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Kapitel 1




Der Regen prasselt unaufhörlich auf die Straßen. Dunkle Wolken türmen sich am Himmel auf und der Wind peitscht die Regentropfen gegen die Fensterscheiben.
Drinnen im Warmen saß Leah und schaute hinaus auf den Sturm. Sie saß im Studienzimmer und verfolgte wie viele andere Studenten die Vorlesung des Professors.
Ja, sie war jetzt Studentin und seit kurzem wohnte sie in einer kleinen Stadt, ganz in der Nähe der Universität.
Nach der letzten Vorlesung fuhr sie in ihrem kleinen aber feinen, wie sie zu sagen pflegte; Auto nach Hause. Die Scheibenwischer kratzten quietschend über das Glas und der Motor röhrte protestierend auf, als sie beschleunigte. „Mistwetter!“, fluchte sie leise, als sie ausstieg und inmitten einer großen Pfütze trat. Leah schnappte sich ihre Tasche und rannte zum Haus. Sie schloss die Tür auf, stieg die Treppe hinauf und betrat ihre Wohnung.
Leah schüttelte ihre nassen Haare und warf ihren Ordner auf den Schreibtisch. Feuchte Blätter rutschten aus dem Ordner. Sie setzte sich an ihren PC und begann die Mails ihrer alten Freunde zu beantworten.

Von: amy.surfgirl@remix.de
An: Leah.Romyna@geys.de
Betreff: Hallo? Wie geht’s? Meld dich!

Hey Leah!
Nun bist du schon ein halbes Jahr weg und hier ist es voll langweilig ohne dich. Nichts läuft mehr! Mark und die anderen Jungs sagen, ich nerve dich wohl mit den ewigen Mails und Anrufen, aber das ist doch nicht so, nicht wahr?
Sie sagen, ich soll dich in Ruhe lernen lassen, wegen Studienprüfungen und so. Dabei warst du von uns doch eh schon immer die Schlauste.
Mark studiert Jura, Joe hat ein Angebot als Quaterback bekommen und ich habe einen Job bei der „Moonlight“ Bar ergattert. Der Laden läuft so was von! Ich schwör dir, noch ne paar Monate, dann tauchen die ersten Promis auf!
Und ich bin mitten drin! Na ja, so gut wie.
Wenn du mal vorbeikommst, zeig ich dir die Bar mal.
Liebe Grüße
Amy


„ Ach ja, Amy“, lächelte sie. Das war typisch. Immer war die kleine Rothaarige mitten im Geschehen. Und Joe war echt sportlich.
Und Mark…war praktisch ihr Freund seit der Highschool gewesen. Doch irgendwie hatte es nicht mehr geklappt und sie waren Freunde geblieben.
Leah unterbrach ihre Gedanken und schaute aus dem Fenster. Der Himmel hatte sich gelichtet und nur der nasse Boden erinnerte an den Regen.
„Zeit um noch eine Runde Joggen zu gehen“, entschied sie.

Draußen klapperten ihre Turnschuhe auf dem Asphaltboden. Sie drehte die Musik auf und lief los. Vorbei an den alten Eichen, ein Stück durch die Innenstadt, dann ein Stück bergaufwärts.
Muskeln zogen sich zusammen und dehnten sich wieder. Ihre Lunge hob und senkte sich regelmäßig. Ihr Zopf wippte im Takt ihrer Schritte hin und her.
Leah genoss die Auszeit, fernab der Prüfungen und des Stresses. Beim Laufen konnte sie abschalten und über andere Dinge nachdenken.
Hier ist es wirklich schön. Die Leute sind nett und einige Prüfungen habe ich ja schon geschafft. Es ist hier gar nicht wie zu Hause. Es ist viel schöner.
Zu Hause. Zu Hause wartete ihre Familie. Ihre zerstrittene Familie.
Mum war fassungslos, als ich ihr von meinen Studienplänen erzählte, doch Jack unterstütze mich. Als Mum anfing zu schreien und es zum hundertsten Mal in Streit ausbrach, packte ich endgültig meine Sachen. Sie flehte mich an zu bleiben, versprach schon wie oft sich zu bessern, doch es waren sowieso nur leer Worte.
Wut keimte ihn ihr auf. Keiner konnte vernünftig sein. Alle meinten, sie könnten ihr vorschreiben, was sie zu tun habe; was sie müsste, könnte, sollte.
Wütend schüttelte sie ihren Kopf, drehte die Musik lauter und trieb ihre Beine zu einer schnelleren Geschwindigkeit an.

In den nächsten Tagen versank sie inmitten von Prüfungen und Lernstoff.
Kommunikation war ein komplizierteres Thema, als sie gedacht hatte.
Und doch hatte sie gewusst, dass es viel Arbeit werden würde.
Was wäre mir denn sonst geblieben?, dachte sie. Worte waren schon als Kind etwas Besonderes für mich. Das gewisse Laute mit geteilten Silben manchmal trösten konnten, manchmal befehlen und dann wieder beruhigen. Das eine Sprache solch einen Einfluss auf den Moment oder sogar das ganze Leben haben kann. Einfach nur unerklärbar.
Leah stürzte sich gerade zu mit fanatischem Eifer in ihre Arbeit. Wenn selten ein Mensch sie direkt ansprach, wenn, dann einer der anderen Studenten; dann suchte sie schnell nach einer Antwort und wimmelte den „Angreifer“ ab.
Denn die Wahrheit war: Sie hatte furchtbar viel Angst, dass wenn sie sich wieder in dem normalen Leben verlieren würde, wieder alles verlieren würde. Dann führte sie lieber ihr eigenes Leben, im Moment bestehend aus Studieren, Lernen und Joggen.
Ich will nicht schon wieder alles verlieren, sich bloß nicht schon wieder an etwas binden.
Denn genau das hatte Mum auch mit Dad gemacht und was nun: Er ist bei Jacks Geburt abgehauen, obwohl ich schon fünf war. Einfach vor der Verantwortung davongelaufen, weil er „nicht leben konnte“, es wäre alles nur noch „systematisch abgelaufen“. Keine Abwechslung im Alltag, keine Liebe mehr.
Natürlich war sie unglaublich wütend auf ihn, aber seltsamerweise konnte sie ihn verstehen.
So ein Leben möchte man einfach nicht führen.
Ihre Arbeit zahlte sich deutlich aus. Ihre ersten Prüfungen bestand sie mit „sehr gut“ und auch bei den folgenden hatte sie ein gutes Gefühl.


Abends drehte sie wie gewöhnlich ihre Runde um die Stadt. Leah hatte in letzter Zeit viel Glück mit dem Wetter gehabt, doch heute regnete es.
Ihre schon durchweichten Schuhe traten in Pfützen und das Wasser spritzte auf. Lauter Bass schlug in ihren Ohren, vereinte sich mit ihren Schritten. Der Regen schlug in ihr Gesicht und sie zog ihren Kopf ein. Leah konnte nicht sehr viel erkennen, es war schon dunkel. Nur einige am Wegesrand stehende Lampen spendeten ihr dämmriges Licht.
Plötzlich aber sah sie eine schemenhafte Gestalt. Als sie näher kam, erkannte sie, dass die Gestalt lässig gegen eine Hauswand gelehnt war. Leah dachte sich nichts dabei und schnaubte nur verächtlich. Wahrscheinlich nur so ein Typ, der abends herumlungert, und tagsüber mit Drogen und anderen Dingen handelt.
Sie joggte trotzdem wachsamer als zuvor an ihm vorbei. Er regte sich nicht, aber sie konnte spüren, dass sein Blick ihr folgte. Nur mit Mühe widerstand sie dem Drang sich umzudrehen, denn in ihrem Rücken spürte sie ein unangenehmes Brennen und irgendwie beschleunigte sich ihr Herzschlag. Sei nicht so eine Memme, dachte sie wütend über ihre eigene Reaktion. Dann drehte sie der Gestalt endgültig den Rücken zu und lief nach Hause.
Im Warmen wurde ihr erst richtig bewusst, dass ihre nassen Sachen unangenehm kalt an ihrer Haut klebten. Sie zitterte leicht und ihr Atem ging schwerer.
Im Bad streifte sie ihre Kleidung ab und stieg unter die Dusche. Das warme Wasser löste ihre starren Muskeln und wusch den Schweiß ab. Schon bald hatte sie die seltsame Begegnung vergessen.
Müde knipste sie das Licht aus und schlief ein.


Mitten in der Nacht wachte sie schweißgebadet aus einem Alptraum heraus auf.
Sie befand sich in völliger Dunkelheit. Sie konnte nichts sehen. Gar nichts. Vorsichtig tat sie einen Schritt. Dann noch einen. Sie hörte ihren eigenen keuchenden Atem. Sie hörte ihren lauten Herzschlag. Und plötzlich fühlte sie eine kalte harte Hand an ihrer Schulter, die sie festhielt. Sie riss sich los und rannte. Rannte und rannte vor lauter Panik.
Doch am Ende kam sie wieder dort an, wo sie begonnen hatte.

Leah verfluchte sich und ihre eigene Fantasie, drehte sich um und schlief weiter.



Kapitel 2





Am nächsten Morgen stand sie auf und schaute in den Spiegel. Sie war blass und ihre grünen Augen stachen hart aus ihrem bleichen Gesicht hervor. Ihre Lippen verkniffen sich zu einem trockenen Lächeln. „Du siehst beschissen aus“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, doch dieses schaute ihr nur hinterher, als sie sich aufmachte. Heute war Samstag und das bedeutete für Leah: Einkaufen und durch die Stadt ziehen.
Sie liebte außer dem Laufen Stadtbummel und erkundschaftete die verschiedenen Läden ausführlich. Jedes Wochenende nahm sie sich einen weiteren Laden vor, den sie sich näher besah. Es gab immer wieder neue Sachen, so wurde es nie langweilig. Und ausgerechnet heute, als ob das Schicksal es so wolle, war ein Bücherladen an der Reihe.
Die übereifrige Verkäuferin stellte sich Leah auch, kaum hatte sie den Laden betreten, hilfreich zur Seite. Doch Leah wehrte ab.
„Kann ich Ihnen behilflich sein?“, versuchte die Verkäuferin es erneut und schielte aufgeregt durch ihre Brille hinüber zu Leah. „Nein, wirklich nicht. Ich schaue mich nur um.“ Sichtlich enttäuscht verschwand die Verkäuferin und ließ Leah allein.
Sie ließ ihre Hand über die Reihen der Bücherregale streifen, durchstöberte Lexika und blätterte in unzähligen Büchern.
Es gab spannende Krimis mit erregenden Einbänden und dann wieder Kochbücher mit Speisen aller Art auf den Buchdeckeln.
Leah wanderte langsam durch den Laden, als ihr ein auffiel, dass ein Raum noch hinter den normalen Eingangsbereich führte. Da standen auch viele wunderbare Werke.
Sie grinste. Was würde Amy und die anderen jetzt wohl sagen, dass ich in meiner Freizeit auch Bücherläden besuche? „Leah sei doch vernünftig. Geh doch Party machen oder spazieren, aber hänge nicht allein in einem öden Buchladen rum.“
Leah bewunderte die vielen alten staubigen Bibeln, die ganz oben im Regal standen.
Ein dunkelgrüner Einband mit kunstvoll verschlungenen goldenen Buchstaben weckte ihr größtes Interesse. Sie zog das Buch heraus. „Meine Güte, ist das schwer“, keuchte sie, als das Buch mit einem dumpfen Geräusch in ihre Hände fiel.
Sie besah es sich genauer. Die Worte, die auf den Seiten geschrieben, ja mehr gezeichnet worden waren, waren ihr unbekannt. Sie kannte viele Sprachen, ja sogar einige Schriftzeichen waren ihr bekannt, aber diese waren sehr seltsam.
Leah nahm es und ging damit zu der Verkäuferin. Diese rief erschrocken aus:“ Seien Sie bloß vorsichtig mit diesem Exemplar. Das haben wir nur einmal. Das ist wertvoll.“
Erschrocken über diese Reaktion ließ Leah das Buch auf die Ladentheke fallen und starrte die blassgewordene Frau an. „Was ist an diesem Buch so wertvoll, dass es dann in irgendeinem Bücherregal rumsteht? Dann müsste es ja aufbewahrt werden, auf seidigen roten Kissen hinter einer Glaswand“, konterte Leah.
„Aber Kind“, japste die Frau. Rote Flecken überzogen ihre Wange.
„Was sagen Sie da? Haben Sie ein Ahnung welches außergewöhnliche Stück Sie da in der Hand hielten?“ Die Verkäuferin schien schockiert über Leahs direkte Antwort.
„Nein, weiß ich nicht. Und wenn Sie es mir auch nicht sagen, werde ich es auch nicht wissen“, gab sie barsch zurück. Leah hasste es, wenn so ein Wirbel um eine so kleine Sache gemacht wurde.
Die Frau nickte bestätigend. „Hab’s ich doch gewusst“, rief sie aus. „Sie haben keine Ahnung.“
Leah zuckte gleichgültig mit den Schultern.
„Na ja, dann will ich es Ihnen mal erklären. Dieses Buch ist aus der alten Religion der Azteken. Und deshalb ist es auch in ihrer Sprache geschrieben. Im frühen Mittelalter galten diese Exemplare als gottesverräterisch und sie wurden alle verbrannt. Nur wenige gibt es noch und dieses haben wir vor kurzem erworben. Weshalb es allerdings hinten steht und nicht wirklich irgendwo aufgehoben, ist mir allerdings auch schleierhaft“, fügte sie ratlos hinzu.
Leah hatte der Frau erst gleichgültig zugehört, doch als sie auf die Azteken zu sprechen kam, wurde sie hellhörig.
Die Azteken…Ich frage mich, wie diese Leute ausgerechnet an solch ein Buch gekommen sind.
„Woher haben Sie es denn?“, fragte Leah jetzt beiläufig.
Die alte Frau blickte auf. „Oh mein Kind, das weiß ich selber nicht. Meine Kollegin hatte irgendwas von einem Mann, der ihr das Buch verkaufen wollte. Doch wissen Sie“, machte sie eine kleine Pause und senkte ihren Tonfall, dass Leah sie kaum verstehen konnte, “ meine Kollegin ist auch nicht mehr so jung wie früher. Sicherlich hat sie die Geschichte verworren wiedergegeben.“
Leahs Kopf ratterte. Eine Buchhändlerin soll ein altes wertvolles Buch von einem dahergelaufenen Mann gekauft haben? Und dann liegt es einfach so staubig in einem einfachen Regal herum? Sehr komisch…
Die Buchhändlerin schien Leahs gedankenvolles Schweigen nicht zu bemerken, denn sie musterte sie einen Moment lang und dann nahm sie das Buch wieder, legte es in ein anderes Regal direkt in der Nähe der Theke, damit sie es besser unter Aufsicht haben konnte, vermutete Leah.
„Auf Wiedersehen“, gab sie höflich zurück, als Leah mit einem Klingeln die Ladentüre hinter sich zufallen ließ. Leah schaute auf die Uhr. „Mist! Die anderen Läden haben nur noch eine halbe Stunde auf“, fluchte sie und eilte zum nächsten Geschäft weiter, um den Rest noch zu kaufen, bevor es zu spät war.


Am nächsten Morgen wachte Leah schon früh auf. Die ganze Nacht hatte sie über dieses Buch und das seltsame Verhalten der Buchhändlerin gegrübelt, war jedoch keinen Schritt weiter gekommen. Da sie ihre Prüfungen hinter sich hatte, beschloss sie noch einmal in die Stadt zu fahren und sich den Laden von außen noch einmal anzusehen.
Ich denke zwar nicht, dass da ein geheimer Brief mit einer direkten Anleitung zu einem Schatz irgendwo rum liegt, aber es kann ja sein, dass mir irgendetwas auffällt.
Sie musste grinsen. Sie, Leah, Studentin der Kommunikationswissenschaft ging in ihrer Freizeit mysteriösen Buchhändlern auf die Spur.
Leah parkte ihr Auto abseits der Innenstadt und stieg aus. Langsam schritt sie durch die verlassenen Straßen. Seltsam, dass hier gar keine Seele ist.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass heute Sonntag war. Kein Wunder dass alle Geschäfte geschlossen waren. Dennoch kehrte sie nicht um. Wenn sie schon einmal in der Nähe war, konnte sie sich den Laden auch noch einmal anschauen.
Sie trat also vor den geschlossenen Buchladen. Draußen standen noch Fahrradständer und ein rostiger klappriger Reifen lag dort herum. Leah beugte ihren Kopf näher den Ausstellungsstücken entgegen – und stieß gegen die harte kalte Glaswand. In dem Laden war alles dunkel und verdeckt. Leah konnte nichts entdecken, obwohl sie ihr Gesicht fest gegen das Schaufenster presste.
Neben ihrem Auge schimmerte etwas. Sie trat einen kleinen Schritt zurück – und erschrak.
Ein dunkles Gesicht blickte ihr entgegen.
Sie drehte sich erschrocken um, doch hinter ihr stand keiner.
Als erstes versuchte sie sich damit zu beruhigen, dass das Licht ihr Wohl einen Streich gespielt haben muss.
Trotz allem ist ihr nicht wohl dabei. Ihr Bauch grummelte verdächtig und ihre Harre hatten sich fein aufgestellt. Weg hier… Sie beschleunigte ihre Schritte und warf einen letzten Blick zurück. Das Gesicht war verschwunden.

Am selben Abend geschah wieder etwas Seltsames: Sie joggte in eine kleine Seitengasse des Dorfes, als sie hinter sich Schritte hörte. Sie drehte sich um, doch sie konnte niemanden erkennen. Es war zu dunkel. Als sie stehen blieb, wurde es einen Moment still, dann lief sie wieder los. Wieder hörte sie leise knirschende Schritte, die ihr Schauer über den Rücken laufen ließen. Links und rechts von ihr ragten hohe steinerne Wände empor. Der einzige Weg war also nach vorne. Ihr Atem ging schneller und ihr Herz zog sich angstvoll zusammen. Mit hämmernden Schritten rannte sie aus der Gasse, hinaus aus dem Herz der kleinen Stadt, direkt zu ihrer Wohnung.



Kapitel 3


„Verdammter Wecker“, murrte sie am nächsten Morgen. Er klingelte schrill und laut.
Heute war Montag und das hieß: Aufstehen und Lernen. Müde und mit wirren Haaren schmierte sie sich ihr Brot, als das Telefon klingelte. „ Hey Schlafmütze!“, meldete sich eine laute Stimme. “Aufstehen! Nein im Ernst, bei dir ist es doch schon Morgen, oder?“ „Amy?“, murmelte Leah, immer noch verschlafen.
„ Wie geht’s dir? Du hast meine letzten Mails nicht beantwortet, da dachte ich, da muss ich mal anrufen.“ Amys Stimme brabbelte sie voll. Leah kam fast gar nicht zu Wort. Sie schaute auf die Uhr. Noch eine Viertelstunde, dann musste sie los. Schließlich schnitt Leah ihr genervt das Wort ab.
„…und dann kam Joe und du hättest den mal sehen müssen, wie der sich auf den gestürzt hat….also meiner Meinung nach hat der Typ echt Glück gehabt, Joe hätte den platt machen können…“
„Amy.“
„ Und dann kam noch der schnuckelige Jason dazu, ich sag dir, der ist ja sooo süüß. Aber richtig heiß ist immer noch…“
„ Amy!“ „Was ist denn?“, fuhr Amy sie an, verärgert schon wieder unterbrochen worden zu sein. „ Ich muss gleich zur Uni. Mach mal Pause, hol Luft. Ich muss noch duschen und dann losfahren.“ „ Oh, tut mir leid. Ich wollte dich nicht stören. Aber weißt du, die Zeitverschiebung ist ja so bescheuert.“ Betroffen und enttäuscht legte Amy auf, nachdem Leah ihr versprechen musste, zurückzurufen.
Sie stieg ins Auto und hielt noch beim Bäcker an.
„ Guten Morgen“, grüßte die rundliche Bäckerin sie. „Was kann ich für Sie tun?“
„ 2 Sandwiches, bitte“, bestellte sie und bezahlte. Das Geld klirrte in ihrem Beutel.
Die Bäckerin reichte ihr die warme Tüte und beugte sich verschwörerisch über die Theke.
„Ach ja, noch eine Sache. Ich würde nicht mehr abends hier herumlaufen“, begann sie. Verwirrt schaute Leah auf. „Warum sagen Sie mir das?“ „ Ich habe Sie schon öfters hier entlanglaufen sehen. Glauben Sie mir, obwohl es hier idyllisch schein, schwarze Schafe gibt es überall. Und es ist ja nicht so, dass sie Joggen überhaupt nötig hätten“, lachte die rundliche Frau freundlich. „Schönen Tag noch“, murmelte Leah verlegen und verließ den Lagen.

Trotz ihres Telefonats war sie immer noch ein bisschen zu früh dran. Sie schlenderte noch etwas durch die Uni, damit es nicht zu offensichtlich war, dass sie zu früh war. Pünktlich betrat sie den Raum. Gerade, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Gerade, als sie eingetreten war. Gerade, als sie sich umdrehte. Da traf sie der Schlag.
In einer Reihe, in der Reihe genau hinter ihr, saß ein in schwarz gekleideter Mann, der sie reglos anstarrte.
Und sie starrte zurück. Es war ja nicht so, als hätte sie noch nie in ihrem Leben einen Mann gesehen, der gut aussah, aber dieser jemand übertraf alles.
Er war so anders, als alle andere Menschen, die sie jemals gesehen hatte.
Er hatte scharf geschnittene Gesichtszüge und ein stolzes Kinn.
Ausdrücke wie hübsch oder gutaussehend konnten ihn einfach nicht beschreiben. Er war so perfekt, so unglaublich vollkommen. Unter einem schwarzen Hemd spannten sich seine Armmuskeln. Und irgendwie wusste sie sofort, dass diese Arme hart waren, mühelos Knochen brechen konnten.
Doch das seltsamste war seine Ausstrahlung. Er kauerte halb auf seinem Sitz und rührte sich nicht, als wäre er eine Statue. Er fixierte sie mit seinen Augen.
Seine Augen. So seltsam, so anders. Seine Augen.
Diese kalten harten Augen starrten sie an und Leah stand dort gebannt von diesem Anblick, dass sie fast vergaß zu atmen.
Erst, als die Tür aufging und andere Studenten hereinströmten, war die Spannung gebrochen.
Leah ging langsam auf ihren Platz zu und setzte sich ganz langsam hin.
Als der Professor begann, konnte sich Leah kein bisschen auf ihn konzentrieren.
Ein ziehendes Brennen stach ihr in den Rücken und sie wusste, dass er sie beobachtete.
Und das machte ihr große Angst. Ängstlich lauschte sie dem Vortag und hatte aber immer ein Ohr bei ihm. Unter ihrem dicken Pulli begann sie zu zittern und feine Schauer durchfuhren ihren Körper.
Ihr ganzer Körper schrie ihr zu, zu fliehen, wegzulaufen. Doch sie konnte nicht. Nicht hier nicht jetzt. Nicht in der Uni, nicht bei einer Vorlesung.
Sie würde sich zum Gespött der ganzen Menschheit machen, wenn sie vor einem fremden Mann weglief, denn sie nicht kannte und der sie einfach nur ansah.
Doch als die Vorlesung vorbei war, beschleunigte sie ihre Schritte und floh förmlich aus dem Raum. Sie warf keinen Blick zurück, wollte einfach nur von ihm weg. Weg. Weg. Weg
Zum Glück war er bei den folgenden Stunden nicht da, aus welchem Grund auch immer.
Das war ihr vollkommen egal, hauptsache sie hatte ihre Ruhe und brauchte sich nicht mehr zu fürchten.

Im Auto schloss sie die Türen ab und lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück.
Sie atmete tief aus. Warum macht er mir solch eine Angst? Er hat weder etwas gesagt, noch etwas getan. Er saß einfach nur da.
Sie lachte vor lauter Schreck. Denn ihr war es klar geworden.
Er machte ihr Angst, weil er einfach nichts tat.
Jeder andere Mensch hätte etwas getan. Geredet, gehustet, gelacht oder sich bewegt. Er hat gar nichts gemacht. Gar nichts.

Sie fuhr nach Hause und ließ sich dort sofort auf ihr Bett fallen. Erst nach einer Weile fasste sie sich langsam wieder mit einer Tasse Kaffee und ihrem Laptop auf ihrem Schoß.
Sie versuchte sich mit Mails abzulenken und ihn zu vergessen oder zu verdrängen.
Doch egal was sie tat, ob laut Musik hören oder die Augen schloss, dieses eine Bild ging ihr nicht aus dem Kopf: Er saß bewegungslos da und fixierte sie mit seinen Augen. Seine Augen.

Und auch in der Nacht ließ sie dieser dunkle Mann nicht schlafen.
„Leah“, rief er. Doch das konnte nicht sein. Er sagte gar nichts. Er bewegte noch nicht einmal seine Lippen. „Leah.“
„Lass mich!“, schrie sie laut und fuhr aus dem Schlaf. Schweißgebadet und schwer atmend sah sie auf die Uhr. 2:15.
Sie grummelte und drehte sich oft herum.
Schließlich erbarmte sich der Schlaf und holte sie.

Kapitel 4


Ein Professor holte sie am Ende einer Stunde nach vorne, um mit ihr zu sprechen.
Leah war überrascht, fügte sich aber.
„Nun Miss …“, räusperte er sich und sah auf seine Unterlagen, “ Montgomery. Wie gefällt Ihnen die Uni? Fühlen Sie sich wohl?“ Leah war verwirrt. Was soll das denn jetzt? Macht der einen auf Psychologen?
„Mir gefällt es hier gut, danke Sir“, antwortete sie höflich.
Der Professor nickte. „ Sie fragen sich wohl, warum Sie hier vorne stehen, nicht wahr?“, lachte er und schaute sie gutmütig an. Leah war erstaunt.
Lachfältchen durchzogen sein altes Gesicht. „Ehrlich gesagt, ja Professor“, gab sie ehrlich zurück.
„Nun ich will es Ihnen erklären. Sie haben schon zwei Semester hinter sich und sind praktisch aber noch, entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise“, unterbrach er und schaute sie an „, ein kompletter Anfänger in der Kommunikationswissenschaft, nicht wahr?“
„ Ja, eigentlich schon, Sir.“ Worauf will er hinaus?
„ Und trotzdem haben Sie die besten zwei Arbeiten ihres ganzen Studienganges geschrieben“, teilte er ihr strahlend mit. Leah riss überrascht die Augen auf. „ Die besten des ganzen Studienganges?“, wiederholte sie ungläubig.
„ Ja, das ist allein Ihre Arbeit“, gab der Professor freundlich zurück.
„Meinen herzlichen Glückwunsch und bleiben Sie dran, Miss. Aus Ihnen könnte etwas Großes werden!“
Und nach dem überraschenden Lob des Professors, verabschiedete sich Leah von ihm.

Erst später konnte sie es kaum fassen.
„Die besten zwei Arbeiten überhaupt“, murmelte sie, immer noch fassungslos.
Und dann ging mit ihr die Freude durch. Sie tanzte zu lauter Musik durch ihr Zimmer und sang dabei laut mit. Sie sprang auf ihr Bett, wirbelte herum und sprang in die Luft.
Dabei bemerkte sie die dunkle Gestalt vor ihrem Fenster nicht.


Leah gönnte sich ein paar Tage später einen weiteren Ausflug in die Stadt.
Die wollte die Stadtbücherei besuchen und dabei fiel ihr das Aztekenbuch wieder.
Sie sprach eine Frau in der Bücherei an.
„Entschuldigen Sie mich, aber haben Sie etwas über alte Religionen?“, fragte sie.
Diese schob die Brille auf ihre Nase und musterte sie lange. Leah wandte sich innerlich unter dem forschenden Blick der Bibliothekarin. Schließlich lächelte die Dame und ihre grauen Augen funkelten hinter ihrer Brille.
„Welche Religion? Ägypter, Christen…?“
„ Ähm…die Azteken“, antwortete Leah unsicher. Machst du das hier wirklich? Du spionierst einem alten Buch und einer wirren Aussage hinterher? Ja, das mache ich.
Leah grinste unwirklich und wurde deshalb prompt von der Dame gemustert. Nach einer Weile wandte diese sich ab und dachte nach, was sie so eben gehört hatte.
„Die Azteken…“, murmelte die Frau, dann bedeutete sie Leah ihr zu folgen. Trotz ihres Alters stieg die Frau mit erstaunlicher Sicherheit eine hohe Leiter bis zum Ende eines gigantischen Regals hinauf und warf Leah einige Bücher zu, die sie ächzend auffing.
„ Die Bücher sind schon etwas älter, daher sind die Quellen wohlmöglich nicht ganz verlässlich. Aber Sie können ja trotzdem einmal nachschlagen. Viel Spaß“, fügte sie stirnrunzelnd hinzu, als sie die wankende Leah unter dem Bücherstapel ansah.
Sie suchte sich einen Tisch und pustete über die staubigen Seiten der Bücher.
Seufzend begann sie Seiten zu durchblättern.

Die Azteken waren ein altes sagenumwobenes Volk. Sie opferten oft Menschen, um ihre Götter zu besänftigen…Schamanen tanzten um die Gunst ihrer Götter…

„Na super“, murmelte sie „, Menschenopfer und Schamanen. Nicht gerade dass, was ich gedacht hatte.“
Sie suchte doch weiter und stieß auf viele interessante Informationen, die ihr aber kein bisschen weiterhalfen.
Sie blätterte sich von der Entstehung des Volkes, über die Religion und Götter, bis hin zu den Legenden und Bräuchen.
Aber auch nach über einer Stunde hatte sie nichts gefunden.
Sie stellte die Bücher enttäuscht zurück, als ihr auf dem Weg zum Ausgang ein dunkles Augenpaar begegnete.
Sofort begann ihr Herz wie wild zu schlagen und in ihrem Bauch krampfte sich alles zusammen.
Was zum Himmel ist los mit mir? Das kann nicht sein. Das ist bestimmt nicht der Mann aus der Uni.
Nein, nein, nein. Da irrst du dich, Leah. Geh einfach weiter und ignorier es einfach. Das hast du dir definitiv eingebildet, redete sie sich ein und verließ schnellen Schrittes die Bücherei, vorbei an der erstaunten Bibliothekarin, vorbei an den vielen Regalen, vorbei an den vielen Legenden und Mythen.
Sie rannte raus auf die Straße und sog die kalte Luft ein.
Dann blickte sie noch einmal zurück und ging dann hinaus in die Realität, in der alles so war, wie es wirklich scheint. Nicht umwoben von Legenden, sondern von festen harten Tatsachen, die man fühlen und sehen konnte.

Leah seufzte erleichtert auf. Heute war der letzte Semestertag, dann hatte sie Ferien. Und das zwei Monate lang.
Freude stieg in ihr auf. Kein Lernen, sondern nur entspannen und raus an die frische Luft.
Joggen, Musik, Laufen und wieder Entspannen.
Doch gerade in dem Moment, in dem sie in auf den Parkplatz bog, erschrak sie wieder so sehr, dass sie hart auf die Bremse trat und fast gegen das Lenkrad flog.
Unendliche Meter vor ihr, lässig und provokant gegen eine Wand gelehnt, war er.
Nein. Nein. Nein. Dieses eine Wort hämmerte in ihrem Kopf. Was macht er schon wieder hier? Der hat sich doch Wochen nicht mehr blicken lassen.
Dabei ignorierte sie bewusst das unangenehme Ziehen in ihrer Magengegend.
Obwohl er sie nicht hören konnte, schien er sie genau zu beobachten, ja es schien, als hätte er bereits auf Leah gewartet.
Und das Erschreckenste war: Seine Lippen verzogen sich zu einem kalten Lächeln.
Und eines war glasklar: Das kalte gefrorene Lächeln war ganz allein für Leah bestimmt.
Daran konnte keiner etwas ändern. Denn er sah sie mit solch einer harten kalten Intensität an, das musste allein ihr gelten.
Zitternd versuchte sie Haltung zu bewahren und stieg vorsichtig aus. Dabei glitt ihr der Ordner aus der Hand und fiel zu Boden. Doch Leah bemerkte es gar nicht.
Denn in dem Moment, in dem sie dieses Lachen hörte, war alles vorbei.
Dieses kalte grausame Lachen, das in ihren Ohren klang.
Es war, als wäre alles, was sie bisher in ihrem ganzen Leben, die ganzen langen Jahre, zu lieben und leben gelernt hatte, keine Rolle mehr spielte.
Dieser harte kalte Ton fesselte alles in ihr. Ihre Füße machten sie unbeweglich und Denken war unmöglich.
Panik stieg nun neben dem Adrenalin in ihr auf und schnitt ihr die lebenswichtige Luft zum Atmen ab.

Sie wirbelte herum, konnte sich geradezu noch dazu ringen, ihren Ordner zu packen und dann trat sie auf das Gaspedal und raste davon.
Leah wusste nicht wohin sie flüchtete, wusste nicht wohin sie fuhr.
Sie wollte nur so viel Strecke zwischen sich und diesem Menschen bringen, soviel wie möglich.
Mit einem hässlichen Geräusch platzten dicke Regentropfen auf ihre Fensterscheibe und dass machte sie noch mehr verrückt. Leah riss die Augen auf und trat das Pedal durch.
Ihr Auto raste durch den peitschenden Regen und an den Seiten spritzte das Wasser nur so auf.
Der Himmel war dunkel und die Sonne wurde fast vollkommen von den schwarzen Wolken verdeckt.
Ihr Auto rauschte durch den Sturm und mit jedem Kilometer ging es ihr ein wenig besser.
Doch anhalten konnte sie auch nach 150 Kilometern nicht.

Doch irgendwann wurde ihr bewusst, dass der Professor von nichts wusste, daher rief sie kurz beim Sekretariat an und meldete sich krank.
„Gute Besserung“, wünschte ihr eine freundliche Stimme am Telefon. „Und schöne Ferien.“

Doch in der Nacht fiel ihr noch etwas Schreckliches ein.
Ihre Panik war erst übermächtig geworden, als sie in diese grausamen Augen geblickt hatte.
Obwohl er Meter vor ihr gewesen war, konnte sie ganz klar und deutlich seine Augen erkennen.

„Augen sind die Spiegel der Seele“, hatte einmal ein schlauer Mann gesagt und früher hatte Leah diesen Spruch auch bewundert, doch jetzt hatte sie diesen Satz fürchten gelernt.

Denn seine Augen waren schwarz gewesen. Pechschwarz.

Kapitel 5


Und die folgenden Tage, Wochen und Monate wurden die reinste Hölle.
Nach diesem erschreckenden Erlebnis war nichts mehr wie vorher.
Hinter jeder Hecke vermutete Leah ihn, hinter jeder weiteren Gasse sein Gesicht, in jedem Spiegel seine Augen.
Sie ging nicht mehr raus, nahm keine Anrufe entgegen und auch einkaufen war sie nicht mehr seit einiger Zeit.
Einmal hatte einer ihrer Studentenbekannte angerufen und wollte sie zu einer Party einladen, doch sie wehrte hysterisch ab.
„ Dann halt nicht. Ist ja schon gut, war ja nur so ne Idee“, rief der Anrufer und schon war es in der Leitung tot.

Leah hatte furchtbare Alpträume.
Alles war dunkel, kalt und einfach nur schrecklich.

Doch als nach zwei Wochen ihre letzten Lebensmittel ausgingen, musste sie raus.
Mit einem Messer in der Handtasche und Geld ging sie langsam und vorsichtig in einen kleinen Lebensmittelladen.
Sie sah sich ängstlich um, ihre Augen huschten umher, doch auch als sie nichts entdeckte, stand sie unter großer Anspannung.

Nach einer guten Weile kam sie zur Theke und bestellte Wurst und Käse. Dabei fiel ihr Blick auf ein Werbeplakat.


Party in der Mehrzweckhalle
Am 5. Oktober
Um 22 Uhr
Nur für acht Euro und ein Getränk frei!



Die Verkäuferin bemerkte ihren interessierten Blick.
„Ich finde das viel zu früh“, sagte sie und nickte in der Richtung des Plakates.
„ Was ist?“, fragte Leah. „ Entschuldigung, ich war gerade abgelenkt.“ Sie hatte ihren Blick umherhuschen lassen. Nur um sicher zu sein.
Die Verkäuferin schmunzelte. „ Das merkt man. Haben Sie es eilig?“
„ Nein, nein“, gab Leah hastig zurück. Du bist so bescheuert Leah! Das war viel zu schnell. Das glaubt die dir doch nie im Leben! Und wirklich, die Frau musterte sie argwöhnisch.
„ Ich meine, was ist zu früh?“, lenkte sie ab.
Zum Glück ging die Verkäuferin darauf ein.
„ Na, die Party ist in zwei Wochen und die machen schon jetzt Werbung dafür, dabei ist das ein kleines Ding.“
„ Gehen Sie hin?“, fragte sie Leah plötzlich mit neu erwachtem Interesse.
„Ich, nein nein. Ich kann nicht. Ich muss für meine Prüfungen lernen“, flunkerte sie schnell.
Endlich bekam sie ihre Bestellung und rauschte unter dem überraschten Blick der Bedienung mit einem lauten und hoffentlich selbstbewussten, so hoffte Leah, „Auf Wiedersehen“ zur Kasse.
Aber ihre Stimme klang hoch und dünn.

Nach ihren Einkäufen fuhr sie direkt nach Hause und schloss erleichtert die Tür hinter sich.
„ Nichts passiert“, murmelte sie froh und ein Haufen Steine rollten ihr vom Herzen.
Dann warf sie einen Blick auf ihr Handy.
Fünf entgangene Anrufe von Amy.
Als Leah die Wiederholungstaste drückte und die vertraute Stimme ihrer alten Freundin hörte, wich die ganze Spannung aus ihrem Körper.
„ Amy, ich bin so froh dich zu hören“, platzte sie heraus.
„ Hey Leah, du weißt, ich freu mich immer auf dich, aber weißt du wie viel Uhr es ist?“, erklang Amys vorwurfsvolle Stimme. Oh. Das hatte sie ganz vergessen.
„Keine Ahnung“, gab sie freimütig zu.
Seufzer. Stöhnen. „ Zwei Uhr mitten in der Nacht.“
Leah schluckte. „ Soll ich morgen noch mal anrufen?“
„ Erstens ist bei mir schon „Heute“ und zweitens, wenn’s was Wichtiges ist, hör ich dir zu.“
Gerade als Leah „ Ja“ sagen wollte, wurde ihr bewusst, wie kindisch sie sich benahm.
Was soll ich ihr sagen? Amy, das ist so ein komischer dunkler Typ, der mir Angst macht und deshalb trau ich mich kaum aus dem Haus. Nein, das geht doch nicht.
Also brachte sie ein „Sorry, ist nicht so wichtig. Bis dann“, zustande und legte auf.
Dann starrte sie in die tote Leitung.

In den nächsten Tagen ging sie auch nicht raus. Sie tigerte in ihrer Wohnung herum und tippte hier und da ein paar Mails für ihre Familie und ihre Freunde.
Leah räumte ihren Schrank auf und putze alles durch.
Musik, Radio und TV konnten sie auch nicht glücklich machen.
Schließlich sah sie ein, dass sie raus musste.
Zufällig fiel ihr Blick auf den Kalender. 5.Oktober.
„ Heute ist diese Party. Soll ich hingehen oder nicht?“, murmelte sie, mehr zu sich selbst.
Sie rief kurzfristig eine Bekannte an, Jessy, die ein Semester über ihr war.
„ Hey Jess“, meldete sie sich nervös.
„ Leah?“, meldete sich eine verwunderte Stimme.
„ Ja, ich bin’s. Hör mal da ist doch diese Party…Gehst du da hin….“

Zwei Stunden später trat sie vor den Spiegel. Sie hatte sich für ein schmuckloses schwarzes Kleid entschieden. Ihre Haare hatte sie sich zu einer lockeren Frisur hochgesteckt. Ihr Gesicht war vor Vorfreude leicht gerötet und verlieh ihr das erste Mal seit einigen Tagen ein normales Aussehen.
„ Was soll schon schief gehen. Das ist eine normale Party und du hast jetzt mal Spaß“, sagte sie zu ihrem Spiegelbild.
In dem Moment klingelte es an der Tür.


Kapitel 6


Vor der Tür stand Jess und ein schwarzhaariger Junge, genannt Tyler, erinnerte sich Leah.
Verlegen stand sie vor den Beiden.
“ Ähm ja, ich hol mal meinen Mantel“, sagte sie und schloss dann die Tür hinter sich.
Jess musterte sie beiläufig, doch Leah erkannte Neid und einen Anflug von Wut in ihren Augen, als Tyler ein bewundertes „ Wow, Leah so kenn ich dich ja gar nicht. Du siehst gut aus.“, ausstieß.
„ Ist nicht so wichtig“, wehrte sie ab, um keinen Streit vom Zaun zu brechen, “ Lasst uns losfahren. Ich freu mich.“

Jessys Miene hellte sich deutlich auf, als sie die laute Musik und den schweren Bass schon draußen hörte. Sie packte Tyler am Arm und zog ihn direkt ins Getümmel.
Leah stellte sich erst einmal etwas abseits und beobachtete die wild tanzende Meute.
Sie genoss den lauten schweren Bass in ihren Ohren und konnte seit Wochen das erste Mal wieder richtig abschalten.
Die Menschen tanzten rhythmisch zu der Musik.
Leah konnte in dem bunten pulsierenden Chaos Jess und Tyler erkennen.
Jess schlängelte ihren Körper provokant um Tyler.
Diesem konnte man seine Verlegenheit ansehen. Er wurde feuerrot.
Leah lachte laut und holte sich daraufhin einen Drink.
Ein dunkelhäutiger junger Mann saß neben ihr.
„ Na, was läuft so?“, fragte er nach und ließ seinen Blick mehrmals an ihr auf und hinabwandern.
„Wenig“, gab sie betont kühl zurück und nahm ihr Getränk entgegen.
Der Mann lachte. „ Ich heiße Noah. Du?“
Als er lachte entblößte er seine strahlenden weißen Zähne.
Doch Leah kannte solche Burschen. Die machen sich an Mädchen ran. Blender.
Sie schnaubte verächtlich, kippte den Rest ihres Getränkes hinunter und wandte sich zum Gehen.
Doch Noah hielt sie auf. „ Hey, hey Schnecke, bleib doch noch.“
Seine Hand versuchte ihre zu packen, erwischte aber nur ihre Schulter.
Wie ein Reflex schnellte ihre rechte Hand nach vorne und traf gezielt seine rechte Wange. Es klatschte laut und ihre Hand hinterließ einen brennenden roten Fleck.
„ Erstens: Fass mich nie wieder an. Zweitens: Nimm deine Flosse da weg“, zischte sie ihn giftig an und funkelte Noah wütend an.
Beleidigt und erschrocken glitt seine Hand kraftlos von ihrer Schulter.
Leah stöckelte extra schnell von der Theke weg und stürzte sich zu Tyler und Jess ins Getümmel.
„Was war das denn?“, rief Jess, doch Tyler sah sie nur schockiert an.
„ Was ist, Ty?“, lachte Jess über sein Gesicht und hickste. Sie hatte eindeutig zu tief ins Glas geschaut.
„ Weißt du wer das war?“, brachte Tyler schließlich hervor.
„Nein“, gab Leah scharf zurück.
„ Das war mein Rugby Teamkapitän, dem du da eine geklatscht hast!“
Doch das beeindruckte sie kein bisschen.
„Nein, das war ein Schwein, dem ich eine geklatscht habe!“
„ Na, wie du meinst“, murmelte Ty leise und wandte sich Jess zu.
„ Mensch Mädel, du bist ja total voll!“, beschwerte er sich, als Jess ihn lachend und hicksend zur Bowle zog.
„ Du fährst heute nicht nach Hause.“ Er schüttelte den Kopf.

Leah sah den beiden nach.
Ihre Hand brannte und ihrem Kopf wurde es schwummrig.
Die Tanzfläche begann sich zu drehen und die Gesichter der Leute verwandelten sich in Ty, Jess, Amy und Joe.
„ Ich glaub, ich muss hier raus“, keuchte sie und presste sich eine Hand auf den Mund.
Sie rannte, so gut wie möglich, eher wankte sie, zur Toilette.
Leah spritzte sich Wasser ins Gesicht und wischte sich mit Papiertüchern über ihren Mund.
Sie war leichenblass und auf ihrer Stirn standen feine Schweißperlen.
Verdammt. Was ist los? Mir ist total schlecht und ich sehe echt beschissen aus.

Plötzlich kam in ihrem Hals ein Würgen hervor und sie beugte sich vorsichtshalber über eine Schüssel.
Die Tür ging auf und ein Schwall frischer Luft kam herein.
Leah erkannte nur lange schlanke Beine.
„ Reiher bloß nicht in das Klo“, hörte sie eine Stimme.
Zweifellos weiblich.
„ Ich muss raus“, rief sie.
Leah rannte an den wirbelnden Lichtern und Geräuschen vorbei, hinaus an die frische Luft.
Sie riss die Tür auf und draußen atmete sie die frische klare Luft ein.

Nach ein paar Minuten wurde es in ihrem Kopf etwas klarer, doch hundertprozentig war sie immer noch nicht auf den Beinen.
Hinter sich hörte sie ein Klicken. Die Tür ging auf.
Als Leah sich umdrehen wollte, um zusehen, wer es war, drückte sich eine Hand auf ihren Mund.
„ Ich lass mich doch nicht von einer Backpfeife abwimmeln“, hörte sie eine leise raue Stimme.
Sie roch eine schwere Alkoholfahne.
Plötzlich drehte jemand ihre beiden Hände brutal auf den Rücken und sie wurde gezwungen sich umzudrehen.
Ein nasser ekelhafter Atem stieg Leah ins Gesicht. Es war….Noah.
Doch seine Augen glitzerten verrückt, als wäre er irre.
„ Jetzt geht der Spaß erst richtig los, Schätzchen“, raunte er ihr zu.
Leah drehte angeekelt den Kopf weg.
Jetzt versuchte sie sich zuwehren.
Mit aller Kraft warf sie sich gegen seine harte Brust, versuchte irgendwie zu schreien, doch kein Ton kam aus ihren Lippen. Noah lachte gehässig und warf den Kopf zurück.
„ Jetzt spielen wir. Ja, du musst mitspielen. Du warst ja viel zu beschäftigt, mich abblitzen zu lassen, da hast du die Tropfen in dem Cocktail gar nicht gemerkt, nicht wahr?“
Leah riss überrascht die Augen auf.
„ Ja, jetzt hast du Angst nicht wahr?“, lachte Noah verrückt.
Leah beachtete ihn nicht. Denn hinter Noah näherte sich ein dunkler Schatten.
Ein Schatten, der ihr nur allzu bekannt war.
Dieser Schatten sprang gegen Noahs Rücken. Vor Schreck ließ dieser Leah los und schaute sich um.
Doch sie konnte sich vor lauter Schreck nicht rühren.
Er war es. Er war gekommen, um das zu tun, was auch immer er mit ihr tun wollte.
Mit einer erschreckenden Ruhe wurde ihr bewusst, was er tat.
Er verfolgt mich. Er folgt mir. Er verfolgt mich.
„ Verdammt Mädel, was ist das?“, schrie Noah laut.
Er war nun auch wütend, aber vor allem wusste er nicht, was los war.
„ Was ist das?“
Im nächsten Moment wurde Noah gegen eine Hauswand geworfen und landete daraufhin scheppernd in einem Haufen Mülltonnen. Er rührte sich nicht.
Doch in Leahs Hals stieg ein Schrei auf, als er im nächsten Moment vor ihr stand.
Die bunten Lichter der Party, die durch ein zerbrochenes Fenster leuchteten, wurden in seinen leblosen schwarzen Augen reflektiert. Sie starrte ihn an, unfähig sich zu bewegen.
Ihr Atem stockte, als er einen Schritt näher kam.
Plötzlich sprang er auf sie zu.
Leah konnte gerade nur noch die Augen schließen.
In diesem Moment war ihr alles egal. Bring es zu Ende, dachte sie. Tu es. Dann ist es wenigstens vorbei.
Sie spürte harte beschützende Hände die sie gegen die Wand der Halle drückte.
Zitternd holte sie Luft und stieß sie zischend wieder aus.
Dann hörte sie seine Stimme.
Sie war kalt und emotionslos.
„ Du gehst wieder rein. Verstanden?“, befahl er kalt.
Leah nickte, wie in Trance.
Daraufhin verschwand der Druck auf ihrer Brust. Ein Windstoß erhob sich und durchfuhr ihr Haar.
Langsam öffnete sie die Augen.
Er war weg.
Und Noah auch. Er lag nicht mehr in den Mülltonnen.
Sie waren beide weg. Spurlos.

Leah tat wie ihr befohlen und ging daraufhin sofort wieder in die Halle.
Dort wurde sie von einer betrunkenen Jess und einem sich Sorgen machenden Tyler erwartet.
„ Mensch, Leah, was hast du da draußen gemacht? Alles okay mit dir?“, fragten sie nach, als sie einen Blick auf die zitternde und bleiche Leah warfen.
„ Mir war einfach nur ein bisschen schlecht. Mir geht’s wieder gut. Ich bin okay“, wimmelte sie die unzähligen Fragen der beiden ab.

Leah war schlau genug keinem zu erzählen, was dort draußen vor sich gegangen war.
Doch als sie wieder klar Denken konnte, erhob sich ein Gedankensturm in ihr.
Warum war er dort? Warum hat er mich gerettet? Warum hat er Noah aufgehalten? Warum war er dann verschwunden? Einfach so weg. Und Noah auch.
Warum? Weshalb? Wie?


Kapitel 7


Er ging ihr nicht aus dem Kopf.
Sie musste Tag und Nacht an ihn denken.
Als sie beim Autofahren unter lautem Hupen und empörten Rufen der Autofahrer nun beinahe auch ein Unfall passierte, beschloss sie etwas zu tun.
Ich muss handeln. Es muss etwas passieren.

Ein paar Stunden später packte sie ihre Turnschuhe, schlüpfte in ihre Sportsachen und lief los.
Vorbei an Autos, Straßen und Gassen.
Sie joggte auch vorbei an der Mehrzweckhalle.
Dahinter lagen weitlaufende Felder.
Ihre Schuhe knirschten, als sie auf einen Landweg kam.
Der Himmel war leicht verdunkelt, denn wieder hatten sich Wolken am Horizont versammelt.
Stirnrunzelnd betrachtete Leah die Wolkenmassen.
Hoffentlich regnet es nicht.

Sie lief so weiter.
Felder zogen an ihr vorbei und Bäume wiegten sich im Wind.
Noch dämmerte es, aber wenn sie sich nicht beeilte, wurde es zu dunkel.
Leah entdeckte nach einer Wendung ein kleines Waldstück.
Das ist ja mal was ganz Neues. Na los, mal schauen was für eine Strecke durch den kleinen Wald verläuft.
Sie beschleunigte ihre Schritte, machte sie länger und länger und legte den Weg hinter sich.
„ Verdammter Mist!“, fluchte Leah wütend.
Sie stand ratlos zwischen dunkelgrünen schemenhaften Bäumen und Büschen.
Leah hatte nach über einer Stunde die Orientierung verloren.
„ So groß kann doch kein Wald sein“, murmelte sie nachdenkend.
Vor ihr erstreckte sich eine Weggabelung: Rechts oder Links.
Links bin ich grad eben schon mal Reingelaufen. Dann also rechts.
Seufzend trabte sie wieder los, in der Hoffnung einen Weg aus dem Wald zu finden.
Allmählich war es dunkel geworden. Nur die silbrigen Strahlen des Mondes spendete ihr Licht.

Gerade als sie den dunklen Weg entlanglief, sah sie ein dunkles schemenhaftes Etwas vor ihr auf dem Weg. Ein Tier? Reh oder Wildschwein, hoffentlich nicht.
Als Leah näher herankam erkannte sie einen Mann.
„ Hallo, wer sind Sie? Hallo?“, rief sie nervös.
Doch die Gestalt bewegte sich nicht.
Leah blieb stehen und kniff die Augen zusammen.
In dem Moment riss die Wolkenmasse auf und der Mond schien auf das Gesicht des Mannes.
Schon wieder er.
Er stand dort. Sicher und vollkommen stand er dort, als hätte er bereits auf sie gewartet.
Herzschlagen. Keuchen. Schnelles unregelmäßiges Atmen.
Adrenalin stieg in ihr auf. Sie wollte vor diesem Unbekannten fliehen, wollte weglaufen, wollte von ihm weg.

Doch halt. Da liegt genau der Fehler.
Er verfolgt mich, weil er mir Angst machen will. Er wartet darauf, dass ich weglaufe, um dann weiterzumachen. Ich ertrage es nicht länger. Ich kann nicht länger wegrennen. Ich kann nicht mehr. Ich muss stehen bleiben.
Mit Mühe konnte Leah einen Entschluss fassen, der alles veränderte.
Leah trat ihm mit zitterndem Atem entgegen.
Jeder Schritt kostete sie größte Mühe, denn in ihrer Brust schien ihr Herz vor lauter Panik zu bersten. Doch Leah starrte geradeaus und tat die entscheidenden Schritte.
Und dann tat sie den letzten endgültigen Schritt.

Sie stand einfach da unter dem silbernen Mond in dem dunklen Wald. Wolken zogen über sie hinweg, als Leah zu sprechen begann.
„ Bring es zu Ende“, flüsterte sie leise. Aus irgendeinem Grund wusste sie, dass er sie ganz genau verstand.
Er starrte sie mit unergründlicher Miene an.
Und aufs Neue bewunderte sie sein wunderschönes Gesicht und diesen harten starken anmutigen Körper, der ganz in Schwarz gekleidet war.
Dann ging er um sie herum. Er umkreiste Leah ein, zweimal.
Er bohrte seinen Blick in ihre aufgerissenen Augen.
„ Töte mich. Das willst du doch. Dann tu es“, verlangte sie leise.
Ihre Stimme zitterte schrecklich, aber ganz tief in ihrem Inneren war sie stolz ohne Bitten und Betteln, ohne Flehen und Heulen gestorben zu sein.
Sie war freiwillig gekommen, um dieses ewige Hin und Her, dieses unfaire Spiel zu beenden.
Doch zu Leahs Erstaunen, lachte er leise und schüttelte den Kopf.
„ Dich töten?“, fragte er mit kalter grausamer und doch leiser Stimme.
„ Ja.“ Diesmal war ihre Stimme fester.
Dann warf er seinen Kopf zurück und lächelte kalt.
Leah wartete. Wartete auf das völlige Ende, auf das Ende des Spiels.
Er verzog keine Miene, aber seine schwarzen Augen funkelten.
„ Das wäre viel zu leicht“, antwortete er auf die unausgesprochene Frage.
Plötzlich erhob sich ein starker Windstoß, der Leahs Augen zum Tränen brachte.
Sie kniff die Augen zu. Als der Wind sich gelegt hatte, war er fort. Und Leah war ratloser als zuvor. Sie lebte noch, ja, aber was sollte dieser rätselhafter Satz?
Sie wusste es nicht und sie bekam es auch nicht auf dem Rückweg heraus.
Sie wusste nur eins: Ich lebe noch. Das heißt, dieses Mal habe ich gewonnen.


Kapitel 8


Die Ferien vergingen wie im Flug.
Leah begann die letzten Tage der Ferien noch sinnvoll zu nutzen, indem sie für die kommenden Vorlesungen zu lernen begann.
Denn eine Aufgabe hatten alle Studenten in den Ferien:
Sie alle müssen einen Vortrag darüber halten, warum sie Kommunikationswissenschaft studierten.
Leah machte sich dafür viel Mühe. Sie stellte Bilder von berühmten Politikern und Friedensträgern zusammen und machte sich viele Notizen.
Noch bevor der erste Semestertag begann, war sie schon fertig.
Zufrieden fiel sie am Abend des letzten freien Tages in ihr Bett.
Der Wecker schrillte am nächsten Morgen und Leah erwachte zum ersten Mal nach all diesem wirren Chaos.
Seltsam ausgeschlafen und ausgeruht stand sie auf.
Sie strotzte vor lauter guter Laune.
Und irgendwie bekam sie jetzt ein Gefühl vor herannahenden Sachen.
Ihr Bauch grummelte und Leah ahnte, dass sie wohlmöglich ihm heute begegnete.
Natürlich machte ihr es Angst, doch Leah triumphierte immer noch über ihren Sieg.
Sie hatte gelernt, dass er Kontrolle über sie erhielt, wenn sie sich ängstigen ließ.

Und ihre Vorahnung bestätigte sich auch.
Als sie nach über zwei Monaten wieder in den bekannten Vorlesungsraum trat, saß er auch dort.
Aber nicht in der Reihe hinter ihr, sondern am Ende des Raumes.
Leah zuckte unter seinem Blick zusammen, schaffte es aber einigermaßen normal zu ihrem Platz zu gehen.
Dann traten die anderen ein und der Professor begrüßte die Studenten.

„ Guten Tag, Misses und Mister, ich hoffe Ihre Ferien waren gut. Denn wie Sie wissen, kommen wir jetzt zu der Praxis.
Ich möchte folgende Personen nach vorne bitten, die nacheinander Ihre Vorstellungen der Wissenschaft vorstellen. Viel Spaß“, lachte der ältere Herr, als sich ein allgemeines Murren erhob.
Leah beobachte die Anderen genau und machte sich Stichworte. Und irgendwie war alles fast zu normal.
Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf: Warum ist da kein mittlerweile vertrautes Brennen im Rücken?
Leah drehte sich langsam um und stockte – er war gar nicht mehr da.
Ist er gegangen? Und wie? Es kann doch nicht sein, dass in einem Raum mit über dreißig Personen keiner sein Verschwinden bemerkt haben muss?
Nachdem ein junger Mann geendet hatte, hob Leah die Hand.
„ Ja Miss Montgomery?“
„ Entschuldigen Sie Professor, aber haben Sie den dunklen Mann gesehen?“
Einige Studenten lachten.
Doch der Professor sah sie an.
„ Welchen Mann meinen Sie, Miss?“
„ Den, der gerade eben noch hier saß…“, begann sie hilflos, denn sie merkte, dass der Professor ihr nicht glaubte.
„ Miss Montgomery“, begann er lächelnd, “ ich bin schon über zwanzig Jahre an der Uni und mir ist noch kein Student einfach so „verschwunden“.“
Er hatte genau den Tonfall angeschlagen, mit dem man kleinen Kindern später erklärte, dass der Weihnachtsmann nicht existierte.
Der ganze Raum lachte schallend und Leah wurde feuerrot.
“Haben Sie mich verstanden, Miss?“
„ Ja, Sir“, gab Leah zurück.
Dann fuhr der Professor fort und auch Leah kam noch dran. Ihr Vortrag war präzise und klar und der Professor nickte anerkennend.
Wenigstens hab ich jetzt wieder etwas Respekt vom Prof.
Doch die Anderen lachten sie aus und riefen ihr Kommentare hinterher.
„Achtung ein dunkler Mann, rette sich wer kann. Er kann sich in Luft auflösen!“, spotteten sie.
Leah rauchte vor Wut und trat wütend auf die Pedale.
Mit quietschenden Reifen fuhr sie vom Parkplatz.
Ich weiß doch was ich gesehen habe! Er war da, ganz sicher. Aber anscheinend haben die Anderen ihn entweder wirklich nicht bemerkt, oder…
Die zweite Möglichkeit war so unmöglich, dass Leah sie gar nicht erst zu Ende dachte.
Und doch kam ihr der Gedanke noch einmal.
…oder sie haben es vergessen.

Leah suchte heute die Stadt auf, nicht um etwas einzukaufen oder zu recherchieren. Nein, sie war einfach mal aus ihrem normalen Trott herausgekommen und hoffte nun, irgendwie auf etwas Interessantes zu treffen und um zu entspannen.
Und, dachte sie, vielleicht passiert mir irgendetwas und ich sehe ihn.
Doch erfolglos.
Sie bummelte durch die Straßen und tat, als bestaunte sie Geschäfte.
Doch als sie nichts sah, rein gar nichts, weder Augen noch ein Brennen, fuhr sie nach Hause.
Na super! Wenn er kommt sieht er mich, aber wenn ich komme, lässt er sich nicht blicken.

Auch im kleinen Wäldchen noch in der kleinen Stadt fand sie irgendein Zeichen.
Schließlich gab sie auf und wollte es ein paar Tage später versuchen.
Leah gähnte und schnell schlief sie ein.
Unter den dunklen Augen des Schattens, der auf ihrer Balkontüre verharrte.

„ Das kann doch nicht wahr sein“, schimpfte sie drei Tage später. Sie war gerade zum zweiten Mal in Folge durch alle Straßen, Felder und kleinen Wäldchen gefahren, die sie in dem ganzen Jahr kennen gelernt hatte. Auch Geschäfte und Seitengassen in den Nachbardörfern war sie abgegangen.

Nichts. Gar nichts.
Wo kann er nur sein? Es kann sich doch wirklich kein Mensch in Luft auflösen.
Oder doch?


Kapitel 9


Sie träumte.
„ Wo bist du?“, rief sie laut.
„ Ich bin hier, direkt neben dir.“
„ Ich kann dich nicht sehen.“
Dann brach die völlige Dunkelheit über ihr zusammen.

Erst einmal gab sie die Suche auf.
Denn ihr Studium forderte ihre ganze Aufmerksamkeit und Zeit.
Sie arbeitete durch die ganze Nacht.
Erst spät legte sie sich schlafen, um dann am nächsten Morgen, auch an Wochenenden, weiter zu lernen.
Einmal fielen ihr die Augen zu und sie verschlief fast einen ganzen Tag.
Leah ärgerte sich über ihre verloren gegangene Zeit.
Sie machte ihrem Ärger Luft indem sie sich eine Pause gönnte.
Auch ein Student muss mal Pause machen, entschied sie.
Doch keine Musik, kein Joggen – nein sie fuhr zu dem kleinen Wäldchen und fand dort einen kleinen Bach.

Sie saß dort, versunken in der Ruhe und Stille des Baches, als etwas hinter ihr raschelte.
Leah stand schnell auf und drehte sich um.
Er war es.
Komischerweise war Leah froh ihn zu sehen.
Sie verspürte die gewohnte Angst, drängte sie aber mit aller Macht zurück.
Er blickte sie an.
Dann fing er das erste Mal an zu reden.
„ Was machst du hier?“
Leah zuckte unter seiner kalten beherrschten Stimme zusammen, doch sie hob das Kinn und schaute ihn ebenso ernst an, jedenfalls versuchte sie es.
„ Ich will wissen, was du willst. Ich will reden“, antwortete sie fest.
Sie rechnete mit einem ironischen kalten Lachen, doch er schüttelte nur abweisend den Kopf.
„ Was ich will? Ich dachte, das wüsstest du“, gab er kalt zurück. Sie starrte ihn verständnislos an.
„ Erinnerst du dich. „ Töte mich. Beende es“, zitierte er ihre Sätze, vor langer Zeit, wie es Leah vorkam.
Sie wurde bleich und dann lachte er kalt.
„ Das willst du nicht, glaub mir. Es tut dir gut, dich fernzuhalten“, gab er ausdruckslos zurück.
„ Was ist, wenn ich es nicht tue?“, fragte Leah herausfordernd.
Er trat ihr einen Schritt näher und Leahs Herz begann Achterbahn zu fahren.
„ Dann kommst du morgen wieder. Aber nur morgen“, warnte er sie.
„ Denn sonst machst du einen Fehler, der dir am Ende das Leben kosten wird.“
Leah starrte ihn fassungslos an.
„ Ist das ein Deal?“, fragte sie ebenso beherrscht zurück.
Er nickte und wollte sich zum Gehen wenden.
Leah fiel etwas ein und rief ihm hinterher.
„ Wie ist dein Name?“
„ Namen sind gefährlich, Leah“, gab er zurück.
Sie erschrak heftig, als sie ihren Namen hörte.
„ Bitte“, flüsterte sie ganz leise, doch er verstand sie.
„ Nathan“, flüsterte er leise zurück und glitt in die Dunkelheit.

Kapitel 10


Was machst du da bloß, Leah? Du triffst dich mit irgendeinem verrückten Mann, nur um wissen zu wollen, warum er dich vor Noah gerettet hat und warum er dich verfolgt?
Du bist krank, Leah, vollkommen durchgedreht.
Tausende Stimmen in ihr schrieen protestierend auf, als sie zu Hause über den „Deal“ nachdachte.
Er hatte die Regeln des Deals zwar nicht ausgesprochen, aber Leah kannte sie.
Erstens: Schweige über den Deal.
Zweitens: Stell keine weiteren Fragen, wenn du Antworten bekommen hast.
Drittens: Vergiss alles, was du bisher gehört hast, sonst musst du für deine Neugier bezahlen.

Doch nun steckte sie einmal mittendrin und konnte dort auch nicht mehr heraus.
Leah überlegte sich ganz genau, was sie fragen wollte.
Denn sie wusste auch: Wenn man die falsche Frage stellt, hat man verloren.
Also, musste sie die Fragen richtig stellen.

Sie wartete den Tag geduldig ab und dann trat sie dem Schatten entgegen, bereit die Antworten zu hören, die sie so lange suchte.
Leah wartete bis der Mond an den Himmel trat, dann kehrte sie zum gleichen Ort zurück.
Ein wenig später kam auch Nathan.
„ Fang an“, befahl er kalt.
Leah warf den Kopf zurück, um ihn besser sehen zu können.
Lange dunkle Schatten fielen auf sein Gesicht.
Sie redete nicht drum herum, sondern ging hart und klar auf Angriff über.
„ Warum verfolgst du mich?“, fragte ihn forschend.
Nathan verengte seine schwarzen Augen. Doch er gab die Antwort.
„ Weil ich gerne spiele.“
Leah dachte eine Weile über diesen Satz nach.
Er spielt gerne. Mit mir. Mit meiner Angst.
„ Was ist deine Absicht dabei?“, fragte sie nun scharf.
Daraufhin schüttelte er heftig den Kopf.
„ Lass es, Leah. Es ist zwecklos. Du hast eine Antwort bekommen, jetzt bin ich dran.“
Nathan taxierte sie scharf und seine Augen öffneten sich.
„ Warum bist du hergekommen?“
Das war leicht. „ Ich will wissen, warum du mich vor Noah gerettet hast.“
Doch für Nathan war es überraschend. In seinen Augen lag gefährliche Neugier und seine Lippen hatten sich leicht geöffnet.
„ Der Junge hat die Regeln verletzt. Wenn man spielt und den nächsten Zug plant, darf man erst angreifen, wenn der Gegner bereit ist. Es ist feige, den Rücken anzugreifen“, erklärte er und spitzte jetzt herausfordernd die Lippen.
Leah trat einen Schritt zurück und nickte.
Das war alles, was sie wissen wollte.
Doch er hatte noch eine Frage übrig, durfte noch eine Frage stellen.
„ Ich will wissen was du denkst, Leah. Sag mir was du denkst“, verlangte er.
Doch Leah erschrak.
Gedanken und Gefühle waren intim, die nur ihr allein gehörten. Ihr ganz allein.
Sie zögerte.
Nathan wandte sich ab und lachte spöttisch.
„ Ich wusste es. Du bist wie alle anderen Menschen.“

Nein, sie war anders. Ganz anders.
„ Ich frage mich, was ich nun aus den Antworten lernen sollte. Ich frage mich, was jetzt passiert. Ich denke, dass ein Spiel, wenn die Regeln nicht befolgt werden, gefährlich werden kann.“

Nach diesem Geständnis herrschte eisige Stille.
Nur Leahs kalter schneller Atem huschte in ihre Lungen.
Nathan drehte sich ganz langsam zu ihr um.
Plötzlich nickte er und unterbrach die Stille.
„ Du hast Recht. Wenn Regeln gebrochen werden, wird es gefährlich.“
Er sah sie an. Leahs Herzschlag setzte einmal aus und ratterte dann wie ein Hubschrauber.
Schauer liefen ihr am Körper hinab, obwohl diese Nacht warm war. Ihr war eiskalt.
„ Und damit eins klar ist: Die Regel dieses Spiels ist nur eine einzige: Halte dich von mir fern.“
Hinter diesem Satz stand ganz klar und deutlich seine offene gefährliche Drohung.
„ Ich werde es beherzigen“, nickte sie und damit war der Deal auch schon vorbei.

Was Leah aus den Antworten entnahm, war ihre Sache, denn die Regel kannte sie.
Unter dem dunklen Himmel kehrte Leah schließlich nach Hause zurück.
Für heute waren genug Fragen gestellt worden.
Morgen war auch noch ein Tag.


Kapitel 11


Nathan spielt gerne. Er spielt mit mir. Er ist ein Spieler.
Und Noah hat die Regeln verletzt, nämlich hat er meinen offenen Rücken angegriffen.
Und deshalb hat Nathan ihn bestraft.
Leahs Gedanken wirbelten ineinander, umeinander, umher.
Egal wie sehr sie die gewonnen Sätze hin und her drehte, es kam einfach nicht mehr heraus, als sie schon wusste.
Und dann erkannte sie seine Taktik: Er hatte seinen Worte so gewählt, dass er nicht mehr preisgab, als nötig.
Leah grummelte, als sie die Uni wieder besuchte.
Zum ersten Mal seit einem Jahr auf der Uni wollte sie viel lieber etwas anderes tun.
Nachdenken und die rätselhaften Antworten lösen.
Leah kaute gedankenverloren auf ihrem Bleistift herum.
Irgendwie war heute alles anders.
Irgendwie schien sich ihre Welt zu verändern.
Sie hatte die letzten Tage, Wochen und Monate mit kalter nackter Angst verbracht.
Nachts hatte sie die kalte Hand der Panik in ihrem Nacken gespürt.
Sie hatte gelernt ständig unter Adrenalin zu stehen, ständig Wegrennen zu können.
Ja, sie hatte gelernt wie ein Fluchttier zu leben.
Ständig leise sein, ständig auf der Hut sein.
Ständig, das hieß immer und überall.
Immer und überall Angst haben, gleich wieder verfolgt zu werden.
Immer und überall sich Fürchten zu müssen.
Bei jedem Geräusch sich panisch umzusehen.
Bei ungewöhnlichen Dingen sofort etwas hinein zu interpretieren.
Und das alles monatelang.
Und jetzt?
Jetzt war alles anders.
Leah konnte es kaum glauben, kaum verstehen, gar nicht akzeptieren.
Sie sah keine dunklen Augen mehr, sie hatte selten Alpträume.
Kein Weglaufen, kein Fliehen.
Keine Angst. Keine Panik.
Natürlich, das war schön und gut, aber etwas fehlte.
Irgendwie hatte sie viel erlebt, gelernt die Worte Gefahr und Risiko zu erleben.
Und jetzt?
Jetzt war ihr Leben zwar wie früher, aber etwas fehlte.
Es war langweilig!
Lernen, essen, schlafen.
Immer und immer wieder derselbe Ablauf.
Ihr fehlte die Aufregung. Ihr fehlte die Gefahr. Ihr fehlte einfach alles.

Bin ich wirklich so paranoid? Bin ich wirklich Adrenalinsüchtig?
Bin ich krank? Sehne ich mich wirklich nach Gefahr und Risiko?

Leah tigerte unruhig in ihrer Wohnung umher. Sie war viel zu aufgewühlt, dass sie hätte Lernen können.
Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und wählte irgendeine Nummer. Amy.
„ Amy“, begann Leah hilflos und übersprang die gewohnte Begrüßung“, ich brauche deine Hilfe.“
Amy verstand sofort.
„ Was ist los? Schieß los!“
„ Ich habe ein Problem. Weißt du da gibt es eine Freundin von mir, die findet einen Typen besonders anziehend.“ Sie grinste.
Leah vermied extra ihre eigene Geschichte und wählte stattdessen eine erfundene Person, die ihre eigene Geschichte erlebte.
„ Erstmal gar nicht so ungewöhnlich“, gab Amy trocken zurück.
„ Es verlieben sich tagtäglich Menschen, Leah. Und es gibt sogar auch welche, die heiraten. Kann ich nicht nachvollziehen, aber was soll’s.“
In Leah stieg ihre eigene Geschichte in anderen Bildern auf und begann zu erzählen.
„ Ja, aber das Problem ist, dass der Typ voll gefährlich ist. Der war schon im Gefängnis und als der rausgekommen ist, hat der angefangen allen zu erzählen, der hätte was draus gelernt und so weiter.“
„ Oh mein Gott, Leah! Erzähl weiter“, keuchte Amy atemlos. Bei dem Gedanken, dass sich ihre Freundin jetzt mit aufgerissenen Augen den Hörer auf das Ohr presste, wie sie es immer tat, musste Leah grinsen.
„ Ja und dann ist er durchgedreht.“
„ Was hat er gemacht?“ Amy hing an ihren Lippen.
„ Er hat rumgebrüllt, alle wären voll krank. Dann ist er abgehauen. Die Polizei sucht nach dem, haben ihn aber noch nicht gefunden.“
Als Leah unbewusst Nathan als den Verrückten widerspiegelte, musste sie so lachen, dass sie nur mit Mühe ihr Lachen zu einem kranken Husten umwandeln konnte.
Amy dachte dadurch, dass sie herzzerreißend schluchzte.
„Leah? Hallo, alles okay? Sag doch was!“ Amy schien am Ende des Telefons vor lauter Sorge durchzudrehen.
Leah musste noch mehr lachen, bis ihr Tränen in die Augen stiegen.
Sie tarnte es mit größter Mühe als Schluchzer.
„ Und…und…sie will zu ihm zurück. Doch alle sagen, der wäre viel zu gefährlich. Sie meinten, sie soll sich bloß von ihm fernhalten. Und gestern hat sie mich um Hilfe gebeten.“
Amy rief laut aus: „ Was hast du ihr gesagt, Leah? Was?“
Leah wurde schlagartig ernst. Denn jetzt kam der Teil, den sie selbst empfand.
„Ich sagte ihr, wenn sie sich wirklich sicher ist, soll sie machen, was sie für richtig hält.“
Amy hustete und stotterte weiter. „ und dann?“
„ Heute Morgen hinterließ sie ne Nachricht auf meiner Mailbox, sie würde ihn suchen gehen. Bis jetzt hab ich nichts mehr von ihr gehört.“
Leah grinste und erfand absichtlich solch ein dramatisches Ende, damit Amy sich noch mehr aufregte.
„ Oh mein Gott, wie extrem.“
Nun kam Leah zu der alles entscheidenden Frage.
„ Was denkst du darüber?“
Eine Minute war Stille. Amy hatte sich etwas beruhigt.
„ Also, wenn sie sich da ganz sicher ist, soll sie machen, was sie denkt. Aber der Typ ist echt irre. Und total verrückt ist auch…“
Sie begann über andere Dinge zu reden, wie verrückt manche Leute sind.
Doch Leah hörte nur noch mit einem Ohr zu.
Plötzlich stellte Amy eine Frage.
„ Sag mal, was hält deine Freundin bei diesem Typen, bis auf dass sie auf den steht?“
Leah war total überrascht.
„ Ich glaube…ich denke der Typ fasziniert sie, weil der so anders ist, vielleicht weil er so anders tickt“, stakste sie herum.
„ Ist der nicht zu gefährlich?“, hakte Amy nach, doch sie lenkte ihre Neugier auf Mark und Joe.
Nach einer guten Stunde legte Leah auf und war ratloser als zuvor.


Ich soll machen, was ich meine?
Was denke ich denn überhaupt? Fragte sie sich und horchte ganz tief in sich hinein.
In einem war sie sich sicher: Nathan fasziniert mich, weil er so anders ist. Er hat eine gefährliche Ausstrahlung.
Doch was fehlt mir wirklich? Diese Gefahr?

Leah war ratlos. Sie legte sich schlafen.
Und zum ersten Mal seit einigen Wochen träumte sie von ihm.
Nathan stand genau vor ihr.
Was willst du? Schien er zu fragen, doch sie konnte ihn nicht verstehen.
Er bewegte seine Lippen, doch sie hörte ihn nicht. Es herrschte Stille.

Am nächsten Morgen und nach diesem sonderbaren Traum saß Leah am Frühstückstisch und dachte gerade mal wieder nach.
Was zieht mich wirklich an? Ist es er selber oder bloß mein irrer Wunsch nach Adrenalin?
Was ist es?
Ist es Nathan oder meine kranke Sehnsucht, wie ein Ertrinkender nach Luft?

Plötzlich schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf, so schnell und unwahrscheinlich, dass sie ihn kaum zu fassen bekam.
Ein Gedanke, unwahrscheinlicher als alles andere, was sie bisher erlebt hatte.
Ein Gedanke, der alles verändern würde, wenn er wahr wäre.
Ein Satz, der ihr unheimliche Angst einjagte, weil er eine schreckliche, aber auch wahre Sache erklären könnte.
Eigentlich eine ganz einfache Sache, aber in diesem Fall, war sie kompliziert wie nie.
Eigentlich war es eine wunderschöne Sache, doch aus Leahs Sicht war es ein schrecklich schönes Desaster.
Endlich konnte sie den Gedanken fassen.

Bin ich in ihn verliebt?

Kapitel 12


Leah ging panisch alle Anzeichen dafür nach: Aufregung, Schmetterlinge, Freude.
Und sie erinnerte sich.
Sie erinnerte sich daran, wie sie sein vollkommenes Gesicht bestaunt hatte.
Wie froh sie war ihn wieder zu sehen, als sie nach ihm gesucht hatte.
Wie oft sie unbewusst beim Joggen in dem Wäldchen war, wo sie sich getroffen hatten.
Wie oft sie an ihn denken musste.
Wie oft sie von ihm träumte.
Wie oft sie das Brennen in ihrem Rücken in der Uni gespürt hatte.
Und sie erinnerte sich besonders daran, wie angezogen sie sich von ihm fühlte.
Ihr wurde schlagartig klar, dass nicht etwas ihr fehlte, sondern schlicht und ergreifend sie sich nach ihm, Nathan sehnte.

Oh nein. Wie…sonderbar.
Worte wie schrecklich oder wunderschön passten gar nicht zu ihrer Situation.
Egal wie oft Leah die Anzeichen und Symptome drehte und wendete, so unfassbar es auch zu sein schien, es war ganz einfach und klar: Sie war verliebt in Nathan.

Und dann auch noch seine Worte: Halte dich von mir fern.
Und: Wenn man die Regel bricht, wird es gefährlich.

Was also sollte sie tun?
„ Verdammter Mist“, beschrieb ihre Situation genau.
Leah verzog sich den Rest ihres Wochenendes in ihrem Schlafzimmer.
Plötzlich musste sie weinen.
Ja, sie wurde von Weinkrämpfen geschüttelt.
Tränen rollten unaufhörlich.
Ihr Herz presste sich schmerzvoll zusammen.
Sie keuchte, weinte, schrie.
Doch keiner konnte ihr die Antwort geben.
Keine Antwort auf diese verdammte Frage.
Keine Lösung.
Kein Ausweg.

Was soll ich nur tun? WAS?


Kapitel 13


Leah beging einen großen Fehler.
Sie brach die Regel.
Hielt sich nicht von ihm fern.
Doch sie konnte nicht anders.

Sie hatte vier Wochen den Schmerz ausgehalten.
Vier Wochen der Sehnsucht widerstanden.
Vier Wochen seinetwegen gelitten.
Sich vier Wochen lang gefragt, was sie tun sollte.
Wie sie aus der Zwickmühle herauskam.
Doch sie konnte nicht mehr. Nicht mehr jetzt. Nicht wieder. Nie mehr.

Sie suchte ihn auf.
Leah fuhr zu dem kleinen Wäldchen, schnurstracks ging sie zu dem kleinen Bach.
Wie der kleine Bach, begannen ihre Tränen zu laufen, als sie rief: „ Nathan.“

Wieder rief sie. Lauter und verzweifelter.
„ Nathan!“
„ Was machst du hier, Leah?“, hörte sie eine zunächst kalte Stimme hinter sich.
Als sie sich umdrehte sah sie, dass seine Augen sich erschrocken angesichts ihrer Tränen weiteten, doch er sagte nichts.
„ Ich weiß, ich dürfte nicht hier sein“, begann sie schluchzend, verzweifelnd.
Er legte den Kopf erwartungsvoll schief.
„ Aber ich konnte nicht mehr.“
Stille. Keiner sagte etwas.
Nur Leahs Tränen liefen und Nathan verharrte regungslos, erwartete ihren nächsten Satz.
„ Ich habe mich verliebt“, gestand sie ihm zitternd. Es klang wie eine Frage.
Nathan war sichtlich geschockt.
Seine Lippen öffneten sich und formten einen Satz.
„ Sag das noch mal.“
„ Ich habe mich verliebt“, wiederholte sie irritiert.
Plötzlich stürzte er auf sie zu.
Leah schloss ergeben die Augen.
Jetzt habe ich verloren, dachte sie. Ich habe die Regel gebrochen. Jetzt wird es gefährlich.

Doch sie hörte seine plötzlich sanfte warme Stimme.
„ Das sind die schönsten Worte, die ich je gehört habe“, flüsterte er leise neben ihrem Ohr.
Was? Was hat er gesagt?
Leah öffnete erschrocken, fassungslos, überrascht ihre Augen.
In dem Moment trafen seine Lippen auf ihre.
Sie erwiderte seinen seltsamerweise warmen weichen Kuss voller Leidenschaft.
Sie verschmolz mit seinem warmen beschützenden harten Körper, wurde eins mit ihm.
Ich liebe ihn, stellte sie verwundert fest.
Ihr Herz schlug freudig und in ihrem Bauch flatterte es.
Es fühlte sich richtig an.


Leah löste sich sanft von seinen Lippen.
Sie schaute ihn verwundert an.
Seine Augen strahlten warm und sein Gesicht war weich und sanft.
Es war, als hätte dieser kalte beherrschte junge Mann einen Schalter umgelegt.
Doch sie wusste: Seine kalte Miene, sein grausames Lächeln, all dies schien eine Maske zu sein, die er bei ihr fallen gelassen hatte.
Leah starrte ihn immer noch erschrocken an.
Nathan blickte ruhig zurück.
„ Ich verstehe nicht“, begann Leah verzweifelt.
„ Warum hast du das getan? Ich habe die Regel gebrochen, das weißt du.“
Er seufzte und schüttelte erschöpft den Kopf.
„ Das ist Unsinn, Leah. Es gab und es wird nie eine Regel geben.“
Leahs Verwirrung wuchs.
„ Aber warum dann der ganze Aufwand? Warum dann deine seltsamen Sätze?“
Er suchte nach Worten, rang um Kontrolle.
„ Es ist schwer zu erklären“, gab er zu.
„ Versuch es“, verlangte sie.
Ihr Kopf schwirrte und alles schien sich zu drehen.
Das Verfolgen, sein grausames Lachen, seine harten kalten Augen.
Was soll all das? Das ergibt keinen Sinn.
Ihre Gedanken hatten auch Auswirkungen auf ihr Gesicht.
Es wurde hart und sie verkrampfte sich.
Nathan erkannte ihre enorme Verwirrung.
“ Schau, ich will es dir so erklären: Ein junger Mann lebte abseits einer Stadt. Er hatte eine harte Vergangenheit hinter sich und er hatte sich geschworen nie wieder unter Menschen zu leben, denn er hasste die Menschen dafür, was sie ihm angetan hatten.
Er genoss es, sie zappeln und schreien zu sehen. Er liebte es, sie zu ängstigen, sie zu verfolgen, mit ihnen zu spielen.“
Seine Stimme wurde hart und bitter, als er die Worte herausstieß.
In seine Augen lag Hass und Wut, die er über die Jahre gesammelt hatte.
Leah wurde ganz still und horchte seiner Geschichte fassungslos zu.
„ Und dann kam sie in die Stadt. Eine junge Frau, doch sie war anders als die anderen Menschen. Das warst du. Sie war stark und willensstark. Er verfolgte sie auch, denn er war dumm gewesen. Er dachte, alle Menschen wären gleich: Naiv und ängstlich vor Unbekanntem.“
Er blickte sie an, seinen dunklen Augen flehten sie um Verständnis.
„ Anfangs fürchtete sie sich vor ihm und sein naiver Teil von ihm triumphierte. Doch als er sie sah, von einem anderen Mann bedroht, erwachte etwas in ihm: Wut und den Wunsch sie zu retten, sie zu beschützen. Er tat es und sah ihre dankbaren Augen. Er erkannte, dass sie so anders war. Er wollte zu ihr, wollte mit ihr reden. Doch sie fürchtete sich immer noch. Sie hatte Angst, Panik. Wie sollte er sich ihr nähern, wobei er doch selbst daran Schuld trug , dass sie ihn ängstigte. “
Er richtete seine Augen geistesabwesend an ihr vorbei.
„ Er beobachtete sie und bewunderte ihren starken Willen. Und als du dann hier auftauchtest, sagte ich dir, dass du dich von mir fernhalten solltest, weil ich gefährlich bin.“
Nathan starrte sie an. „ Ich bin gefährlich, Leah. Ich hasse diese Menschen, ich hasse es mit ihnen zu leben. Und sie fürchten sich zu Recht.“
Erschüttert trat sie einen Schritt auf ihn zu.
„ Du hast mich schon von Anfang an geliebt?“, fragte sie ihn mit leiser Stimme.
Er nickte. „ Aber das spielt keine Rolle. Du dürftest nicht hier sein, Leah. Du müsstest bei den anderen Menschen sein, nicht bei mir. Nicht bei dem Irren, der dich bedrohte. Das ist falsch.“
Sie verstand ihn. Hinter seinen Worten lag Wut und Hass, aber auch eine Verletzlichkeit.
Er wollte sie in Sicherheit wissen.
Er wollte, dass sie ging, weil er gefährlich war.
Er wählte absichtlich diese Worte, wollte sie von sich stoßen.
Er wollte sie wütend machen, damit es ihr leichter fallen würde, ihn zu verlassen.
Nathan hatte Recht. Menschen gehen in Wut eher, als in irgendeinem anderen Zustand.
„Ich empfinde so, Nathan“, erwiderte sie leise. Dann legte sie ihre Hände auf seine Brust.
Doch er stieß sie von sich.
Jetzt kamen seine Worte wütend und bitter heraus.
„ Du musst gehen, Leah. Es ist falsch. So darf es nicht sein.“
Seine Augen blitzten zornig, doch sie ließ sich nicht beirren.
„ Nein“, sagte sie bestimmt. „ Ich bleibe.“
Sie würde nicht gehen. Diesmal war sie es, die die Regeln bestimmte.
„ Ich kann gefährlich werden, Leah. Manchmal gibt es Momente, in denen ich nicht ich selbst bin. In den Momenten verliere ich mich und werde ich gefährlich und tue kopflos Sachen, die ich nicht will, Leah...“
Doch sie erstickte seinen Versuch aufs Neue.
„ Ich weiß, was ich tue. Ich bin mir sicher.“
„ Verdammt Leah, verschwinde. Du weißt nicht, auf was du dich einlässt. Das darf nicht sein. Geh und lebe dein Leben weiter.“
Nathan warf wütend seinen Kopf zurück. Seine Augen glitzerten vor Wut.
Er zischte die nächsten Worte.
„ Es ist falsch, Leah. Es ist falsch.“
Jetzt wurde sie wütend. Wie lange will er sich noch winden? Er weiß, dass ich stark genug bin. Er will es nur nicht wahrhaben.
Plötzlich kam er auf sie zu.
Nathan packte sie an beiden Handgelenken und stieß sie gegen einen harten Baumstamm.
Leah gab sich große Mühe nicht aufzukeuchen.
Das hier war ein reiner Willenskampf um ihre eigene Sicherheit.
Wie schwachsinnig, dachte sie. Ich konnte die letzten Jahre auch auf mich aufpassen.
„ Leah. Geh!“, sagte er drängend, seine schwarzen Augen glühten auf, beschwörten sie aufzugeben.
„ Nein!“, schrie sie im heftig entgegen. Ihr Haar flog nach vorne, als sie sich gegen seinen harten Griff aufbäumte. „ Ich bleibe!“
Wortlos verharrten sie minutenlang so.
Leah atmete heftig, ihre Brust hob und senkte sich. Sie starrte ihn herausfordernd an.
Schließlich wich er zurück und bedachte sie mit einem finsteren Blick.
„ Du bist ein Sturschädel“, spuckte er die Worte aus.
„ Ich bleibe trotzdem. Ich weiß, was ich tue“, fauchte sie ihn an.
Er schüttelte ergeben den Kopf.
„ Ich habe dich gewarnt“, gab er zurück.
Sein Blick glitt in die Leere.
Ihm fiel etwas ein.
„ Du kannst immer noch gehen, wenn es gefährlich wird“, erwiderte er.
„Auch dann werde ich bleiben“, gab sie kalt zurück.
Sie starrte ihn an und er wendete sich schnaubend ab.
Leah massierte ihre Handgelenke.
„ Musstest du so fest zupacken?“
Nathan kam zu ihr und blickte auf ihre Hände hinab.
Rote Striemen zogen sich an ihren Handgelenken entlang.
Er zuckte zusammen und sog scharf die Luft ein.
„ Hey, sieh mich an. Sieh mich an“, verlangte sie scharf.
Er starrte sie mit harten Augen an.
„ Ich weiß, was ich tue, Nathan. Mir geht es gut. Und weißt du was? Liebe kann nicht falsch sein.“
Dann zog sie ihn zu sich heran und legte ihre Lippen auf seinen Hals.
„ Ich liebe dich“, flüsterte sie.
„ Ich liebe dich auch“, gab er zurück.

Sie wusste, dass sie diesen Kampf gewonnen hatte.
Dieses eine Mal. Noch wusste sie nicht, warum er manchmal so gefährlich sein sollte.
Denn wenn er so darauf besteht, muss es etwas schlimmes sein, dachte sie.
Aber ich werde auch dieses Rätsel lösen.
Aber erst einmal war sie einfach nur glücklich mit Nathan.


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Tag der Veröffentlichung: 01.05.2012

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