Ein Knoten bildete sich in meinem Magen und ich winkte schnell die Kellnerin zu unserem Tisch, um von dem unangenehmen Thema abzulenken.

Auch Leo schien nicht mehr darüber reden zu wollen und wechselte schließlich zu einer anderen Angelegenheit. »Was sollte die Nachricht gestern?«, wollte er wissen und stierte mich neugierig, aber ebenso wütend an.

»Da war ein echt merkwürdiger Typ der nicht wusste, wohin er soll. Ich hab ihm ein wenig geholfen aber die Geschichte ist mir bis in den Schlaf gefolgt«, erzählte ich. Tatsächlich hatte ich kaum Schlaf bekommen, weswegen ich mir gleich einen besonders starken Kaffee bestellte. Leo rümpfte sein kleines Näschen und rührte desinteressiert mit seinem Strohhalm im Glas herum. »Hat bestimmt einen Drink zu viel gehabt. Das passiert in letzter Zeit oft. Auch mir« Ich konnte mir ein Schmunzeln bei der Erinnerung an die letzte Hausparty nicht verkneifen, bei der Leo schon nach ein paar Gläsern Pfirsichschnaps Schlangenlinien gelaufen war. Dann nickte ich und versuchte den Typen aus meinem Kopf zu schütteln. Ich hatte ihn gar nicht nach seinem Namen gefragt. Aber nun, da ich ihn wohl nie wieder sehen würde, war mir das auch egal.

»Wie geht es Rachel?«, fragte ich, ein Hauch Sarkasmus umspielte meine helle Stimme. Rachel war Leos Freundin und sie nahm ihn ständig in Anspruch – Dann, wann ich mal Zeit hatte und etwas mit ihm unternehmen wollte. Sie konnte mich nie leiden, weil ich zu eng mit ihm befreundet war. Dabei war nie etwas zwischen uns passiert, wir verhielten uns fast so wie Geschwister. Leo lachte nervös und gestikulierte um sich. »Keine Ahnung. Ich habe gestern glaube ich etwas falsches gesagt, seitdem redet sie nicht mehr mit mir«

Er schüttelte verständnislos den Kopf. »Frauen«, brummte er. Die Anmerkung nervte mich zwar ein wenig, aber ich wollte mir es nicht schon wieder mit Leo verspaßen, also sah ich darüber hinweg. Stattdessen fragte ich ihn nach dem Obdachlosen von gestern aus.

»Kennst du zufällig einen etwa 1.85 Meter großen Typen mit dunkelbraunen Locken und hellen Augen?«

Leo zog skeptisch eine seiner dichten Augenbrauen hoch.

»Wieso? Hast du jemanden kennengelernt?«

Ich war mir nicht sicher, ob etwas Eifersucht oder bloß eine Art brüderlicher Beschützerinstinkt in seiner Stimme mitschwang. Schnell schüttelte ich den Kopf. Er nahm sich etwas Zeit, um zu überlegen. Dann schüttelte auch er schließlich seinen Kopf.

»Nein, keine Ahnung«

 

Nach dem Treffen mit Leo beschloss ich, bei der Bücherei vorbeizufahren und mir ein paar neue Bücher auszuleihen. Zwar kam ich in letzter Zeit kaum dazu, welche zu lesen, aber ich fand es immer schön sie auf Vorrat zu haben. Ich las normalerweise mindestens eine Stunde vor dem Einschlafen, es beruhigte mich ungemein. Ich fuhr an dem Hostel vorbei, an dem ich gestern den Fremden abgesetzt hatte und versuchte einen Blick durch die dunkel gefärbten Fenster zu werfen. Nichts. Keine Menschensseele. Er war bereits aufgebrochen. Etwas erleichtert fuhr ich weiter, als ich ihn sah. Er hatte sich auf die Mauer neben der Straßenlaterne gesetzt, unter der ich ihn gestern entdeckt hatte. Diesmal saß er aufrecht und streckte seinen Rücken durch. In seiner linken Hand hielt er die Wasserflasche, die ich ihm gestern freundlicherweise überlassen hatte. Als seine Augen das Auto fanden, sprang er auf wie ein wildes Reh und lief zur Beifahrertür. Mit einem lauten Quietschen hielt das Auto und ich kurbelte die Scheibe etwas herunter, um ihn hören zu können.

»Du bist es!«, erkannte er und sah dabei unglaublich glücklich aus, so wie ein Labrador der sein Herrchen seit Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. »Wieso hockst du hier wieder?«, wollte ich wissen. Ich sagte es hysterischer als geplant, aber das schien ihn nicht abzuschrecken. »Ich sagte doch, dass ich kein Zuhause habe«, wiederholte er sein gestriges Wort und lehnte sich gegen das Auto. Hinter mit fing ein Jeep an zu hupen und ich fuhr an den Straßenrand, um den Vekehr nicht weiterhin zu blockieren. Er öffnete ungefragt die Tür und kam näher, um sich besser mit mir unterhalten zu können. Er hatte geduscht und sah um einiges frischer aus als gestern. Seine Haare waren etwas gelockt und dunkel, sie glänzten im Licht. Er hatte hohe Wangenknochen und ein markantes, aber hübsches Gesicht. Ich errötete als ich merkte, wie attraktiv ich ihn eigentlich fand. Im fahlen Licht der Straßenlaterne war mir nicht aufgefallen, mit was für einem hübschen Typen ich es eigentlich zutun hatte.

»Sag mal, wie heißt du eigentlich?«, fragte ich. Wieder zitterte meine Stimme und ich hatte Lust, mir selber vor die Stirn zu hauen.

»Alex« Ein leichtes Lächeln umspielte seine rosanen Lippen und ließ ihn plötzlich warm und erscheinen. 

Es hüllte ihn in ein vollkommen anderes Licht, das ein seltsames Kribbeln in meinem Bauch auslöste. Ich versuchte es herunterzuschlucken.

»Gut, es freut mich dich kennenzulernen, Alex. Aber ich weiß wirklich nicht wie ich dir helfen soll«, versuchte ich mich herauszureden und wandte meinen Blick von ihm ab. Nun sah er traurig, fast erschüttert über meine Antwort aus und starrte gedankenverloren auf den Sitz zu meiner Rechten. Ich schluckte. Konnte ich ihn wirklich alleine zurücklassen? Schnell verschte ich mir einzureden, dass ich ihn überhaupt nicht kannte und das ein enormes Risiko barg. Aber ich konnte nicht anders als zu glauben, dass er die Wahrheit sagte. Ich merkte es für gewöhnlich wenn Leute mich anlogen, und Alex erschien wirklich aufrichtig zu sein.

»Ich werde es wieder gutmachen«, versprach er und faltete seine großen, dünnen Hände ineinander, als würde er mich anbetteln. Mir entfuhr ein lauter Seufzer und ich sperrte etwas skeptisch die Beifahrertür weiter auf. »Setz dich«, befahl ich ihm unsicher.
»Du kannst erst mal bei mir bleiben«

3

 

Die Autofahrt nach Hause war unglaublich peinlich. Niemand sprach ein Wort, aber ich spürte wie sein Blick unablässig an mir haftete. Es war, als würde er jedes Detail meines Gesichtes analysieren und auswerten. Es war mir fast so, als hätte ich mich ihm auf dem Silbertablett serviert. Dabei hatte ich ihn noch nicht mal nach seinem Alter gefragt, sondern war einfach blind davon ausgegangen, er sei ungefähr in meinem Alter. Ich versuchte ihn indirekt danach zu fragen. »Gehst du zur Schule?«, fragte ich leise und wagte ab und zu ein paar Blicke zu ihm. »Ich war noch nie in der Schule«, antwortete er. Super, dachte ich mir, diese Antwort war nicht wirklich aufschlussreich.

»Wo wohnen deine Eltern?«

»Ich habe keine Eltern«

»Man kann nicht keine Eltern haben!«

»Ich habe wirklich keine«

Erneut seufzte ich laut auf, parkte vor der Garagentür unseres kleinen Häuschens. Nun wurde mir bewusst, dass ich meinen Eltern irgendwie erklären musste dass ich einen Obdachlosen bei uns wohnen lassen wollte. Zumindest nur für ein paar Tage, so viel war sicher. Sollte er nicht mehr über sich preisgeben, würde ich ihn früher oder später rausschmeißen müssen.

Ich ging nervös auf und ab und durchwühlte meinen Kopf nach nachvollziehbaren Ausreden, die bei meinen Eltern ziehen könnten. Sein Haus ist abgebrannt. Seine Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen und er hat niemanden mehr. Letztlich entschied ich mich dafür, ihnen einfach die Wahrheit zu sagen. Ich fischte meinen Schlüsselbund aus der Hosentasche und winkte Alex, der gerade dabei war, den Hund der Nachbarn zu bespaßen, zu mir. Der Anblick des Hundes schien ihn völlig aufgelöst zu haben.

»Da wo du herkommst gibt es nicht so viele Tiere, was?«, spaßte ich und zog eine Grimasse. Er nickte stumm und wartete darauf, dass ich die Tür aufsperrte.

Im Wohnzimmer schlummerte mein Vater auf der Couch. Nachts konnte er nie schlafen – dafür machte er zahlreiche Nickerchen, die er in regelmäßigen Abständen über den Tag verteilte. Es dauerte nicht lange bis meine Mutter mit einer Tasse Kaffee in der Hand aus der Küche zur Tür hinüberschielte. Bei dem Anblick des Fremden sperrte sie ganz unbewusst vor Schock den Mund auf.

»Ich wusste nicht, dass wir heute Besuch bekommen«, flüsterte sie gerade laut genug, dass wir sie hören konnten.

»Ja, Mom, das ist Alex. Wir müssen mal reden-«

»Wieso setzt du dich nicht hin, Alex? Ich bin Margaret, es freut mich wirklich, dich kennenzulernen!«, nahm sie Alex in Empfang. Er wirkte zunehmend perplex und nahm ihre ausgestreckte Hand erst nach einigen Sekunden an, schüttelte sie etwas zu fest. Das Funkeln in ihren Augen verriet mir, dass sie so eine Ahnung hatte. Dass das ein Date war, von dem ich ihr nichts erzählt hatte. Aber das war nicht der richtige Zeitpunkt, sie zu korrigieren. Sie schien schon nach wenigen Sekunden von Alex hin und weg gewesen zu sein. Na ja, sie freute sich jedes Mal wenn ich einen Jungen mit nach Hause brachte, der nicht Leo war. Schließlich wollte sie auch irgendwann mal Enkelkinder haben, hatte aber wohl schon die Hoffnung aufgegeben und glaubte insgeheim, dass ich als Jungfrau verkümmern würde. Sie bat Alex in Richtung Küche. »Magst du Kaffee?«, bot sie ihm an, aber er lehnte ihr Angebot dankend ab.

»Er ist nicht einfach nur zu Besuch hier, Mom. Er …« Ich schluckte, weil ich nicht wusste wie sie es aufnehmen würde. »Er ist obdachlos und braucht Hilfe«, erklärte ich ihr viel zu schnell und merkte kaum, wie sehr sich meine Stimme überschlug. Trotzdem schien sie die Beichte verstanden zu haben, aber statt komplett am Rad zu drehen nahm sie die Nachricht gut auf. Zu gut.

»Wenn das so ist, bist du hier ganz herzlich willkommen!« Etwas verblüfft über diese Reaktion starrte ich sie an und konnte kaum einen Fuß vor den anderen setzen. Und wieder verbeugte sich Alex vor ihr, griff nach ihrer Hand und küsste sie sanft. Ein jugendliches Kichern entfuhr meiner Mutter und sie knuffte seine Schulter leicht, was ihn zu verwirren schien.

»Aber woher hast du denn diese Kleidung? Komm, du kannst dir gerne was von Jarrod leihen. Ich hoffe die Sachen sind nicht zu groß« Ohne auch nur ein weiteres Wort an mir zu verlieren leitete sie das scheinbar neue Familienmitglied die Treppe hinauf. Beim Erklimmen der Treppenstufen löste er den Blick immer noch nicht von mir. Erst als sie außer Sichtweite waren spürte ich etwas, das Erleichterung nahe kam. Müde schmiss ich mich auf's Sofa und weckte dabei ungeschickt meinen Vater. Schlaftrunken griff er nach meinem Arm und rieb ihn sanft. »Ist das dein Freund?«, japste er in einer Oktave die viel tiefer war als seine eigentliche Stimme.

»Nein!«, sprudelte es förmlich aus mir heraus und ich sprang gleich wieder auf, lief in Richtung Zimmer.

4

Die Dusche war nach diesem von Turbulenzen geprägten Tag eine echte Erlösung. Halbnackt stand ich vor dem Spiegel und untersuchte mein Gesicht. Das Starren von Alex erfüllte mich mit Unsicherheit was mein Äußeres anging. Es war, als würde er versuchen nach Fehlern zu suchen, ohne diese offen auszusprechen. Ich hatte ein paar rote Flecken auf meinen mit Sommersprossen besprenkelten Wangen. Meine Haare waren kraus und der Rotton war mir schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Damals hatten sie mich deswegen in der Vorschule aufgezogen. Ja, an mir war wirklich nichts sonderlich schön. Auch meine Figur war eher normal als sportlich oder schlank. Mit einem Mal schämte ich mich dafür, mit jemandem wie ihm zusammenzuleben. Er sah gut aus, zu gut. Das verunsicherte mich und ich wünschte mir, er würde nicht so blendend aussehen, weniger weiße Zähne haben oder weniger athletisch gebaut sein. Zügig wickelte ich mich in ein Handtuch ein und stapfte aus dem Badezimmer. Die Tür des Gästezimmers stand etwas offen und ich konnte nicht anders als hineinzulugen und zu überprüfen, was dort vor sich ging. Alex konnte sonst was aushecken und ich würde nichts davon mitbekommen, wenn ich nicht aufmerksam war! Er stand vor einem Spiegel, der in den riesigen Holzschrank an der Wand eingearbeitet war. Dabei trug er lediglich eine Jeans, er probierte wohl ein paar T-Shirts an, die Jarrod für ihn zusammengelegt hatte. Er und Mom hatten zuvor besprochen, dass er ein paar Wochen bei uns unterkommen könne, und sie dann zusammen zum Jugendamt gehen würden oder eine andere, bezahlbare Wohnung für ihn auftreiben würden. Sie hatten wirklich einen Narren an ihm gefressen. Mir erschien er wie ein unbeholfenes Kind, das fasziniert von Allem durch die Welt marschierte und versuchte sich irgendwo durchzufressen. Ich stockte, als ich dunkle, schwarze Linien auf seinen Armen entdeckte, die sich bis zu seiner Brust über seinen Körper schlängelten und dann wie Äste zusammentraten. Wie ein Tattoo sah es nicht aus, eher wie eine unglaubliche, merkwürdig gefärbte Narbe. Abrupt drehte er sich zur Tür um und bemerkte, wie ich ihn intensiv musterte. Meine Wangen erröteten, und zu allem Überfluss stand ich ihm noch halbnackt gegenüber. »S-Sorry«, stammelte ich und lief wie angeschossen in mein Zimmer. Dort schloss ich die Tür hinter mir ab. Ich zog mich schnell an und fummelte mein Handy unter einem Haufen schmutziger Wäsche hervor.

 

Leo: Sorry, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich und Rachel waren auf dem Jahrmarkt. Ich kann kaum glauben, dass ich rund 130 Dollar dafür aufgewendet habe, um ihr ein dummes Stofftier aus einem Greifarmautomaten zu besorgen.

 

Ich: Leo. Sein Name ist Alex und er lebt bei uns.

 

Leo: Wovon zur Hölle redest du da? Wer ist Alex? Alles okay?

 

Ich: Ich weiß nicht. Der Typ, den ich aufgegabelt habe. Er lebt jetzt bei uns, hat keine Bleibe. Ich habe seinen Oberkörper gesehen, er hat total merkwürdige Narben.

 

Leo: Wie bist du dazu gekommen, seinen freien Oberkörper zu sehen?!

 

Ich: Unwichtig. Wir müssen uns treffen. Er jagt mir irgendwie Angst ein. Er redet nicht viel und hat keine Ahnung von den einfachsten Sachen.

 

Leo: Bin gleich da, Katie.

 

Es dauerte tatsächlich nur wenige Minuten, bis die Klingel läutete. Ohne meine Mutter zu begrüßen, die ihm zuvor die Tür geöffnet hatte, stürmte Leo zu mir und hielt mich an den Schultern fest.

»Alles okay?« Eine Schweißperle tropfte seine Stirn herunter. Aus dem Fenster konnte ich sein Mountainbike erkennen, das an der Garage lehnte. Er war tatsächlich hierher geradelt, das war beeindruckend. »Mir geht es gut, beruhig dich«, beschwichtigte ich ihn und deutete zum Sofa, auf dem Alex zusammen mit meinem Vater saß. Dieser zappte gerade durch alle möglichen Fernsehprogramme und erklärte Alex, wie das mit dem Fernsehen funktionierte. Er schien vorher noch nie einen Fernseher gesehen zu haben, was echt komisch war. Egal wie klein das Dorf sein mochte, aus dem er heraufgekrochen war, er musste doch wissen was ein Fernseher war! Alex schien meinem Vater nicht mehr zuzuhören, stattdessen sah er nun Leo an und wartete scheinbar darauf, dass ich ihm Leo vorstellte. Doch das übernahm Leo selbst. Er setze sich neben Alex auf die Couch, vielleicht etwas zu nahe, denn Alex rückte gleich ein kleines bisschen nach rechts. »Ich bin Leo«, lachte er enthusiastisch und gab Alex einen leichten Klaps auf den Rücken. Alex zuckte zusammen und musterte ihn kritisch. »Der beste Freund von Katie. Wir sind praktisch zusammen aufgewachsen«, erklärte er nun und lehnte sich etwas zurück, richtete seinen Blick auf den Fernsehbildschirm. »Katie hat mir schon alles erzählt. Echt krass, dass du keine Bleibe hast. Hast du schon immer hier gelebt oder bist du erst seit kurzem in Missouri?«

Alex räusperte sich. »Nein, ich bin von weit weg«, antwortete er schließlich und schaffte es kaum, Leo anzublicken. Obwohl ich Leos Vorgehenweise etwas schroff und viel zu offensichtlich fand, wagte ich es nicht einzuschreiten. Vielleicht konnte er ein paar Informationen aus ihm herausquetschen. »Ach so. Hey, du hast ja echt kräftige Arme. Machst du Sport?«

Ich hob eine Augenbraue. Ein Obdachloser der Sport machte?

»Nein, nichts der Art« Alex schien sich sichtlich unwohl zu fühlen.

»Gibt es da, wo du hierkommst, keine Fernseher?«, wollte Leo nun wissen und hielt seinen Zeigefinger hoch, er zeigte in Richtung Fernbedienung. »Keine technischen Geräte«, meinte Alex.

»Hört sich fast an als stammst du aus den Tiefen Alaskas«, lachte Leo. »Wo willst du hin?«

Alex' Blick senkte sich. »Zurück dahin, wo ich hergekommen bin«, sagte er, diesmal klang er fast zerbrechlich, »Ich weiß nur nicht, wie ich das anstellen soll«

5

 

Den Rest des Abends verbrachten ich und Leo damit, unsere verlorene gemeinsame Zeit nachzuholen, Karten zu spielen und zu tratschen. Zwar blinkte sein Handy alle fünf Minuten auf, um eine Nachricht von Rachel anzukündigen, aber das störte uns nicht weiterhin. Leo hatte Alex nun offiziell für ungefährlich erklärt – er war einfach nur ein verwirrter, einsamer Spinner der in ein paar Wochen eh von der Bildfläche verschwinden würde. Alex hatte sich in das Gästezimmer verflüchtigt und selbst als ich und Leo an der dünnen Zimmertür vorbeigingen, um zur Haustür zu gelangen, konnte ich keinen Mucks hören. Vielleicht schlief er ja. Der Tag musste anstrengend für ihn gewesen sein. Trotzdem schrillten in mir die Alarmleuchten, jedes Mal, wenn ich mich an die dunklen Narben erinnerte, die seinen schmalen Körper zierten. Sie könnten eine Art Erkennungszeichen sein – etwas, das auf eine verbotene Gang oder so hinweist. An der Tür angekommen schaltete Leo endlich sein Handy ab und vergrub seufzend das Gesicht in den Händen. Ich klopfte ihm beruhigend auf den Rücken und konnte mir ein leises Lachen nicht verkneifen.

»Wenn es so schlimm ist, wieso bist du dann mit ihr zusammen?«, fragte ich, ohne etwas provozieren zu wollen. Seine Schultern bewegten sich auf und ab. »Schätze, ich will nicht allein sein«, antwortete er müde. »Du hast doch mich«, spaßte ich. Sein Blick verdüsterte sich, ein Muskel neben seinem Mund zuckte schmerzlich zusammen. Dann nickte er bitter. »Ja, ich habe dich« Es klang fast vorwurfsvoll, und ich verstand nicht, warum er meine Äußerung plötzlich so ernst nahm. »Pass gut auf dich auf. Und sag bescheid, falls der Typ dir wieder Angst einjagt«, lächelte er schließlich und umarmte mich kurz. Auf dem Weg zu den Garagen winkte er mir nur kurz zu ehe er von der Dunkelheit der Nacht verschluckt wurde.

 

Meine Eltern saßen dicht aneinandergelehnt auf der Couch und schauten sich gerade die Nachrichten an. Da ich noch nicht müde war und nicht wusste, was ich sonst tun sollte, setzte ich mich einen Moment neben sie. Meine Mutter schien davon überrascht zu sein. Sie streckte ihre Hand nach mir aus und rieb mir liebevoll die Wange. Schwach lächelte ich die beiden an. Mein Vater begann leise zu schnarchen. »Mom, findest du ihn nicht merkwürdig? Alex«, fragte ich leise, um Dad nicht aufzuwecken. Sie schüttelte den Kopf. »Er erinnert mich ein wenig an meinen Bruder. Er ist etwas verwirrt. Wer weiß, vielleicht hatte er eine Gehirnerschütterung?« Ich verzog das Gesicht. Wenn er eine gehabt hätte, dann würde sich das noch auf andere Weisen äußern.

»Mach dir keine Sorgen, Liebes. Wir werden ihn nicht ewig hier behalten. Uns ist klar, dass wir so gut wie nichts über ihn wissen. Aber es liegt einfach in meiner Natur, Menschen in Not zu helfen. Wir gehen morgen mit ihm zum Amt und sehen, was wir tun können«, besänftigte sie mich und verjagte viele der Sorgen, die in meinem Kopf herumschwirrten. Meine Mutter war eine verdammt gute Person. Sie konnte nicht Nein sagen. Das war ihr Verhängnis.

Obwohl ich immer noch nicht vollkommen überzeugt von ihrem Plan war, nickte ich langsam und versuchte mich auf die Nachrichten zu konzentrieren. Nichts Neues – Überschwemmungen, ein paar Überfälle, Präsidentschaftswahlen. Doch eine Nachricht stach besonders hervor.

 

Gang-Mörder auf der Flucht.

 

Auf dem Bildschirm erschienen Bilder vom Tatort – eine Kneipe, der Boden war getränkt in dunkles Rot. Zersplitterte Holzstücke und Werkzeuge waren auf dem Steinboden zerstreut. Nun ertönte die Stimme des Nachrichtensprechers;

»Am Sonntagabend wurde ein junges Mädchen in einer Kneipe am Rande der Stadt umgebracht. Es wird vermutet, dass sie davor stundenlanger Folter ausgesetzt wurde. Der Mörder ist höchstwahrscheinlich ein Mann, der Mord soll einem Gangkonflikt gefolgt haben. Illegale Gruppierungen stünden bereits seit mehreren Monaten auf Kriegsfuß, der Mord sei laut Bekannten der Verstorbenen der Startschuß gewesen«

Ich schluckte und wie automatisch lugte ich zur Treppe hinüber. Stille und Finsternis. Alex machte wirklich keinen Mucks, als würde er gerade etwas planen. Einen Mord? Die hellen Härchen auf meinem Unterarm stellten sich vor Aufregung auf. Meine Eltern waren beide eingenickt ohne die Nachricht gehört zu haben.

Etwas knackte. Und dann kamen Schritte näher. Mein Herz drohte, aus meiner Brust zu springen.

6

 

Die Umrisse einer Person polterten die Treppe hinunter. Er war groß, er hatte schwarze Haare – es war zu hundert Prozent Alex. Und er würde meinem Leben jetzt, wo ich sein Geheimnis kannte, ein Ende bereiten. Ohne mich auch nur einen Zentimeter bewegen zu können, schluckte ich. Alex bewegte sich etwas in meine Richtung, im schwachen Licht der Küchenlampe blitzten seine hellen Augen auf. Doch in ihnen befand sich keine Spur von Hass oder Wut – lediglich etwas wie Trauer.

»Katie«, sagte er leise. Ich atmete tief durch und mein Puls beruhigte sich, er hatte scheinbar nicht vor mir etwas anzutun.

»Ich bekomme das Fenster nicht auf«, fuhr er bittend fort und kratzte sich beschämt am Kopf. Das Fenster? Angst schlug in Verwirrung um und ich schwang mich vom Sofa. »Es ist ziemlich warm«, fügte er hinzu um sich zu rechtfertigen.
»Die lassen sich wie alle anderen Fenster hier öffnen«, erklärte ich ihm. »Hatte dein Haus keine Fenster?«

Er beantwortete meine Frage nicht und ich befürchtete einen Moment lang, ihn irgendwie gekränkt zu haben. Aber sein Ausdruck blieb so leer wie zuvor auch und ich bat ihm, mir zu folgen. In seinem Zimmer angekommen öffnete ich das große Fenster, das dringend mal eine Reinung vertrug, mit einem Knacken und zog es ganz auf. Ein kühler Schwall Nachtluft blies mir entgegen. Hinter mir atmete Alex tief durch. Er trat näher an die Fensterbank um das Geschehen draußen so genau wie möglich beobachten zu können. Dabei stützte er sich im Fensterrahmen ab, seine Schultern berührten meine und ein flaues Gefühl durchzog meinen Magen.

Ich wollte gerade umkehren und mich auf den Weg in mein Zimmer machen, als ich bemerkte wie leer der Himmel diesmal war. Der Mond schien heute Nacht die einzige Lichtquelle zu sein, es war, als hätte jemand alle Sterne aus dem Himmel ausradiert.

»Das ist ja komisch«, flüsterte ich mir selbst zu und spürte Alex' verwunderten Blick auf mir. »Wo sind die Sterne hin?«

Er räusperte sich, schien jedoch selbst keine Antwort auf meine Frage zu haben. Stattdessen starrte er stumm auf das Bild, das sich ihm außerhalb des Hauses bot und stützte sein Kinn nachdenklich auf seinen Händen ab. Ich war mir nicht sicher, was mich noch in seinem Zimmer hielt. Irgendetwas an der Atmosphäre beruhigte mich und tat nach dem Stress des Tages echt gut. Mein Misstrauen Alex gegenüber schwand zunehmend.

»Wieso verrätst du uns nicht, wo du herkommst?«, fragte ich ihn und setzte mich auf einen kleinen Stoffhocker in der Ecke des Zimmers. Ich versuchte meine Stimme so sanft und fürsorglich wie möglich klingen zu lassen, um ihm nahetreten zu können.

Er ließ sich mit dem Antworten Zeit. »Es ist so schwer zu erklären, das ist alles. Ich weiß teilweise selbst nicht, wo genau ich herkomme oder wie ich hier gelandet bin. Es ist so anders. Einfach alles ist so anders hier«, berichtete er ruhig, »Ich dachte ich würde das mögen, aber dem bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich kenne niemanden hier. Zuhause hatte ich Freunde« Ich sah aus meinem Augenwinkel, wie er sein Gesicht in seinen Händen vergrub.

»Ich habe nichts mehr« Ich begann mich schlecht dafür zu fühlen, ihn innerlich für den Mord an einem Mädchen beschuldigt zu haben.

»Ich werde dir helfen, dein Zuhause zu finden«, versprach ich ihm ohne wirklich über meine Worte nachzudenken. Ich hatte eigentlich kaum Zeit um mich noch mit den Problemen eines Anderen herumzuschlagen. Aber in dieser Situation erschien es mir als das einzig Richtige. Seine Augen funkelten heller als üblich und ein schwaches, hübsches Lächeln umspielte seine vollen Lippen. Der Gedanke, in der Nacht in seinem Zimmer zu sein jagte mal wieder pochendes Blut in meine Wangen und ich hoffte dass es zu dunkel warm um das zu erkennen. »Danke«, hauchte er.

Mit einem schnellen, nichtssagenden Nicken verabschiedete ich mich von ihm und schlich hinaus, in Richtung meines Zimmers.

Wie konnte jemand, den ich kaum konnte, so eine heftige Reaktion in mir auslösen?

 

Diesmal kamen mir die fünf Arbeitsstunden am Abend wie eine Ewigkeit vor. Kaum Kunden ließen sich in dem Restaurant meiner Tante blicken, und ich verbrachte den Großteil meines Tages damit, die Tische mit kleinen Paketen Zucker und Milch auszustatten und Speisekarten einzusortieren. Als sich die Tür öffnete, hob sich meine Stimmung in Erwartung eines Gastes, stattdessen bildeten sich ein mir allzu bekanntes Gesicht ein paar Meter vor mir ab. Rachel. Giftig musterte sie mich. Höchstwahrscheinlich wusste sie nicht, dass ich hier kellnerte und spielte mit dem Gedanken, sich wieder umzudrehen und sich ein anderes Restaurant zu suchen. Doch sie hatte Begleitung dabei; Zwei andere junge Mädchen, die fast so aussahen wie Kopien von ihr – unglaublich dünn, blond und in sündhaft knappe Fetzen gekleidet. Normalerweise beurteilte ich keine Menschen nach ihrem Aussehen, aber Rachel und ihre Bande schienen jedes existierende Mädchenklischee zu erfüllen. Eine von ihnen steuerte einen leeren Tisch an und bedeutete mich sofort, ihre Bestellung aufzunehmen. Etwas wiederwillig stapfte ich zu ihnen und zog einen kleinen Block aus meiner Hosentasche.

»Willkommen in Rosie's Diner. Mein Name ist Katie und ich bin ihre Bedienung. Was darf ich ihnen anbieten?«, sagte ich kühl und konnte selbst kaum fassen, wie roboterhaft meine Stimme klang. Hätte Tante Rosie mich so gehört, würde sie rot anlaufen und mir eine satte Standpauke halten. Die Mädchen störte das jedoch nicht, sie beäugten mich etwas abfällig, bestellten dann schnell ihre Drinks. Rosie wartete hinter der Theke auf mich und war dabei, ein paar schmutzige Gläser zu waschen.

»Ich kann nicht glauben dass Satan persönlich in deinem Diner isst«, flüsterte ich ihr zu. Rosie blickte auf und schmunzelte mich an.

»Das wirst du schon überleben, Kleines«

Vorsichtig balancierte ich die drei Gläser Mineralwasser und Diätcola zu ihrem Tisch und stellte es mit einem dumpfen Laut auf der Tischoberfläche ab. Rachel griff selbst nach ihrem Glas, so schnell, dass es zur Seite kippte und sich über meine Jeans ergoss. Ich hatte sie erst vor ein paar Tagen gekauft, von meinem hart erarbeiteten Lohn. Erschrocken blickten die anderen Mädels drein und Rachel fummelte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch, rieb mir damit auf dem Hosenbein rum. »Das tut mir so leid«, flötete sie mit einem Anflug von Schadenfreude. Ich hörte, wie die anderen Mädchen anfingen teuflisch zu kichern und sich schelmisch die Hände vor den mit Lippenstift zugekleisterten Mündern hielten. »Wie ungeschickt ich doch bin«, fügte Rachel hinzu und ließ das besudelte Taschentusch auf den Boden gleiten.

Ich hob es auf und stürmte hinter die Theke, ihre lachenden Fratzen verfolgten mich noch bis zur Küchentür.

7

 

»Was, das hat sie getan?« Leo verzog ungläubig das Gesicht und schlürfte durch einen Strohhalm Eistee. Wir hatten uns sofort nach den Geschehnissen meines lästigen Arbeitstages im Polly's verabredet.

»Das klingt nicht wie etwas, das sie tun würde«, wendete er ein und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Sie hasst mich, Leo«, entgegnete ich ihm und stütze mein Gesicht auf einer meiner Hände ab. Mir entfuhr ein tiefer Seufzer, Leo schüttelte anhaltend seinen Kopf. »Ich kenne Rachel. Die ist nicht so. Sie hasst dich auch nicht, sie will nur so viel Zeit wie möglich mit mir verbringen. Wir sind schließlich ein Paar«

Unfassbar, dass er mir nicht glaubte. Rachel hatte ihn wohl hypnotisiert und zu ihrem eigenen kleinen Schoßhündchen gemacht. Von dem Leo, der mir früher so viel Vertrauen geschenkt hatte, war anscheinend nicht mehr viel übrig. Nicht seit Rachel.

»Wieso vertraute ich dir überhaupt solche Dinge an, wenn du mir so oder so nicht glaubst?«, schnaufte ich.

Leo strich sich eine goldbraune Strähne aus dem Gesicht und dachte einen Moment lang nach.

»Weißt du, ich rede mir ihr. Okay? Ich rede mit Rachel und sage ihr, sie soll dich in Ruhe lassen«, kündigte er schließlich an und zwang sich zu einem halben Lächeln. Unser Gespräch wurde von dem lauten Ertönen der Nachrichten an einem kleinen, an der Wand befestigten Fernseher unterbrochen. Der Mord des jungen Mädchens wurde erneut aufgegriffen, ein paar Bekannte der Ermordeten sprachen über sie und ihr fragwürdiges Umfeld. Sie war ein gutes Mädchen gewesen, hatte sich jedoch mit den falschen Menschen herumgetrieben. Die ganze Sache bereitete mir Bauchschmerzen. So etwas war in unserem kleinen Ort noch nie passiert.

Dann wurde ein weiterer Name eingeblendet – Jessica Bender. Fast verschluckte sich Leo an seinem Getränk, hustend lehnte er sich über den Tisch und suchte meinen Blick. »Das ist Jessica«, meinte er aufgewühlt, »Die Jessica aus meinem Englischkurs«

Ich spürte, wie mir langsam kotzübel wurde.

 

Als ob ich nicht so schon zu viel zu tun hätte, verdonnerten meine Eltern mich noch zum Einkaufen. Sie waren gerade dabei eine zersprungene Lampe im Esszimmer mit vereinten Kräften zu reparieren und hätten selbst keine Lust. Der Supermarkt war nur ein paar Minuten von unserem Häuschen entfernt, also sei es keine so anstrengende Aufgabe. Alex saß seelenruhig am Esstisch und durchstöberte alte Bücher meiner Mom. Er zuckte erschrocken zusammen, als meine Mom ihn ansprach. »Alex, würdest du Katie beim Einkaufen behilflich sein? Du musst nur ein paar Tüten tragen«

Als wäre das selbstverständlich nickte Alex und sprang sofort auf, um mir zur Tür zu folgen. Wie ein Hund.

Wortlos spazierten wir ein paar Minuten nebeneinander her. Wir passierten eine Tankstelle, eine Kita und ein Tierheim. An der evangelischen Kirche stoppte Alex kurz. Er musterte sie eindringlich und versuchte wohl zu verarbeiten, was das eigentlich für ein Gebäude war.

»Bist du religiös?«, fragte ich ihn, auch, weil es mich wirklich interessierte.

»Was ist 'religiös'?«, fragte er zurück und schaute mich völlig verdutzt an.

»Na ja. Gehst du zur Kirche? Betest du? Glaubst du an Gott?« Ich zuckte mit den Schultern und lehnte mich an eine der steinernen Mauern, die die Kirche umgaben.

»Gott? So was gibt es nicht«, sagte er ganz und gar überzeugt, als wäre er selbst mal im Himmel gewesen.

»Und was ist mit dem Teufel? Bösen Geistern, Dämonen?« Ich deutete mit dem Zeigefinger auf eine der Steinstatuen, die den Eingang zur Kirche zierten. Sie stellten Dämonen dar, kleine, tierähnliche Wesen mit scharfen Klauen und Flügeln, dessen bedrohliche Augen jede Bewegung der Besucher einfingen. Geschockt starrte Alex die steinernen Monster an. »Das sollen Dämonen sein?«, hauchte er außer sich und kurz dachte ich, er würde in sich zusammenklappen. Doch das tat er nicht. Stattdessen ging er auf die Statuen zu und analysierte sie aus allen Winkeln.

»Dämonen sehen nicht so aus. Und sie sind auch nicht böse«, erklärte er mir, immer noch aufgebracht. Ich hob beschwichtigend beide Hände und lachte nervös. »Was weiß ich, ich gehe nicht zur Kirche«, stammelte ich um mich zu verteidigen. Er schien deutlich mehr über religiöse Mythik zu wissen als ich.

»Dämonen sind gut. Sie unterscheiden sich äußerlich nicht viel von den Menschen«, belehrte er mich nun und drehte sich um. Scheinbar hatte er genug von dem Thema und stapfte, ohne zu wissen wo der Supermarkt war, weiter.

Es verblüffte mich, dass das Thema Dämonen so eine heftige Reaktion in ihm hervorrief, aber ich wollte nicht weiter nachhaken. Wahrscheinlich ging es mir besser, wenn ich so wenig wie möglich über Alex wusste.

 

Ich war diesmal besonders früh ins Bett gegangen. Die Ereignisse des Tages hatten das letzte bisschen Energie aus meinem Körper gesaugt, und sobald ich in mein Bett fiel, suchte mich schon der Schlaf heim. Doch etwas riss mich mitten in der Nacht aus meinen Träumen. Mit brennenden Augen warf ich einen Blick auf den Wecker – 4 Uhr morgens. Jemand war die Treppen hinuntergelaufen, und da ich einen sehr leichten Schlaf hatte, genügte das um mich aufzuwecken. Taumelnd lief ich zur Tür, war mir aber nicht sicher ob ich wirklich hinausgehen sollte. Ich hatte etwas Angst, schließlich war es stockdunkel und mich könnte dort draußen alles mögliche erwarten. Vorsichtig schlich ich aus meinem Zimmer, nutzte meinen hellen Handydisplay um den Weg vor mir zu erleuchten. Die Tür zum Gästezimmer stand offen – das Bett war aufgewühlt, aber Alex befand sich nicht in ihm. Vielleicht wollte er sich einfach nur etwas zu Trinken besorgen. Doch dann hörte ich eine Stimme. Nicht Alex' Stimme, sondern die einer fremden Person. Es handelte sich um einen Mann, er hatte eine raue, tiefe Stimme. Das Gespräch war undurchsichtig und ich konnte schlecht ausmachen, wovon es überhaupt handelte. Um etwas mehr von ihnen einzufangen, schlich ich ein paar Treppenstufen hinab und blieb oben stehen. Meine Hände waren um das Treppengeländer geschlungen, Angstschweiß trat auf meiner Stirn hervor und ich fühlte mich wie am Rande eines Herzinfarkts. Da war ein mindestens zwei Meter großer Mann, in eine dunkle Robe gehüllt, der leise mit Alex redete. Sie standen mitten im Wohnzimmer. Abrupt beendete der Fremde das Gespräch, doch anstelle die Tür zu nehmen und ganz ohne sich zu verabschieden ging er in schwarzen Rauch auf, verpuffte, so, als wäre er überhaupt nicht da gewesen. Ich schluckte. Alex ging auf die Treppen zu. Schnell und mit beiden Händen über den Mund gepresst rannte ich in mein Zimmer. Ich ließ die Tür einen kleinen Spalt weit offen und beobachtete noch, wie Alex sich im Gästezimmer einschloss.

Was zur Hölle war das?

 

8

 

Beim Frühstück konnte ich Alex nicht ansehen, ohne dass mein Herz begann wie wild zu schlagen. Ich hatte mit dem Gedanken gespielt, meinen Eltern von der Entdeckung der gestrigen Nacht zu berichten, aber spätestens beim Teil mit dem verschwindenen Mann würden sie mich für verrückt erklären. Also blieb ich stumm und würgte mein Müsli so gut runter, wie es nur ging.

»Ich werde heute für ein paar Stunden abwesend sein«, bereitete Alex uns vor. »Ich habe etwas zu tun«

Meine Mutter lächelte ihn verständnisvoll an. »Kein Problem, Alex«

Nachdem er sein Brot aufgegessen hatte, brachte er das schmutzige Geschirr in die Küche und verschwand nach oben. Ich beugte mich über den Tisch um meiner Mutter etwas zuflüstern zu können.

»Mom, wie lange bleibt er noch hier?«, drängte ich und versuchte so besorgt zu erscheinen wie möglich. Mom zuckte ihre Schultern.

»So lange, bis es ihm besser geht«, eröffnete sie und setzte ein überfreundliches Lächeln auf, das mir befahl, nicht so unhöflich zu unserem Gast zu sein. Trotzig stand ich auf und lief schnurstraks zur Küche. Irgendwie musste ich herausfinden, was da vor sich ging. Was Alex trieb. Dann könnte ich es meinen Eltern unter die Nase halten und sie dazu veranlassen, ihn rauszuwerfen. Mir war unwohl dabei mit jemandem unter einem Dach zu leben, der Freunde hatten, die sich in Luft auflösen.

Ich machte mich an meine Hausaufgaben und wartete, bis ich hörte wie sich die Tür zum Gästezimmer öffnete. Durch die geöffnete Tür erkannte ich Alex, er trug einen Rucksack auf dem Rücken und polterte die Treppe hinunter. Schnell schmiss ich meine Unterlagen zur Seite und griff nach meiner Jacke.
Ein paar Minuten nach dem Alex das Haus verlassen hatte stürmte auch ich hinaus. »Bin bei Leo!«, rief ich meiner Mom beim Vorübergehen hinterher.

 

Ich versuchte stets einen guten Abstand zu Alex aufrechtzuerhalten. Er ging zunächst denselben Weg, den wir auch gestern zum Supermarkt gegangen waren. Dann bog er in eine Auffahrt ab, die mir unbekannt war. Es war ein großes, dunkles Anwesen, das aussah, als ob es schon seit Jahrhunderten unbewohnt war. Er machte einen großen Bogen um das Haus und betrat so den Hinterhof, in dem es weit und breit nichts gab außer ein paar Garagen und eine Schubkarre gefüllt mit Backsteinen. Aus der verrosteten Hintertür des Hauses kroch eine mir fremde Person, ein Mann, groß und stämmig. Er hatte eine Halbglatze, trug jedoch einen vollen Bart, den er sich genüsslich rieb als er Alex in Empfang nahm. Sein Hautton war etwas dunkler als der von Alex und auf seiner Stirn stach ein silberner Punkt hervor, der fast aussah wie ein kleiner Diamant. »Ezra«, sagte Alex erleichtert. Ein breites Lächeln umspielte sein Lippen und er öffnete seine Arme, um dem Mann eine Umarmung anzubieten. Dieser nahm sie ohne zu zögern an und lachte. Die beiden schienen sich zu kennen und eine Ewigkeit lang nicht mehr gesehen zu haben. Ich versteckte mich hinter einem kargen Busch, hockte mich so hin, dass höchstens mein Scheitel zu sehen war. Keiner von ihnen blickte sich um, also machte ich mir keine Sorgen entdeckt zu werden.

»Lange nicht mehr gesehen«, bemerkte der Mann, der den Namen Ezra trug und klopfte Alex freundschaftlich auf den Oberarm.

»Dort oben geht es drunter und drüber ohne dich. Lydia stirbt vor Sorge« Lydia? Seine Freundin? Meine Brust schmerzte leicht, ohne dass ich wusste, wieso. Auch Alex' Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Jetzt wurde er ernst und begann, schnell zu sprechen.

»Ezra, du musst ihnen sagen, dass ich nichts getan habe. Ich habe niemanden umgebracht. Ich habe meine Arbeit nicht vernachlässigt. Und vor allem musst du Lydia sagen, dass ich nichts damit zu tun hatte. Ich will nicht, dass sie so von mir denkt«

Ermordet? Also waren meine Deutungen doch nicht so falsch gewesen. Immerhin wurde er des Mordes angeklagt. Aber wo?

»Ich weiß, Alex. Ich weiß es. Aber ich kann nichts ausrichten. Ich bin selbst nur ein kleiner Mann, das weißt du. Ich kann so viel behaupten wie ich will, mir hört man nicht zu« Ezra räusperte sich.

»Aber du kannst etwas tun, um zurückzukommen. Du kannst das wiedergutmachen. Jemand hat mir gesagt, du musst dein eigenes, nun menschliches Leben für einen Menschen aufopfern. Dann hättest du die Möglichkeit, zu uns zurückzukommen«, erklärte er ruhig. Mein Kopf dröhnte. Sein Leben aufopfern? Nun menschlich? Was soll er denn davor gewesen sein?

Alex schwankte etwas. »Du bist dir aber selbst nicht sicher, oder? Ich könnte also sterben, ohne dass ich zurückkomme?« Ezra nickte.

»Dann macht das alles keinen Sinn«, seufzte Alex und schüttelte langsam den Kopf. »Bitte sag Lydia, dass ich mein Bestes gebe. Und stelle klar, dass ich nie jemandem etwas getan habe. Ich bin nicht so«

Ich wippte unvorsichtig zur Seite. Sekundenlang schwankte ich in der Luft, versuchte verzweifelt mein Gleichgewicht zu halten, verlor es jedoch schnell und landete unsanft auf meiner Hüfte. Die beiden Köpfe bewegten sich synchron zu mir.

»Katie?«, murmelte Alex, als wäre er sich nicht sicher, ob ich wirklich da war oder nur irgendeine Illusion die genauso wie der Mann von gestern in der Luft verpuffen würde. Ezra verzog sein Gesicht.

»Ein Mensch«, fauchte er.

9

 

Schnell folgte Ezra dem Beispiel des verhüllten Mannes und löste sich in schwarzen Rauch auf, als wäre jeder meiner menschlichen Blicke eine Qual für ihn. Mit geöffnetem Mund starrte Alex mich an, konnte nicht begreifen, was hier vor sich ging. Dann änderte sich seine Mimik schlaghaft und er ging an mir vorbei, bedeutete mir, ihm zu folgen.

 

Wir ließen uns auf einer Parkbank nieder und ehe ich mit den Fragen herausplatzen konnte, die mir im Kopf herumgeisterten, fing er an zu sprechen.

»Wie viel von dem Gespräch hast du mitbekommen?«

»Genug«, antwortete ich knapp und verschränkte beide Arme ineinander. Er hatte mir so einiges zu erklären.

»Und das mit dem Mann in der Robe, der plötzlich in meinem Wohnzimmer stand, musst du mir auch noch mal erläutern«

Sein Gesicht wurde kreidebleich, nervös knibbelte er an seinem Fingernagel herum, suchte nach den richtigen Worten.

»Ich bin kein Mensch. Das heißt, ich war es nicht. Wahrscheinlich bin ich jetzt einer«, stammelte er vor sich her und ich zog ungläubig eine Augenbraue hoch. »Was bist du denn dann? Oder, was warst du?« Er verwirrte mich zunehmend.

»Ein Daemon. So nennt man uns zumindest dort, wo wir herkommen. Wir stehen über allem, was auf der Erde geschieht und sorgen dafür, dass alles rund läuft. Ohne uns würde ein unendliches Chaos entstehen«, erklärte er in einem sachlichen Ton und schaute mich dabei ernst an. Das kühle Grau seiner Augen bohrte sich in meinen Magen. »Jetzt, da ich ein Mensch bin, kann es dir unmöglich beweisen. Ich habe keine Fähigkeiten mehr. Ich bin sterblich. Aber ic hoffe, Ezras Verschwinden gerade war Beweis genug«

Er wirkte besorgt und wollte, dass ich ihm jedes seiner Worte abkaufte und ihn mitfühlend behandelte. Und das tat ich komischerweise auch, obwohl sich seine Geschichte anhörte, als hätte er sie einem äußerst phantasievollen Kinderbuch entnommen.

»Wieso bist du jetzt ein Mensch?«, fragte ich sanft und versuchte ihm zu vermitteln, dass ich ihm Glauben schenkte. Er schien dafür dankbar zu sein und lächelte schwach.

»Man hat mir ein Verbrechen untergeschoben. Ich bin jedoch unschuldig. Aber da ich das nicht beweisen konnte, hat mich das höchste Gericht auf die Erde geschickt. Als du mich an der Straßenlaterne hocken fandest, hatte ich keine Ahnung was geschehen war. Ich wusste nicht wo ich war. Ich war vollkommen orientierungslos. Niemand hatte mich vorbereitet« Das klägliche, hilfesuchende Gesicht von Alex, als ich ihm zum ersten Mal begegnet war, wurde wieder in meinen Erinnerungen hervorgerufen.

»Und um zurückzukommen, musst du dich aufopfern?«, überprüfte ich und sah nur, wie er trübselig seinen Kopf von oben nach unten bewegte, ein Nicken andeutete.

»Ezra ist mein Freund, aber selbst er konnte nicht dafür garantieren, dass ich zurückkomme. Ich könnte mich vollkommen sinnlos umbringen, ohne es zu wissen. Mir fehlt die Sicherheit«, seufzte er und versteckte sein Gesicht, um mir seine verzweifelte Miene vorzuenthalten.

»Und der Mann in der Robe?«, fragte ich ihn vorsichtig, in der Hoffnung, ihn nicht noch mehr aufzuwühlen.

»Das war ein Mann vom höchsten Gericht. Er hat mich darüber aufgeklärt, warum ich verbannt wurde und mir das Beste gewünscht. Dann ist er verschwunden. Nichts weiter«

Einen Moment lang dachte ich darüber nach, ihm beruhigend über den Rücken zu streichen oder seine Schulter zu knuffen, aber ich ließ es. Keine dieser Gesten schien gerade passend zu sein. Er musste sich über einiges klar werden, und ich konnte nichts tun als ihm stillschweigend beizustehen. Dann sprang ich auf und grübelte über andere Lösungsmöglichkeiten nach.

»Diesen Ezra. Kann er dich besuchen kommen, wann er will? Er könnte zwischen der Erde und … deiner Welt, wie auch immer sie heißt, vermitteln. Er könnte dir Tipps geben«, schlug ich vor. Alex blickte mich an, als wäre ich von allen guten Geistern verlassen worden. Dabei war er der ehemalige Dämon mit den in Dunst verpuffenden Freunden. Die Entgeisterung wich einem leichten Zustimmen. »Ich denke, das könnte sich machen lassen«, grummelte er und rieb sich das Kinn, dachte darüber nach, wie er Ezra auf die Erde rufen könnte.
»Wir schaffen das schon irgendwie«, versprach ich ihm, ohne es wirklich ernst zu meinen. Ich hatte keine Ahnung von Dämonen, wusste bis vor ein paar Minuten noch nicht mal, dass sie existieren.

Auf dem Weg nach Hause fragte ich ihm noch ein paar Dinge, die mich interessierten. Wie es in seiner Welt aussah, wie die Wesen dort aussahen und was so die Eigenheiten von Daemonen waren, die sie von Menschen unterschieden. Er erklärte mir, dass Daemonen unsterblich waren und sich nicht fortpflanzen konnten. Sie wurden auch nicht geboren, sondern lediglich in die Welt gerufen um einer gewissen Aufgabe nachzugehen. Trotzdem durften sie sich verlieben und sogar heiraten, wenn sie einen passenden Partner finden konnten. Das Thema stimmte ihn sehr nachdenklich, und der Name Lydia ploppte wieder in meinen Kopf. Er hatte also eine Freundin, die wohl der Grund war, warum er überhaupt zurück wollte. Seine Welt sei sehr triste und gefühlsleer, was ihn immer gestört hatte.

Vor den Stufen, die zur Eingangstür unseres Hauses führten, hielt ich kurz an.

»Hey, Alex, was war eigentlich dein Verbrechen?«, fragte ich.

Er drehte sich zu mich um und grinste mich etwas verstohlen an, ich verstand nicht, warum.

»Ich soll Menschen ermordet haben«, lächelt er so sanft aber gleichzeitig teuflisch, wie es nur möglich war.

10

 

Der Gedanke, dass Alex aus zwei separaten Persönlichkeiten bestand, ließ mich nicht los. Einerseits war da der Alex, der wie ein neugeborener Welpe durch die Welt spazierte, sich Sorgen darüber machte, dass andere Angst vor ihm hatten. Und dann war der der Alex, der nonchalant zugab, des Mordes beschuldigt zu werden ohne auch nur ein bisschen Mitleid oder zumindest Trauer über seine Situation preiszugeben.

Leo war an meinem freien Tag vorbeigekommen und wartete unten im Wohnzimmer auf mich, während ich mich frisch machte. Als ich die Treppen heruntersprang, sah ich ihn zusammen mit Alex am Tisch sitzen. Er schien wie üblich zu versuchen, ihn auseinanderzunehmen und nach seiner Herkunft auszufragen. Alex war Leo nach wie vor sehr suspekt und es machte ihm Sorgen, dass ich mit einer so onminösen Person wie ihm zusammen unter einem Dach lebte.

»Stehst du auf Musik?«

»Musik?«

»Ja, Bands und so. Hörst du Rock oder bist du eher so der Hip Hop-Typ?«

»Entschuldigung, aber was ist >Hip Hop<?«

Unsanft zog ich ihn am Kragen zurück und zeigte ihm, dass ich bereit zum Ausgehen war. Diesmal hatte er eine beliebte Bar zu unserem Ausflugsziel ernannt. Wie immer hatte Rachel keinen Schimmer davon, dass er sich mit mir herumtrieb. Und das war auch gut so.

Alex verabschiedete uns lächelnd, als wir durch den Türrahmen ins Freie traten.

»Ekliger Typ«, fauchte Leo und rümpfte seine Nase, als wir schließlich draußen waren. Ich lachte herzlich und stieß ihn ein wenig zur Seite.

 

Die Bar war prall gefüllt mit Jugendlichen. Einige tummelten sich um die Theke, genossen ein paar Cocktails oder tauschten Lebensweisheiten mit dem Barkeeper aus, andere tanzten unermüdlich auf einer kleinen, aber gut beleuchteten Tanzfläche in der hinteren Ecke des engen Gebäudes. Wir suchten uns einen Tisch in einer eher ruhigen Ecke und riefen eine Kellnerin mithilfe eines Handzeichens zu uns.

»Ein Bier, bitte. Und eine Margarita für die Damen«, bestellte Leo ohne mich nach meiner Meinung zu fragen. Mir entfuhr ein entsetztes Seufzen.

»Ich trinke nicht, Leo«, erinnerte ich ihn, als die Kellnerin sich schon an unserem Tisch vorbeigeschoben hatte und nun die Bestellung an den Barkeeper weitergab. Er grinste breit bis über beide Wangen und lehnte sich zurück, streckte dabei beide Arme zu seinen Seiten aus.

»Du musst dich echt mal ein bisschen locker machen. In letzter Zeit arbeitest du nur noch, und wenn du nicht arbeitest, verdirbt dir dieser Alex deine Laune« Das Grinsen war nun verflogen und er betrachtete mich fast etwas herablassend. Die Kellnerin schnellte mit unseren Drinks herbei, und sobald ich meine Margarita zu fassen bekam, schlang ich sie ohne Zögern herunter. Ich wusste dass ich Leo nichts beweisen musste, aber seine Anmerkung hatte mich irgendwie schon gekränkt. Leo tat es mir gleich und nahm ein paar großzügige Schlücke Bier. Dann richtete er sich tänzelnd zum Rhythmus der Musik auf und streckte seine Hand zu mir aus.

»Vergiss es«, kicherte ich und schaute beschämt weg. Weder er noch ich konnten auch nur annähernd tanzen. Wir waren damals die einzigen gewesen, die die Tanzreihe im Sportunterricht nicht bestanden haben.

»Keiner hier kann tanzen, Katie. Worauf wartest du eigentlich?« Gutes Argument. Ich fuhr herum und sah Mädchen, die sich ganz schön blamieren würden, wenn nicht neunzig Prozent der Leute, die sich in ihrer Gegenwart befanden, sturzbetrunken wären. Ich gab mir einen Ruck und stand auf. Etwas zaghaft, aber trotzdem selbstbewusst folgte ich Leo auf die Tanzfläche. Er wirbelte mich herum und fing mich wieder auf. Lachend fiel ich ihm in die Arme, er griff sich meine Hände und vollführte ein paar einfache, aber lustige Tanzschritte die ich sofort übernahm. Keiner achtete besonders auf uns, aber wir konnten kaum die Augen voneinander wenden. So viel Spaß hatte ich seit einer ganzen Weile nicht mehr gehabt. In dem sich ständig wandelnden und pulsierenden Licht der Bar sah Leo sogar gar nicht mal so schlecht aus, rote Flusen fielen ihm auf die Stirn und ließen ihn aussehen wie einen Punk-Rock-Star der Neunziger. Als ich bemerkte, wie eng ich ihm war, wich ich etwas zurück. Wenn Rachel uns so tanzen sehen würde, würde sie mir an die Kehle springen und mir bei vollem Bewusstsein alle Haare herausreißen. Fragend beäugte Leo mich. Ich spürte seine Hände um meine Taille und schob sie zurück. Etwas fühlte sich nicht richtig an. »Ich muss mal«, erklärte ich und drehte mich um. Noch im Drehen sah ich Leos gekränkten Blick, der mich bis zur Damentoilette verfolgte.

 

Die Damentoilette war überraschend leer. Keine Mädchen, die sich im Spiegel schminkten oder die würgend über eine der Kloschüsseln hockten. Ich lief zu einem der Spülbecken und befeuchtete meine Hände, atmete dabei tief durch. Die Musik von nebenan dröhnte stumpf durch die Lücken in der Tür hinein. Zügig wusch ich mein Gesicht und rieb es etwas. Fast fiel ich in Ohnmacht, als ich ihn hinter mir im Spiegel erkannte.
»Alex!«, kreischte ich und taumelte zurück. Er fing mich noch rechtzeitig. Dann lehnte er sich in Richtung Tür und schloss ab. Mein Herz stockte. Was zur Hölle machte er hier?

Er hielt seinen Zeigefinger vor seine Lippen, ich sollte bloß keinen Aufstand machen. »Wir müssen weg hier. Du musst weg hier«, flüsterte er. Dabei kam er mir unglaublich nahe, und mein Atem setzte aus. Sanft hielt er meine Hand und führte mich zum Fenster, das weit geöffnet war. Es war groß genug, sodass wir beide durchpassten. Draußen angekommen hielt er mich immer noch fest, seine Hand fühlte sich ganz kalt an, brachte mich aber fast zum Dahinschmelzen. Er hielt mich ganz nah bei sich und wenn ich Anstalten machte, mich von ihm wegzubewegen, so zog er mich gleich wieder an sich und legte behutsam seinen freien Arm um mich. Nur ein paar Minuten vergangen, bis lautes Geschreie und Gegröhle von Innen erklang und Jugendliche in Scharen aus der Bar strömten. »Hilfe!«, schrien sie. Die meisten Mädchen hatten angefangen zu heulen, ihre Schminke lief an ihren Wangen hinunter wie schwarzgraue Flüsse. Nun erkannte ich auch Leo in der Menge. Entgeistert wanderte er zur Straße, hielt dort an und wurde noch blasser, als er mich zusammen mit Alex ausmachte. Nun schaffte ich es mich aus Alex' Griff zu lösen und stürmte besorgt auf Leo zu. Ohne Nachzudenken fiel ich ihm um den Hals und drückte ihn an mich, als hätten wir uns eine Ewigkeit lang nicht mehr gesehen. »Was ist passiert?«, fragte ich und blickte ihn besorgt an. Ihm standen Tränen in den Augen, die drohten herunterzupurzeln.

»Jemand … da drinnen …«

Er holte tief Luft.
»Jemand wurde getötet. Da war eine Leiche«

 

 

11

 

Die Abendnachrichten waren voll von Berichten über den Mord in der Bar. Alle waren aufgebracht, und mittlerweile war man sich nicht mehr so sicher, ob es sich wirklich um einen Mord handelte, der von einer kriminellen Gruppierung organisiert wurde. Das Opfer war ein Mädchen, ein wenig jünger als ich. Diesmal kannte ich sie auch, sie besuchte meine Schule und saß anscheinend auch in meinem Mathekurs. Ich konnte mir Namen nie gut merken, aber Leo hatte sich sofort an ihren Namen erinnern können.

»Iris«, sagte er sofort, immer noch mitgenommen. »Sie war mal zusammen mit mir in der Schulzeitungs-AG«

Wir saßen in einem Taxi und warem auf dem Weg nach Hause, als Leo das unangenehme, traumatisierte Schweigen brach. Alex war kurz nachdem ich Leo gefunden hatte spurlos verschwunden.

»Findest du das nicht auch komisch?«, wollte er wissen.

»Was?«

»Dass Alex da war, und genau zu wissen schien, was los war«

Ich zuckte mit den Schultern, wusste aber ganz genau, dass er Recht hatte. Es war verdammt komisch.

 

Ich fand Alex in seinem Zimmer vor. Er lag ausgestreckt auf seinem Bett, zwischen der Wand und seinem Nacken war das Kissen eingeklemmt. In den Händen hielt er ein Buch, einen Krimi von Mom, den er sich zuvor ausgeliehen hatte. Seelenruhig überflog er die Seiten, bis sein Blick schließlich zur Tür wanderte. Etwas zögernd betrat ich das Zimmer, verschränkte meine Arme ineinander. Er lächelte.

»Guten Abend«, sagte er gelassen. Um zu verhindern, dass wir Aufmerksamkeit erregen, schloss ich die Tür hinter mir. Alex ließ sie sonst offen, er hatte keine Geheimnisse vor uns. Diesmal sollten wir aber unter uns bleiben.

»Wieso bist du urplötzlich in der Bar aufgetaucht?«, sprudelten die Worte aus mir heraus. Durch das halboffene Fenster blies mir ein kühler Schwall Luft ins Gesicht. Seufzend klappte er das Buch zu und setzte sich etwas auf, um höflich zu sein.

»Weil ich wusste, dass du in Gefahr warst«, erklärte er, immer noch mit fast buddhistischer Gemächlichkeit. »Ach so? Und wie kannst du das wissen? Du bist ein Mensch!« Aus meinem Mund hörte es sich wie ein Vorwurf an, obwohl es keiner sein sollte. Ihm war die Unwissenheit ins Gesicht geschrieben.

»Ja, ich bin ein Mensch. Trotzdem hat mir mein Gefühl gesagt, dass du dich in Gefahr befindest. Und ich konnte nicht zulassen, dass dir etwas passiert«

Seine Worte waren warm und fühlten sich ehrlich an, aber ich konnte den Funken Misstrauen nicht abschütteln, der sich wie ein Bann um meine Gedanken klammerte. Trotzdem errötete ich etwas und schämte mich, ihn anzublicken. Immer blickte er mich so verträumt an, ich konnte das nicht abhaben. Als ob ich ihm viel bedeuten würde. Aber so war es nicht – er kannte mich ja kaum, und hatte vor wenigen Wochen ja noch nicht mal zu meiner Gattung gehört.

»Was kümmere ich dich überhaupt?«, blaffte ich, etwas aufgebracht. Ich ließ meine Arme auseinanderfallen und beobachtete nervös, wie er aufstand und sich in meine Richtung bewegte. Nur wenige Zentimeter blieb er vor mir stehen und schaute mich so tief an, dass ich das Gefühl hatte, er wolle direkt in meinen Kopf schauen.

»Du hast mich gerettet«, fing er an, fast wispernd, »Und jetzt rette ich dich, wann immer möglich« Ich spürte seine Hände, die sich um meine legten und diese nach Bestätigung suchend drückten.

Er war mir zu nah. Es war etwas unangenehm, dass er mich so intensiv ansah und sich wahrscheinlich jedes Makels an mir bewusst wurde. Scheu trat ich zurück und schluckte.

»Lass das«, befahl ich ihm mit zitternder Stimme, »Leo passt auf mich auf«

Dann verließ ich das Zimmer und knallte unglücklicherweise die Tür hinter mir zu.

 

Aus irgendeinem Grund begann Alex nun ständig, meine Nähe zu suchen. Er fragte mich, ob ich bei den kleinsten und einfachsten Aufgaben Hilfe benötigte. Ob er mich zum Einkaufen begleiten sollte, ob mir etwas auf der Seele läge. Anfangs nervte es mich tierisch und ich flüchtete mich aus dem Haus, um seinen ständigen Angeboten zu entgehen. Er versuchte mein Vertrauen zu gewinnen, und ich konnte ihm deutlich ansehen dass er traurig darüber war, dass es nicht zu funktionieren schien. Um ihn etwas zu beschwichtigen, und weil Leo gerade mal wieder mit Rachel unterwegs war, klopfte ich Abends an seiner Zimmertür und wurde von ihm verblüfft hereingebeten.

»Hallo, Katie«, begrüßte er mich mit demselben, herzlichen Lächeln, das er sonst auch immer trug. Ich nickte ihm nur entgegen und setzte mich auf sein Bett.

»Hast du schon herausgefunden, wie du Ezra kontaktieren kannst?«, fragte ich ihn. Natürlich versuchte ich noch immer Wege zu finden, ihm zurück in seine Welt zu helfen. Denn das bedeutete gleichzeitig, dass wir ihn loswurden. Und er wohnte schon länger als geplant bei uns. Meine Eltern machten keine Anstalten, ihn herauszuschmeißen. Er machte sich gut in der Familie, half immer brav mit, und ich Dad hatte so oder so immer einen Sohn gewollt. Alex war für ihn fast wie einer geworden.

»Nicht wirklich, aber er wird zurückkommen. Spätestens morgen werde ich ihn wiedersehen«, antwortete Alex. Seine Hände hatte er in seinem Schoß gefaltet, er saß so aufrecht wie eine Kerze.

»Gut. Frag ihn, ob es noch Möglichkeiten für dich gibt, deinen Fehler rückgängig zu machen«, wies ich ihn an und er nickte schweigend. Er hatte wohl selbst bereits daran gedacht.

Dann fielen mir erst einmal die Worte. Ich musterte ihn. Ihm waren ein paar leichte Stoppeln um den Mund herum gewachsen, die ihn erwachsener aussehen ließen als er eigentlich war. Es schadete seiner Schönheit jedoch kein bisschen, er glänzte wie immer wie eine gläserne Figur, die man sich gerne in eine Vitrine stellen würde.

»Ist Leo eigentlich dein Freund«, entfuhr es Alex und ich fiel vor Schreck fast zurück, da ich kein Wort mehr von ihm erwartet hatte. »Nein, Leo hat eine andere Freundin«, sagte ich etwas bitter, und biss mir auf die Lippe. Dann lenkte ich die Aufmerksamkeit auf ihn, da ich schlimmere Fragen seinerseits erwartete.

»Hast du eine?« Das hatte mich tatsächlich beschäftigt, da ich mir immer noch nicht sicher war, wer diese Lydia war, die Ezra erwähnt hatte. Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich.

»Nein, nicht wirklich«

Etwas überrascht blinzelte ich ihn an. »Wer ist Lydia?«

Seine Augen weiteten sich, er fing an zu lachen. »Oh, eine Freundin«, sagte er mysteriös. »Warst du neugierig?« So ein verspieltes Grinsen war ich von ihm nicht gewohnt, normalerweise wirkte er fast schüchtern. Er erinnerte mich ein bisschen an diesen Typen, der mich mal in der Bar angemacht hatte. Nur viel gutaussehender und weniger … Na ja, menschlich. Zugegeben wirkte er diesmal sogar menschlicher als jemals zuvor.

»Nein, es hat mich nur ein bisschen gewundert«, haspelte ich vor mir her und stand auf, mit dem Wunsch diesem peinlichen Fragespiel zu entfliehen. Doch er kam mir zuvor und sprang energetisch auf mich zu, blieb wieder kurz vor mir stehen.

»Ich war noch nie verliebt«, gab er zu. »Ich wollte es. Ich war fasziniert davon, wie die Menschen sich verliebten. Wie sie sich küssten, heirateten, ein Kind bekamen. Ich wollte das für mich selbst«

Wieso wollte er dann unbedingt in seine Welt zurück? Schritt für Schritt näherte er sich mir, legte seine Hand an meine Wange und schaute mich voller Begehren an. Sie glitt sanft an meinem Gesicht hinunter, die Berührung ließ mich erschaudern.

»Ich wollte auch jemand ansehen und ein Gefühlsfeuerwerk erleben«, fuhr er fort. Sein Daumen berührte sanft meine Lippe. »Und mein ganzes Leben für diese eine Person hingeben, bis zu meinem letzten Tag« Ich schloss meine Augen. In mir bekriegten sich Herzrasen und Angst und mir fiel keine gute Reaktion auf seine Worte oder Taten ein, also stand ich da, versuchte, so flach wie möglich zu atmen. »Und eines Tages zusammen sterben«, beendete er seine kleine Rede und trat von mir Weg. Als ich meine Augen öffnete, war sein Gesicht so schmerzverzogen und traurig, dass es mir fast das Herz zerriss. Alles was er gesagt hatte war ehrlich. Es kam von Herzen. Ob er wohl ein Richtiges hatte?

Erst jetzt fanden meine Augen den weißen, zusammengeknüllten Gegenstand auf dem Boden. Ein Hemd. Ein weißes Hemd, das Alex gestern getragen hatte. Flecken in einem tiefen Rostbraun überzogen die Brustpartie und den rechten Ärmel des Hemdes.

Blut.

12

Als ich das Zimmer betrat, war Ezra gerade dabei, sich genüsslich auf dem Gästebett auszubreiten. Alex hatte sich auf die Bettkante gehockt und war mal wieder vertieft in eines seiner Bücher. Er hatte inzwischen angefangen, ein neues zu lesen. Als Ezra meinen verdutzten Blick entdeckte, verzog er fast angewidert das Gesicht und setzte sich auf, grummelte etwas Unverständliches.

»Neuigkeiten?«, fragte ich, ohne Ezra weiterhin zu beachten und ging auf Alex zu. Er blickte auf und lächelte mich freundlich an.

»Wir haben auf dich gewartet«, meinte er.

»Ich verstehe nicht wieso«, keifte Ezra und verschränkte seine muskulösen Arme ineinander »Das Menschenmädchen hat doch überhaupt nichts damit zutun« Jetzt stand er auf und stellte sich vor uns, seine Miene verdüsterte sich kontinuierlich.

»Sie gehört eben dazu. Sie möchte helfen«, erklärte Alex und klappte das Buch zu. Ezra seufzte, gab sich seinem Schicksal geschlagen und zog schließlich ein dunkles, etwas zerknittertes Blatt Papier aus seiner Hosentasche. Er hatte es zusammengefaltet, es sah aus als sei es Jahrhunderte alt. Dicke Risse durchzogen das Papier von den Ecken aus, es war bedeckt mit bräunlichen Flecken deren Ursprung ich mir nicht ausmalen wollte.

»>Um als gefallener Daemon wieder aufzusteigen, muss das Oberste Gericht von der Unschuld oder Reue des Gefallenen überzeugt werden. Der Gefallene wird vor Gericht geführt und muss die Opfer darlegen, die er gebracht hat. Überzeugen diese, so besteht die Möglichkeit, dass der Gefallene seinen ursprünglichen Platz zurückerhält<«, begann Ezra in einem unmotivierten Tonfall vorzulesen. Langsam und deutlich fuhr er fort, »>Solche Opfer beinhalten das Retten von Menschenleben und die zeitgleiche Aufopferung des Eigenen, die gänzliche Hingabe des eigenen, nun menschlichen Lebens zugunsten eines Menschen<« Er räusperte sich und übergab Alex das Blatt. »Das ist alles, mehr konnte ich nicht ausfinding machen« Es schien ihm wirklich leidzutun. Ich war mir zwar nicht ganz sicher, was genau Alex und Ezra verband, aber die beiden schienen sich schier blind zu vertrauen und nur das Beste füreinander zu wollen. »Danke«, säuselte Alex lediglich und verstaute das Papier im Nachtschränkchen. Perplex zog ich eine Augenbraue hoch. »Wie, das war's?« Er nickte, hoffnungslos. Nun meldete Ezra sich wieder zu Wort. »Ich habe mit Lydia geredet. Sie glaubt dir, und sie hat nie geglaubt, dass du zu soetwas fähig bist«

Alex schien gerade noch genug Kraft zu haben, um ein Lächeln auf sein Gesicht zu zwingen. Er bedankte sich ein weiteres Mal, und Ezra verschwand.

 

In der Mittagspause besuchte Leo mich. Tagelang hatte er sich nicht bei mir gemeldet. Als ich seine Mutter fragte, was mit ihm los sei, antwortete sie bloß, dass der Schock vom Mord in der Kneipe immer noch bestand, und er wohl eine gewisse Zeit brauchte, um sich auszukurieren. Sein kreidebleiches Gesicht bestätigte, dass er noch nicht darüber hinweg war. Er umarmte mich zügig, ich spürte, wie seine Augen nervös durch die Gegend wanderten und nach einer potenziellen Bedrohung Ausschau hielten.

»Hast du es geschafft, Rachel abzuschütteln?«, witzelte ich und reichte ihm meine Wasserflasche. Er nahm einen großen Schluck und nickte ruhig.

»Ich glaube ich mache mit ihr Schluss«, gestand er urplötzlich und fuhr sich mit den Fingern durch sein dichtes, braunes Haar.

»Mittlerweile fühlt es sich nur noch so an, als würden wir uns bloß ertragen können. Und wenn sie anfängt, schlecht über dich zu reden, könnte ich sie rausschmeißen« Er klang erschöpft und gehässig, ein Tonfall, den ich von ihm gar nicht gewohnt war. Ich schluckte und ließ mir mit meiner Antwort Zeit. Natürlich wollte ich herausbrüllen, dass ich es wusste, und dass ich ihm gleich gesagt hatte, dass sie nicht gut für ihn ist. Aber das würde mir nur noch mehr Ärger einbringen, angesichts seines momentanen Zustandes.

»Oh man. Das tut mir echt leid«, stammelte ich so stattdessen. Wir saßen auf einer Parkbank in der Nähe des Parkplatzes vor dem Schultor, hinter uns streiften ein paar jüngere Schüler kreischend über den Schulhof und warfen Bälle durch die Luft. Genervt von der Sache mit Rachel wechselte Leo das Thema.

»Ich hab seit der Nacht kein Auge mehr zugemacht. Du glaubst bestimmt ich übertreibe, aber das tue ich nicht. Ich kann das Bild nicht mehr aus meinem Kopf bekommen, Katie. Ich habe das Mädchen gesehen« Ihm blieb fast die Luft im Halse stecken und ich bemerkte, wie eine Schweißperle ihm über die Stirn rollte. »Meine Mutter hat mir schon einen Termin bei einem Psychiater besorgt. Ich bin doch nicht verrückt oder? Bitte sag mir, dass ich nicht verrückt werde«

Erschrocken von dem neuen Bild Leos das sich mir bot, zuckte ich zusammen und wagte es nicht, zu antworten. Ich hatte das Gefühl, er würde zerbrechen, wenn ich etwas Falsches sagte. Stattdessen zog ich ihn näher an mich und legte meinen Arm beruhigend um ihn. Er schien diese Geste wertzuschätzen und schmiegte sich in meine Umarmung. Ich spürte, wie seine Brust sich bebend aufblähte und wieder absackte. »Alles wird gut«, vergewisserte ich ihm.

»Ich verspreche es dir« Aber ich wusste, dass ich das Versprechen höchstwahrscheinlich nicht halten können würde.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.08.2016

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /