Eine Geschichte basierend auf einer wahren Begebenheit.
- Für meine geliebte Esther -
Ich vermisse dich.
Wind fährt sachte durch die Wiese und die Gräser wiegen sanft.
Die Sonne strahlt hell am Himmel und wirft ein goldenes Licht auf die Lichtung.
Die bestäubten Blüten des Löwenzahnes wirbeln in der Luft.
Wenn ein Sonnenstrahl die Blüten trifft, flirren sie, fast scheinen sie silbern.
Ich stehe auf der Lichtung.
Meine nackten Zehen bohren sich in die weiche Erde.
Atemlos spüre ich, wie sich meine rechte Hand zu einer Faust ballt.
In ihr zerknittere ich ein Foto.
Ein Foto von einer Stute. Von meiner besten Freundin.
Ich muss es mir nicht anschauen, um zu wissen, was darauf zu sehen ist.
Jedes Detail ist in mein Gedächtnis graviert.
Dunkel und tief sind ihre Augen. Der Wind weht ihren blonden Schopf zur Seite, sodass man ihre weiße Blesse sehen kann.
Sie sieht aufmerksam in die Kamera, die Ohren gespannt gespitzt und die Nüstern erwartungsvoll geweitet.
Auf dem Foto scheint sie so echt und greifbar, dass es noch mehr schmerzt.
Esther.
Kalte Tränen befeuchten meine Wangen und tropfen zu Boden, als ich das Gesicht senke. In meiner Brust zieht es sich schmerzhaft zusammen.
Es ist so ungerecht. Ich kann mich noch nicht einmal mehr von ihr verabschieden.
Als das Bild ihrer leeren Box wieder in mir aufsteigt, kann ich nicht mehr stehen.
Schluchzend sinke ich auf die Knie.
Es kommt mir schon wie eine Ewigkeit vor, doch es ist nur ein paar Stunden her.
Ich trat kräftig in die Pedale und fuhr durch den grünen Wald.
Dabei betrachtete ich die Blätter. Es war endlich Frühling geworden.
„Dann können wir einen schönen Ausritt zum Bach machen“, freute ich mich.
Ich war auf dem Weg zu „meiner“ Haflingerstute.
Auf dem Papier stand zwar etwas anderes, aber mir war das gleich.
Wir gehörten zusammen und niemand würde es wagen, uns auseinander zu reißen.
Punkt.
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, denn vor mir tauchte der kleine Hof mit den großen Weiden auf.
Ein kleines schwarzes Fellbündel schoss jaulend auf mich zu.
Ich rief ihm zu. „Jamie!“
Der kleine Rüde hüpfte wie ein kleiner Gummiball an mir hoch und runter.
Erst, als ich mein Fahrrad in den klapprigen Ständer schob, warf er sich auf den Boden und verlangte von mir schwanzwedelnd, gekrault zu werden.
Doch ich grinste nur.
„Vergiss es, du kleiner Frechdachs! Esther wartet.“
Jamie warf mir einen beleidigten Blick zu und trollte sich.
Ich betrat das kühle Stallgebäude und sog den vertrauten Pferdeduft ein.
Vor meinem geistigen Auge spielte sich die bereits vertraute Begrüßung ab.
Esther würde ihren Kopf schon ungeduldig über die Boxentüre strecken und würde mir leise entgegen brummeln.
Meine Schuhe klapperten auf dem Stallboden.
Es war immer noch leise. Merkwürdig.
Ich öffnete die Boxentüre – und erschrak. Außer dem sauberen goldenen Stroh war sie leer. Doch ich beruhigte mich schnell wieder, als mir der Gedanke kam, dass sie vielleicht auf der Weide stand. Ich rannte los. Auf dem Weg zu Koppel kam mir Nick, der Sohn des Stallbesitzers, entgegen.
Er sah gut aus, war nett und hilfsbereit.
Ich wusste, dass es wohlmöglich mehr als eine flüchtige Bekanntschaft sein könnte, doch in diesem Moment spielte dies gar keine Rolle.
„Weißt du, wo Esther steht?“, keuchte ich, noch atemlos von dem Lauf. Er lächelte und zeigte dabei sein Grübchen. „Hast du schon im Stall nachgeschaut?“
Ich nickte. „Dann wird sie wohl auf der Weide zusammen mit Ebony und Paco stehen.“
„Danke.“ Ich lief weiter und ignorierte seinen überraschten Blick.
Weiter, weiter.
Als ich um die Ecke bog hoben sich Pferdeköpfe in die Höhe.
Ich überflog sie. Ein blonder Kopf und ein schwarzer.
Mein Herz schlug schnell, ich schluckte.
Dann trat ich auf die Weide.
Es war nicht Esther. Es war Paco, der ihr so ähnlich sah. Ich ließ meinen Blick in diesem Moment unzählige Male über die anderen Wiesen gleiten, hoffte ein anderes blondes Pferd zu finden. Hoffnungslos.
Es gab nur zwei Haflinger auf dem Hof. Und einer fehlte.
Meine Stimme überschlug sich und kippte.
„Nick? Nick?! Sie ist nicht da!“
Ich konnte mich nicht bewegen, so erschrocken war ich selbst über die Worte, die aus meinem Mund kamen.
„Sie ist nicht da!“
Ich hörte hinter mir das Knirschen von Schuhen auf kleinen Steinchen.
Nick stellte sich neben mich und schaute über die Weiden.
„Du hast Recht“, nickte er knapp“, wir müssen sie suchen. Vielleicht ist sie abgehauen. Los, komm mit!“
Er wollte meine Hand nehmen und mich mitziehen. Doch ich war plötzlich kraftlos und schlaff. „Versprich mir, dass wir sie finden“, flüsterte ich mit gebrochener Stimme.
Seltsamerweise sah er mich nicht an, als ob ich verrückt wäre.
Nein, er war ernst und schien mich zu verstehen. „Versprochen“, gab er mit betont fester Stimme zurück.
Ich konnte nicht wirklich denken, meine Gedanken wirbelten umher und bildeten keinen vernünftigen Satz.
Ich ließ mich von Nick führen, stolperte hinter ihm her.
Wir rannten an den anderen Weiden vorbei, untersuchten die Wege nach unbeschlagenden Hufen. Sogar abseits der Reitwege, im dicksten Unterholz suchten wir.
Mit jedem Schritt, den ich tat, wuchs meine Angst und meine Hoffnungslosigkeit.
Als wir nach über zwei Stunden wieder am Hof ankamen, sanken wir erschöpft rücklings an die Stallwand.
„Weißt du, es kann ja sein, dass eins der Reitkinder sie mit Paco verwechselt hat“, versuchte er mich aufzubauen. Zu spät.
Ich schüttelte den Kopf.
„Ich würde es gerne glauben, Nick.“
Er schaute mich an. „Dann tu es.“
Ich wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als ein Geländewagen auf den Hof einbog.
„Das ist mein Vater! Ich werde ihn fragen.“
Nick erhob sich und schritt auf seinen Vater zu.
Sein Vater war ein großgewachsener Mann mit graubraunem Haar und freundlichen Augen. Ich erhob mich ebenfalls, blieb aber im Hintergrund, als Nick ihm das Problem erklärte.
„Esther“, seufzte Nicks Vater.
Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich sein ernstes Gesicht sah.
„Würdest du bitte mit in mein Büro kommen?“, fragte er und deutete auf mich.
Ich dachte, ich hätte mich verhört. „Ich?“ Hilfesuchend sah ich Nick an.
Er nickte mir aufmunternd zu und lächelte ein dünnes Lächeln.
Es war gezwungen, das sah man auf den ersten Blick.
Ich hatte keine Wahl und folgte dem Stallbesitzer in sein Büro.
Ein großer Papierstapel verdeckte den Schreibtisch.
„Entschuldige die Unordnung.“
Er schob mir seinen Bürostuhl zu. Ich schüttelte schweigend den Kopf.
Wieder seufzte er und seine Stirn legte sich in Falten.
„Du weißt, wie sehr mir die Pferde am Herzen liegen…“, begann er.
Und das war ein schrecklicher Anfang.
„Ich habe versucht den Besitzer zu überzeugen, sie nicht zu verkaufen.
Ja, ich habe ihm sogar angeboten, dass ich sie kaufe, eben weil ich weiß, wie sehr du an ihr hängst.“
Verkauft. Meine Freundin, mein blondes Glück, mein ganzer Lebensinhalt.
Verkauft, weg, nicht mehr da.
Meine Lippen zitterten, ich spürte, wie mir alles entglitt.
„Sie ist weg. Endgültig?“
Es war mehr eine schreckliche Feststellung, eine grausame Tatsache.
„Er bestand darauf und meinte nur, er wolle sie loswerden. Sie würde nur Geld kosten.“
Verkauft. Was für ein seltsames Wort. Verkauft.
Und dann.
„Es tut mir leid. Sie ist weg.“
Ich hob meinen Kopf und sah ihn einen Moment lang an.
Sein Blick war voller Wärme und Mitgefühl. Das war zu viel.
Ich riss die Tür auf und prallte mit Nick zusammen.
Als ich in seinem Blick erkennen konnte, dass auch er mir sein Mitleid aussprechen wollte, wusste ich sofort: Er hatte gelauscht.
Ich rannte an ihm vorbei, ignorierte die Rufe hinter mir und lief nur davon.
Ich ließ mein Fahrrad bewusst dort zurück. Irgendwie schien ich zu wissen, dass ich es nie wieder brauchen würde. Jedenfalls nicht für diesen Weg.
Und jetzt bin ich hier.
Ich knie auf der Lichtung, sie ist unser kleines Geheimnis gewesen. Stunden verbrachten wir hier normalerweise. Keiner außer uns weiß von diesem Ort.
Und genau weil es unser kleines Geheimnis ist, habe ich hier das Gefühl, ihr am Nahesten zu sein.
Ich habe es als Letzte erfahren.
Dass sie weg ist. Dass sie nicht wieder kommen wird. Dass sie verkauft ist.
Doch ich weiß genau:
Ich habe sie geliebt und werde sie immer lieben.
Als ich meine Hand es letzte Mal nach dem Foto ausstrecke, dann nur, um es neben einen verschlossenen Umschlag zu legen.
Es ist ein Brief.
Ein Abschiedsbrief an meine verlorene Liebe.
Geliebte Esther,
es tut weh.
Ich bin einsam ohne dich und es ist, als hättest du mein Herz mit dir genommen.
Ich kann dir nur danken, für die wunderschöne Zeit, die wir beide hatten.
Ich habe schon längst gemerkt, dass aus Freundschaft Liebe geworden ist.
Und es schmerzt schrecklich, weil du nicht mehr bei mir bist.
Ich werde dich nie vergessen und immer lieben.
Ich vermisse dich.
Auf Wiedersehen, meine Liebe.
Tag der Veröffentlichung: 07.05.2012
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