Cover

Die Magie der Empathie

Dieses Buch widme ich Ibrahim Örs, der am 01.04.2018 mit nur 33 Jahren unerwartet verstarb und ein unheimliich toller, liebenswerter Kumpel war!!!

 

 

Pauline Plath, die mir mit ihrer geistigen Energie mein Leben rettete!!!

 

 

 Sonja Stecknitz, die am 31.01.2023 mit nur 56 Jahren in meinen Armen an den Folgen der Coronaimpfungen verstarb!!!

 

 

 Elena Sant Gualda

 

 

 Siggi Plath

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

Seit ich einigermaßen klar und logisch denken kann, wundere ich mich über die Menschen. Ich wundere mich über ihr Tun, ihr Handeln, ihre Ängste und, wenn jemand mir seine Gedanken offen und ehrlich offenbarte, dann meistens auch noch über Diese. In der Vergangenheit glaubte ich, irgendetwas stimme nicht mit mir. Ich war der festen Überzeugung, ich käme mit meinem Leben als körperlich stark eingeschränkte Frau keineswegs zurecht. Dieses glaubte ich solange, bis ich mit 34 Jahren eine Freundin kennenlernte, die mich mit ihrer überaus tollen Art und ihren ebenso tollen Gedankengängen endlich eines Besseren belehrte. Von diesem Zeitpunkt an konnte ich mich so annehmen, wie ich war und wechselte meine Position. Ich ließ mich nicht mehr „beobachten“ und „beurteilen“, sondern beobachtete und beurteilte nun selbst und eigenständig. Durch meine bewusste, fleischlose Ernährung wurden meine Sinne und Gedanken schärfer und klarer. Ich bemerkte, dass Mama Natur die einzige, alleinige und wahre Göttin ist, die das LEBEN vollbrachte, darüber wachte und tiefen, ehrlichen Respekt dafür verdiente. Zudem schämte ich mich zutiefst, dass wir Menschen tatsächlich die grenzenlose Arroganz besaßen, ernsthaft zu glauben, wir seien das Absolute des Ganzen. Und schlußendlich fühlte ich mich auf dieser wunderschönen Erde wie eine Außerirdische. Hatte ich mich als Kind, Jugendliche und junge Erwachsene doch mit aller Kraft darum bemüht, zu den Menschen zu gehören, so bemühte ich mich im fortgeschrittenen Alter mit jeglicher Macht nicht zu ihnen zu gehören und aus der Menge deutlich hervorzuragen. Dieses Bewusstsein ließ mich letztendlich zu dem Entschluß kommen, diesen kleinen Fantasyroman zu schreiben, um den Menschen, die ganz ähnlich wie ich empfinden und fühlen, ein wenig Mut zu machen.

 

Ich hoffe, manche Menschen können sich nun tatsächlich etwas mit mir identifizieren. Und wenn ihr mögt, könnt ihr die verschiedenen Anführungszeichen dieses Buches ebenfalls als eine Art „kleine Besonderheit“ ansehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

I

 

Mit wildem Herzklopfen erwachte ich aus meinem Traum und drehte mich von meiner linken Schlafseite aus auf den Rücken. Noch ein wenig verwirrt und mit kleinen Augen tastete ich mit meiner rechten Hand nach Momo, meiner weiß-grau-gestreiften Katze, die sich für gewöhnlich jeden Morgen tiefschlafend eng an mich kuschelte. Aber an diesem Morgen war Momo nicht da. Leise seufzte ich auf und blickte mich noch vom Schlaf benommen im Zimmer um. Sah die Wände, die noch nicht ganz fertig gestrichen waren. Nur die eine Wand, von der ich beschlossen hatte, sie in einem satten, sonnigen Gelb zu streichen, war schon fertig. Doch dafür, dass wir erst seit knapp drei Wochen in diesem Haus in den Niederlanden wohnten, hatten wir uns schon sehr wohnlich eingerichtet. Nur das Schlafzimmer war etwas vernachlässigt worden. Außer unserem gut zwei Meter breiten Bett, in dem schon meine Großeltern mütterlicherseits nächtigten, und unserem Kleiderschrank hatten wir noch nichts aufgebaut. Und unser Kleiderschrank stand glücklicherweise so günstig, dass ich mir morgens vom Bett aus meine Kleidungsstücke aussuchen konnte. Das Bett und der Kleiderschrank waren aus hellem Holz und hatten in der Tat schon einige Jährchen auf dem Buckel. Ja, ich liebte Holz. Und meine große Liebe für Holz kam vermutlich daher, weil ich in einem reinen Holzhaus aufgewachsen war. Unwillkürlich musste ich grinsen, als ich meine sechs Paar Schuhe überaus ordentlich neben der Schlafzimmertür stehen sah. Jonas, mein Mann, mit dem ich seit gut einer Woche verheiratet war, hatte sie gestern dort so hingestellt. Er meinte, das ließe unser Schlafzimmer zumindest etwas gemütlicher und wohnlicher wirken.

Weiter wanderten meine verschlafenen Blicke zu den Fotos, die teilweise schon an der komplett gestrichenen, gelben Wand hingen. Auf diesen Fotos waren überwiegend die Menschen zu sehen, die mich großgezogen und mein Leben lang begleitet hatten. Und bis zu meinem vierunddreißigsten Lebensjahr glaubte ich fest, sie seien meine leibliche Familie. Nun, aber man konnte durchaus sagen, dass ich diesen Menschen ähnlich sah. Meine Augen hatten um ein Haar genau denselben Braunton, wie die meines Vaters und meiner Schwestern. Und meine Nase hatte genau dieselbe Kartoffelform, wie die von meinem Vater. Auch waren meine Haare dunkel, genauso wie bei meinen vier Schwestern und meinem Vater. Nur meine Schwester Stefanie und meine Mutter waren blond und hatten tiefblaue Augen. Meine Schwester Stefanie war nur ein knappes Jahr älter als ich und meine absolute Lieblingsschwester.

Jetzt schon etwas munterer und ruhiger blickte ich aus dem Schlafzimmerfenster. Es war genial, dass jedes Fenster unseres Hauses bis zum Fußboden hinabreichte. Somit war es bei Tageslicht immer schön hell. Leicht blinzelte ich gen aufgehender Morgensonne, die ins Schlafzimmer schien. Und weil unsere Nachbarn einige Meter von uns entfernt wohnten und das Schlafzimmer nach hinten in den Garten hinaus lag, empfand ich es nicht für so eilig, Rollos an das Fenster anzubringen. Auch war es in den Niederlanden ohnehin eher unüblich, Gardinen oder Rollos an den Fenstern zu haben. Zudem liebte ich es, von meinem Bett aus ungehindert in den Nachthimmel gucken und bei wolkenlosem Himmel den Mond und die Sterne beobachten zu können.

Träumerisch blickte ich in unseren Garten hinaus. Er war nicht groß. Er war eher von der kleineren Sorte. Genauso wie unser ebenerdiges Haus, worin sich vier kleinere, aber gemütliche Zimmer, eine Wohnküche und ein Badezimmer befanden. Das größte Zimmer von unseren vier Zimmern hatte mein Mann sich als Behandlungsraum eingerichtet. Er arbeitete als Heilpraktiker und ließ seine Patienten momentan noch zu uns nach Hause kommen. Denn da wir erst seit kurzer Zeit in den Niederlanden lebten, war ihm noch keine rechte Zeit geblieben, sich eine separate Praxis zu suchen. Aber das würde er tun, sobald wir in unserer neuen Heimat ein wenig Fuß gefasst hatten.

Und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich eine eigene Badewanne in meinem Zuhause. Zwar konnte ich in dieser Badewanne nur baden, wenn Jonas, mein toller Ehemann, zu Hause war, da er mich hineinheben musste, trotzdem freute ich mich bei jedem Besuch im Badezimmer, sie zu sehen. Zum Glück befand sich neben unserer Badewanne noch eine Dusche, die ich mit meinem Rollstuhl problemlos be- und unterfahren konnte, sodass ich auch ohne meinen Ehemann meiner Körperhygiene nachgehen konnte. Ja, unser Badezimmer war sehr geräumig und dadurch geradezu perfekt für mich im Rollstuhl. Doch mein absoluter Lieblingsraum in unserem Haus war unsere Wohnküche. Von ihr konnte man durch eine große Glasschiebetür nämlich direkt auf die Terrasse und in den Garten gelangen. Zwar war die Wohnküche ebenfalls noch nicht vollständig eingerichtet. Dafür stand im Wohnbereich vor der großen Glasfront aber schon ein schönes, flauschiges rötlichbraunes Sofa, in dem man versinken konnte. Der Fußboden war aus schönen, warmen Holz sowie auch in den üblichen Zimmern. Nur vor dem Sofa lag ein beige-rötlicher Teppich. Während den Mahlzeiten konnte man von unserem dunklen Holzesstisch aus die Vögel, Hasen und Eichhörnchen im Garten beobachten. Und zur Weihnachtszeit würde in diesem Wohnbereich unser Tannenbaum stehen.

Ich gähnte und erinnerte mich an meinen abscheulichen Traum zurück, aus dem ich vor wenigen Minuten aufgewacht war. Diesen Traum träumte ich nun schon fast jede Nacht. Auch schien es mir jedes Mal so, als ob ich ihn die ganzen Stunden hindurchträumte, die ich schlief. Und in Sekundenschnelle fiel mir ein, dass ich gestern Abend Jonas noch von meinem Leben als invalide Hexe erzählen wollte. Doch da ich plötzlich von einer starken Müdigkeit heimgesucht worden war, hatte ich meinem Mann nur ein knappes Viertel meiner Geschichte erzählt.

 

»Guten Morgen, meine kleine Zappelhexe«, wurde ich auf einmal noch von einer sehr verschlafenen Stimme liebevoll begrüßt, »hast du gut geschlafen?«

 

Noch immer ein wenig vom Schlaf benommen und von meinem Traum aufgewühlt, nickte ich zaghaft und sah Jonas etwas schüchtern an, der sich ausgiebig streckte.

 

»Hast du wieder diesen scheußlichen Traum gehabt, hm?«, erkundigte Jonas sich mitfühlend bei mir und zog mich zärtlich an sich.

 

»Ach, Brummelbär, vielleicht bin ich doch nicht für diese Lebensaufgabe geeignet, die mir meine leibliche Familie zugeteilte hat«, seufzte ich weinerlich. „Denn bis jetzt habe ich auf der Welt der Menschen nicht sehr viel zum Positiven verändern können. Und außerdem habe ich dich, statt Finn geheiratet. Ich meine, es hatte doch seinen Sinn, dass unsere Eltern uns einander versprachen! Und nicht umsonst träume ich in letzter Zeit immer und immer wieder von der geplatzten Hochzeit mit Finn und dem Dritten Weltkrieg auf dem Blauen Planeten. Vielleicht schicken meine Eltern und Schwestern mir aus Rache ständig diesen Traum.«

 

»Tja, wenn es dir urplötzlich eingefallen sein sollte, doch zu deinem eigentlichen Ehemann zu gehören, musst du dich von mir eben wieder scheiden lassen und zu ihm gehen.«

 

Die plötzliche Kälte, die in Jonas Stimme gefahren war und die abweisende Körperhaltung schmerzten mich so sehr, dass mir Tränen in die Augen traten.

 

»Nein, Brummelbär, das meine ich doch gar nicht«, brachte ich mühevoll über meine leicht zitternden Lippen. »Und du weißt genau, dass ich Finn nachher nicht mehr heiraten wollte und wie sehr mich diese Träume aufregen. Denn mein ganzes Leben lang habe ich zu verstehen bekommen, dass er der perfekte Ehemann für mich sei. Nun, anfangs fand ich dieses ja auch total schön. Aber als später immer häufiger über uns als das »perfekte« Ehepaar gesprochen wurde, fing ich allmählich an, eine leichte Abneigung gegenüber Finn zu entwickeln. Und das, obwohl er der Mensch war, der in allen Lebenslagen zu mir stand und mir am Vertrautesten war. Auch fing ich erst recht an, mich vor ihm zurückzuziehen, als unsere Hochzeit beschlossen war.«

Wie ein gescholtenes Kind versuchte ich, weiter unter Jonas´ warme Bettdecke zu kriechen und mich wieder an ihn zu kuscheln.

 

»Süße, du müsstest doch allmählich bemerkt haben, dass du bereits ein großes Teil zum Frieden und zur besseren Kommunikation unter den Menschen beigetragen hast. Und ich meine, viel mehr hat deine Familie nicht von dir verlangt, oder?«

 

Der etwas entspanntere Gesichtsausdruck und die veränderte Haltung meines Ehemannes machten mich unsagbar glücklich.

Nein, Jonas war eigentlich nicht der Mann, den ich mir als den Ehemann an meine Seite vorstellte. Zwar war er ein sympathischer und durchaus hübscher Mensch. Er hatte unheimlich viel Wissen. Auch war er extrem bescheiden. Dennoch stellte ich mir seit längerem die Frage, ob das hier alles mit rechten Dingen zuginge. Denn ich wusste absolut nicht, ob Jonas in mir die perfekte Gesprächspartnerin gefunden hatte, die er so dringend brauchte. Zwar war ich nicht gerade ein Dümmerchen, aber so wissend, wie er es war, war ich bei weitem nicht. Zudem fragte ich mich immer wieder, ob ich ihn richtig glücklich machte. Aber bis jetzt schien er glücklich mit mir zu sein. Jedenfalls gab er mir das Gefühl.

 

»Du vergisst nur, dass Michael Ende dieses ›große Teil‹, wie du es nennst, ebenfalls entdeckt und ein wunderschönes Buch darüber geschrieben hat. Der Unterschied war, dass das kleine Mädchen Momo in seinem Fantasyroman bemerkte, dass die Menschen um sie herum plötzlich immer weniger Zeit füreinander hatten und schließlich den "grauen Herren" auf die Schliche kam. Denn diese grauen Herren haben den Menschen die Zeit gestohlen, um selber existieren zu können. Auch wenn Momo durch intensives Zuhören hinter das Geheimnis der grauen Herren kam, das das ruhige, harmonische Zusammenleben der Menschen mit ihrem Zeitraub störten, so ähneln sich unsere beiden Entdeckungen doch ziemlich. Denn die Menschen können sich in der Tat nicht gut genug zuhören. Ebenso wie den Tieren und den Pflanzen. Alles muss immer schnell gehen. Und wenn wir einmal etwas auf dem Herzen haben und darüber sprechen möchten, müssen wir meist jemanden aufsuchen, den wir fürs Zuhören und für eine gute Idee bezahlen. Wir haben füreinander einfach keine Zeit mehr. In den meisten Gemeinschaften jedenfalls. Nur dort, wo die Menschen noch mit mehreren Generationen zusammenleben und füreinander da sind, kennt man den Beruf eines Psychologen oder eines Psychiaters zum größten Teil gar nicht. Diese Menschen geben sich gegenseitig soviel Halt, dass sie gar nicht erst aufgrund vor lauter Einsamkeit in Depressionen verfallen. Ja gut, es gibt natürlich Hirnschädigungen, die wirklich so drastisch sind und nur mit speziellen Medikamenten behandelt werden können. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Erkrankungen verschwinden, wenn diese Menschen vollste Geborgenheit durch Andere erfahren. Auch ist anzunehmen, dass wir etwas länger leben, wenn wir glücklich, zufrieden und sicher in der Mitte unserer Liebsten verweilen. Nur konnte Michael Ende diese Problematik nicht so deutlich benennen, weil er ja einen Roman für Kinder schrieb.“, gab ich etwas mürrisch von mir und verschränkte die Arme trotzig über meiner Brust.

 

„Nun, aber die meisten deiner Leute sind vollkommen zufrieden und sogar ein bisschen stolz auf dich. Was möchtest du denn noch mehr?«

 

»Ja, ich bin auch so dermaßen toll!«, gab ich in einem ironischen Ton zurück und klimperte mit meinen Augenlidern. »Ich habe nur eine recht gute Beobachtungsgabe, sowie sie manche Leute eben haben. Das ist alles!«

 

»Und deine gute Beobachtungsgabe sagt dir wohl auch, dass ich ein Brummelbär bin?!«

 

»Nun, manchmal bist du ganz schön brummelig. Und dieses hast du mir als Masseur auch zur Genüge gezeigt. Damals, als du mich aufgrund meiner Rückenschmerzen behandelt hast«, erklärte ich grinsend. »Während der Behandlungsstunden hast du mich manches Mal ganz schön ausgeschimpft. Besonders, als ich dir von der Fingeramputation erzählt habe, die ich bei mir durchführen lassen wollte.«

 

»Ja, das war auch eine ziemliche bescheuerte Theorie von dir, dass sich deine starke Spastik verringert, wenn du dir einen oder zwei Finger deiner beiden Hände amputieren lässt. Deine vorletzte Physiotherapeutin hatte dir mal erzählt, man könne aller Wahrscheinlichkeit nach das unkontrollierte Bewegungsmuster eines Menschen mit einer Spastik „unterbrechen“, wenn man ihm ein Gliedmaße abnimmt. Na, und das wolltest du ausprobieren. Vermutlich ist diese Theorie deiner ehemaligen Physiotherapeutin auch korrekt. Doch ausprobiert oder gar bewiesen ist sie nicht.“, erklärte mein Mann aufbrausend und klatschte wild gestikulierend in beide Hände.

 

Ich versuchte, mich ein wenig weiter aufzusetzen. Denn im Sitzen konnte ich wesentlich besser zu Atem kommen und somit sehr viel deutlicher sprechen. Als Jonas dieses bemerkte, zog er mich hoch, stopfte mir mein Kopfkissen und meine Bettdecke hinter den Rücken und deckte mich mit seiner Eigenen fürsorglich zu. Ja, es war erstaunlich, wie gut manche Menschen mich vom Sprachlichen her verstehen konnten. Denn aufgrund meiner starken spastischen Lähmung, die seit Geburt meinen ganzen Körper beherrschte, konnte ich mich nur undeutlich mitteilen. Ich sprach wie eine volltrunkene Person. Und einige Leute taten sich ziemlich schwer damit, mich genau zu verstehen. Zumeist lag dies daran, dass leider nicht wenige von meinen Gesprächspartnern eine gewisse Scheu verspürten, mich das Gesagte noch einmal oder auch mehrere Male hintereinander wiederholen zu lassen. Überwiegend empfanden sie, sie würden mich mit dem Wiederholen der Sätze überfordern oder gar nerven. Allerdings gab es Menschen, die mich beinahe von Beginn unserer Bekanntschaft an auf Anhieb recht klar und deutlich verstehen konnten. Auch Jonas gehörte zu den Menschen, die beinahe jedes einzelne Wort von mir verstanden. Jedoch waren wir uns auch schon recht vertraut. Und nicht selten geschah es, dass ich einen undeutlichen Ton von mir gab und er dennoch auf den Punkt genau wusste, was ich meinte. Zudem liebte ich es grenzenlos an ihm, dass er es nie müde wurde, mich kompliziertere Worte solange wiederholen zu lassen, bis er genau verstanden hatte, was ich erzählen wollte.

 

»Trotz alledem hätte man es einmal ausprobieren können, ob ein Mensch mit recht starker Spastik sich gezielter bewegen kann, wenn man ihm eine oder zwei Gliedmaßen abnimmt. Ich meine, die Ärzte operieren sogar in Gehirnen herum, um den Menschen mit spastischen Lähmungen ein etwas ruhigeres und „lebenswerteres“ Leben zu verschaffen. Und das finde ich persönlich total grausig. Denn bei diesen Operationen kann weitaus Schlimmeres passieren, als bei einer Fingeramputation. Ja, gut, wer unter seiner spastischen Lähmung ernsthaft zu leiden hat, sollte sich natürlich am Gehirn operieren lassen! Nichtsdestotrotz sollte man erst einmal versuchen, die Dinge anzunehmen, die das Leben für einen parat hält. Außerdem hätte ich diese Fingeramputation keineswegs in Betracht gezogen und mich für sie entschieden, wenn ich meine beiden Hände vollständig hätte einsetzen können. Aber da ich mit ihnen so gut wie nichts machen kann, wäre es nicht weiter aufgefallen, wenn ich an einer Hand einen oder zwei Finger weniger gehabt hätte. Ja, man hätte es natürlich gesehen. Doch das wäre aber auch schon alles gewesen.“, gab ich erklärend zurück, nachdem ich gut saß. „Allerdings habe ich mich dann doch für das Einritzen der Muskeln meines rechten Beines entschieden. Und seitdem mir die Muskeln operativ ein Stück weit angeritzt worden sind, die in meinem Bein am verspanntesten waren, bin ich körperlich tatsächlich etwas ruhiger.«

 

»Ja, diese Operation war eine etwas Andere, die man im Gegensatz zur Fingeramputation gut nachvollziehen kann. Denn bei ihr werden die spastischen Muskeln des Arms, des Beins oder des Fußes weitestgehend lahmgelegt. Nur, bei dieser OP wäre beinahe nicht alles glattgegangen. Und dann wärst du womöglich noch schwerer behindert gewesen, als du ohnehin schon bist. Die Ärzte haben dir aus Versehen ein kleines bisschen zu viel vom Narkosemittel gegeben. Und dies hätte dein kleiner, zierlicher Körper fast nicht verkraftet. Wenn man denn noch bedenkt, warum du diese Operation über dich ergehen lassen hast, sollte man dir eine gehörige Ohrfeige verpassen. Denn du wolltest gar nicht sooo unbedingt deine starke Spastik verringern, die dich im Grunde genommen in keiner Weise stört. Denn du hast deine Spastik bereits dein Leben lang und bist an sie gewöhnt, wie an deine braunen Augen. Nein, du wolltest nur, dass deine Mitmenschen es leichter mit deiner körperlichen Pflege haben. Weißt du, Zerlina, das ist ziemlich bescheuert: Auf der einen Seite regst du dich über die Leute auf, die sich wie Marionetten der Gesellschaft fügen. Du erzählst deinen Freunden, sie möchten ihr Leben so leben, wie sie es für richtig halten. Du sagst, dass sie darauf acht geben sollen, dass ihnen niemand ihr Leben aus den Händen nimmt und für sie weiterlebt. Aber auf der anderen Seite lässt du dir dein Leben ganz genauso aus den Händen nehmen, um es von deinen Mitmenschen weiterleben zu lassen. Und wenn du nur mutig genug gewesen wärst, dir dieses einzugestehen, hättest du dich nicht operieren lassen. Auch hättest du mehr auf mich und meine heilenden Hände vertrauen müssen. Du wärst deinen Leuten eine weitaus größere Hilfe, wenn du dich gegen diesen operativen Eingriff entschieden hättest. Du weißt, dass die Menschen sich generell in die Angelegenheiten von Anderen einmischen. Und dieses machen sie meistens leider nicht, um ihren Mitmenschen wirklich zu helfen und ihnen gut zu tun, sondern sie tun es, weil sie schlichtweg ihre Langeweile vertreiben möchten. Auch bei dir haben die Leute, mit denen du näheren Kontakt hattest, ihre Langeweile und ihr „ach so übergroßes Mitleid“ zu deinem Problem mit deiner Behinderung gemacht. Dabei hast du nie unter deiner starken Körperbehinderung gelitten und niemals davon geträumt, eine nicht behinderte Frau zu sein. Denn du bist nun einmal so schwer körperbehindert auf die Welt gekommen und kennst dein Leben aus diesem Grunde nicht anders! «

 

»Ja, ich weiß!«, murmelte ich. »Aber ich habe die Operation gut überstanden. Und die ewigen Schmerzen in meinem rechten Fuß sind fast verschwunden. Außerdem wusste ich damals doch noch gar nicht, ob meine Beobachtung mit deinen heilenden Händen stimmt und ob ich dir jemals näher kommen werde. Na, jetzt ist mein rechtes Bein weitestgehend lahmgelegt und bereitet mir keine Schwierigkeiten mehr. Ja, ich kann mir denken, was du jetzt wieder sagen möchtest. Wenn ich mich schon damals richtig ernährt hätte, wäre meine körperliche und meine seelische Verfassung eine wesentlich Bessere gewesen. Denn die einzelnen Nahrungsmittel erzählen uns ja ihre ganze und eigene Lebensgeschichte, die unser Körper mühselig verdauen und verarbeiten muss. Ganz besonders Tierisches sollte man nicht essen. Dieses macht nur traurig, krank, lässt einen verzweifeln und führt zu brutalen Wutausbrüchen, die wiederum in verheerende Kriege ausarten können. Und ich schäme mich auch wirklich wahnsinnig, fast dreißig Jahre lang etwas von unseren tierischen Vorfahren gegessen zu haben. Denn wie kann man sich für einen guten Menschen mit gesundem Vestand halten, wenn man vom Leichnamen eines völlig wehrlosen Lebewesen isst?! Ganz davon ab, fühle ich mich geradezu wie ein neuer Mensch, seitdem ich vegan lebe.

 

»Ganz genau! Zudem musst du dich fragen, welch wertvolles Können du durch diesen operativen Eingriff an deinem Bein verloren hast!«, kam plötzlich eine piepsige, sehr vorwurfsvolle Stimme unter dem Bett hervor und im nächsten Moment sprang meine kleine weiß-grau gestreifte Katzendame auf die Matratze.

 

»Momo, da bist du ja!«, rief ich aus und drückte sie freudig an mich.

 

»Ja, wo sollte ich bitteschön denn sonst sein, hm? Meine Tochter und ihr Vater hatten sich mal wieder gewaltig in der Wolle, wo ich kurz schlichten musste. Du weißt doch, die Beiden sind manches Mal wie Feuer und Wasser! Und ich muss dann immer zusehen, dass Kimmy nicht verbrennt und Hannes nicht ertrinkt. Schlimm, schlimm, schlimm.«

 

»Och, meine arme, kleine Momo«, schmunzelte ich und drückte ihr einen Kuss auf die winzig kleine Nase.

 

»Ja, mach' dich ruhig lustig über mich«, maulte Momo weiter, »wirst schon sehen, was du davon hast!«

 

"Und wo sind Hannes und Kimmy jetzt?"

 

"Kimmy liegt beleidigt unter dem Bett und Hannes hat sich verärgert auf die Fensterbank im Wohnzimmer hinter die ganzen Blumentöpfe verzogen und starrt hinaus in den Garten. Vielleicht ist er aber auch schon durch die Katzenklappe in der Terrassentür in den Garten entschwunden und streift mürrisch durch die umliegenden Wiesen und Felder. Zum Glück liegt unser Grundstück und unser Haus recht abseits, sodass es hier kaum viel befahrende Straßen gibt. Nur dieser Jäger, der hier durch den nahen Wald streift, macht mir ziemlichen Kummer. Hört ihr Kimmy beleidigt an ihrem kleinen Gummiball knabbern?"

 

"Ja, das kann man nicht überhören.", erwiderte ich leicht lächelnd. "Übrigens hat Jonas gestern mit dem Jäger gesprochen. Er wird also darauf acht geben, keinen pechschwarzen Kater und keine hellbraun-, schwarz-, weißgetigerte Katze zu erschießen. Na, und weil ihr drei es von München her so gewohnt seid, ständig in der Wohnung zu sein, geht ihr nicht allzu häufig nach draußen. Du zum Beispiel hast ein bisschen Angst, hinaus in die weite Welt zu gehen und möchtest lieber immer im Haus bleiben."

 

"Nun, mich reizt es nicht, den Mäusen und Kaninchen hinterher zu jagen. Denn die Mäuse erinnern mich einfach zu dolle an Moritz, deine oder unsere kleine Maus, die in München bei uns wohnte.", murmelte Momo zwischen den Zähnen hindurch.

 

»Och menno, wie lange werde ich denn brauchen, um Momo richtig zu verstehen?«, schimpfte Jonas leise vor sich hin. »Und selbst du fällst, wenn du mit ihr sprichst, in eine Art Singsang, den ich nicht gut verstehen kann. Manchmal verstehe ich noch nicht einmal das kleinste Wörtchen.«

 

»Tja, Brummelbär, das liegt daran, dass du ein Mensch bist, der vom Planeten Erde stammt. Wenn du einer von uns wärst, könntest du Momo ohne Weiteres verstehen.«, neckte ich Jonas und blickte in seine hellbraunen Augen.

 

Ja, Jonas war mit seinem etwas herb geschnittenen Gesichtszügen, seinem ständigen Dreitagebart, seiner überaus männlichen Stimme, seinen braunen Augen und seinen blondem, kurzem Haar, das schon leichte Geheimratsecken anzeigte, in der Tat ein hübscher Mann. Und obwohl er noch nicht einmal dreißig Jahre alt war, wuchsen die Geheimratsecken stetig. Eine irrsinnig schöne, farbliche Zusammenstellung; ziemlich hellblonde Haare und unheimlich warme, braune Augen. Anfangs irritierte es mich ein wenig, in Jonas' Augen zu blicken. Denn ich hatte ja ebenfalls braune Augen. Aber je länger ich mit Jonas zusammen war, desto weniger irritierte mich seine Augenfarbe. Finns Augen dagegen waren grün-blau, die zu seinem leicht rötlichen, etwas lockigen und ebenfalls recht kurzgeschnittenen Haar gut passten. Auch in der Körpergröße unterschieden mein Ex-Freund und mein jetziger Ehemann sich ziemlich. Finn war knapp an die zwei Meter groß, recht breitschultrig, muskulös und sportlich gewesen. Jonas dagegen war etwas über einen Meter achtzig groß, war für einen Mann recht schmal gebaut und hatte weniger Muskelmasse an Armen und Beinen. Dennoch fühlte ich mich bei ihm um einiges geborgener, sicherer und beschützter. Und dies, obwohl er gute dreizehn Jahre jünger war als Finn. Doch dass ich mich bei meinem jetzigen Ehemann sicherer und geborgener fühlte, kam wohl daher, weil er ein strengeres Auftreten hatte. Außerdem war Jonas um einiges selbstbewusster und in seinem Wesen viel gefestigter als Finn. Dabei war mein Ex-Freund ein herzensguter Mensch, der die Ruhe selbst war und von jedem gleich gemocht wurde, der ihn kennen lernte.

 

»Hm, dabei fällt mir ein, dass du gestern Abend damit begonnen hattest, mir deine ganze Geschichte als invalide Hexe zu erzählen.«, riss Jonas mich sanft aus meinen Gedanken.

 

»Ja, entschuldige bitte, dass ich dabei eingeschlafen bin. Und auch, wenn du den Anfang meiner Lebensgeschichte schon seit Längerem kennst, beginne ich am besten noch einmal ganz von vorne, oder?«

 

Mit einem bestimmten Nicken zeigte Jonas mir an, dass er damit einverstanden war.

 

 

 

II

 

Nachdem ich von der Toilette zurückkam, im Bett wieder gut saß, Jonas unsere Katzen versorgt und uns einen Früchtetee mit Honig gemacht hatte, nahm ich Momo in den Arm, holte tief Luft und begann mit meiner Geschichte:

 

»Die Lebewesen des blauen Planeten schrieben gerade das Jahr neunzehnhundertsiebzig. Es war in einer sehr heißen Juninacht, als ich recht unsanft im Garten meiner Eltern aufschlug. Denn mein leiblicher Vater, der mich auf diesen Planeten brachte und während den letzten Metern auf seinen Armen trug, kam nämlich leicht ins Stolpern, sodass es ihm nicht gelang, mich sonderlich sanft abzulegen. Sofort fing ich lauthals zu schreien an. Der Mann, von dem ich jahrelang glaubte, er sei mein leiblicher Vater, fand mich schließlich im Garten unter dem Wohnzimmerfenster. Vorsichtig lüftete er das Tuch, in dem ich eingewickelt war, und sah in mein kleines schrumpeliges Gesicht. Behutsam trug er mich ins Haus und zeigte mich seiner angetrauten Ehefrau, meiner Mutter.

 

»Wo hast du den kleinen Säugling denn gefunden, Wolfram?«, fragte sie ihren Mann höchst erstaunt und erschrocken. Vorsichtig beugte sie sich über mich, begutachtete zärtliich mein kleines Gesicht und legte ihren Zeigefinger in meine winzige Hand.

Mein Vater erzählte meiner Mutter, dass er mich schreien gehört und kurze Zeit später dann unter dem Wohnzimmerfenster entdeckt habe.

 

»Und was sollen wir mit diesem kleinen Bündel nun anfangen? Wir haben doch schon fünf Töchter.«, gab meine Mutter ein wenig hilflos von sich und schaute meinen Vater mit ihren blauen Augen äußerst fragend an.

 

»Erstmal behalten wir sie diese Nacht bei uns. Denn wir können sie ja schlecht wieder zurück in den Garten legen! Hm, ich vermute doch mal, dass es ein kleines Mädchen ist. Denn wir bekommen ja irgendwie nur Mädchen. Und sie ist doch bestimmt nicht älter als drei Tage, oder?«, fragte mein Vater etwas verlegen und strich meiner Mutter liebevoll eine blonde Strähne aus der Stirn.

 

„Nun, das kleine Bündel ist bestimmt nicht älter als drei Tage. Auch kannst du durchaus Recht haben, dass es ein Mädchen ist“, unterstütze meine Mutter die Vermutung ihres Mannes im sanften Tonfall und lächelte ihn schelmisch von der Seite an. Behutsam nahm sie mich aus seiinen Armen und ging mit mit mir im Wohnzimmer leicht wippend auf und ab.

 

„Jedoch blieb ich nicht nur diese eine Nacht im Hause meiner Familie. Denn da die Suche nach meinen leiblichen Eltern erfolglos blieb, entschieden diese Leute sich, die vor den Toren Münchens wohnten, mich mit ihren fünf leiblichen Töchtern großzuziehen und mir den Namen Zerlina zu geben.

Und trotzdem ich so unerwartet bei ihnen hineingepurzelt war, nahm meine Familie mich recht liebevoll auf. Zwar war meine Mutter von ihrer Art her ein wenig barsch und herrisch, aber ich mochte diese kleine, rundliche Frau mit ihren langen, festen, Locken, ihren großen blauen Augen und ihrer lustigen Stupsnase. Mein Vater hingegen war ein unheimlich sanftmütiger, ruhiger Mensch. Er war groß und breitschultrig gebaut, hatte eine durchtrainierte Figur und besaß auf seinem Kopf nur noch wenig Haar, das mit Mitte dreißig bereits ergraut und einmal von dunkler Farbe gewesen war. Vier von meinen fünf Schwestern hatten ebenfalls dunkle Haare, die ihnen beinahe bis zu den Hüften hinabreichten, und waren, genau wie mein Vater, von der Gestalt her hochgewachsen und schlank. Nur meine Lieblingsschwester kam von ihrem Aussehen nach meiner Mutter. Sie hatte ebenfalls dicke, blonde lockige Haare, recht helle blaue, große Augen, eine niedliche Stupsnase und war von ihrer Figur her eher etwas stämmig. Doch auch sie hatte dieselbe ruhige, völlig gelassene Art meines Vaters. Mit Stefanie, die von allen nur kurz und bündig Steff genannt wurde, tobte ich als Kind mit größter Freude durch unseren recht großen und baumbewachsenen Garten. Unser Familienholzhaus stand in der Mitte unseres Gartens. Dieses Haus hatte mein Vater mit tatkräftiger Unterstützung seiner Familie und Freunde eigenhändig gebaut. Um unser Grundstück herum lagen nur Wiesen, Felder und Wälder. Unsere nächsten Nachbarn wohnten etwa einen halben Kilometer von uns entfernt. Nur meine Großmutter väterlicherseits war unsere unmittelbare Nachbarin. Als meine Familie unser Haus in dem winzig kleinen Ort in der Nähe von München baute, wollte mein Vater seine Mutter nicht in der Großstadt alleine zurücklassen und bat sie, in das Haus direkt neben unserem Grundstück zu ziehen, das schon mehrere Jahre lang leer stand.

Ja, wir lebten recht ruhig und einsam.

Ganz besonders liebte ich es als kleines Mädchen, mit Steff in unserem Garten verstecken zu spielen und im Sommer und im frühen Herbst das reife Obst von unseren zahlreichen Obstbüschen und Obstbäumen zu naschen. Da ich mich aufgrund einer starken spastischen Lähmung nicht selbständig auf meinen Beinen halten konnte, krabbelte ich munter drauf los. Ich versteckte mich zwischen den vielen, sehr eng stehenden Tannen und Büschen. Steff konnte mein Versteck bei unserem Spiel so manches Mal gar nicht so ohne Weiteres ausfindig machen und musste richtig suchen. Meiner Schwester Steff fühlte ich mich unheimlich nahe und hatte in ihrer Gegenwart ein warmes, sicheres und gutes Gefühl. Leider fühlte ich mich bei meinen anderen Schwestern nicht so sehr geborgen und sicher. Welches der Grund dafür war, vermochte ich nicht zu sagen. Denn alle vier hatten die Art meines Vaters, die ich so sehr mochte. Allerdings waren meine vier ältesten Schwestern auch schon so gut wie erwachsen und von zu Hause ausgezogen, als ich in ihre Familie purzelte. Vielleicht lag es am großen Altersunterschied, dass wir nie so recht warm miteinander wurden.

Bereits als kleines Kind bemerkte ich, dass ich einige unschöne Dinge, die in naher Zukunft geschehen würden, ›voraussehen‹ konnte. Und jedes Mal, wenn irgendetwas Unschönes geschah, spürte ich es als Allererstes in meinem rechten Bein. Ich spürte kurz vor einem nicht so schönen Ereignis oder gar vor einer Katastrophe in meinem rechten Bein einen Schmerz, der mitunter unerträglich war. Aus diesem Grunde nannte ich mein rechtes Bein bald »mein kleines Zauberbeinchen«, auch wenn ich noch nicht wusste, eine leibhaftige Hexe zu sein. Zudem wurde ich vor einem unschönen Ereignis unheimlich unruhig und konnte nachts kein Auge zutun. Momo hat es vorhin bereits kurz angesprochen. Später war ich sogar so gut, dass ich die Ereignisse, die sehr bald geschehen würden, direkt benennen konnte. Von diesem Zeitpunkt an war ich den Menschen unheimlich. Denn ich war des Hellsehens mächtig. Aber seitdem man einige Muskeln meines rechten Fußes ein Stück anritzte, ist mein Empfinden für herannahende Katastrophen weitestgehend gestört. Dies bedeutet, dass ich körperlich zwar relativ ruhig und entspannt bin, jedoch kaum noch Gefahren wittern und dementsprechend handeln kann sowie es mir vor meiner Operation noch möglich war. Weil ich jedoch manches Mal schwach und noch immer meine, ein Mensch zu sein, der auf dem Planeten Erde zu Hause ist, denke ich, ich müsste mich in diese Gesellschaft restlos eingliedern und so aussehen, wie alle Anderen hier. Nun, als eine echte invalide Hexe müsste ich eigentlich sofort auf den Planeten der Hexen und Zauberer zurückgeholt werden. Denn ich kann die Menschen mit meiner jetzigen „kaputten“, feinen Antenne nicht mehr ausreichend schützen. Aber die Zauberwesen bei mir zu Hause haben zum Glück Nachsicht und erlauben mir, hier zu bleiben. Sie meinen, ich solle die Menschen eher vor sich selber als vor Gefahren von außerhalb schützen“, flüsterte ich schuldbewusst und drückte Momo noch etwas stärker an mich.

 

»Tja, selber schuld!«, holte Jonas noch einmal zu einem Tadel aus. Doch als er meine funkelnden Augen sah, verstummte er augenblicklich und hörte weiter bereitwillig zu, als ich gleich darauf wieder zu erzählen begann.

 

»Aber damals, als ich noch nichts von meinem Hexendasein wusste, ängstigte mich meine Gabe des ›Voraussehens‹ unheimlich“, erzählte ich. „Manchmal war es mir sogar so, als könne ich hören, was meine Gesprächspartner oder meine Spielgefährten gerade dachten. Oftmals waren es nur Fetzen ihrer Gedanken. Am häufigsten glaubte ich aber, Gedankenfetzen von Finn, meinem Freund, mit dem ich schon seit Kindertagen befreundet war, hören und verstehen zu können. Mehrmals fragte ich mich, ob es daran lag, weil wir eine so enge Bindung miteinander hatten. Denn auch er schien des Öfteren genau zu wissen, was oder woran ich gerade dachte. Jedoch sollte es Jahre dauern, ehe ich dieses Phänomen richtig´wahrnahm und erkannte.

Zudem plagten mich Alpträume, die mich in einigen Nächten meiner Kindheit heimsuchten. Ich träumte ständig von riesigen, gruselig aussehenden Gestalten mit sechseckigen Augen. Diese Gestalten kamen in den Nächten meiner Alpträume zu mir, rissen mich aus meinem warmen, kuscheligen Bett und flogen mit mir durch das offene Fenster. Wenn sie eine bestimmte Höhe erreicht hatten, ließen sie mich plötzlich fallen. Ich fiel fast jedes Mal durch die Wolken gen harter Erde. Und während die Riesen mit mir durch die manchmal unangenehm kalte Nachtluft flogen, flüsterten sie mir wütend zu, dass sie meine beruhigende Art, die ich ausstrahle, keineswegs mochten und sie für gefährlich hielten. Sie erzählten mir bei jedem Flug zu den dunklen und nassen Wolken, sie wollten das ganze Weltall für sich alleine haben. Es solle keinen anderen bewohnten Planeten geben, außer den Ihren. Aber mit meiner beruhigenden Art könnte ich es vielleicht schaffen, dass die Menschen und die Tiere harmonischer zusammenlebten und es am Ende vermutlich sogar aufgaben, sich gegenseitig auszurotten. Die grausigen Gestalten, die mich in ihren Fängen hielten, ängstigten sich anscheinend davor, die Lebewesen der einzelnen belebten Planeten könnten es aufgeben, Kriege gegeneinander zu führen und sich auszulöschen. Denn dies würde bedeuten, dass die Welten und das Leben auf ihnen für längere Zeit existierten. Während meiner Flüge mit den Riesen erfuhr ich, dass die Bewohner der einzelnen Planeten sich bemühten, ihre Welt vor dem Untergang zu bewahren. Natürlich konnte ich als kleines Mädchen noch nicht so recht begreifen, dass es weitere belebte Planeten im großen Weltall gab und sie alle von diesen grässlichen Geschöpfen bedroht wurden und gegen sie kämpfen mussten. Auch wusste ich zu diesem Zeitpunkt nicht, dass und wie man diese großen, Angst einflößenden Geschöpfe beruhigen und ihnen die Furcht nehmen konnte, die sie selbst vor den Bewohnern der Nachbarplaneten verspürten. Denn ich hatte in diesen Nächten, in denen ich als Vierjährige durch die Lüfte flog, keine Ahnung, dass ausgerechnet ich dazu auserkoren war, den Menschen der bläulich schimmernden Erde das große Miteinander nahe zu bringen, ihnen die Angst voreinander und dem Ungewissen zu nehmen. Damals war ich nur ein ganz normales, kleines Menschenkind, das mit seiner Familie zusammenlebte und eine ziemlich starke Körperbehinderung hatte.

Diese Riesen, die in ziemlich genauen Abständen zu mir kamen, waren circa drei Meter groß und hatten eine hellgrüne und vollkommen glatte Haut und rochen eigenartig modrig. Ihre Augen hatten die Form eines Sechsecks und waren im Verhältnis zu ihrer Kopfgröße, die so groß war wie eine große, dicke Melone, recht klein. Ihre Kleidung sah meist zerrissen aus.

Trotz ihrer Größe und ihres massigen Körpergewichts waren diese riesigen Geschöpfe doch so geschickt und beweglich, dass es ihnen gelang, sich durch den engen Spalt eines gekippten Fensters zu zwängen. Und weil meine Familie praktisch auf Wiesen und Feldern wohnte, schlief sie im Allgemeinen vom Frühling bis zum Herbst bei geöffneten Fenstern. So auch ich. Somit war es für diese Riesen, ein Leichtes, die nicht von dieser Welt zu kommen schienen und ebenfalls des Zauberns mächtig waren, nachts, wenn alles schlief, an mich heran zu kommen. Doch sobald sie in mein Zimmer gekommen waren, mussten sie das Fensterr natürlich komplett öffnen, um mit mir davon fliegen zu können.

Und während meines Falles durch die Wolken und die Luft, tauchte dann immer wie ausdem Nichts eine Art Engel mit freundlichem Gesicht, wachen, braunen Augen und einem schneeweisen Bart auf, fing mich mit seinen starken Armen auf und brachte mich behutsam und sicher nach Hause zurück. Wenn ich wieder in meinem warmen Bett lag, saß dieser Engel, der mich soeben vor meinem sicheren Tode gerettet hatte, noch eine Weile neben mir und sprach beruhigend auf mich ein. Seltsamerweise trocknete mein Schlafanzug oder mein Nachthemd immer so schnell, dass ich mich nach meinem Flug durch die nassen Wolken und die feuchte Nachtluft nie umziehen musste. Denn sobald der Engel mich in mein Bett legte, war ich schon wieder ganz trocken und warm. Komisch!, wunderte ich mich über dieses Phänomen. Aber wenn ich am nächsten Morgen aufwachte, glaubte ich ohnehin, meine Reise mit den Riesen durch die Wolken sei nur ein böser Traum gewesen und dass der freundliche Engel, der mich rettete, mein Nachtzeug im Nu wieder getrocknet hätte. Denn in den Träumen und Phantasien eines Kindes ist nun einmal nichts unmöglich. Dennoch fragte ich mich, warum gerade ich diese abscheulichen Träume haben und diese Todesängste ausstehen musste. Aber ich wagte nie, meiner Familie davon zu erzählen und ihr Fragen zu stellen.

Und so behielt ich all meine Fragen für mich und wunderte und ängstigte mich weiter.

Zwölf Jahre lang lebte ich bei meiner Familie. Dann beschloss mein Vater, mich in ein Internat in der Nähe von Frankfurt am Main zu geben. Er wollte mich angeblich vor meiner psychisch kranken Mutter schützen, die durch ein schreckliches Ereignis in iihrer Kindheit an Verfolgungswahn litt. Allerdings war mir zu diesem Zeitpunkt schon vollkommen bewusst, dass der wahre Grund ein ganz Anderer sein musste. Meine Mutter litt zwar stark an Verfolgungswahn. Dies entsprach der Wahrheit. Aber dieses Leiden war keinesfalls so schlimm, dass mein Vater uns Kinder, beziehungsweise Steff und mich, vor ihr in Sicherheit bringen musste.

Als ich mein sechsundvierzigstes Lebensjahr erreicht hatte, erzählte meine angeheiratete Tante miir, dass der Vater meiner Mutter ein überzeugter Nazi war und Adolf Hitler aktiv gedient hatte. Von diesem Zeitpunkt an konnte ich meine Mutter mit vollkommen anderen Augen betrachten und ihr grenzenloses Leiden verstehen. Auch ich litt unter diesem Wissen und schämte mich bis an mein Lebensende zutiefst für meine Großeltern. Von diesem Augenblick an, als ich von meinen Nazigroßeltern erfuhr, distanzierte ich mich komplett von den Menschen und entwickelte mich zum überzeugten, rundum glücklichen Einzelgänger. Bemühte iund quälte ich mich doch bereits  von frühesten Kindessbeinen an, wie die Anderen zu sein. Nur leider hatte ich mir in all den Jahren von den Menschen hier schon sehr viel, zu viel, abgeguckt und angeeignet. Und dies machte mich dann und wann reichlich traurig und regelrecht wütend. Aber letztendlich ließ imch diiese Erkenntnis, anders zu sein und unter gar keinen Umständen dazugehören zu wollen, mein wahres Ich entdecken und tatsächlich zu einem zutiefst zufrieden Menschen werden.

Seltsamerweise kam Steff einige Tage, nachdem ich ins Internat gezogen war, auf eine weiterführende Schule, die siebzig Kilometer von unserem Zuhause entfernt lag. Von dieser Zeit an wohnte sie bei Bekannten meines Vaters und kam ebenfalls nur an den Wochenenden und in den Ferien zu unseren Eltern nach Hause. Ganz genauso wie ich.

Nachdem ich im Internat eingezogen war, hörten meine Alpträume plötzlich auf. Überglücklich und zufrieden schlief ich die Nächte ohne grausige Unterbrechungen durch. Und mit der Zeit war mir glasklar, dass mein Vater von meinen nächtlichen und unfreiwilligen Ausflügen etwas wissen musste. Denn er erkundigte sich auffallend oft nach meinem Wohlbefinden und meiner Nachtruhe. Und es schien ihn sehr zu erleichtern, wenn ich seine immer wiederkehrende Frage jedes Mal mit einem klaren, deutlichen ›Ja‹ und ›Mir geht es gut, Papa‹ beantwortete. Woher er von meinen Alpträumen und den Riesen wusste, konnte ich mir nicht erklären.

Bald, nachdem ich in diese Einrichtung eingezogen war, in der ausschließlich körperlich behinderte Schüler wohnten,, zum ersten Mal bewusst auf, dass ich ›anders‹ sein musste. Und dies nicht wegen meiner starken Körperbehinderung, mit der ich in diesem Internat in keiner Weise auffiel. Nein, irgendetwas hatte ich an mir, das meine Mitmenschen mächtig störte und ihnen auch ein wenig Angst zu machen schien. Gleichzeitig jedoch, und dies war das Merkwürdigste, hatte es den Anschein, als ob sich die Meisten meiner Mitmenschen bei mir sicher und verstanden fühlten. Denn jedes Mal, wenn sie mit mir zusammen waren, glaubte ich, dass beinahe jede Hemmung von ihnen abfiele und sie mir Sachen erzählen konnten, die sie sonst niemandem anvertrauten. Selbst meine Lehrer konnte ich mit meinem Blick und meiner ruhigen Ausstrahlung hypnotisieren, sodass sie mir bessere Noten gaben und ich einen besseren Schulabschluss schaffte. (Wofür ich mich übrigens äußerst schäme!!!!) Auch meine Schwestern plauderten manchmal munter drauflos, schienen sie sich ansonsten doch vor mir zu fürchten.

Acht Jahre lang blieb ich in diesem Internat nahe Frankfurt und fühlte mich dort ziemlich unglücklich. Ich war viel zu weit von meiner Familie entfernt, an der ich als kleines Mädchen unwahrscheinlich hing. Und selbst, wenn ich die entsetzlichen Träume nicht mehr hatte, so wäre ich doch viel lieber zu Hause gewesen. Das Internatsgebäude lag in einer Art Park mit vielen hohen, alten Bäumen und sehr vielen Grünflächen drumherum, auf denen im Sommer gegrillt und auf Wolldecken kräftig gefaulenzt wurde. Sogar ein Gehege mit Kaninchen, Meerschweinchen und Hamstern gab es auf dem Internatsgelände, die wir Schüler pflegen mussten. Die Tiere durften wir im Herbst und Winter in unseren Zimmer beherbergen, damit sie nicht erfroren. Im Internatsgebäude selber gab es sechs Etagen, auf denen es jeweils drei Wohngruppen gab. In diesen Wohngruppen wohnten bis zu zehn Schüler. Ich hasste es anfangs, mein doch recht kleines Zimmer mit noch einem Mädchen teilen zu müssen. Und auch, wenn das Zimmer zwanzig Quadratmeter groß war, so war es mit zwei kleinen Schreibtischen, zwei Einbaukleiderschränken und zwei Betten doch reichlich klein und eng. Aufgrund Platzmangels, musste mein Rollstuhl jede Nacht auf dem Flur stehen, damit Luisa, meine zu Fuß gehende Zimmerkameradin, nicht stolperte, wenn sie im Dunkeln und schlaftrunken zur Toilette tapste.

Allerdings musste ich im Nachhinein gestehen, dass es mein absolutes Glück war, das Zimmer mit Luisa, meiner gleichaltrigen Klassenkameradin, teilen zu müssen. Denn weil ich nicht mehr alleine im Zimmer schlief, hatten diese Riesen, von denen ich fest glaubte, sie wollten mich töten, keine Chance, so ohne Weiteres an mich heranzukommen. Und auch, wenn unser Zimmer mit einem Balkon ausgestattet war, über den in lauen Sommernächten unsere Mitschüler uns unbemerkt besuchten, die körperlich kaum eingeschränkt waren, so war es für die Riesen schwierig, zu mir zu gelangen. Zumal die Lehrer des Nachts abwechselnd Dienst taten und alle zwei Stunden Kontrollgänge durch die Zimmer machten. Auch träumte ich während meiner gesamten restlichen Schulzeit im Internat nur noch selten von den Riesen.

Mein zweites großes Glück war es, dass Luisa gar nicht körperlich behindert war und mich somit nachts vor diesen schrecklichen Ungeheuern ein wenig beschützen konnte. Allerdings teilten die Lehrer die Zimmer mit Absicht so ein, dass ein schwer körperbehinderter mit einem leicht körperbehinderten Schüler zusammen war. Denn dadurch konnten sich diese beiden Schüler etwas ergänzen und gegenseitig unterstützen. Und so vertrieb Luisa die Riesen einige Male. Allerdings erfuhr ich erst ein paar Wochen nach dem Ende unserer Schulzeit, dass die Riesen tatsächlich versuchten, mich nachts zwei, drei Mal aus meinem Zimmer zu rauben. Zum Glück glaubte meine Zimmergenossin jedes Mal, sie habe es nur geträumt, mich aus den Händen der seltsamen Riesen gerettet zu haben. Und so stellte sie mir niemals unangenehme Fragen. Nur als wir uns nach unserer Internatszeit schrieben, berichtete sie mir einmal kurz, ziemliche schreckliche Träume von seltsamen Riesen recht realistisch gehabt zu haben.

Zwar war Luisa körperlich eigentlich gar nicht beeinträchtigt, doch dafür war sie eine Waise, die aus den Kinderheimen fortlief, in denen sie immer wieder untergebracht wurde. Aus diesem Grunde kam sie schließlich zu uns ins Internat. Und bei uns fühlte sie sich so wohl, dass sie nicht mehr den Drang verspürte, wegzulaufen und ruhiger wurde. Warum das so war, vermochte sie nicht zu sagen. Luisa war ein unwahrscheinlich liebes, nettes, einfühlsames und hübsches Mädchen. Sie war bereits mit zwölf Jahren recht groß gewachsen und schlank, machte sehr viel Sport, war im Unterricht fleißig und hatte wache, aufmerksame grau-grüne Augen. Auch besaß sie ebenfalls eine sehr, sehr feine Antenne. Und höchstwahrscheinlich war ihre "feine Antenne" auch der ausschlaggebende Grund dafür, weshalb wir uns trotz meines anfänglichem Unmuts, mir mit ihr ein Zimmer teilen zu müssen, richtig schnell und gut anfreundeten.

Während ich älter wurde, begann ich meine Umwelt bewusster wahrzunehmen. Ich fing an, meine Mitmenschen genauer zu beobachten. Dabei fiel mir immer stärker auf, dass die Menschen in meinem nähreren Umkreis nicht herzhaft und ehrlich lachen konnten. Anfangs wunderte ich mich sehr darüber, da lachen doch etwas Wunderwunderschönes war. Erst recht, wenn es vom Herzen und von ganz, ganz tief unten heraufkam. Später, im Erwachsenenalter, ergriff mich ein Art Trauer und noch etwas später sogar eine Art Bitterkeit. Warum nur konnten die Menschen nicht herzhaft und ehrlich lachen? Ich konnte es nicht begreifen! Ich hörte von einigen Kulturkreisen, in denen das Lachen als etwas ganz Normales und auch als etwas sehr, sehr Schönes empfunden wurde. Nur meine engeren Kontakte trugen keine rechte Heiterkeit in sich. Aber auch wenn das Ernsthafte meiner Mitmenschen mit der Zeit auf mich überging, so versuchte ich trotz allem, mir meinen Humor und mein herzhaftes Lachen stets zu bewahren und zu lachen, wann immer es möglich und angebracht war. Aber leider verlernte auch ich nach vielen, vielen Jahren immer mehr mein fröhliches, ausgelassenes Lachen. Und dieses erschreckte mich zutiefst. Allerdings fiel nicht nur mir auf, dass es in meisten Gegenden der Gesellschaft recht humorlos zuging, sondern auch Finn. Denn mein langjähriger Freund liebte es ebenfalls, sich mitunter kringelig zu lachen. Und nachdem wir erfuhren, nicht von dem Planeten Erde zu stammen und mit zahlreichen anderen Hexen und Zauberern Bekanntschaft gemacht hatten, die alle ganz genau dasselbe empfanden, nannten wir die Menschen meist nur noch "Die Lebewesen ohne herzhaftes Lachen".

Irgendwann erfuhr ich aus Berichten, dass die christliche Gesellschaft das Lachen als teuflisch betrachtete. Jahrhunderte nach Christus war das herzhafte Lachen verboten. Allerdings hörte ich auch, dass das Lachen noch vor der Entwicklung des Menschen entstand. Somit hatten wir das Lachen, das aus tiefstem Herzen kam, also von den Tieren geerbt! (Wer auch sonst hätte soviel Fröhlichkeit und Herzlichkeit in unsere Welt bringen können...???!!!)

Die Bezeichnung ›Die Lebewesen ohne herzhaftes Lachen‹, die wir für euch erfanden, ist übrigens nicht böse gemeint! Wir haben für alle Bewohner, die wir auf belebten Planeten entdeckten, unsere eigenen und besonderen Spitznamen.

Des Weiteren fiel mir nicht nur auf, dass meine Mitmenschen keinen rechten Sinn für Humor und Fröhlichkeit hatten, sondern ich spürte zudem, dass die Meisten ziemlich unglücklich, traurig und einsam wirkten. Und mir schien es so, als würden die Leute mehr oder weniger nur nebeneinander herleben, statt miteinander zu leben. Somit wünschte ich mir, auf der Erde irgendetwas verändern zu können. Kurz dachte ich darüber nach, ein Buch über das Leben zu schreiben. Ich wollte meinen Mitmenschen vor Augen führen, dass der Mensch ein "Rudeltier" war und es brauchte und liebte, in einer Gemeinschaft zu leben. Auch fiel mir auf, dass selbst eine Familie meist nicht in der Lage war, für ihre Angehörigen zu sorgen und für sie da zu sein. Zumindest nicht in den wohlhabenden Ländern. Immer wieder wurden die Behinderten, Alten, körperlich oder seelisch Schwachen aus den Familien aussortiert, weggegeben und grob an den Rand der Gesellschaft gedrückt. Leider war mir bewusst, dass dieses Verhalten, die nicht ganz »Gesunden« aus der Mitte der Gesellschaft auszusortieren, in der Natur des Menschen lag. Auch Tiere taten dies. Sie taten dieses, um selber unbeschadet und unbeschwert über- und weiterleben zu können. Und wir Menschen waren ja nichts Anderes als hochentwickelte Tiere. Allerdings sortierten Tiere ihre schwachen und kranken Artgenossen nicht bewusst aus der Mitte ihrer Gesellschaft aus, sondern nur, weil ihr Instinkt ihnen dazu riet. Aber der Mensch konnte bewusst und logisch denken und wusste demnach genau, was er tat. Zumindest wussten die meisten Menschen, was sie taten und konnten es steuern. Immerhin war ja so Mancher felsenfest davon überzeugt, GOTTES Ebenbild zu sein. Er meinte, so rein und klug wie der Schöpfer zu sein. Aus diesem Grunde konnte man es den Menschen durchaus begreiflich machen, dass ihre behinderten, schwachen, kranken und alten Mitmenschen genauso ein Recht auf ein normales und erfülltes Leben hatten wie sie selbst. Wenn sie denn schon so dermaßen klug sein wollten wie ihr Schöpfer! Aber vor allen Dingen mussten wir versuchen, auf diesen Planeten mehr menschliche Wärme zu bringen. Das war mir im fortgeschrittenen Alter bewusst geworden.

Allerdings verwarf ich den Gedanken, ein Buch zu schreiben, recht schnell. Um etwas Längeres korrekt zu formulieren, konnte ich mich im Schriftlichen einfach nicht gut genug ausdrücken. Dennoch drängte es mich in jüngeren Jahren schon stetig danach, in dieser Welt irgendetwas zu verändern. Und zwar etwas Großes. Aber es sollten noch Jahre ins Land ziehen, ehe ich von meiner Lebensaufgabe erfuhr, die von mir verlangte, tatsächlich etwas zu verändern..“

 

 

 

 III

 

„Dann kam der Herbst des Jahres zweitausendundeins, der in meinem Leben von Grund auf alles verändern sollte. Ich kann mich noch lebhaft zurückerinnern, dass dieser Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegneten, ein schon ziemlich kalt und stürmisch war.

Bereits nach dem allerersten Blick, mit dem ich dich damals neugierig musterte, wusste ich, dass du der Mensch warst, den ich mein Leben lang so verzweifelt gesucht hatte. Anfangs brachte mich diese ›Gewissheit‹ doch ziemlich durcheinander.

In einem sehr leisen und ruhigen Ton stelltest du dich an diesem Herbsttag bei mir vor und erzähltest, du seist der neue Masseur in der Massagepraxis, in der ich schon seit längerer Zeit Patientin war. Es war übrigens sehr amüsant, mit ansehen zu können, wie du das Plastik deines Kugelschreibers beinahe verbogen und zum Schmelzen gebracht hast.“, zwinkerte ich meinem Mann breit grinsend zu und schubste leicht gegen seinen Ellenbogen.

 

»An irgendetwas musste ich mich doch festhalten. Ich war aufgeregt, weil alles so neu für mich war. Denn ich hatte erst seit knappen drei Tagen bei Katja in der Praxis gearbeitet und noch nie eine so stark körperlich eingeschränkte Person wie dich behandelt. In der heutigen Zeit hätte ich direkt mein Handy aus der Hosentasche geholt, um damit wichtige Termine zu checken. Es ist schon komisch, dass ich mich nach Beendigung meines Studiums zum technischen Zeichner doch noch entschied, den Beruf des Masseurs zu erlernen. Aber plötzlich hat mich die Anatomie des Menschen so mächtig interessiert, dass ich beschloss, nicht nur am Computer zu sitzen. Ja, mich faszinierte es, wie man dem Menschen durch relativ einfache, äußerliche Einflüsse und banale Handgriffe von seinen Schmerzen befreien konnte, ohne ihm gleich irgendwelche hochdosierten Medikamente zu verabreichen. Daraufhin beschloss ich, erstmal mein Studium zu beenden, eine Zeit lang in meinem Beruf zu arbeiten und dann eine Ausbildung zum Masseur zu machen. Denn in meinem Beruf konnte ich immer noch arbeiten, beziehungsweise konnte ich mir als technischer Zeichner die Ausbildung zum Masseur finanzieren.“, warf Jonas in Erinnerung schwelgend an seiner Lippe kauend ein.

 

»Dafür habe ich ebenfalls aufgeregt und mühevoll bestätigt, dass ich unter permanent starken Nacken- und Rückenschmerzen leide sowie Katja es dir erzählt hatte. Denn jedes Mal, wenn ich fremden Menschen begegnete, wurde meine körperliche Anspannung so stark, dass ich sehr große Schwierigkeiten mit dem Sprechen hatte. Doch seltsamerweise wich meine Aufregung dieses Mal recht schnell aus meinem Körper, sodass ich dir innerhalb von nur vier Wochen ganze Geschichten erzählen konnte, die du gut verstandest. Anfangs wusste ich nicht, woran dies lag. Denn die Meisten taten sich schwer damit, mich richtig zu verstehen. Aber bald verstandest du jeden einzelnen Laut von mir. Selbst dann, wenn er noch so undeutlich war! Häufig habe ich mich gefragt, ob ich bei dir ruhiger war oder ob du Menschen, die einer Randgruppe zugeordnet waren, nur anders gegenübertratest. Vielleicht fühlte ich mich aus diesem Grunde in deiner Gegenwart so wohl und sicher.

 

„Tja, aus irgendeinem unbekannten Grunde fühlte ich mich vom allerersten Augenblick an von dir angezogen, was du vermutlich gespürt hast«, erklärte Jonas nahm mein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und sah miir schmunselnd in die Augen.

 

»Sag' mal, wie kam es eigentlich dazu, dass ich doch deine Patientin geblieben bin? Denn normalerweise solltest du mich nur so lange behandeln, bis deine Kollegin aus dem Urlaub zurück war, oder?«, fiel es mir erst jetzt wieder so richtig auf.

 

»Ja, ja, das stimmt wohl. Aber weil ich dich als eine sympathische und eine interessante Patientin empfand, wollte ich dich gerne weiter behandeln. Ich wollte noch etwas mehr von dir erfahren. Denn auf irgendeine Art und Weise hast du mich fasziniert«, erklärte mein Mann mir an diesem Morgen mit leicht roten Wangen. »Außerdem habe ich mich, wenn ich nur in deine Augen schaute, auf die seltsamste Art und Weise sicher, geborgen und verstanden gefühlt. Zugleich bereitete mir dies aber auch ein ganz klein wenig Unbehagen, muss ich ehrlich gestehen. Ja, deine Augen schienen magisch zu sein. Doch als Hobbyzauberer wusste oder weiß ich, dass es Dinge auf dieser Welt gibt, die auf irgendeine Art magisch und nicht logisch zu erklären sind, sodass mir deine Augen in keiner Weise unbehaglich hätten sein müssen. Aber trotz meines Unbehagens für deine Person und deine Augen war mein Wunsch so groß, etwas mehr von dir zu erfahren, dass ich mich nicht groß ängstigen ließ und dich als Patientin behielt.“

 

„Aber höchstwahrscheinlich hast du ebenfalls etwas Magisches an dir, dass du mich so in deinen Bann zogst«, grinste ich meinen Mann breit an. »Denn eigentlich hatte ich geglaubt, bereits während meines zehnten Lebensjahres den Mann oder besser den Jungen, meines Lebens gefunden zu haben. Finn und ich waren von der vierten Klasse an gemeinsam zur Schule gegangen. Also als ich noch in München zur Schule ging und bevor ich ins Internat nach Frankfurt kam. Für uns beide stand bald fest, dass wir zusammengehören und auf ewig zusammenbleiben werden. Aus welchem Grund wir voneinander so sehr angezogen wurden, kann ich nicht sagen. Wir wussten nur, dass wir zusammengehören. Wir mochten uns so, wie wir waren. Auch kam er mit meiner starken Körperbehinderung super zurecht und schien sie in keiner Weise störend zu finden. Denn er selbst hatte nur ein leichtes Hohlkreuz, das ihn in seinem Tun aber nicht groß behinderte.“

 

»Moment mal, Zerlina, aber das war jetzt nicht der Mann, den du hättest heiraten sollen, oder?«, unterbrach mein Mann mich plötzlich.

 

»Doch, doch, Finn war genau der Mann, dem ich seit meiner Geburt versprochen war und mit dem ich mein komplettes Leben verbringen sollte. Und die ersten vierunddreißig Jahre schien es auch so, als ob der Plan unserer Eltern genau aufgehe. Denn wir hatten uns getroffen, kamen sehr gut miteinander aus und führten im Erwachsenenalter für relativ lange Zeit eine Liebesbeziehung. Er war halt meine erste und große Liebe«, schwärmte ich ein bisschen, woraufhin Jonas mich etwas komisch von der Seite ansah. »Allerdings war es von unseren leiblichen Eltern wohl nicht geplant, dass Finn und ich zwischendurch sechs Jahre lang größtenteils getrennt werden. Mit ins Internat nach Frankfurt konnte er nicht, da er sein Abi an unserer Schule in München machen wollte. Manchmal frage ich mich, was wohl geschehen wäre, wenn Finn oder ich schon während meiner Internatszeit jemand Anderes kennen gelernt hätten. Immerhin waren wir bis zum Beginn seines Zivildienstes, den er extra meinetwegen im Internat absolviert hat, mitunter wochenlang voneinander getrennt. War es nicht süß von Finn, dass er seinen Zivildienst nur meinetwegen kilometerweit weg von zu Hause machte?«

 

»Ja, sicher doch! Aber warum hast du nach dem Internat so eine lange Zeit allein in einer betreuten Wohngruppe und er allein in einer Wohnung gelebt?«

 

»Hm, das kann ich dir gar nicht so direkt beantworten. Denn wir haben, kurz nachdem ich aus dem Schulinternat ausgezogen bin, seltsamerweise nicht so recht über das Zusammenwohnen gesprochen. Ich meine, wir haben uns zwar einmal danach erkundigt, ob ich eine Assistentin bekommen könnte, für den Fall, dass wir uns eine gemeinsame Wohnung nehmen. Aber sehr viel mehr ist nicht passiert. Und dabei habe ich mich immer so danach gesehnt, Tag für Tag bei Finn zu sein.«, gab ich jetzt aufrichtig zu. »Na, ist ja jetzt auch egal!«, sprach ich etwas verlegen und mit leicht erhitzten Wangen weiter, als ich Jonas' seltsam prüfenden Blick auf mir ruhen spürte. »Finn war auf jeden Fall der Mann gewesen, den sich meine Eltern als den perfekten Ehemann für mich ausgesucht hatten. Dafür musste ich damals als Patientin von dir aber sehr schnell bemerken, dass du genauso ein Dickschädel bist wie ich. Unzählige Male gerieten wir während den Massagestunden recht heftig aneinander. Und deine Dickschädeligkeit war es denn wohl, die mich so sehr anzog. Finn war nämlich die Sanftmut in Person gewesen, musst du wissen. Mit ihm konnte ich mich niemals richtig streiten, da er ständig gleich sanft einlenkte, was mich manchmal zum Wahnsinn trieb. Aber mit dir war es mir endlich möglich, ein rechtes Streitgespräch zu führen. Und dies genoss ich in vollen Zügen. Die größte Auseinandersetzung hatten wir ja wegen meiner Fingeramputation.“

 

»Nun, das war auch eine schwachsinnige Theorie, dass sich deine starke Spastik verringert, wenn einer deiner Finger ab ist. Ich erzählte dir von Implantaten in Frauenbrüsten, um dich auf andere vollkommen blödsinnige und überflüssige Operationen aufmerksam zu machen. Dabei weiß ich wirklich nicht, ob wir Männer tatsächlich so sehr auf große Brüste stehen, wie ihr Frauen immer glaubt. Ja gut, ich meine, es gibt natürlich Männer, die auf große Brüste stehen, allein deswegen schon, um ihre Säuglinge gut errnährt zu wissen. Das ist Fakt. Aber ich glaube, das sind weitaus weniger Männer , als alle annehmen. Ich mag zum Beispiel viel, viel lieber kleinere Brüste. Ich habe von meiner Ex-Freundin auch nie verlangt, ihre Oberweite künstlich mehr werden zu lassen!«

 

»Etwas verlegen habe ich damals versucht, meine Eifersucht niederzukämpfen, die so unerwartet in mir aufgestiegen war, als du mir von deiner Freundin erzähltest. Aber ich glaube, das ist mir nicht allzu gut gelungen, oder?«, fragte ich meinen Mann jetzt ebenso verlegen, wie ich damals war.

 

»Nein, das kann man nicht gerade behaupten«, kam es trocken und überaus prompt aus Jonas' Mund, »denn, als ich dir für Sekunden in deine sprechenden, braunen Augen schaute, konnte ich recht deutlich die Eifersucht darin erkennen. Ja, ich weiß, es mag sich jetzt ganz danach anhören, als ob ich von meiner Person mächtig überzeugt wäre. Aber ich wusste schon sehr bald, dass du mich magst und auch so 'n bisschen von mir schwärmtest, obwohl du mir mehrmals von Finn erzählt hattest.«

Mit einem Lächeln stupste ich Jonas auf die Nasenspitze. Denn ich wusste, dass er in Wirklichkeit ein unheimlich bescheidener und zurückhaltender Mensch war. Und auch er durchlebte in seinem Leben viele unangenehme Dinge. Aber gerade aus diesem Grund war er vielleicht ein so liebenswerter und angenehmer Mensch, der von vielen Menschen gemocht wurde. Und zum allerersten Mal in meinem Leben hatte ich das grenzenlos schöne Gefühl, einen Menschen auf die ehrlichste Art und Weise durch und durch zu lieben.

Ja, Jonas hatte in mir Gefühle und eine Liebe geweckt, die ich niemals zuvor für einen Menschen empfunden hatte und keineswegs erklären oder benennen konnte. Ich liebte ihn einfach pur. Und seit ich ihn kannte, trug ich das nackte, wahre Glück in mir! Nur bezweifelte ich immer wieder aufs Neue, so etwas unendlich Schönes verdient zu haben!!!

 

›Ich darf diesem Mann niemals mehr begegnen, wenn dies hier nicht in einer einzigen Katastrophe enden soll.‹, schrie ich meinem kleinen Mausmann Moritz beinahe ins Gesicht, als ich am Abend nach meinem Eifersuchtsanfall in meinem Zimmer der Wohngruppe für behinderte Menschen hockte. In diese Wohngruppe war ich unmittelbar nach meiner Schul- und Internatszeit gezogen.«, erzählte ich meinem Mann nun weiter.

 

›Na, da musst du dich aber ganz gewaltig anstrengen‹, erklärte mein Moritz mir mit Backen voll mit Apfel, ›denn du beginnst nämlich, diesen Mann ernsthaft zu mögen.‹

 

Plötzlich saß ich stocksteif in meinem Rollstuhl.

 

›Woher weißt du, kleines, zotteliges Pelztier denn, wie es in meinem Herzen aussieht?‹, wollte ich halb verärgert, halb erstaunt wissen.

 

›Du vergisst, dass ich in die Herzen der Menschen hineinschauen kann‹, entgegnete mein kleiner Mausmann undeutlich. ›Besonders in deines!‹

 

Fast zu Tode erschrocken erkundigte ich mich bei Moritz, ob ich nachts, während ich schlief, schon mal irgendetwas gemurmelt hätte.

 

›Öfter‹, gab dieser erklärend zurück.›So, und nun lass' mich bitte wieder schlafen, ja?“

 

Verwirrt und mit wild klopfendem Herzen schaute ich meinem kleinen, süßen Mausmann nach, wie er in seinem Häuschen verschwand und angestrengt mit seinem winzigen Hinterteil wackelte, als er versuchte, sich in seine Watte zu graben. Innerhalb von zwei Jahren hatte ich drei kleine Mäuse gehabt. Aber erst bei Moritz bemerkte ich, dass ich die Maussprache verstand und beherrschte. Zum Glück hatte ich in dieser Wohngruppe für behinderte Menschen ein Zimmer für mich alleine. Ich genoss es in vollen Zügen, in meinem Zimmer hoch oben unter dem Dach, von dem ich einen uneingeschränkten Blick in den für mich faszinierenden Hiimmel und schräge Wände hatte, das tun zu können, wonach mir gerade zumute war. Somit konnte ich mir also auch ein kleines Haustier halten. Ich entschied mich für kleine, weiße Mäuse mit großen, dunklen Knopfaugen. Und erst nach Jahren erfuhr ich, dass Moritz, mein letztes Mausmännchen, und später auch Momo, verstorbene Verwandte von mir waren. Sie waren in ihrem nächsten, also in ihrem jetzigen und schon vergangenen Leben, als Tiere wiedergeboren, von meinen leiblichen Eltern auf den blauen Planeten geschickt worden, um mir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und mich zu beschützen. Momo war zum Beispiel meine ein Jahr ältere Schwester gewesen, die an ihrem zehnten Lebenstag verstarb, und Moritz war ein Cousin, der bei einem Autounfall in recht jungen Jahren tödlich verunglückte. Nun, und weil ich ebenfalls ein wirkliches Zauberwesen bin, konnte und kann ich Moritz und Momos Sprache verstehen. Als ich jedoch zum allerersten Mal die Worte meines Mausmännchens verstand, glaubte ich, verrückt geworden zu sein. Denn zu diesem Zeitpunkt glaubte ich noch fest, ein gewöhnlicher Mensch zu sein. Plötzlich und unerwartet verlangte meine Maus klar und deutlich nach frischem Wasser. Ich erinnere mich noch lebhaft, wie ich damals kreidebleich neben dem Mauskäfig hockte und eine von meinen Pflegerinnen bat, sie möge meiner Maus doch bitte frisches Wasser in die Trinkflasche füllen.

 

›Du siehst aus, als ob du gerade ein Gespenst gesehen hättest‹, sagte die Pflegerin besorgt zu mir, die mich an diesem Abend zu Bett brachte,. Ich aber schüttelte nur stumm den Kopf und grinste vollkommen verwirrt.

Leider war es mir nicht möglich, jemandem zu erzählen, mit meinem kleinen Mausmännchen sprechen zu können. Sofort hätte man mich in die Psychiatrie gesteckt. Nur ein einziges Mal versuchte ich, es meiner besten Freundin aus München zu erzählen. Als diese mich jedoch mit großen Augen erschrocken ansah, wechselte ich umgehend das Thema. Denn auch, wenn ich Kira beinahe mein Leben lang kannte, so war ich mir dennoch bewusst, dass sie mich für schier verrückt halten würde, wenn ich ihr von meinen Gesprächen mit Moritz erzählte. Kira und ich lernten uns im Kindergarten kennen und hatten manches Mal das ernsthafte Gefühl, Schwestern zu sein. Auch hielten uns viele Leute tatsächlich für Schwestern. Denn wir hatten beide braune Augen und dunkle, lange Haare. Jedenfalls trugen wir unsere Haare im Kindesalter und in unserer Jugendzeit lang. Zudem waren wir beide von der Figur her recht klein und zierlich. Selbst von der Art her waren wir uns sehr ähnlich. Wir trugen eine ganze Menge Humor in uns, spielten unseren Mitmenschen liebend gerne Streiche und mochten für unser Leben gerne Tiere. Ansonsten waren wir aber eher ruhiger. Ganz besonders im Schulunterricht hielten wir uns zurück und sagten kaum etwas. Leider waren wir nur relativ kurz auf einer Schule, da ich mit zwölf Jahren von meinem Vater auf das Internat in Frankfurt geschickt wurde. Dennoch hielten Kira und ich ständigen Kontakt zueinander.

Ich weiß noch, dass die letzten Wochen des Jahres zweitausendundeins sehr rasch vergingen. Und bald feierten wir das obligatorische Weihnachtsfest und den obligatorischen Jahreswechsel. Auch kann ich mich noch gut erinnern, wie ich in der Silvesternacht jenes Jahres in meinem Bett lag, hinaus in die Dunkelheit blickte und an meinen verstorbenen Vater dachte, der vor zwei Jahren an Lungenkrebs gestorben war. Denn es waren im soeben zu Ende gegangenen Jahr so viele lustige und schöne Dinge passiert, die nur ein guter ›Geist‹ geschehen lassen haben konnte.

 

›Es kann nur Papa gewesen sein, der all diese wunderschönen Situationen in diesen vergangen zwölf Moonaten geschehen lassen hat‹, erklärte ich meinem Mausmännchen.

 

›Ich kann und möchte dazu nichts sagen.Wolfram wird bald kommen und es dir erklären‹, erklärte Moritz plötzlich vollkommen unerwartet bestimmt und kletterte auf das Dach seines Häuschens, um mich besser sehen zu können.

 

›Soll das ein blöder Witz sein?‹, erkundigte ich mich etwas aufgebracht. ›Ich meine, dass du einen seltsamen Humor hast, weiß ich ja schon länger, aber dass du so einen Blödsinn von dir gibst, ist mir doch recht neu. Und wenn du dich schon über mich lustig machen musst, weil ich an solche Dinge im Leben glaube, mach' es bitte leise, ja?!‹, fauchte ich weiter.

 

›Ich mache mich keineswegs lustig über dich!‹, gab Moritz betroffen zurück. ›Nur weiß ich einiges mehr als du.‹

 

Fassungslos drehte ich mich zu meinem Mausmann um. ›Wie meinst du das denn jetzt?‹, erkundigte ich mich atemlos.

 

›Das wirst du noch früh genug erfahren. Schlaf jetzt! Gute Nacht!‹

Plötzlich war es still im Zimmer geworden. Nur noch vereinzelte Feuerwerksraketen waren hier und da von der Silvesternacht zu hören. Ich drehte mich auf meine Schlafseite und schlief ein.

 

Schon seit ich ein kleines Kind war, träumte ich davon, zaubern zu können. Ich sehnte mich danach, bestimmte Dinge herbeizaubern oder etwas vertrackte Situationen im Handumdrehen verändern zu können. Und je älter ich wurde, umso deutlicher wuchs dieser Wunsch in mir. Neidisch und bewundernd hörte ich als kleines Mädchen die Märchen an, die mir meine Lieblingsoma aus München abends immer vorlas. In diesen Geschichten vollbrachten Hexen und Zauberer wahre Heldentaten und wandten alles zum Guten, obwohl diese Kreaturen von den Menschen ständig nur als böse dargestellt wurden. Seit ich klar denken konnte, fragte ich mich, aus welchem Grunde die Menschen Hexen und Zauberer für etwas Schlechtes hielten. Auch wunderte es mich, dass trotz allem so viele Menschen davon träumten, zaubern oder hexen zu können. Denn angeblich war es doch „teuflisch“. Wenn ich als kleines Mädchen abends nicht einschlafen konnte, malte ich mir aus, was ich alles verändern würde, wenn ich Zauberkräfte besäße. Ich nahm mir als Allererstes vor, meine Mutter von ihrer psychischen Krankheit, dem Verfolgungswahn, zu befreien und sie wieder ganz gesund zu machen. Dann wünschte ich mir auuch schon etwas Banales wie ein Puppenhaus, neue Spielzeugautos, neue Anziehsachen für meinen Teddy oder mich aus diesem scheußlichen Internat, in dem ich so unglücklich war.

 

›Es wäre doch toll, wenn man zaubern oder hexen könnte, nicht?!‹, fragte ich manchmal Kira, wenn wir zusammen spielten. „Denn dann könnte man sein Leben so gestalten, wie man es gerne hätte.‹

 

›Hm, manche Menschen können doch ein ganz klein wenig zaubern. Und vielleicht ist das „Zaubern“ ja nur den Menschen beschieden, die über das Leben einen etwas besseren Überblick haben?‹, überlegte Kira, wenn ich meinen Tagträumen nachhing. ›Denn es scheint ja wirklich so zu sein, dass nur Auserwählte etwas Ungewöhnliches können. Vielleicht müssen wir noch ein klein bisschen dazu lernen, bis wir mit den Zauberkünsten oder Sonstigem belohnt werden. Noch lange Zeit grübelte ich über die überaus schlauen Worte meiner Freundin nach.

 

»Wieso, war oder ist denn deine beste Freundin auch eine von euch?«, riss Jonas mich aus meiner Erinnerung.

 

»Du, ob du's mir glaubst oder nicht, aber bis zum heutigen Tag habe ich keine Ahnung. Sie hat sich mir nie offenbart. Ich weiß es nicht! Und das, obwohl wir die allerbesten Freundinnen sind. Sie sagte auch nichts, als sie durch einen Zufall mitbekommen hat, dass ich eine echte Hexe bin und voon einem anderen Planeten komme. Komischerweise hat sie darauf äußerst entspannt reagiert. Aber ehrlich gesagt, sollen wir uns den Erdbewohnern auch nicht zu erkennen geben«, gab ich kleinlaut und schuldbewusst von mir.

 

»Nun, deinem eigenen Ehemann oder deiner allerbesten Freundin wirst du doch erzählen dürfen, woher du kommst und wer du bist, oder etwa nicht? Denn für den Fall, dass eine Hexe oder ein Zauberer ein Kind mit einem Erdenbewohner bekommt, würde sich die Ehefrau oder der Ehemann doch zu Tode erschrecken, wenn ihr Kind etwas zustande brächte, was sie sich nicht erklären können. Sie würden denken, dass mit ihrem Sohn, ihrer Tochter oder mit ihnen selbst irgendwas nicht stimmt.«

 

»Hm, du vergisst nur, Brummelbär, dass es strengstens verboten ist, sich mit einem Bewohner des Planeten Erde zusammenzutun, ihn zu heiraten und mit ihm Kinder zu bekommen. Von daher kommen wir normalerweise nicht in die Verlegenheit, uns unserem Lebenspartner offenbaren zu müssen. Und unseren besten Freundinnen oder unseren besten Freunden, die wir auf dem blauen Planeten gewinnen, müssen wir ja nicht unbedingt auf die Nase binden, dass wir niemand von ihnen sind. Ich meine, ab und an kommt es natürlich vor, dass sich irgendeiner verplappert. Aber dann haben wir notfalls die Möglichkeit, unsere Freunde vergessend zu machen. Allerdings dürfen wir dieses nur im äußersten Notfall tun. Denn es ist nicht gestattet, in den Gehirnen Anderer herum zu zaubern.“ lächelte ich verschmitzt und zwickte meinem Mann in seinen mit chinesischen Schriftzeichen tätowierten, rechten Unterarm.

 

»Ich sehe, ihr habt genauso bekloppte Bestimmungen wie wir hier!«, seufzte mein Mann und streckte sich. „Bist du von deinen Leuten verstoßen worden, weil du einen normalen Menschen geheiratet hast? Das war nicht meine Absicht, dass es soweit kommt. Ehrlich!«

 

Erstaunt blickte ich Jonas von der Seite an. Während der vergangenen Wochen, die wir zusammen waren, war er richtig sanftmütig geworden. Irgendwie war er gar nicht mehr der Mensch, der mir mit erhobenem Zeigefinger ernsthafte Vorträge hielt.

 

„Nein, natürlich bin ich nicht deinetwegen verstoßen worden. Meine Familie hat mich überhaupt nicht verstoßen. Und das weißt du auch ganz genau!, antwortete ich ziemlich verblüfft.

 

Plötzlich vollkommen erschöpft vom langen Erzählen legte ich meinen Kopf zurück in den Nacken. Ich schloss meine Augen. Ja, meine Lebensgeschichte war schon seltsam und kaum zu glauben. Und aus diesem Grunde ermunterte Jonas mich, meine Lebensgeschichte doch als eine Art „Fantasygeschichte aufzuschreiben und als kleines Taschenbuch zu veröffentlichen, nachdem er sie bis zum Ende gehört hatte. Und nach einigen Anlaufversuchen und mithilfe etlicher Leute, schaffte ich es nach einiger Zeit tatsächlich, dieses Buch hier zu schreiben und zu veröffentlichen.

 

 

 

IV

 

Als ich an diesem Morgen, an dem ich meinem Mann meine komplette Lebensgeschichte zum allerersten Mal komplett erzählte, an seiner Schulter wieder genug Kraft getankt hatte, erinnerte ich ihn an den Maitag vor anderthalb Jahren, an dem ich ihm erzählte, dass ich in München eine behindertengerechte Wohnung mit einer täglichen 24-Stundenbetreuung gefunden hatte. Denn da Finn mindestens noch ein weiteres Jahr an der Universität Frankfurt studieren musste, ich aber schnellstmöglich wieder in die Nähe meiner Familie wollte, hatten wir beschlossen, dass ich erstmal allein nach München ziehe. Denn, weil wir wieder in unsere alte Heimat zurückwollten, hatte ich dort nach einer geeigneten Wohnung für mich gesucht. Nach meinem Schulabgang war ich wegen Finn noch in Frankfurt geblieben. Es war zum Vorteil, dass ich keinen bestimmten Beruf erlernt hatte, sondern in einer Werkstatt für behinderte Menschen tätig war. Denn so konnte ich ohne größere Schwierigkeiten meine Tätigkeit in Frankfurt kündigen und nach München ziehen.“

 

›Schön! Und wann gehst du weg?‹, erkundigtest du dich an diesem Maitag kurz angebunden.

 

Daraufhin antwortete ich dir, dass ich hoffte, bereits im Juli oder August diesen Jahres umziehen zu können. „Übernächste Woche gucke ich mir diese behindertengerechte Wohnung erst einmal an und spreche mit dem Pflegedienst, der sich vierundzwanzig Stunden am Tag in diesem Mehrfamilienhaus aufhält, das extra für Menschen mit Behinderung errichtet worden ist. Denn dann habe ich so was Ähnliches wie ein Vorstellungsgespräch dort. Bin schon richtig gespannt‹, erzählte ich dir ganz schnell und glücklich weiter.

Andererseits war mir auch durchaus klar, dass es für mich eine große Umstellung sein würde, nicht mehr mit acht anderen Menschen in einer Wohngruppe zu leben, sowie ich es bisher gewohnt war, sondern zum allerersten Mal für mich allein sorgen und alles allein entscheiden zu müssen. Auch war ich seit einigen Monaten das erste Mal wieder so viele Kilometer von Finn entfernt.

 

›Na, und dieser Pflegedienst in diesem Mehrfamilienhaus kümmert sich den ganzen Tag um dich?‹, hast du dich halb neugierig, halb besorgt an diesem Tag bei mir erkundigt. ›Denn du bist ja vollständig auf fremde Hilfe angewiesen.‹

 

›Ja, das stimmt‹, entgegnete ich, ›aber tagsüber werde ich von meinen persönlichen Assistentinnen betreut, die bei diesem Pflegedienst angestellt sind und mich in Allem tatkräftig unterstützen, na, und nachts ist im Notfall dieser Pflegedienst mit seinem ausgebildeten Pflegepersonal über eine Klingelanlage erreichbar.

 

›Ah ja, und von deinen persönlichen Assistentinnen wirst du dann den lieben, langen Tag verwöhnt?‹, fragtest du leicht grinsend.

 

›Ja‹, antwortete ich und lächelte zurück. Und so fuhr ich an einem Morgen Mitte Mai nach München los und stellte mich am Nachmittag in dem Mehrfamilienhaus für Menschen mit Behinderung vor. Und gute drei Monate später zog ich dort ein.

 

Nachdem Jonas uns ein leckeres Frühstück zubereitet hatte, erzählte ich meine Geschichte weiter.

 

Mein Vater erschien mir dann tatsächlich. Und zwar in meiner letzten Nacht in Frankfurt. Moritz hatte ja mehrmals angedeutet, dass mein verstorbener Vater zu mir käme, um mir etwas Wichtiges mitzuteilen. Plötzlich hockte Wolfram auf meiner Ablagefläche in meinem Wohn- und Schlafzimmer der Wohngruppe. Benommen vom tiefen, aber sehr unruhigen Schlaf, in den ich ungefähr zwei Stunden zuvor gefallen war, sah ich meinen Vater gegenüber meines Bettes sitzen.

 

›Du bist schon als kleines Kind nicht gerne geweckt worden‹, erinnerte mein Vater sich mit einem sanften Lächeln im Gesicht, kam zu mir herüber und setze sich auf die Bettkante.

 

Erschrocken fuhr ich hoch und setzte mich im Bett ein wenig auf. ›Papa?‹, rief ich verwirrt, jedoch auch sehr erfreut aus. ›Was machst du denn hier? Du bist doch seit zwei Jahren tot. Ich war persönlich auf deiner Beisetzung.‹

 

›Ja, mein kleines Töchterchen, das ist wohl wahr!‹, antwortete mein Vater. ›Aber ich wollte dir noch erklären, woher du kommst, warum du hier auf diesem Planeten bist und welche Aufgabe du in deinem jetzigen Leben zu erledigen hast, bevor ich gänzlich von dieser Welt verschwinde.‹

 

›Papa, was redest du da um Himmels Willen für einen Quatsch?‹, erkundigte ich mich mit gerunzelter Stirn. ›Natürlich weiß ich, woher ich komme. Denn so ’n bisschen habe ich in Biologie und im Sexualkundeunterricht nun doch aufgepasst.“

Im Halbdunkeln meines Zimmers konnte ich bemerken, wie verlegen mein Vater bei diesem Thema wurde. Auch konnte ich mit Erstaunen erkennen, dass er noch so frisch aussah, wie zu Lebzeiten. Er war immer noch der große, kräftige Mann, der seine wenigen, leicht angegrauten Haare und seinen sehr gepflegten, kurzen Bart trug und fröhlich, glänzende Augen hatte. Allerdings traute ich mich auch nicht so recht, das Licht anzuschalten, um meinen Vater von Kopf bis Fuß genau begutachten zu können. Aber dass seine Stimme frisch und deutlich klang, konnte ich im Dämmerlicht gut vernehmen. Zudem konnte ich keinen Verwesungsgeruch feststellen. Hm, komisch, grübelte ich über dieses Phänomen nach.

 

›Über die Fortpflanzung des Menschen, meine Kleine, wollte ich mit dir jetzt nicht sprechen.,, riss Papa mich aus meinen Überlegungen. "sondern bin ich gekommen, um dir von deinen leiblichen Eltern auszurichten, aus welchem Grunde sie dich damals allein ließen und auf den Planeten Erde schickten. Denn du bist vor vierunddreißig Jahren und drei Wochen in unseren Garten gefallen. Es war in einer heißen Juninacht des Jahres neunzehnhundertsiebzig. Und ich wurde auf dich erst aufmerksam, nachdem du fast das ganze Dorf zusammen geschrien hattest. Da ich mir nicht erklären konnte, woher das plötzliche Babygeschrei kam, ging ich nach draußen und durchsuchte unseren Garten. Nach ungefähr zwei Minuten fand ich dich dann unter unserem Wohnzimmerfenster in weiche Tücher und Decken eingewickelt. Ich hob dich hoch und nahm dich mit in unser Haus. Und weil es uns nicht möglich war, deine leiblichen Eltern ausfindig zu machen, behielten wir dich in unserer Familie. Na ja, und da deine Mutter später immer mehr unter ihrer psychischen Krankheit zu leiden begann, hielt ich es für das Beste, dich von ihr wegzubringen und in dieses scheußliche Internat zu schicken, sowie du es immer nanntest. Und ich vermute fast, du hast mir dies niemals verziehen. Denn du hast dich in dieser Einrichtung keine einzige Sekunde lang wohlgefühlt, nicht wahr?‹

 

›Na ja, ich war ziemlich weit weg von euch, worunter ich unheimlich gelitten habe. Aber nachher, als Finn seinen Zivildienst in diesem Internat absolvierte, fühlte ich mich doch heimisch dort“, widersprach ich meinem Vater. „Und wegen Finn bin ich auch noch in Frankfurt geblieben, nachdem ich von der Schule abgegangen war. Denn ich wusste, dass Finn nur in den Semesterferien nach München kommen kann und wir nur zu ganz bestimmten Zeiten zusammen sein können.

 

›Ja, und dein Freund kommt ebenfalls vom Planeten der Hexen und Zauberer, ganz genauso wie du. Er wird immer an deiner Seite sein und mit dir alles durchstehen.“, erklärte mein Vater mir. Fürsorglich deckte mich etwas höher zu. „Außerdem liebt er dich, sowie du ihn liebst, Zerlina, und wird dich auf Händen durchs Leben tragen. Doch bevor dies geschehen kann, musst du die dir auferlegte Aufgabe erledigen und ein dazugehöriges Rätsel lösen. Und wenn eure Eltern auf dem Planeten der Hexen und Zauberer sehen, dass du den Menschen hier auf diesem Planeten mit viel Eifer und Zielstrebigkeit behilflich bist, wird zur Belohnung deine und Finns Hochzeit gehalten. Und vielleicht besteht für Finn und dich später sogar die Möglichkeit, zu euren leiblichen Familien zu reisen. Aber das weiß ich nicht. Denn zu dieser Sache hat mir niemand etwas erzählt. Allerdings kann ich mir gut vorstellen, dass eure Familien euch zu sich holen, wenn sie sehen, dass ihr eure Lebensaufgaben ernst nehmt und gewissenhaft erledigt. Denn Finn hat ebenfalls eine bestimmte Aufgabe zugeteilt bekommen.‹

 

Erschrocken versuchte ich mich noch weiter im Bett aufzusetzen, um meinem Vater besser ins Gesicht blicken zu können.

 

›Papa, möchtest du etwa sagen, dass Finn und ich von einem ganz anderen Planeten kommen und ich gar nicht deine leibliche Tochter bin?‹, fragte ich fassungslos, aufgeregt und gleichzeitig auch ein wenig traurig.

 

›Ja, genau das möchte ich dir sagen. Ich erfuhr von deiner Herkunft schon bald, nachdem du in unserer Familie angekommen bist. Eines Nachts suchte mich dein leiblicher Vater auf und erzählte mir die ganze Geschichte. Zum Glück bekam von diesem nächtlichen Besuch niemand Anderes etwas mit. Und so konntest du ein weitestgehend unbeschwertes Leben in unserer Familie führen.‹

 

Mit weit aufgerissenen Augen sah ich meinen Vater an. Diese Geschichte war unglaublich. Sicherlich träumte ich dies hier alles nur und würde jeden Moment aufwachen. Aber nichts dergleichen geschah.

Aha, und weil ich ein wirkliches Zauberwesen bin, kann ich wahrscheinlich auch so perfekt verstehen, was mein Mausmännchen sagt und mich mit ihm unterhalten, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. Unwillkürlich huschte ein kleines Lächeln über meine Lippen. Als mein Vater und ich einen Augenblick lang schweigend in meinem Zimmer saßen, fragte ich etwas skeptisch und zugleich nervös: ›Und welche Aufgabe ist das, die ich in meinem jetzigen Leben erledigen muss, Papa? Und du meinst wirklich, dass Finn und ich einmal zu unseren leiblichen Familien auf einen komplett anderen Planeten reisen können? Allerdings hört sich das alles so komisch an. Das kann doch alles nicht wahr sein.«

 

›Nun, all dies konnte ich lange Zeit auch nicht so recht glauben. Aber da dein Vater mir mehrmals einen Besuch abstattete und dabei Dinge aus meinem Leben erzählte, die stimmten, sind mir später Zweifel gekommen, ob er und die ganze Geschichte, die er mir erzählte, bloß Hirngespinste waren. Zudem hat dein Vater mich, kurz nachdem ich gestorben war, mit auf seinen Heimatplaneten genommen. Den Planeten der Hexen und Zauberer gibt es also tatsächlich. Aber nun zu deiner Frage, meine Kleine. Deine Aufgabe ist es, die Menschen dazu zu bewegen, sich ihren Mitmenschen zu nähern, mit ihnen umsichtiger umzugehen und mehr Verständnis, Vertrauen und Mitgefühl für sie aufzubringen. Und gleichzeitig sollen sie mehr Respekt vor dem Anderen zeigen und alle Menschen als vollwertig anerkennen. Wohl bemerkt jeden Menschen, Zerlina!‹, erklärte Wolfram mir und wiederholte den letzten Satz noch einmal recht deutlich.

 

Langsam spürte ich, wie ich zu schwitzen begann. Wie konnte ich die Lebewesen dieser Erde dazu bewegen, auf einmal vollkommen anders zu denken und sich auf einen Schlag ihrem Gegenüber anders zu benehmen? Höchstwahrscheinlich war genau dies das Rätsel, das ich lösen musste. Auch war ich mir nicht sicher, ob ich Finn zum Ehemann nehmen wollte. Ja, er war ohne Zweifel meine ganz große Liebe, aber ob ich mein ganzes Leben mit ihm verbringen wollte, wusste ich nicht. Erst recht nicht, nachdem ich dich kennen gelernt hatte. Allerdings hatte ich mir noch nie rechte Gedanken gemacht, ob ich Finn Schwelm einmal heiraten wollte. Dennoch war ich mir hundertprozentig dessen bewusst, dass Finn einen sehr, sehr liebevollen, fürsorglichen Ehemann abgeben würde. Ja, er würde mich tatsächlich auf Händen durchs Leben tragen. Auch drängte es mich, irgendwann einmal zu sehen, woher ich wirklich kam und wer meine leiblichen Eltern waren. Selbst, wenn ich es in diesem Moment noch nicht für möglich halten konnte, von einer anderen Erde zu kommen und komplett andere Eltern zu haben.

 

›Dann erledige diese Aufgabe zur Zufriedenheit desjenigen, der dich dafür bestimmt hat‹, riss Wolfram mich aus meinen Überlegungen, gerade so, als ob er meine Gedanken mitgelesen hätte.

 

›Warte mal, Papa‹, rief ich, als ich bemerkte, dass mein Vater aufstehen wollte, "›weiß Finn schon, dass er kein Mensch des blauen Planeten ist, andere Eltern hat und eine ganz bestimmte Aufgabe erledigen muss?‹

 

›Ja, man hat auch ihm schon erzählt, dass er von der Erde der Hexen und Zauberer kommt und den Menschen nahebringen soll, mit ihrer Natur umsichtiger umzugehen.

 

„Aha‹, gab ich kurz von mir und spürte, dass an der ganzen Geschichte irgendetwas nicht stimmte. Ich wusste zwar, dass Finn ebenfalls an Hexen und Zauberer glaubte. Dennoch bezweifelte ich ein wenig, dass er es so ohne Weiteres glaubte, nicht vom blauen Planeten zu kommen. Andererseits hatte er erst vor kurzer Zeit zu mir gemeint, er würde es als wahr hinnehmen, wenn er es irgendwann herausbekäme, kein Mensch dieser Erde zu sein. Und je älter er wurde, desto mehr flüchtete er sich in eine Fantasiewelt und liebte es, Fantasiefilme und Fantasiebücher anzuschauen und zu lesen. Er meinte, dass er, wenn er ein richtiger Zauberer wäre, den ganzen Tag irgendetwas herbeizaubern würde, das das Leben noch schöner und angenehmer mache. Außerdem malte er sich aus, die meisten »großen Herren« in ihrem Tun zu stoppen und ein gerechteres Leben für jeden Menschen zu organisieren. Allerdings war ich nicht soooo hundertprozentig überzeugt davon, dass Finn es so ohne Weiteres hinnahm, mit einem Schlag ein waschechter Zauberer zu sein, der nicht vonn der blauen Erde kam. Und selbst ich, die mein Leben lang das Gefühl hatte, dass Hexen, Zauberer und einige andere Fabelwesen nicht nur der reinen Fantasie des Menschen entsprungen sein konnten, meinte fest, mich nicht in der absoluten Realität zu befinden. Ob Finn ebenfalls in der Lage ist, sich gedanklich mit Tieren zu unterhalten, fragte ich mich plötzlich.

 

›Und warum erfahre ich dies alles erst mit über dreißig Jahren?‹, fragte ich meinen Vater schnell weiter, als mir klar wurde, keine weitere und genauere Antwort auf meine Frage zu erhalten. ›Ich meine, ich habe doch gar nicht mehr so viel Zeit, um die mir auferlegte Lebensaufgabe zufriedenstellend erledigen zu können. Denn vielleicht habe ich nur noch fünfzehn bis zwanzig Jahre zu leben. Und in dieser recht kurzen Zeit kann ich diese Welt unmöglich komplett auf den Kopf stellen‹, stammelte ich nervös weiter.

 

›Nun, du sollst nicht gleich die ganze Welt von Grund auf verändern, sondern du musst es lediglich schaffen, dass die Menschen enger zusammenrücken, umsichtiger und behutsamer miteinander umgehen. Mehr wird nicht von dir verlangt. Und es ist reine Absicht, dass ihr Zauberer und Hexen erst im fortgeschrittenen Alter mit eurer wahren Identität und eurer Lebensaufgabe vertraut gemacht werdet. Denn wenn ihr jünger seid, habt ihr noch viel zu viele Flausen im Kopf und könnt das alles nicht richtig einschätzen und ernst nehmen. Und auch bei dir hat deine Familie länger überlegt und sich gefragt, wann es an der richtigen Zeit ist, um dir die Wahrheit über deine wahre Herkunft und deine Aufgabe hier auf diesem Planeten zu erzählen. Aber weil du nun in deine allererste eigene Wohnung nach München ziehst und von jetzt ab an deinen Tagesablauf selbst gestalten kannst, dachten sie, dass dies der richtige Zeitpunkt ist.«

 

„Und wer hat dich beauftragt, mir von meinem Hexendasein zu erzählen?«, fragte ich noch verwirrter, als ich ohnehin schon war.

 

„Dein leiblicher Vater«, entgegnete Wolfram kurz. „Denn wie ich dir vorhin erklärt habe, erschien er mir einige Male, nachdem du zu uns gekommen bist, des nachts und bat mich, dich wie meine eigene Tochter großzuziehen. Vor drei Wochen suchte er mich dann noch einmal auf und bat mich, dir nun von deinem Leben als invalide Hexe und deiner dir auferlegten Lebensaufgabe zu erzählen.“

 

Selbstverständlich versuchte ich in dieser Nacht noch, Wolfram über meinen leiblichen Vater auszufragen. Doch wich er meinen direkten Fragen aus und erzählte mir nur, dass mein Vater und der Rest meiner leiblichen Familie mich nie allein gelassen hatten und bei ernsthafter Gefahr immer bei mir waren.

„Du wirst deine Lebensaufgabe schon meistern!«, unterbrach Wolfram plötzlich seine Erzählung. »Du hast noch ein wenig Zeit und schon so Manches in deinem bisherigen Leben geschafft. Auch wenn du es vielleicht nicht bewusst bemerkt hast. Zudem wandeln noch mehrere Hexen und Zauberer auf dieser Welt, die dieselbe Lebensaufgabe wie du haben. Du stehst also nicht allein mit dieser Aufgabe dar. Und Finn hat ja eine ganz ähnliche Lebensaufgabe wie du. Aus diesem Grunde haben es eure Eltern so abgesprochen, dass ihr euch hier trefft und zusammentut. Außerdem, meine Kleine, kannst du ja etwas Bleibendes hinterlassen. So etwas wie ein Buch oder Ähnliches. Denn die Menschen, die in ihrem Leben irgendeine sehr große Sache vollbracht haben, hielten dies stets in Büchern, Bauten, Musik oder Gedichten fest, die all die Jahre überdauerten und nie in Vergessenheit gerieten. Denn sie sind meistens genial, sodass man sich an diese Ereignisse immer wieder gerne erinnert und sie von Generation zu Generation weitergibt.‹

 

„Und wovor haben die Menschen solche Angst und lässt sie zugleich so wahnsinnig wütend werden, Papa, dass sie sich zum Beispiel schon allein durch die verschiedenen Religionen ihrer Mitmenschen gestört fühlen und sich gegenseitig umbringen?‹, fiel mir es wieder ein und plauderte es ein wenig unbedacht aus. Denn wie ich es in meinen letzten Lebensjahren immer deutlicher beobachten konnte, waren die Angst und die maßlose Wut gegenüber anderen Personen, die sich über Andere stellten und taten, als wüssten sie wesentlich mehr über das Leben und die Welt, das Allerwichtigste, was man den Menschen nehmen musste. Und schon als junger Mensch ahnte ich, dass man einen ganz großen Teil des Friedens hergestellen konnte, wenn man diese beiden Dinge aus den Menschen herausbekäme. Zwar hätte man nicht gleich den ewigen Weltfrieden hierhin gebracht, aber doch einen Teil des normalen Friedens. Denn die Lebewesen waren nun einmal zu undurchschaubar und in ihrem Wesen zu kompliziert. Aber wenn man ihnen die Wut und die Angst nehmen könnte, wäre man schon einen gewaltigen Schritt weiter. Und vielleicht wären dann die Uneinsichtigkeit, das Desinteresse für seine Mitmenschen und die Eisesskälte beseitigt. Denn wenn man sich über seine Angst und Wut bewusst war, war man vielleicht bereit, die anderen Dinge zu hinterfragen und zu bekämpfen. Doch um dies zu erreichen, durfte man sich selbst nicht so sehr in den Mittelpunkt stellen und das ganze Leben nicht so ernst nehmen und denken, man hätte es am Allerschwersten getroffen, sondern man musste für die Probleme des Anderen offen sein, ihm richtig zuhören und mit ihm mitfühlen. Dennoch sollte man kein Mitleid empfinden. Denn Mitleid ist meist die falsche, etwas hilflose Form des Mitgefühls und wird von den Anderen im Allgemeinen nicht richtig verstanden.Vor einiger Zeit fragte mich jemand, warum ich mich als stark körperbehinderter Mensch so sehr dagegen sträube, bemitleidet zu werden. Denn im Gegenzug hatte ich solch ein großes Mitleid mit anderen Menschen, die beispielsweise in Afrika wohnten und Hunger und Durst litten. Oder ich hatte Mitleid mit Menschen, die unschöne Dinge erfahren mussten. Es dauerte lange, ehe ich meinem Gegenüber erklärt hatte, dass ich kein wirkliches Mitleid mit diesen Leuten empfand, sondern dass ich versuchte, mich in ihre Lage hineinzuversetzen und wie sie zu fühlen. Außerdem gab ich mir jegliche Mühe, meinem Gesprächspartner klarzumachen, dass ich, oder besser gesagt wir behinderten Menschen, kein Mitleid brauchen, weil es uns im Allgemeinen gut ging. Zumindest in den reichen Ländern dieser Welt, da wir jede Unterstützung bekamen. Allerdings ist dieses eine Ansichtssache! Zudem gibt es ja Behinderungen, die sich erst in späteren Lebensjahren einstellen, nicht sehr gut zu ertragen sind oder gar mit dem Tode enden. Diese Menschen litten natürlich!!! Nun, kurz gesagt, wir mussten lernen, uns um den anderen Menschen zu kümmern und aufhören, uns selbst zu bemitleiden. Denn das negative Gefühl, das man für sich selbst empfindet, ist wirklich pures Mitleid. Aber wie ich dieses meinen Mitmenschen nahebringen sollte, wusste ich in dieser Nacht nicht!

 

›Auch das wirst du irgendwann feststellen. Da bin ich mir absolut sicher, meine Kleine!‹, versuchte mein Vater mich zu ermutigen, während er mir liebevoll über die Wange strich und mich sanft anlächelte.

Dann erhob er sich von meiner Bettkante, küsste mich noch einmal auf den Mund, das sich komisch kühl anfühlte, und ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen, zum Fenster hinüber und verschwand zwischen den Vorhängen.

 

›Papa?‹, rief ich ihm nach. Aber er war schon auf und davon und hörte mich nicht mehr. Tränen liefen mir über die Wangen. ›Papa!‹, rief ich noch einmal. Doch dann breitete sich plötzlich eine wohlige Wärme über mich aus und wiegte mich sanft in den Schlaf.

 

 

 

V

 

Nach etwa einer Stunde wachte ich abermals von einem mir fremden Geräusch auf. Wieder völlig schlaftrunken blickte ich zu meiner Ablagefläche. Dort saß jetzt meine verstorbene Großmutter. Klein und buckelig hockte sie da. Ihre schneeweißen Haare, die sie auch schon zu Lebzeiten hatte, standen ihr ungekämmt vom Kopf ab.

 

›Mein Sohn, also dein Vater, vergaß, dir noch etwas zu sagen‹, erklärte die Mutter meines Vaters in einem leisen, heiseren Ton. ›Du musst es nämlich nicht nur schaffen, dass die Menschen aneinander näher rücken und dennoch mehr Respekt voreinander zeigen, sondern deine Aufgabe ist es zudem, richtig zaubern zu lernen. Denn einer waschechten Hexe ist es möglich, erwünschte Dinge oder Situationen im Handumdrehen herbeizuzaubern. Aber das weißt du bestimmt aus den Fantasiegeschichten der Erdenbewohner. Jedoch bezweifele ich, dass du es jemals schaffen wirst, die Zauberei korrekt zu erlernen. Du bist ja bei weitem nicht so ehrgeizig, wie alle immer glauben. Du hast noch nicht einmal deinen Realschulabschluss vernünftig hinter dich bringen können. Von daher sehe ich pechschwarz, dass du deine Lebensaufgabe perfekt erledigst. Und wenn du das Zaubern nicht bis ins letzte Detail beherrschst, ist es dir unmöglich, deine Lebensaufgabe zu meistern. Aber wenn du deine Lebensaufgabe nicht zu Ende bringst, wirst du Finn niemals heiraten können. Denn du musst den Lebewesen dieses Planeten die ›Erleuchtung‹ ein wenig ins Hirn hineinzaubern. Oder denkst du vielleicht, sie brauchen dich nur zu erblicken, um zu wissen, dass sie jeden Menschen als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu behandeln haben und ihm mehr Respekt und Wärme entgegenbringen sollen? So dumm und blauäugig kannst nicht einmal du sein. Deswegen will ich dir eine faire Chance geben. Wenn du dich in München ein wenig eingewöhnt hast, werde ich in einigen Nächten der Woche zu dir kommen und versuchen, dir das korrekte Zaubern beizubringen.‹

 

›Ich habe noch gar nicht gewusst, dass du eine Hexe bist, die zaubern kann‹, erwiderte ich zaghaft, nachdem meine Großmutter mit ihrem »Vortrag« geendet hatte.

 

›Sehr lustig, Zerlina! Die Ironie in deiner Stimme habe ich wohl wahrgenommen. Das musst du von Wolfram gelernt haben. Denn auch er konnte oder kann so sarkastisch sein. Aber wer, meine Gute, schätzt du wohl, brachte deine leiblichen Eltern auf die Idee, gerade dich auf diese Erde hier zu schicken, hm? Ich! Denn du schienst mir für diese Aufgabe gerade wie geschnitzt zu sein.Ich dachte, du könntest und solltest dich für die behinderten, kranken und alten Menschen einsetzen. Denn du bist nun einmal als stark invalide Hexe geboren und kannst du dich gut in die Lage dieser Menschen hineinversetzen. Nur aus diesem Grunde bist du auf diese Erde gekommen. Und ich hoffe, du fügst dich diesmal deinem Schicksal und erledigst deine dir auferlegte Aufgabe perfekt!‹, setzte Emma in einem ernsten Ton nach und warf sich ihr Halstuch gekonnt über die Schulter.

 

›Großmutter, aber wieso schalten sich Lebewesen, die eigentlich gar nichts mit dieser Welt zu tun haben, in das Leben und Tun der Menschen ein?‹, fragte ich naiv und neugierig.

 

›Hm, weil es in unserem weiten Weltall nur wenig belebte und bewohnte Planeten gibt. Aus diesem Grunde sind wir auf jede bewohnte Erde stolz, die wir entdecken. Nun, und da die Lebewesen, die bewusst und logisch denken können, den Drang haben, sich selbst und ihre Umgebung zu zerstören, machten wir es uns zur Aufgabe, jeden bewohnten Planeten, den wir entdeckten, vor seinem sicheren Untergang zu bewahren. Denn je mehr belebte Welten es in unserem Weltall gibt, desto mehr können wir voneinander lernen und unser doch recht kurzes Dasein durchdachter und umsichtiger leben. Und schon als kleines Mädchen hast du es richtig bemerkt, dass es Menschen gibt, die der festen Meinung sind, etwas Besseres zu sein und den Anderen ein Vorbild sein zu müssen. Nun, in der Tierwelt nennen wir es das natürliche Machtverhalten. Aber warum die etwas klar denkenden Lebewesen sich sovsehr bekriegen, wissen wir nicht. Was wir wissen, ist nur, dass die Planetenbewohner Hilfe von außerhalb benötigen.‹

 

›Ah ja, und darum werden einige von uns auf andere bewohnte Planeten geschickt? Ja, das klingt einleuchtend!‹

 

›Aber es gibt in diesem Weltall einen mächtigen Planeten, dessen Bewohner diese Sache anders sehen‹, erklärte Großmutter nun weiter. „Denn diese riesigen Geschöpfe wollen allein das Weltall beherrschen. Und deswegen ist es für uns nicht einfach, Zerlina, unseren Wunsch nach Bekanntschaft mit anderen Planetenbewohnern zu realisieren und ihre Planeten vor dem Untergang zu schützen. Sobald wir den ersten Kontakt zu anderen Welten aufnehmen, kommen uns die Kreaturen mit den sechseckigen Augen wieder in die Quere.‹

 

›Die Kreaturen mit sechseckigen Augen?!‹, erkundigte ich mich staunend und sogleich etwas angewidert bei meiner Großmutter. ›Ich habe gedacht, die Bösen würden Dämonen oder sonst wie heißen.‹

Auf einmal sah ich überdeutlich die Bilder meiner Kindheitsträume vor meinem inneren Auge. Ich sah mich wieder in den Armen dieser abscheulichen Riesen, die mit mir durch die Lüfte flogen, um mich plötzlich fallen zu lassen. Auch erinnerte ich mich an den guten Engel, der mich jedes Mal auffing und sanft zurück in mein Bett trug. Ich konnte sogar noch den Klang der Stimme dieses Engels hören. Selbst, wenn ich sie schon eine Ewigkeit nicht mehr gehört hatte.

 

›Tja, meine Enkeltochter, du hast eben zu viele Gruselfilme geguckt, die von den Lebewesen ohne herzhaftes Lachen gemacht wurden. Diese so genannten Dämonen sind reine Hirngespinste der Menschen und existieren in Wirklichkeit nicht. Und ehrlich gesagt verkörpern sie auch nur das Böse. Fast jede Gestalt, die in Fantasie oder Gruselfilmen böse ist, wird Dämon genannt‹, erklärte meine Großmutter weiter, ohne zu bemerken, dass ich tief in Gedanken versunken war.

›Ja gut, ich meine, wir haben noch lange nicht jeden belebten Planeten gefunden. Das Weltall ist ja riesengroß. Trotzdem halten wir die Dämonen für ganz normale Gruselgestalten, die von den Menschen erfunden worden sind, um das Böse zu verkörpern. Aber das Schlimmste an dieser Sache ist, dass diese Kreaturen, also diese Riesen mit den sechseckigen Augen, die Menschen mit ihrer Boshaftigkeit anstecken. Sie erscheinen dem Menschen überwiegend im Schlaf. Sie versuchen, den Menschen auf ihre Seite zu ziehen, ohne dass er das Geringste davon mitbekommt. Denn, wenn die Menschen, oder wem sie sich gerade zeigen, aufwachen, können sie sich nicht mehr an diese Riesen erinnern. Aber die Riesen können den jeweiligen Planetenbewohnern auch am helllichten Tage und im wachen Zustand begegnen und ihnen ihre nicht so schönen Absichten seelenruhig ins Ohr flüstern. Sie können nämlich nur von den Hexen und Zauberern gesehen werden. Von den Menschen und den Tieren nicht. Und so ist es den Bewohnern des gelben Planeten möglich, ungehindert unter den verschiedensten Planetenbewohnern umherzuwandern und ihnen ihren eigenen Willen zuzuflüstern. Die Bewohner der Welten meinen jedoch, sie selbst wären auf eine „gute“ Idee oder einen „genialen“ Einfall gekommen, den sie dann zu verfolgen und durchzusetzen versuchen. Nur leider sind es immer schlechte Einfälle, die meistens zu etwas Schrecklichem führen. Dennoch gelingt es den Riesen zum Glück nicht bei jedem Geschöpf, es auf ihre dunkle Seite zu ziehen, dem sie erscheinen. Denn manche sind stark genug, sich gegen sie zu wehren. Aber leider klappt es doch bei den meisten Geschöpfen, sie zum Bösen zu bekehren. Ganz besonders haben sie bei den Lebewesen ohne herzhaftes Lachen großen Erfolg. So zum Beispiel bei hohen Staatsmännern und Politikern. Und bis zum heutigen Tage ist es noch niemandem gelungen, die Riesen in ihrem Tun zu stoppen. Kein großer Zauber oder Ähnliches hat je etwas bewirken können. Auch auf anderen belebten Planeten richten sie tagtäglich großen Schaden an. Übrigens haben alle Lebewesen eines bewohnten Planeten bei uns ihre eigenen, speziellen Spitznamen. Nicht nur die Menschen.‹, klärte Großmutter mich spitzbübisch lächelnd weiter auf. Gerade so, als ob sie an meinem Gesicht erkannt hätte, woran ich in diesem Moment gerade dachte.

Doch im allernächsten Augenblick musste ich bereits an Adolf Hitler, an Saddam Hussein und an all die Anderen denken, die von diesen Riesen unverkennbar auf ihre überaus dunkle Seite gezogen wurden.

 

›Warum werden diese Riesen mit den sechseckigen Augen die Bewohner des gelben Planeten genannt? Ist ihr Heimatplanet etwa gelb?‹, fiel es mir plötzlich ein. ›Und warum können diese Riesen nicht von den Menschen und Tieren, sondern nur von uns Hexen und Zauberern gesehen werden?‹

 

›Nun, warum die Kreaturen mit den sechseckigen Augen, die übrigens so aussehen, als würden sie eine ulkige Brille tragen, von den Menschen und Tieren nicht gesehen werden können, kann ich dir nicht genau sagen. Aber auch sie besitzen Zauberkräfte, mit der sie es offensichtlich schaffen, für die Wesen, die keine Zauberwesen sind, unsichtbar zu bleiben. Und sie fliegen ebenfalls durchs Weltall und gelangen somit auf benachbarte Welten. Und warum sie die Bewohner des gelben Planeten genannt werden, ist einfach zu erklären. Denn ihre kleine Erde hat eben eine Ozonschicht, die gelblich schimmert. Ganz genauso, wie die Erde der Menschen und der Tiere aus dem Weltall gesehen bläulich schimmert. Aber vermutlich sieht nicht alles auf dem gelben Planeten gleich gelb aus. Denn hier sieht ja auch nicht alles blau aus. Jedes Ding hat seine ganz eigene Farbe. Allerdings war auf dem Planeten der Riesen noch kein anderes Lebewesen. Ganz genau wie auf unserem.‹

 

Soeben hatte ich meinen Mund aufgetan, um noch etwas zu fragen, als meine Großmutter mit einem leisen Knall plötzlich verschwunden war. Völlig verwundert blickte ich mich im Zimmer um. Ich hätte meine Großmutter gerne noch gefragt, ob Finn und ich wirklich einmal auf den Planeten der Hexen und Zauberer und zu unseren leiblichen Eltern durften.

Um sehr viel Schlaf war es in dieser Nacht nicht mehr bestellt. Bis in die frühen Morgenstunden lag ich grübelnd in meinem Bett. Denn mir war so, als ob meine Großmutter während der ganzen Zeit, in der sie ihren kleinen Vortrag gehalten hatte, mich mit ihren dunklen Augen erwartungsvoll angeblickt hätte. Unwillkürlich spürte ich, wie mir noch unbehaglicher zumute wurde. Erwartete man von mir etwa, dass ich es schaffte, die Bewohner des gelben Planeten in ihrer grausigen Absicht zu stoppen? Das war doch unmöglich, oder?! Aber nach einigen Minuten des Überlegens musste ich mir eingestehen, dass vermutlich noch einiges mehr von mir erwartet und verlangt werden würde.

„Sind mir heute Nacht tatsächlich mein verstorbener Vater und meine schon längst verstorbene Großmutter erschienen? Das ist doch alles nicht wahr, oder?!! Ich meine, das kann doch unmöglich Realität gewesen sein! Ich soll nicht die leibliche Tochter von Margarethe und Wolfram sein? Ausgeschlossen! Denn vom Äußeren her ähnele ich den Beiden doch so sehr. Und auch mit meinen Schwestern habe ich ganz große Ähnlichkeit. Und das auch vom Wesen her. Ganz besonders mit Steff habe ich große Gemeinsamkeiten. Andererseits waren Wolfram und Emma so real gewesen, dass sie gar kein Traum gewesen sein konnten. Ich möchte nicht mehr nach München ziehen!“, kam es mir auf einmal bestimmt über die Lippen, „Denn auch wenn ich es absolut nicht glauben kann, was heute Nacht hier passiert ist, so habe ich doch unheimliche Angst, diese Lebensaufgabe, von der Papa gesprochen hat, tatsächlich erledigen zu müssen und sie nicht zu schaffen.“

 

›Nun, Emma und Wolfram waren heute Nacht wirklich hier!“, versicherte mir mein Mausmann im ernsten Tonfall. Im Halbdunkeln sah ich, wie er sich auf seine winzigen Hinterbeine stellte und mich ansah. „Und du musst nach München gehen, damit du deine Lebensaufgabe erledigen und Finn heiraten kannst sowie du es heute Nacht von deinem Vater und seiner Mutter gehört hast. Falls Jonas Müller nicht alles zunichte macht. Aber ich habe ja die ganze Zeit gesagt, dass es nicht sooooo unbedingt gut ist, wenn man euch miteinander bekannt macht. Aber Wolframs sehnlichster Wunsch war es nun einmal, dass du keine Rückenschmerzen mehr leiden musst. Von daher hat niemand so recht auf meine Einwende gehört.“

 

So, als würde meiner kleinen Maus urplötzlich von einer unsichtbaren Hand das winzige Maul zugehalten, kam kein einziger Laut mehr aus dem Mauskäfig. Natürlich versuchte ich, Moritz in dieser Nacht noch weitere Informationen zu entlocken, aber ich bekam einfach keine Antwort mehr.

 

Mit riesengroßen, fragenden und beinahe schon ängstlichen Augen wurde ich an diesem Morgen, an dem ich Jonas meine Lebensgeschichte erzählte, plötzlich angeschaut.

 

»W ... was soll das bedeuten, Süße? Woher hat dein kleiner Moritz gewusst, wer ich bin? Und wie gut sind wir bei euch bekannt? Ich meine, das ist doch unmöglich.«.

 

»Das weiß ich nicht, Jonas«, erklärte ich ehrlich irritiert. »Wieso? Was ist denn auf einmal los? Warum bist du plötzlich so blass im Gesicht und wirkst so gehetzt? Und wieso ist deine Familie auf der Erde der Hexen und Zauberer bekannt? Zwar kannst du ebenfalls ein wenig zaubern, aber deine Zauberei kann man logisch erklären. Den Zauber, den du manchmal auf einer Bühne zeigst, meine ich. Also kannst du theoretisch niemand von uns sein. Denn unser Zauber ist echter Zauber. Oh, nun sag' doch schon, was los ist. Bitte!«

 

»Nein, nein, es ist alles in bester Ordnung. Wirklich! Erzähl' jetzt bitte weiter, okay?!«

 

Da die Stimme meines Ehemannes jetzt flehend und fast schon ein bisschen streng geworden war, traute ich mich nicht, noch weiter nachzufragen. Stattdessen holte ich nochmals tief Luft, dachte daran, dass ich es eines schönen Tages schon noch erfahren würde, und fuhr mit meiner kleinen Geschichte fort  Dabei beobachtete ich meinen Ehemann aus meinen Augenwinkeln heraus sehr genau und ließ mir keine Veränderung seines schönen Gesichts entgehen.

 

Während der ersten Tage, die ich in München und in meiner kleinen, gemütlichen Wohnung in der zwölften Etage verbrachte, fühlte ich mich ziemlich alleine. Und dies, obwohl ich doch wieder ganz nah' bei meiner Familie und meinen alten Freunden war. Zudem machte es mich glücklich, dass meine Mutter nach dem Tode meines Vaters in unserem schönen Holzhaus mit dem tollen Garten wohnen geblieben war. Denn da ich in diesem Haus meine komplette Kindheit verbrachte, hing ich sehr daran. Mit der Hilfe ihrer Freunde hatte meine Mutter ihre psychische Erkrankung beinahe überwunden.

Ja, meine eigene Zweizimmerwohnung war wirklich schön. Ich hatte ein geräumiges Wohnzimmer, an das sich eine kleine Wohnküche anschloss. Das Schlafzimmer war zwar so klein, dass ich nur mit Mühe und Not mein schönes, altes Doppelbett hineinstellen konnte, aber dennoch fühlte ich mich dort irrsinnig wohl. Auch das Badezimmer war groß und geräumig, sodass ich darin bestens mit meinem Rollstuhl zurechtkam. Die ganze Wohnung war richtig schön hell. Unser Wohn- und Schlafzimmer besaßen jeweils zwei große Fenster, aus denen man einen atemberaubenden Blick über die Stadt hatte. Noch etwas unsicher gab ich meinen Assistentinnen, die mir nun den ganzen Tag zur Seite standen, Anweisungen, wo welche Möbelstücke hingestellt und welche Erledigungen gemacht werden sollten.

 

"Wenn ich genug Geld gespart habe", erklärte ich Moritz, "kaufe ich für unser Wohnzimmer eine richtig schöne Couch, in die man sich gemütlich hineinkuscheln kann und die ich unter die Fenster stelle. Denn wenn die Sonne am Tage nicht von den Wolken verdeckt wird, scheint sie ab nachmittags ins Zimmer und man kann sich dann von ihr auf der Couch wärmen lassen. Einen Wohnzimmerwandschrank hat Mama mir ja schon geschenkt. Mann, sie hat aber auch noch schöne, alte, rustikale Möbelstücke von ihren Eltern im Keller stehen. Denn der Wohnzimmerwandschrank ist auch aus groben und stabilen Holz gezimmert, der bestimmt schon an die hundert Jahre alt ist. Ganz genau wie das schöne Doppelbett, in dem ich nun schlafe."

 

"Ja, und man kann sooooo schön an diesen rustikalen Möbelstücken herumknabbern!", entgegnete mein Mausmännchen trocken und kuschelte sich in meinem Schoß.

 

In der ersten Zeit vermisste ich meine ganzen Freunde aus Frankfurt ziemlich. Und so war mit das Schönste Momo, mein total süßes Katzenbaby. Momo bekam ich von einer meiner Assistentinnen geschenkt«, erzählte ich nach einiger Zeit weiter und drückte meine kleine Katzendame überglücklich an mich.

Plötzlich stand die junge Frau eines Morgens mit einem Korb mitten in meinem Wohnzimmer. Sie schenkte mir Momo, damit ich mich nicht so einsam fühlte. Süß, oder?! Als sie den Korb öffnete, begrüßte mich sogleich zaghaft eine winzige weiß-graue Stupsnase. Zwar war es von einer persönlichen Assistentin schon ein wenig waghalsig, mir gerade eine Katze zu schenken. Aber wenn mein kleines Katzenfräulein mit einer Maus aufwuchs, könnte man ihm vielleicht das Mäusejagen abgewöhnen, dachte ich. Mit vor Freude hochroten Wangen erklärte ich dann laut, dass ich dies zumindest einmal versuchen wollte. Selbst, wenn es unwahrscheinlich klinge, einer Katze, und noch dazu einer sehr Jungen, das Jagen abzugewöhnen“ Aber ich wollte mein Katzenbaby um keinen Preis in der Welt wieder hergeben.

Schon bald konnte ich bemerken, was für ein kluges, tolerantes, fröhliches und liebevolles Tier Momo war. Ja, sie hatte etwas ganz Kluges an sich. Von der allerersten Nacht kam sie zu mir ins Bett gesprungen, kuschelte sich ganz eng an mich und ließ sich stundenlang geduldig von mir streicheln und kraulen. Dabei störte es sie in keiner Weise, dass sie manchmal aufgrund meiner spastisch, ausfahrenden Bewegungen ungewollt eins auf ihre kleine Nase bekam. Die meisten meiner nicht behinderten Mitmenschen erschreckten meine unkontrollierten Bewegungen. Aber Momo nahm es gelassen und als ganz selbstverständlich hin.

Nur Moritz war nicht so erfreut über Momos Ankunft, wie man sich lebhaft vorstellen kann…! Aber weil Momo schon mit sieben Wochen zu uns gekommen war, gelang es mir tatsächlich, ihr beizubringen, Moritz in seinem Käfig in Ruhe zu lassen. Aber mein kleiner Mausmann glaubte zudem, er sei mit Momos Einzug nicht mehr meine Nummer Eins.“

 

„Ja, Moritz war mächtig eifersüchtig geewesen. Ach, aber, nee, Moritz war mir schon zu alt zum essen. Der hätte mir ehrlich nicht mehr geschmeckt!“, kam es teils piepsend, teils schnurrend aus meiner Armbeuge hervor, in der Momo mit ihrem Köpfchen gemütlich lag und vor sich hindöste. „Außerdem hätte ich mir beim Versuch, das Mäuschen aus seinem Käfig zu holen, in den engen Gitterstäben heftig meine kleinen Pfoten eingeklemmt. Aber ehrlich gesagt, hattest du von Moritz nie viel gehabt. Denn er hat die meiste Zeit des Tages in seinem Käfig geschlafen. Aber ich war den ganzen Tag wach und fit und konnte mit dir herumkuscheln und du konntest mir beim Herumtoben zusehen!‹

 

›Ach komm', Momo, Moritz war eben eine kleine Maus, für die es ganz normal war, tagsüber recht viel zu schlafen und in der Nacht etwas munterer zu sein. Jeder soll so leben, wie es ihm vorbestimmt ist und wie er es gerne möchte.‹

 

›Ja, ja, du hast schon Recht.‹, gab meine kleine Katzendame jetzt leise zu, ›Trotzdem hat Moritz die meiste Zeit des Tages gepennt und sich in seinem Käfig aufgehalten. Allerdings war er auch immer allein, sodass er niemanden hatte, mit dem er herumtollen konnte. Ich habe ja später Hannes, meinen lieben Mann, bekommen. Dies war übrigens außerordentlich lieb von deiner Freundin, dir noch einen Kater zu schenken! Seltsamerweise fanden Hannes und ich uns auf Anhieb sympathisch, was ein weiterer Glückstreffer war. Na, und als ich schließlich denn auch noch sechs Kinderchen bekam, von denen ich eins bei mir behalten durfte, war mein Glück vollkommen! Zum Glück geschah das alles erst, als Moritz nicht mehr lebte!“

 

Vorsichtig strich ich über Momos Nase und fuhr in meiner Geschichte fort.

 

„Eines Tages, als Finn mich wieder mal besuchen kam, erzählte ich ihm von der Nacht, in der mir mein verstorbener Vater erschienen war und ich von meinem Hexenleben und meiner Lebensaufgabe erfuhr«, berichtete ich Jonas weiter, nachdem sich meine kleine Katzendame wieder gemütlich hingelegt hatte.

»Ich wohnte damals circa drei, vier Wochen in München. Ein wenig verlegen und ängstlich blickte ich Finn damals an. Denn ich wusste nicht, wie er auf diese Geschichte reagieren und ob er mich verhöhnen oder gar gleich in der Psychiatrie abliefern würde. Aus diesem Grunde hatte ich mir so lange Zeit mit dem Erzählen gelassen. Vollkommen baff hörte Finn mir zu. Und nach etwas längerem Zögern berichtete er schließlich, ihm sei sein Großvater, der vor dreizehn Jahren gestorben war, ebenfalls erschienen. Und zwar vier Nächte zuvor. Sein Großvater hatte ihm mitgeteilt, dass er kein Mensch der blauen Erde sei, sondern ein echtes Zauberwesen ist und vom Planeten der Hexen und Zauberer komme. Weiter erfuhr Finn, dass sich sein Heimatplanet draußen im weiten Weltall befinde, er wahre Zauberkräfte besitze und diese Welt hier vor ihrem Untergang schützen müsse, indem er den Bewohnern nahelegte, etwas umsichtiger, vorsichtiger und liebevoller mit ihrer Umwelt umzugehen.

Nach dem nächtlichen Besuch seines schon längst verstorbenen Großvaters glaubte Finn ernsthaft, er wäre völlig von Sinnen. Ihn erfasste blanke Panik. Er überlegte sogar, nach dieser Nacht ins Krankenhaus zu gehen und sich dort einweisen zu lassen. Aber er war sich dessen bewusst, dass die Behandlungsmethoden keinesfalls angenehm sein würden. Außerdem war dieser Besuch seines Großßvaters so real gewesen, dass Finn nicht glauben konnte, es sei ein Hirngespinst gewesen. Somit bewahrte er erst einmal Ruhe und versuchte, diese seltsame Geschichte als etwas Wahres anzunehmen. Außerdem konnte er es einfach nicht als reine Fantasie der Menschen abtun, dass die Geister Verstorbener weiter auf der Erde wandelten. Unzählige Male unterhielten wir uns darüber. Und als auch er sehr bald Dinge zustande brachte, die er sich gemeinsam mit seiner sehr viel jüngeren Schwester aus Fantasiefilmen und Fantasiebüchern abguckte und die er sich selbst nicht hundertprozentig logisch erklären konnte, glaubte er schließlich, ein wahrer Zauberer zu sein. Dabei schien es so, als ob seine kleine Schwester mit großem Eifer bei der Sache war und sich über jeden einzelnen Fortschritt ihres älteren Bruders unglaublich freute. Allerdings konnte Finn es absolut nicht glauben, von einem anderen Planeten zu kommen. Das war schierer Unsinn. Der Weg bis zum blauen Planeten wäre viel zu weit gewesen. Man konnte außerhalb der Erde doch keinesfalls zu Atem kommen, starb als „Eiszapfen“ und verbrannte gleichzeitig.

Einige Stunden, nachdem Finn und ich uns gegenseitig von unsren Erlebnissen erzählt hatten, wurde ich zum ersten Mal von einem Riesen des gelben Planeten angegriffen. Das heißt, ich bekam es diesmal bewusst mit. Trotz seiner Schwere und Größe war der Bewohner des gelben Planeten still und leise durch mein halb geöffnetes Fenster im Wohnzimmer geschlüpft. Denn da es in diesem Sommer besonders heiße Nächte gab, konnte ich nicht bei geschlossenem Fenster schlafen. Plötzlich stand diese Furcht einflößende Kreatur vor meinem Bett. Noch schlafend bemerkte ich nicht, wie dieses hässliche Wesen auftauchte, mir das Kopfkissen unter dem Kopf wegzog und es mit einer wütenden Heftigkeit auf das Gesicht drückte. Als ich aufwachte und spürte, nicht mehr atmen zu können, zappelte ich wie wild und versuchte, das Kissen vom Gesicht zu bekommen. Doch nach einigen Versuchen, bei denen ich mein ganzes Bett zerwühlte, musste ich einsehen, dass ich gegen dieses starke Wesen keine Chance hatte, das mich zu ersticken versuchte. Ich hatte mich schon fast damit abgefunden, dass meine allerletzten Sekunden begonnen hatten, da mir langsam meine Sinne schwanden, als das Kissen wie durch ein Wunder ruckartig von meinem Gesicht gezogen wurde. Schnaufend schnappte ich nach Luft. Wie durch einen Schleier sah ich, wie sich zwei Gestalten auf meinem Schlafzimmerboden balgten. Die eine Gestalt gehörte dem Riesen, das erkannte ich, aber wer die Zweite war, konnte ich absolut nicht ausmachen. Komisch, dachte ich, der Riese dort sieht tatsächlich so aus, als würde er eine Karnevalsbrille tragen. Unwillkürlich musste ich leicht grinsen.

Heftig und mit unsagbarer Wut schlugen die Beiden auf dem Boden aufeinander ein. Kleinere Teile meiner Möbel flogen um. Ängstlich blickte ich zu Moritz' Käfig hinüber und betete zu Wolfram, er möge auf meiner Kommode festen Halt finden. Doch plötzlich passierte etwas höchst Merkwürdiges. Als der Riese die zweite Person gerade mit vollster Brutalität auf meinen Teppich drückte, blickte er zu mir hinüber. Mit noch sehr trübem Blick schaute ich ihm direkt in seine Augen. Und auf einmal spürte ich, wie ich meinen Mund auftat und mit leiser, beruhigender Stimme auf dieses eigenartige Wesen einsprach. In den ersten Sekunden war ich mir in keiner Weise bewusst, dass diese ruhige Stimme mir selbst gehörte. Doch dann bemerkte ich, dass ich versuchte, dieses Geschöpf am Boden zu besänftigen und es dazu zu bringen, von seinem Gegner abzulassen. Ganz allmählich kam in diese erbitterte Auseinandersetzung etwas Ruhe. Und nach weiteren Augenblicken ließ der Riese ganz plötzlich von der kleineren Person ab. Während dieser ganzen Zeit hatte ich dem Riesen in seine merkwürdigen, sechseckigen Augen geblickt und beruhigend auf ihn eingesprochen. Genauer gesagt, summte ich nur ruhig vor mich hin. Und dies passierte völlig automatisch. Ich konnte es kaum fassen, geschweige denn erklären. Es war absurd. Aber ich hatte den Versuch unternommen, das furchterregende Geschöpf zu beruhigen. Und aus irgendeinem Grunde war es mir nach einigen Momenten tatsächlich gelungen. Nachdem der Riese sich meiner Ruhe nicht länger entziehen konnte, stolperte er, die Hände abwechselnd vor Augen und Ohren haltend, zum Fenster hin und verschwand. Schwer atmend und am ganzen Körper zitternd lag ich in meinem Bett und wusste nicht, was soeben geschehen war. Warum hatte der Kampf so abrupt geendet? Hatte ich das bewirkt? Und wenn ja, wodurch? Man gab mir zwar immer mal wieder zu verstehen, ich könne schlecht gelaunten Menschen besser stimmen. Auch sagte man mir, man fühle sich so verstanden, wenn man mir seine Probleme erzählte. Aber dass ich den Riesen dazu gebracht hatte, sich zu beruhigen, ihn womöglich am Töten hinderte, also umsichtig zu werden und von der kleineren Gestalt abzulassen, hielt ich für unmöglich. Geistesabwesend sah ich zu, wie sich die zweite, kleinere Gestalt langsam aufrappelte, sich kurz an die Wand lehnte, um wieder zu Atem zu kommen, und dann zu mir herüber kam. Und erst jetzt erkannte ich mit bassem Erstaunen, dass diese Person kein allzu junger Mann mehr war, braune Augen und dunkles Haar hatte, das schon ergraute. Zärtlich strich er über meine Haare und sprach beruhigend auf mich ein, bis mir die Augen zufielen und ich einschlief. Doch bevor ich in einen tiefen Schlaf abtauchte, erinnerte ich mich, dass dieser kleine, freundlich aussehende Mann niemand anderes war, als der Engel, der mir als kleines Mädchen in einigen Nächten das Leben gerettet hatte.

Noch lange Zeit dachte ich über das Geschehene in jener Nacht nach. Ich versuchte, mir selbst zu erklären, wer diese beiden Gestalten waren, die bei mir so unerwartet auftauchten. Ich versuchte, mir darüber klarzuwerden, warum die große Gestalt mich töten wollte und warum sie auf einmal so ruhig geworden und verschwunden war. Und wer war die kleinere Gestalt? War sie wirklich ein oder gar mein ganz persönlicher Schutzengel? Doch auf all diese Fragen fand ich keine vernünftigen und glaubwürdigen Antworten. Und schließlich glaubte ich, dies alles wieder einmal nur geträumt zu haben sowie ich es schon als Kind getan hatte«, erzählte ich Jonas und barg mein Gesicht etwas geschwächt in den Händen.

 

 

 

 

 

VI

 

Als ich knapp zwei Monate in München wohnte, wurde ich eines Nachts von Emma, Wolframs Mutter, recht unsanft geweckt, berichtete ich nach einer kleinen Pause weiter. Diesmal hockte meine Großmutter auf meinem Fernseher. Denn in meinem Schlafzimmer gab es noch keine andere Sitzgelegenheit. Außer meinem Bett natürlich.mein Fernseher stand ganz in der Nähe des Fensters. Nur im Winter schlief ich bei geschlossenem Fenster. Während dieser Zeit kam Emma dann durch die Wände geschwebt.“

 

›Du musst dir mal einen vernünftigen und bequemen Sessel anschaffen!‹, knurrte Emma mich unfreundlich an und begutachtete interessiert meine zahlreichen Fotos meiner Freunde an den Wänden. Von den gegenüberstehenden Hochhäusern strahlte genügend Licht in mein Zimmer, sodass meine Großmutter alles ziemlich genau erkennen konnte.

 

Mit kleinen, verschlafenen Augen blickte ich sie an und flüsterte: ›Ach, Oma, lass' mich doch schlafen. Ich bin sooo müde.‹,

 

›Nein, nein, Zerlina, nun erhältst du deine allererste Unterrichtsstunde im Zaubern‹, kam es barsch von meinem Fernseher herüber. ›Als Erstes beginnen wir damit, einen Gegenstand in einen Anderen zu verwandeln. Schon etwas munterer kam mir plötzlich ein genialer Einfall.

 

›Oma, wenn ich jetzt schon mal zaubern lerne, könnte ich mir meine neuen Möbel doch zaubern, oder? Denn ich brauche im Wohnzimmer nämlich noch eine neue Couch.‹

 

›Tz, tz, tz, das sieht dir mal wieder ähnlich. Du denkst, somit etwas Geld sparen zu können. Nein, meine liebe Enkeltochter! Wir verzaubern nur einen Gegenstand, den du hier in deinem mickrigen, kleinen Schlafzimmer schon hast‹, zischte die Mutter meines Vaters durch ihre wenigen und etwas gelblichen Zähne. Daraufhin griff sie unter ihren dunklen Baumwollumhang und holte einen Zauberstab hervor.

 

›Au, den typischen Zauberstab gibt es also tatsächlich‹, staunte ich beim Anblick dieses länglichen, schwarzen Holzstabs, setze mich im Bett ein wenig auf und knipste die kleine Nachttischlampe an, die neben Moritz Käfig stand.

 

›Ja, ganz recht. Warum sollte es ihn denn nicht geben?‹, fragte Emma amüsiert. ›Wir fangen am besten mit dem kleinen Kissen auf deiner Nachbarmatratze an, das dein tollkühnes Mäuschen bereits angefressen hat.‹

 

›Ähm, ich muss doch sehr bitten!‹, kam es vorwurfsvoll aus Moritz' Käfig.

 

Großmutter streifte Moritz' Käfig mit einem flüchtigen Blick und legte das kleine Kissen auf den Fußboden. Dann klopfte sie dreimal kurz darauf und gab ebenfalls dreimal zischende, kurze Töne von sich und fixierte das Kissen mit ihren braunen Augen. Eine kleine, aber sehr helle Flamme züngelte plötzlich kurz aus der Spitze des Zauberstabs hervor. Und einen knappen Moment später stand ein schöner und winzig kleiner Baum an der Stelle, an der vor wenigen Sekunden noch mein Kissen lag. Bewundernd schaute ich den kleinen Baum an.

›Der ist wunderschön, Großmutter!‹ Mit halb offenem Mund bestaunte ich das Bäumcheen.

 

›Tja, ich kann zumindest zaubern‹, antwortete sie und verwandelte das kleine Bäumchen in Sekundenschnelle wieder zurück in mein Kissen. ›So, Enkeltochter, nun bist du an der Reihe.‹ Behutsam half Emma mir, mich richtig auf die Bettkante zzu setzen.

 

Als sie gerade dabei war, mir den Zauberstab hinzureichen, hielt sie plötzlich inne und meinte, sich mit der flachen Hand gegen die Stirn schlagend: ›Ach, du kannst ja keinen Zauberstab halten, geschweige denn zischende Laute von dir geben. Denn dir ist es ja noch nicht einmal möglich, beim Essen das Besteck selbstständig zu halten und musst von daher von einer anderen Person das Essen angereicht bekommen. Auch korrekt sprechen kannst du nicht. Aus diesem Grunde dürfte es mit den zischenden Lauten recht schwierig werden. Oh, Zerlina, verzeihe mir bitte meine Gedankenlosigkeit, ja?"

 

Lächelnd und mit ein wenig erhobenen Händen gab ich Emma zu verstehen, dass dieses mich in keiner Weise störte.

 

Einige Sekunden stand sie überlegend vor meinem Bett.

 

›Tja, am besten ist es wohl für dich, wenn du das so genannte ›Gedankenzaubern‹ erlernst. Hat Moritz dir schon erzählt, dass wir Hexen und Zauberer sowieso des Gedankenlesens mächtig sind? Das heißt, wenn wir eng miteinander verwandt oder eine richtig enge Bindung zu unserem Partner oder einer andren Person haben, und uns für zehn bis fünfzehn Sekunden lang direkt in die Augen sehen, können wir die Gedanken unseres Gegenübers lesen. Darum weiß Moritz auch häufig, was in deinem Köpfchen vor sich geht. Denn ihr beiden seid euch sehr vertraut. Allerdings muss man ein wenig bereit sein, seine eigenen Gedanken lesen zu lassen. Denn wenn man dies nicht möchte, muss man seinem Gegenüber mit seinem eigenen Blick nur ein bisschen ausweichen, und schon ist man in der Lage, seine Gedanken ganz und gar für sich zu behalten. Zudem ist es möglich, jemanden zur Hilfe zu rufen, wenn man sich in arger Not befindet. Wenn man allerdings langsam in die Jahre kommt und die Gehirntätigkeite und die Augen allmählich nachlassen, ist es einem kaum noch möglich, die Gedanken seines Gegenübers zu lesen. Tja, es ist schrecklich, wenn im Alter alles weniger wird. Das ist bei uns nicht anders, als bei den Menschen. Ich glaube, bei jedem Lebewesen wird es im fortgeschrittenen Alter mit allem weniger. Zudem bin ich nur noch nachts lebendig, um dich in das Leben einer invaliden Hexen einzuführen. Somit bin ich eh des Gedankenlesens nicht mehr mächtig. Denn Gedankenlesen ist nämlich nur den lebendigen Hexen und Zauberern beschieden«, erklärte Großmutter ein wenig niedergeschlagen. „Nun, und beim Gedankenzaubern musst du an eine Situation in deinem Leben denken, in der du richtig glücklich warst. Außerdem musst du davor einen Becher lauwarme Milch mit einer klein geraspelten Knoblauchzehe und schwarzem Pfeffer in einem Zug leertrinken. Diesen schwarzen Pfeffer und die Knoblauchzehen werde ich dir in den nächsten Nächten aus meinem Grab mitbringen. Denn unser Knoblauch und unser schwarze Pfeffer sind gut für das Gehirn und helfen dir dabei, dir einen Gegenstand oder später eine Situation ganz genau vorzustellen, den oder die du herbeischaffen möchtest. Den schwarzen Pfeffer und den Knoblauch haben wir übrigens selbst gezüchtet. Er wird bei uns ausschließlich für die Gedankenzauberei benutzt. Es ist also kein herkömmlicher Pfeffer und wird nie bei der Zubereitung von Speisen verwendet.‹

 

›Pah, Oma, was verlangst du von mir?‹, entfuhr es mir angewidert. ›Das ist ja ekelhaft!‹

 

›Möchtest du zaubern lernen oder nicht?‹, rief die Mutter meines Vaters etwas erregt und pikste mir mit ihrem spitzen Finger in die Wange. ›Da musst du schon einige Dinge auf dich nehmen, die eventuell nicht sooo angenehm sind. Denk' an deine Lebensaufgabe, an deine leibliche Familie und an deinen Finn.‹

 

›Bist du eigentlich sicher, dass Finn und ich wirklich zusammenpassen?‹, entfuhr es mir auf einmal unüberlegt. Gleichzeitig fiel mir auf, dass in meiner Stimme eine ganze Portion Skepsis mitschwang, die kaum zu überhören war. Schnell biss ich mir auf die Lippe. Doch bevor Emma sich über meine unbedachte Äußerung wundern konnte, fragte ich schnell: ›Und überhaupt, warum muss ich bereit sein, den Menschen gewissenhaft zu helfen und sie davor zu schützen, sich gegenseitig auszurotten, ehe ich Finn Schwelm heiraten darf? Wieso kann ich nicht nur einfach so seine Ehefrau werden? Denn wir gehören doch sowieso zusammen und sollen heiraten. Ich meine, wir verbringen schon fast unser komplettes Leben zusammen, sodass es diese Sache nun wirklich ein bisschen seltsam wirken lässt!‹

 

›Warte doch erstmal ab‹, riet Emma mir mit geheimnisvollem Blick, ›ich kann dir diese Frage noch nicht beantworten. Betrachte deine Lebensaufgabe als eine Art Prüfung, bei der du dein Können zeigen musst und an deren Ende ein ganz besonderer Lohn auf dich wartet.‹

›Ja, ja, das habe ich schon begriffen, dass es sich bei meiner Lebensaufgabe um eine Art Prüfung mit anschließendem Lohn handelt. Papa hat es bei seinem Besuch bereits erwähnt. Also Wolfram, meine ich", erwiderte ich ein wenig lächelnd.›Aber, was mir nicht recht in den Kopf will, ist, dass ich erst zeigen muss, den Menschen wirklich helfen und sie vor ihrer gegenseitigen Ausrottung schützen zu wollen, ehe ich Finn heirate.‹

 

›Ich habe dir doch eben gesagt, du musst etwas Geduld haben, bevor du die volle Wahrheit erfährst‹, sagte Großmutter.

 

Irgendetwas ist an dieser ganzen Geschichte doch faul, dachte ich und fragte Großmutter laut und ein wenig stotternd vor Aufregung: ›Papa, also Wolfram, kann ebenfalls zaubern? Denn sonst hätte er mir ja nicht noch einmal im Ganzem erscheinen können. Aber wie ist dies möglich? Ich meine, doch nur ich stamme von einem anderen Planeten und bin dadurch kein normales Lebewesen dieser Erde.‹

 

›Nun, Zerlina, es gibt Menschen, die tatsächlich zaubern können. Du weißt, dass man zum Beispiel den Sinti und Roma nachsagt, sie seien ein wenig unheimlich, nicht wahr? Nun, dies liegt daran, dass dieses Volk mitunter etwas zustande bringt, was die Wissenschaftler mit ihren Formeln nicht so ohne Weiteres erklären können. Und weil die anderen Menschen nicht in der Lage sind, diese Dinge logisch zu erfassen, sind die Sinti und Roma ihnen rätselhaft oder gar unheimlich. Dabei bringen sie diese Dinge ganz einfach durch Zauberei zustande. Diese Art von Zauberei, die manchma in irgendwelchen Fantasyromanen oder Fantasyfilmen beschrieben werden, gibt es auf dem Planeten der Menschen nicht. Die Menschen meinen, diese Art von Zauber existiert nur in ihrer Fantasie, um das Leben schöner oder erträglicher zu machen. Meistens sind sie doch nur eifersüchtig und neidisch auf die Sinti und Roma. Denn wie gerne würden sie es ihnen gleichtun. Im Mittelalter sind Leute, die etwas Außergewöhnliches tun konnten, auf dem Scheiterhaufen geendet. Jedoch reichte es manches Mal schon aus, wenn eine Frau ein braunes und ein blaues Auge hatte oder ein grünes Kleid trug. Denn die Farbe Grün galt als die Farbe des Teufels. Noch viel schlimmer aber war es, wenn eine Frau durch die richtige Mischung von Kräutern Kranke wieder gesund machte oder eine junge, hübsche Witwe lange, rote Haare hatte. Denn wenn eine noch recht junge Frau, die so aussah, ihren Mann aus irgendeinem Grunde verloren hatte, glaubten die anderen verheirateten Frauen, sie habe ihren Ehemann mit einem geheimen Zauberspruch absichtlich getötet, uu in aller Ruhe mit den anderen Männern anbändeln zu können.

›Ja, ich las es schon zur Genüge in historischen Romanen‹, antwortete ich und gähnte herzhaft. Bereits etwas schläfrig, ließ ich mich zurück in mein großes, weiches Kopfkissen fallen und ließ mich von Emma leicht mit meiner Bettdecke zudecken.

 

›Aber auch heute noch werden Frauen, die mit einer Glaskugel oder Tarotkarten ihren Mitmenschen ihre Zukunft voraussagen, als Hexen bezeichnet. Und in anderen Ländern und auf anderen Kontinenten werden diese Frauen noch immer verfolgt, gefoltert und getötet‹, belehrte Großmutter mich weiter.

 

Wieder nickte ich wohl wissend und wartete gespannt darauf, dass Emma weitererzählte.

 

›Na, und mein Vater war ja ein umherziehender Zigeuner, der zu den Sinti und Roma in Ungarn gehörte. Bei ihrem allerersten Zusammentreffen wurde meine Mutter sofort schwanger. Sie war ein junges, naives Bauernmädchen von etwa achtzehn Jahren. Sie mistete gerade den Pferde- und Kuhstall aus, als sie an einem schönen, sonnigen Nachmittag an der Unruhe der Pferde bemerkte, dass jemand auf der Koppel war. Als meine Mutter hinausschaute, erblickte sie einen Mann in etwa ihrem Alter, der eins ihrer Pferde mit einem Seil einzufangen versuchte. Sofort ließ sie Schaufel und Besen fallen und lief hinaus auf die Pferdeweide. Auf Anhieb fand meine Mutter diesen jungen Mann attraktiv, der kurze Zeit später vor ihr stand und pechschwarze Augen und Haare hatte. Sie verliebte sich in der allerersten Sekunde in meinen Vater. In der kommenden Stunde ihres Zusammenseins wurde ich gezeugt und nach weiteren neun Monaten geboren. Nachdem meine Eltern mich gezeugt hatten, verschwand mein Vater aus dem Leben meiner Mutter genauso plötzlich, wie er aufgetaucht war. Sie sah ihn niemals wieder! Meine Mutter brachte mich bei entfernten Verwandten ihrer Familie zur Welt. Denn es galt in dieser Zeit als eine schreckliche Schande, ein Kind ohne Vater zu bekommen und aufzuziehen. Sofort nach der Geburt wurde ich von meiner Mutter getrennt und in ein Heim gegeben. Und so kommt es, dass dein Vater des Zaubers mächtig ist und du ausgerechnet bei uns gelandet bist.‹,

 

"Und wie sind wir Hexen und Zauberer letztendlich auf die Idee gekommen, auf unsere bewohnten Nachbarplaneten helfend einzugreifen?", fiel es mir auf einmal wieder ein.

 

"Nun, wir sind immer mal wieder außerhalb unserer kleinen Erde spazieren geflogen. Denn wir konnten es nicht für möglich halten, die einzige bewohnte Erde zu sein. Nur vom blauen Planeten wussten wir. Und auf einigen Planeten, die uns bewohnt erschienen, sind wir dann gelandet und haben uns dort umgesehen. Manchmal war es für uns etwas schwierig, durch die jeweiligen Schutzschichten der Planeten zu kommen. Denn jeder Planet, der bewohnt ist, hat ja eine Schutzschicht. Außerdem mussten wir uns manchmal in ganz andere Kreaturen verwandeln, damit wir auf den Planeten nicht als Außerirdische identifiziert und gejagt wurden. Und während wir eine Zeit lang bei den anderen Planetenbewohnern wohnten, fiel uns auf, dass es zwischen ihnen nicht selten zu Missverständnissen kam, die sie daran hinderten, in Harmonie und Frieden zu leben. Deshalb beschlossen wir, auf diesen Erden diese Streitereien zu schlichten, um die Bewohner und ihre Natur somit länger am Leben zu halten. Wir begannen mit unseren Reisen zu unseren Nachbarplaneten vor rund zweihundert Jahren.", beendete meine Großmutter ihre kleine Geschichte.

 

›Aha‹, brachte ich noch mühsam hervor, bevor mir die Augen zufielen und ich eingekuschelt in meinem Bett einschlief.

 

In der nächsten Nacht kam die Mutter meines Vaters wieder. Diesmal hockte sie auf Moritz' Käfig. ›Hm, auch nicht sehr viel bequemer hier!‹, maulte sie mich an.

 

Zu meinem großen Entsetzen hielt sie eine große Tasse mit einem Deckel in ihren zittrigen Händen. ›So, Zerlina, heute bist du mit Zaubern dran. Trink' deine gepfefferte Knoblauchmilch bis zum allerletzten Tropfen aus und denk' an einen Gegenstand, den du unbedingt herbeizaubern möchtest. Du musst dir diesen Gegenstand aber bis ins kleinste Detail vorstellen und vor allem auch genau riechen können! Du musst dieses Getränk übrigens nur solange zu dir nehmen, bis dir die bloße Vorstellungskraft automatisch kommt. Denn wenn du erst einmal hundertprozentig verinnerlicht hast, eine wahrhaftige Hexe zu sein, bist du in der Lage, dir in Sekundenschnelle eine bestimmte Situation oder einen bestimmten Gegenstand vorzustellen und zu zaubern.‹

 

Mit Würgen und Husten brachte ich dieses doch nicht gerade wohlschmeckende Getränk hinunter, das Großmutter mir gemixt hatte. Als der Becher endlich leer war, befahl sie mir, an einen Gegenstand zu denken, den ich mir herbeisehnte. Ungeschickt, wie ich nun einmal war, dachte ich zuerst an deinen Ring, den du am Ringfinger deiner linken Hand trugst. Doch da ich ihn mir nicht mehr so genau vorstellen und vor allem nicht nicht genau seinen Geruch vorstellen konnte, dachte ich an deine schwarze Lederhosen, die du immer beim Motorradfahren anhattest. Ja, und wie genau ich mir eine dieser Hosen vorstellen und deren Leder riechen konnte. Denn manchmal geschah es, dass ich dich nach Feierabend zufällig beim Einkaufen traf, wo du dann natürlich nicht mehr deine Arbeitssachen trugst. Aber als eine deiner Lederhosen an diesem Abend mit einem leisen Knall und Zischen plötzlich auf meiner Bettdecke landete und ich sie anfassen konnte, glaubte ich sogar, deinen mir vertrauten und angenehmen Körpergeruch riechen zu können«, führte ich meine Erzählung weiter.

Energisch und zugleich zärtlich drückte mein frischgebackener Ehemann mich jetzt an sich und küsste mich auf die Stirn. Unfähig, etwas zu sagen. Ebenfalls vollkommen gerührt sah ich zu ihm auf und erzählte meine Geschichte eiligst weiter.

 

›So, Zerlina, das war gar nicht schlecht!‹, sagte Großmutter in einem beinahe lobenden Tonfall. Sie glaubte ernsthaft, Finns Lederhhose würde auf meiner Bettdecke liegen. Natürlich hatte die alte Dame keineswegs eine Ahnung, dass man diese Art von Lederhosen fast ausschließlich beim Motorradfahren anzog. Aus diesem Grunde stellte sie mir keine unangenehmen Fragen. Denn mein langjähriger Freund fuhr ja kein Motorrad.

 

›Nun musst du für eine halbe Minute lang an den Ort denken, an den diese Hose deiner Meinung nach zurück soll, um sie wieder verschwinden zu lassen‹, teilte Großmutter mir weiter mit. ›Aber auch diesen Ort musst du dir ganz genau vorstellen!‹

 

›Ja, aber ich war doch noch nie in seinem Schlafzimmer!‹, erklärte ich etwas zu schnell und zu verlegen.

 

›Ach, nicht? Komisch! Denn Finn und du seid doch schon seit einer Ewigkeit miteinander befreundet. Aber du warst schon mal in seiner Wohnung, oder?«

 

Langsam und verzweifelt nach einer plausiblen Erklärung suchend schüttelte ich den Kopf. Völlig erstaunt sah Großmutter mich an.

»Wie ist denn dies möglich?, erkundigte sie sich nach einigen Augenblicken.

 

Ich fühlte, wie mir heiß und kalt wurde. Doch nach einigen Momenten, die viel zu lange dauerten, stammelte ich, dass Finn erst kürzlich umgezogen sei und dieses erst, nachdem ich Frankfurt verlassen hatte. Zu meinem großen Glück war mein Freund in den vergangenen zwei Jahren in der Tat recht häufig umgezogen. Nun, Finn liebte das Umziehen und das Neue, genauso wie ich. Allerdings zog er jedes Mal auch in die seltsamsten Wohnungen ein, deren Wände entweder dick verschimmelt waren oder undichten Fenster und Türen hatten, sodass er nach kürzester Zeit tatsächlich wieder umziehen musste.

 

»Ach so. Aber du warst doch schon am Haus, oder? Könntest du dir dann wenigstens den Garten oder Ähnliches vorstellen?“, fragte Emma ein wenig verwundert. Zaghaft nickte ich.

 

»Na, das ist ja wenigstens etwas. Dann musst du diese Hose eben in seinem Garten landen lassen! Den Garten kannst du dir wohl vorstellen, oder? Denn gewiss ist er nicht groß und kompliziert. Denn kein Garten, der vor einem Mehrfamilienhaus mitten in der Stadt liegt, ist wirklich groß und extravagant.‹

 

›Ja, ja, ich stand schon zweimal vor Finns Haus‹, als ich in Frankfurt Freunde besuchte" versicherte ich noch zaghafter. ›Aber den Garten davor habe ich mir irgendwie nie so genau angeguckt‹, gab ich etwas gehetzt und verzweifelt zur Antwort.

 

Mit leisen, schlurfenden Schritten ging Großmutter in mein Wohnzimmer hinüber und kehrte nach einigen Augenblicken mit der Fotografie von deinem Haus und Garten zu mir zurück, in dem Glauben, es sei das Haus, in dem Finn eine Einzimmerwohnung bewohnte.

 

›Ich hänge es später wieder an die Wand!‹, erklärte die alte Dame mit einem Lächeln auf dem Gesicht.

 

›Nun schau’ dir dieses Bild für eine kurze Zeit genau an. Den Rest des Gartens müsstest du dir aus dem Gedächtnis vorstellen.‹, sprach Großmutter ahnungslos weiter und hielt mir das Foto direkt vors Gesicht.

 

Verlegen drehte ich meinen Kopf zur Seite und starrte für einige Sekunden die Wand an.

 

›Komm‹, Zerlina, nun mach' mal ein bisschen zu. Ich bin ziemlich geschafft und möchte zurück in mein kleines, gemütliches Grab. Dein Vater wird auch nicht gerade begeistert sein, wenn ich erst kurz vor Morgengrauen von dir zurückkehre. Er wird nämlich immer wach, wenn ich komme. Aber das passiert eben, wenn man im Grab recht eng nebeneinander liegt«, setzte Emma leise seufzend zu ihrer kleinen Weisheit hinzu. ›Und vergiss nicht, dir den Geruch dieses Gartens auch genau vorzustellen! Zum Glück riechen die meisten Gärten gleich.‹, lachte Emma vergnügt.

 

Mit großer Anstrengung betrachtete ich die Fotografie. Nach einigen Sekunden schloss ich meine Augen und sah das Haus und den Garten von dir im warmen, hellen Sonnenschein deutlich vor mir liegen und roch das frisch gemähte Gras. Soeben fuhr ich im Geiste mit meinem Rollstuhl durch die große Pforte, als ich spürte, wie deine Lederhose mit einem leisen Knall und Zischen wieder von meiner Bettdecke verschwand. Ich öffnete die Augen und guckte verwirrt im Zimmer umher. Die Hose war tatsächlich verschwunden. Wie aus dem Nichts unendlich müde geworden,, drehte ich mich auf die Seite und fiel in Sekundenschnelle in einen tiefen, traumlosen Schlaf, aus dem ich erst am nächsten Morgen wieder erwachte.

 

›Es ist zu dumm, dass ich keine Gedanken mehr lesen kann.«, murmelte Emma auf dem Weg zu meinem Fenster leise vor sich hin. „Ach, es ist wirklich nichts, wenn man alt wird und nicht mehr zu den lebenden Zauberern und Hexen gehört. Alles Notwendige, das uns die Natur mitgibt, lässt nach. Ob Zerlina eben tatsächlich an ihren Finn gedacht hat? Denn irgendwie kommen mir Zweifel. Ich weiß nicht, wieso, aber irgendetwas sagt mir, dass hier alles nicht so seine Richtigkeit hat. Zudem frage ich mich, wann sie wohl soweit sein mag, die Gedanken einer anderen Hexe oder eines anderen Zauberers zu lesen. Allerdings kann sie das Gedankenlesen schon ein bisschen. Denn dies hat sie schon einige Male bei sich und Finn festgestellt. Das hat sie neulich beiläufig erwähnt. Na ja, die Zeit wird alles schon mit sich bringen.«Ein wenig erschöpft stieg Emma aus dem halb offen stehenden Fenster und flog auf ihrem Besen lautlos davon.

 

Mein kleiner Mausmann saß nach dem Abflug meiner Großmutter an diesem Abend noch einige Zeit gedankenverloren in seinem Käfig. „Tja, die gute, alte Emma kann keinen einzigen Gedanken von ihrem Gegenüber mehr lesen«, murmelte Moritz vor sich hin. „Und das ist auch gut so! Denn so wird sie von Zerlina versehentlich nie etwas von Jonas erfahren. Leider ist Zerlina schon viel zu lange bei den Menschen, als dass sie mit einer anderen Hexe oder einem anderen Zauberer gedanklich kommunizieren könnte.“

Etwas müde geworden ließ mein kleiner Mausmann sich plötzlich auf seinen kleinen Rücken fallen. So blieb er, alle Viere von sich gestreckt, eine ganze Weile liegen.

 

Von dieser Nacht an, in der ich deine Lederhose zum allerersten Mal mit meiner bloßen Vorstellungskraft herbeigeschafft hatte, zauberte ich eine große Menge an Gegenständen herbei und ließ sie wieder verschwinden. Auch Dinge verwandeln lernte ich recht schnell. Natürlich passierten mir hierbei schreckliche Missgeschicke. So zum Beispiel verwandelte ich Moritz Käfig einmal in eine alte, stinkende Toilette, in der sich noch gammeliges Wasser befand. Da mein kleiner, süßer Mausmann nicht sonderlich gut schwimmen konnte, gluckerte er immer wieder ins übelriechende Wasser.

Zu diesem Missgeschick kam auch noch, dass er sehr geruchsempfindlich war. Es dauerte geschlagene drei Tage, bis Moritz wieder mit mir sprach. So wütend war er auf mich. Oder ein anderes Mal, als ich meine Stoffmaus in eine lebendige Mausdame verwandeln wollte, wurde aus ihr ein knallbunter Papagei. Wild und aufgeregt flatterte er in meinem Wohnzimmer umher und holte Bücher aus den Regalen und schaffte es beinahe, dass meine Pflanzen kaum noch ein Blatt oder eine Blüte hatten. Meine kleine Momo, die gerade ein Teenager wurde, jagte vergnügt hinter dem ziemlich großen Vogel hinterher und schmiss sämtliche kleine Kissen vom Sofa herunter. Noch Tage später fanden meine Assisstenten und ich in den Zimmerecken ausgerissene Buchseiten, verwelkte Pflanzenblätter oder Pflanzenblüten. Verwundert wurde ich von ihnen gefragt, ob ich des Nachts in meiner Wohnung eine wilde Einweihungsfeier veranstaltet hätte.

 

„Na, mit meiner Mausdame hat es nicht geklappt.“, maulte Moritz mich ungehalten an und blickte mit traurigen Augen zu mir auf.

 

„Das tut mir auch wahnsinnig leid, Süßer! Aber ich bin nun einmal noch in der Übungsphase. Mit dem perfekten Zaubern dauert es noch ein Weilchen. Doch das nächste Mal zaubere ich dir eine kleine Mausdame. Das verspreche ich!“, entgegnete ich geknickt und ließ Moritz von meinem Schoß aus auf meinen Arm klettern.

 

„Oh, cool, dann habe ich ja jemanden, den ich vielleicht mal jagen kann und darf.“, schnurrte Momo gemütlich auf meinem Bett liegend plötzlich dazwischen.

 

„Ach, halt' die Klappe, Momo!“, knurrte Moritz etwas gelangweilt und knabberte zärtlich an meinem Ohrläppchen herum.

 

„Ja, du hast ganz Recht, wenn Zerlina noch weitere Papageien zaubert, jage ich viel lieber denen hinterher. Vögel zu jagen bringt nämlich viel mehr Spaß, weil sie eben so lustig mit ihren Flügeln flattern. Dies habe ich zumindest neulich mal im Fernsehen gesehen. Außerdem fliegen sie auch mal hoch, sodass ich dann richtig hinterhertoben kann.“, lachte mein kleines Katzenmädchen fröhlich auf dem Rücken liegend und alle vier Pfötchen in die Höhe gestreckt.

 

Als Großmutter schließlich der Meinung war, ich beherrsche das Her-, Wegzaubern und Verwandeln perfekt, erzählte sie mir eines Abends, sie wolle mir in den kommenden Wochen beibringen, wie man auf einem Besen reitet.

 

›Aber mir ist es aufgrund meinerr starken Körperbehinderung doch gar nicht möglich, mein Gleichgewicht zu halten‹, meldete ich mich zaghaft zu Wort, ›ich falle vom Besen herunter, Oma!‹

 

›Nun, mit der Gedankenzauberei kannst selbst du einen Besen fliegen. Warte mal ab.“, lachte Emma und tätschelte mein Knie. „Auch baut Wolfram gerade einen Besen so um, dass du problemlos darauf sitzen und mit ihm fliegen kannst. Wir müssen nur so lange warten, bis Wolfram mit diesem Besen fertig ist. Allerdings dürfen wir nur in den fortgeschrittenen Abendstunden mit unseren Besen fliegen. Denn die Menschen sollen uns nicht erkennen. Zum Glück passiert tagsüber in weiterer Entfernung kaum etwas, wo wir ganz schnell einschreiten müssen. Jeder, der seinen Mitmenschen nicht so wohlgesonnen ist und den Drang verspürt, sie zu triezen, wartet im Allgemeinen die schützende Dunkelheit ab. Und weil Hexen und Zauberer auch im Dunkeln tadellos klar und deutlich sehen können, macht es für sie keinen Unterschied, ob sie am Tage oder in der Nacht auf ihrem Besen durch die Lüfte reiten. Auch treffen wir im Normalfall auf keine Flugzeuge. Zudem fliegen wir nur selten in einer größeren Gruppe. Nun, und wenn wir in der Luft alleine unterwegs sind, können wir uns im Notfall schnell und geschickt als Vogel tarnen, sodass uns die Menschen nicht erkennen können. Doch auf unserem Berg, dem Brocken im Harz, dürfen wir ausgelassen umherfliegen. Dort kann uns niemand sehen. Jedenfalls des Nachts nicht. Zweimal im Jahr feiern wir dort ein Frühjahrs- und ein Winterfest. Nun, und da wir jedes Mal spät abends und zu einer Jahreszeit feiern, in der es ziemlich kalt ist, laufen wir im eigentlich keine Gefahr, von einem Menschen gesehen zu werden.‹

 

›Na, das hört sich ja aufregend an‹, rief ich aus und lachte.

 

 

VII

 

In den ersten Tagen nach den Nächten, in denen Großmutter zu mir kam, um mir das Zaubern beizubringen, war ich recht müde und geschafft. Kira, meine beste Freundin, die noch immer in München und ganz in meiner Nähe wohnte, gab sich alle Mühe, aus mir herauszubekommen, was mich so sehr schaffte. Aber ich grinste sie jedes Mal nur fröhlich an und schwieg. Auch meine ganzen Assistenten strengten sich sehr an, um zu erfahren, wieso ich tagsüber so müde war, mich häufig hinlegte und immer gleich tief und fest einschlief. Ihnen erzählte ich, dass ich aufgrund meiner starken Spastik recht viel Ruhe brauche, was für sie auch durchaus logisch klang.

Während ich darauf wartete, dass Wolfram meinen zukünftigen Besen so hergerichtet hatte, dass ich darauf sitzen konnte, wurde ich von Großmutter eines Nachts mit auf den Brocken genommen, dem gut- und altbekannten Hexenberg im Harz, und mit zahlreichen anderen invaliden Hexen und Zauberern bekannt gemacht. Erschrocken blickte ich Emma an, als diese mir völlig unerwartet von ihrem Vorhaben berichtete.

 

"Aber ich habe doch noch gar nicht meinen umgebauten Besen!", brachte ich etwas verblüfft hervor. Doch Emma verkündete gut gelaunt, dass sie aufgrund ihrer bereits ziemlich wackeligen Gestalt ebenfalls einen Besen mit Sitzschale hatte. Na, und da meine Großmutter und ich etwa gleich groß waren, konnte ich in ihrer Sitzschale recht gut Halt finden. Mit nicht viiel Anstrengung schaffte meine Großmutter es, mich auf ihrem Besen mit zum Brocken zu nehmen. Auch diesen Besen hatte Wolfram eigenständig umgebaut, sodass seine Mutter problemlos und sicher fliegen konnte.

 

„Dein Vater von dieser Erde hat eine Menge guter Ideen, von denen er viele handwerklich Wirklichkeit werden ließ. Und auch jetzt ist er im Handwerklichen immer noch sehr begabt.", erklärte meine Großmutter und zeigte mir stolz ihren umgebauten Besen.

 

„Kommt Finn auch zu diesem Winterfest?“, erkundigte ich mich leise und drückte Momo im Nachthemd auf der Bettkante sitzend und etwas verkrampft noch einmal an mich.

 

„Nein, ich denke nicht!, gab Emma kurz erklärend zurück.

 

„Na, er muss auch ungeheuerlich viel für sein Studium tun und kann von daher nie sehr spät schlafen gehen.“, antwortete ich und spürte, wie ich mich darüber gefreut hätte, Finn heute Abend auf dem Brocken zu sehen.

 

"Nun, Enkeltochter, helfe ich dir beim Ankleiden und setze dich in meine Sitzschale und versuche, dich darin so gut es geht festzugurten. Einverstanden?"

 

Ein wenig irritiert nickte ich.

 

"Und wo sitzt du während des Fluges?", fragte ich leise und ängstlich.

 

"Na, natürlich hinter dir!", kam es immer noch fröhlich über die Lippen meiner Großmutter,. „Keine Angst, Zerlina, bis vor einem Vierteljahr konnte ich noch ganz ohne Sitzschale auf meinem Besen sitzen. Es ist für mich also noch nicht so unmöglich, ohne Sitzschale zu fliegen.", versuchte sie mich zu beruhigen, als sie die ein wenig Angst in meinem Blick sah. "Kannst du in unserem Festsaal eigentlich auf einem normalen Stuhl sitzen? Denn deinen Rollstuhl können wir natürlich nicht mitnehmen."

 

Mit Nachdruck nickte ich.

 

Geschickt, sowie ich es meiner Oma keineswegs zugetraut hätte, half sie mir beim Ankleiden, das ich ebenfalls nicht selbständig tun konnte. Sobald ich warm genug angezogen war, schafften wir es mit vereinten Kräften, mich in die Sitzschale auf ihrem Besen zu setzen, der mit seinem Stiel über zwei Stühle lag, damit er in der richtigen Lage für mich zum Aufsteigen war. Es war beim Einsteigen in Großmutters Sitzschale zum großen Vorteil, dass ich ein wenig auf meinen Beinen stehen konnte, sodass Emma mich nicht zu heben brauchte.

 

"Wolfram hat mir extra starke Gurte mitgegeben, damit ich Dich fest genug anschnallen kann.", erklärte Emma munter. Sobald ich auf Großmutters Besen bequem saß, gurtete sie mich gut an. "Ist es für dich so in Ordnung?", fragte sie mich, nachdem sie den letzten von vier Gurten, die alle aussahen, als hätte Papa sie aus Kinderautositzen entfernt, zuschnappen ließ und ihr Werk begutachtete. Noch einmal testete sie, ob auch alle Gurte bei mir festsaßen, dann fragte sie vergnügt: "Bist du bereit für deinen ersten Flug auf einem ganz gewöhnlichen Hexenbesen?"

 

Zaghaft nickte ich und war überglücklich, soeben noch einmal auf der Toilette gewesen zu sein...!

 

Leicht grinsend sah ich zu, wie meine Großmutter ihre normale Brille mit den etwas stärkeren Gläsern gegen ihre sogenannte Flugbrille austauschte, die sie unter ihrem Umhang und aus einem knallgelben Etui hervorholte. Denn mit ihrer alltäglichen Brille konnte sie zwar feine Dinge begutachten, aber die genaue Flugrichtungen aus größere Höhe bestimmen, konnte sie mit ihr nicht. An den vielen Schrammen und Kratzern konnte ich erkennen, dass diese Flugbrille schon ziemlich alt sein musste. Später erfuhr ich dann, dass die Hexen und Zauberer, die eine Brille benötigten, sie wie ihren Augapfel hüteten. Denn da es auf unserem Planeten nicht allzu viele Menschen gab, die den Beruf des Optikers inne hatten, mussten sie auf eine Brille ziemlich lange warten. Aus diesem Grunde war es auch nicht weiter verwunderlich, dass ein Jeder versuchte, seine Augen gesund zu halten und seine Brille zu hegen und zu pflegen und so lange bei sich zu behalten, wie es nur irgendwie möglich war.

Wie durch einen Schleier nahm ich es in den nächsten Sekunden wahr, wie Emma mein Zimmerfenster ganz öffnete, sich hinter mir auf ihren Besen setzte, einige Sekunden lang nur ganz ruhig dasaß, sich der Besen dann sachte hob und einfach mit uns durchs offene Fenster in die Nacht hinausflog. Hui, wehte der Nachtwind mir um die Ohren. Trotz meiner dicken Kleidung fing ich in der Luft in Sekundenschnelle zu frieren an. In den ersten Augenblicken kniff ich meine Augen fest zusammen und wagte nicht, sie zu öffnen. Zwar war ich als kleines Mädchen schon des Öfteren mit meiner Familie in einem Flugzeug in den Urlaub geflogen, aber innerhalb eines Flugzeugs war man eben vor Wind, Wetter und Flugtieren geschützt. Auf einem Besen jedoch nicht!

Ganz langsam öffnete ich nach wenigen Momenten meine Augen. Zuerst sah ich nur Dunkles vor mir. Dann traute ich mich, ein wenig nach unten zu blicken. Unter mir sah ich ein wahres Lichtermeer der Großstadt München. Trotz meiner schrecklichen Angst, in den kommenden Sekunden abzustürzen, musste ich mir eingestehen, dass dieses Lichtermeer wunderschön aussah. Als ich spürte, dass Emma ihren Besen gut unter Kontrolle hatte und vollkommen sicher flog, entspannte ich mich und begann, den Flug durch die Nacht zu genießen. Als wir München hinter uns gelassen hatten und kaum noch Lichter von unten zu uns hinauf schienen, konnte ich die Sterne über uns ganz klar sehen. Es war ein Glück, dass es in dieser Nacht kaum Wolken am Himmel gab. Von Kind auf an faszinierten mich die Sterne und der Mond zutiefst.

Nach etwa einer Stunde Flug konnte ich in geringer Entfernung das Gebirge des Harzes erkennen. Vorsichtig blickte ich fast direkt unter mich und sah ein kleines Tal mit vereinzelnden Häusern, deren Fenster erleuchtet waren. Und nach weiteren zehn Minuten Flug merkte ich, wie meine Großmutter ihren Besen zu landen begann. Wir hatten den Brocken erreicht. Wieder kniff ich meine Augen fest zusammen und hoffte, dass meine Blase sich nicht automatisch leerte. Nur nach wenigen gefühlten Sekunden, nachdem ich bemerkte, dass die Mutter meines Vaters ihren Besen zu landen begann, schwebten wir auch schon geringe Meter über dem Boden eines Platzes. Auf diesem Platz stand ein längliches, flaches Gebäude. Umgeben von vielen, hohen Tannen, standen mehrere Besen ordentlich in Halterungen nebeneinander. Diese „Besenständer“ erinnerten an die gut bekannten Fahrradständer der Menschen.

 

"Nur gut, dass es für die Hexen und Zauberer mit stärkerer Körperbehinderung Vorrichtungen gibt, in denen sie ihren Besen hineinfliegen können, um leichter auf- und abzusteigen. Nur muss man gut und genau fliegen beziehungsweise landen können, um direkt in diese Vorrichtung zu kommen.", klärte Großmutter mich mit einer vom Wind etwas heiseren Stimme auf.

 

Diese Vorrichtung, von der es auf diesem Platz circa vierzig Stück gab, bestand aus zwei in die Erde eingelassenen Eisenstangen, die waagerecht in einem Abstand von ungefähr zwei Metern zueinander standen. Auf diesen Eisenstangen legten die vorderen und die hinteren Enden der Besen auf, sodass man sie nach dem Landen mit seinen Händen und Füßen nicht abfangen und halten musste. Beeindruckt sah ich zu, wie Großmutter ihren Besen exakt auf diesen beiden Eisenstangen landete.

Sobald wir glücklich und wohlbehalten in unserem Besenständer gelandet waren, kamen zwei Hexen aus dem Festsaal. Sie kamen gerade so, als hätten sie Großmutter und mich in der Dunkelheit ankommen sehen. Freudig wurden wir von den beiden jungen Frauen begrüßt.

 

"Hey, Zerlina, schön, dich endlich kennenzulernen!", begrüßte mich die etwas größere Hexe der beiden. „Dürfen wir dich beim Hineingehen in unseren Festsaal unterstützen?"

 

Freudig nickte ich und schwang, nachdem die beiden jungen Frauen meine Gurte gelöst hatten, mein eines Bein über den Besenstiel. Während wir über den Lande- und Vorplatz in den Festsaal gingen, beäugte ich verstohlen die beiden jungen Hexen. Und da sie mich untergehakt hatten, denn auf meinen Beinen konnte ich ja ein Stück gehen, war es mir möglich, sie aus nächster Nähe zu betrachten. Im Mondschein sahen sie wie gewöhnliche Menschenfrauen aus. Die junge Frau, die meinen linken Unterarm untergehakt hatte, trug ihre schwarzen Haare kurz, hatte grau-blaue, fröhliche Augen und einen kleinen, schmalen Mund. Sie trug mittelgroße, runde Ohrringe und am rechten Handgelenk zwei schmale Armreifen. Weiter trug sie einen dunklen Baumwollrock, der ihr bis zu den Waden reichte, und höhere Stiefel mit flachen Absätzen. Ulkigerweise hatte sie, genauso wie die junge Hexe zu meiner rechten Seite, einen schwarzen Umhang um ihre Schultern, den ich bisher nur aus den Vampirfilmen der Menschen und seit einigen Wochen nun auch von Emma her kannte. Und in den kommenden Minuten sollte ich erfahren, dass jede Hexe und jeder Zauberer solch einen Umhang besaß.

Die andere junge Frau, die meinen rechten Arm untergehakt hatte, war um die dreißig Jahre alt. Sie war circa einen Kopf größer als ich und trug ihre dunkelbraunen, langen, lockigen Haare zu einem dicken, geflochtenen Zopf. Was mir im ersten Moment unserer Begegnung sofort auffiel, war, dass sie eine volle Unterlippe hatte. Auch hatte sie ein recht stark abgerundetes Kinn und eng anliegende Ohren, die man im hellen Mondlicht und bei ihrem geflochtenen Zopf gut erkennen konnte.

Nachdem wir den Vorraum des Festsaals betreten hatten und im hellen Licht standen, konnte ich sehen, dass sie tiefbraune Augen hatte. Sogleich wurde ich im Festsaal auf einen wunderschönen geschnitzten Holzstuhl gesetzt. Er hatte glücklicherweise eine hohe Rückenlehne und sehr hohe Armlehnen, sodass ich guten Halt auf ihm finden konnte. Nachdem die junge Hexe, die zu meiner rechten Seite gegangen war und mir vom Äußeren her ein wenig ähnelte, sich ihren Umhang ausgezogen hatte, half sie mir aus meiner dicken Winterjacke. Ich schämte mich ein bisschen für meine Winterjacke. Denn es war noch nicht einmal Mitte Oktober und demnach noch recht warm. Wenn man allerdings das Fliegen auf dem Besen nicht gewöhnt war, fror man in der Luft schnell und stark. Ob es im Hochsommer wohl anders ist?, fragte ich mich gedanklich.

Fürsorglich kümmerte sich die Hexe, die mir vom Äußeren her ein wenig ähnelte und Antonia hieß, den ganzen Abend um mich. Dabei entging es mir keineswegs, dass sie dabei ein wenig nervös und aufgeregt war. Sehr interessiert erkundigte sie sich nach allem, was mit mir und meinem Leben zu tun hatte. Doch seltsamerweise fühlte ich mich in ihrer Gegenwart auf Anhieb wohl, sicher und geborgen. Woher dieses kam, wusste ich nicht. Aber Antonia schien mir vertraut zu sein. Es fühlte sich an, als ob wir uns schon seit einer Ewigkeit kennen würden.

Während des ganzen Abends hielt Emma sich dezent im Hintergrund und schaute nur ab und zu nach mir. Ansonsten saß sie bei einem älteren Ehepaar am Tisch und plauderte bei einem Glas Leitungswasser munter mit ihm.

Hm, komisch dachte ich plötzlich, es scheint hier offensichtlich niemanden zu stören oder etwa gar anzuekeln, dass eine Person, die schon mehrere Jahre lang tot ist, unter ihnen weilt. Ein wenig schmunzelnd sah ich mich zwischen den Anwesenden um und fragte mich, ob noch weitere "Tote" hier umherwandelten.

Zwischen Antonias Fragen musterte ich den Festsaal der Hexen und Zauberer neugierig. Der ganze Saal war ausschließlich mit Kerzen erhellt, was warm und gemütlich wirkte. Dieser Saal diente den Hexen und Zauberern allerdings nicht nur zum Feiern, sondern wurde er auch als eine Art Besprechungszimmer genutzt.

Im Eingangsbereich und Vorraum, dort wo es zu den Garderoben und den Toiletten ging, brannten keine Kerzen, sondern elektrisches Licht. Damit man wohl genug sah und nicht stolperte, vermutete ich. Die eine durchgehende Wand, die es hier im Saal gab und die nur durch zwei Ausgangstüren unterbrochen wurde, war in einem warmen Dunkelrot gestrichen. Die gegenüberliegende Wand war eine reine Fensterrfront. Am Tage musste es hier schön hell sein.

Nach und nach lernte ich die Hexen und Zauberer kennen, die heute Abend hierher gekommen waren. Und alle hatten sie dieselbe Lebensaufgabe wie Finn und ich. Im Laufe des Abends ließ ich mir von ihnen erklären, wie ich es fertigbringen konnte, den Menschen nahe zu bringen, sich einander zu achten, zu tolerieren, zu respektieren, aufeinander zuzugehen und mehr Verständnis füreinander zu haben. Kurz gesagt ließ ich mir erklären, wie wir es schaffen wollten, unter den Menschen und ihrer Natur mehr Gemeinschaft herzustellen. Zwar war dies nicht einfach zu begreifen, aber die Anderen beantworteten mir zum Glück all meine Fragen geduldig. Auch erfuhr ich, dass die anderen Hexen und Zauberer für diese Lebensaufgabe ausgesucht wurden, weil sie besonders feinfühlig waren und sich gut in die Lage der „Randgruppenmenschen“ hineinversetzen konnten. Ganz genauso wie ich.

 

"Du musst den Menschen verdeutlichen, dass es einen Zusammenhalt unter ihnen gibt und sie unter dem blauen Himmel alle gleich sind. Die meisten Glaubensgemeinschaften predigen zwar, dass jeder Mensch vor dem Schöpfer der Erde gleich ist, aber wenn man ihnen genauer zuhört und einige Theorien hinterfragt, kann man in den kleinen, kurzen Nebensätzen deutlich das Gegenteil und die Diskriminierung heraushören.", regte Johanna sich auf und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn.

Johanna war eine junge Hexe, die eine halbseitige spastische Lähmung hatte und mit einem Mann ohne größeres Handicap verheiratet war, mit dem sie drei kleine Mädchen hatte. Anfangs wunderte ich mich, dass diese Ehe von den Anderen so als selbstverständlich hingenommen wurde. Doch nachdem ich wusste, eine Hexe zu sein, musste ich bemerken, dass sich die Hexen und Zauberer vermischten, ganz egal, wie sie waren. Keine Hexe und kein Zauberer war hier minderwertiger oder höhergestellter als der Andere. Jede Beziehung war normal.

Tja, ob ich das den Menschen begreiflich machen kann? Vielleicht können sie sich besser aufeinander einlassen und zusammenleben, wenn ihnen die Angst vor dem Ungewissen genommen wird., schoss es mir wieder einmal durch den Kopf.

Zwar war mir klar, dass kein Mensch das Etwas, von dem wir vielleicht kamen und zu dem wir nach unserem Leben wieder gingen und das wir alle fürchteten, jemals korrekt benennen konnte, dennoch sollte man zumindest versuchen, gemeinsam eine Erklärung zu finden und sich Mut zusprechen. Doch dieses konnte man nur, in dem man sich darüber bewusst war, dass niemand mehr über das Leben und den Tod wusste als der Andere.

Auch mussten die Prediger der verschiedensten Religionen sich dazu durchringen, ihren Glaubensgemeinden zu vermitteln, dass sie alle an dasselbe große Wesen glaubten, von dem sie mehr oder weniger vermuteten, dass es draußen im großen, weiten Weltall herumsegelte, die Planeten erschuf und alles fest in seinen Händen hielt. Ihnen musste verdeutlicht werden, dass dieses große und mächtige Wesen immer nur einen anderen Namen trug. Sicherlich würde es schwierig werden, dies den Menschen nahe zu bringen. Aber vielleicht könnten die Menschen dann wie eine große Gemeinschaft leben und mussten sich nicht mehr bekriegen. Gewiss konnte man weitaus ruhiger, friedlicher und harmonischer ohne den Glauben an dieses große, unbekannte Wesen zusammenleben. Allerdings sollte man den Glauben seiner Mitmenschen tolerieren und respektieren. Denn jeder Mensch hatte irgendetwas, an dem er sich in schlechten oder traurigen Zeiten festhielt. Und sei es, dass der Mensch an die endgültige Erlösung nach dem Tode glaubte und sie genauso fürchtete oder erleichternd fand wie jemand, der an ein Leben nach dem Tode glaubte. Die bewohnten Planeten unseres Universums sind voller Glauben. Selbst diejenigen, die stets steif und fest behaupteten, sie würden an nichts und niemanden und nur an das glauben, was sie mit eigenen Augen sahen, hatten ihren Glauben. Schon mehrmals hörte ich von Menschen, die ihr Leben lang an keinen Gott oder Ähnliches glaubten und glücklich damit waren. Sobald es allerdings auf den Rest ihres Lebens zuging, begannen sie häufig, an etwas Übersinnliches oder manchmal sogar an ein Leben nach dem Tode zu glauben. Vielleicht ist es die Angst, für seine Taten im Leben irgendwann einmal zur Rechenschaft gezogen zu werden, die einen Atheisten darauf hoffen ließ, am Ende des Lebens einfach zu sterben und ins ewige Nichts tauchen zu können. Denn es gab im Leben immer Momente, in denen sich ein Mensch fragte, warum er lebte und warum er gerade das Leben lebte, in das er hineingeboren worden war. Sei es, dass er gerade eine sehr schwierige oder eine sehr schöne Lebensphase durchlebte. Die wohl größte Angst und Frage des Menschen war doch nach dem Warum und nach dem Wohin. Denn aus welchem Grunde begannen Menschen, die sonst an nichts glaubten, ausgerechnet kurz vor ihrem Lebensende urplötzlich zu glauben an?

Allerdings haben die Wissenschaftler eine ganz plausible Erklärung auf diese Frage!

 

„Und wenn man den Menschen die Furcht vor diesem großen, unbekannten Wesen im Weltall oder die große und endgültige Erlösung nimmt, sollte auf der Erde mehr Ruhe und mehr Frieden einkehren. Vielleicht geschieht es dann ganz von selbst, dass sich die Menschen nicht mehr diskriminieren.“, entfuhr es mir nachdenklich und fragend zugleich. „Auch sollten wir die Größeren, Mächtigeren dazu anhalten, sich nicht für das einzige, wahre Vorbild für jedermann zu halten. Sicherlich gibt es kluge Köpfe, denen es durchaus zuzutrauen ist, eine Gemeinschaft anzuleiten und die es verdienen, an deren Spitze zu stehen. Dennoch sollten diese Menschen es akzeptieren, wenn es jemanden gibt, der anderer Meinung ist oder eine andere Lebenseinstellung hat. Aber ob dies so ohne Weiteres gelingen kann, bezweifele ich ein wenig. Denn mir ist bewusst, dass der Mensch jemanden braucht, an dem er sich orientieren und dem er vertrauensvoll folgen kann, sowie sich die Tiere an einem Leittier orientieren und seinen Anweisungen vertrauensvoll folgen. Aber wollte der Mensch nicht immer so unwahrscheinlich klug sein und die Situationen immer überaus gut im Griff haben? Sträubte er sich nicht geradezu dagegen, ein Tier zu sein? Tja, dann konnte man sich über die vielen tierischen Instinkte, die im Menschen steckten, doch nur wundern, oder?!

 

›Nun, diese Bedenken hatte wohl jeder von uns, die anderen Welten nicht vor dem Schlimmsten bewahren zu können‹, bemerkte jetzt eine andere invalide Hexe, die blind war und einen hübschen, bunten Flickenrock trug, auf die Äußerung meiner Bedenken hin und holte mich wieder zurück in die vollständige Gegenwart. ›Aber auf diesen Gedanken mit der Angst vor dem völligen Ungewissen und dem Umformen durch die Menschen, die meinen, eine besondere Lebenssituation gut überblicken und meistern zu können, sind erst ziemlich wenige von uns gekommen. Nichtsdestotrotz sollten wir auf jeden Fall prüfen, ob die große Unruhe und die großen Missverständnisse unter den Lebewesen der einzelnen Planeten wirklich von ihrem Unwissen herrührt.«, stimmte die Hexe mit einem weichen Gesichtsausdruck zu.

 

›Allerdings sind es nicht nur die großen Personen, die ihre Mitmenschen nach ihrem eigenen Selbst formen wollen, sondern auch die etwas kleineren Personen. Dieses müsstest du doch schon einige Male am eigenen Leibe erfahren haben, oder, Zerlina?‹, meldete sich Johanna wieder zu Wort und warf ihre blonden, langen Haare über die Schulter.

 

Eifrig nickte ich und erinnerte mich deutlich an meine Internatszeit zurück.

 

›Aber zu deiner anderen Überlegung und Frage muss ich dir noch sagen, dass es einem als Hexe oder Zauberer ziemlich leicht fällt, seine Lebensaufgabe anzunehmen. Man muss sich bloß erst mal damit abfinden, kein Lebewesen des jeweiligen Planeten zu sein und nur helfend eingreifen zu müssen. Denn man distanziert sich seltsamerweise recht schnell von den jeweiligen Lebewesen. So hochnäsig es jetzt auch klingen mag! Doch nichtsdestotrotz sind wir ebenfalls nur Lebewesen mit zahlreichen Fehlern und Macken. Dieses dürfen wir beim helfenden Eingreifen keineswegs vergessen. Und unsere Aufgabe ist es nicht, die Bewohner zu perfekten Maschinen zu machen, sondern wir sollen lediglich dafür sorgen, dass die Bewohner auf unseren bewohnten Nachbarplaneten etwas friedlicher miteinander leben und sich näher kommen. Wir wollen erreichen, dass die Bewohner sich bewusst werden, aus derselben Zusammensetzung zu bestehen und sich nicht gegenseitig auslöschen zu müssen. Jedoch sollten sie sich nicht umeinander kümmern, um ihre Langeweile zu vertreiben oder ihre Neugierde zu stillen. Die klar denkenden Lebewesen sollten füreinander sorgen, weil ihnen etwas Großes aneinander liegt und sie wieder glücklicher miteinander werden wollen. aUnser größter Wunsch ist es, die Magie der Empathie wieder zurück zu den Lebewesen zu bringen. Dennoch müssen wir uns stets daran erinnern, von unserem eigenen Planeten zu kommen. Und um das große Miteinander zu erreichen, sollten wir möglichst einfühlsam und offen sein. Aber diese Einfühlsamkeit aufzubringen, ist ziemlich schwierig“, sprach die blinde Hexe im bunten Flickenrock weiter und brachte mich von meinen mir soeben gekommenen Fragen ab. ›Aber wie du schon ganz richtig bemerkt hast, Zerlina, haben wir es alle seit Kleinkindalter an gespürt, kein Lebewesen dieser Weltkugel zu sein. Von daher ist es also nicht weiter verwunderlich, dass man es so schnell fest in seinem Herzen verankert, eine waschechte Hexe oder ein waschechter Zauberer zu sein. Dabei weiß ich allerdings immer noch nicht so recht, ob dies hilfreich oder eher hinderlich ist. Denn es kann auf der Seite des Menschen und auf Unserer nämlich zu Missverständnissen kommen, wenn sie spüren, nicht von derselben Welt zu kommen, und dann zu Rivalen werden. Doch zum Glück passiert dies nur sehr, sehr selten. Und zu Not können wir die anderen Lebewesen ja vergessend machen‹, grinste sie auf einmal spitzbübisch.

 

Einen Moment später schaute ein Zauberer, der kleinwüchsig war und eine ziemlich spitze Nase hatte, auf seine Halskettenuhr und rief erstaunt aus, dass es schon beinahe halb drei Uhr morgens sei. Erstaunt, wie schnell die Zeit vergangen war, räumten wir den Festsaal auf.

 

"Nun, dieser Saal hier wird sonst von den Menschen genutzt.", erklärte Antonia mir. "Aus diesem Grunde muss alles so wieder hergerichtet werden, wie wir es vorfinden. Vor vierzehn Jahren hat sich jemand von uns am helllichten Tage, als hier gerade eine Feier der Menschen stattgefunden hat, in einem günstigen Augenblick unter die Gesellschaft gemischt, den Schlüssel für die Eingangstür kurz entwendet und ihn nachmachen lassen. Denn ansonsten könnten wir diesen Saal nicht nutzen. Und da dieses Haus, das noch einen Raum besitzt, in dem die Skier und Weiteres der Menschen aufbewahrt werden, so schön weit oben auf dem Brocken steht, ist es geradezu perfekt für uns und unsere Feste. Denn nachts kommt im Allgemeinen kein Mensch hier hoch."

 

Müde geworden hörte ich Antonia zu und dachte an den Rückflug, an dessen Ende mein kuscheliges, warmes Bett auf mich wartete.

Nachdem alles Verräterische von unserer Zusammenkunft weggeräumt war, ging es hinaus in die noch immer sternenklare Nacht. Ziemlich erschöpft ließ ich mich von Emma und Antonia zurück in die Sitzschale auf dem Besenstiel setzen und angurten.

 

"Tschüss, mach's gut“, verabschiedete sich Antonia und drückte mir hastig und scheu einen Kuss auf die Wange. Mit leichtem Kribbeln im Magen spürte ich, wie Emma sogleich danach ihren Besen in die Luft schweben ließ. Genießerisch blickte ich noch einmal zurück auf das Gebäude und den Landeplatz, auf dem nun ein lustiges Durcheinander herrschte. Weiter blickte ich auf die hohen Tannen und ins Tal, das jetzt etwas dunkler dalag, als einige Stunden zuvor.

 

Während des Rückfluges genoss ich die frische Luft, die mich wieder etwas wacher machte. Dennoch war ich glücklich, als ich unter uns das Haus sah, in dem sich meine Wohnung befand. Gekonnt flog Großmutter durch mein offenes Zimmerfenster. Nachdem wir weich und sicher zwischen den beiden Stühlen gelandet waren, brachte Emma mich eiligst ins Bett. Sogar Moritz und Momo schliefen schon tief und fest. Durchgefroren kuschelte ich mich zu meiner Katze in meine warme Bettdecke, wünschte Emma einen guten Heimflug. Dann schaute ich noch einmal auf meine schöne, große und schon ziemlich alte Uhr gegenüber von meinem Bett und bemerkte müde, dass ich nur noch gute vier Stunden Schlaf bekommen konnte.

Doch bevor ich komplett in den Tiefschlaf hinüberglitt, fragte ich mich noch, aus welchem Grunde Antonia mir so vertraut erschienen war. Auch war es mir so vorgekommen, als hätte sie dasselbe bei mir empfunden. Doch dann tauchte ich endgültig in den Tiefschlaf ab und träumte von den ganzen Hexen und Zauberern, die ich in dieser Nacht kennengelernt hatte. Und natürlich träumte ich von meinem allerersten Flug auf einem Besen.

In den beiden Nächten, die nun folgten, besuchte Emma mich nicht. Somit konnte ich mich also ein wenig von meinem ersten Flug zum Brocken ausruhen. Immer wieder dachte ich während dieser Tage an mein Zusammentreffen mit den anderen Hexen und Zauberern. Ganz besonders wanderten meine Erinnerungen aber zu Antonia zurück. Natürlich versuchte ich, Moritz über sie auszufragen. Jedoch schwieg er sich überdieses Thema gründlich aus.

 

 

VIII

 

Und eines Nachts lag dann der umgebaute Besen endlich quer über meinem Bett.

 

›Dein Vater hat für dich sogar einen nigelnagelneuen Besen gekauft!‹, informierte Emma mich und strich mit der Hand leicht bewundernd und auch ein wenig stolz über den Stiel. ›Zuerst wollte er ja alles selbst bauen, aber dann hat er den hier zum Freundschaftspreis erwerben können. Er meinte, dieser wäre genau geeignet für einen Umbau und hat ihn kurzerhand gekauft. Zum Glück ist dein leiblicher Vater mit dem Mann, der diesen Laden für Flugbesen führt, gut befreundet. Aus diesem Grunde war es nicht schwer, einen besonders guten Besen, der normalerweise höllisch teuer ist, um einiges günstiger zu bekommen. Nur umgebaut hat ihn Wolfram selbst.‹

 

Noch mit kleinen, verschlafenen Augen betrachtete ich den Besen, der auf meiner Bettdecke lag und ein ziemliches Gewicht hatte. Er sah wirklich wunderschön aus. Unwillkürlich musste ich in diesem Augenblick an einen jungen Zauberern denken, dessen Geschichte ich vor einiger Zeit las. Auch dieser junge Zauberer flog auf solch einem noblen Besen.

 

›Haben diese Besen bei euch, oder besser gesagt bei uns, Namen?‹, erkundigte ich mich neugierig und rieb mir dabei die Augen.

 

›Nein, nicht so direkt‹, erwiderte Emma.

 

›Dieser hier wurde im Jahre neunzehnhundertvierundneunzig gebaut und ist der fünfte, der in diesem Jahr fertig gestellt wurde. Von daher bezeichnen wir ihn als den '94/5er.‹

 

›Aha!‹, gab ich zurück und betrachtete meinen Besen weiter mit immer größer werdenden Augen. Eine Sitzschale war fest auf den Stiel gebaut worden. Ganz genauso wie bei Emma. Diese Sitzschale ähnelte so exakt meiner gewohnten und nicht gerade gesunden Körperhaltung, dass ich ernsthaft glaubte, mein Vater hätte heimlich einen Gipsabdruck von meinem Körper gemacht. An dieser Sitzschale waren vier Gurte angebracht, die mich während meiner Flüge an Bauch und Schultern halten sollten.

 

›So, mein Mädchen, nun helfe ich dir in deine warmen Sachen und werde dich dann auf deinen Besen setzen.‹, teilte Oma mir mit. "Wie es sich anfühlt, auf einem Besen zu sitzen und damit durch die Lüfte zu fliegen, weißt du ja bereits."

 

Zaghaft nickte ich und spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. ›Ja, schon. Aber ich kann doch gar nicht das Gleichgewicht halten.‹, gab ich protestierend und zugleich klagend von mir. „Als wir neulich zum Brocken geflogen sind, hast du hinter mir gesessen und den Besen gelenkt.“

 

Als der Besen vor mir lag, bekam ich es wirklich mit der Angst zu tun.

 

›Nun mach' mal hier keine Panik!‹, drang die Stimme meiner Großmutter energisch vom Flur aus in mein Schlafzimmer, als sie nach festeren, wärmeren Schuhen für mich suchte. ›Denn, wie ich dir bereits erklärt habe, führst du während des Fliegens ebenfalls die Gedankenzauberei durch. Und dies bedeutet, dass es vollkommen egal ist, wie schief oder zappelig du auf deinem Besen sitzt. Denn du steuerst und regierst ihn ganz allein mit deinen Gedanken. Du brauchst dich also nur an einen schönen Augenblick in deinem Leben zu erinnern oder ihn dir auszudenken, in dem du richtig glücklich warst oder der dir richtig Freude machen würde , und schon wirst du dich sicher in die Lüfte erheben und schweben. Aber du solltest auch daran denken, dass dein Besen fliegen soll und wohin. Und wenn du linksherum fliegen möchtest, musst du den Besen mit deinen Gedanken auch linksherum lenken.‹

 

Ängstlich blickte ich zuerst meinen Besen, dann Emma an. ›Und du meinst, ich kann fliegen, wenn ich nur ans Fliegen denke?"

 

›Ja, logisch! Denn das tun alle Hexen und Zauberer. Nur während des Fluges steuern diejenigen, die körperlich etwas weniger eingeschränkt sind, ihren Besen ein wenig mehr mit ihrem Gleichgewicht, ihren Beinen und Armen‹, antwortete Großmutter und kehrte vom Flur mit festeren Schuhen wieder in mein Schlafzimmer zurück.

 

›Aha, und das funktioniert wirklich, ja?‹, entgegnete ich mit heftigem Kribbeln im Bauch und schaute Großmutter dabei zu, wie sie sich meine Kleidung ordentlich zurechtlegte. Geschickt, genau wie beim ersten Mal, zog mich die alte Dame, die mich zu ihrer Lebzeit selten gepflegt hatte, auch dieses Mal an.

 

„Ja, ja, klar.“, beantwortete Emma knapp meine Frage.

 

Nachdem ich komplett angekleidet war, holte Emma mich langsam, aber wieder mal sehr gekonnt aus dem Bett und setzte mich auf meinen Besen. Auch dieses Mal hatte sie ihn über zwei Stühle gelegt, sodass ich gut aufsteigen konnte. Nachdem ich mich richtig in meine Sitzschale gesetzt hatte und festgeschnallt war, konnte ich behaupten, dass ich richtig schön bequem saß. Ja, ich saß in meiner eigenen Sitzschale viel, viel besser, als vor wenigen Tagen in Emmas.

 

›Alles klar, Zerlina? Dann werde ich dir jetzt deine Knoblauchmilch reichen. Ich denke, es wird das Beste sein, wenn wir zuerst nur über München umherfliegen. Ich bleibe mit meinem Besen immer in deiner unmittelbaren Nähe. Du brauchst also keine Angst zu haben!‹, erklärte Oma mit Nachdruck.

 

Etwas enttäuscht sah ich durch das offene Fenster hinaus. Denn allzu gerne wäre ich in dieser Nacht schon nach Frankfurt geflogen und hätte durch die Fenster meiner Freunde geschaut.

 

›In drei, vier Wochen, Zerlina, wenn du etwas sicherer mit deinem Besen umgehen kannst, fliegen wir zu deinem Finn‹, versprach meine Großmutter. ›Es ist immerhin ein weiter Weg. Selbst, wenn wir fliegen.‹

 

Ich sah zu, wie Emma wieder ihre Brille mit den etwas stärkeren Gläsern absetzte und ihre Flugbrille aufsetze.

 

›So, und nun auf, auf, meine Gute. Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit. Der Knoblauch und der schwarze Pfeffer müssten mittlerweile schon durch deinen kleinen, zierlichen Körper bis zu deinem Gehirn gewandert sein. Denk an eine Situation in deinem Leben, in der du überglücklich warst!‹, erklärte sie, als sie schließlich meinte, ich sei zum Fliegen bereit.

 

Natürlich dachte ich in diesem Moment an die erste Begegnung mit Wolfram nach seinem eigentlichen Tode. Zugleich bemerkte ich, wie mein Besen sich von den Stühlen erhob und mit mir im Zimmer umherflog. Zum Glück fiel mir noch rechtzeitig ein, meinem Besen gedanklich zu befehlen, er möchte doch bitte zum Fenster hinausfliegen.

 

Die kalte Nachtluft wehte mir ins Gesicht und brachte meine Augen zum Tränen. Denn diesmal konnte ich meine Augen natürlich nicht schließen sowie ich es bei meinem ersten Flug mit Oma auf ihrem Besen getan hatte. Wie mithilfe einer leisen Stimme, die mir ins Ohr flüsterte, was ich denken sollte, lenkte ich meinen Besen sicher über die Münchener Hochhäuser hinweg. Es war ein großes Glück für mich, dass ich in der zwölften Etage wohnte, denn somit musste ich meine Flughöhe nur wenig verändern und konnte mich gut auf alles Andere konzentrieren. Nur ein einziges Mal kam ich etwas ins Trudeln und hing mit meinem Besen kopfüber in der Luft.

 

›Tja, das Fliegen verlangt strenge Konzentration!‹, schrie meine Lehrerin mir zu, als ich wieder mit dem Kopf nach oben durch die Nacht flog.

 

Nach fast zwei Stunden Übungsflug sicher, aber völlig durchgefroren in meinem Bett liegend, überkam mich ein erhabenes und stolzes Gefühl sowie ich es noch nie erlebt hatte.

 

›Das hast du klasse gemacht!‹, lobte mich plötzlich eine Stimme. Erschrocken hob ich meinen Kopf vom Kopfkissen und lauschte ins duunkle Zimmer hinein. Denn ich wusste absolut nicht, woher diese Stimme kam und wem sie gehörte.

 

›Oma?‹, fragte ich mit unsicherer und leiser Stimme.

 

›So ein Quatsch, Zerlina‹, vernahm ich auf einmal die Stimme meines Mausmannes. ›Du weißt doch, dass Emma schon wieder zu ihrem Grab unterwegs ist. Es war die Stimme von Wolfram, die dich gelobt hat. Er war es übrigens auch, der dir bei deinem ersten Flugversuch die Dinge, an die du denken solltest, ins Ohr flüsterte.‹

 

›Aha‹, gab ich urplötzlich vollkommen matt von mir und fiel Sekunden später schon in einen tiefen, festen Schlaf, ohne noch weiter über Moritz Information nachzudenken.

 

In den nächsten Tagen und Wochen unternahm ich mit Großmutter zusammen noch zahlreiche Nachtflüge. Dabei gelang es mir erstaunlicherweise recht gut, meinen Besen so zu fliegen, wie ich es tatsächlich wollte und musste. Und schon bald konnte ich mich für einige Augenblicke aus Großmutters Beobachtungsfeld bewegen. Jedes Mal, wenn ich auf dem Besen saß, hatte ich das Gefühl, als ob ich mit ihm verschmelzte. Ja, ich hatte das Gefühl, als sei mein 94/5er während meiner Flüge durch die Nacht ein Teil meines Körpers. Und auch bei diesen Flügen spürte ich, dass Wolfram immerr ganz nah' bei mir war und seine schützende Hand über mich hielt.

Dann kam endlich die Nacht, in der Emma mir mitteilte, ich würde meinen Besen nun so sicher lenken, dass wir nach Frankfurt fliegen konnten. Freudig erregt trank ich diesmal meine so genannte gepfefferte Knoblauchmilch bis auf den letzten Tropfen aus, ohne dabei viel würgen und husten zu müssen. Dann ließ ich mir von meiner Großmutter schnell beim Ankleiden helfen.

Ich konnte es kaum erwarten, bis die Knoblauchmilch mit dem schwarzen Pfeffer ihre Wirkung tat und wir endlich losfliegen konnten. Zuerst wusste ich nicht so recht, in welche Richtung ich fliegen musste. Doch zum Glück schien meine Großmutter zu wissen, wo es nach Frankfurt ging. Gute anderthalb Stunden flogen wir, ehe ich die ersten Lichter der Stadt sah, in der ich so lange Zeit zu Hause war. Ein leichtes Kribbeln zeigte mir an, an welcher Stelle meines Körpers sich mein Magen befand. Vom Flugwind etwas außer Atem erkundigte Emma sich, ob ich die genaue Richtung zu den Häusern meiner engsten Freundinnen kenne. Eifrig nickte ich. Aber im nächsten Moment wurde mir bewusst, dass die Stadt etwas anders aussah, wenn man sich auf der Erde befand.Trotzdem gelang es mir, meine Großmutter zielsicher zu den Häusern von zwei meiner engsten Freundinnen zu führen. Mit vor Freude glühenden Wangen schaute ich durch ihr Schlafzimmerfenster. Da lagen sie in ihre warmen Bettdecken eingewickelt.

Zum Glück hatte ich in den vergangenen drei Wochen gelernt, meinen Besen einige Minuten lang auf einem Fleck stehend schweben zu lassen, sodass ich in aller Ruhe durch die Fenster im zweiten und fünften Stock schauen konnte.

 

›Komm', Zerlina, wir müssen zurück. Es wird bald Tag.‹, sprach Großmutter leise und legte mir ihre zittrige Hand auf die rechte Schulter.

 

Schweigend, aber glücklich wandte ich mein Gesicht von der Fensterscheibe ab und nickte. Eines Nachts im Januar des Jahres zweitausendunddrei erklärte meine Großmutter mir dann, ich sei nun so weit, dass ich mit meiner Lebensaufgabe beginnen könne. Sie fragte mich, ob ich mit den Religionen der einzelnen Länder und Kulturen vertraut sei. Ich erklärte, dass ich etwas über Christen, Juden und Moslems wisse. Die Religion der Juden sei laut der Menschen die älteste der Welt. Allerdings waren die Naturreligionen natürlich viel, viel älter. Doch über die hörte man leider nicht so häufig etwas. Zumindest lernt man in der Schule nicht gerade viel über sie. Mir war lediglich bekannt, dass es in den Naturreligionen ziemlich viele verschiedene Götter gab. Und diese Götter tauchten mitten zwischen den Menschen in Form von seltenen Baumarten oder besonderen Steinen auf. Nur leider war meine Schulbildung nicht gerade die Allerbeste. Und dafür schämte ich mich auch wirklich zutiefst! Aus diesem Grunde wusste ich nur wenig über die Naturreligion.

"Die Juden werden seit ewigen Zeiten verfolgt, gehasst, gequält und gefoltert. Denn von den anderen Religionen wird angenommen, in denen man an Jesus Christus glaubt, sie seien das erwählte Volk, das mit dem Ewigen ein Bündnis geschlossen hat. Dabei weiß ich nicht, ob die Juden selber auch überzeugt sind, das auserwählte Volk zu sein und ob sie stolz darauf sind Aber der Meinung der Menschen nach, die an Jesus Christus glauben, hatten sie ihn zudem noch umgebracht."

 

›Das war für den Anfang gar nicht mal so schlecht‹, lobte Emma mich. ›Und über welche Religion weißt du noch etwas?‹

 

›Hm, ein wenig über den Buddhismus‹, antwortete ich. ›Buddha war der Sohn eines indischen Königs und wuchs der Geschichte nach in einem kleinen Kästchen bis zu einem gewissen Grad in der Gestalt eines kleinen, weißen Elefanten heran. Dieses Kästchen war mit wertvollen Steinen besetzt. Er ging nach einiger Zeit in die rechte Seite seiner Mutter ein, aus der er auch geboren wurde. Bei seiner Geburt verkündete er lautstark, er sei das Beste und der Älteste der Welt und dass dieses Leben sein Allerletztes sei, in das er soeben hineingeboren wurde. Nach diesem Leben würde er in die ewige Erlösung gehen. Als er später einmal das Schloss, in dem er aufwuchs, verließ, begegnete er auf den Straßen der Stadt vier unterschiedlichen Gestalten. Nämlich: einem Alten, einem Kranken, einem Toten und einem lustigen Mönch. Aus diesen vier Gestalten begründete Buddha seine Religion. Seiner Ansicht nach war alles im Leben eines Lebewesens Leiden, weil alles vergeht. Und bis zum heutigen Tag diskutieren die Gläubigen, ob Buddha ein normaler Mensch und Gelehrter, der den Buddhismus schlichtweg erfand, oder ein Gott war. Was er allerdings mit den Mittelweg finden meint, will mir nicht ganz klar werden. Ich kann mir aber vorstellen, dass man in seinem Leben alles in einem gewissen Maße tun muss und nichts übertreiben sollte, um es bei seiner Wiedergeburt angenehm zu haben. Ich persönlich glaube ja auch, dass man niemals komplett verschwindet und in die ewige Erlösung geht, sondern man in Abständen von Millionen von Jahren immer wieder geboren wird und auf irgendeinem Planeten landet. Und weil das Leben eines Lebewesens bis ins kleinste Detail vorgeschrieben ist, wird das Leben an sich nie langweilig. Das Leben verläuft logischerweise immer anders. Außerdem kann man sich an sein voriges Leben kaum mehr zurückerinnern, sodass einem alles erst mal neu und aufregend erscheint. Und jeder wird für seine „Sünden“ in seinem nächsten Leben „bestraft“. Auch hat Buddha mit seiner Theorie schon recht, dass alles im Leben Leiden ist. Denn das Schöne vergeht, ganz genau wie das Schreckliche. Allerdings sind die unschönen oder die schrecklichen Dinge im Leben ebenso wichtig wie die Schönen.‹

 

›Ja, das stimmt. Selbst, wenn es sich ein bisschen erschreckend und vielleicht etwas sinnlos anhört. Denn niemand möchte ja traurig oder gar verzweifelt sein. Jedoch wachsen die Lebewesen an den unschönen Dingen des Lebens und werden stärker. Meistens jedenfalls!‹, sagte Emma nach wenigen Augenblicken nachdenklich. “›Und du meinst auch, das alles, was wir in unserem jetzigen Leben an Leid, Freude und aus unserem Blödsinnmachen erfahren, im nächsten Leben genau ins Gegenteil gewendet wird?‹

 

›Ja, so ungefähr‹, entgegnete ich und kraulte Momo am Hals, die laut schnurrend auf dem Rücken neben mir auf dem Bett lag.

Und wieder fiel mir auf, dass das ganze Leben nur mit Drohungen und Strafen durchzogen war, mit denen versucht wurde, aus jedem einen Vorzeigemenschen zu machen. Vielleicht war es gerade dies, woran der Mensch zerbrach und aus ihm einen so genannten Rowdy machte. Wahrscheinlich konnte er diesem Druck einfach keinen Widerstand leisten. Ich fragte mich, ob der Druck, der zum Beispiel von jeder Religion ausging, uns nicht eher schadete als half. Auch war es fraglich, ob der Mensch von seinem Glauben zu den guten Taten nur gezwungen wurde. Ja, es war schon richtig, dass es im Grunde genommen egal war, durch welche Lebensphilosophie der Mensch zu einem angenehmen Wesen gemacht wurde. Denn die Hauptsache war, dass er für die Anderen eine kleine Bereicherung wurde. Dennoch fragte ich mich, ob die Kirche und der Glaube aus einem nicht eine oberflächliche Person machte, die zwar im Idealfall tausend gute Dinge tat, die aber nicht vollständig aus dem eigenen Herzen kamen. Machte der Glaube jeden nicht nur oberflächlich?

Nun, wie oberflächlich und auch grausam Menschen mit Glauben an einen Gott sein konnten, musste ich als Kundin eines streng christlichen Pflegedienstes erfahren. Denn da ich mit dem Pflegedienst, bei dem ich in München zuallererst Kundin war, nach einiger Zeit einige Probleme bekam, wechselte ich zu einem anderen Pflegedienst. Dieser Pflegedienst war streng dem christlichen Glauben zugetan. Dies bedeutete, dass beinahe jeder Mitarbeiter chris6tlich war. Einschließlich meiner Assistenten, die mich bei diesem Pflegedienst ebenfalls vierundzwanzig Stunden täglich in meinem Alltag tatkräftig unterstützten. Und auch, wenn Bayern im Allgemeinen ziemlich gläubig war, so war meine Familie es nicht. Von daher hatte ich also nicht allzu häufig mit gläubigen Menschen engen Kontakt. Zu Beginn begegnete man mir bei diesem christlichen Pflegedienst äußerst freundlich und hilfsbereit. Doch nach etwa vier Monaten bekam ich die wahre Art dieser gläubigen Menschen deutlich zu spüren. Am deutlichsten bekam ich die wahre, ehrliche Art der Christen bei meinem farbigen, noch sehr jungen Assistenten zu spüren. Dieser junge Mann war halb Afrikaner und halb Deutscher. Er war der Sohn eines afrikanischen, christlichen Pastors. Allerdings benahm er keineswegs so! Er behandelte mich mitunter im wahrsten Sinnes des Wortes wie ein Stück Dreck. Wenn er mir beim An- und Auskleiden behilflich sein musste, riss er manches Mal so kräftig an mir herum, dass mir meine Arme und Beine wehtaten. Auch war es unglaublich anstrengend und schwierig für mich, ihn um Erledigungen zu bitten, bei denen ich vollständige Unterstützung benötigte. Denn alles, was der "gute" Junge bei mir tun wollte, war, seine komplette Schicht in meinem Schlafzimmer vor dem Fernseher zu sitzen und sein Geld bei dieser Tätigkeit zu verdienen. Auch meine kleine, süße Momo quälte er aufs Äußerste. Aber er war angeblich sooo gläubig, fromm, gut und rein. Jeden Sonntag ging er in die Kirche und betete. Ich könnte mich jetzt noch im vollsten Strahl übergeben, wenn ich daran zurückdenke! Aber

höchstwahrscheinlich machte ihn der Gedanke, dass dieser so genannte "Gott" jeden seiner Handgriffe und Taten genauestens überwachte und sah, einfach nervös, sodass er bis in die kleinste Ecke seines Körpers aggressiv wurde. Denn dieser Gedanke hätte mich ebenfalls wahnsinnig gemacht und zu einem aggressiven Menschen werden lassen.

Allerdings weiß man vom Hören und Sagen, dass zum Beispiel die Christen in den Himmel kommen, sobald sie als Säuglinge oder Kleinkinder getauft sind. Und dabei ist es dann vollkommen egal, wie sie sich zu Lebzeiten auf Erden benahmen. Der Taufschein war sozusagen der "Freifahrtschein" direkt ins göttliche Paradies. Somit hätte es meinem farbigen Assistenten höchstwahrscheinlich gar nicht viel ausgemacht, wenn er vom Pflegedienst aus gekündigt worden wäre. Denn da er vermutlich getauft war, hatte er die absolute Gewissheit, nach seinem Lebensende zu Jesus zu kommen. Egal, wie er sich zu Lebzeiten benommen hat. Dennoch ängstigen sich viele Menschen vor der Strafe Gottes und taten aus lauter Furcht eine dumme oder grausame Tat nach der Anderen. Dabei realisierten diese Menschen scheinbar keinesfalls, dass ihr Gott durch die Geburt seines Sohnes selber menschlich geworden und somit nicht mehr allmächtig, durch und durch gut und vollkommen rein beziehungsweise fehlerlos war. Mit seinem Menschwerden hatte Gott den Menschen gezeigt, dass sie keineswegs perfekt sein müssen und durchaus Fehler machen dürfen, ohne nach ihrem Ableben gleich in die Hölle zu kommen. Aber scheinbar fürchteten sich die Menschen vor "ihrem Vater" und seinen womöglichen Strafen trotz alledem so sehr, dass sie geradezu wie Espenlaub vor ihm zitterten.

 

"Nun, das sind halt wir Menschen. Wir sind eben ein bisschen naiv.“, dachte mein Mann laut, während ich beim Erzählen eine kleine Pause machte, um einen Schluck Tee zu trinken. "Aber überhaupt ist man mit dir bei diesem christlichen Pflegedienst äußerst merkwürdig umgegangen. Denn du hast mir mal erzählt, wie du erbittert darum kämpfen musstest, in deinem eigenen Leben und in deiner eigenen Wohnung für ernst genommen zu werden und das zu tun, was du wolltest. Und das, obwohl der Pflegedienst doch ganz genau erkennen konnte, dass du in deinem Leben alles ziemlich gut im Griff hatest. Dir traute man noch nicht einmal zu, recht genau zu wissen, wann du ausreichend Nahrung und Flüssigkeit zu dir genommen hattest. Und dabei hattest du längst das dreißigste Lebensjahr erreicht und warst demnach der Jugendlichkeit schon etliche Jahre entwachsen. Aus diesem Grunde fühltest du dich immer wie ein kleines, dummes Mädchen, das keinesfalls in der Lage war, sich weitgehend selbständig durchs Leben zu bringen.Und deine eine persönliche Assistentin wollte sogar deine gesetzliche Betreuerin werden. Dabei konntest du jedoch gut erkennen, dass sie mit ihrem eigenen Leben mächtig überfordert war.

Allerdings muss wohl jeder Mensch, der im Rollstuhl sitzt und nicht deutlich genug sprechen kann, ganz, ganz hart darum kämpfen, von seinen nicht behinderten Mitmenschen hundertprozentig für ernst genommen zu werden.

Und dann war da noch deine eine Assistentin, bei der du immer so ein bisschen das Gefühl hattest, sie würde dir nichts gönnen, nicht wahr?", erkundigte sich Jonas mit sehr ernster Miene bei mir.

 

Meine Hände über den Bauch überkreuzt und gedankenverloren schaute ich durchs Fenster in unseren Garten und nickte.

"Ja, ich glaube, diese gute Frau gönnte mir nicht wirklich etwas Gutes in meinem Leben. Nun ja, wenn man an die Bibel glaubt, ist man der Ansicht, der gehandicapte Mensch müsse bis in die kleinste Faser seines Körpers tiefste Dankbarkeit empfinden und zeigen, überhaupt leben zu dürfen. Demnach ist es von einem Menschen, der eine Behinderung hat, also höchst empörend und unverschämt, wenn er an das Leben und seine Mitmenschen irgendwelche Ansprüche stellt und ein ganz normales Leben führen möchte.

Und dabei hat diese Assistentin so freundlich und unschuldig ausgesehen. Nun gut, die Klügste von der Welt war sie nicht gerade. Eher gesagt war sie ziemlich einfältig. Aber trotz alledem hatte sie etwas ganz Süßes, Liebes und Zerbrechliches an sich. Denn sie war von ihrer Körpergröße her auch recht klein und zierlich. Sie war bestimmt nicht größer als einen Meter fünfundfünfzig. Also ungefähr sieben Zentimeter kleiner als ich. Ja, alles an ihr war klein und zierlich. Ihr Gesicht, ihre Hände und so weiter. Und dann ihre piepsige Stimme, über die sich die meisten Leute immer köstlich amüsiert haben. Dabei empfand ich persönlich ihre Stimme gar nicht als so sehr piepsig. Sie hatte aber ein äußerst deutlich sprechendes Gesicht und ebenso deutlich sprechende Augen. Und aus ihrem Gesicht und ihren Augen konnte ich klar und deutlich erkennen, wenn sie etwas Gesagtes ehrlich meinte oder nicht. Auf der anderen Seite jedoch hat sie mich ständig bemitleidet, dass ich so stark körperbehindert bin und im Rollstuhl sitze. Wie auch meine ganzen anderen Assistenten. Das hat alles nicht ganz zusammengepasst.

 

"Nun, vielleicht musste deine Assistentin als gute, strenggläubige Christen das tun. Dich wegen deiner starken Körperbehinderung bemitleiden und dich "wohlbehüten", meine ich. Damit sie vor ihrem Gott als ein guter Mensch dasteht und eine weitere Chance hat, ins Paradies zu kommen. Zudem halten manche Menschen es für durchaus möglich, dass Behinderungen sowie einige Krankheiten vom Teufel kommen. Also teuflisch sind! Und dieses wird nicht nur in Afrika oder sonst wo geglaubt.", warf Jonas nun überlegend und zugleich ein wenig sarkastisch in meine Erzählung ein. „Oder aber sie mochte dich aus dem Grunde nicht so gerne, weil du nun einmal ein ziemlich schwieriges Leben hast. Also dein Leben erschien zumindest ihr so schwierig und anstrengend. Nun, und aus den christlichen Geschichten weiß man, dass Gott nur diejenigen während ihres Lebens so hart bestraft, die er am liebsten hat. Somit musste deine strenggläubige, persönliche Assistentin also davon ausgehen, dass Gott dich um einiges lieber hat als sie und du später im Paradies einen sehr viel besseren Platz bekommst.

 

"Ja, das kann gut möglich sein, dass es der reine Neid war, der an ihr nagte!“, schmunzelte ich sarkastisch und ließ meinen Kopf zurück an Jonas weiche Bettdecke sinken. „Denn auch meine anderen gläubigen Assistenten konnten oder wollten es mir allesamt nicht glauben, dass ich mit meinem Leben als stark körperbehinderte Frau durchaus glücklich und zufrieden war und bin. Dabei bin ich, wie meine Freundin Luisa es damals während unserer Schulzeit hundertprozentig richtig und genau formuliert hat, mit meinem Rollstuhl so sehr verwachsen, dass er wie ein lebendes Bein oder ein lebendiger Arm von mir ist. Und es würde wirklich alles in mir zusammenbrechen, wenn ich urplötzlich nicht mehr die stark körperbehinderte Frau im Rollstuhl wäre, die ich mein ganzes Leben lang war. Ich wüsste nicht, wie ich mich in meinem nicht behinderten Leben zurechtfinden sollte. Dieses hast du vorhin ja auch schon ganz richtig gesagt. Klar, meine strenggläubigen Assistenten waren allesamt neidisch auf mich!!! Dabei bin ich gar nicht getauft und bekomme aus diesem Grunde keinen Platz im himmlischen Paradies.“, kicherte ich. „In dieser Situation ist mir auch zum allerersten Mal ganz bewusst aufgefallen, dass uns die Probleme und Schwierigkeiten, die wir Menschen mit geistiger- und körperlicher Behinderung angeblich mit uns und unserer Umgebung haben, ausschließlich von unseren nicht behinderten Mitmenschen eingeredet werden. Wenn man uns wegen unserer Behinderung nicht ständig bemitleiden und wie ein rohes Ei behandeln würde, würde es unter den Menschen selber keine so deutlichen und großen Unterschiede geben, und wir könnten näher zusammenrücken. Klar, manche Menschen mit einem Handicap bemitleidete auch ich. Aber an manchen Dingen kann man nun einmal nichts ändern. Selbst mit dem größten Mitleid nicht!

Und immer, wenn mein farbiger, junger Assistent mich so sehr quälte, dass ich nur weinen konnte, musste ich an dich denken. Denn du mit deiner entspannten, ruhigen und bescheidenen Art tatest jedem Menschen nur gut. Ganz egal, ob er männlich oder weiblich war. Du bist in der Tat das reinste Balsam für geschundene Seelen! Komischerweise sehnte ich mich in diesen Augenblicken, in denen mein farbiger Assistent mich so schlimm behandelte, nicht so sehr nach Finn, obwohl er mir wesentlich näher stand als du. Aber in all den Jahren, in denen Finn und ich ein Paar waren, fühlte ich mich nie richtig beschützt von ihm. Und dabei war er vom Körperlichen her groß und kräftig gebaut. Auch schaffte er es, dass mein junger Assistent später mein Assistenzteam tatsächlich verlassen musste.“

Vollkommen müde geworden von der Erinnerung an meinen jungen, aus Afrika stammenden Ex-Assistenten und meinen ehemaligen Pflegedienst ließ ich mich von Jonas noch einmal zur Toilette begleiten.

 

Nun, und obwohl diese Zeit recht grausam für mich war, die ich bei diesem christlichen Pflegedienst als Kundin verbrachte, so war ich dennoch überaus glücklich und zufrieden, sie durchlebt zu haben. Denn jedes Geschehen im Leben hat nun mal seinen festen Grund! Man kann und darf nicht nur die „sonnigen Zeiten“ genießen, sondern man muss auch die Schattenseiten“ des Lebens durchleben. Aber das ist eine etwas andere Geschichte...

Nein, die Christen konnte und kann ich wirklich keineswegs ernst nehmen. Auch erschreckten mich die ganzen Opferrituale der Christen aufs Äußerste. So zum Beispiel war ein Vater in der biblischen Geschichte bereit gewesen, seinen eigenen Sohn für seinen Gott zu töten. Aus diesem Grunde fragte ich mich also immer wieder, was dies für Menschen waren. Und mich schockierte es zutiefst, dass sie tatsächlich meinten, durch und durch gute und reine Menschen zu sein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

IX

 

Zum Glück hatte ich mich hier in den Niederlanden dazu entschlossen, keine Kundin eines Pflegedienstes zu werden, sondern das Geld von der Krankenkasse direkt auf mein Konto überweisen zu lassen, um mir meine eigenen Pflegekräfte suchen zu können. Und dies gefiel mir außerordentlich gut!

 

Ein wenig frischer und munterer erzählte ich meine Lebensgeschichte nach der kleinen Unterbrechung entspannt weiter.

 

›Empfindest du dein Leben eigentlich als Strafe?‹, erkundigte sich Oma an diesem Abend, an dem wir uns über die verschiedensten Religionen unterhielten, plötzlich bei mir und riss mich aus meinen Überlegungen heraus, ob der strenge, intensive Glaube an einen Gott die Menschen oberflächlich machte.

 

›Nein, keinesfalls!‹, antwortete ich prompt. ›Ich liebe mein Leben bis ins kleinste Detail. Ich bin jeden Tag wieder aufs Neue dankbar, dass ich lebe und auf dieser Erde sein darf. Nur manchmal macht es mich schon traurig, von meinen Schwestern sowenig geliebt zu werden. Von ihnen bekomme ich nämlich immer noch deutlich den Neid zu spüren, als kleines Kind alles bekommen zu haben. Dabei waren unsere Eltern damals nur etwas überfordert und wollten mir, als stark körperbehinderten Menschen, alles erdenklich Gute zukommen lassen. Jedoch lastet die Eifersucht meiner vier Schwestern bis zum heutigen Tage unsagbar schwer auf meiner Seele und stimmt mich in einigen Augenblicken unnsabar traurig. Denn ich wollte ihnen wirklich nie irgendetwas wegnehmen! Und trotz der Gewissheit, dass sie nicht meine leibliche Familie sind, werde ich unter der Eifersucht meiner Schwestern wohl immer leiden. Als ich vor längerer Zeit vom Buddhismus erfuhr, fragte ich mich, ob ich vielleicht in meinem vorherigen Leben meiner Familie ebenso wenig Zuneigung entgegengebracht habe, sodass ich in meinem jetzigen Leben dieses unschöne Gefühl am eigenen Leibe spüren muss. Wahrscheinlich ist auch aus diesem Grunde gerade Wolframs Familie für mich ausgesucht worden. Wenn ich allerdings sehe, was für schreckliche Schicksale andere Menschen haben, schäme ich mich über meine eigene Unzufriedenheit und Trauer und muss mich dazu anhalten, mit meinem doch glimpflichen Schicksal zufrieden zu sein. Nun, ich sollte wirklich über jedes, einzelne Glas Wasser dankbar sein, das ich trinken darf. Nein, ich habe wahrlich ein wunderschönes Leben!“

 

Als ich äußerte, das Gefühl zu haben, von Wolframs Familie nicht richtig geliebt zu werden, blickte Emma mich zwar etwas seltsam von der Seite an, aber sagen tat sie nichts.

 

„Nun, wenn ich in den Nachrichten denn außerdem höre, wie sich manche Menschen wegen ihrer Religion, ihrer Hautfarbe oder ihrer Unterschiedlichkeit die Köpfe einschlagen und sich gegenseitig umbringen, kommen mir Zweifel, ob die Menschen überhaupt etwas empfinden oder gar mitfühlen können.‹, plauderte ich weiter.

 

„Tja, überall gibt es Auseinandersetzungen und Kriege, wo Lebewesen eng beieinander wohnen, die sich bewusst sind, entweder in der Mehrzahl oder klüger zu sein als die Anderen. Wir Hexen und Zauberern tyrannisieren und terrorisieren uns ganz genauso wie die Menschen hier auf dem Planeten Erde. Und dabei können wir doch auch denken.‹, flüsterte Emma betrübt und schaute mich niedergeschlagen an.

 

›Ja, ja, ich weiß, unser ganzes Verhalten stammt noch aus der Urzeit. Egal, auf welchem bewohnten Planeten man auch ist. Denn alles hat seinen Anfang und seine Vorgeschichte‹, seufzte ich ebenfalls etwas betrübt.

 

"Das ist wohl wahr‹, stimmte Emma mir mit Nachdruck zu und legte ihren Arm um meine Schulter. ›Sag' mal, in welches Land dieser Erde würdest du am liebsten reisen, um dort etwas zu verändern?‹, wechselte Großmutter plötzlich abrupt das Thema und ließ keine Frage zu meinem soeben angeschnittenen Thema mehr zu.

 

›Oh, da gibt es viele Länder und Kontinente, auf denen man dringend etwas tun müsste.‹, gab ich bereitwillig zur Antwort und rückte auf meiner Matratze wieder weiter zurück. ›So wie im Sudan in Afrika zum Beispiel. Denn dort werden immer noch Menschen, die einem Naturstamm angehören, einen helleren oder dunkleren Farbton als die übliche Bevölkerung haben und ihr Leben anders leben, von den Arabern überfallen und als Sklaven gehalten und verkauft. Die Araber möchten das Land allein besitzen. Erst kürzlich habe ich die Autobiografie von Mende Nazer gelesen und war schockiert. Diese junge Frau, die dem Stamm der Nuba angehört, ist mit zwölf Jahren von den Milizen des Landes entführt und einem Sklavenhändler ausgehändigt worden, der in London lebte.Wirklich, Oma, das musst du dir mal vorstellen. In England wird Sklaverei betrieben‹

 

› Ja, ich weiß. Und du meinst, daran sollte man als Allererstes etwas ändern?‹

 

›Na, es gibt so Vieles, das man auf diesem Planeten dringend ändern müsste. Aber als Allererstes sollte man versuchen, die Angst und das Umformen aus den Menschen herauszubekommen. Denn ich glaube, das ist es, was hier das Negative hineinbringt. Und wer sich vor irgendetwas fürchtet, ist in seinem Tun und in seinem Denken stark eingeschränkt. Man ist nicht mehr man selbst. Vielleicht kommen daher die große Verzweiflung sowie die große Wut und der große Hass. Die Menschen zerbrechen unter dem großen Druck und unter der großen Angst und werden im wahrsten Sinne des Wortes zu Ungeheuern. Die Gewalttaten und Kriege sind doch nichts Weiter als ein einziger Verzweiflungsakt der völlig Verängstigten, die dem Ganzen entrinnen möchten. Bei den unnützen, grausigen und traurigen Religionskriegen kann man es ja deutlich sehen.‹, versuchte ich Emma zu erklären. „Vielleicht sollten sich alle Menschen endlich eingestehen, dass sie unter dem blauen Himmel alle gleich sind und dasselbe Wissen von Gott, den Religionen, das Leben und den Tod haben. Vor allen Dingen sollte den strenggläubigen Menschen bewusst gemacht werden, dass man für seinen Gott auf keinen Fall töten soll oder muss. Weder einen Menschen noch ein Tier! Denn dann würde es unter den Lebewesen nicht so viel Elend, Wut, Neid, Missgunst, Missverständnisse und Kränkungen geben. Könnten die Bewohner der einzelnen belebten Planeten nicht sehr viel besser miteinander zurechtkommen, wenn alle sich eingestehen, eine gewisse Furcht vor dem Ungewissen zu verspüren? Denn niemand weiß genau, wo alles einmal endet und ob es irgendwann wieder einen Anfang gibt. Und vielleicht kehrt dann auch die unverdorbene, naive Fröhlichkeit zurück.‹

Aber als ich Großmutters hilflosen Gesichtsausdruck sah, sagte ich schnell: ›Doch zumBeispiel sollte man den Leuten vermitteln, dass Diktatoren absolut nicht gut für ihr freies und ungezwunges Leben sind. Ich meine, soviel weiß ich über die Diktatoren und ihr Tun nicht. Trotzdem weiß ich, dass sie alle in einen Wahn gerieten und geraten. Wie zum Beispiel Adolf Hitler oder Mao Zidong und ihre Anhänger. Solche Menschen müsste man auf die bessere Seite bringen. Und es erschreckt mich, wie viel Aggression in diesen Menschen steckt, welche sie auf Kosten Anderer freien Lauf lassen. Und beinahe immer sind es die grenzenlose Trauer und die grenzenlose Unzufriedenheit der Einzelnen, die zum Krieg führen. Dennoch steckt in uns allen leider eine gewisse „natürliche“ Freude am Kriegführen und am Töten, die wir von unseren tierischen Vorfahren erbten. Aber überwiegend möchten wir dadurch nur unseren eigenen Frust und unsere eigene Trauer verringern. Wir Menschen sind im Grunde genommen einfach nur vollkommen einsam und wollen die Aufmerksamkeit des Anderen!“

 

›Das stimmt.“, gähnte Emma.

 

›Aber am liebsten würde ich tatsächlich als Erstes nach Afrika fliegen wollen‹, antwortete ich auf Emmas schon fast vergessene Frage nun endlich. „Zum Beispiel in den Sudan. Dort, wo Mende Nazar herkommt. Ich weiß auch nicht, warum, aber Afrika fasziniert mich‹, erklärte ich ein wenig nachdenklich.

(Nun, aber nachdem ich mich zwei Jahre lang von meinem Assistenten aus Ghana pflegen lassen musste, war mein Interesse an Afrika um ein Vielfaches gedämpft.)

›Na, wenn du so unbedingt nach Afrika möchtest, versuche ich dieses zu organisieren. Denn es ist nämlich sowieso vorgesehen, dass du auf einige Kontinente dieser Welt reist, um dort zu gucken, wie man helfend eingreifen kann. Aber als Erstes gehen wir etwas schlafen, okay? Denn wir haben uns so verquatscht, dass es schon bald Tag wird. Ich muss in mein Grab zurück.‹

 

›W-was soll ich tun???", erkundigte ich mich fassungslos und mit vor Aufregung hochrotem Gesicht bei Emma. "Oh, nein, nein, das kann ich ganz gewiss nicht. Ich bin bestimmt nicht dazu in der Lage, große Verbesserungsvorschläge für die einzelne Kontinente zu machen!", protestierte ich lauthals weiter.

 

"Nun beruhige dich erst mal und schlafe ein paar Nächte darüber, ja?", sprach Emma beruhigend auf mich ein und nahm mich für Sekunden fast liebevoll in den Arm. „Jetzt helfe ich dir richtig in dein Bett, in Ordnung?"

 

Bereitwillig und in grauen Gedanken versunken, ließ ich mich von meiner Großmutter bequem hinlegen. Doch plötzlich hielt ich in meinen Bewegungen abrupt inne und fragte höchst unerwartet und verwundert: ›Wieso siehst du eigentlich noch so komplett und menschlich aus? Denn du bist vor gut zehn Jahren doch verbrannt worden. Und wohin fliegst du tatsächlich, wenn du dich von mir verabschiedest, he? Du willst mir doch nicht allen Ernstes erzählen, dass du wieder zu Staub wirst, sobald du den Friedhof erreichst und vor deinem Grab stehst. Wohin gehen wir Hexen und Zauberer, wenn uns das Zeitliche segnet? Und von was ernährt ihr euch eigentlich?“

 

›Ach, Zerlina, frag' mir am frühen Morgen doch keine Löcher in den Bauch! Du wirst alles erfahren, wenn du hier auf Erden alles zufriedenstellend erledigt hast‹, antwortete Emma kurz. "Denn es würde für dich viel zu viel werden, wenn du jetzt schon alles von uns Hexen und Zauberern erfährst." Mit diesen Worten deckte Emma mich warm zu und verabschiedete sich.

Tage und Nächte lang konnte ich mit heftigen Bauchkribbeln nur daran denken, auf die verschiedene Kontinente reisen zu müssen, um dort zu gucken, was möglich war, um die Menschen einander näher rücken zu lassen. Immer wenn Oma des Abends kam, versuchte sie mich zu beruhigen und mir die Furcht vor dem Versagen zu nehmen. Aber auch, wenn ich ihr von meinen ganzen Ängsten erzählte, so blieb sie konsequent und ließ sich keineswegs überreden. Ich musste meine allererste Reise antreten. Und zwar auf den afrikanischen Kontinent und in den Sudan. Und die Mutter meines Vaters persönlich begleitete mich.

Schneller, als ich es je für möglich gehalten hatte, flog ich gemeinsam mit meiner Großmutter Emma in den Sudan. Nun, ich musste immer wieder bemerken, dass, wenn Oma sich etwas vorgenommen hatte, sie es dann auch so bald wie möglich in die Tat umsetzte. Mit wild vor Aufregung klopfendem Herzen hörte ich ihr zu, als sie mir von ihren Vorbereitungen erzählte.

 

›Nun, ich dachte mir, dass du bestimmt nicht lange auf diese Reise warten möchtest. Von daher werden wir in den nächsten vier Tagen aufbrechen‹, erklärte Emma mir an einem Abend, schon bald, nachdem ich ihr von meinem Wunsch erzählt hatte, einmal in den Sudan zu reisen, und sie mir offenbarte, zu den einzelnen Kontinenten reisen zu müssen. Ängstlich nickte ich.

 

"Und wie bekommen wir meinen Rollstuhl mit?", fragte ich verwirrt. "Denn den können wir ja schlecht hinten auf meinen Besen schnallen.“

 

"Ach, Du kleines Dümmerchen", neckte Oma mich lächelnd, "Wir zaubern dir im Sudan einfach einen Rollstuhl sowie wir uns auch unsere Anziehsachen herbeizaubern. Ich meine, der Rollstuhl, den du auf unserer Reise haben wirst, ist nicht so komfortabel wie deiner hier. Denn dazu müsste ich mir jedes einzelnen Teil genau einprägen. Und dafür habe ic keine Zeit mehr. Denn, wenn man nicht mehr richtig lebendig ist, braucht man doch eine ganze Zeit, um etwas auswendig zu lernen. Na ja, und Wolfram habe ich von unserer Reise noch nicht so direkt etwas gesagt. Denn er macht sich sonst so viele Sorgen um dich. Einige Stunden vor unserem Abflug werde ich ihm aber dann von unserer Reise in den Sudan erzählen,, damit er sich nicht fragt, wo ich solange abgeblieben bin und sich womöglich noch auf die Suche nach mir macht.", plauderte Emma munter.

 

Und so machten Emma und ich uns Mitte Mai des Jahres zweitausendunddrei auf den Weg in den Sudan.

 

Vor meinem Besenflug nach Afrika war ich unendlich nervös. Denn ich konnte mir rein gar nicht vorstellen, was mich während dieses Fluges erwartete.

Hinzu kam, dass ich meinen persönlichen Assistenten, erklären musste, aus welchem Grunde ich für circa einen Monat nicht zu Hause sein würde. Tagelang grübelte ich darüber nach, welche Geschichte ich erzählen konnte. Denn wenn ich ihnen erzählt hätte, dass ich für vier Wochen zu meiner Mutter oder meinen Schwestern fahre, hätten sie es früher oder später herausbekommen, dass es nicht stimmte. Ich besuchte meine Familie nur relativ selten und blieb dort nicht länger als einen Nachmittag. Doch wie durch ein Wunder lernte ich bei einem Englischkurs eine kleine Hexe kennen. Mit dieser kleinen und sympathischen Hexe, deren Haare ihr ständig struppig vom Kopf abstanden, freundete ich mich schnell an. Lustigerweise hatte auch sie die Lebensaufgabe, auf diesen Planeten etwas mehr menschliche Wärme zu bringen. Als ich ihr von meiner Reise in den Sudan und meiner Not erzählte, eine glaubhafte Geschichte für mein ziemlich langes Fernbleiben von zu Hause erfinden zu müssen, lud sie mich kurzerhand und offiziell einen Monat lang zu sich ein. Erleichtert, doch noch eine relativ glaubwürdige Geschichte erzählen zu können, konnte ich nun beruhigt mit Emma aufbrechen. Zum Glück hatte diese kleine Hexe mit Namen Ellie nur ein verkürztes Bein, sodass sie mich ohne größere Schwierigkeiten hätte versorgen können. Und auch, wenn Ellie nicht mich versorgte, so versorgte sie einen Monat lang doch gewissenhaft meine drei Tiere in meiner Wohnung, die sie angeblich ebenfalls mit zu sich einlud.

 

Zwar war es ein wunderschöner Kontinent mit wunderwunderschönen Ländern. Aber da meine Großmutter mich nur in die ärmeren Teile des Sudans führte, waren es doch keine so schöne vier Wochen für mich. Denn ich sah viele arme und extrem stark hungernde Menschen. Immer wieder schämte ich mich dafür, dass ich an einigen Tagen mit irgendeiner Situation unzufrieden war, mit der ich eigentlich hätte vollkommen zufrieden sein können.

Aus diesem Land kam also Mende, die Buchautorin. Neugierig schaute ich mich um. Überall erblickte ich lachende, freundliche Gesichter. An fast jeder Hütte wurden jedem Fremden etwas zu trinken oder zu essen angeboten. Großmutter erklärte mir, dass ein Fremder hier immer herzlich willkommen sei und reichlich bewirtet wurde. Dabei dachten die Menschen nicht daran, dass am Ende des Tages schon wieder der Hunger vor der Tür stehen könnte. Alles Essbare wurde geteilt. Ganz egal, was danach geschehen mochte. Auch wohnten wir in einem Haus einer sudanesischen Familie, die natürlich ebenfalls vom Planeten der Hexen und Zauberer kamen. Emma hatte vor unserer Reise Kontakt zu diesen Leuten aufgenommen. Dieses Haus der gastfreundlichen Familie war teils aus Lehm, teils aus Holz gebaut. Es war zum Glück komplett ebenerdig, stand aber an einem recht steilen Hang. Am Fuße dieses Hanges floss ein Fluss mit wenig Wasser. Weiter oben und hinter dem Haus erhob sich ein recht dichter Wald, der während der heißesten Tageszeit wenigstens etwas kühlen Schatten spendete. Die Einrichtung des Hauses war spärlich, aber gemütlich. Alle Möbelstücke waren aus Holz selbst gezimmert. Da die Zimmer recht klein waren, war es schwierig, mit meinem gezauberten Rollstuhl zurechtzukommen. Aber es war ein Glück, dass in den einzelnen Zimmern nur wenige Möbel standen.

 

"Ja, die Enkelin unserer Nachbarn sitzt ebenfalls im Rollstuhl", erklärte uns unser Gastgeber und Herr des Hauses in sehr gebrochenem Deutsch, "dadurch ist ihr Haus etwas geräumiger als Unseres. Aber weil dort eben schon jemand im Rollstuhl wohnt, wäre es recht eng geworden. Aus diesem Grunde haben wir denn beschlossen, dass ihr für diesen Monat bei uns wohnt. Auch sind unsere Nachbarn Bewohner des blauen Planeten.“, zwinkerte uns unser Gastgeber lächelnd zu. Dankbar erklärten Großmutter und ich unserer Gastfamilie, dass alles in bester Ordnung sei.

Nur in den Nächten wusste ich nach einigen Stunden nicht mehr, wie ich mich hinlegen sollte. Denn im schon sehr durchgelegenen Gästebett tat mir mein Rücken so weh, dass mir manchmal Tränen in die Augen traten. Aber ich mochte diese Familie nicht vor den Kopf stoßen und in ein Hotel gehen. Und da Emma mir einen nicht sehr bequemen Rollstuhl herbeigezaubert hatte, wurden meine Rückenschmerzen von Tag zu Tag schlimmer. Zum Glück tat Emma sich trotz ihrer eigentlich nicht mehr Lebendigkeit mit meiner körperlichen Pflege nicht allzu schwer, sodass ich dabei kaum weitere Schmerzen fühlte. Und im Gegensatz zu mir, schlief Emma in ihrem ebenso durchgelegenen Gästebett wie ein Murmeltier. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie als nicht mehr lebendiger Mensch keine direkten, körperlichen Schmerzen empfinden konnte. Leider bekam ich es nie mit, ob sie des Nachts zu Staub zerfiel. Aber jedes Mal, wenn ich zu ihrem Bett hinüberlukte, sah es so aus, als ob sie wie ein normaler und kompletter Mensch daliegen würde.

Und auch jetzt konnte ich keinen Verwesungsgeruch bei meiner Oma wahrnehmen.

 

Immer wieder zeigten Kinder neugierig auf meinen Rollstuhl. Denn ihre Mitmenschen, die so schwer behindert waren, dass sie nicht laufen konnten, wurden zumeist getragen, hockten auf selbst gezimmerten Rollbrettern oder aber sie saßen in uralten Rollstühlen, die sie aus reicheren Ländern als Spende erhalten hatten.

 

Endlose Ebenen bestimmten das Landschaftsbild in den meisten Teilen des Sudans. Fast nirgendwo gab es eine befestigte Straße. Lastwagen mit ein paar Bänken darin waren die am meisten verbreiteten Transportmittel.

Die mangelnde Infrastruktur war eines der Hauptprobleme in diesem nordostafrikanischen Land; Dürre und Verwüstungen ein Anderes. Der Norden und der Süden Afrikas grenzen im Sudan aneinander. Somit herrschte in diesem Land ein sehr buntes Treiben aus sechs ethnischen Gruppen.

Der Stamm der Nuba lebt in den Nubabergen im Zentrum des Sudans. In einer Region an der Südgrenze der Wüste und dem nördlichen Rand des Gebiets, dessen Böden ihre Fruchtbarkeit den regelmäßigen Überschwemmungen des Nils verdankten.

Anfangs war es für Emma etwas schwierig, mich tagtäglich in meinem klapprigen Rollstuhl die sehr hohen Hügel hinauf zu schieben. Doch dann kam uns der glorreiche Einfall, mich einfach auf meinen Besen zu setzen und die Berge hinauf und hinunter fliegen zu lassen. Von da ab an war es leichter, mit den Bergen fertig zu werden, zumal es dort nur Sandwege gab. Natürlich durfte ich nur im Schutz der Dunkelheit meinen Spezialbesen besteigen. Es durfte ja niemand bemerken, wer ich war. Denn auch, wenn es auf diesem Kontinent zahlreiche Hexen und Zauberer gab, durften wir uns den Menschen auch hier nicht zu erkennen geben. Jedenfalls nicht offiziell und fliegend auf einem Besen! Zwar hatten wir häufigen Kontakt mit den Menschen, aber weil wir uns vom Äußeren her nicht von ihnen unterscheiden, fiel es niemandem auf, dass wir Außerirdische waren.

Weiter erfuhr ich aus Erzählungen der Bewohner, dass der Sudan unter anderem Baumwolllieferant der Textilindustrie Großbritanniens war und sich somit finanziell größtenteils selbst versorgen konnte.

Nein, so viel Armut hatte ich in meinem bisherigen Leben noch nicht gesehen. Es war zum laut Weinen, wenn man daran dachte, wie reich einige Menschen dieser Welt waren und sie sich kaufen konnten, was ihr Herz immer begehrte. Erst vor einigen Wochen hatte ich in einer Zeitschrift gelesen, welchen absoluten Humbug sich Prominente neben ihrer dicken Villa, ihrem Swimmingpool im riesig großen Garten, ihren Pferden, ihren Luxusyachten und Weiteres kauften. Sie wussten einfach nicht, wohin mit dem Geld. Ich fragte mich, ob diese Leute mal etwas für die Ärmeren dieser Gesellschaft spendeten. Ja, einige prominente Leute gaben regelmäßig etwas oder arrangierten sich anderweitig, das war mir durchaus bekannt. Aber vermutlich taten dies nur Wenige.

Auch musste ich an die vielen Mädchen und Frauen in Afrika denken, die beschnitten wurden und ihr ganzes Leben stark darunter litten. Auch erschreckte mich die Tatsache, dass es für die Menschen der ärmeren Länder Afrikas noch nicht einmal die Möglichkeit zu lernen gab. Eltern brachten ihren Kindern das Nötigste selber bei. Das Geld fehlte in den ärmeren Teilen der Länder dieses Kontinents an allen Ecken und Enden. Und dies alles nur, weil es Menschen auf diesem Planeten gab, denen es zu gut ging und sie nicht mehr wussten, welche Dummheit sie als Nächstes anstellen sollten und mit der Natur vollkommen unachtsam umgingen.

Trotz des schwachsinnigen Glaubens, behinderte Menschen und deren Familien seien von einer Art Fluch heimgesucht, lebten die meisten von ihnen in der Mitte ihrer Lieben. Dieses fand ich persönlich unheimlich schön. Jedoch wurden diejenigen, die nicht bei ihren Familien leben konnten, in Heime untergebracht und verkümmerten dort regelrecht. Es trieb mir die Tränen in die Augen, wenn ich sah, wie die behinderten Menschen in den Heimen Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr in ihren Betten verbringen mussten, weil es keine Fortbewegungsmittel für sie gab. Ich schämte mich zutiefst, wenn ich während dieser Tage darüber nachdachte, wie ich immer unzufrieden war, wenn in der betreuten Wohngruppe irgendwas nicht gleich geklappt hatte und ich auf etwas warten musste. Vor allem bekam ich regelmäßig Krankengymnastik und Massage, die man den behinderten Menschen aus ärmeren Familien dieses Kontinents nicht anbieten konnte. Denn für Therapien war ebenfalls kein Geld vorhanden. In den größeren Städten des Landes ging es den Menschen zwar etwas besser, aber die Armut war dort noch deutlich zu spüren. Beschämt und mit hängendem Kopf flog ich nachts durch die Lüfte und dachte ständig an diese armen, behinderten und kranken Menschen, die verwahrlost in ihren Betten lagen und niemals an die frische Luft und in den warmen Sonnenschein kamen. Leider konnte ich nicht sehr viel mehr tun, als meine lauwarme Milch mit der Knoblauchknolle und dem schwarzen Pfeffer zu trinken und mir gedanklich auszumalen, wie angenehm es wäre, wenn jetzt kühler, nasser Regen auf meine verschwitzte Haut niederprasseln würde. Ich stellte mir den Duft vom Regen gena vor und ließ es regnen.

Auch zauberte ich einige Rollstühle herbei. Nur die Menge, die ich herbeizauberte, reichte natürlich nicht einmal für ein Viertel der Menschen im Sudan aus, die auf einen Rollstuhl angewiesen waren. Es war mir gar nicht möglich, auf die Bedürfnisse jedes Einzelnen einzugehen. Und das betrübte mich sehr. Hinzu kam, dass ich beim Herzaubern der Rollstühle noch nicht ganz so geschickt war. Denn bei einigen fehlte ein Rad, sodass sie ständig umfielen. Oder es fehlte eine Sitzfläche, sodass derjenige, der darin saß, auf den harten, kalten Stangen sitzen musste.

 

›Tja, das genaue Vorstellen von Rollstühlen scheint nicht gerade deine Stärke zu sein‹, neckte meine Großmutter mich. ›Und dabei hast du tagtäglich einen unter deinem Hintern.‹

 

Verlegen blickte ich zu Boden. Eiligst bemühte ich mich, diese Missgeschicke wieder gutzumachen. Ich versuchte Rollstühle herbeizuschaffen, bei denen alles Wichtige vorhanden war. Die Sudanesen jedoch empfanden die Rollstühle als etwas ganz Besonderes. Die Meisten von ihnen saßen zum allerersten Mal in ihrem Leben in einem solchen komfortablen Stuhl mit Rädern, mit dem sie sich selbstständig fortbewegen konnten. Ja, sie veranstalteten manchmal sogar richtige Wettfahrten.

 

 

 

 

 

X

 

Und im Sudan geschah es dann, dass ich jemandem mit sechseckigen Augen bewusst begegnete. Gerade als ich mit Emma einen Abendspaziergang unternahm. Vollkommen unerwartet tauchte die riesige Kreatur aus dem Nichts auf. Und nun sah ich diese Gestalt aus meinen Kindheitsträumen zum ersten Mal ganz bewusst. Denn damals, als ich in meinem Schlafzimmer in München von einem Riesen überfallen wurde, erlebte ich das ganze Geschehen mehr oder weniger nur wie durch einen Schleier. Und noch jetzt erschien mir der Überfall in meinem Schlafzimmer wie ein Alptraum, zumal in dieser Nacht auch dieser ältere Herr erschienen war und mich bis aufs Blut verteidigt und beschützt hatte. Doch diese Begegnung mit diesem riesigen Geschöpf hier im Sudan war definitiv kein Traum. Plötzlich stand es mitten auf dem Weg. Großmutter und ich waren gerade im Gespräch vertieft.

Vor lauter Schreck konnte ich mich in den ersten Momenten nicht bewegen. Denn hier hatte ich am wenigsten damit gerechnet, einem Bewohner des gelben Planeten zu begegnen. Und jetzt erst kam mir der Gedanke, dass wir, Großmutter und ich, von großem Glück sagen konnten, nicht schon während unseres Fluges in den Sudan angegriffen worden zu sein. Denn auf unserem Besen waren wir leicht anzugreifen und zu vernichten gewesen. Jedenfalls ich, weil ich auf meinem Besen noch nicht so sicher war.

Ängstlich und irritiert blickte ich zu Großmutter hoch. Hastig fragte ich mich, wie ich sie vor diesem Riesen schützen konnte. Denn in in diesem Augenblick war ich mir keinesfalls bewusst, dass Emma ja gar nicht mehr verletzt geschweige denn getötet werden konnte. Zitternd ergriff ich ihre schrumpelige, kühle Hand und versicherte ihr mit stummen Blicken, dass ich sie beschützen werde.

Natürlich wusste ich instinktiv, was dieses Geschöpf von Emma und mir wollte oder besser gesagt von mir! Kaum standen wir uns gegenüber, stieß der Riese einige für mich zunächst unverständliche Laute aus, die aber ganze Sätze zu sein schienen. Und im allernächsten Moment konnte ich mich mit Emma gerade noch rechtzeitig mitsamt meinem klapperigen Rollstuhl zur Seite ziehen, bevor wir von einem überaus scharfen Gegenstand getroffen werden konnten. Nun war mir auf einen Schlag klar, mit vollster Absicht vernichtet werden zu wollen. Bisher hatte ich es nicht für ernst genommen, als meine Großmutter und die anderen Hexen und Zauberer von diesen Geschöpfen erzählten. Auch wenn ich an meine Träume in meiner frühesten Kindheit und an den Überfall in meinem Schlafzimmer zurückdachte. Denn noch immer fühlte ich mich wie in einem Traum. Ja, irgendwie konnte ich es nicht sooo recht glauben, ein richtiges Zauberwesen zu sein, das man für kein Märchen erfunden hatte. Aber nun musste ich der Realität wirklich ins Auge sehen und aufpassen, von diesem riesigen Geschöpf nicht ins Jenseits befördert zu werden. Unwillkürlich spürte ich, wie meine Wange brannte, denn ich lag immer noch mitsamt meinem Rollstuhl auf der Seite und auf der steinigen Erde. Ich betete zu Wolfram, dass Emma sich nichts gebrochen hatte. Und mit großer Freude bemerkte ich, dass es mir nach einigen Besinnungsmomenten gelang, mich wieder auf die Räder zu stellen und Emma gleich mit hochzuziehen. Zum Glück war ich in der Gedankenzauberei inzwischen so gut, dass ich nicht nur Gegenstände oder Lebewesen in etwas Anderes verzaubern und anschließend wieder in ihre ursprüngliche Form und Gestalt zurückzaubern konnte, sondern konnte auch schon, Dinge wieder an ihren Platz zurückzaubern. Oder ich konnte, und darauf war ich ganz besonders stolz, meinen Rollstuhl allein durch meine Gedanken zum Fahren bewegen. Na, und da ich mit meinem Rollstuhl nur nachts durch die Gegend fahren durfte, damit meine Assistenten und die anderen Leute auf der Straße nicht bemerkten, womit ich lenkte, geschah es manchmal, dass ich im Dunkeln einen Stein oder einen Bordstein übersah und umfiel. Anfangs war ich völlig hilflos und brauchte Großmutters Hilfe, die mich stets begleitete. Doch nach und nach gelang es mir, mich mit meinen bloßen Gedanken wieder aufzustellen. Und es grenzte schon ein wenig an ein kleines Wunder, dass ich mir beim Umkippen mit meinem Rollstuhl nichts weiter als ein paar harmlose Kratzer holte.

 

›Wir können nur hoffen, dass er keine Verstärkung bekommt‹, zischte Emma zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

 

Plötzlich sah ich vor meinem geistigen Auge deutlich einen Eimer mit eisigem Wasser. Und schon im nächsten Augenblick ergoss sich ein Wasserschwall wie aus dem Nichts über dem Kopf des Riesen. Ein erschrockener Ausruf des Riesen scholl zu uns herüber.

 

›Ich vermute mal, er wird spätestens jetzt seine Kollegen rufen, die ihn auf die Erde begleitet haben.“ Emma versuchte sich schützend vor mich zu stellen.

 

Und richtig! Schon in den nächsten Sekunden tauchten noch zwei weitere Geschöpfe mit sechseckigen Augen auf. Ängstlich blickte ich zu Emma hinüber. ›Was machen wir nun?‹, fragte ich bibbernd. „Gegen diese drei riesigen Geschöpfe kommen wir beide keineswegs an.‹,

 

›Du musst die anderen Hexen herbeirufen, Zerlina. Ich kann das nicht. Ich bin praktisch mausetot!“

 

›Aber wie um Himmels willen soll ich die anderen Hexen und Zauberer um Hilfe bitten? Ich kann doch gar nicht so laut rufen.“

Denn da ich bis hierhin noch nie als Zauberwesen in Not geraten war, wusste ich nicht, wie man die anderen Hexen und Zauberer gedanklich herbeirufen konnte. Zwar hatte Emma mir schon einige Male kurz davon erzählt, aber ich hielt es für unmöglich, dass man jemanden mit seinen bloßen Gedanken herbeirufen konnte. Somit hatte ich ihr nicht so recht zugehört, als sie mir von diesem Kapitel der Zauberei erzählte. Und jetzt war es zu spät! Warum war ich nur so grob über diese Lektion hinwegegangen?, schalt ich mich gedanklich. Nichtsdestotrotz erinnerte ich mich daran, dass ich mitunter das Gefühl hatte, winzige und kurze Gedankenfetzen von meinem Gegenüber wie Worte vernehmen zu können. Allerdings hatte ich immer gedacht, ich würde es mir bloß einbilden.

 

›Du du denkst einfach ans laute Rufen.“, flüsterte Emma mir mit einem viel versprechenden Gesichtsausdruck zu.

 

Ja, warum soll das eigentlich nicht möglich sein?, fragte ich mich. Denn meinen Besen konnte ich ja auch mit meinen bloßen Gedanken lenken. Also versuchte ich, mit den anderen invaliden Hexen und Zauberern gedanklich in Verbindung zu treten und sie zu rufen. Und schon nach wenigen Augenblicken hörte ich neben den seltsamen Lauten der Riesen es am Himmel tatsächlich rauschen. Zum Glück war Englisch die Amtssprache des Sudans. Und das Englischsprechen fiel mir Dank des Englischcraschkurses leicht. Als ich nach oben blickte, sah ich die anderen invaliden Hexen und Zauberer, wie sie herbeieilten. Völlig perplex sah ich meine Großmutter an, die nur lässig mit den Schultern zuckte und mir aufmunternd und höchst zufrieden zuzwinkerte.

Leider hatte ich keine Zeit, mich über das soeben Geschehene zu freuen oder maßlos zu wundern, denn schon wieder flogen große Steine über unsere Köpfe hinweg, die allmählich immer gezielter kamen. Aber im Nu hatten wir gute Verstärkung bekommen, die mit uns gegen diese riesigen Kreaturen kämpfte. Hui, was war das für ein Getümmel und ein einziges Rauschen in der Luft! Drunter und drüber ging es. Mehrmals flog ich zu einem unserer Gegner, um ihn außer Gefecht zu setzen. Allerdings fand ich das Herbeizaubern von immer schärferen und gefährlicheren Dingen zum Verteidigen recht unangenehm. Denn jemandem Gewalt anzutun, war noch nie meine Art. Und plötzlich und vollkommen unerwartet schoss mir wieder die Frage durch den Kopf, ob die Gewalt, die wir gegen diese Lebewesen aufbrachten, nicht genau das Gegenteil von dem bewirkte. Brachten wir diese Geschöpfe mit unserer doch sehr brutalen Gegenwehr nicht nur noch mehr in Rage und schürten ihren Ärger und ihre Wut auf uns? Denn ich konnte mich lebhaft zurückerinnern, dass, wenn meine Mutter mir als kleines Mädchen eine Ohrfeige gegeben hatte, ich die größte Lust verspürte, bei ihr das Gleiche zu tun. Ja, in diesem Moment wurde mir bewusst, dass die evangelische und katholische Kirche sowie noch einige andere Glaubensrichtungen mit einigen Kapiteln ihrer Predigt gar nicht mal so Unrecht hatten. Denn man sollte in der Tat mit den Fehlern der Anderen umsichtiger umgehen. Und wenn man einem gewalttätigen Menschen begegnete, sollte man versuchen, ihn zu besänftigen und in ein beruhigendes Gespräch zu verwickeln. Ja, man sollte allen Ernstes die andere Wange hinhalten, wenn man geschlagen wurde. Nur war dies nicht so leicht in die Tat umzusetzen, wie ich es von mir selbst her nur allzu gut wusste. Aber urplötzlich erinnerte ich mich an den Überfall in meinem Schlafzimmer in München, bei dem ich um ein Haar mit meinem eigenen Kopfkissen erstickt worden war. Ich erinnerte mich, wie ich diesen unerbittlichen Kampf zwischen dem Riesen mit den sechseckigen, rot unterlaufenen Augen und meinem scheinbaren Schutzengel mit beruhigendem Summen plötzlich zum Stillstand gebracht hatte. Und auf einmal besann ich mich eines Besseren. Ich vergaß das Herbeizaubern von verletzenden Dingen und spürte, dass ich stattdessen versuchte, die Riesen mit meinen Augen und meiner ruhigen Stimme zu besänftigen. Es ging ganz automatisch sowie damals in meinem Schlafzimmer. Auch versuchte ich, gleichzeitig etwas Verständnis für ihre unbändige Wut zu zeigen, da ich glaubte, dass sich diese drei Geschöpfe erst für ernst genommen fühlten, wenn man ihnen Respekt und Verständnis entgegenbrachte.

Und schon nach kürzester Zeit kam tatsächlich etwas Ruhe in die Raserei. Wie lange ich so regungslos dasaß, wusste ich nachher nicht. Aber sehr viel mehr, als nur wenige Augenblicke, konnten es nicht gewesen sein. Komischerweise gelang es mir in dieser Zeit, meinen eigenen Körper vollkommen unter Kontrolle zu bekommen und ganz still zu sitzen.

 

„Was möchtest du und deine Mitriesen denn von uns?“, erkundigte ich mich gedanklich bei den Riesen. ›Wenn ihr uns nichts tut, tun wir euch auch nichts. Wir werden auch nicht versuchen, euch in Zukunft zu anderen, besseren Lebewesen umzuerziehen, sondern wir möchten lediglich, dass es im Weltall ein wenig ruhiger zugeht und noch andere bewohnte Erden gibt. Und das meine ich so, wie ich es jetzt sage. Ehrlich! Fühlt ihr euch von den Bewohnern der anderen Planeten ungerecht und respektlos behandelt oder gar ausgeschlossen? Meint ihr denn wirklich, dass ihr alles ganz allein beherrschen könnt oder möchtet?‹

 

›Ja!‹, hörte ich es auf einmal bestimmt sagen. Vollkommen erschrocken und irritiert sah ich den Riesen an, der mir scheinbar so prompt geantwortet hatte.

 

›Irgendetwas stimmt nicht mit dir, Hexe, hörte ich ihn nach weiteren Sekunden sagen. Man muss sich nur deine Augen ansehen. Wenn man längere Zeit in deine klaren Augen blickt, kann man sich beinahe nicht dagegen wehren, ruhig und entspannt zu werden und zu vergessen, dass man doch eigentlich zornig ist und Unruhe stiften möchte. Das ist nicht normal. Du bist bestimmt komplett verhext! Ach, wie gut, dass jetzt nur meine beiden Mitriesen bei mir sind. Denn meine ganzen Jungs und Mädels hätten bestimmt herzhaft über mich gelacht und gesagt, dass solch ein Blödsinn nur von mir kommen kann!‹, vernahm ich es im nächsten Moment von ihm wieder. "Auch würden die Anderen mich verulken und es kaum glauben, dass so ein Clown, wie ich einer bin, ihr Anführer ist, wenn es darum geht, eine andere Erde zu erkunden. Und dann würden sie lachen. Aber zum Glück gibt es bei uns auch welche, die nicht ganz so klug sind.“ Damit lukte er verstohlen zu seinen Kameraden hinüber. „Es war also mein absolutes Glück, dass gerade diese Zwei anscheinend nichts zu tun hatten und mein gedankliches Rufen hörten.“, dachte der Riese flüsternd weiter und ließ seine Mundwinkel etwas hängen.

 

„Natürlich hat diese kleine, seltsame Zappelhexe irgendetwas Magisches an sich, denn sonst wäre sie ja keine Hexe. Außerdem hat unser erster Vordermann, der bereits einige Male auf diesen Planeten gereist ist, um sie aus dem Weg zu räumen, uns ja gesagt, dass sie irgendetwas an sich hat, von dem wir alle nicht wissen, was es ist. Und aus diesem Grunde sollen wir sie wegschaffen, um ungestört unser Vorhaben erledigen zu können. Bereits kurz nach ihrer Geburt ist uns aufgefallen, dass sie eine besondere Aura hat. Aber es ist uns partout nicht gelungen, sie außer Gefecht zu setzen. Denn schon damals haben wir uns von ihrer ruhigen Art und ihren Augen beirren lassen. Und das, obwohl sie noch ein ganz kleines Mädchen war. Nun, vermutlich ist dies auch der Grund, weshalb sie von ihren Leuten auf den blauen Planeten geschickt worden ist. Denn offensichtlich kann sie jeden in ihren Bann ziehen. So auch die Menschen. Ich habe bisher noch kein anderes Wesen mit solchen Augen und solcher Ruhe gesehen. Und dabei sind wir doch schon dreihundert Jahre unterwegs und kämpfen gegen die anderen Planetenbewohner im Weltall. Die meisten jedoch haben uns mit anderen Dingen überwältigt gesetzt. Doch diese Person gebraucht nur ihre Ruhe und ihre fast unheimlichen, ruhigen Augen. So etwas habe ich wirklich noch nie erlebt‹, meldete sich ein Komplize des Riesen sich jetzt zu Wort.

 

Ah, meine Augen und meine beruhigende Aura sind es also, die euch umstimmt und beruhigt, dachte ich und bemühte mich, diesen Kreaturen weiterhin in die Augen zu blicken und ihnen meine Ruhe ganz offen zu zeigen. Deshalb habt ihr versucht, mich als kleines Mädchen im Schlaf zu töten., dachte ich weiter.

 

›Ja, genau so ist es‹, vernahm ich es Sekunden später wieder.

 

Trotz zitternden Knien und flauen Gefühl im Magen bemühte ich mich, weiterhin beruhigend auf die Riesen einzureden und ihnen dabei unseren Respekt und unser Verständnis zuzusichern. Doch dies erwies sich jetzt als verdammt schwierig. Denn die Riese drehten sich von mir weg, um meinem Blick zu entgehen. Wenn sie allerdings ihren Angriff fortsetzen wollten, mussten sie sich notgedrungen wieder zu mir umdrehen und sich konzentrieren. Und da ich nun genau wusste, was diese Geschöpfe umstimmen konnte, blickte ich ihnen immer wieder beruhigend entgegen‹, berichtete ich an diesem Morgen meinem Ehemann, der mich etwas entgeistert ansah.

 

›... ›Aber, wenn sie uns sagt, dass ihre Leute uns nichts tun wollen, uns Respekt entgegenbringen und uns nicht auf ihre Seite ziehen wollen, dann ist doch eigentlich alles in Ordnung, oder?, dachte der Komplize unüberhörbar erleichtert weiter. ›Wir müssen uns nur ruhig verhalten und niemandem mehr irgendwelchen Schaden zufügen.‹

 

“Wenn wir auf jedem Planeten so schnell einlenkten, würde es im Weltall in nächster Zeit viele bewohnte Planeten geben. Und unser Vordermann hat uns nun einmal aufgetragen, die anderen Lebewesen zu vernichten. Ganz besonders die Hexen und Zauberer. Egal, was passiert!“, klang es nun wieder vom ersten Riesen kleinlaut zu mir herüber. ›Hm, vielleicht können wir sie erst mal auf unseren Planeten kidnappen, anstatt sie gleich umzubringen. Aber nein, sie kann doch nichts selbständig tun. Wir würden uns mit ihr nur zusätzliche Arbeit aufhalsen. Außerdem halten sich ihre Leute noch von uns fern. Wenn wir allerdings eine Person von ihnen gefangen nehmen, stürmen sie vermutlich unseren kleinen, gemütlichen gelben Planeten. Nein, ich muss dich, kleine Zappelhexe jetzt auf der Stelle beseitigen.‹

 

Bei diesen Worten brach mir eiskalter Schweiß aus. Ich hoffte inständig, dass Emma nichts geschah. Möglichst ruhig redete ich weiter auf die riesigen Geschöpfe ein. Und auf einmal hörte ich den momentanen Anführer endgültig sagen und denken: ›Ich halt diesen Blick und diese ruhige Art einfach nicht mehr aus! Ich mache mich jetzt aus dem Staub. Nee, so was hab' ich meinen Lebtag noch nicht erlebt. Immer konnte ich mit meiner Körperkraft die Meisten besiegen, und nun kommt solch eine kleine Person daher und guckt mich nur an, sodass ich alles Böse vergesse. Soll unser Vordermann mit den Anderen unserer Regierung selbst hierher kommen und sich diese Hexe vornehmen!, sagte er gedanklich zu sich selbst.‹

 

Die anderen Hexen und Zauberer blickten mich völlig fassungslos an, als plötzlich beinahe vollständige Ruhe eingekehrt war. Und zu unseren bassem Erstaunen machten die Riesen nach einigen kurzen Augenblicken tatsächlich Anstalten, sich zurückzuziehen. Sie erhoben sich einfach in die Lüfte, drehten noch einige Kreise über unseren Köpfen und verschwanden schließlich.

 

›Es geht hier tatsächlich nicht mit rechten Dingen zu‹, hörte ich den einen Riesen noch einmal sagen, bevor die Drei endgültig verschwanden.

 

›W ... wie hast du das denn jetzt hinbekommen?‹, meldete sich nach einigen Augenblicken eine Hexe zu Wort und blickte mich ungefähr so an, als wenn sie soeben aus einem seltsamen Traum erwacht wäre. ›Denn es sah aus, als ob du diese Wesen hypnotisiert hättest. Kannst du Andere etwa unter Hypnose setzen? Na, wenn man in deine völlig ruhig wirkenden Augen guckt, möchte man es auch tatsächlich meinen.“

 

Selbst Emma nickte zustimmend und sah mich stolz an.

 

›Ach Quatsch, ich kann niemanden hypnotisieren oder so ’n Blödsinn. Vielleicht liegt es an der Art, wie ich mit den Riesen gesprochen habe. Wahrscheinlich müssen wir alle versuchen, ein wenig mehr auf die Anderen zu- und einzugehen und ihnen zeigen, dass wir vor ihnen Respekt haben und sie ein Stück weit verstehen. Ganz egal, in welcher Sache und bei welchem Problem. Denn wer sich verstanden fühlt, ist nicht mehr so traurig oder aggressiv und findet schneller zur Ruhe. Vorallem aber müssen wir ihnen verdeutlichen, dass wir sie nicht zu einer anderen Person machen wollen. Das kenne ich nämlich von mir selbst nur allzu gut. Bestimmt fühlen sich die Bewohner des gelben Planeten nur nicht ausreichend verstanden, respektiert und ausgeschlossen und befürchten, von uns umerzogen zu werden. Höchstwahrscheinlich wollen diese Riesen nichts Böses. Ich meine, sie sehen ein bisschen furchterregend aus, sodass wir deswegen vollkommen falsch über sie urteiilen. Das tun wir im Allgemeinen ja leider immer schnell. Ist es nicht erstaunlich, wie schnell wir über irgendetwas urteilen, was wir noch nie zuvor in unserem Leben gesehen oder erlebt haben? Ach, die Lebewesen, die der Meinung sind, etwas klarer denken zu können und vernünftig zu sein, sind reichlich komisch. Da unterscheiden wir Hexen und Zauberer uns scheinbar in keinster Weise von den Anderen. Wir schreiben manchen unserer Mitmenschen vor, wie sie zu leben haben, obwohl sie ihr Leben gut selbst organisieren können. Wir verurteilen sie, obwohl wir sie eigentlich gar nicht kennen, und zeigen ihnen gegenüber viel zu wenig Respekt. Tja, der Respekt vor dem Anderen ist hier wahrlich Mangelware. Aber anscheinend gibt es ihn außerhalb dieser blauen Kugel auch nicht häufiger«, seufzte ich betrübt und umfasste die Hand von Oma, der zum großen Glück wirklich kein einziges Haar gekrümmt worden war. »Dennoch halte ich es keinesfalls für möglich, dass gerade ich diese riesigen Geschöpfe zur Ruhe gebracht habe. Wie denn auch?“

 

„Nun, vermutlich mit deinen beruhigenden Gedanken und deiner Ausstrahlung?“ warf eine schon etwas ältere Hexe mit grauen Haaren leicht in die Runde. ›Denn anscheinend kannst du dich wunderbar in die Seelen Anderer hineinversetzen und siehst, in jedem Einzelnen einen Guten.‹

 

Unwillkürlich dachte ich an Finn, der immer versuchte, für das unschöne oder sonderbare Benehmen Anderer irgendeine Entschuldigung zu finden. Dies hatte mich in früheren Zeiten manchmal richtig rasend gemacht. Ja, ich glaubte, Menschen, die sich unmöglich und auffällig benahmen, hatten selbst Schuld an ihrer Situation und könnten sich von einem Augenblick zum Anderen ändern. Doch nach und nach begriff ich, dass alle Menschen „neutral“ geboren wurden. Selbst der grausamste Massenmörder! Jeder Mensch und jedes Tier fing irgendwann an, das zu reflektieren, was ihm während seines Lebens widerfahren war. Manche, die von der Psyche her labil waren und das Unschöne oder gar Grausame, das sie erlebten, nicht verarbeiten konnten, wurden zu so genannten "Bösewichten". Doch alles, was diese Lebewesen forderten, war Aufmerksamkeit, Geborgenheit und Verständnis. Wir lebten wirklich viel zu sehr aneinander vorbei. Und vor allem war es uns einfach nicht möglich, uns gegenseitig zuzuhören und uns in die Lage des Anderen hineinzuversetzen. Denn sonst würde es nicht so viele verzweifelte und traurige Menschen geben, die aus ihrer Trauer und Verzweiflung heraus manchmal sehr unschöne oder grausige Dinge taten. Manchmal schlossen sich Menschen zu einer „starken Gemeinschaft“ zusammen, die sich benachteiligt fühlten, um auf sich aufmerksam zu machen. Das war in unserer Gesellschaft jedenfalls immer wieder gut zu beobachten. Oder aber es erzählten manche Menschen irgendeinen Blödsinn, um von ihren Mitmenschen die gewünschte Aufmerksamkeit und Zuneigung zu bekommen. Aber leider nehmen wir unsere eigene Person immer viel zu wichtig. Wenn wir uns nicht immer in den absoluten Mittelpunkt stellen würden und die Fähigkeit des genauen Zuhörens und des Sich-in-jemanden-Hirneinversetzens hätten, könnten wir sehr viel friedlicher, fröhlicher und glücklicher zusammenleben. Dieses war mir ja schon als Kind aufgefallen. Doch aller Wahrscheinlichkeit nach war diese Angst vor Gott und dem Ungewissen das Ergebnis des zu wenigen Zusammenhalts untereinander. Die Menschen ängstigten sich doch am allermeisten vor ihrem Schöpfer und vor dem, was nach dem Tode kam. Die Prediger predigten in den Kirchen immer nur vom Gott, der die Braven und Gehorsamen liebte und ihnen zugewandt war. Aber beantwortet der Geistliche auch genügend die ängstlichen Fragen der Gläubigen? Ging er richtig auf seine Gemeinde ein? Zwar gab es in den evangelischen Gemeinden Hauskreise, in denen die gläubigen Menschen außerhalb der Kirche miteinander über ihren Gott und Anderes sprachen und sich untereinander austauschen konnten. Und diese Zusammenkünfte gab es sicherlich in jeder kirchlichen Gemeinde, sowie es auch noch einige andere kirchliche Zusammenkünfte gab. Dennoch fragte ich mich, ob diese Treffen und Gespräche unter den Gemeindemitgliedern ausreichte, um ihr Unbehagen und ihre zahllosen Fragen an und um das große unbekannte Wesen im Weltall zu stillen und zu beantworten?

Ja, es gab da auch noch die Seelsorgestationen, die überwiegend kirchlichen Ursprungs waren. Aber konnten diese Leute dem Verzweifelten, Alleingelassenen wirklich helfen? Allerdings saßen heutzutage an den Sorgentelefonen nicht nur Leute, die mit der Kirche in enge Verbindung standen. Allerdings fragte ich mich, ob derjenige, der am Sorgentelefon saß und psychologisch geschult war, genügend über das Leben wusste. Und wusste er auch irgendetwas über den Tod? Denn der Tod war ein äußerst wichtiger Teil des Lebens! Aber traurigerweise war er in einigen Ländern dieser Erdkugel ein absolutes Tabuthema. So manch Einer fürchtete sich schon, bloß einen Friedhof zu betreten und mit dem Tod in irgendeiner Form in Berührung zu kommen. Aber wenn wir es schafften, den Tod als eine vollkommene normale Sache zu betrachten, würde ein riesiger Teil der Angst von uns abfallen. Wir mussten den Tod nur in die Mitte des Lebens rücken lassen. Könnte es sein, dass die Aufgabe der außerirdischen Hexen und Zauberer darin bestand, dieses den Menschen nahezubringen? Konnten wir allein durch unser Dasein den Menschen mehr Gewissheit über ihr Leben und ihren Tod vermitteln und sie dadurch zur Ruhe bringen? War es uns möglich, die Bewohner dazu zu bringen, das Leben und den Tod richtig zu verstehen und wahrzunehmen? Konnten wir das Leben im Weltall so retten? Allerdings konnte ich es einfach nicht glauben, dass ausgerechnet ich den eventuell wahren Kern unseres Einschreitens entdeckt hatte, zumal wir schon seit guten zweihundert Jahren mit den außerirdischen Lebewesen Kontakt hatten und versuchten, ihnen zu helfen.

 

›Aber um ehrlich zu sein, Zerlina, es ist noch niemandem gelungen, diese Kreaturen zu besänftigen, sie an ihrem Vorhaben zu hindern und sie zum Rückzug zu bewegen‹, meldete sich nun ein kleinwüchsiger Zauberer aufgeregt zu Wort und lenkte mich von meinen Überlegungen ab. ›Jedenfalls noch nicht auf die Art, wie du es soeben geschafft hast. Vielleicht gelingt es dir tatsächlich, die Riesen auf die etwas sanftere Seite zu ziehen und sie zu beruhigen. Denn es muss einfach an deiner Person gelegen haben, dass alles so glimpflich ablief. Woran könnte es denn sonst gelegen haben? Unsere Begegnungen mit den Bewohnern des gelben Planeten sind bisher immer in einem einzigen Gewaltakt mit viel Blutvergießen und und manchmal auch mit Toten geendet. In dieser Sache sind wir Hexen und Zauberer wahrlich keinen Deut besser als zum Beispiel die Menschen. Zudem hast du Recht, wenn du meinst, beobachtet zu haben, dass man viel zu respektlos mit seinem Gegenüber umgeht. Du bist schon ganz richtig dafür bestimmt worden, in der Welt umher zu reisen, um deine Ideen und Beobachtungen, was das Zusammenleben der Planetenbewohner stört, in alle Richtungen zu verbreiten.‹

Ich spürte, wie ich panisch zu werden drohte. Dann hatte ich mich also doch nicht getäuscht, als mich an jenem Abend, an dem ich meine verstorbene Großmutter zum allerersten Mal traf, das Gefühl beschlich, es würden größere Hoffnungen auf mir ruhen. Aber warum? Was hatte ich denn so Besonderes an mir? Ich war doch nur eine zappelige Person im Rollstuhl. Es musste doch schon unheimlich Vielen aufgefallen sein, dass so etwas Wichtiges wie die große Gemeiinschaft fehlten. Denn in der Bibel war von diesen Dingen ebenfalls zu lesen, von denen vermutlich auch schon so manches Zauberwesen gehört hatte. Allerdings konnte ich mir durchaus vorstellen, dass kaum jemand diese fehlenden Dinge direkt beim Namen genannt hatte. Selbst von meinen Leuten. Und schlagartig wurde mir bewusst, dass ich noch eine ganze Menge zu tun hatte.

Aber es war ein großes Glück, dass meine Mithexen und meine Mitzauberer die drei Riesen, die Großmutter und mich angriffen, nicht töteten. Denn Töten erschien mir so unwirklich und passierte für mich nur im Fernsehen oder so weit weg, dass ich damit keinesfalls in Berührung kam.

 

„Und ihr habt tatsächlich schon einige Riesen getötet?‹, kam es mir heftig zitternd und fassungslos über die Lippen. ›Macht ihr das häufiger?‹

 

Ein leichtes Nicken der anderen Hexen und Zauberer zeigte mir an, dass es so war.

 

›Aber wieso?‹, herrschte ich sie etwas ungehalten an.

 

›Wir müssen die jeweiligen belebten Planeten nun einmal vor ihrem Untergang und auch unser eigenes Leben schützen. Wir wussten nicht, ob die Situationen, in denen wir uns mit den Riesen jeweils befanden, ein so glückliches Ende nehmen, wie diese Situation gerade. Es war für uns nicht vorauszusehen, wie die jeweiligen Angriffe enden. Außerdem waren es immer ziemlich viele Riesen, Zerlina. Zum Glück scheint es nicht allzu viele bewohnte Planeten zu geben. Denn sonst wären wir auf unserem Heimatplaneten noch weniger, als wir es ohnehin schon sind. Unser Planet ist nämlich recht klein und hat nicht viele Bewohner. Ich weiß nicht, ob dir Emma schon irgendetwas über unsere kleine Welt erzählt hat. Aber bei uns gibt es nur zwei große Länder‹, erklärte mir der kleinwüchsige Zauberer mit schwarzem Rauschebart und den ebenso schwarzen Augen. Dabei blickte er vorsichtig zu Großmutter hinüber.

 

›Nun, das werde ich später noch tun, Zerlina! Alles der Reihe nach.“, schaltete Emma sich erklärend ein und strich mir flüchtig über den Kopf.

 

›Aber viel wichtiger und viel interessanter ist es doch herauszufinden, was die Drei eben so plötzlich beruhigt und umgestimmt hat, oder?‹, warf der kleinwüchsige Zauberer auf einmal wieder fragend in die Runde.

 

›Sag' mal, wie um alles in der Welt hast du gewusst, wo sich die Riesen während unserer kleinen Auseinandersetzung gerade befinden?‹, fragte ich auf einmal und wandte mich an meine Nachbarin, die blind war, um vom Thema abzulenken.

 

›Nun, da ich nichts sehen kann, ist mein Geruchs- und Gehörsinn so gut ausgebildet, dass ich immer hören oder riechen kann, wenn sich jemand in meiner Nähe befindet. Aber natürlich konnte ich sie ebenfalls gedanklich sprechen hören", erklärte sie etwas verlegen. ›Aber du bist auch nicht schlecht.“, lobte sie mich plötzlich. „Denn du weißt ja erst seit knapp einem Jahr, dass du eine wahrhaftige Hexe bist und hast ebenso lange Übung. Du schlägst dich aber so wacker, als ob du dein Leben lang nichts Anderes gemacht hättest, als mit deinem Besen durch die Welt zu fliegen und den Bewohnern Gutes zu tun.‹

 

›Meine Großmutter nörgelt aber ständig an mir herum‹, flüsterte ich und blickte dabei niedergeschlagen zu Boden.

 

›Nun, ein wenig Kritik haben wir alle über uns ergehen lassen müssen, was uns nicht geschadet hat‹, entgegnete jetzt eine andere Hexe, die ebenfalls eine starke Spastik hatte und genauso verwaschen sprach wie ich. Hastig wechselten die Hexe und Emma vielsagende Blicke. „Denn unsere Eltern und Verwandten wollen uns ja möglichst stark machen. Verstehst du, Zerlina?‹

 

Und ob ich das verstand! Nur hatte ich mein Leben lang das Gefühl vermittelt bekommen, eine Versagerin zu sein. Nie hatte ich etwas richtig gut gemacht. Nur meine Schwester Steff und Finn hatten mich einige Male für das, was ich tat und vollbrachte, gelobt. Auch waren einige Pflegekräfte während meiner Internatszeit sogar der Ansicht gewesen, ich würde mit meinem Leben nicht klarkommen. Diese Meinung schockte, verdutzte und stimmte mich ein wenig traurig. Seitdem versuchte ich, noch perfekter und noch härter zu sein. Und schon bald glich ich mehr einer gut funktionierenden Maschine als einem Lebewesen, das aus Fleisch und Blut bestand. Und erst nachdem mir eine meiner vier Schwestern anvertraute, sie möge mich nicht so sehr, weil ich ihrer Meinung nach vom Wesen her zu stark wäre, fragte ich mich häufiger, ob ich einigen Leuten wirklich zu „stark“ war.

 

 

 

XI

 

Während meiner restlichen Zeit im Sudan versuchte ich noch so viel Gutes zu tun und herbeizuzaubern, wie ich nur konnte. Zum Beispiel Essbares, Sachen zum Anziehen, Decken und Medikamente. Doch als ich einmal ganz normale Vitamintabletten zaubern wollte, zauberte ich stattdessen versehentlich Unmengen von potenzsteigernden Tabletten. Beschämt zauberte ich diese sogleich wieder weg. Hui, so ein schreckliches Malheur kann wirklich nur mir passieren, dachte ich wütend und fühlte mich gleich wieder zu nichts nutze. Auch wünschte ich mir nichts sehnlicher, als dich in diesem Augenblick an meiner Seite zu haben, um mit dir über sämtliche meiner Missgeschicke sprechen zu köönnen. Finn kam mich im Sudan zwar eine Woche lang besuchen, aber ihm konnte ich davon nicht so gut erzählen, auch wenn err von meiner „Mission“ durchaus wusste.

Großmutter tobte natürlich vor Wut, als ihr die Geschichte mit den potenzsteigernden Tabletten bekannt wurde. Vor zwei Tagen noch war sie so stolz auf mich gewesen, als ich das Zusammentreffen mit den Riesen recht glimpflich abgewickelt hatte. Und heute passierte mir schon wieder so ein schreckliches Missgeschick. Es war doch zum Weinen.

 

›Manchmal glaube ich, Zerlina, du machst diese ganzen makaberen Dinge absichtlich‹, schimpfte sie mich sich vor mir aufbäumend aus.

 

›Nun, eine normale Hexe lernt das Zaubern schon von Kindesbeinen an‹, erklärte ich mit weinerlicher Stimme, ›aber ich beherrsche das Zaubern erst seit einem knappen Jahr.‹

 

›Ach, das ist doch ganz großer Quatsch, Zerlina! All die Hexen und Zauberer, die von unseren Königen ausgewählt werden, haben erst mit Ende oder Mitte dreißig das Zaubern gelernt und trotzdem passieren ihnen nicht solche verheerenden Missgeschicke wie dir!‹, schimpfte Großmutter weiter.

 

Plötzlich wurde ich während meiner Erzählung von einem sehr mühsam unterdrückten Lachen unterbrochen. Und als ich etwas verdutzt zu meinem Mann aufblickte, sah ich, wie dieser sich einen Zipfel von unserer Bettdecke in den Mund gestopft hatte und verzweifelt versuchte, nicht schallend loszulachen.

Noch immer überaus peinlich berührt und das mühsam unterdrückte Lachen von Jonas so gut es ging ignorierend, erzählte ich weiter:

 

»Dennoch zauberte ich neben den äußerst notwendigen Dingen auch etwas herbei, das diesen Leuten ein wenig Freude bereiteten. Ein kleines Mädchen lachte beispielsweise herzhaft auf, als es sich das allererste Mal in seinem Leben mit einer wohlriechenden Bodylotion eincremte. Ja, es war bewundernswert und unendlich schön, mit anzusehen, worüber sich diese Menschen von ganzem Herzen freuen konnten. Zudem unterhielt ich mich ausführlich mit den Menschen. Dabei konnte ich erfahren, dass die Bewohner dieses Landes trotz ihrer Armut und den einfachen Lebensbedingungen sehr viel zufriedener waren als diejenigen, die in reichen Ländern Europas beinahe alles hatten. Denn sie kannten den herben Unterschied zwischen Arm und Reich nicht. Auch gingen diese Menschen mit ihren behinderten Familienmitgliedern ganz anders um, als ich es aus meinem Land her kannte. Ja, ihr Umgang mit ihren behinderten Angehörien war viel, viel lockerer, fröhlicher und zugeich ein wenig respektvoller. Und dies trotz des absurden Glaubens, die Menschen, die einen behinderten Angehörigen hatten, seien von ihrem Gott Allah hart bestraft worden. Mir kam es manchmal vor, als ob das Handicap der Familienangehörigen nicht unbedingt im absoluten Mittelpunkt oder Vordergrund des alltäglichen Lebens stand. Auf jeden Fall war eine Behinderung hier bei den Ärmeren nicht so furchtbar störend wie bei den wohlhabenden Menschen. Ein Mann mit einer stark behinderten Tochter erzählte mir, dass er es sich nur deshalb wünschte, etwas mehr Geld zu haben, damit er jemanden bezahlen konnte, der seiner Kleinen beibrächte, ihren Körper besser und gezielter zu bewegen. Denn vor einiger Zeit habe er von einem fernen Bekannten gehört, dass es Personen gebe, die gehandicapten Menschen beibrachten, ihren Körper zu lockern und mit gezielten Übungen ihre Arme und Beine besser einsetzen zu können. Ich erklärte, dass sich diese Menschen Physiotherapeuten nannten und extra eine Ausbildung gemacht hatten, um diesen Menschen zu helfen.

 

›Ich möchte, dass meine kleine Tochter später einmal ein bisschen besser sprechen und sich bewegen kann und nicht ständig auf Andere angewiesen ist‹, erklärte mir der Mann und lachte mich mit strahlenden Augen an, nachdem er verstanden hatte, dass ich genau wusste, was er meinte.

 

Zudem hatten die Bewohner dieses Landes, ja, wohl die meisten Bewohner dieses Kontinents, ganz andere Sorgen und Probleme, als die Menschen in den reicheren Ländern. Sie mussten zusehen, dass sie und ihre Mitmenschen am Leben blieben. Und es erschreckte mich zutiefst, als ich hörte, dass die Lebenserwartung hier nicht höher als bei sechzig Jahren lag. Aber wenn ich genauer darüber nachdachte, war es nicht verwunderlich. Denn diese Menschen mussten ihr ganzes Leben hart arbeiten und sich darum sorgen, woher sie am nächsten Tag etwas zu essen und einigermaßen sauberes Wasser bekamen. Auch bemühten sie sich sehr, das wieder aufzubauen, was wir reicheren und unzufriedenen Leute in ihrem Land zerstörten. Ich meine, hier muss ich nochmals hinzufügen, dass es durchaus Leute gab, die ihr Geld mit den Ärmeren dieser Welt teilten. Allerdings waren es viel zu wenige. Natürlich gab es Hilfsorganisationen, die Gutes taten und die Armen dazu bewegten, sich selbst zu helfen. Diese Hilfsorganisationen ließen die Menschen Wasserbrunnen bauen, Felder und Äcker bestellen oder andere Ämter tun. Aber meistens drängten diese Leute, die dieser Hilfsorganisation angehörten, den Menschen eine Lebensweise auf, mit denen sie sich keineswegs identifizieren konnten. Nun, es war verdammt schwierig, jemand Anderen nicht seine Meinung und seine Lebensansicht aufzuzwingen, der unter seiner eigenen Lebenssituation augenscheinlich zu leiden hatte. Dennoch sollte man vor diesem Menschen Respekt zeigen und, wenn es erforderlich war, seine Kultur achten. Man sollte ihm zeigen, wie er sich in seiner Lebenslage so helfen konnte, dass er gut und unabhängig lebte, ohne ihn dabei zu bevormunden. Doch zum Glück bemerkten manche Leute inzwischen, die behilflich sein wollten, die Menschen mit ihrer Religion und ihrer Kultur im Ganzen zu sehen und ihnen auf neutralerem Wege zu unterstützen.

Doch das Hauptproblem dieser armen Menschen war, dass sie sehr gläubig waren. Und je ärmer die Menschen waren, desto mehr glaubten sie an den Gott, von dem sie von den Missionaren erfuhren, die durchs Land zogen. Sie dachten, wie viele andere Menschen auch, dass irgendwo hoch oben im Himmel ein älterer Herr mit einem Rauschebart saß, der ihnen wohl gestimmt war, wenn sie sich gut benahmen und all das taten, was er von ihnen verlangte. Und da die Bibel und der Papst ihnen predigten, sittsam und rein zu sein, keine Zweifel ihm gegenüber zu hegen und sich zu lieben und zu mehren, ging es den Menschen hier nicht gerade gut. Ja, es grenzte alles schon ein wenig an bewusstem Zuschauen beim Leiden und Sterben der armen Menschen.

Diese Situation konnte man mit der armen Kuh vergleichen, die man in einem Kulturkreis zur Belustigung in das Gehege hungriger Löwen und Tiger schloss, und von außen seelenruhig zusah, wie diese arme Kuh langsam, aber sicher zu Tode gehetzt von den hungrigen Wildtieren zerfetzt und gefressen wurde. Wie konnte man nur so grausam und gewissenlos sein?

Und wieder einmal dachte ich an die schlimmen Dinge, die dieser angebliche Gott und die Kirche zu verantworten hatte. An die ganzen Ritualmorde und die schrecklichen Religionskriege, die sich immer und immer wiederholten.

Und wenn ich sagen müsste, welche Religion mir am sympathistichsten war, könte  ich den Budihismus nennen. Denn seinetwegen hatte es nie irgendwelche größeren Kriege gegeben. Jedenfalls hatte ich nie von verheerenden buddhistischen Kriegen gehört oder gelesen. Allerdings gibt es keine Religion, in der es nicht zu gewalttätigen Übergriffen kommt!. Auch hatte Buddha zu den Menschen gesagt, sie sollten sich zuerst ihre eigene Meinung bilden und prüfen, ob sie das glauben konnten, was er predigte oder behauptete. Allein wegen dieses Zitats empfand ich Buddha als sehr bescheiden und sympathisch. Denn er wollte die Menschen keinesfalls verbiegen und sah sich nicht als der „Herr“ an. Zudem war Buddha aller Wahrscheinlichkeit nach kein allmächtiger Gott, der auf die bläulich schimmernde Erde von weit oben hinab blickte und alles lenkte, sonderrn ein Mensch aus Fleisch und Blut, der den Buddhismus schlichtweg erfand. Dann allerdings war die Erzählung, Buddha sei bis zu einem gewissen Grade in einem mit Edelsteinen besetzten kleinen Kästchen in der Gestalt eines weißen Elefanten herangewachsen, wohl doch nur ein Mythos!

Ab und zu saß ich während mmeines Besuchs auch nur bei den Menschen und hörte ihnen einfach aufmerksam zu. Ich ließ mir von ihrem Leben erzählen und davon, wie sie miteinander umgingen. Manchmal fragte ich sie, wie sie es fanden, wie man mit ihnen von den Hilfsorganisationen umgehe. Und vereinzelt schienen die Menschen beim Erzählen selbst darauf zu kommen, was unter den Menschen fehlte, damit sie friedlich miteinander leben konnten. Denn von einigen konnte ich tatsächlich die Worte fehlende Toleranz, fehlender Respekt, fehlendes ehrliches Mitfühlen und das Sichnicht-in-die-Lage-eines-anderen-hineinversetzen-Können vernehmen. Ich hatte einfach nur dagesessen und den Menschen zugehört und ihnen gezeigt, dass ich sie verstand und mit ihnen fühlte. Allerdings lebte man hier eng zusammen und verbrachte viel Zeit miteinander. Zudem erzogen Eltern ihre Kinder so, dass sie höchsten Respekt gegenüber ihren Mitmenschen empfanden und zeigten. Demnach stand Respekt-voreinander-haben hier in den ärmeren Gegenden Afrikas schon an höchster Stelle des menschlichen Gesetzes. Also mussten wir Hexen und Zauberer den Sudanesen vom Respekt nicht mehr allzu viel erzählen.

Nachdem ich nach München zurückgekehrt war, grübelte ich verzweifelt darüber nach, wie man diesen armen Menschen im Sudan helfen konnte. Denn was ich getan und gezaubert hatte, war nur ein klitzekleiner Tropfen auf den unendlich heißen Stein gewesen. Zuallererst müsste man den Papst davon überzeugen, den Menschen in den ärmsten Teilen der Erde den Gebrauch von Verhütungsmitteln zu erlauben. Denn je weniger Menschen es gab, desto besser konnte man mit dem wenigen, das einem zur Verfügung stand, wirtschaften. Auch war es Fakt, dass man den Menschen durch das Erlauben von Verhütungsmitteln die Entscheidungsfreiheit für die Zeugung ihrer Kinder und somit die dazugehörige Verantwortung gab. Denn jeder Mensch hatte ein Recht auf die körperliche Liebe. Aber jeder sollte selbst entscheiden können, wann er bereit war, ein Kind zu ernähren und großzuziehen. Dann musste man die Menschen, denen es gut ging, dazu bringen, umsichtiger zu leben. Denn es war Tatsache, dass die Menschen, die in der so genannten Ersten Welt lebten, viel Schuld daran trugen, dass in der Dritten Welt das Meiste der Ernte verdorrte oder gar nicht erst wuchs. Man musste die Menschen dazu anhalten, umweltbewusster zu leben.

Wir mussten uns nur verantwortungsbewusst unseren Mitmenschen, unseren Tieren und unserer Natur gegenüber zeigen. Denn wir standen keineswegs an der Spitze vom Ganzen, sondern befanden uns so ziemlich am Ende uund waren von Mutternatur vollkommen abhängig. Nur war uns diese Tatsache nicht bewusst genug. Und der Griff im Supermarkt nach einer vom Preis her viel zu günstigen Plastiktüte ist doch wesentlich einfacher, als von zu Hause einen Stoffbeutel mitzunehmen.

Nun, es gab auf dieser Welt so viel für uns zu tun, dass ich nicht wusste, wie wir dies alles jemals schaffen sollten.

Aber eines hatte ich in Afrika gelernt. Nämlich, dass Wohlhaben für das Zusammenleben der Menschen absolut nicht vorteilhaft ist!

Meine Wangen waren vor Aufregung leicht rot, als ich mich nach meiner Rückkehr aus Afrika mit Elena in meiner Wohnung traf und sie fragte, was man denn nur gegen diese Ungerechtigkeit tun könne. Wenn wir nur etwas wachsamer werden würden und unsere Lebenseinstellung änderten, könnten wir es schaffen, dass es in den dürren Regionen dieser Erde wieder regelmäßiger regnete. Den Bewohnern dort wäre es mit ausreichend Wasser möglich, ihre Äcker zu bestellen, Obstbäume zu pflanzen, ihren Hunger, Durst und ihr dringendes Bedürfnis nach Hygiene endlich zu stillen. Zudem könnte es uns mit unserem Umdenken gelingen, die Tiere in ihren jeweiligen Lebensräumen zu schützen. Zudem könnte es mit unserem Mitdenken geliingen, kompletten Planeten Erde weiterleben zu lassen! Auch waren wir in unserem Leben rundum geschützt und auf Ewig geliebt, enn wir mit unserer Mutternatur vorsichtig, umsichtig umgingen und sie aufs Höchste achteten!

Wir sollten alle mithelfen, diese Grausamkeit zu beseitigen, die wir gemeinsam durch unsere Unachtsamkeit schufen. Jedoch fahren wir lieber mit unserem Auto anstatt einen oder zwei Kilometer zu Fuß zu gehen oder mit dem Fahrrad zu fahren. Aber die einzige Antwort auf meine Frage, die ich von Elena bekam, waren ein Achselzucken und ein trauriges, hilfloses Gesicht.

Ellie war sonst so ein quicklebendiges und kraftvolles Wesen, das normalerweise vor Ideen nur so sprudelte. Und erst durch sie erkannte ich nach gut vierunddreißig Jahren, dass es tatsächlich Menschen gab, die so dachten und fühlten wie ich selbst. Somit konnte ich durchaus sagen, die Bekanntschaft mit Ellie brachte mich in meinem Leben ein großes Stück vorwärts und stärkte in einem ebenso großen Maße mein Selbstbewusstsein. Ja, Ellie war eine absolute Bereicherung für diese Welt! Doch bei der Frage, wie wir den Menschen ein wenig mehr Rücksicht auf Andere nahebringen könnten, wusste auch sie keinen Rat.

 

›Schon häufiger haben wir Hexen und Zauberer versucht, mit dem Papst und anderen hohen Kirchenherren oder mit Staatsmännern ein Gespräch zu führen. Wir wollten ihnen sagen, dass unbedingt etwas gegen diese Zustände getan werden müsse. Wir wollten erklären, dass es mit der Armut mancher Menschen so nicht weitergehen könne. Doch es hat nicht allzu viel gebracht‹, erklärte sie jetzt klagend. „Der Papst oder die hohen Politiker taten so, als ob wir Leute wären, die die unmögliche Absicht hätten, die Welt komplett zu verändern und würgten uns bereits nach den ersten Sätzen ab und ließen uns abführen.

 

›Aber irgendwelche Möglichkeiten muss es doch geben!‹, gab ich wütend von mir und stieß mit der Hand gegen die Wohnzimmertischkante. Hannes, der gerade vollkommen entspannt auf dem Sessel lag, zuckte zusammen, drehte sich vom Rücken aus auf die Seite und blickte mich erschrocken an.

 

›Tja, wir haben es schon mit einem recht starken Zauber versucht. Doch das Problem ist, dass ein solcher Zauber nicht ewig wirkt. Du kannst einem Menschen zwar eine Meinung oder eine Ansicht anhexen, aber sobald er auf Kollegen trifft, mit denen er zuvor einer Meinung war, können sie schnell auf ihre alte Ansicht zurückgebracht werden. Außerdem ist es ja strengstens verboten, einem anderen Lebewesen etwas anzuhexen‹, seufzte Elena schuldbewusst und bettete ihr Kinn in ihre Hände auf meinem Wohnzimmertisch. ›Du musst die Menschen also richtig überzeugen. Und das gelingt einem meistens nur durch sehr überzeugendes Reden.‹

 

›Ha, da haben wir es wieder, Elena! Wir müssen mit den Menschen sprechen! Wir können die belebten Planeten nicht durch sture Gewalt schützen. Denn Gewalt ist keine Lösung für die Konfliktsituationen.‹

Doch gleich darauf verdrehte ich die Augen gen Himmel. Denn ich hatte mich soeben nämlich wie die Lehrer in unserer Schule angehört, wenn sie uns erzählten, dass Gegengewalt keine gute Antwort auf ein Konflikt sei. Bereits damals klangen diese Worte für mich zwar richtig und logisch, aber aus den Mündern unserer Lehrer hörten sie sich hilflos an. Es hörte sich an, als wussten unsere Lehrer selbst keine geeignete Lösung für die Gewalt. Und schon zu diesem Zeitpunkt bemerkte ich, dass Menschen ziemlich schwache Geschöpfe waren, die nur selten das taten oder sagten, was sie wirklich tun wollten oder meinten. Aber erst als ich erwachsener wurde und durch Lesen, viel Nachdenken, Beobachten die Dinge auf dieser Welt etwas besser verstand und glaubte, ein wenig buddhistisch angehaucht zu sein, musste ich bemerken, dass diese Schwäche ganz einfach hierhin gehörte. Wir mussten einige Schwächen aufzeigen, damit das ganze System hier funktionieren konnte. Dennoch ärgerte es mich, dass die Lebewesen dieser Welt so schwach waren und sich häufig wie Marionetten dem Anderen fügten und ihm folgten. Ja, sie ließen sich alle mächtig verbiegen und taten es denjenigen nach, die meinten, etwas ganz Großartiges zu sein. Aber auch dies lag in der Natur des Menschen und war natürlich. Ich war ja ganz genauso.

›Na, aber dann habe ich nie eine Chance, irgendetwas zu bewerkstelligen. Ich kann ja nur undeutlich sprechen und dadurch von den Menschen kaum verstanden werden. Die Wenigsten nehmen mich deshalb ernst.‹, gab ich laut und ein wenig traurig von mir. Prompt sprang Momo auf den Tisch und leckte mir mitfühlend und tröstend über die Nasenspitze. ›Aber, Moment mal, Emma hat mir zu Anfang gesagt, als ich erfuhr, eine wahrhaftige Hexe zu sein, ich müsste das Hexen oder das Zaubern aus dem Grunde perfekt beherrschen, weil man es den Menschen richtig in die Köpfe und in die Herzen hinein hexen müsste, dass alle Menschen gleich sind.‹

 

›Nein, nein, Emma meinte nur, du müsstest bei den Menschen etwas mehr tun, als zu ihnen gehen, sie lieb anzulächeln, ihnen in die Augen zu schauen und irgendeinen Zauberspruch aufzusagen. Dies habe ich eben ja auch schon gesagt. Es reicht einfach nicht aus, wenn die Menschen eine Hexe oder einen Zauberer bloß sehen.‹, seufzte Elli plötzlich leise und geschwächt auf. ›Aber was dein Sprechen betrifft, so muss ich dir ganz ehrlich sagen, liebe Zerlina, dass du gar nicht so schlecht zu verstehen bist‹, erklärte Ellie auf einmal wieder etwas munterer, während sie aufstand, um uns noch einen Tee zu kochen.

›Wenn man sich Mühe gibt und du dich ebenfalls ein wenig anstrengst, ist es durchaus möglich, dich gut zu verstehen. Oder aber du nimmst jemanden auf deine Reisen mit, der dich perfekt versteht sowie es all die anderen invaliden Hexen auch tun, die nicht deutlich genug sprechen können‹, antwortete Elena und grinste mich dabei breit an und füllte in meiner offenen Küche Wasser in den Wasserkocher.

Oder aber ich hypnotisiere meine Mitmenschen, ganz genauso wie die Bewohner des gelben Planeten, dachte ich amüsiert.

Da Ellie inzwischen schon ziemlich müde wirkte, fragte ich, welchen Tee sie nun probieren wolle und ließ das Thema, wie man den ärmeren Ländern am besten helfen könne, fallen. Stattdessen überlegte ich laut, wer in die engere Auswahl käme, um mich auf meine nächste Reise zu begleiten. Diese Reise sollte nach China gehen. Dieses hatte ich mit Emma besprochen. Allein schon die Chinesische Mauer, von der ich schon häufig gehört hatte und die ich mir unbedingt persönlich anschauen wollte, zog mich mächtig in dieses Land. Nachdem ich allerdings erfahren htte, was für grausige Dinge die Chinesen mit unseren tierischen Vorfahren taten, hegte ich tiefen Abscheu gegen dieses Land. Doch trotz allem sollte und wollte ich diese Reise antreten.

Zuerst dachte ich als Reisebegleiterin an meine Zimmernachbarin aus meiner früheren betreuten Wohngruppe, mit der ich noch immer eng befreundet war. Aber war Jana denn ebenfalls eine Hexe? Rötliches Haar hatte sie ja. Nur keinen Buckel. Allerdings hatten Finn und Elena auch keinen Buckel oder eine krumme Nase und waren trotzdem Wesen unseres Planeten, überlegte ich angestrengt, während Momo inzwischen auf meinem Schoß saß und mir unmissverständlich zu verstehen gab, dass gleich Abendbrotzeit war. Und auch die Hexen und Zauberer, die ich kennengelernte, waren absolut nicht als solche zu erkennen. Selbst ich sah wie ein normaler Mensch aus. Nur saß ich den ganzen Tag im Rollstuhl, konnte meine Arme und meine Beine nicht gezielt bewegen und sprach wie eine Betrunkene. Von daher war es also gut möglich, dass Jana doch eine Hexe war.

 

›Ich denke in diesem Fall nicht an deine Freundin Jana‹, riss Elena mich schon wieder etwas munterer aus meinen Überlegungen. „Sie kann dich körperlich ja viel zu wenig unterstützen. Aber ich könnte dich doch auf deine Reise begleiten, dein Sprachrohr und deine Übersetzerin sein. Denn ich kann dich inzwischen auf Anhieb verstehen und finde dich ziemlich klasse. Du bist nämlich so schön willensstark, zielstrebig und hast schon eine ganze Menge erreicht. Du hast den Sudanesen sehr geholfen, auch wenn deine Großmutter viel an dir herummäkelt. Die Menschen fühlen sich bei dir verstanden, worauf Emma vielleicht ein bisschen neidisch ist. Die anderen Hexen und Zauberer, mit denen du dich etwas ausführlicher unterhalten hast, sind allmählich auch überzeugt, dass auf den einzelnen bewohnten Planeten die verrmehrte Empathie fehlt. Und sie versuchen nun, sie ganz bewusst dorthin zu bringen. Denn in manchen Augenblicken brauchen Viele wirklich nur jemanden, dem sie irgendetwas erzählen können und von dem sie sich vollkommen verstanden fühlen. Die Menschen fühlen sich geborgen und sicher, wenn du mit ihnen sprichst. Sie scheinen dann ihre Furcht, Wut und Trauer einfach abzuschütteln. Auch hast du es mit dieser Gabe geschafft, die Riesen neulich im Sudan von ihrem Vorhaben abzubringen. Und das ist auch der Grund, warum sie dich aus dem Weg haben möchten: Sie kennen deine Gabe! Denn falls du es soweit bringen solltest, mit Finn auf unseren Planeten zurückzukehren, können sie etwas länger darauf warten, die alleinigen Herrscher über all die Sterne und Planeten zu sein. Das Leben einer Hexe dauert nämlich etwas länger als das Leben eines Riesen, Von daher müssen sich die Riesen also beeilen, uns zu beseitigen. Denn vermehren tun sie sich auch nicht allzu häufig. Das wissen wir. Und deine Ruhe macht sie rasend. Aber die Meisten von uns und die Menschen finden deine Ruhe angenehm."

 

Verlegen und geschmeichelt blickte ich zu Boden. Denn ich hatte lange Zeit nicht mehr so etwas Schönes gehört.

 

›Das ist doch völliger Humbug, Ellie! Niemand hat aufgrund seiner inneren Ruhe soviel Einfluss auf Andere, dass er sie von einer bösen Tat abhalten könnte. Und nur, weil ich die riesigen Geschöpfe, die Emma und mich im Sudan angriffen, davon abgehalten habe, uns zu verletzen, bin ich noch lange keine Heldin. Ich meine, es entspricht zwar schon ein bisschen der Wahrheit, dass man sich entspannt und beruhigt, wenn man jemandem etwas erzählt und der Andere ruhig zuhört, aber ob es bei unseren außerirdischen Feinden ebenfalls funktioniert, weiß ich nicht. Auf der anderen Seite könnte es gut möglich sein. Denn ein Lebewesen ist ja nun einmal ein Lebewesen, das fühlt und Energien wahrnimmt! Und mit diesem Wissen habe ich versucht, die Riesen zu beruhigen und ihnen zu vermitteln, dass wir nichts Böses von ihnen möchten und sie in Zukunft mehr respektieren. Denn ein Jeder möchte ja respektiert werden, wodurch er selbstbewusster wird und nicht mehr diesen ohnmächtigen Zorn in sich spürt. Aber wahrscheinlich ist dies alles nur völliger Blödsinn, den ich da gerade von mir gebe.‹

 

›Das ist gar kein Blödsinn! Und das weißt du ganz genau. Und höre bitte endlich auf zu glauben, du würdest alles falsch machen. Denn das stimmt nicht. Du bist ein Wesen mit einer ziemlich guten Beobachtungsgabe. Das musst du endlich einmal erkennen und vor allen Dingen annehmen. Zumindest ist die Entdeckung, die Du meinst gemacht zu haben, richtig gut und wertvoll.‹

 

Grübelnd starrte ich an die Wand meines Wohnzimmers und fing an, die Bücher in meinem Bücherregal zu zählen. Denn jedes Mal, wenn ich angestrengt überlegte, begann ich, irgendwas in meinem Blickfeld zu zählen. Zum Beispiel Autos auf der Straße, die klitzekleinen Punkte auf der Raufasertapete oder eben Bücher. Vielleicht hatte Elena Recht, und ich war doch nicht so unnütz, wie ich immer glaubte. Inzwischen war ich beim Buch Nummer zwanzig angelangt. Auch war es mir recht unangenehm, dass ich meiner Freundin die Unterhaltung, die ich mit unseren Gegnern im Sudan gedanklich geführt hatte, größtenteils verschwieg. Ich hätte nur allzu gerne mit jemandem über das Gespräch mit dem Riesen gesprochen. Denn die anderen Hexen und Zauberer hatten von dieser Unterhaltung ja kaum etwas mitbekommen, weil sie die Riesen anderweitig außer Gefecht zu setzen versuchten. Auch konnten sie die Riesen nicht allzu gut verstehen. Sie brachten einfach nicht die Geduld und Ruhe auf, sich auf die Riesen einzulassen und versuchten lieber, sie mit irgendwelchen scharfen, harten Gegenständen in die Flucht zu schlagen.

 

›Tja, Ellie, aber dass man mit Gegengewalt nicht viel erreicht, wissen wir ja alle. Und zu diesem Thema kann man auch genügend in der Bibel lesen‹, riss ich mich aus meinen Gedanken und versuchte, mich wieder auf das eigentliche Thema zu konzentrieren. ›Ich meine, um dies zu begreifen, braucht man sich jeden Tag doch nur vor den Fernseher oder vor das Radio zu setzen und die Nachrichten zu sehen oder zu hören. Und es ist mir wieder erst so richtig aufgefallen, als wir im Sudan gegen die Riesen gekämpft und versucht haben, sie zuerst mit irgendwelchen scharfen Gegenständen in die Flucht zu schlagen. Am besten ist es, wenn man etwas Ruhe und Verständnis zeigt. Selbst dann, wenn es sich um seinen ärgsten Feind handelt.‹

 

›Ja, genau, da siehst du es wieder! Aber finde mal irgendjemanden, der bei Gefahr so ruhig und so verständnisvoll bleibt wie du. Erst recht unter den Menschen. Du hast eine Art, die einfach nur gut tut.‹, antwortete meine Freundin und lächelte mir aufmunternd zu. ›Also, was ist jetzt? Darf ich dich nach China begleiten? Falls ja, müssen wir aber bald reisen, da ich dich dann nämlich in meinem Urlaub begleiten werde.‹

 

Freudig nickte ich und griff nach Elenas Händen, um sich herzlich zu drücken.

 

›Komisch‹, sagte ich zu Moritz, als ich nach Ellies Angebot, mit mir nach China zu reisen, in meinem Schlafzimmer vor dem Fernseher saß, ›dass die meisten Menschen so einen schwachen Charakter haben.‹

 

›Ja, so sind die Wesen dieses Planeten eben‹, gab mein kleiner, süßer Mausmann von sich und stellte sich etwas auf. ›Deswegen ist deine Lebensaufgabe auch recht schwierig und umfangreich, weil viele Menschen eben nicht nur schwach, sondern zudem nicht gerade die Umsichtigsten sind. Genauer gesagt, sind manche von ihnen kurzsichtig und gucken weder nach links noch nach rechts. Sie meinen, sie wären die Einzigen im Weltall, die klar, logisch und umsichtig denken könnten. Aber in Wirklichkeit sind sie noch nicht einmal in der Lage, so zu sein, wie sie gerne sein möchten. Und manchmal glaube ich, dass sie gar nicht umsichtig denken und mitdenken wollen. Denn umsichtig können die Menschen schon sein, wenn sie wollen und keine

schwerwiegende Hirnverletzung haben. Aber nicht nur die Menschen des blauen Planeten sind so uneinsichtig, sondern auch die anderen Lebewesen auf den übrigen bewohnten Planeten. Doch vielleicht muss man ihnen tatsächlich nur richtig zu hören und ihnen das Gefühl geben, dass man sie versteht. Auch hast du mir erzählt, wie du die Menschen im Sudan durch intensives Zuhören auf die Idee gebracht hast, was in dieser Welt fehlt.‹

 

Seufzend blickte ich in den Mauskäfig, nickte leicht. Ein wenig gedankenverloren beobachtete ich, wie mein kleines Mausmännchen, das aufgrund seiner fast schon drei Jahre von Tag zu Tag ein wenig schwächer wurde, nun mühevoll seine halbe Karotte in sein Häuschen schleppte. Zwar hatte ich keine genaue Ahnung, wie alt Mäuse generell wurden, da ich noch keine Maus hatte, die an Altersschwäche gestorben war, aber aus Erzählungen her und aus Büchern wusste ich, dass sie nicht sehr viel älter als drei Jahre wurden. Somit war mir also schlagartig klar, dass ich mit Moritz nicht mehr allzu viel Zeit verbringen konnte.

Plötzlich brach ich in Tränen aus.

 

›Was mache ich denn, wenn du eines Tages von mir gehst, Süßer?‹, fragte ich schluchzend und wischte mir über die feuchten Augen.

 

›Na, na, wer wird denn hier gleich weinen, nur weil ich nicht mehr so flink die kleine Leiter zu meinem Häuschen hinaufkomme?‹, gab mein kleines, zotteliges Pelztier laut schmatzend von sich. ›Ich habe ehrlich gesagt noch nicht vor, von diesem Planeten zu gehen. Muss doch erst noch wissen und hören, was du auf deiner zweiten Reise alles so erlebst und ausrichtest.‹

 

Vor lauter Schreck vergaß ich meine Trauer und meine Tränen völlig. Oh je, meine zweite Reise nach China musste ich schon in gut acht Wochen antreten, fiel es mir siedend heiß ein. Denn dann begann nämlich Ellies Urlaub. Und ich musste noch so viel vorbereiten.

In den kommenden Wochen bemühte ich mich, alles zu regeln. Ich erklärte Elena genau, wie sie mich pflegen musste. Auch diesmal suchte ich Ärzte auf, damit ich gesund ins Land einreiste. Gott sei Dank besuchte meine Großmutter mich in diesen Wochen relativ selten, sodass ich die meisten Nächte durchschlafen und Kraft für meine Reise schöpfen konnte.

 

 

XII

 

Dann war plötzlich die Nacht gekommen, in der Ellie und ich nach China aufbrachen. Punkt einundzwanzig Uhr stand Elena vor meinem Bett und weckte mich aus einem tiefen, aber kurzen Schlaf. Vollkommen schlaftrunken blickte ich zu ihr auf und gähnte herzhaft. Schnell und geschickt, wie es auch meine Großmutter konnte, zog sie mich an, setzte mich dann in meinen Rollstuhl und putzte mir die Zähne.

 

›Wie kommt es eigentlich, dass Hexen ein Spiegelbild haben und zum Beispiel Vampire nicht?‹, fragte ich auf einmal laut ins Badezimmer hinein, als ich Ellie und mich im Spiegel betrachtete.

 

›Weiß ich auch nicht so genau.‹, entgegnete meine Freundin. ›Höchstwahrscheinlich, weil sie nicht mehr aus richtigem Fleisch und Blut bestehen, sondern nur noch Seelen Verstorbener sind, die nachts Gestalt annehmen.‹

 

›Na ja, so vollkommen blutleer sind Vampire nun auch wieder nicht‹, gab ich mit einem Augen blinzelnd und lachend zurück. ›Denn sie trinken ja das Blut von Menschen und Tieren.‹

 

»Vielleicht kann man sie im Spiegel nicht sehen, weil sie reine Hirngespinste und erfundene Gruselfiguren der Menschen sind?«, überlegte Elena.

 

Auf einmal hörte ich aus der einen Badezimmerecke ein munteres Lachen. Und als ich dort hinschaute, sah ich Momo, mein kleines Katzenfräulein, das sich vor Lachen beinahe kugelte. »Du erzählst da totalen Quatsch, meine Liebe, das will ich dir mal sagen!«, erklärte Momo mit piepsiger Stimme. »Natürlich gibt es echte Vampire. Das weiß doch jedes Kind. Und zwar werden einige Fledermäuse in warmen Ländern als Vampire bezeichnet, die nachts die größeren Tiere auf den Weiden anfliegen und ihr Blut trinken.«

 

Lächelnd strich Elena meinem Katzenmädchen über den Kopf und gab ihr Recht. Zufrieden und mit glänzenden Augen legte Momo sich hin und ließ sich genussvoll am Bauch kraulen.

 

Nach einigen Augenblicken sah ich aus meinem Badezimmer heraus auf meine Wohnzimmeruhr. Mit Schrecken bemerkte ich, dass es bereits viertel nach neun war. Pünktlich um zehn Uhr wollten Elena und ich uns mit Emma in einem Waldstück außerhalb der Stadt treffen. Meine Großmutter war so besorgt, wir beide könnten uns auf dem Weg nach China verfliegen, dass sie darauf bestand, uns vor unserer Abreise eine so genannte Flugkarte mitzugeben. Mir war völlig klar, dass mehr die Angst und die Fürsorge meines Vaters dahinter steckten als die von Emma.

Schnell verabschiedete ich mich von Moritz, der mir tausendmal nachrief, ich solle auf meiner Reise gut auf mich aufpassen, und von meiner kleinen Momo, die mich traurig anschaute und ständig fragte, wer ihr nun etwas zu essen gebe, ihre Toilette sauber mache und mit ihr kuschele. Schnell erklärte ich ihr noch einmal, dass eine andere Freundin von mir täglich vorbeikommen und sie und Moritz gut versorgen würde.

Die Nachtluft des Aprils war recht kühl und trieb mir auf dem Flug zum Treffpunkt wieder mal Tränen in die Augen.

 

›Na, da seid ihr ja!‹, rief uns eine mir sehr vertraute Männerstimme entgegen, als wir im ausgemachten Waldstück außerhalb der Stadt landeten. Und Bruchteile von Sekunden später wurde ich von zwei starken Armen aus meinem Spezialsitz gehoben und auf einen dicken Baumstumpf gesetzt.

 

›Papa!‹, rief ich erfreut aus. ›Was machst du denn hier?‹

 

›Nun, ich muss mein kleines Töchterchen vor seiner großen Reise noch einmal sehen‹, antwortete mein Wolfram.

 

Nach einer geschlagenen Dreiviertelstunde saß ich wieder auf meinem Spezialbesen und ließ mir den kühlen Nachtwind um die Nase wehen. In Gedanken rief ich mir noch einmal die besorgten Fragen und guten Ratschläge ins Gedächtnis, mit denen Papa mir während der vergangenen Dreiviertelstunde in den Ohren gelegen hatte.

Mein Vater war zwar erst ein einziges Mal in seinem Leben in China gewesen, dennoch konnte er mir eine ganze Menge über dieses Land erzählen. Ich dagegen war noch nie in die östlichen Länder gereist. Ich wusste nur, dass China in den fünfziger, sechziger Jahren und teilweise auch noch bis Mitte der siebziger Jahre sehr unter dem Kommunismus und der Regierung Maos gelitten hatte. Ich wusste, dass Japan und China zum damaligen Zeitpunkt einen heftigen Krieg gegeneinander führten. Jedoch bin ich nie so recht schlau daraus geworden, warum diese beiden Länder sich so sehr bekämpften. Aus diesem Grunde freute ich mich auch noch, in dieses Land zu reisen.

Wir flogen, bis es hell wurde. Dann suchten wir uns in einem Wald ein geschütztes Plätzchen zum Schlafen. Und auch, wenn es auf dem Waldboden nicht gerade bequem und gemütlich war, so konnten wir dennoch neue Kraft tanken. Sobald der Morgen dämmerte, aßen wir im dichten Wald unsere Nüsse und Trockenfrüchte, die wir mitgenommen hatten, tranken Wasser aus glasklaren Quellen, legten uns schlafen und bestiegen am Abend in der Dunkelheit wieder unsere Besen. Erst nach drei Tagen erreichten wir endlich unser Ziel. Und schon beim Fliegen bemerkte ich, dass China am Ostrand des asiatischen Kontinents lag.

Schließlich kamen Elena und ich müde und erschöpft von unserem langen Flug in unserer Unterkunft an, die mein Vater telefonisch für uns in Peking reserviert hatte. Den ganzen nächsten Tag und die halbe nächste Nacht schlief ich durch. An unserem Anreisemorgen erkannte ich fast schon schlafend, dass man aus den riesigen Fenstern unseres Hotelzimmers einen richtig tollen Blick über die Stadt hatte. Als wir endlich ausgeschlafen hatten, stürzten meine Freundin und ich uns in das Nachtleben von Peking.

Hell erleuchtete Straßen, bunte Lichter in den Fenstern der Geschäfte, Restaurants und Bars und lachende Menschen beeindruckten mich in dieser Nacht.

Und auch hier traf ich die kommenden Tage auf zahlreiche invalide Hexen und Zauberer, die dieselbe Lebensaufgabe hatten wie Ellie und ich. Mit ihnen unterhielten wir uns angeregt über die Geschehnisse dieser Welt. Größtenteils taten wir dies auf Englisch. Manchmal sprachen Ellie und ich auch ein ganz kleines bisschen Chinesisch. Das oberflächliche Chinesisch hatten wir von einer gemeinsamen Freundin gelernt, die Chinesin war. Während unseren Zusammentreffen und Gesprächen, mochte ich gar nicht daran denken, dass vielleicht einmal der Augenblick kommen würde, in dem ich einem oder sogar gleich mehreren Bewohnern des gelben Planeten mutterseelenallein gegenüberstand und mein Leben und das von Millionen anderen Menschen verteidigen musste.

 

In den folgenden drei Wochen sollte ich erfahren, dass China mit über einer Milliarde Bewohnern der bevölkerungsreichste Staat der Erde ist. Viele, die China besuchten, waren von den Menschenmassen beeindruckt und sogleich schockiert. Ich erfuhr von der altmodischen Denkweise der älteren Leute, die sich bis heute gehalten hatte. Man erzählte mir viel über den heftigen Krieg zwischen China und Japan, den Kuomintangs, die Russen und die Kommunisten und Pu Yang, den letzten kindlichen Kaiser. Und natürlich hörte ich eine Menge über Mao Zedong, dessen Diktatur und deren Folgen. Die Sache mit Maos Regierung erinnerte mich sehr an Hitler. Denn auch Hitler verlor nach einiger Zeit die vollständige Kontrolle über sich und rutschte in die Wahn seiner Idee, von einem großen und "sauberen" Deutschland. Dass die Idee eines solch kleinen Mannes einen Weltkrieg auslöste, war für mich immer noch unvorstellbar. Allerdings gab es genügend Anhänger, die mit vollster Überzeugung hinter ihm standen und seine Taten bejubelten. Bei Mao hatte sich der Wahnsinn wenigstens weitestgehend auf zwei Länder begrenzt.

Aber dass damals in China fast nie aus Liebe, sondern nur wegen des Geldes und wegen der guten Versorgung geheiratet wurde, beschäftigte mich. Die Eltern eines jungen Mädchens suchten einen jungen Mann aus, von dem sie sicher sein konnten, dass er ihre Tochter und sie selbst gut versorgen konnte. Auch die Geschichte mit den Konkubinen, den offiziellen Geliebten reicher Männer, erschütterte mich.Und nicht selten entstanden aus diesen Beziehungen Kinder. Häufig geschah es, dass die Konkubinen nach dem Tode des Mannes von dessen rechtmäßiger Ehefrau zur Prostitution gezwungen wurden und ihr Kind für immer an sie abgeben mussten. Denn sobald der Mann gestorben war, hatte die rechtmäßige Ehefrau die volle Macht über die Konkubinen.

Und wieder einmal musste ich aus den Erzählungen erkennen, dass die Bewohner dieses Planeten ein bisschen seltsam waren. Bei meinen zahlreichen Interviews wurde ich nochmals auf diese unbändige Angst und auch auf die Mutlosigkeit aufmerksam, die in den Menschen steckte.

 

›Und diesen Lebewesen sollen wir nun Umsicht ins Hirn zaubern? Na, ob wir das in unserem dafür doch recht kurzen Hexenleben wohl schaffen?‹, gab ich sehr skeptisch von mir, als ich abends erschöpft und müde auf meinem Bett lag und meiner Freundin dabei zuschaute, wie sie ihren Besen entstaubte.

Unser Hotelzimmer war zwar gemütlich, aber irgendwie auch seltsam eingerichtet. Nein, ich fand es eher lustig. Denn die Wände waren giftgrün, die Bettgestelle feuerrot und die Bettwäsche strahlend weiß. Keine Bilder hingen an der Wand. Dafür standen auf den beiden Nachttischen und auf dem runden Kaffeetisch direkt vor dem riesigen Fenster ebenso farbenfrohe Blumen wie das Zimmer selbst.

›Zudem es ist auch bestimmt nicht im Sinne des Erfinders dieses Planeten, dass über die Menschen absolute Klugheit und Zuversicht herrscht und sie alles glasklar durchschauen. Er wird sich bestimmt schon irgendetwas dabei gedacht haben, dass es immer wieder zu sehr heftigen Streitereien, die man Kriege nennt, zwischen den Menschen kommt und sie sonstige Dummheiten begehen. Und dieser Planet funktioniert insgesamt so gut durchdacht, dass man ehrlich meinen könnte, jemand hätte sich vor Milliarden von Jahren hingesetzt, als er gerade extreme Langeweile hatte, und die Welt erschaffen. Und es wird ebenfalls nicht ohne Grund sein, dass in regelmäßigen Abständen von zehn, fünfzehn Jahren eine Naturkatastrophe ins Land bricht, die manchmal grausig viele Menschen und Tiere in den Tod reißt.‹

 

›Na, wir sollen auch nicht gleich die komplette Welt erretten, sowie man es Jesus nachsagt‹, erinnerte meine Freundin mich. ›Unsere Aufgabe ist es lediglich, den Lebewesen dieses Planeten zu zeigen, dass es keine Menschen gibt, die völlig aus der Art schlagen, so wie sie es immer meinen. Wir sollen versuchen, sie einander näher zu bringen. Wir sollen ihnen bewusst machen, dass sie eine Gemeinschaft sind und ein Jeder von ihnen aus Fleisch und Blut besteht und sie einander brauchen.Der komische Typ, der angeblich den lieben Gott zum Vater hatte, von einer Jungfrau geboren wurde und dem man nachsagt, er sei der Schöpfer in Person gewesen und habe die Welt errettet, hieß doch Jesus, oder? Ich kann mir die Figuren der einzelnen Religionen immer so schlecht merken.‹

 

›Ja, ja, der hieß Jesus‹, antwortete ich matt, rieb mir die Augen und kuschelte mich noch etwas weiter in mein Kopfkissen. ›Aber diese Lebensaufgabe können wir in unserem dafür recht kurzen Hexenleben unmöglich korrekt beenden.‹

Wie gerne hätte ich in diesem Augenblick dich, meinen kleinen, süßen Moritz und meine kleine Goldmomo bei mir gehabt. ›Außerdem komme ich jeden Tag immer mehr zu der Erkenntnis, dass es die pure Angst ist, die hier den meisten Schaden anrichtet‹, stieß ich weiter matt hervor. „Denn hast du schon einmal beobachtet, dass das Leben eines Lebenswesen nur mit Furcht durchzogen ist? Als Kind verspürt man eine gewisse Angst vor seinen Eltern und seinen Lehrern. Man ängstigt sich vor den Klassenarbeiten, vor schlechten Noten und vor den Abschlussprüfungen. Später verspürt man eine gewisse Angst vor dem Job, vor der eventuellen Entlassung, vor dem Leben an sich und schließlich vor dem Tod. Man weiß nicht, was nach dem Tode kommt und ob man für seine Taten, die man zu Lebzeiten begangen hat, belohnt oder bestraft wird oder ob gar nichts mehr kommt. Na, und einige Leute haben nicht so ein starkes Nervenkostüm und tun alles Andere, als sich einigermaßen „gut zu benehmen", und drehen durch. Ich glaube, wir müssen den Menschen vermitteln, dass sie nicht böse sind. Ganz egal, was sie auch immer tun. Und dass sie nach ihrem Tode nicht bestraft werden und nicht bis in alle Ewigkeit in der Hölle schmoren. Jedes Lebewesen tut in seinem Leben mal etwas Gutes. Aber es ist unmöglich, immer nur Gutes zu tun. Und es ist ebenso unmöglich, immer nur Schlechtes zu tun. Somit wird sich alles Gute und alles Schlechte nach dem Tode weitestgehend die Waage halten.

 

›Nun, schon möglich, dass die Angst, die Ungewissheit vor dem Morgen und das ›Sich-niemandem-richtig-anvertrauen-Können‹ die größte Ursachen für die Unruhe auf den Planeten sind?‹, antwortete Elena und stellte ihren Besen zurück hinter die Zimmertür.

 

»Na ja, wir müssen den Menschen halt ganz deutlich aufzeigen, dass sie sich diese Erdkugel teilen, sie bewohnen und bewirtschaften. Ihnen muss so gut es geht vermittelt werden, dass sie zusammen auf der Welt sind, um sich nicht zu bekriegen, sondern um miteinander zu leben und sich gegenseitig Kraft und Halt zu geben.“, entgegnete ich.

 

›Ja, ja, das ist schon klar.«, überlegte Elena weiter. ›Nun, und es ist auch gar nicht wichtig, dass es die Hexen und Zauberer aus dieser Generation schaffen, diese bewohnte Welt ein ganz klein wenig mehr zum Zusammenhalt zu bewegen. Aber wir können für unsere nächste Generation schon ein wenig vorarbeiten. Überhaupt du, meine liebe Zerlina!‹, erklärte meine Freundin plötzlich weiter und kehrte somit wieder zu ihrer eigentlichen und tröstenden Antwort auf meine laut gedachte Bemerkung mit der Wärme und dem Halt dieser großen Gemeinschaft zurück.

 

›Wie meinst du das denn jetzt?‹, fragte ich nun etwas geschockt und aufgeregt. Immer noch träge stütze ich mich auf dem Rücken liegend auf meine Ellenbogen.

 

›Nun, du scheinst überzeugt zu sein, das gefunden zu haben, was auf den belebten Welten den Zusammenhalt stört. Aber was ich dir eigentlich sagen oder besser gesagt dich fragen wollte, ist, ob du dich nie gefragt hast, wieso gerade ausgerechnet du die Auserwählte bist, die mit Finn Schwelm auf eine recht unkomplizierte Art und Weise zusammen sein darf?“

 

„Na, als ich noch nicht wusste, ein echtes Zauberwesen zu sein, habe ich mich schon gewundert, dass kaum ein negatives Wort über uns gesprochen wurde.“, gab ich zu. „Denn Finn zählt mit seinem Hohlkreuz ja eigentlich nicht so offiziell zu den körperlich behinderten Menschen. Und normalerweise trennen die Menschen ja hübsch alles. Ausländer wohnen in den Städten meistens in Ausländervierteln. Und Behinderte, Kranke, Kinder und Alte werden ebenfalls aus der Gesellschaft aussortiert. Darum haben es die Erdbewohner auch so schwer, sich zu vermischen und sich zu einer Einheit zusammenzutun. Denn es ist aus der Sicht der Gesellschaft dieses Planeten eher nicht schön, wenn beispielsweise eine behinderte Frau einen nicht behinderten Mann liebt und mit ihm glücklich verheiratet ist. Oder wenn ein alter Mensch mitten unter jüngeren Leuten lebt. Nun, bei uns Hexen und Zauberern scheint es normal zu sein, dass wir uns untereinander vermischen, nicht? Das habe ich schon damals auf dem Brocken bemerkt." Gemütlich schlug ich mein linkes Bein über das Rechte und stütze mich weiterhin auf meine Unterarme.

 

›Ja, genau. Aber ich meine jetzt, seitdem du über dein Hexenleben Bescheid weißt, hast du dich da noch nie gefragt,warum die Menschen Finns und deine Beziehung so als selbstverständlich hinnehmen?‹

 

Leicht überlegend blickte ich vor mich hin. Dann nickte ich und erzählte, dass es mich aufgrund der merkwürdigen Ansichten und Meinungen der Menschen schon gewundert hatte, dass über Finns und meine Liebesbeziehung sowenig gesprochen wurde. Ganz besonders sowenig Negatives. Aber da Finn und ich überall als Paar hingekommen waren, hatte ich geglaubt, dass es damit zusammenhänge. Denn Leute, die als Paar irgendwo hinkommen, werden immer leichter zusammen akzeptiert und für ernst genommen, als wenn sie erst im Nachhinein zusammen kamen. Warum dies so war, wusste ich nicht. Doch nun begann ich mich zum allerersten Mal in meinem Leben über dieses „Phänomen“, mit Finn ohne viel negative Kommentare zusammen sein zu dürfen, errnsthaft zu wundern. Ich erkundigte mich bei Elena sogleich, ob sie eine Idee hätte.

 

Etwas verlegen wurde ich von meiner Freundin angeschaut.

 

›Nun, Zerlina, manchmal dürfen wir Zauberwesen den anderen Lebewesen doch etwas anhexen‹, gestand Elena mit gesenktem Kopf. ›Dies funktioniert ja schon allein unter den Menschen selbst. Deshalb können die Leute mitunter auch sagen, dass irgendjemand verflucht oder verhext ist. Finns und deine Eltern haben damals einen besonders guten und starken Zauber angewandt, der nur für ganz besondere Anlässe benutzt wird. Sie wollten einfach, dass ihr euch mit dem Gerede der Menschen nicht auch noch beschäftigen müsst.‹

 

›Emma hat mir also etwas verschwiegen, damit ich nicht auf dumme Gedanken komme, oder wie?‹, lachte ich plötzlich auf. ›Vermutlich hat sie geahnt, dass ich doch eine schnell schaltende Schülerin bin, die in relativ kurzer Zeit das Zaubern und die Zaubersprüche erlernt und dann vielleicht einen verbotenen Zauberspruch benutzt, um es sich leichter zu machen.‹

 

›Tja, sie kennt eben deine Eltern. Und der Apfel fällt bekanntlich nicht weit vom Stamm‹, lachte Elena nun auch. "Und da du recht schnell lernst, glaubte Emma, wenn du davon erfährst, würdest du Moritz ausfragen. Denn er ist ja nun einmal auch ein Zauberwesen unseres Planeten. Und in seinem vorherigen Leben war er ein richtig guter Zauberer."

 

"Ja, davon hat mein kleiner Mausmann schon mehrmals erzählt.", lächelte ich kurz.

 

Genau in diesem Augenblick klopfte ein kleiner, chinesischer Zauberer an unsere Zimmertür und fragte uns, ob wir nicht Lust hätten, heute Abend bei ihm und seiner Familie zu essen.

 

In den kommenden Tagen nahm ich mir vor, Elena nach unserer Heimkehr nochmals über den wahren Grund für Finns und mein doch so recht unkompliziertes und ruhiges Zusammensein auszufragen. Oder besser gesagt, wollte ich sie fragen, warum die Auswahl gerade auf mich gefallen war, die Partnerin von Finn Schwelm zu werden. Denn weil wir bei unserer Unterhaltung in unserem kunterbunten Hotelzimmer vom Chinesischen Zauberer gestört wurden, hatte ich Ellie nicht weiter über Finn und mich ausfragen können.

Nachdem ich einen alten Mann und eine alte Frau in Peking besuchte und noch eine Vieles über das frühere und heutige China erfahren hatte, gönnte ich mir eine kleine Verschnaufpause. Ich besuchte mit meiner Freundin die weltbekannte Chinesisch Mauer, die sich quer durch Nordchina schlängelt und im 3. Jahrhundert von dem ersten großen Kaiser dieses Landes zum Schutz vor feindlichen Stämmen gebaut wurde. Sie war das einzige von Menschenhand errichtete Bauwerk, das aus dem Weltall aus der richtigen Position deutlich zu erkennen ist. Bei diesen Unternehmungen war es sehr zum Vorteil, dass Ellie trotz ihrer ziemlich kleinen Größe stark und kräftig war und wir somit auch die nicht gerade rollstuhlgerechten Gegenden Chinas besichtigen konnten. Denn auch hier hatte ic mir einen ziemlich klapprigen Rollstuhl gezaubert. Und wenn wir tatsächlich einmal irgendwo stecken blieben, kam seltsamerweise meist wie aus dem Nichts jemand Kräftiges herbeigeeilt und half uns.

Und auch hier begegnete ich einem von unserem Bekannten vom gelben Planeten. Er lauerte mir dieses Mal ebenfalls in einem Waldstück auf. Wahrscheinlich versuchte er immer, in einem Wald über mich herzufallen, weil er dort keine allzu große Gefahr lief, durch irgendjemanden gestört zu werden. Außer natürlich von meiner Begleitung. Aber im Großen und Ganzen konnte sie ihm nicht gerade gefährlich werden, da auch sie ein sehr viel schwächeres Zauberwesen war als er. Allerdings war diese Auseinandersetzung bei Weitem nicht so voller Aggression und Gewalt wie die Letzte. Seltsamerweise gelang es mir bei dieser Auseinandersetzung erstaunlich schnell, den Riesen zu besänftigen und ihm gedanklich zu erklären, dass er und seine Mitriesen uns nicht unsympathisch waren sowie sie es vermutlich glaubten. Freudig und ein wenig erstaunt nahm ich wahr, wie sich der Riese von meinen Worten schnell beruhigen ließ. Selbstverständlich hegten die Bewohner des gelben Planeten noch immer arge Zweifel gegen uns. Dies konnte ich aus den „Worten“ des Riesen zweifelsohne entnehmen. Auch konnte ich es heraushören, dass er meinte, ich könne ihm und seinen Mitriesen ja viel versprechen. Dieses meinten ganz besonders die vier Vordermänner, die es auf dem gelben Planeten gab. Warum auch heute keinVordermann aufgetaucht war, wunderte mich. Aber höchstwahrscheinlich schämten sie sich zu sehr, dass sie mich noch immer nicht beiseite geschafft hatten. Schließlich hörte der Riese auf, mit irgendwelchen schweren Gegenständen um sich zu werfen und hockte nach einiger Zeit ganz ruhig da und schaute sich den Platz etwas genauer an, auf dem er gelandet war, und hörte mir zu. Noch erstaunter war ich, als er sich ohne Weiteres zurückzog.

Na, sehr viel kämpfen musste ich ja nicht gerade, dachte ich etwas beschämt. War dieses wirklich wieder mal durch meine Ruhe und mein Verständnis geschehen? Seitdem ich glaubte, das wirklich Fehlende zwischen den Menschen entdeckt zu haben, achtete ich genau darauf, jedem Einzelnen mit viel Respekt, viel Ruhe und viel Verständnis zu begegnen. So auch den Riesen. War mein Verhalten tatsächlich der Grund, weshalb das Zusammentreffen mit dem Riesen diesmal so gewaltfrei und friedlich vonstattengegangen war? Komisch, dachte ich nach der Begegnung mit dem Riesen, dass sie mich niemals mehr bei mir zu Hause überfallen. Aber vielleicht beschützten Moritz und Momo mich so gut, dass diese Riesen es gar nicht mehr wagen, nachts zu mir nach Hause zu kommen. Bei diesem Gedanken musste ich herzhaft lachen. Denn ich wusste genau, wie sehr meine kleine Momo wütend wurde, wenn sie bemerkte, dass mir in irgendeiner Art und Weise Unrecht geschah.

Zwischen meinen Erholungspausen unterhielt ich mich immer wieder mit einigen Leuten. Hörte ihnen zu, stellte Fragen und versuchte, ihnen zu vermitteln, dass jeder Mensch unter dem Himmel gleich sei. Die meiste Zeit jedoch hörte ich den Leuten ganz einfach nur zu und warf dann und wann mal einen kleinen Vorschlag ins Gespräch. Und abermals spürte ich, wie die Menschen ruhiger wurden und plötzlich und wie von selbst über die Dinge sprachen, die zwischen ihnen beinahe komplett verschwunden zu sein schienen und dringend wieder hergestellt werden mussten.

Bei diesen Gesprächen oder besser gesagt bei diesem Zuhören fühlte ich mich wie Momo aus dem Kinderroman von Michael Ende. Ich fand dieses Mädchen schlichtweg einzigartig und bewunderte es sehr für seine Gabe, die Menschen durch intensives Zuhören auf die richtigen Lösungen ihrer Probleme zu bringen. Somit schämte ich mich ein wenig, als ich bemerkte, diese Fähigkeit ebenfalls zu besitzen. Ich glaubte, jemandem sein Können zu stehlen und nichts Eigenes zustande zu bringen. (Selbst wenn Momo womöglich nur eine Phantasiefigur war ...)

 

›Höchstwahrscheinlich gab es Momo tatsächlich und war keine Phantasiefigur‹, überlegte Finn, als er mich für ein paar Tage in China besuchte.

 

Wir saßen gerade gemütlich in meinem Hotelzimmer und unterhielten uns über meine Reise, als ich ihm kleinlaut von der Gabe berichtete, die ich an mir festgestellt zu haben glaubte.

 

›Na, dass du eine gute Zuhörerin bist, weißt du ja schon lange. Und manchmal ist es halt so, dass man beim Erzählen eines Problems selbst auf die Lösung kommt. Ich meine, so jung bist du nun auch nicht mehr, als dass du dieses Phänomen nicht schon selbst einmal erlebt hättest, oder?‹ Leicht legte Finn seinen Kopf schief und blickte mich mit lächelnden Augen an.

 

Stumm nickte ich und wünschte mir, mit dir über diese ganze Sache sprechen zu können. Und dies, obwohl Finn keineswegs Dummes von sich gegeben oder mich gar verulkt hatte. Jedoch hatte ich mich bei dir immer mehr verstanden und ernst genommener gefühlt. Woran das lag, konnte ich nicht sagen.

 

Aber auch, wenn ich eine gute Zuhörerin zu sein schien, gab es natürlich Menschen, die mir nichts erzählten und sich unwohl in meiner Gegenwart fühlten.

 

Dann, nach langem Durchfragen und zahlreichen Versuchen, mit einem etwas höheren Herrn des Landes über die Lage der Menschen hier zu sprechen, gelang es mir, mich fünf Tage vor unserer Abreise nach Deutschland mit einem etwas älteren Herrn zu treffen. Fast ein wenig schwindelig vor Glück über meinen Erfolg, saßen meine Freundin und ich an einem sonnigen Tag im hellen und modernen Büro dieses Politikers. Staunend und fragend blickte er mich an. Dennoch wirkte er über meine ständig zappelnden Arme und Beine, meine andauernd verkrampften Hände und über mein Grimassen ziehendes Gesicht keineswegs verängstigt. Aufgeregt versuchte ich, diesem Herrn auf Englisch meine brennenden Fragen zu stellen. Dabei übersetzte Elena ein wenig.

Auf die Frage hin, wie er Menschen denn begegne, sah er mich etwas staunend an und überlegte einige Sekunden. Darüber habe er sich noch nie Gedanken gemacht, antwortete er. Dennoch, so denke er, begegne er jedem Menschen auf gleicher Ebene. Tja, nur hörte ich diese Aussage von jedem Menschen. Trotz alledem gab es zwischen den Menschen ständige Auseinandersetzungen, Streitereien und Kriege. Sie kamen mit ihrer Unterschiedlichkeit einfach nicht zurecht.

Da es mich ganz besonders interessierte, wie es um die invaliden, kranken und Alten Menschen in China bestellt war, hatte ich versucht, zu dem Politiker zu gelangen, der sich speziell für die Bedürfnisse dieser Menschen einsetzte.

Das Büro dieses Mannes war genauso modern eingerichtet, wie das Büro seines Kollegen gestern. Nur hingen hier dunkelblaue Vorhänge vor den Fenstern und in den beiden Regale hinter dem großen Holzschreibtisch standen noch mehr Bücher. Mir fiel auf, dass der Schreibtisch etwas erhöht auf Klötzen stand.

Als der Politiker endlich erschien, bemerkte ich, dass auch er eine recht starke körperliche Behinderung hatte und im Rollstuhl saß.

Gemeinsam mit ihm sah ich mir Alten- und Pflegeheime und sogar Krankenhäuser an. Und auch hier in China lebten die pflegebedürftigen Menschen, solange es irgendwie ging, in der Mitte ihrer Familien. Und diejenigen, denen es nicht möglich war, bei ihrer Familie zu leben, kamen in ein Heim.

›Wissen Sie, mit siebzehn Jahren hatte ich einen schweren Motorradunfall und bin seitdem querschnittsgelähmt‹, fing er auf einmal zu erzählen an, als wir gerade aus einem Pflegeheim für behinderte Menschen hinausgingen. ›Und meine Mutter ist starke Spastikerin, genauso wie Sie. Von klein auf habe ich also mitbekommen, wie schwierig es für meine Mutter aufgrund ihrer starken Körperbehinderung ist. Denn China ist nun einmal nicht Deutschland oder die Niederlande. Auch für meinen Vater war es nicht leicht, da er nicht behindert ist. Oftmals wurde er von den Anderen belächelt und für nicht soooo ernst genommen.

 

Ob er wegen seiner Eltern in die in diese besondere Politikrichtung gegangen sei, fragte ich ihn.

 

›Zum größten Teil schon‹, bekam ich daraufhin zur Antwort.

 

Tja, dieser Planet schien keineswegs eine Gemeinschaft zu bilden, wie man es von ganz weit oben vermutete, erkannte ich wieder einmal traurig. Von Kontinent zu Kontinent gab es heftige Unterschiede zwischen den Menschen. Nicht einmal ein Land bildete halbwegs eine Gemeinschaft, sowie ich es von Deutschland her wusste. Im Norden wohnten andere Leute als im tiefsten Süden Deutschlands. Und die Hamburger mochten die Bayern nicht und umgekehrt. Ich meine, auch dieses Verhalten ist durchaus logisch zu erklären. Denn wer aus einer Gruppe heraus eine Andere diskriminiert, stärkt den eigenen Zusammenhalt. Dieses musste man einfach so sehen. Aber auch hier konnte man ganz klar an die Intelligenz der klar denkenden Lebewesen appellieren. Denn schließlich wollten die weiterentwickelten Lebewesen immer so klug und tolerant sein. Jedenfalls hier auf dieser Erde!

Und wir, vom Planeten der Hexen und Zauberer, sollten dies nun ändern und die Menschen näher zusammenführen., dachte ich.Verzweifelt schaute ich den jungen Chinesen an, der mich anlächelte, gerade so, als ob er meine Gedanken gelesen hatte.

 

›Ja, ja, die menschlichen Lebewesen sind schon merkwürdig‹, seufzte Hu.

 

›Nun, und wie kann man um Himmels willen diese Leute dazu bringen, eine einzige Gemeinschaft zu bilden?‹

 

›Man kann den Menschen keine Umsicht beibringen. Das ist schier unmöglich!‹, erwiderte Hu erstaunt. ›Sie können die Welt nicht ändern. Sie können nur sich selbst ändern.

›Aber wenn ich es nicht schaffe, die Menschen näher einander rücken zu lassen, werde ich meinen Finn niemals heiraten und nach Hause zurückkehren können‹, platzte es plötzlich unbedacht aus mir heraus.

 

›Wie bitte?!‹, fragte Hu völlig verwundert und ein wenig erschrocken.

Ebenfalls geschockt über meine Unvorsichtigkeit blickte ich zu Boden und wäre am allerliebsten darin versunken.

 

›Wie meinen Sie das?‹, versuchte Hu noch Weiteres von mir zu erfahren.

 

›Ach, meine Eltern haben mir versprochen, dass sie mir meine Hochzeit bezahlen, wenn ich meine Chinareise gut und erfolgreich hinter mich bringe und einen ausführlichen Bericht das menschliche Verhalten zu schreiben. Mein Vater ist nämlich Verhaltensforscher, müssen Sie wissen‹, stotterte ich und spürte, wie mir der Schweiß meinen Oberkörper hinunter rann.

 

›Na, Sie müssen ja erfolgreiche Eltern mit viel Geld haben, wenn sie Ihnen bei gut geleisteter Hilfe und Arbeit die Finanzierung Ihrer Hochzeit versprochen haben‹, gab Hu völlig verblüfft zurück.

 

Vollkommen dümmlich lächelte und nickte ich.

 

 

XIII

 

In dieser Nacht kam meine Großmutter zu uns. Plötzlich stand sie vor meinem Bett, kniff mir unsanft in die Wange und zischte mir zu, ich solle mich ja in Acht nehmen und nicht noch einmal so unvorsichtig sein.

 

›Ach, Oma, glaubst du denn im Ernst, Hu hätte es mir abgenommen, wenn ich ihm vertrauensvoll erzählt hätte, ich sei eine Außerirdische, die eine ganz bestimmte Lebensaufgabe zu erledigen hat?‹, erkundigte ich mich noch sehr vom Schlaf benommen, aber gleichzeitig auch höchst amüsiert bei Emma. ›Wer glaubt heutzutage noch an wahre Hexen und Zauberer?‹

 

›Ach, seit Harry Potter, dem jungen Zauberer aus dem beliebten Fantasyroman, wieder eine ganze Menge‹, piepste es plötzlich unter dem Umhang meiner Großmutter hervor.

 

›Momo!‹, rief ich hoch erfreut und auf einmal putzmunter aus. Und schon im

nächsten Moment hockte mein kleines, dickes Katzenmädchen mitten auf meiner Bettdecke und leckte freudig mein Gesicht ab. Überglücklich umarmte ich Momo, kuschelte mein Gesicht in ihr samtweiches Fell und liebkoste sie mit kleinen, hektischen Küssen.

 

›Lass mich noch ein wenig leben, ja?!‹, bettelte sie.

 

›Oh, entschuldige bitte‹, sagte ich und lockerte umgehend meine Umarmung. "Wie seid ihr denn so schnell hier nach Peking gekommen? Außerdem ist es für Momo viel, viel zu kalt und zugig in der Luft. Sie holt sich doch eine dicke, fette Erkältung." Besorgt prüfte ich mit den Händen, ob Momo sich wirklich normal warm anfühlte.

 

"Na, wir haben uns reichlich Zeit gelassen.", gab Großmutter zurück. „Wir sind seit sechs Nächten unterwegs und haben zwischendurch viele, viele Pausen eingelegt. Außerdem hatte ich deine Momo dicht an meinem Körper und unter meinem dicken Umhang gehabt, sodass ihr gar nicht kalt werden und sie keinen Zug bekommen konnte. Ja, sie wollte unbedingt mit zu dir. Möchtest du mit nach Hause kommen?‹

 

›Ja, sehr gerne!‹, rief ich prompt aus, warf meine dünne Bettdecke zur Seite und sprang meiner Großmutter mit Momo im Arm fast entgegen.

 

›Moment, Zerlina, eine alte Frau ist doch kein D-Zug. Was möchtest du denn anziehen? Denn der Weg ist weit und die Luft kühl.“, rief Emma etwas erschrocken aus und zerrte einige Kleidungsstücke aus dem Schrank.

 

In Windeseile packten wir unsere Sachen zusammen, bezahlten bei der Nachtbesetzung der Rezeption unserer Unterkunft die Rechnung und flogen anschließend der Heimat entgegen.

Völlig erschöpft rollte ich mich drei Tage später in meinem eigenen, weichen, gemütlichen Bett zusammen und sank sogleich auch in einen tiefen, traumerfüllten Schlaf. Zwar mussten wir Tagsüber mehrstündige Pausen einlegen, aber richtig schlafen konnten wir wieder nicht.

 

›Na, sehr viel hast du in China ja nicht ausrichten können!‹, tadelte meine Großmutter mich wieder ein bisschen, als sie mich drei Nächte später besuchen kam. Noch immer vollkommen erschöpft und müde blickte ich Emma in ihre großen, dunklen Augen.

 

›Och, Oma, selbst, wenn jede Hexe und jeder Zauberer tausend Jahre alt werden würde, könnten wir die Lebewesen sämtlicher belebten Welten nicht so vereinen, wie wir es gerne möchten und uns zur Aufgabe gemacht haben‹, brachte ich erschöpft über meine Lippen. ›Ich meine, es wäre auch ein bisschen langweilig, wenn sich alle Lebewesen gut verstehen würden, oder? Man kann die Lebewesen nicht von Grund auf ändern, das ist schier unmöglich!‹, gähnte ich weiter. ›Sicherlich könnten wir uns mit jedem einzelnen Menschen dieser Welt unterhalten, ihm genau zuhören und darauf hoffen, er selbst möge darauf kommen, dass das Miteinander am meisten fehlt. Aber dann wären wir wahrscheinlich in zehntausend Jahren noch kein bisschen weiter. Denn jeden Tag werden Menschen geboren und Andere sterben, sodass wir wieder von vorne anfangen müssten. Auch sterben wir einmal, sodass wir Buch darüber führen müssten, welchen Menschen wir überzeugt haben, bei welchen wir Schwierigkeiten hatten und welche uns noch fehlen. Und hast du nicht selbst gesagt, dass wir nicht in allzu großer Zahl auf diesem Planeten vorhanden sind?‹

Mutlos und verzweifelt ließ ich mich auf meine Matratze zurückfallen, drehte mich auf die Seite und starrte die Wand an. ›Und überhaupt habe ich das Gefühl, als ob jeder von mir etwas Bestimmtes oder gar etwas Besonderes erwartet. Ellie meinte neulich, es liege ganz besonders an meiner Person, alles für unsere nächste Generation vorzubereiten und dass ich es bis jetzt alles sehr gut hinbekommen hätte. Was meint Elena damit, Oma?‹, fragte ich auf einmal etwas ängstlich und drehte mich wieder auf den Rücken.

Denn ich konnte mir noch immer nicht so recht erklären, was ich so gut gemacht hatte. Denn jeder konnte doch Zuversicht, Umsicht, Ruhe, Mitgefühl und Ausgeglichenheit ausstrahlen und vermitteln. Zudem verspürte ich Angst,

irgendwann an der Schwere meiner Lebensaufgabe zu zerbrechen und sie nicht zu Ende bringen zu können. Und wenn ich meine Lebensaufgabe tatsächlich nicht komplett erledigte, was würde dann geschehen? Konnte ich den anderen

Hexen und Zauberern genügend erzählen? Ja, die Meisten glaubten zwar, das wirklich Fehlende auf dieser Welt entdeckt zu haben, aber ob wir alle mit unserer Beobachtung richtig lagen oder ob es noch etwas Anderes gab, das viel dringender hergestellt werden musste, konnte niemand sagen.

 

›Nun, du trägst einfach die Ruhe in dir.‹, antwortete Emma und streichelte mir plötzlich sanft über die Wange. ›Und das spüren die Menschen. Ja gut, ich meine, einige Leute kannst du natürlich nicht beruhigen. Das ist logisch. Aber meistens sind es Menschen, die in ihrem Leben schon zu viel Negatives durchlebt haben, sodass sie sich nicht beruhigen lassen können. Oder du kannst nicht beruhigend auf sie einwirken, weil sie etwas Persönliches gegen dich haben. Denn auch ich hatte zu Anfang meine Schwierigkeiten mit dir, was du sicherlich bemerkt hast. Doch schließlich habe ich gespürt, was in dir steckt und es zu mögen begonnen. Ich habe gesehen, dass du Menschen auf irgendeine Art sanft beruhigen kannst. Und mit der Ruhe, die ganz tief aus dem Herzen kommt, kann man eine ganze Menge bewirken, Zerlina. Das hast du damals ja selber bei deiner ersten bewussten Begegnung mit den Bewohnern des gelben Planeten erleben können. Und dies trotz deiner ständig ausfahrenden Bewegungen. Ja, irgendwie scheinst du die Ruhe in Person zu sein und kannst die Menschen allein durch deine Augen etwas fröhlicher stimmen. Die Meisten jedenfalls! Und du musst versuchen, es bewusster zu tun. Denn ich habe den Eindruck, als ob du noch gar nicht weißt, wie viel Positives in dir steckt.‹

 

›Puh, Großmutter, bei deinem Gerede wird mir ehrlich ein wenig schwindelig‹, gab ich matt von mir und wischte mir über die Augen. ›Alles, was mir bis hierhin richtig klar geworden ist, ist, dass die Menschen jemanden brauchen, dem sie sich vollkommen anvertrauen können. Und höchstwahrscheinlich spüren sie bei uns, dass sie dies tun können. Denn jeder von uns Hexen und Zaubern kann auf eine ganz besondere Art genial zuhören. Jedenfalls kann man das an den Reaktionen der Menschen schließen. Aus diesem Grunde bin ich also nicht die Einzige von uns, die des guten Zuhörens mächtig ist.

Ich bin doch nur eine stinknormale, kleine Zappelhexe. Aber wenn ich tatsächlich so viel positive Ausstrahlung habe und mit ihr so viel Positives bewirken kann, möchte ich mich doch gerne mal mit Papst Johannes Paul II unterhalten. Denn nur allzu gerne würde ich herausfinden, ob meine angeblichen Kräfte bei diesem großen Mann ebenfalls wirken‹, den Rest von meinem Gesagten warf ich so plötzlich energisch in den Raum hinein, dass Emma auf dem Rand meines Bettes ein wenig zusammenzuckte und mich erstaunt ansah. ›Und ich möchte mich mit dem Papst auch noch deswegen gerne einmal unterhalten, um zu sehen, was gegen die Verhütungsart spricht. Die katholische Kirche meint ja immer, sie wäre so gut und rein. Aber dabei macht sie einen gottverdammten Blödsinn nach dem Anderen. Sie hat die Juden verfolgt, hat sie aufs Äußerste gequält, nur weil sie angeblich Jesus kreuzigten.

Natürlich hegten nicht nur die Katholiken eine Wut gegen die Juden, sondern auch die Protestanten. Außerdem fallen die Katholiken mit ihrem „Vertreter Gottes durch den Papst auf Erden“ recht stark auf. Das finde ich jedenfalls! Und durch das Verbot von Verhütungsmitteln verurteilt die katholische Kirche Unmengen von armen Menschen zum Sterben. Aber auch hier muss ich einräumen, dass die katholische Kirche nicht die Einzige ist, die Verhütungsmittel verbietet. Ach, ich weiß über die einzelnen Religionen so dermaßen wenig«, seufzte ich plötzlich tieftraurig und betrübt. ›Ich weiß nur von den erbitterten Kriegen zwischen den Religionen, von denen man in der Schule lernt. Aber zugegeben finde ich das Schönste bei den Katholiken, dass sie den Sex erst nach der Eheschließung predigen. Denn somit besteht die Chance, dass zumindest manche Kinder noch aus reiner Liebe und Zuneigung gezeugt werden. Denn bei anderen Paaren geht es meiner Meinung nach manchmal viel, viel zu schnell, dass sie ein Kind bekommen. Wenn sie lange genug miteinander liiert sind und sich gut kennen, ist es natürlich etwas Anderes. Aber ich meine, heutzutage werden so viele Kinder geboren, deren Eltern sich erst ein paar Tage kennen. Na, und ob diese Kinder dann auch wirklich aus reiner Liebe gezeugt wurden, wage ich zu bezweifeln. Wenn man mit der körperlichen Liebe jedoch bis nach der Hochzeit wartet, hat man schon etwas Zeit gehabt, sich näher kennen zu lernen. Denn für gewöhnlich heiratet man ja nicht direkt, nachdem man sich kennengelernt hat. Außer natürlich, wenn es sich um eine Zwangsehe handelt!‹

 

›Du hörst dich etwas hilflos und auch ein kleines bisschen ärgerlich an.‹, sagte Emma mit einem verwunderten Blick auf mich, „Da du jedoch eine zähe und willensstarke Person bist, wirst du alles schon meistern.‹

 

›Großmutter, was redest du denn da?‹, fragte ich mit erschrockenen Augen. ›Kann mir endlich mal einer sagen, was die Geheimtuerei zu bedeuten hat und warum gerade ich für diese Aufgabe auserwählt wurde, wenn ich so wenig Ahnung vom Geschehen auf der Welt habe? Ich glaube kaum, die Menschen vor sich selbst retten und „nach getaner Arbeit“ auf den Planeten der Hexen und Zauberer zurückkehren zu können. Plötzlich musste ich herzhaft lachen, da ich mir die ganzen Hexen und Zauberer unseres Planeten vorstellte, wie sie mit ihren langen, gebogenen Nasen, ihren, wilden Blicken, ihren Zauberstäben und ihren langen Umhängen herumliefen und andauernd irgendwelche Dinge her- und wegzauberten.

 

›Tja, man kann nie wissen, was noch alles geschieht‹, entgegnete meine Großmutter, erhob sich schnell von meinem Bett und machte sich für den Heimflug fertig. ›vielleicht bekommst du irgendwann ja doch die Chance, auf unsere kleine Welt zu kommen und deine leibliche Familie kennen zu lernen?«

 

Und als sie schon fast auf die Fensterbank im Wohnzimmer gestiegen war, drehte sie sich noch einmal in Richtung meines Schlafzimmers um und flüsterte durch offene Schlafzimmertür: ›Deine Eltern und ich haben es schon immer gewusst, dass du für diese Aufgabe genau die Richtige bist und in Finns Familie gehörst! Und da macht es nicht sehr viel aus, dass du dich in den einzelnen Religionen und in der Politik nicht ganz so gut auskennst.‹

 

Doch ehe ich noch irgendeinen Ton von mir geben konnte, war Emma schon in der Dunkelheit der Nacht verschwunden.

 

Na, wenn Oma meint, es ist in Ordnung, dass ich so wenig Ahnung von allem habe und es mehr auf meinen Ehrgeiz ankommt, ist dies beruhigend für mich, dachte ich, während ich in meinem Bett lag und die kleinen, hellen Lampen der Lichterkette an der Schlafzimmerdecke zählte.. Und, ja, es wäre schon aufregend und spannend für mich, irgendwann einmal den Planeten zu sehen, auf dem ich ursprünglich leben sollte. Aber höchstwahrscheinlich müsste ich dann den Rest meines Lebens dort verbringen. Und ob ich das möchte, weiß ich nicht. Denn ich bin mein ganzes Leben hier auf der blau schimmernden Erdkugel. Auf der anderen Seite wären bei uns meine leiblichen Eltern, die mich vielleicht lieb hätten, überlegte ich weiter. Ob ich wohl auch Geschwister habe? Bei diesen Überlegungen sank ich langsam in einen tiefen und friedlichen Schlaf.

 

Anfang August des Jahres zweitausendunddrei spürte ich, dass Moritz sehr bald von mir gehen würde. Mit dicken Kullertränen in meinen Augen beobachtete ich, wie mein kleiner, süßer Mausmann von Tag zu Tag schwächer wurde.

 

›Ich möchte nicht, dass du mich verlässt, Süßer!‹, schluchzte ich und hielt Moritz jeden Tag liebevoll in meinem Schoß, auf dem er jedes Mal sofort tief und fest einschlief. Doch nichts kann ewig existieren. Und so wurde ich am Morgen des neunzehnten August von Moritz' bereits sehr zittriger Stimme geweckt.

 

›Zerlina, meine Zeit ist gekommen. Ich muss gehen! Die drei Jahre, die ich bei dir sein durfte, waren wunderschön. Deine Fürsorge war einfach rührend. Du hast an alles gedacht, was eine kleine Maus glücklich und zufrieden macht. Und den Kletterkäfig, den du mit deiner einen Mitbewohnerin in der Wohngruppe für mich zusammengebastelt hast, damit ich mehr umherklettern kann, fand ich total klasse! Doch von nun an wird Momo dich weiter begleiten und dir deine Fragen beantworten. Trauere nicht um mich und beerdige mich unter einem schönen, großen Baum, ja? Wir sehen uns sehr bald wieder. Ich muss mir nur einen jungen und gesunden Körper suchen, in dem meine Seele weiterexistieren kann.‹

 

Bei diesen letzten Worten sah ich die Seele meines kleinen Mausmännchens emporsteigen und aus dem gekippten Schlafzimmerfenster davonfliegen.

 

›Na, der hat ja vielleicht Humor!‹, gab meine kleine Katzendame teils empört, teils aber auch mächtig stolz von sich. ›Ich bin doch fast noch ein Kind. Woher soll ich die Antworten auf die Fragen wissen, die dir im Kopf herumschwirren? Denn in meinem vorherigen Leben bin ich im Alter von nur zehn Tagen gestorben, sodass ich keine allzu großen "Weisheiten" habe.‹

 

Trotz meiner tiefen Trauer musste ich grinsen. ›Ich weiß es nicht, Momo, antwortete ich mit flüsternder Stimme und nahm mein kleines Katzenmädchen fest in meine Arme. Mitfühlend und zärtlich leckte Momo mir die Tränen von den Wangen und kuschelte sich eng an mich.

 

Ich suchte für Moritz den schönsten Platz aus, den ich im Park in der Nähe meiner Wohnung finden konnte. Auch war er, so wie Moritz es sich gewünscht hatte, unter einem großen, schattigen Baum. Fest in dicke, weiche Watte eingepackt, legte ich ihn in die kühle, dunkle Kuhle, die meine Assistentin mit einer kleinen Schaufel für ihn gegraben hatte. Und wieder fragte ich mich, als die dunkle Erde auf den kleinen, reglosen Körper in der Watte rieselte, ob es vielleicht sein könnte, dass nach dem Leben mit allem Schluss war. Aber was für einen Sinn hätten dann unsere Geburt und unser ganzes Dasein? Und warum ging es manchen Menschen während ihres Seins so gut und Anderen wiederum so schlecht? Ganz abgesehen von denjenigen, die in irgendeinem schrecklichen Krieg verwickelt waren oder in einem armen Land lebten. Wie kam es zum Beispiel, dass manche Menschen mit unheilbaren Krankheiten, ewigen und starken Schmerzen oder anderen unschönen Schicksalsschlägen gestraft waren? h

 

Langsam, aber sicher neigte sich der Sommer des Jahres zweitausendunddrei seinem Ende zu. Inzwischen lebte ich gute fünfzehn Monate lang in München und fühlte mich glücklich und vollkommen zufrieden. Das Einzige, wonach ich mich sehnte, waren der Himmel, die leichten Hügel, die frischen, grünen Wiesen und die Bäume. Denn am Stadtrand von Frankfurt, wo ich lange lebte, konnte ich all dies sehen. Nun, und da ich meine gesamte Kindheit auf einem Dorf zwischen vielen kleinen Bauernhöfen verbracht hatte, war es für mich ungewohnt und manchmal auch etwas nervig, jetzt an einer viel befahrenen Straße zu wohnen.Allerdings war es mitten in der Stadt doch ein ganz klein wenig einfacher, eine behindertengerechte Wohnung zu finden und zu bewohnen.

In den endlos langen Herbst- und Winternächten, die nun kamen, ging mir meine fixe Idee, mich einmal mit dem Papst zu treffen, nicht mehr aus dem Kopf. Während ich Nacht für Nacht in meinem Bett lag und über die Ungerechtigkeit in der Welt nachdachte, sagte ich mir, dass das Elend in der Welt schon dadurch um einiges eingegrenzt werden könne, wenn der Papst den Menschen in den armen Teilen der Erde erlauben würde, Verhütungsmittel zu benutzen. Denn das größte Elend, das neben der Umweltzerstörung, den ganzen und immer wiederkehrenden Kriegen und den Seuchen auf Erden herrschte, war nun einmal die Armut. Und sie wäre zu verringern, wenn man es zuließe, dass die Bevölkerungszahl stetig etwas zurückginge.

Außerdem wunderte es mich immer mehr, dass die Menschen, denen es auf dieser Welt gut ging und die gläubig waren, es zuließen, dass ihre Mitmenschen so sehr litten und am Ende manchmal eines qualvollen Todes starben. Allerdings musste ich mir auch hier wieder eingestehen, dass der Mensch ganz einfach vom Tier abstammte. Aber hatte er nicht gelernt, seinen ausgereiften Verstand besser zu gebrauchen?

Und wieder bemerkte ich, dass es mit der angeblichen Intelligenz des Menschen nicht sonderlich gut bestellt war. Ich erkannte mit purem Entsetzen immer mehr, dass ich zu diesen nicht gerade umsichtigen und toleranten Lebewesen keineswegs gehören wollte. Allerdings musste ich einsehen, dass ich jetzt vermutlich ganz genauso sein würde, wenn ich körperlich uneingeschränkt geboren worden wäre und keine ständige Hilfe von Anderen in Anspruch nehmen müsste. Dummerweise konnte ich als stark invalide Außerirdische dies leider nicht so genau nachvollziehen und herausfinden. Überlegend kuschelte ich mich in meine warme, weiche Bettwäsche und sah aus dem Fenster auf die erleuchtete Stadt.

 

›Das ist zwar eine etwas utopische, aber eine ziemlich geniale Idee, sich mit dem Papst zu treffen.‹, erklärte eine andere invalide Hexe mir, als ich ihr auf einem kleinen Zusammentreffen der Hexen und Zauberer auf dem Brocken von meinem mich fesselnden Einfall vorschwärmte.

 

Johanna hatte ich bei einer meiner ersten Zusammentreffen mit den anderen invaliden Hexen und Zauberer kennen gelernt.

 

›Tja, aber Elena hat mir vor einiger Zeit erzählt, dass ihr es schon einmal versucht habt, mit dem Papst und mit anderen hohen Kirchenherren zu diskutieren, es jedoch nicht so erfolgreich war. Waren dort nicht auch Politiker dabei gewesen?‹

 

›Ja, ja, das stimmt schon. Aber man könnte es noch einmal auf einen Versuch ankommen lassen. Vielleicht bekommst du es ja hin, den Papst gedanklich in eine etwas andere Richtung zu lenken. Denn du hast schon so Manches bewirken können. Selbst in China. Und es ist schon eine ganze Weile her, wo wir versucht haben, mit ihm zu sprechen. Vielleicht ist er inzwischen für dieses Thema etwas zugänglicher geworden. Denn manche Menschen werden im Alter ein wenig zugänglicher und aufgeschlossener.‹

 

Verwundert blickte ich Johanna an.

 

›Wie um Himmels willen meinst du das denn jetzt, dass ich in China soviel Erfolg hatte?‹, fragte ich. ›Oma hat mir in einem leicht tadelnden Ton mitgeteilt, ich hätte so gut wie noch nichts bewirkt‹, erklärte ich mit etwas weinerlicher Stimme weiter.

 

›Tja, Emma sagt immer viel, wenn der Tag lang ist. Dabei soll sie es doch erst mal besser machen. Weißt du eigentlich, dass die Urgroßmutter deines leiblichen Vaters dieselbe Aufgabe wie du hatte? Und sie hat ihre Lebensaufgabe ebenfalls nicht perfekt erledigen können. Von daher brauchst du dir also keine Gedanken oder gar Vorwürfe zu machen. Außerdem hat Ellie dir vor einiger Zeit deutlich zu verstehen gegeben, dass du deine Sache ganz gut machst, oder? Und ich glaube, wir alle haben dich bereits kräftig gelobt. Also kannst du dir allmählich ruhig mal ein bisschen Selbstbewusstsein aneignen.

Hm ..., und- es hat vor einiger Zeit in einigen Zeitungen dieser Welt gestanden, dass etwas sehr Merkwürdiges und Geisterhaftes in einigen Ländern umgeht. Im Sudan zum Beispiel soll dieses Phänomen zuallererst aufgetaucht sein. Denn dort soll sich so einiges zum Positiven geändert haben. Die Sudanesen in den Armenvierteln seien auf einmal viel selbstbewusster geworden und hatten mehr zum Leben gehabt und Medikamente für die Kranken. Auch hatte ein Vater einer schwerbehinderten Tochter über Nacht plötzlich so viel Geld zusammen gespart, dass er mit ihr zur Physiotherapie und Sprachtherapie in die große Stadt gehen konnte. Selbst zu Ärzten und in Krankenhäuser konnten die Menschen auf einmal gehen. Seltsamerweise fanden sie in einer Ecke ihrer Hütten eine größere Summe Geld. Woher dieser mysteriöse Reichtum gekommen war und wer ihn zu verantworten hat, weiß niemand.«

 

Freudig bemerkte ich, dass das Geld, das ich den ärmeren Sudanesen gezaubert hatte, tatsächlich direkt für die Dinge verwendet worden war, die am allermeisten gebraucht wurden. In diesem Moment durchfuhr meinen Körper eine Welle der grenzenlosen Erleichterung und der maßlosen Freude. Denn es hätte genauso gut passieren können, dass die Sudanesen das Geld für unwichtigere Dinge ausgeben. Doch dieser Einfall kam mir jetzt erst, als ich von Johanna erfuhr, dass dieses Geld von den armen Menschen im Sudan gefunden und genau für die Zwecke verwendet worden war, für die ich es tatsächlich gezaubert hatte. Nun, manchmal war ich wirklich noch ein bisschen blauäugig und unvorsichtig.

 

„Und auch in China denken und handeln die Menschen in ihrem Alltag und ihrem Leben urplötzlich ein kleines bisschen anders. Sie versuchen, mehr aufeinander zuzugehen und mehr für die Umwelt und ihre nächste Generation zu tun. Man kann in der Tat behaupten, die Menschen in einigen Teilen der Erde haben sich ein wenig verändert. Sie haben eine gewisse Stärke bekommen. Sag mal, du warst doch in diesen beiden Ländern, in denen sich die meisten Veränderungen getan haben, oder?‹, erkundigte sich meine Gesprächspartnerin plötzlich bei mir und trank einen Schluck von ihrem Tee.

 

Mit einem zaghaften Nicken antwortete ich.

 

›Na siehst du. Selbst die Urgroßmutter deines leiblichen Vaters hat nicht soviel schaffen können. Was machst du dir eigentlich für düstere Gedanken und lässt dir graue Haare wachsen, hm? Selbst Finn, der Sohn der angesehensten Familien aus dem Land der dreizehn Feuer speienden Vulkane, hat mit seinen fünfunddreißig Jahren noch gar nicht so richtig daran gedacht, mit seiner Lebensaufgabe anzufangen.‹

 

›WAS?! Meinst du etwa Finn Schwelm?‹, fragte ich fassungslos und verschluckte mich um ein Haar an meinem Kirsch-Bananen-Saft, von dem ich soeben mit einem Strohhalm getrunken hatte.

 

›Ja, genau den meine ich! Wieso, wusstest du es noch nicht, dass der Mann, den du einmal heiraten wirst, der Sohn eines recht angesehenen Mannes des zweiten großen Landes unseres Planeten ist?‹, fragte Johanna leicht irritiert.

 

›Nein, das habe ich in der Tat nicht gewusst‹, gab ich geschockt zu. »Ich wusste nur von seiner Aufgabe, die er hier zu erledigen hat und er es nicht glauben will, kein herkömmlicher Mensch zu sein.«

 

›Hm, komisch!‹, meinte Johanna stirnrunzelnd und sich mit dem Zeigefinger über die Augenbraue streifend, ›Denn du musst es ihm nämlich erst noch erzählen, dass er aus einer Königsfamilie kommt und später einmal den Thron besteigen wird. Beziehungsweise hoffen wir, dass du uns dabei behilflich sein wirst. Hinzu kommt, dass er, wenn er König ist, die lebenswichtige Aufgabe hat, aus den ganzen Neugeborenen unseres Planeten auszuwählen, welches von ihnen hinaus geschickt wird. Denn solange Finn nichts von seiner zweiten, großen Lebensaufgabe und von deren Ernst und Wichtigkeit weiß, kann er nicht auf unseren Planeten zurückkehren und die Regierung seines Landes übernehmen. Wir haben also noch ein ganzes Stück Arbeit vor uns. Und wenn du uns keine Unterstützung gibst und es nicht schaffst, ihn von seiner Wichtigkeit zu überzeugen, wird aus seinem Land niemand mehr auf irgendeinen anderen Planeten geschickt werden können. Jedenfalls für eine gewisse Zeit nicht. Denn nur die Allerhöchsten von uns dürfen auswählen, welcher Zauberer und welche Hexe als Nächstes auf einen anderen Planeten geschickt wird.‹

Nun gelangte der Saft, von dem ich während Johannas kleiner Geschichte immer wieder genippt hatte, endgültig in meine Luftröhre, sodass ich mich verschluckte und heftig husten musste. ›Warum in aller Welt hat sein Großvater ihm nichts von seiner zweiten Lebensaufgabe erzählt, als er bei ihm war?‹, kam es mir jetzt ein wenig ungehalten über die Lippen, als ich mich ausgehustet hatte. „Er möchte es doch noch nicht einmal wahrhaben, von einem anderen Planeten zu kommen. Dieses sollte er zuallererst verinnerlicht haben, bevor man ihm erzählt, ein Königssohn zu sein!“

 

›Ja, das ist richtig!‹, erklärte Johanna mir mit einem leicht verzweifelten Gesichtsausdruck. ›Sein Großvater hat es natürlich versucht, ihm diese beiden Tatsachen nahezubringen. Aber dein Freund hat den alten Mann nur schallend ausgelacht. Aus diesem Grunde hoffen wir also, dass du ihm dieses klarmachen kannst. Mensch, Zerlina, unsere ganze Existenz hängt davon ab. Es wäre eine Katastrophe, wenn ihr beiden nicht auf unseren Planeten zurückkehren könntet. Und was denkst du wohl, warum dein zukünftiger Ehemann entweder gar nicht mit auf unsere Feste oder aber erst viel später kommt? Denn Finn erscheint ja immer erst auf unseren Festen, wenn kaum noch jemand da ist. Er kommt deswegen immer erst viel später oder überhaupt nicht, weil er Angst hat, von uns getadelt zu werden. Hast du dich ehrlich noch nie gefragt, warum du immer allein auf unseren Festen bist? Finn geht uns aus dem Weg. Nur mit seiner jüngsten Schwester hat er regen Kontakt. Allerdings weiß ich nicht, ob er weiß, dass auch sie eine richtige Hexe ist und das Privileg hat, zwischen zwei Welten zu wandeln. Aber sie ist die meiste Zeit auf dem Planeten der Menschen. Nur hin und wieder wird sie von ihren Eltern gerufen, um ihnen Bericht zu erstatten, wie ihr großer Bruder sich auf der Erde so macht. Hat er dir schon einmal etwas von seiner kleinsten Schwester erzählt?‹

 

Nachdenklich nickte ich und sagte dann laut: ›Ja, ja, er hat mir schon oft von seiner Kleinen, wie er sie nennt, erzählt. Und er hängt sehr an ihr und ist mächtig stolz auf sie. Komischerweise habe ich Janica nur dreimal zu Gesicht bekommen.

 

›Nun, und Janica gilt genau genommen als Finns Stiefschwester. Denn zu unserem riesigen Glück hat der Mann, in dessen Familie Finn damals landete, sich nach einigen Jahren noch mal eine sehr, sehr viel jüngere Frau genommen, die gut und gerne seine Tochter sein könnte. Manche Männer der blauen Erde sind doch wirklich ein wenig seltsam. Na, egal! Auf jeden Fall ist Janica vor gut achtzehn Jahren in den Garten von Finns Vater und Stiefmutter gefallen. Zum Glück hatte der Vater mit seiner neuen Frau ebenfalls ein Haus mit einem kleinen Garten. Denn sonst hätten wir die arme, kleine Janica womöglich auf dem betonharten Balkon landen lassen oder durch den engen, schmutzigen Schornstein zwängen müssen. Und schon als kleines Kind hat man Finns kleine Schwester nachts, während sie schlief und träumte, in regelmäßigen Abständen auf unsere Erde zurückgeholt, damit sie sich daran gewöhnt, zwischen zwei Welten zu wandeln. Denn, wenn sie als kleines Mädchen ihren Eltern erzählte, sie sei des Nachts auf einem anderen Planeten mit lauter Hexen und Zauberern gewesen, so glaubten die Eltern natürlich, sie habe dies alles nur geträumt. Tja, und als sie älter wurde, so mit vierzehn Jahren circa, haben wir sie in das Hexenleben eingeweiht. Ihre Eltern wollten einfach jemanden haben, der auf Finn ein wenig Acht gibt und ihnen in gewissen Abständen von ihm erzählt. Tja, und wir können vom riesigen Glück sprechen, dass sie mit ihren noch sehr jungen Jahren ihre wahre Identität und Lebensaufgabe so ohne Weiteres hingenommen und akzeptiert hat. Außerdem behalten uns die Ehepaare Gott sei Dank immer bei sich, zu denen wir gegeben werden. Doch aller Wahrscheinlichkeit nach liegt dies daran, dass unsere leiblichen Eltern überwiegend Paare aussuchen, die kein eigenes Kind bekommen können, sie sich aus diesem Grunde so sehnlichst eines wünschen und nicht groß nach dem woher des Kindes fragen.‹

 

›Na, aber meine Eltern hatten schon fünf Töchter‹, meldete ich mich zu Wort.

 

›Ja, das liegt daran, dass Wolfram von den Sinti und Roma abstammt und wir Hexen und Zauberer eine ganz bestimmte Verbundenheit mit ihm verspürten. Zwar haben die Sinti und Roma mit uns nicht sonderlich viel gemeinsam, aber sie sind meist ein bisschen aufgeschlossener als andere Menschen. Auch sind die Sinti und Roma uns sehr sympathisch und sind ebenfalls des Zauberns mächtig. Wir mögen einfach ihre Art, ihr doch meist bescheidenes Verhalten und ihren Lebensstil. Aber das hat dir Emma schon erklärt, oder?‹

 

Immer noch fassungslos und verwirrt blickte ich meine Freundin an und nickte mit dem Kopf. ›Ach, und ihr meint, ich soll meinem Freund mal eben noch so auf die Schnelle erzählen, dass er ein Königssohn ist und es in seinen Händen liegt, dass es weiterhin belebte Planeten gibt, ja?! Verstehe ich es richtig? Sag' mal, bin ich hier denn das Mädchen für alles, oder wie? Was wird denn noch alles von mir verlangt?‹, entfuhr es mir plötzlich ungehalten und verzweifelt.

 

 

XIV

 

Tagelang tobte ich und wusste nicht, ob ich es nur geträumt oder ob Johanna mir tatsächlich erzählt hatte, dass Finn, mein zukünftiger Ehemann, ein Königssohn war, dies aber ebenfalls nicht glauben konnte oder wollte. Und stimmte es wirklich, dass ich ihm erzählen sollte, einmal eine sehr hohe Verantwortung zu tragen? Allerdings konnte ich es mir absolut nicht vorstellen, dass Finn es mir glauben würde.

All dies ließ mir keine Ruhe mehr. Ich konnte nicht fassen, dass das meist Entscheidende an mir lag. Doch dann fiel mir plötzlich ein, es war für niemanden von uns zu erwarten, dass Finn sich der Aufgabe und der Identität eines Außerirdischen verweigerte. Also war meine zusätzliche Aufgabe überhaupt nicht geplant. Und diese Erkenntnis stimmte mich dann wieder ein wenig milder.

Als am übernächsten Abend Emma zu mir kam, versuchte ich, aus ihr herauszulocken, ob es tatsächlich meine zweite Aufgabe war, Finn verständlich zu machen, wer er war und was er bewältigen musste. Zu meinem Ärger schwieg sie jedoch die erste Viertelstunde wie ein Grab. Nur mit größter Mühe bekam ich nach und nach etwas aus ihr heraus. Höchst mürrisch, aber genau beantwortete ich zuerst ihre Frage, ob ich mich nun wirklich mit Johannes Paul II treffen wolle.

 

›Jaha, ich habe gesagt, dass ich mich gerne mit dem Papst treffen möchte. Das habe ich dir doch schon einige Male erzählt‹, giftete ich Emma an und setzte mich in meinem Bett auf. ›Stimmt es, dass Finn nichts von seiner zweiten, großen Lebensaufgabe weiß?‹ Erstaunt und verwirrt bemerkte ich, wie die Mutter meines Vaters bei dieser Frage unruhig und nervös wurde. Neugierig blickte ich sie an. ›Was ist los, Großmutter? Möchtest du etwas trinken?‹, fragte ich mit gespielter Ahnungslosigkeit weiter.

 

›Nein, nein, danke, ich trinke später in meinem Grab etwas. Wer hat dir erzählt, dass Finn es noch nicht genau weiß, einmal ein ganzes Land regieren zu müssen?, stotterte Emma weiter.

 

›Nun, Johanna, die ich auch schon bei einem meiner ersten Treffen mit den anderen invaliden Hexen und Zauberern auf dem Brocken kennen gelernt habe. Weißt du, Johanna ist die Hexe, die drei kleine, süße Töchter hat.‹

 

›Ja, ja, ich weiß, wer sie ist‹, warf Emma mit leicht erhobenen Händen schnell ein. ›Trefft ihr euch manchmal?“.

 

›Ab und zu bei den Zusammenkünften auf dem Brocken. Und in einer Woche bin ich bei ihr zu Hause eingeladen. Wieso? Ist das nicht erlaubt?‹, erkundigte ich mich espielt neugierig bei meiner Großmutter.

 

›Doch, doch, durchaus! Nur ist die gute Johanna eine kleine Quasselstrippe, die alles ausplaudert, was sie nicht ausplaudern sollte. Ja, also gut, irgendwann hättest du es sowieso erfahren. Mein Gott, ja, dein Freund glaubt nicht daran, einmal eine solch große Verantwortung tragen zu müssen. Seine Familie ist eine Königsfamilie und wohnt in einem Haus, das einem Schloss gleicht. Sie leben in einem wunderwunderschönen Land auf unserem Planeten, das mit dem Neuseeland dieser Erde zu vergleichen ist. Nun ist der Junge aber so sehr davon überzeugt als Zauberer ein ganz normaler Mensch zu sein und denkt nicht im geringsten daran, sich seiner auferlegten Lebensaufgabe mit Ehrgeiz zu widmen und sich auf seine Zukunft vorzubereiten. Und es ist ihm redlich anzusehen, dass er alles nur als ein reines Märchen abtut. In seinem Studium zum Sozialpädagogen ist er so fleißig und schreibt in den Klausuren eine Eins nach der Anderen. Wahrscheinlich ist es doch ein großer Fehler von uns, unsere Kinder so bald nach ihrer Geburt auf einen anderen Planeten zu schicken. Doch die Regierung unserer beiden Länder ist der Meinung, dass es das Beste sei. Nur, was dabei herauskommen kann, wird immer wieder sichtbar. Denn es passiert ständig, dass Hexen und Zauberer meinen, sie würden dorthin gehören, wo sie aufgewachsen sind. Und eigentlich ist das ja auch vollkommen logisch, oder?!‹

 

›Ja, das finde ich auch logisch‹, pflichtete ich meiner Großmutter ehrlich bei. ›Denn ich selbst habe noch bis vor Kurzem geglaubt, ein Mensch dieser Erde zu sein und aus Fleisch und Blut zu bestehen.“ Mit leichter Mühe unterdrückte ich ein Auflachen.

 

›Jeder Mensch und jedes Tier besteht aus Fleisch und Blut, du Pappnase‹, entgegnete Emma und kicherte leise vor sich hin. ›Nein, jetzt noch einmal ganz im Ernst, Zerlina. Wünschst du dir immer noch, mit Johannes Paul II zu sprechen?‹

 

›Ach Mensch, Großmutter! Diese Antwort habe ich dir vor etwa fünf Minuten doch klar und deutlich beantwortet. Werden wir etwa so langsam vergesslich, hm?‹, erkundigte ich mich in einem neckenden Ton bei Emma und pikste ihr in die Seite, sodass sie ein wenig zusammenzuckte. ›Außerdem weißt du doch, dass ich das, was ich mir einmal in den Kopf gesetzt habe, auch in die Tat umzusetzen versuche. Nur weiß ich leider nicht, ob alles so klappt, wie ich es mir vorstelle.‹

 

›Tja, das weiß man nie so genau.‹, kommentierte meine Großmutter nachdenklich und rückte sich auf meiner Bettkante noch etwas gemütlicher hin.

 

›Gibt es auf unserem Planeten wirklich nur zwei Länder?‹

 

›Ja. Unser Planet ist viel, viel kleiner als der blaue Planet.‹

 

›Gibt es bei uns ebenfalls Tag und Nacht, Frühling, Sommer, Herbst und Winter?‹, fragte ich mit großen, neugierigen Augen.

 

›Ja, ja, das gibt es bei uns auch. Und weil unsere Welt so klein ist und von der Sonne während des Jahres ebenfalls recht gleichmäßig umrundet wird, haben wir in beiden Ländern deutlich spürbare vier Jahreszeiten. Wir ähneln außer unserer Größe dieser Welt hier sehr. Und in den zwei Ländern, leben mehrere verschiedene Stämme, die verschiedene Sprachen sprechen. Es gibt verschiedene Tier- und Pflanzenarten. Auch haben wir nur einen Mond und eine Sonne. Und ganz genauso wie hier gehen wir Tätigkeiten nach, die wir als junger Mensch in den extra dafür eingerichteten Institutionen erlernen. Vorausgesetzt natürlich, wir bleiben als Säugling auf unserem Planeten. Das Land, in dem du geboren worden bist, heißt übrigens das Land der dreizehn Feuer speienden Vulkane. Es ist ein recht schönes Land mit viel, viel Natur und Flüssen, Seen und ist ungefähr mit Schweden zu vergleichen.‹

 

›Heißt das Land, aus dem ich komme, ehrlich "Das Land der dreizehn Feuer speienden Vulkane"? Das ist ja witzig‹, grinste ich, nachdem meine Oma genickt hatte. ›Gibt es dort wirklich dreizehn Vulkane, die Feuer speien?«

 

Wieder nickte meine Großmutter und fügte noch erklärend hinzu: »Aber meist ist das Lava das sie speien, nur sowenig, dass ihre Vulkanausbrüche für die Bewohner dieses Landes vollkommen harmlos und ungefährlich sind.«

 

›Und wie sind meine Eltern und Geschwister so? Ich habe doch Geschwister, oder?‹, versuchte ich mit klopfenden Herzen von Emma zu erfahren.

Inzwischen hockte auch ich auf der Bettkante und kraulte Momo, die vor mir dösend auf dem Teppich lag, mit meinen nackten Zehen hinter den Ohren.

 

›Hm, deine Familie ist sehr, sehr groß, Zerlina. Insgesamt seid ihr zwölf Kinder. Alles Mädchen! Die meisten von deinen Schwestern sind auf unserem Planeten und in ihrem Heimatland wohnen geblieben. Nur drei sind ins Nachbarland ausgewandert. Deine Eltern sind noch relativ jung. Etwa achtzig Jahre alt, was für unsere Verhältnisse wirklich noch jung ist. Ihr Mädchen seid wie die Orgelpfeifen zur Welt gekommen. In den ersten elf Jahren ihrer Ehe ist jedes Jahr ein Kind geboren. Nur zwischen deinen beiden kleinsten Schwestern sind zweieinhalb Jahre Unterschied‹, berichtete Emma ruhig. ›Ihr seid eine angesehene Familie in eurem Land. Dein Vater ist ein tüchtiger und guter Mann, der sich für sein Land mächtig engagiert. Er hat für die Bewohner aus seinem Land schon viel Gutes erreicht.‹

 

›Ist er so was Ähnliches wie ein König?‹, fragte ich leise und sah meine Großmutter etwas ängstlich an. Denn ich konnte mir rein gar nicht vorstellen, eine Königstochter zu sein. Jahre lang hatte ich unter ganz schlichten Umständen gelebt, die ich auch als sehr angenehm empfand.

 

›Er ist der stellvertretender König, wenn man es so nennen kann‹, bekam ich knapp zur Antwort. ›Der regierende König ist schon seit etlichen Jahren schwer krank und wird sein Amt nicht mehr allzu lange ausführen können. Und weil deine Ur-Ur-Urgroßeltern aus einer Königsfamilie stammen und der jetzige König keine Nachkommen oder andere jüngere Verwandte hat, suchte man kurzerhand deinen Vater als Nachfolgekönig aus. Und ich glaube, er wird dieses Amt gut bekleiden.‹

 

›Und mein Vater ist tatsächlich schon an die achtzig Jahre alt?‹

 

In dieser Stunde, in der ich mit Emma in meinem Zimmer auf meinem Bett gemütlich bei Kerzenschein saß, erfuhr ich, dass meine leibliche Mutter mich mit knappen fünfzig Jahren bekommen hatte. Ich war die älteste Tochter. Mein Vater war zum Zeitpunkt meiner Geburt schon etwas über fünfzig Jahre alt. Weiter erfuhr ich, dass ich inzwischen mehrfache Tante war und meine Eltern bereits eine ganze Reihe von Enkeln hatten. Ich erfuhr, dass ich mich bei meiner Geburt tatsächlich an der Nabelschnur aufgehängt hatte und deshalb eine starke Spastikerin geworden war, die keine Minute lang still sitzen oder still liegen konnte. Emma erzählte, dass die Ärzte den Zauberspruch schlichtweg vergessen hatten, mit dem sie bei mir eine Spastik hätten verhindern können, als meine Mutter schon etliche Stunden in den Wehen lag und ich nicht das Licht der Welt erblicken konnte. Sie waren so aufgeregt, als sie erkannten, die Ehefrau des nachfolgenden Königs vor sich zu haben. Denn bereits mit fünfzig Jahren stand für meinen Vater fest, dass er im fortgeschrittenen Alter einmal König seines Landes werde. Und so standen die Ärzte einfach nur um meine Mutter herum und grübelten angestrengt, wie dieser Zauberspruch noch ginge, den sie bei heiklen Geburten schon so häufig benutzt hatten. Na, und als mein Vater endlich im Krankenhaus anlangte, war ich bereits seit dreiundvierzig Minuten auf der Welt und hatte das Schlimmste seit guten drei Minuten überstanden. Denn beinahe eine Dreiviertelstunde lang kämpfte ich tapfer und mit großem Erfolg um mein Leben. Das hatte Wolfram mir auch immer erzählt. Und obwohl meinen Eltern klar war, dass ich mein Leben lang schwer körperbehindert sein würde, schickten sie mich auf einen anderen Planeten. Sie meinten, auch wenn ich eine starke Spastik hätte, so müsste ich die Tätigkeiten einer richtigen Hexe trotzdem nachgehen. Denn ich war nun einmal die Erstgeborene des zukünftigen Königs. Und so geschah es, dass ich drei Tage nach meiner Geburt in den Garten der Menschen fiel, von denen ich Jahre lang glaubte, sie wären meine leibliche Familie.

 

›Nun, und weil bei dem anderen Königspaar im Nachbarland, mit dem meine Eltern eng befreundet waren, gerade ein Junge geboren geworden war, versprach man Finn und mich einander, stimmt's?‹, fragte ich plötzlich dazwischen. »Und wie heißt das Land, aus dem Finn und seine Familie kommt?«

 

»Euer Nachbarland heißt das Land der vierzehn silbernen Seen. Und, ja, es entspricht der Wahrheit, Zerlina, dass es gut passte, dass bei dem auch zukünftigen Königspaar des Landes mit den vierzehn silbernen Seen, mit dem deine Eltern tatsächlich sehr eng befreundet sind, zu gleicher Zeit ein kleiner Junge geboren wurde. Doch nichtsdestotrotz musst du zuerst zeigen, dass du den Menschen auf diesem Planeten wirklich helfen möchtest, bevor du Finn heiraten und mit ihm zu uns nach Hause zurückkehrst. Allerdings ist es nicht wichtig, dass speziell deine Generation es schafft, auf diese Welt mehr Zusammenhalt und Gemeinsamkeit zu bringen. Es kommt vielmehr darauf an, dass irgendjemand etwas schafft, das die anderen Hexen und Zauberer weiterführen. Das hat Elena dir neulich ja auch schon erklärt. Und du bist nahe dran, es zu schaffen, Zerlina. Du hast diese Gabe, dich in die Lage deiner Mitmenschen hineinzuversetzen und ehrlich mit ihnen zu fühlen! Schon als du im Leib deiner Mutter warst, bemerkte sie, das du eine besondere Energie in dir trägst. Denn auf einmal verstand deine Mutter ihre Mitmenschen sehr viel besser, wurde in ihrem Wesen sanfter und lebensfroher. Dein Vater spürte sofort, dass es an dem Kind lag, das sie in sich trug. Na, und somit stand für die Beiden fest, dass du auf den blauen Planeten geschickt werden solltest.‹

 

›Aber nicht nur für diese Lebensaufgabe war ich wie gemacht, sondern auch für den Sohn des zukünftigen, befreundeten Königspaares!‹, gab ich trocken von mir.

 

„Ich vermute, Finn ist nicht unzufrieden mit dir, oder?‹, gab Großmutter plötzlich fragend von sich. ›Oder hat er sich irgendwann schon einmal über eure Beziehung beklagt?‹

 

Ein plötzlicher Lachanfall schüttelte meinen kleinen und zierlichen Körper. Und als ich mich wieder beruhigt hatte, erklärte ich Emma, dass ich noch nie zuvor einen so guten Witz gehört hätte. ›Guck mich doch bitte mal an, Oma! Ich bin eine kleine, nicht gerade hübsche Zappelhexe, die obendrein nicht sonderlich viel über das Leben der Menschen und die Dinge auf dieser Erde weiß. Warum sollte sich so ein Mann, wie Finn einer ist, gerade mich über alles lieben, mich zur Ehefrau haben und mit mir sein komplettes Leben verbringen wollen?‹

 

›Du weißt ganz genau, dass du nicht dumm bist. Stell dich nicht ständig in den Schatten. Man hat dir eben nicht den Schulunterricht zukommen lassen, den du nötig gehabt hättest. Das stimmt! Doch weil deine Mutter hier auf diesem Planeten immer mehr mit ihrer psychischen Krankheit zu tun bekam, musste Wolfram dich vor ihr schützen und in Sicherheit bringen. Denn er hatte deinen leiblichen Eltern versprochen, gut auf dich aufzupassen. Aus diesem Grunde schickte er dich in dieses Internat, in dem du nicht den rechten Schulunterricht erhieltest. Aber trotzdem ist aus dir ja etwas geworden!‹, stellte meine Emma fest und sah mich mit glänzenden Augen an.

 

›Tja, fragt sich nur, was!‹, antwortete ich kurz. ›Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass Finn mich unbedingt heiraten möchte, auch wenn er noch nicht so recht weiß, wer er wirklich ist.Vielleicht lernt er in naher Zukunft eine andere Frau kennen und möchte lieber mit ihr in den Bund der Ehe eintreten. Denn seitdem er zehn Jahre alt ist, hat er mich an den Hacken. Vielleicht fragt er sich manchmal, wie eine Beziehung mit einer Frau ist, der er ihr nicht das Essen reichen, sie nicht auf Toilette begleiten, sie nicht duschen sowie an- und ausziehen muss. Ist der Junge eigentlich schon einmal gefragt worden, wie es ihm mit mir geht?‹

 

›Ich glaube nicht. Falls du ihn nicht selbst gefragt hast. Wie du weißt, werden Königskinder bei der Wahl ihrer Lebenspartner nicht nach ihren Wünschen gefragt. Ihr Lebenspartner wird bei ihrer Geburt für sie ausgesucht Und es gibt da auch kein Entrinnen. Wenn bei den Königspaaren zu gleicher Zeit ein Junge und ein Mädchen geboren wird, versteht es sich ganz von selbst, dass sie heiraten und ihr komplettes Leben lang miteinander verbringen. Wieso kommst du eigentlich darauf, Finn könnte dich satthaben? Hat er schon einmal irgendetwas in diese Richtung gesagt? Oder fragst du dich manchmal, wie es mit einem anderen Mann wäre?‹, fragte Großmutter so plötzlich in den Raum hinein, dass ich vor lauter Schreck um ein Haar vom Bett gesprungen wäre.

 

›N ... nein!‹, kam es mir stotternd über die Lippen, ›Aber in dieser Gesellschaft werden wir Behinderten häufig als eine Last angesehen. Nun, und weil Finn und ich uns seit Säuglingsalter bei den Menschen befinden, müsste er mich ebenfalls allmählich als Last empfinden. Erst recht, weil er so ein netter und gutaussehender Mann ist.‹ Ich brach in kalten Schweiß aus.

 

›Das hat sicherlich mit dem Zauberspruch zu tun, den eure Eltern getan haben, als sie euch auf diesen Planeten schickten und von dem Elena dir in China erzählte. Elena hat mir neulich gebeichtet, dir vom Zauberspruch erzählt zu haben.“, gab Emma ettwas mürrisch und tadelnd von sich. „Puh, ich dachte gerade schon, du hättest einen anderen Mann im Kopf. Moritz hat Momo damals nämlich erzählt, dass du nachher gar nicht mehr richtig nach München ziehen wolltest, weil du dann so weit weg von Finn wärst. Nacht für Nacht hättest du grübelnd in deinem Bett gelegen und keinen Schlaf finden können. Auch kannst du es seit geraumer Zeit nicht mehr ertragen, von einem männlichen Assistenten angefasst zu werden. Du hast nur noch deinen zukünftigen Ehemann vor Augen und möchtest ausschließlich von ihm berührt werden. Das trifft doch zu oder hat Moritz Momo da etwa etwas Falsches erzählt? Und habe ich dir überhaupt schon gesagt, dass ich deine starke Abneigung anderen männlichen Personen gegenüber sehr sympathisch finde? Denn das zeigt, dass du Finn ehrliche Liebe und ehrlichen Respekt entgegenbringst.‹

 

Momo, du kleine Quasselstrippe, dachte ich und tätschelte ihr Köpfchen. Entspannt schnurrend lag sie neben mir auf dem Bett und lächelte mich vergnügt an. Nun, zumindest hast du Großmutter mein kleines Geheimnis verschwiegen, sagte ich gedanklich zu ihr. Ja, es war in der Tat ein riesengroßes Glück, dass Emma keine Gedanken mehr lesen konnte. Denn sonst sähe die ganze Geschichte recht schlecht für mich aus. Ein wenig errötend und mit gesprochenen Worten erklärte ich der Mutter meines Vaters, dass ich Finn in der Tat sehr liebte. Nur wusste ich nicht, dass mir noch eine weitere große Aufgabe bevorstehe, die mich ein wenig erschreckt hatten. Ich wollte mich mit voller Kraft und Energie doch für die Menschen einsetzen. Stattdessen musste ich mich nun zusätzlich noch auf Finn konzentrieren und darauf hoffen, dass er mir so ohne Weiteres glaubte.

 

›Nun gut, wenn du dich momentan nicht in der Lage fühlst, dich um zweite große Lebensaufgabe zu kümmern, dann denk' mal darüber nach, wie du es schaffst, nach Rom zu einem der mächtigsten Männer dieser Welt zu kommen und wen du dorthin mitnehmen möchtest. Denn Elena ist selbst so sehr mit ihrer eigenen Lebensaufgabe beschäftigt, dass sie sich um nichts Anderes kümmern kann.‹

 

„Tz, tz, tz, da kennst du Ellie aber schlecht! Und überhaupt habe ich ja noch andere Freundinnen außer Elena‹, knurrte ich Großmutter weiter an und legte mich wieder unter meine Bettdecke zurück.

 

Als ich schon fest glaubte, Emma schwebe fröhlich in der kühlen Luft ihrem Grab entgegen, stand sie urplötzlich wieder vor meinem Bett und sah mich mit funkelnden Augen an. Und ihr Erscheinen vor meinem Bett und ihr kleiner Wutausbruch kamen so unerwartet und plötzlich, dass mir vor Schreck fast das Herz stehen blieb.Denn vor etwa zehn Minuten hatte sie sich noch verständnisvoll gezeigt, als ich ihr sagte, ich wäre mit meiner zweiten Lebensaufgabe reichlich überfordert.

 

›Dir ist doch klar, dass es nicht so weitergehen kann?! Du musst uns helfen und deinem zukünftigen Ehemann in der nächster Zeit deutlich machen, dass er für das Weiterexistieren der belebten Planeten verantwortlich ist. Ich bitte dich, Zerlina, es wenigstens einmal zu versuchen. Ja, wir wissen alle, dass du langsam müde und geschafft bist. Aber wenn du deine Aufgaben gewissenhaft erledigst, wartet als Belohnung nicht nur die Vermählung mit Finn auf dich, sondern du kannst zu deiner leiblichen Familie zurückkehren. Du könntest auf immer und ewig bei ihr leben.‹ Die zweite Hälfte ihrer kleinen Standpauke kam ihr gar nicht mehr böse über die Lippen, sondern eher verzweifelt und hilflos. Auch bei mir setzten immer mehr und immer stärker die Verzweiflung und die Panik ein. Auf der einen Seite fand ich es zwar genial, dass die Invaliden bei uns genauso ihren Beitrag zum Weiterexistieren der Nachbarplaneten leisten mussten, wie alle Anderen auch, auf der anderen Seite aber hätte ich es als ausreichend empfunden, wenn meine Leute mir nur die Aufgabe gegeben hätten, mich um das Leben auf dem blauen Planeten zu kümmern. Allerdings konnten es meine leiblichen Eltern tatsächlich nicht voraussehen, dass Finn von seiner wahren Existenz nichts wissen wollte. Und auf einmal war ich so erschöpft und verzweifelt, dass ich Emma mitten ins Gesicht schrie: ›Wenn Finn Schwelm tatsächlich mein Ehemann werden soll, wird er sein komplettes Leben lang auf mich warten müssen. Von daher ist es also egal, wie lange ich dazu brauchen werde, ihm klarzumachen, dass er der Sohn des Königs aus dem Land der dreizehn Feuer speienden Vulkane und verantwortlich dafür ist, dass die Lebewesen auf unseren Nachbarplaneten nicht aussterben. Aber wie es mir unter diesem Zeitdruck geht, interessiert scheinbar niemanden. Ihr habt es ja noch nicht einmal für nötig gehalten, mir frühzeitig von meiner zweiten großen Aufgabe zu erzählen.‹

 

›Ja, das war nicht gerade fair, Zerlina. Da bist du ganz im Rechten!‹, pflichtete Emma mir auf einmal ehrlich und völlig unerwartet bei. ›Aber deine Eltern ahnten nun einmal nicht, dass Finn von seinem Dasein als Königssohn absolut nichts wissen möchte. Deine zweite Aufgabe war demnach also in keiner weise geplant. Das musst du uns bitte glauben, ja?!“

In den Stunden nach dem Gespräch mit Emma war ich vollkommen durcheinander. Nicht genug damit, dass Finn ein mächtiger Zauberer war, der es nicht glauben konnte, ein Außerirdischer zu sein. Und nicht genug damit, dass er ein Königssohn war, der einmal ein Land regieren sollte. Nein, nun erfuhr ich außerdem, diesem Mann erst noch begreiflich machen zu müssen, dass er eine sehr hohe Verantwortung trug, die man für kurze Zeit auch mir übertragen hatte. Was sollte um Himmels Willen dieses Ganze? Und vor allem, was passierte, wenn es mir nicht gelingen sollte, Finn davon zu überzeugen? Könnte dann wirklich für längere Zeit niemand mehr aus seinem Land irgendwohin geschickt werden, wo unsere Hilfe benötigt wurde? Gewiss träumte ich diese Sache nur. Und jeden Moment würde ich aufwachen und wieder die ganz normale behinderte Frau sein, von der ich jahrelang fest glaubte, sie zu sein.

Aber ich sollte für den Rest meines Lebens nicht aus diesem Traum erwachen!

 

›Wusstest du etwa auch schon, dass Herr Schwelm es nicht für möglich hält, der Sohn eines Königs zu sein und dass es meine zusätzliche Aufgabe ist, es ihm glaubhaft zu machen? Ich meine, er muss doch erst verinnerlicht haben, überhaupt ein Außerirdischer zu sein. Dies allein ist schon recht schwierig. Und nun soll ich ihm außerdem noch glaubwürdig machen, der Sohn eines Königs mit einer sehr hohen Verantwortung zu sein?!‹

 

›Ja.‹, kam es kleinlaut von meiner Freundin Elena. Wir beiden saßen gerade zusammen in meinem Wohnzimmer und guckten uns die Fotos an, die wir in China gemacht hatten. Mein halber Wohnzimmerteppich war voller Fotos. ›Aber mir war es strengstens verboten, es dir zu verraten. Außerdem konnte keiner ahnen, dass es so kommen würde. Wir haben gedacht, wenn Finn glaubt, ein echter Zauberer zu sein, würde er es mit dem Königssohn und seinem Heimatplaneten als wahr hinnehmen. Seine Familie hat einfach auf dich gehofft, als klar wurde, dass ihr Sohn das alles als einen blöden Witz abtut. Sie hätten mich gelyncht, wenn ich dir gegenüber in dieser Sache den Mund aufgemacht hätte.‹

 

›Aber ich bin doch hierher geschickt worden, um eine ganz andere Sache zu erledigen.«, warf ich in den Raum hinein.

 

›Ja, ja, du hast Recht. In allererster Linie bist du natürlich auf die Welt geschickt worden, um helfend einzugreifen. Aber eure Eltern haben nun einmal ausgemacht, dass Finn und du miteinander verheiratet werdet. Somit hoffen sie auf deine Überzeugungskünste. Und es ist ein wahres Glück für euch, dass ihr euch tatsächlich mögt und freiwillig ein Paar seid. Normalerweise mögen sich die zwei Menschen, die von ihren Eltern versprochen wurden, nicht so sonderlich. Sie heiraten und leben nur zusammen, weil es von ihnen verlangt wird. Und Finn und du liebt euch doch, oder?‹, erkundigte sich Elena auffallend vorsichtig bei mir und schaute mich mit großen, fragenden Augen an. »Jedenfalls sieht es ganz danach aus, wenn ihr zusammen seid.‹

 

›Hm, das weiß ich nicht so recht! Jedenfalls habe ich keine Ahnung, ob diese Art von Zuneigung, die ich Finn entgegenbringe, aufrichtige und ehrliche Liebe ist, die zum Heiraten genügt‹, murmelte ich so leise, wie es nur ging. Trotzdem schaute meine Freundin mich gespielt irritiert an.

 

›Was hast du da eben gesagt? Hab' ich das richtig verstanden?‹

 

Unwillkürlich musste ich grinsen. Denn für gewöhnlich musste mein Gesprächspartner bei einer Unterhaltung mit mir immer x-mal nachfragen, was ich gesagt hatte. Doch wenn ich nur vor mich hinmurmeln wollte und nicht unbedingt danach strebte, klar und deutlich verstanden zu werden, klappte es komischerweise jedes Mal auf Anhieb. Das war wirklich ein kleines Phänomen!

Äußerst verlegen und zugleich etwas ärgerlich auf mich selbst, schaute ich zu Boden und hoffte, er möge sich auftun, sodass ich darin verschwinden könnte. Allerdings war mir klar bewusst, dass Ellie genauestens Bescheid wusste. Denn sie war ja eine junge, lebendige Hexe, die des Gedankenlesens mächtig war. Aber mir schien es, als ob sie meine Offenbarung klar und deutlich hören wollte.

 

›Ach, zum Kuckuck, höchstwahrscheinlich erwartet ihr auch noch von uns, dass wir zusammen Kinder bekommen. Mann, ihr seid ja noch schlimmer als die Menschen‹, brach es aus mir heraus. Aufgebracht warf ich ein Foto in Richtung Heizung.

 

›Na, Zerlina, nun mach' aber mal einen Punkt. Wir kommen immerhin noch von unserer eigenen Welt! Und wie ich dir schon einmal zu erklären versucht habe, hat jede Gruppe der Lebewesen ihre eigenen Gesetze und Rituale, die sie für richtig und normal halten. Zum Beispiel pikieren wir uns darüber, dass in einigen Ländern dieser Welt ein Mann drei bis fünf Frauen gleichzeitig hat. Wir sagen, es ist widerlich oder gar ein bisschen pervers. Aber es ist nun einmal Sitte dieses Landes sowie es für einige Menschen ganz normal ist, nur mit einem einzigen Partner zusammen zu sein. Dennoch sagen diejenigen, für die es nicht der Normalität entspricht, dass es abscheulich ist. Aber in einigen Ländern dieser Welt ist es zum Beispiel auch völlig legitim, alte und todkranke Menschen auf ihren Wunsch hin beim Sterben zu unterstützen. Jede Gruppe der Lebewesen, sei es der Mensch, das Tier oder die Pflanze, hat ihre ganz eigene Lebensform. Und diese hält sie für ganz normal und richtig, Zerlina. Und weißt du, was mich bei den klar denkenden Lebewesen mächtig stört? Dass jede Gruppe und auch ein paar einzelne Menschen denken, sie hätten die perfekte Lebensform gefunden und müssten alle anderen von ihr überzeugen. Nur leider ist dieses Verhalten vollkommen normal und natürlich zu erklären. Und, versuchen wir nicht gerade auch, andere Lebewesen etwas von uns zu vermitteln, von dem wir meinen, dass sie damit friedlicher und glücklicher leben können, hm?‹, fragte Ellie mich in einem energischen Tonfall und sah mir direkt in die Augen.

 

›Da hast du etwas vollkommen Wahres gesagt. Und weil ich eben nun einmal auf diesem Planeten und mitten in Deutschland aufgewachsen bin, drängt es mich irgendwie auch danach, mich wie ein normaler Mensch fühlen und leben. So blöde es sich gerade auch anhört. Von daher weiß ich nicht so recht, ob ich Finn Schwelm jemals zu meinem angetrauten Ehemann nehmen möchte. Ach, ich weiß doch auch nicht, was mit mir los ist. Es bricht alles so plötzlich auf mich ein. Jahrelang war ich der festen Überzeugung, ein normaler Erdbewohner zu sein, und dann muss ich in nur anderthalb Jahren erfahren, eine Außerirdische zu sein, die hier helfend eingreifen soll, und zudem noch zwei so kniffelige Aufgaben erledigen muss. Ja, ich weiß, die Zeit drängt und es hängt viel von Finns und meinem Tun ab. Aber ...‹

Ich konnte diesen Satz nicht mehr zu Ende sprechen. Denn plötzlich brach ich in heftiges Schluchzen aus. Sofort kam Elena herbeigeeilt, schloss mich in ihre Arme und wiegte mich beruhigend hin und her.

 

›Also gibt es da doch jemand Anderes in deinem Leben?! Und zwar Jonas Müller. Stimmt 's?! Aber du wirst schon alles ins rechte Lot bringen, Zerlina. Davon bin ich fest überzeugt. Du bist stark.‹

 

Plötzlich vergaß ich für einige Sekunden lang meine Tränen und meine Verzweiflung und schaute Elena verdutzt an.

 

›Tja, Gedankenlesen ist manchmal eine wirklich feine Sache. Außerdem habe ich ebenfalls eine gute Beobachtungsgabe, meine liebe Zerlina! Und da ich dich nun schon eine ganze Weile kenne und gut leiden kann, sind mir hin und wieder doch so einige Kleinigkeiten aufgefallen. Wie zum Beispiel, dass du jedes Mal glücklich aussiehst, wenn du diese eine ganz spezielle Fotografie neben deinem Bett zufällig mit den Blicken streifst. Lange Zeit habe ich nicht gewusst, wer dieser Mann auf diesem Foto ist, bis Momo es mir eines Tages verraten hat. Denn alles kann man in den Gedanken einer anderen Hexe oder eines anderen Zauberers nun auch nicht lesen.Auch tust du deiner kleinen Katzendame so leid, dass sie irgendwann weder ein noch aus wusste und sich kurzerhand an mich wandte. Denn deine kleine Momo ist ziemlich besorgt um dich. Außerdem hat sie sich mit Moritz kurz vor seinem Tod noch einmal unterhalten.‹

 

Mit übergroßen Augen starrte ich meine Freundin an.

 

›Momo, diese kleine, zuckersüße Zimtzicke, plaudert wirklich alles fröhlich aus.‹, schimpfte ich leise vor mich hin, suchte sogleich mit den Blicken nach ihr und sagte dann etwas lauter: ›Nun, selbst selbst wenn Jonas ein netter Typ ist und ich ihn in der Tat mag, so empfinde ich dennoch nicht mehr als nur Sympathie für ihn! Ach, Mensch, Ellie, ich mag Jonas. Er ist schon etwas Besonderes. Allerdings ist er nur mein ehemaliger Masseur, der auch noch gute zehn Jahre jünger ist als ich. Zudem bin ich nun einmal für Finn bestimmt und werde ihn aus diesem Grunde auch heiraten, mit ihm auf unseren Planeten zurückkehren und das Leben im Weltall retten. Möge da kommen, was will!‹

 

›Du bist ehrlich eine mutige, zielstrebige und starke Person. Ich hoffe nur, dass du dich über deiner Lebensaufgabe nicht selbst vergisst!‹, seufzte Elena.

 

›Dies ist nun mal mein Leben und mein Schicksal, dem ich nicht entrinnen kann. Die Welten müssen weiterleben. Und dafür tragen wir alle die Verantwortung‹

 

›Nun, das stimmt wohl‹, murmelte Ellie und blickte gedankenverloren aus dem Fenster. ›Die Sache ist nur die, Zerlina, dass ich dich so ungern traurig sehe!‹

 

Da mir meine Stimme versagte, antwortete ich nur mit einem leichten Nicken.

›Allerdings weiß ich partout nicht, wie ich es Finn beibringen soll, ein Königssohn zu sein, der auf einer komplett anderen Erde zu Hause ist. Das Einzige, wo ich ein bisschen aufatmen kann, ist, dass ihr anscheinend nicht von uns erwartet, Kinder zu bekommen, oder?‹, kam es mir plötzlich doch wieder mit Ton ein wenig ängstlich über die Lippen.

 

›Nein, nein, das wird von niemandem verlangt. Das wäre ja auch ein bisschen dreist. Darum können die Königspaare, die keine Kinder haben, aus dem normalen Volk auswählen, wer ihre Nachfolger werden oder wer sie in einem Krankheitsfall vertreten soll. Somit könnt ihr jemanden auswählen, der eurer Meinung nach fähig ist, für das Weiterleben im Weltall zu sorgen. Dein Vater ist von seinem Freund, dem König vom Land mit den dreizehn Feuer speienden Vulkanen, ja auch ausgewählt worden. Ja gut, ich meine, ihr stammt zwar von einer Familie ab, die in Monarchkreisen verkehrt hat, doch das ist schon lange her.‹

 

›Tja, ich weiß nicht, ob ich Kinder haben möchte. Denn dann hätte Finn ja noch mehr Arbeit‹.

 

„Nun, bei uns auf dem Planeten gibt es ebenfalls ambulante Pflegedienste, die invaliden Hexen und Zauberern persönliche Assistenten zur Verfügung stellen. Aus diesem Grunde müsste Finn sich nicht immer selber um euren Nachwuchs kümmern. Außerdem wäre es schön, wenn es in Zukunft jemanden gäbe, der deine ruhige, fröhliche und positive Ausstrahlung hat und die Lebewesen auf die gleiche Art beruhigen und zur Umsicht führt. Auch wäre es zum großen Vorteil für uns, wenn es auf unserer kleinen Erde ein bisschen mehr Nachwuchs gebe. Bei uns ist es nämlich ein wirkliches Problem, genügend junge Hexen und Zauberer zu haben, die wir ausschicken können. Na, Zerlina, wie wär’s…?“, zwinkerte mir meine Freundin aufmunternd zu.

 

Leicht lächend und höchst interessiert hörte ich Ellie zu. Dann hatten wir ja genau das gegenteilige Problem zu dem der Lebewesen hier auf der blauen Kugel. Denn hier vermehrte man sich beinahe explosionsartig.

 

›Aber wie mache ich Finn nur klar, dass er seine Lebensaufgabe exakt erledigen muss?“, fragte ich nach einigen Minuten wieder seufzend. „Ich habe schon jede Möglichkeit in Erwägung gezogen, glaube ich. Auch daran, einen Dritten Weltkrieg ausbrechen zu lassen, damit er miterlebt, wie schlimm es ist, wenn vielleicht hunderte von Menschen vernichtet werden. Denn weniger Menschen hätte ich leider nicht sterben lassen können, um ihm zu zeigen, wie grausam eine so genannte Untergangstimmung ist. Aber dann ist mir eingefallen, dass er schon häufiger in Ländern war, in denen gerade ein grausiger Krieg wütete. Au menno, Ellie, wie bewerkstellige ich das alles nur?‹

 

Doch außer einem Achselzucken konnte ich meiner Freundin nichts entlocken.

 

 

 

 

XV

 

Dann kam die Nacht, in der mir Großmutter unterbreitete, ich könne demnächst zum Papst reisen. Zuerst glaubte ich, Großmutter wollte sich einen Scherz mit mir erlauben. Aber an ihrem ernsten Gesichtsausdruck konnte ich dann doch erkennen, dass es wahr sein musste. Mit großen Augen sah ich Großmutter an, als sie klar und deutlich sagte, dass es stimmte. Und obwohl ich den Papst so unbedingt treffen wollte, so spürte ich nun doch, wie ich vor Aufregung zu schwitzen begann. Leider bekam ich nie heraus, wie Emma für mich eine Audienz beim Papst organisiert hatte. Jedes Mal, wenn ich sie danach fragte, hob sie immer nur ihre Schultern an und machte ein recht geheimnisvolles Gesicht. Aber eine Antwort bekam ich nie!

Nachdem ich erfahren hatte, tatsächlich zum Papst zu reisen, brachte ich die kommenden Wochen damit zu, mir fieberhaft zu überlegen, wen ich auf meine Reise nach Rom mitnehmen könne. Bei diesen Überlegungen gelang es mir wenigstens, mich ein kleines bisschen von meiner zweiten und schwierigen Aufgabe abzulenken. Leider wollte mir niemand einfallen, der mich auf dieser Reise begleiten konnte.

Da der Winter mittlerweile fortgeschritten war und ein eisiger Wind um die Ecken der Häuser und über das offene Land wehte, fand auf dem Brocken wieder einmal ein Winterfest statt. Die Winterfeste konnte man übrigens mit dem Weihnachtsfest der Menschen vergleichen. Die Veranstaltungen, die für und von Hexen und Zauberern geplant und organisiert wurden, waren immer schön und gemütlich. Sie liefen bei uns ganz anders ab als bei den Lebewesen ohne herzhaftes Lachen. Nicht nur, dass sie aufgrund des geringen Alkoholkonsums viel ruhiger und friedlicher waren, nein, sie waren auch lustiger und ausgeglichener. Immer wieder musste ich feststellen, dass wir tatsächlich sehr viel öfter lachten als die meisten Menschen.

Schon eine Woche vor dem Winterfest der Hexen und Zauberer lag ich abends aufgeregt und mit wildem Herzklopfen in meinem Bett und fragte mich, ob meine leibliche Familie nun endlich einmal kämen. Würde ich nun meine Eltern und meine elf Geschwister kennen lernen? Würde ich erfahren, woher ich kam und zu wem ich gehörte? Denn je älter ich wurde, desto größer wurde meine Sehnsucht nach meiner leiblichen Familie und ihrer Wärme. Aber da meine Eltern noch niemals hier waren, würden sie auch gewiss nicht zu diesem Fest kommen.

Mit all diesen Fragen und dem vielsagenden Kribbeln im Bauch konnte ich kaum Schlaf finden. Hinzu kam, dass ich Ende Juli diesen Jahres von einer Freundin einen kleinen, nachtschwarzen Kater namens Hannes geschenkt bekommen hatte. Dieser schwängerte Momo drei Monate, nachdem er bei uns eingezogen war. Und nun war meine kleine Momo also hochschwanger und konnte sich kaum bewegen. Selbst essen, was sie sonst so gerne tat, mochte sie nicht mehr. Ängstlich hockte ich tagsüber vor ihrer Decke und beobachtete, wie sie erschöpft und schwer atmend auf der Seite lag und vor sich hindämmerte.

 

›Was hast du nur mit meiner Momo gemacht?‹, fuhr ich Hannes schroff an, als ich bemerkte, wie schwer meine kleine Momo an ihren Babys zu tragen hatte.

 

›Tz, tz, tz, das sieht dir mal wieder ganz ähnlich, liebe Zerlina. Ständig bei mir den elenden Sündenbock suchen. Ich habe mit deiner ach so süßen Momo gar nichts gemacht. Sie war es, die recht viele Nachkommen von uns beiden haben wollte. Aber ihr Frauen seid so: Erst bettelt ihr uns Männer an, euch zu schwängern, und sobald wir es dann getan haben, bekommen wir die Schuld, wenn ihr euch während der Schwangerschaft nicht wohlfühlt. Es ist immer dasselbe!‹, maulte mein kleiner Kater mich ungehalten an. Zur Strafe richtete er in der ersten Zeit nach diesem kleinen Streit kaum noch das Wort an mich. Und auch mit Momo sprach er nur selten.

 

›Er ist eben nicht so redselig wie ich‹, versuchte sie ihren Mann ein wenig zu verteidigen.

 

Und vier Tage vor unserem Winterfest gebar Momo dann sechs Junge, von denen fünf überlebten und allesamt zuckersüß waren. Es ist nur allzu gut zu verstehen, dass Momo traurig war, als ich ihre Babys im Alter von zwölf Wochen weggeben musste. Denn in meiner Wohnung war es mit acht Katzen doch ein wenig zu eng. Kimmy, ihre eine Tochter, ließ ich ihr. Ich konnte es einfach nicht übers Herz bringen, alle Kinderchen wegzugeben.

Dann war der Abend gekommen, an dem das Winterfest stattfand. Zwei Stunden vor Mitternacht erschien meine Großmutter und holte mich ab.Nur kam sie diesmal nicht allein, sondern in Begleitung von Janica, Finns kleiner Schwester. Als Großmutter schon dabei war, meine Bettdecke zur Seite zu geschlagen, hielt sie plötzlich in ihrem Tun inne, räusperte sich leicht verlegen und sagte: ›Ach bitte, entschuldige, Zerlina, dass wir dich jetzt so überfallen. Aber Janica wollte dich unbedingt vor dem großen Trubel des Winterfestes sehen und auch gucken, wie du jetzt in deiner eigenen Wohnung so lebst. Und weil ich mir dachte, dass es dir gewiss nichts ausmacht, habe ich sie einfach mitgebracht.‹

 

›Nö, nö, dein Besuch stört mich in keiner Weise. Ganz im Gegenteil! Ich freue mich immer, wenn jemand zu mir kommt. Ich habe ja auch schon lange nichts mehr von dir gehört. Dein großer Bruder erzählt oft von dir.‹, erklärte ich Janica mit einem vergnügten Lächeln.

 

›Das ist schön, dass dir mein „kleiner Überfall“ nichts ausmacht!‹, entgegnete Finns jüngste Schwester, zog ihre dicke Flugjacke aus und hängte sie schwungvoll über die Sofalehne im Wohnzimmer.

 

›So, ihr beiden, ihr könnt gleich auf unserem Feste noch weiterplaudern‹,

unterbrach uns Emma. ›Ich ziehe Zerlina eben fertig an und dann fliegen wir los, okay? Janica, du kannst dir inzwischen die fünf kleinen Babys von Momo angucken.‹

 

Und im nächsten Moment hörte ich Janica in meinem Wohnzimmer ausrufen: ›Oh mein Gott, sind die süüüß!‹

 

Die Nachtluft war schneidend kalt. Schön, dass es gleich auf dem Winterfest etwas Warmes zu trinken gibt, freute ich mich. Zusammengekauert hockte ich auf meinem Besen und war sehr dankbar für meine Sitzschale, die meinen immer schmerzenden und verkrampften Rücken kuschelig warm hielt. Gut gemacht, Papa, lobte ich gedanklich meinen Vater.

Hoffnungsvoll sah ich mich in dem großen Saal um, der festlich geschmückt war und in dem sich bereits viele Hexen und Zauberer aufhielten, ob ich meine Schwestern und Eltern irgendwo entdecken konnte. Doch all die Leute, die um mich waren, kannte ich schon. Auch Antonia, die sich damals bei meinem ersten Winterfest so rührend um mich kümmerte, war heute nicht da. Und Finn glänzte eh wieder mal durch Abwesenheit.

 

›Nein, da deine Familie auf unserer Erde lebt, besucht sie die Feste auf den anderen Planeten nicht‹, erklärte Janica mir plötzlich und hielt mir eine Tasse mit heißem Kakao aus Sojamilch hin. Dankbar trank ich einen Schluck.

 

›Nun, darauf hätte ich auch selbst kommen können!‹, tadelte ich mich und schüttelte ärgerlich meinen Kopf. ›Können sie eigentlich zwischen zwei Welten wandeln?‹

 

›Ja, da sie die zukünftige Königsfamilie ist, hat auch sie das Privileg, auf zwei Welten leben zu können. Aber nur dein Vater macht von diesem Privileg Gebrauch. Deine Mutter und deine Schwestern waren, glaube ich, noch nie auf einer anderen Erde.«, bekam ich von Janica zur Antwort.

Diese Nacht wurde wieder mal wunderschön. Es gab viele Aufführungen, leckeres Essen und lauter nette Leute zum Unterhalten. Und immer mehr hatte ich das wunderschöne Gefühl, endlich angekommen zu sein!

 

›Hm, Zerlina, darf ich dich mal etwas fragen?‹, erkundigte sich meine zukünftige Schwägerin etwas zaghaft bei mir, als sie mal wieder bei mir eintraf.

 

›Na, klar! Was möchtest du wissen?‹

 

›Ähm, ja, man hat mir vor einiger Zeit erzählt, dass du vorhast, dich mit dem Papst zu treffen. Was versprichst du dir davon?‹

 

›Na, er kann ja schon recht aktiv mithelfen, das Elend auf Erden zu stoppen! Denn wenn die katholische Kirche den Menschen erlauben würde, Kondome zu benutzen, würde es zumindest nicht mehr so viele Aidskranke und –tote geben. Familien würden nicht mehr so brutal auseinandergerissen. Und den Leuten wäre es möglich, selbst zu entscheiden, wie viele Kinder sie bekommen und ernähren können. Auch den Behinderten in Afrika und in anderen armen Ländern dieser Welt geht es wirklich schlecht. Denn es fehlt das Geld, um diese Menschen richtig zu betreuen und zu fördern. Vor einigen Monaten war ich im Sudan und konnte es mit eigenen Augen sehen‹, erzählte ich Finns kleiner Schwester aufgebracht.

 

›Hm, da ist wohl etwas Wahres dran‹, entgegnete Janica nachdenklich.‹

 

›Ja. Und Großmutter hat schon ein Treffen mit dem Papst für mich organisiert‹, erzählte ich Janica mit vor Aufregung leichtem Herzklopfen.

 

Plötzlich stand meine Großmutter hinter uns. ›Ähm, ich wollte nur sehen, ob du irgendetwas brauchst‹, teilte Großmutter mir leicht nervös mit und verschwand gleich wieder, nachdem sie mitbekommen hatte, was ich meiner zukünftigen Schwägerin soeben erzählte.

Ich erfuhr tatsächlich nie, wie es Emma gelungen war, für mich ein Gespräch mit dem Papst zu organisieren. Überhaupt wusste ich über die wirklichen Zauberkünste meiner Großmutter leider nur sehr wenig. Mir war lediglich bekannt, dass sie Dinge verwandeln sowie gewünschte oder einige ersehnte Lebenssituationen herbeizaubern konnte und dass sie mir eine äußerst gute Lehrerin war. Na, und nun wusste ich auch noch, dass sie den Papst und/oder seinen Terminkalender verzaubern konnte.

An diesem Abend lachte ich viel mit den Anderen und führte eine angeregte Unterhaltung mit Janica. Dabei überlegten wir, ob der Papst vielleicht doch eine ganz andere Einstellung zur Religion, zum Bevölkerungszuwachs und zur Verhütung hatte, wie wir es bisher immer glaubten.

 

›Wir können es alle irgendwie nicht so ganz für möglich halten, dass Johannes Paul II. seine Ansicht geändert hat. Ich meine, Papst ist doch schließlich gleich Papst und kann und wird seine Meinung in diesen Dingen niemals ändern. Doch nichtsdestotrotz finde auch ich, wir sollten es ruhig noch einmal auf ein Gespräch drauf ankommen lassen. Wer weiß, wie der gute Johannes Paul jetzt eingestellt ist? Vielleicht ist er inzwischen wirklich einsichtiger geworden. Jedenfalls würde ich dich auch begleiten wollen, wenn du magst. Ich muss nämlich noch einige Pluspunkte bei meinem Brüderchen sammeln. Wir haben uns vor einer Woche mächtig gestritten. Tja, und nun ist das Verhältnis zwischen uns recht abgekühlt. Er ärgert mich andauernd mit meiner kleinen, süßen Ratte. Er meint, wenn ich sie ständig an erste Stelle setze, werde ich nie einen Mann finden. Und da er immer und immer wieder davon anfängt, kann ich es langsam nicht mehr lustig finden. Dabei hatte ich schon sehr lange einen Freund. Nur weil er dir seit rund fünfundzwanzig Jahren treu ist, denkt er, er wäre ganz, ganz toll. Na ja, vielleicht bin ich auch nur zu empfindlich‹, überlegte Janica und verzog ihr noch junges Gesicht leicht grübelnd.

 

›Ich glaube, Finn hat das nur aus Spaß gesagt. Du weißt nicht, wie oft er mich veralbert. Und unter Geschwistern ist es nun mal so üblich, dass man sich mitunter ganz schön streitet, fetzt und neckt‹, versuchte ich Janica ein wenig zu trösten und streichelte flüchtig ihre Schulter.

 

›Hm, du hast Recht. Und eigentlich ist Finn auch ein unheimlich lieber, netter Kerl. Nur dass er manches Mal so einen Schwachsinn von sich geben muss, regt mich auf. Aber auf der anderen Seite tut er dann wieder so, als ob er mein Vater wäre. Doch das liegt wohl am großen Altersunterschied.‹

 

Leicht grinsend nickte ich.

 

›Bist du mit Finn eigentlich rundum glücklich? Oder fragst du dich an einigen Tagen auch mal, wie es wohl mit einem anderen Mann wäre? Denn ihr beiden kennt euch schon von Kindesbeinen an. Sehnt man sich da nicht, sich noch einmal ganz neu zu verlieben? In einen Mann seiner eigenen Wahl zum Beispiel?‹

 

›Nun, danach habe ich mich noch gar nicht gefragt‹, log ich und spürte sogleich, wie mir ganz heiß wurde. Höchst peinlich berührt versuchte ich, der kleinen Schwester meines Freundes jeglichen Augenkontakt mit mir zu verweigern.. ›Ich bin mit deinem Bruder wirklich total glücklich. Und da wir bis vor kurzem nicht wussten, dass wir einander versprochen sind, ist es für uns auch so, als ob wir uns ganz zufällig getroffen und ineinander verliebt hätten. Nein, ich habe mich in der Tat noch nie gefragt, wie es wäre, wenn ich mich von Finn trennen und ohne ihn leben müsste. Unsere Eltern haben es schon gut gemacht, als sie uns füreinander bestimmten!‹ Etwas zu hastig nahm ich noch einen Schluck von meinem heißen Kakao und spürte ärgerlich, wie mir die Stimme zu versagen drohte. Denn in diesem Augenblick sah ich plötzlich meinen wahren Traummann vor meinem geistigen Auge. Ja, mir war sogar so, als könne ich dich riechen. Mit angsterfülltem Herzen blickte ich zu Janica hinüber. Denn ich befürchtete, sie habe den Bruch in meiner Stimme wahrgenommen und wartete mit geschlossenen Augen auf ihre nächste Frage. Außerdem fühlte ich, dass auch sie genau Bescheid wusste. Doch dann unterhielten Janica und ich uns den Rest der Nacht nur noch über meine Reise nach Rom und schmiedeten Pläne, wie ich es am besten anstellen könnte, mit dem Papst genau über die missliche Lage in der Welt zu sprechen, die uns am meisten am Herzen lag. Denn die Schwester meines zukünftigen Ehemannes war tatsächlich bereit, mich in den Vatikan zu begleiten. Einerseits war ich unendlich erleichtert, so schnell jemanden gefunden zu haben, der mich begleiten wollte, aber auf der anderen Seite wurde mir bei dem Gedanken ein wenig mulmig, dass ausgerechnet Finns Schwester mit mir flog. Ich erzählte Janica, dass der Papst mich am neunundzwanzigsten Januar zweitausendundvier erwartete. Zum Glück war diese Reise noch acht Wochen hin. Denn ich wollte meine kleine Momo mit ihrer großen Kinderschar jetzt auf gar keinen Fall allein lassen. Zumal ich auch spürte, wie sehr sie mich jetzt brauchte. Jede Nacht lag sie eng an mich gekuschelt und sprang meist noch nicht einmal vom Bett herunter, wenn sie ihre Notdurft verrichten musste, sondern sie pieselte in vollem Strahl auf die Matratze, nur um ja nicht von mir wegzumüssen. Nun, Momo und ich hatten ja schon von Anfang an eine ziemlich enge Bindung zueinander. Aber seit sie eine junge Mama geworden war, war die Bindung noch sehr viel enger und vertrauter.

 

Das Jahr zweitausendundvier fing also wieder mit Sachenzusammensuchen an. Erschöpft hockte ich an so manchen Abenden zwischen Dingen, bei denen ich es für nötig hielt, sie mitzunehmen und die ich mir nicht so ohne Weiteres zaubern konnte. Schnell lieh ich mir noch von einer Bekannten die christliche Bibel aus und las einige Textstellen flüchtig durch, um wenigstens ein kleines bisschen Wissen von dieser Geschichte zu haben. Zwischendurch kam immer wieder Kimmy, die kleine Tochter von Momo, zu mir gelaufen und erkundigte sich neugierig, was dort draußen jenseits der großen Fensterscheiben wäre. Daraufhin erklärte ich ihr, was Bäume, Wälder, Felder, Blumen, Pflanzen, Gras, Berge und Täler waren. ›Und was deine kleine, süße Mama da neulich vollständig ausgebuddelt hat, war eine Palme in einem großen Blumentopf gewesen.‹, kam es mir trockener über die Lippen, als ich es beabsichtigt hatte.

 

›Tja, meine liebe Zerlina, wenn du mich nicht ständig verlassen und mir ein bisschen mehr Aufmerksamkeit schenken würdest, würde ich auch ganz lieb und brav sein!‹, gab Momo teils etwas ärgerlich, teils mit einem fast nicht zu bemerkenden Kichern in der Stimme von sich.

 

›Ach, Momo, nun bleib' mal fair! Denn du weißt ganz genau, dass ich so viel reisen muss, um meine Lebensaufgabe verstehen und erledigen zu können. Ich wäre auch lieber häufiger bei dir. Erst recht jetzt, wo du deine kleine, süße Kimmy hast, die gerade eben erst alles entdeckt. Aber die Pflicht ruft.‹

 

›Ja, ja, das stimmt.‹, stimmte mir Momo mit einem mürrischen Gesichtsausdruck zu, ›Aber trotzdem wundert es mich, dass ihr Menschen, oder ihr, die den Menschen ähnelt, meint, ihr könntet von heute auf morgen das Leben und Treiben auf einem Planeten vollkommen verändern. Denn du hast selbst gesagt, dass Einzelne viel zu sehr von Anderen zurechtgebogen werden und ihre eigenen Meinungen über Bord werfen.‹

 

›Wie meinst du das denn jetzt?‹, fragte ich eine Socke fallend lassend entgeistert. ›Soll das etwa heißen, wir steigern uns da in etwas hinein, das niemals möglich ist, es Wirklichkeit werden zu lassen? Dann hätten und könnten die Menschen bei den Kriegen, die hier schon seit Beginn der Menschheit wüten und die es immer wieder zu schlichten gilt, seelenruhig sagen können, dass es zwecklos ist, sich dort einzumischen und sie auflösen zu wollen, da sie doch nichts verändern können. Was ist das für ein Blödsinn, Momo? Ach ja, ich weiß jetzt, was du meinst.‹, erklärte ich mit einem erleichterten Lächeln nach kurzem Nachdenken. ›Aber manchmal muss man von seiner etwas festgefahrenen Meinung eben abweichen, um für etwas Neues und vielleicht Sanfteres und Besseres offen zu sein. Nein, was ich immer ein wenig kritisiere, ist, dass die meisten Menschen häufig blind und taub einer anderen Meinung folgen. Das ärgert mich. Na, und da wir den Menschen nun einmal nichts anhexen dürfen, müssen wir mit ihnen Gespräche führen und versuchen, sie auf diese Weise richtig nachdenken und sich über ihre eigenen Probleme bewusst werden zu lassen, bevor sie der Ansicht von jemand Anderem folgen. Verstehst du das, Momo?‹

 

›Du hast ja Recht. Vielleicht bin ich wirklich nur ein wenig sauer, dass du mich so häufig allein lässt‹, murmelte meine kleine Katzendame und kuschelte sich schnurrend in meinen Arme.

 

 

 

 

XVI

 

In einer eisigen Nacht der letzten Woche des Januars flogen Janica und ich dann gen Rom. Nur dieses Mal flogen wir in einem normalen, warmen Flugzeug. Das Risiko war schlichtweg zu groß, dass der Vatikan unsere wahre Identität bemerkte, wenn wir unseren Besen reisten.

Wir kamen in der Wohnung einer Nonne unter, die etwas außerhalb des Vatikans wohnte. Die Wohnung war hell, gemütlich und sah wie eine ganz normale 3-Zimmerwohnung aus. Seltsamerweise hatte ich sie mir ein wenig anders vorgestellt. Es hing lediglich ein Kreuz mit Jesus im Wohnzimmer. Zum Glück war die Wohnung der Nonne recht geräumig und mit einem Fahrstuhl gut zu erreichen. Und da Janica und ich diesmal in einem komfortablen Flugzeug gereist waren, hatte ich meinen eigentlichen Rollstuhl mitnehmen können. Ich bin mit dem Leben einer Nonne oder eines Mönchs überhaupt nicht vertraut, entschuldigte ich mich gedanklich bei der Nonne. Ich dachte, dass in der Wohnung einer christlichen Nonne oder eines christlichen Mönchs viel mehr Bilder von Jesus, Maria und Joseph und Kreuze hängen und man im einzelnen Möbelstück ihren strengen Glauben wiedererkennt.

In den ersten Stunden unseres Vatikanbesuchs erfuhren wir von den Bewohnern, dass hier etwa tausend Menschen lebten. Davon etwa dreitausend Angestellte. Neugierig schauten Janica und ich uns im kleinsten Staat der Welt um. Wir besichtigten den Radiosender, der wie ein ganz normaler Radiosender gestaltet war. Nur wurde hier fast ausschließlich kirchliche Musik gespielt und die Beiträge und Nachrichten ähnelten den Predigten des Papstes und denen der anderen Kirchenmänner. Auch die Druckerei, in der die vatikanische Tageszeitung Osservatore Romano gedruckt wurde, war mit üblichen Druckereien zu vergleichen. Dieser Stadtstaat war überwiegend auf Spenden, den Erlös aus der Münzprägerei und aus dem Briefmarkendruck sowie auf die Einnahmen aus Handels- und Gewerbemonopolen angewiesen. Da der Vatikan eine Währungsunion mit Italien hat, wird hier ebenfalls mit dem Euro gezahlt, auch wenn es im Vatikan eine eigene Währung gibt. Der Vatikanstaat hat demnach einen ganz eigenen Euro. Selbst eine eigene Fahne hatte dieser winzige Staat. Fast jeden Tag gingen wir an den Fluss Tiber, der als Hauptfluss des Vatikans betrachtet wird. Man erzählte uns weiter, dass der Name dieses kleinen Staates von dem am rechten Ufer gelegenen Hügel Vaticano stammte.

In diesen drei Wochen bekam ich zwar einen guten Einblick in das Leben der Katholiken, aber als ich zwei Tage vor meiner Abreise in das Empfangszimmer des Papstes geleitet wurde, war ich doch etwas enttäuscht. Denn ich wusste immer noch recht wenig über das Tun dieser Menschen. Ich wusste lediglich, dass diese Menschen ständig in die Kirche gingen, beteten, einmal wöchentlich ihre Sünden beichteten, versuchten, so viel Gutes zu tun, wie ihnen nur möglich war und an einen Gott in Menschengestalt glaubten, der ein junges Mädchen von nur vierzehn Jahren schwängerte. Dieses junge Mädchen stammte unmittelbar vom großen Gott ab. Es wurde von Gott auserwählt, um seinen Sohn, den angeblichen Erretter dieses Planeten, der er selbst war, schicken zu können. Beim längeren Nachdenken über die Geschichte fiel mir zum allerersten Mal auf, dass, falls es stimmte, dass Gott durch seine eigene Tochter seinen Sohn auf die Welt schickte und ihn von ihr gebären ließ, es eine Art Inzest war. Dieser Gedanke war sehr abstoßend für mich und vergrößerte meine Abneigung gegen die Christen um ein Vielfaches! Allerdings könnte es bei dem christlichen Glauben ja auch so gemeint sein, dass Maria nur eine Tochter unter vielen war. Denn die Menschen waren nun einmal "die Kinder Gottes". So sagten sie es wenigstens. Jedoch hätte Gott trotz alledem auf irgendeine Art und Weise Inzest betrieben, wenn jeder Mensch tatsächlich von ihm persönlich abstammte. Nun, es blieb dann aber noch die Frage, wie es sich mit der "Inzesttheorie" verhielt, wenn Gott Jesus selber war...

Auch war mir die hohe Abneigung der Christen gegenüber Menschen zuwider, die homosexuell waren. Und diese Abneigung stammte überwiegend daher, weil sich diese Menschen nicht so ohne Weiteres fortpflanzen konnten sowie Gott es vorgab. Immer wieder verheimlichten homosexuelle Menschen ihre „Neigung“, aus reiner Angst, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Und manchmal mussten sie auch um ihr blankes Leben bangen. Nun, ich musste mich für meine Mitmenschen, die an Jesus Christus glaubten, wirklich in Grund und Boden schämen!!!

Jesus erblickte in der Stadt Bethlehem in Palästina in einem Stall zwischen Ochsen und Kühen das Licht der Welt. Es herrschte große Freude, als die Heiligen Drei Könige aus dem Morgenland die Geburt von Jesu Christus verbreiteten. Denn mit seinem Erscheinen befreite Jesus die Menschen von all ihren Sünden und den daraus hervorgehenden Qualen und ebnete ihnen den Weg ins ewige, göttliche Paradies. Und viele Menschen glaubten oder hofften, dass mit der Geburt dieses Mannes der absolute Frieden auf diese Erdkugel einkehren und niemals wieder etwas Böses geschehen würde und sie auf ewige Zeit von dem Bösen erlöst seien. Doch die Unruhe zwischen den Menschen fing mit der Geburt von Jesus erst richtig an. Denn diejenigen, die nicht glaubten, dass dieser Mann mit den langen Haaren, dem Rauschebart, der Art Kutte und den Sandalen an den Füßen der Sohn Gottes war und ihre Späße mit ihm oder über ihn trieben, wurden verfolgt. Ja, sogar mehr als zweitausend Jahre nach seiner angeblichen Geburt führte man seinetwegen immer noch Krieg, mordete und folterte seine Mitmenschen zu Tode.

Weiter erfuhr ich, dass Jesus im Alter von dreiunddreißig Jahren von den Römern gekreuzigt wurde, da er sich als der wahre König der Juden bezeichnete. Die Juden meinten jedoch, Jesus wäre ein Prophet und ein elender Lügner, der nicht zu ihnen gehöre und ihr Oberhaupt sei, und stimmten deshalb seiner Hinrichtung zu. Seine Kreuzigung und Beerdigung fand in Jerusalem statt. Am dritten Tag nach seinem qualvollen Tod am Kreuz stand Jesus wieder von den Toten auf und bewies somit, dass er das direkte Kind Gottes war. Denn welcher normale Mensch, der auf herkömmliche Art und Weise gezeugt und geboren worden war, konnte aus seinem Grab wieder auferstehen und lebendig sein? Die Christen, die in Israel beheimatet waren, hatten eine heftige Auseinandersetzung mit den Palästinensern. Denn diejenigen, die an Jesus Christus glaubten und ihn verehrten, verspürten aufgrund seines Grabes eine heftige Eifersucht auf die Christen in Palästina. Und dieses schürte den ewig andauernden Streit dieser beiden Länder. Denn da in Jerusalem nun einmal das Grab von Jesus, der Felsendom bzw. die Al-Aqsa-Moschee, eine der heiligsten Stätten der Moslems, und die Klagemauer der Juden war, kam diese Stadt niemals richtig zur Ruhe. Der gläubige Mensch ertrug es einfach nicht, dass sein Gott, an den er glaubte und den er anbetete, nicht der einzige und wahre Gott sein sollte. Nun, die Menschen konnten nicht friedlich zusammenleben. Und es war auch gar nicht machbar und im Sinne des Weltalls. Denn wenn alle Lebewesen, die es auf einigen Planeten gab, immerwährend harmonisch und glücklich miteinander lebten und umgingen, würde es womöglich viel zu wenige Streitereien, Kriege und dementsprechend viel zu wenig Tote geben. So grausam es sich auch anhören mag! Aber vielleicht würde sich auf der Welt auch alles ganz von selbst ausgleichen. Das Leben und der Tod. Allerdings kann es niemand von uns wissen, wenn wir nicht einmal ausprobiert haben, friedlich und harmonisch zusammenzuleben!

Enttäuscht und aufgeregt saß ich nun, zwei Tage vor Beendigung meiner Reise, im Empfangszimmer des Papstes und wartete angespannt auf ihn. Janica und ich hatten uns darauf geeinigt, dass ich alleine zu diesem Treffen gehe. Wenn ich fertig war oder Hilfe benötigte, sollte ich sie mit meinem Handy einfach anklingeln.

Nach einer knappen halben Stunde etwa, nachdem ich ins ziemlich dunkel wirkende Zimmer mit den hohen, bis unter die Decke mit Büchern vollgestopften Regalen gebracht worden war, öffnete sich die Tür und Papst Johannes Paul II stand im Raum. Er sah genauso aus, wie man ihn aus dem Fernsehen her kannte. Mit seinem weiten Gewand und der kleinen, runden und weißen Kopfbedeckung.

 

›Einen wunderschönen Tag wünsche ich Ihnen, junge Frau!‹, kam der Papst freundlich und im gebrochenem Deutsch grüßend ins Zimmer und ließ sich in dem bequemen Stuhl mit der hohen Rücken- und Armlehnen mir gegenüber nieder. Für Sekunden vergaß ich völlig, weswegen ich eigentlich hier war. Denn zum allerersten Mal in meinem Leben stand ich einem so mächtigen Menschen persönlich gegenüber.

 

›Was kann ich für Sie tun?‹, erkundigte sich der Papst ebenfalls mit ziemlich erstauntem Gesichtsausdruck bei mir und riss mich aus meiner Faszination. Während er mir diese Frage stellte, schaute auch er etwas scheu auf meine andauernd zuckenden Arme und Beine.

 

‹Nun, ich bin gekommen, um mit Ihnen über die große Armut in der Welt zu sprechen‹, kam es mir etwas hilflos über die Lippen. Gleichzeitig fiel mir auf, wie erleichtert und froh ich doch war, dass der Papst recht gut deutsch konnte.

 

›Ja, das haben schon viele versucht und auch mehr oder weniger getan‹, erwiderte Papst Johannes Paul II immer noch leicht lächelnd und scheu. ›Aber wie man weiß, bin auch ich nur ein klitzekleines Licht auf dieser großen, weiten Welt. Von daher ist es mir also keinesfalls möglich, diesen Planeten gänzlich vom Schlechten und von der Armut zu befreien. Richtig und korrekt handeln kann und wird nur der Herr allein.‹

 

›Na, aber Sie sind doch mit einer der mächtigsten Menschen und könnten somit in den armen Gegenden der Länder zum Beispiel Verhütungsmittel erlauben. Die Katholiken verbieten doch so streng das Benutzen von Kondomen. Und wenn nicht mehr so viele Menschen geboren werden, wäre das Elend auf dieser Welt schon um einiges eingedämmt. Es ist doch ganz klar zu verstehen, dass die Qual nicht mehr so groß wäre, wenn es weniger Menschen gäbe. Und vielleicht würden dadurch diese grausigen Krankheiten, wie Aids, Seuchen und so weiter, dann auch weniger werden. Erzählen Sie den Menschen, die Ihrer Glaubensrichtung angehören und in den weniger gut entwickelten Ländern leben, einfach, dass sie beim Geschlechtsverkehr verhüten dürfen. Gott ist doch angeblich so sehr darauf bedacht, dass es seiner Herde gut geht und es ihr an nichts fehlt. Warum sollte er bitte schön etwas dagegen haben, wenn die gesamte Bevölkerungszahl etwas abnimmt und es gesündere Menschen gibt, die länger leben?‹, erkundigte ich mich mit einem naiven Gesichtsausdruck beim Papst.

 

›Kennen Sie die Bibel, junge Frau?‹, kam es nun streng fragend von meinem Gegenüber.

 

Verlegen schüttelte ich zaghaft mit dem Kopf und umfasste nervös die Armlehnen meines Rollstuhls. ›Jedenfalls nicht so gut, wie ich sie kennen müsste, um Ihnen einen Besuch abzustatten.‹, fügte ich nach wenigen Augenblicken ergänzend hinzu, als ich den vielsagenden Blick des Papstes auf mir ruhen spürte. Denn ich konnte noch nicht einmal die Zehn Gebote auswendig. Ich war weder zur Kommunion und Firmung und demnach auch nicht zum Konfirmandenunterricht gegangen. Ich hatte also nur sehr flüchtiges Wissen, was in der Bibel alles geschrieben stand. Zwar hatte ich mir vor dieser Reise extra die Bibel ausgeliehen, doch allzu viel Zeit, um darin zu lesen, war nicht mehr gewesen.

 

›Aha! Das habe ich mir schon fast gedacht. Denn solche dummen Ideen können nur von jemandem kommen, der die Bibel, die Worte Gottes und unsere Religion nicht korrekt kennt. Wir leben nur danach, was Gott uns durch die Bibel empfiehlt und sagt. Und es ist nun mal der Wille des Herrn, dass sich die Menschen mehren, um auf seinem Erschaffenen zu leben und es weiterzuführen. Zudem steht in der Bibel geschrieben, dass ein Mann und eine Frau nur dann Geschlechtsverkehr miteinander haben sollen, wenn sie sicher sind, ein Kind zeugen zu wollen.‹

 

›Aber in der Bibel steht doch zum Beispiel auch gar nicht, dass Gott einen Stellvertreter braucht oder dass man keine Kondome benutzen darf, selbst wenn man nur dann Geschlechtsverkehr haben soll, wenn man ein Kind zeugen möchte.‹, warf ich ein und schämte mich zutiefst, die Bibel sowenig zu kennen und von diesem Teil mit dem „Nur-Sex-zu-haben-wenn-ein-Mensch-dabei-gezeugt-werden-Soll“ nur aus Erzählungen gehört zu haben.

 

›Nun, wie Sie wissen, ist die Bibel in vielen Sprachen übersetzt worden. Außerdem ist sie unglaublich alt und es gibt das neue und das alte Testament. Somit sind im Laufe der vielen Jahre und während den ganzen Übersetzungen einige Einzelheiten, die einmal in der Bibel standen, verloren gegangen. Und wir Strenggläubigen werden uns ja nichts aus den Fingern gesogen haben, oder? Also werden diese Dinge in der Bibel gestanden haben.‹, erklärte der Papst mit ernster Miene.

 

›Ja,  das stimmt wohl! Ich hörte zum Beispiel, dass Jesus die Menschen gebeten hat, keine Tiere in Geangenschaft zu halten, sie zu quälen und zu essen. Er sagte uns, gut, höchst respektvoll und vorsichtig mit ihnen umzugehen. Kurz gesagt sollen wir nicht unbedacht und aus Habgier töten!!! Weder Tiere, Pflanzen noch Menschen. Alerdings verdrehten die einzelnen Übersetzer der Bibel so manchen Satz zu ihrem ganz eigenen Nutzen. Na, dem Schöpfer dieses Planeten liegt, glaube ich, schon etwas daran, dass sein Werk nicht wieder zerstört wird, nicht wahr?‹, lenkte ich schnell ein, um den Papst nicht gänzlich zu verärgern.

 

„Und das ist ganz natürlich. Niemand möchte, dass sein Werk wieder in der Versenkung verschwindet. Außer ein Koch oder ein Bäcker. Aber der Schöpfer möchte bestimmt keinesfalls, dass seine Erde überbevölkert wird und es den Lebewesen darauf schlecht geht. Oder sehe ich dies falsch? Ich denk', die Gläubigen und die Heiligen seien immer so gut und so fromm! Und warum in Gottes Namen lasst ihr es zu, dass sich die Menschen in der Dritten Welt und anderswo wie die Kaninchen vermehren und sie nicht genug zu essen und zu trinken haben?‹, begann ich mich nun ernsthaft aufzuregen. „Und die behinderten Menschen in den ärmeren Teilen der sowieso schon unterentwickelten Länder können nicht ausreichend gefördert werden, um später einmal ein weitgehend selbstständiges Leben zu führen. Das Geld reicht für nichts in den ärmsten Teilen dieser Länder aus. Noch nicht einmal für eine vernünftige, schulische Ausbildung. Auch bin ich der festen Ansicht, dass die Kirche und der Glaube an sich den meisten Menschen nur Angst macht und ungeheuren Druck auf sie ausübt, anstatt ihnen Kraft zu geben und sie in schwierigen Lebenssituationen zu trösten. Sein Leben lang soll man gut und fromm sein. Man darf keine Fehler machen, weil sonst das große, unbekannte Wesen im Weltall zornig wird und einem entweder in diesem Leben oder im Nächsten bestraft. Vielleicht wäre es ganz vorteilhaft, den Menschen besser über seine Religion aufzuklären und ihm zu vermitteln, dass der Schöpfer ihm immer wieder eine Chance gibt. Ganz egal, was er in seinem Leben bisher getan hat. Denn aus lauter Furcht vor ihrem Gott tun die Menschen meistens viele dumme Dinge sowie ich es aus eigener Erfahrung weiß. Mir werden hier die Menschen mit ihrer Religion und ihrem Glauben viel zu sehr alleine gelassen. Auch bin ich der festen Überzeugung, dass die Menschen überhaupt viel, viel zu wenig miteinander sprechen. Allerdings führen die meisten Menschen dieser Welt auch ein viel zu schnelles Dasein und haben aus diesem Grund gar keine Zeit zum Reden und zum Zuhören.‹

 

›Nun bleiben Sie mal ganz ruhig, junge Frau, und regen Sie sich nicht auf!‹, versuchte der Papst mich zu beruhigen. ›Wie Sie sicherlich schon erfahren haben, ist unser Herr Jesus genau wie Buddha der Meinung, dass, wer es in diesem Leben schwer hat, nach seinem Ableben von seinem jetzigen Leiden erlöst und es in seinem nächsten Leben wesentlich besser haben wird. Von daher kann ich Ihnen also versichern, dass sich alles zum Guten wenden wird. Zudem weiß jeder Gläubige genau, dass ihn sein Gott in all seinen Lebenssituationen liebt, ihm verzeiht und immer für ihn da ist. Denn in der Bibel steht klar und deutlich geschrieben, dass der Herr jedes Schäfchen irgendwann heim holt.‹

 

›Na, Sie machen es sich ganz schön einfach!‹, entfuhr es mir. ›In der Bibel steht aber auch, dass man von ganzem Herzen seine Sünden bereuen muss, um es nach seinem Tode angenehm zu haben. Und ich glaube, gerade das irritiert die meisten Menschen und macht ihnen Angst. Ich möchte hier jetzt keinesfalls nur der Kirche, der Religion oder dem Schöpfer die alleinige Schuld an der Angst, der Unsicherheit, dem Frust und der Unzufriedenheit der Menschen geben, denn das wäre nicht fair und nicht rechtens von mir. Dennoch meine ich, dass diese vier Dinge hauptsächlich von den gesamten Religionen ausgehen. Na, und wenn man den Leuten etwas mehr über ihre Religion erzählen oder nur versuchen würde, ihre argen Bedenken zu verkleinern, wäre man vielleicht ein winzig kleines Stückchen dem (Welt) Frieden näher. Vielleicht sollte man sich als Pastor, Priester oder auch als Papst tatsächlich mehr auf die Bevölkerung einlassen und mit ihr das einfache Gespräch suchen. Denn nicht allzu selten glauben die Geistlichen, sie würden über ihren Mitmenschen stehen. Und nicht selten werden sie von ihren Mitmenschen auch als stellvertretende Götter angesehen, was manche Menschen recht stark irritiert und sie vielleicht sehr erschreckt. Ich glaube wirklich, die Päpstin Johanna wäre mit diesen Dingen vollkommen anders umgegangen.‹

Sofort biss ich mir nach dieser Bemerkung erschrocken auf die Lippe. Denn das hätte ich jetzt keinesfalls sagen dürfen.

Mit versteinertem Gesichtsausdruck blickte Papst Johannes Paul II mich an und ließ sich zurück in seinen Sessel sinken.

 

›Sie kennen die Worte Gottes zwar kaum, aber dafür scheinen Sie mit der Geschichte der Johanna sehr vertraut zu sein. Na, dieses Buch ist auch ein so genannter Weltbestseller gewesen. Eine Schande für die katholische Kirche! Und ich kann mir denken, dass Sie die Legende von Päpstin Johanna mehrmals durchgelesen haben, weil Sie von ihr so fasziniert waren, nicht wahr?‹, fragte mich der Papst etwas zu laut.

 

›Ja, Johanna war eine durchaus starke Person, die ich bewundere‹, gab ich mit einem leichten Lächeln zu. ›Ich habe dieses Buch tatsächlich zweimal mit voller Begeisterung und einer dicken Gänsehaut gelesen. Johanna war eine außergewöhnlich starke und kluge Frau, die es wahrhaftig verdient hat, Päpstin geworden zu sein.‹

 

›Moment, junge Frau‹, rief Papst Johannes Paul II mit abwehrender Hand erregt aus, ›es ist noch immer nicht bewiesen, dass es diese Päpstin gegeben hat. Denn wie ich eben schon gesagt habe, sprechen wir hier von einer Legende. Es kann sehr gut möglich sein, dass sich jemand diese unschöne Geschichte nur ausgedacht und niedergeschrieben hat. Denn wir können uns alle nicht vorstellen, dass sich diese Geschichte im achten Jahrhundert nach Christus so zugetragen hat, wie sie in diesem Roman geschrieben steht. Nein, nein, nein, gute Frau, das kann einfach nicht sein.‹

 

›Und wieso greift man dann den Männern, die sich zur Papstwahl stellen, zur absoluten Vorsicht und Sicherheit noch immer zwischen die Beine?‹, fragte ich forsch weiter. Dies hatte ich erst vor kurzer Zeit in einem Fernsehbericht gesehen.

 

›Sie sind bestimmt eine, die sich vorgenommen hat, die Welt zu verändern, nicht wahr?‹, fragte der Papst plötzlich unerwartet und mit wild funkelnden Augen. ›Denn in Abständen von dreißig, vierzig Jahren tauchen hier nämlich immer solche Menschen auf, die versuchen, alles vollkommen auf den Kopf zu stellen. Schon häufiger sind meinen Vorgängern Besuche von solchen Menschen abgestattet worden. Und Sie sind gewiss eine davon, oder? Ach, jetzt erahne ich auch langsam, wer Sie sein könnten und warum Sie ausgerechnet mich aufgesucht haben. Denn von Ihnen und Ihren Leuten las ich neulich etwas in einer Zeitung. Das heißt, nicht von Ihrer Person direkt, sondern von den Dingen, die Sie und Ihre Mitstreiter angeblich vollbracht haben. Und beinahe überall, wo Sie sich eine Zeit lang aufhalten, tritt plötzlich eine kleine, aber deutlich spürbare Veränderung ein. Niemand weiß zwar, woher, aber die Menschen haben schlagartig eine andere Ansicht und Einstellung zum Leben. Auch geht es ihnen urplötzlich etwas besser. Nun, wenn Sie die Menschen so furchtbar schnell in Ihren Bann ziehen und umstimmen können, scheinen Sie ja eine mächtige und faszinierende Wirkung zu haben. Wo in Gottes Namen ist Ihr Zuhause? Noch auf diesem Planeten? Oder schon ganz woanders? Denn wer in kürzester Zeit so viel bewirkt und verändert wie ihr, kann eigentlich gar niemand von uns Menschen sein. Also, wer seid ihr wirklich, junge Frau?‹, schrie der Papst mich nun beinahe an und beugte sich leicht über seinen gigantischen Schreibtisch zu mir herüber.

 

›Ich komme aus Deutschland. Genauer gesagt aus der Nähe von München.‹

 

›Ach, und das soll ich Ihnen jetzt abnehmen, oder wie? Was haben Sie sich auf dieser Welt zur Aufgabe gemacht? Etwa die ganze Welt zum Besseren bekehren? Tja, und obwohl Sie keinen Buckel, keine krumme Nase, keine roten Haare, keine schiefen, schwarzen Zähne im Mund, keine verschiedenfarbigen Augen haben, scheinen Sie eine wahre Hexe zu sein. Sozusagen eine invalide Hexe! Ich habe doch Recht, oder? Zumindest scheinen Sie nicht von unserem Planeten zu kommen.‹, grinste der Papst plötzlich etwas zynisch und konnte sich kaum beherrschen, nicht wutentbrannt aufzuspringen und den Raum zu verlassen.

 

Doch anstatt zu antworten, sah ich leicht verängstigt und Hilfe suchend aus dem großen Fenster und schwieg.

 

›Nun, das habe ich mir doch fast gedacht! Außerirdische haben hier nichts zu suchen. Ihr könnt nun mal nicht helfend eingreifen. Das geht einfach nicht. Denn es ist immerhin Gottes Aufgabe allein, auf der Welt alles zum Besten zu wenden.‹

 

›Tja, der Gott in Menschengestalt.‹, entgegnete ich unvorsichtigerweise ziemlich sarkastisch. "Mir ist die ganze Geschichte um die Entstehung der Erde sowieso suspekt und zum Teil macht sie mich richtig wütend. Jedenfalls die Variante, in der ein menschenähnlicher Gott diese und andere Welten erschaffen haben soll. Denn fast seit Beginn der Menschheit gibt es wegen der Götter nur Krieg, Gewalt und Ausschreitungen. Warum? Eigentlich glauben die meisten Menschen doch eh alle an ein und dasselbe Geschöpf. Nur trägt es in den verschiedenen Religionen einen anderen Namen. Wieso können wir nicht begreifen, dass die Natur unser wahrer Gott ist? Ich sehe ja ein, dass die Religion für den Menschen wichtig ist und ihn zum Teil beruhigt, aber müssen wegen ihr denn ständig grausame Kriege stattfinden und so viele Menschen, Tiere und Pflanzen sterben? Nun, unsere Natur ist der einzige Gott, der hier alles entstehen lassen hat. Aber leider wird diese keineswegs so verehrt, wie der angebliche nette, alte Herr im Himmel, obwohl sie es wahrlich verdient hätte. Und, ja, unser Gott kann beinahe jede Krankhet heilen. Wenn wir uns, die sich unerer wunderschönen Natur so weit entfernten, wieder genau den Kräutern widmeten, würden wir wissen, welches Kraut bei was hilft.“

 

›Tja, gute Frau, die Missverständnisse unter den Menschen mit verschiedener Glaubensrichtung ist nun einmal vollste Realität. Und diese Missverständnisse entstehen, weil jede Religion glaubt, den wahren Schöpfer entdeckt zu haben‹, fiel der Papst mir ins Wort, während er meine Behauptung „die Natur sei der einzige Gott“, vollkommen ignorierte.. ›Und ich möchte auch nicht annehmen, dass Gott verschiedene Namen, Gestalten oder Bezeichnungen hat. Denn es gibt nun einmal nur den Einzigen, der das hier, worauf wir leben, erschaffen hat‹

 

›Na, und wegen dieses einen Geschöpfes müssen unfassbar Viele ihr Leben lassen und aufs Äußerste leiden. Wie kann er, wie können Sie, dies bloß zulassen?‹, flüsterte ich.

 

›Ich glaube, junge Hexe, oder wer Sie auch immer sein mögen, das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht erklären. Ich gebe mir schon jede Mühe, den Menschen den Frieden und die Toleranz nahezulegen. Allein zu Ostern predige ich beides möglichst in allen Sprachen dieser Welt. Denn die Religionskriege sind grausam und überflüssig, das gebe ich zu. Aber wenn andere Prediger von anderen Geschöpfen erzählen, die die Welt entstehen lassen haben, kann ich da leider nichts für. Und ich glaube, wenn die Menschen alle ein ganz klein wenig toleranter wären, würde es sich auch mit mehreren Göttern gleichzeitig in Ruhe und Frieden leben lassen. Jedenfalls mit einem, unserem, wahren Gott, der hin und wieder nur einen anderen Namen trägt.‹

 

›Ja, da haben wir des Rätsels Lösung ja schon! Wir müssen alle ein wenig toleranter sein und uns angewöhnen, den Anderen zu respektieren und ihn vor allen Dingen ernstzunehmen. Wir sollten lernen, eventuelle Missverständnisse, die vorwiegend zwischen den verschiedenen Gläubigen auftreten, mit Ruhe und Verständnis aus dem Weg zu räumen. Denn wir wissen alle, wie es sich anfühlt, wenn man der festen Überzeugung ist, im Recht zu sein und an den einzigen und wahren Gott zu glauben. Und deshalb können wir uns auch gut in den Andersgläubigen hineinversetzen, oder etwa nicht? Warum können wir aus diesem Wissen nichts lernen?“

 

›Ich weiß es nicht“, entgegnete der Papst beinahe schon ein wenig hilflos.

 

„Nun, und bin ich zum Beispiel auch nicht der einzige Schuldige, der den Menschen verbietet, in den ärmeren Teilen der Länder beim Geschlechtsverkehr Kondome benutzen. Denn es kommt immer darauf an, welche kulturelle Ansichten die einzelnen Gesellschaften haben. Somit ist es in einigen Gesellschaften üblich, dass ein Mann fünf oder sechs Ehefrauen gleichzeitig hat, und nur mit seiner so genannten Hauptehefrau immer verhüteten Geschlechtsverkehr hat. Also ich bin für den starken Bevölkerungszuwachs, die Hungernden, Unterentwickelten und die Aidskranken nicht allein verantwortlich‹, verteidigte sich Papst Johannes Paul II noch immer ein wenig hilflos.

 

Und gerade in diesem Moment sah der Papst auf seine Armbanduhr, sprang eiligst von seinem Sessel auf und reichte mir zum Abschied die Hand.

 

›Ich muss mich jetzt leider von Ihnen verabschieden. Denn wir sitzen hier schon eine gute Stunde und ich habe weiß Gott noch andere Termine wahrzunehmen. Ich weiß sowieso gar nicht, wie es kommt, dass ich heute nicht so viele Termine in meinem Kalender stehen hatte und mich mit Ihnen treffen konnte. Tja, diese kleine Pause grenzt tatsächlich schon an ein bisschen Zauberei. Machen Sie es gut. Nun, und ich rate Ihnen, dass Sie die Menschen zu mehr Umweltbewusstsein anhalten. Denn damit könnte man wirklich schon eine ganze Menge erreichen, oder meinen Sie nicht?‹

 

Unweigerlich musste ich dem Papst Recht geben. Die Umweltverschmutzung war zweifelsohne der zweitgrößte Faktor, warum es den meisten Menschen so schlecht ging. Aber es war in dieser Sache ebenfalls gar nicht so einfach, die Menschen zum Nachdenken und vernünftigen Handeln zu bringen. Allerdings hatte auch Finn diese Aufgabe zu erledigen! Und plötzlich musste ich einsehen, dass es selbst für den Papst gar nicht einfach war, hier einige Dinge im Handumdrehen zum Besseren zu wenden. Die klar denkenden Lebewesen hatten viel zu sehr ihren eigenen Kopf und ihre eigenen Gedanken und Vorstellungen. Nein, der Papst und die anderen hohen Herren hatten wahrlich keinen leichten Stand. Auch wenn man es immer meinte.

Fast schon an der Tür angelangt, drehte sich der Papst plötzlich noch einmal um und sagte beinahe flüsternd: ›Ja, Päpstin Johanna war wirklich eine einmalige und bewundernswerte Person! Falls es sie denn gab. Das muss ich ehrlich zugeben. Auch wenn ich dieses nicht sagen darf!‹

 

Mit diesen Worten verschwand der wohl mit mächtigste Mann dieser Welt hinter der schweren Holztür seines Empfangszimmers. Einige Zeit blieb ich noch reglos sitzen und starrte erschöpft vor mich hin, bevor ich Janica mit einem Knopfdruck auf meinem Handy herbeiklingelte. Wieso war der Papst trotz allem plötzlich so freundlich zu mir gewesen? Denn normalerweise hätten wir uns doch heftig streiten müssen.

Lange lag ich in dieser Nacht wach. Die Unterhaltung ließ mich einfach nicht zur Ruhe kommen, während Janica seelenruhig neben mir in unserem gemeinsamen Bett schlief vor sich hinschmatzte.

Auch als wir am nächsten Tag mit unserer Gastgeberin zum Abschied durch Rom bummelten, konnte ich nicht abschalten und mich an der Stadt erfreuen. Und obwohl ich wieder fest glaubte, auch diesmal nichts Großartiges erreicht zu haben, so musste ich nach meinem Besuch beim Papst doch feststellen, dass sich in einzelnen Gesellschaftsgruppen tatsächlich etwas getan hatte. Denn urplötzlich fuhren Menschen in die Armenviertel und versuchten, den Bewohnern dort den Gebrauch von Kondomen nahezubringen. Zuerst war es allerdings nur den Menschen erlaubt, die sich mit Aids infiziert hatten. Aber für den Anfang war es schon ein großer Schritt nach vorn. Jedoch wusste ich an meinem letzten Tag im Vatikan noch nichts von meinem winzigen Erfolg und war demnach sehr still und nachdenklich.

 

›Junge Frau, warum sind Sie heute denn so in sich gekehrt‹, fragte mich die Nonne, in deren Wohnung Janica und ich während der vergangen drei Wochen untergekommen waren, besorgt im gebrochenen Deutsch. ›So kenne ich Sie ja gar nicht. Was ist denn passiert?‹

 

Obwohl unsere Gastgeberin schon an die achtzig Jahre alt war, war sie geistig noch rege und spürte sofort, wenn irgendetwas anders war als sonst.

 

›Nein, es ist eigentlich nichts. Nur finde ich es ein wenig schade, dass unsere Zeit hier morgen schon zu Ende ist‹, erklärte ich schnell und blinzelte.

 

›Tja, dann müssen Sie wohl Ihre Reise doch noch ein bisschen verlängern und sich von mir und meinen Kochkünsten verwöhnen lassen. Denn ich habe Ihnen noch lange nicht alles gezeigt, was ich kochen kann. Außerdem sehen Sie schon viel entspannter aus als am Anfang Ihres Aufenthaltes in Rom. Scheint Ihnen doch ganz gut zu tun, die Vatikanluft hier, nicht wahr, mein Mädchen?‹, lachte die alte Dame mich fröhlich an und tätschelte meine kalte Wange. ›Oder tut Ihnen das Bemuttert-Werden so gut? Haben Sie überhaupt noch eine Mutter? Aber bestimmt, oder?‹

 

›Ja, genau genommen zwei.‹, antwortete ich prompt und wieder mal vollkommen unüberlegt. Doch schon im nächsten Augenblick zog ich erschrocken meinen Kopf in meine dicke Winterjacke zurück und wünschte wieder einmal, unsichtbar werden zu können.

 

›Ah, Ihr Vater hat wohl zum zweiten Mal geheiratet und mit seiner zweiten Frau kommen Sie wahrscheinlich so gut klar, dass Sie das Gefühl haben, sie wäre auch Ihre Mutter. Oder wie darf ich das verstehen?‹, fragte die Nonne etwas verblüfft.

 

›Ja, ja, so kann man es sagen‹, kam Janica mir eiligst zur Hilfe, wofür ich ihr unendlich dankbar war.

 

Unwillkürlich zuckte ich in der nächsten Sekunde zusammen, da ich deutlich einen Schlag von Großmutter in meinem Nacken zu spüren glaubte.

 

›Wie schön für Sie!‹, freute sich die alte Nonne für mich. ›So, und nun gehen wir noch ein schönes, leckeres Eis essen, hm?‹

 

Und im nächsten Moment wurden Janica und ich auch schon in ein Eiscafé

gezogen.

 

›Sagen Sie mal, meine jungen Damen, wo kommen eigentlich diese leckeren Kekse her, die heute Morgen auf meinem Nachtschrank standen?‹, fragte die Nonne, als sie mir gerade einen Löffel mit Schokoeis in den Mund schob.

 

›Ja, das ist ein kleines Dankeschön dafür, dass Sie uns geschlagene drei Wochen lang so lieb bewirtet und umsorgt haben‹, antwortete Janica kurz.

 

›Nun, das habe ich mir schon fast gedacht. Nein, ich meine, woher kommen diese Kekse so plötzlich? Denn gestern Abend, als ich ins Bett gegangen bin, standen sie noch nicht dort. Und da ich einen leichten Schlaf habe, können Sie die Kekse heute Nacht unmöglich gebacken und auf meinen Nachttisch gestellt haben. Denn dieses hätte ich mit Sicherheit gehört. Aber sie waren ganz frisch, haben herrlich geduftet und waren auch noch ein kleines bisschen warm gewesen. Haben Sie die Kekse etwa hergezaubert?‹

 

Zum Glück fiel der alten Nonne just in diesem Moment die absurde Geschichte von den angeblichen Hexen und Zauberern ein, die sie von den anderen Bewohnern des Vatikans immer wieder zu hören bekam. Diese Zauberwesen meinten doch tatsächlich, sie wären nur deshalb hier auf diesem Planeten, um ihn zu wärmer und gefühlvoller werden zu lassen. Und diese Gestalten seien auch so von ihrem Vorhaben überzeugt, dass sie ernsthaft versuchten, die ganzen Menschen einesBesseren zu belehren.

 

›Ist das nicht eine total verrückte Geschichte?‹, fragte sie kichernd und verschüttete beinahe ihren heißen Kaffee über Janicas Beine.

›Also, sagen Sie schon. In welcher Bäckerei Sie diese Kekse gekauft haben. Denn dann gehe ich morgen gleich dort hin und hole noch einmal Nachschub.‹

 

Nur gut, dass in diesem Moment Janicas Handy klingelte und uns somit eine Notlüge erspart blieb. Doch während ich dem Telefongespräch meiner Freundin unabsichtlich lauschte, wurde mir klar, dass ich mir heute lieber wieder eine Notlügen ausgedacht hätte. Zuallererst bemerkte ich, wie Janica verlegen wurde, sich gleichzeitig aber auch riesig freute. Leicht stotternd vor Freude begrüßte sie ihren großen Bruder, mit dem sie aufgrund ihres Streits schon längere Zeit nicht mehr richtig gesprochen hatte.

 

»Nein, nein, ich hab' ihr noch nichts erzählt. Das überlasse ich doch dir. Du hast ihr noch gar nicht den Antrag gemacht, oder? Auch wusste ich bis vor fünf Sekunden noch gar nicht, ob diese Sache überhaupt stimmt. Denn du hast schon seit Längerem nicht mehr mit mir gesprochen. Ich habe diese Geschichte nur von Freunden gehört. Aber das wird jetzt auch wirklich mal Zeit. Denn ihr seid schon fast euer ganzes Leben zusammen. Außerdem musst du jetzt endlich mal erwachsen werden. Wo wir im Augenblick sind? Wir sitzen gerade in einer Eisdiele und feiern mit der Nonne, die uns die letzten drei Wochen so herzlich bei sich aufgenommen und bewirtet hat, ein bisschen Abschied. Warum warst du eigentlich in diesen drei Wochen kein einziges Mal bei Zerlina? Denn sonst kommst du doch wenigstens für fünf bis sieben Tage bei ihr vorbei. Ja, das kann ich verstehen, dass du nicht vorbeikommen konntest, wenn du selbst soviel zu tun hast. Und sicherlich hat Zerlina davon gewusst, oder? Hast du wenigstens jetzt etwas bewerkstelligen können? Aber mit deiner ruhigen, umsichtigen Art bestimmt, nicht wahr? Dennoch musst du dich endlich mal mit deiner wahren Identität abfinden. Hallo? Hallo?!‹, rief Janica in ihr Handy, klappte es schließlich verärgert zusammen und ließ es wieder in ihrer Handtasche verschwinden. ›Einfach aufgelegt! Mann, Mann, Mann, der Junge macht es sich auch unnötig schwer. Er ist sonst sooo ein guter, verständnisvoller und kluger Mensch, der schon so Manches erreicht hat. Aber vor seiner Identität läuft er davon wie ein Feigling. Keiner von uns kann sein sonderbares Benehmen verstehen. Er benimmt sich geradezu wie ein kleiner, pubertierender Junge.

 

„Vielleicht ist es ihm alles ein bisschen zu viel, was ich auch durchaus verstehen könnte!‹, kam es mir unerwartet über die Lippen. ›Denn der Mann muss in seinem Leben so viel meistern. Und dann hat er die ganze Zeit auch noch mich an den Hacken. Kein Wunder, wenn er irgendwann das Handtuch wirft und nur noch seine Ruhe haben möchte.‹

›Sag' mal, Zerlina, was redest du denn da? Es ist ja verständlich, dass du Finn in Schutz nehmen und ihn verteidigen möchtest. Aber es hört sich so an, als ob du meinst, kein vollwertiges Lebenswesen zu sein und nur im Weg zu stehen. Was haben deine vier Schwestern und deine Mutter auf dieser Erde nur aus dir gemacht? Ja, ich gebe zu, dass es vielleicht nicht so ganz einfach mit einem invaliden Partner ist. Doch liegt das nicht vielmehr an der Gesellschaft? Die Hindernisse, von denen wir alle so fest meinen, sie seien unüberwindbar, könnte man ohne Schwierigkeiten wegschaffen. Wenn wir es denn tatsächlich wollten. Das weißt du genauso gut wie ich! Aber die Menschen machen es sich viel zu schwer. Sie stecken schon bei den leichtesten Schwierigkeiten und Problemen den Kopf in den Sand. Warum auch immer!“, seufzte Janica und kratzte den Rest Eis aus ihrer Glasschale.

 

„Hm, habe ich es aus Ihrem Gespräch gerade richtig herausgehört, dass irgendjemand aus Ihrem Bekanntenkreis bald heiraten wird, Fräulein Janica?“, erkundigte sich die Nonne plötzlich, den anderen Teil unserer Unterhaltung ignorierend.

 

Vorsichtig und mit einem prüfenden Blick auf mich nickte meine Schwägerin in Spe. Obwohl ich es schon länger im Gefühl hatte, dass Finn mich bald fragen würde, ob ich seine Frau werden wolle, konnte ich mich beim Wort Antrag an diesem Tag nicht freuen. Zwar hatte ich meine Lebensaufgabe noch nicht perfekt erledigt, aber irgendetwas sagte mir, dass ich mit meinem Bauchgefühl richtig lag. Denn Janica konnte eben während ihres Telefonats mit Finn ja nur den Heiratsantrag gemeint haben. Plötzlich begann sich das Eiscafé vor meinen Augen zu drehen.

 

›Zerlina, was ist auf einmal los mit dir? Warum bist du denn so weiß im Gesicht? Geht's dir nicht gut?‹, erkundigte sich Janica plötzlich besorgt bei mir und legte ihre kühle Hand fürsorglich in meinen Nacken.

 

›Doch, doch. Ich bekomme in den nächsten Tagen nur meine Periode, wobei ich dann immer so bleich werde‹, stotterte ich etwas hilflos und starrte mit brennenden Augen auf meinen leeren Eisbecher. Ich darf mir jetzt auf gar keinen Fall etwas anmerken lassen, ermahnte ich mich in Gedanken, als ich plötzlich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete.

 

›Ja, das kenne ich auch noch aus früheren Zeiten, in denen ich meine Periode hatte. Ich hatte ebenfalls so stark zu leiden wie Fräulein Zerlina jetzt.‹, erklärte die Nonne mitfühlend. ›Ich glaube, es ist besser, wenn wir zurück in meine Wohnung gehen und Fräulein Zerlina sich hinlegt und ausruht. Ich koche gleich einen Tee gegen Krämpfe, ja?‹

 

Stumm nickte ich und hoffte, meine Gefühle endlich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Warum unsere geplante Hochzeit mich so durcheinander brachte, wusste ich nicht. Denn in den vergangenen Monaten hatte ich mich Finn wieder richtig nahe gefühlt. Somit hätte ich nur reine Freude darüber empfinden müssen, Finn, den Menschen, der mir am vertrautesten war, nun endlich heiraten zu dürfen. Dennoch verspürte ich bei diesem Gedanken kein rechtes Glücksgefühl.

 

›Ja, ich weiß, dass ich dich das schon einmal gefragt habe, aber damals habe ich es nicht deuten können, ob es in deinem Leben einen anderen Mann gibt, der dein Herz berührt?‹, fragte Janica mich ohne größere Vorwarnung, als sie eine knappe halbe Stunde später auf meiner Bettkante hockte und mir den krampflösenden Tee einflößte.

 

Doch statt Janica eine klare Antwort zu geben, schüttelte ich nur mit dem Kopf, drehte mich auf meinem Bett liegend auf die Seite und schloss fest meine Augen. Zu groß war die Angst, Janica könne in meinen Augen lesen, dass ich ihr etwas verschwieg.

 

›Warum dürfen Finn und ich eigentlich jetzt schon heiraten? Wir haben mit unserer Lebensaufgabe doch eben erst begonnen‹, warf ich plötzlich fragend in den Raum hinein.

 

›Ja, das stimmt, Zerlina. Aber da deine und Finns, also unsere Eltern, meinen, dass ihr die Menschen tatkräftig unterstützt, möchten sie die Hochzeit vorziehen und euch damit belohnen. Zudem hoffen unsere Eltern, dass du ihn besser und schneller davon überzeugen kannst, ein wirklicher Zauberer und ein wichtiger Mensch für uns zu sein, wenn ihr tagtäglich zusammen seid.‹

 

Verständig nickte ich und sagte nach wenigen Augenblicken: ›Verstehe.‹

 

„Möchtest du mir nicht sagen, was dich bedrückt?‹, antwortete Janica.

 

Wieder schüttelte ich stumm mit dem Kopf.

 

›Hm, es ist nur zu dumm, liebe Schwägerin, dass deine Augen die anderen Menschen nicht nur beruhigen können, sondern dass sie auch klar und deutlich anzeigen, wenn es dir nicht sonderlich gut geht. Selbst, wenn du dieses nicht möchtest und sie „verschließt“.‹

 

Als keine Antwort von mir kam, stand Janica auf und verließ leise das Zimmer.

 

 

XVII

 

Als wir einen Tag später nach München zurückflogen, war ich immer noch ziemlich durcheinander. Ich wusste nicht, ob ich mich freute, nach Hause zu kommen. Wie gerne wäre ich zusammen mit Kira, meiner besten Freundin, an einen ruhigen Ort geflogen, um meine Gedanken zu ordnen. Aber da mir dieses nicht möglich war, flog ich mit Janica einfach nach München zurück.

Während den kommenden Tagen wanderten meine Gedanken häufig zu dir. Dabei hatte ich keine Ahnung, warum das passierte. Aber aus irgendeinem Grunde kamen mir wieder die unzähligen Auseinandersetzungen in den Sinn, die ich mit dir hatte und die allesamt recht amüsant waren. Jedenfalls stritten wir uns nie richtig. Ach, ich bin doch wirklich ein wahrer Glückspilz, versuchte ich mir immer wieder einzureden. Und dies war ich in der Tat! Denn ich hatte ein wahrlich schönes Leben; ich sollte demnächst den Mann meines Herzens heiraten, mit ihm einmal ein Land regieren und würde dann auf immer und ewig bei meiner leiblichen Familie sein können. Vorausgesetzt natürlich, ich konnte Finn von seiner wahren Identität überzeugen! Aber eine andere Stimme in mir sagte, dass ich dies alles gar nicht wollte. Ich versuchte zwar, mich einige Zeit gegen diese Gewissheit zu wehren, aber bald schon erkannte ich, dass es sinnlos war.

 

›Was ist auf einmal nur los mit mir?‹, fragte ich Momo verzweifelt, während sie des Nachts in meinen Armen lag und mir mitfühlend das Gesicht leckte.

Ohne ein Wort zu erwidern, sprang Momo vom Bett, um nach ihrer kleinen Kimmy zu sehen, die mit ungewöhnlichem Lärm mit einem Ball spielte.

 

›Zu etwas Anderem war ich in diesem Moment einfach nicht in der Lage‹, meldete sich meine kleine Katzendame jetzt wieder zu Wort und blickte mir direkt in die Augen, ›denn ich wusste, wie es in dir aussieht. Aber wenn ich dir geraten hätte, deinem Herzen zu folgen, hätte deine leibliche Familie mich gelyncht und an den Hinterbeinen an einem Baum aufgehängt. Und ich glaubte, dass man mit dir das Gleiche tut.

 

›Ach Quatsch, Momo, dir hätte gewiss niemand auch nur ein Haar gekrümmt. Du gehörst ja zur Familie. Außerdem hast du deine Lebensaufgabe bis hierhin mehr als perfekt erledigt. Denn du warst ständig an meiner Seite und hast auf mich aufgepasst, wo du immer nur konntest. Und wie du sehen kannst, haben meine Eltern auch mir kein einziges Haar gekrümmt“‹

 

›Ja, das stimmt.‹, murmelte das grau-weiße Fellknäuel in meinem Arm und bat mich, weiterzuerzählen.

 

Vier Tage, nachdem ich aus Rom zurückgekehrt war, machte Finn mir seinen Heiratsantrag. Zwar stimmte ich diesem Heiratsantrag freudig lächelnd, aber auch ein wenig stumm zu, führte ich meine Geschichte nach einigen Augenblicken des Schweigens ruhig fort. Meiner Erinnerung nachhängend küsste ich Momo auf die Nase und streichelte mit der rechten Hand den tätowierten Unterarm meines Mannes.

Finn hatte sich wirklich große Mühe gegeben. Er war für seinen Antrag extra aus Frankfurt gekommen. Und an diesem Abend gingen wir beide in einem schicken veganen Restaurant mitten in München essen. Und weil ich keine Rosen mag und auch keinen teuren Ring akzeptiert hätte, fragte er mich am Ende des Abends mit einer wunderschönen rot blühenden Topfpflanze in der Hand, ob ich ihn heiraten wolle.

 

„Wie gut, dass Finn nicht auf die Idee gekommen ist, dir einen teureren Verlobungsring zu kaufen. Denn dieser Ring hätte ja nicht allzu lange an deinem Finger gesteckt.“, schmunzelte Jonas ebenso gedankenverloren vor sich hin.

 

Nun, und erst nach einigen Wochen, nachdem Finn um meine Hand angehalten hatte, erfuhr ich, dass seine Eltern ihn im Traum heimgesucht und ihn gebeten hatten, mich in nächster Zeit zur Ehefrau zu nehmen.“, erzählte ich weiter. „Sie dachten tatsächlich, ich könne ihn besser davon überzeugen, kein Mensch vom bläulich schimmernden Planeten und ein Lebensretter zu sein, wenn ich seine angetraute Ehefrau war. Janica hatte es in Rom ja schon vermutend angedeutet. Erstaunlicherweise folgte Finn der Bitte seiner Eltern, ohne groß darüber nachzudenken. Seltsamerweise fragte er sich nicht, ob es sich wirklich um seine leiblichen Eltern handelte, die ihm im Traum erschienen waren. Allerdings hatte er ohnehin vor, mir während dieser Zeit einen Heiratsantrag zu machen.

Schweigend hörte ich hin, als Finn mir eine Woche nach seinem Antrag erzählte, er habe beim Standesamt einen Termin zwei Wochen vor meinem sechsunddreißigsten Geburtstag bekommen. Also in knappen sieben Wochen.

Auch wenn ich diesem Tag, an dem meine Hochzeit stattfinden sollte, mit sehr gemischten Gefühlen entgegen sah, so war es dennoch ein ziemlich sicheres Zeichen für mich, dass meine Schwiegereltern zufrieden mit mir waren und mich in ihrer Familie haben wollten. Und diese Gewissheit machte mich glücklich und zufrieden!

Tja, und dann wurde der mächtigste Anschlag auf Finn und mich verübt. Denn da Finn nach München ziehen wollte, sahen wir uns im Frühling dieses Jahres häufiger Wohnungen an. Unsere vierte Wohnungsbesichtigung war an einem verregneten Abend Anfang April. Es war schon früh dunkel geworden und die Straßen waren geradezu menschenleer. Nur einige Autos fuhren an uns vorbei und bespritzten uns manchmal mit etwas Regenwasser aus den Pfützen. Wir hatten uns in einer etwas abgelegenen Seitenstraße eine ausgesprochen schöne und geräumige Wohnung angeschaut. Sie lag in der achten Etage. Man hatte von dieser Wohnung also einen einen unheimlich schönen Ausblick. Nur leider befand sich das Mietshaus in unmittelbarer Nähe des Münchener Flughafens. Aus diesem Grunde hatten wir uns gegen sie entschieden. Wir befanden uns gerade auf dem Rückweg zum nahegelegenen Linienbus und etwa fünfzig Meter von dieser Wohnung entfernt, als ich die vier Riesen auf uns zu spazieren sah. Finn war gerade dabei, trotz des strömenden Regens und der Dunkelheit das Haus von außen zu fotografieren und bemerkte die Riesen nicht sofort. Erst als er von der Rasenfläche vor dem Haus aus zu mir auf den Gehsteig zurückkehrte und mich eiligst weiterschieben wollte, sah er mich wie versteinert in meinem Rollstuhl sitzen und folgte meinem starren Blick.

 

„Was, um Himmelswillen, sind das denn für ulkige Gestalten? So etwas Abgefahrenes habe ich ja noch nie gesehen. Sie sind ja megagroß. Warum? Laufen die etwa auf Stelzen? Aber dann würden ihre Beine eher spargeldürr wirken. Zerlina, nun sag' doch schon, was das für ultrakomische Gestalten sind.“, bat Finn mich heftig lachend und krümmte sich leicht zusammen.

 

„Das sind die Bewohner des gelben Planeten. Und sie wollen mich auf Verdeih und Verderb aus dem Wege räumen, da sie meine Ruhe als mächtig störend beziehungsweise bedrohend empfinden. Sie denken, durch meine ruhige Art, durch mein intensives Zuhören und meine Beobachtungsgabe könne ich es schaffen, die Menschen aneinander näherrücken zu lassen. Denn weil sie das Weltall ganz alleine beherrschen wollen, möchten sie, dass es auf den belebten Planeten weiterhin verheerende Kriege gibt. Nur so können sie darauf hoffen, dass sich die Lebewesen irgendwann gegenseitig auslöschen.“, erklärte ich kurz und heftig nach Luftschnappend. Auf einmal fror ich so dermaßen stark, dass mein kompletter Rollstuhl mit mir zitterte.

 

Für Bruchteile für Sekunden stand mein Freund regungslos und mit offenem Mund neben mir. Nervös krallte er sich mit seiner rechten Hand an einem meiner Rollstuhlgriffe fest. Dann flüsterte er: „Diese seltsamen Riesen sind also Realität? Als kleiner Junge habe ich manches Mal von ihnen geträumt. Und nachdem mein verstorbener Großvater mich besucht hat, und ich mehr oder weniger ganz aus eigener Überzeugung meine Familie, Freunde und Bekannte dazu anhielt, umweltbewusster zu leben, tauchten diese riesigen Kreaturen wieder häufiger in meinen Träumen auf und bedrohten mich. Ich habe dir nie etwas davon erzählt, weil ich etwas Bedenken hatte, du würdest mich auslachen.“

 

›Ha! Dann kannst du dich jetzt in die Lage der Menschen hineinversetzen, die im Krieg sind, verfolgt werden und jederzeit mit ihrem Lebensende rechnen müssen?!‹, entfuhr es mir trotz meiner grenzenlosen Angst wütend. ›Denn so, wie es uns beiden in diesem Augenblick ergeht, könnte es bald den ganzen Lebewesen des Universums gehen, wenn wir nichts dagegen unternehmen.‹

 

›Mein Schatz, diese krassen Geschöpfe kommen bestimmt nicht von einer anderen Welt.", klang Finn nun wieder recht gefasst. "Sicherlich sind sie irgendwelche Komiker und begnadete Schauspieler, die sich für ganz besonders lustig halten. Denn Außerirdische kommen nicht auf unsere Welt! Auch haben sie ganz gewiss nicht vor, uns und all die Anderen aus dem Wege zu räumen, damit sie das weite, weite Weltall alleine beherrschen können.“

 

Finn hatte seinen Satz kaum zu Ende gesprochen, als auch schon ein großes Teil auf uns zuflog. Im letzten Moment konnte ich mich mitsamt meinem Rollstuhl aus der Schusslinie beamen. Auch mein langjähriger Weggefährte konnte sich rechtzeitig in Sicherheit bringen. Aber als die Riesen mit den sechseckigen Augen und der schleimigen, dunkelgrünen Haut bemerkten, dass es uns wieder einmal gelungen war, uns in Sicherheit zu bringen, stieg ihr Zorn ins Unermessliche. Mit weißem Schaum vor den Mündern schossen sie auf uns zu.

 

›Kannst du nicht die anderen Hexen herbeirufen? Denn wenn wir tatsächlich die richtigen Zauberwesen sind, sollte dieses doch ohne Weiteres möglich sein, oder?!‹, rief mein zukünftiger Ehemann und sah mich flehend, aber gleichzeitig auch ein wenig verschmitzt lächelnd  an.‹

 

Jedoch wollte es mir aus irgendeinem Grund mir an diesem Tage nicht gelingen, die anderen Hexen und Zauberer gedanklich herbeizurufen. Sosehr ich mich auch bemühte. Damals im Sudan war es mir im Handumdrehen gelungen. Oder war es mir etwa nur gelungen, weil Emma an meiner Seite war? Als ich bemerkte, dass die Anderen nicht kamen, erfasste mich Panik. Ich fing noch mehr zu zittern an. Und nachdem ich meinen Kopf gehoben hatte, um Finn und mich eventuell zu verteidigen, sah ich unmittelbar vor mir einen Riesen stehen. Doch nicht nur vor mir, sondern auch neben und hinter mir standen die drei anderen Riesen und drohten, uns mit ihren Fäusten, Steinen und anderen Dingen zu erschlagen, die sie herbei zauberten. Und nur durch das perfekte Ausführen der Gedankenzauberei und kurzweiliges Stoppen der umherfliegenden Dinge, die uns bei einem gezielten Treffer schwer verletzt hätten, schaffte ich es, Finn und mich vor den schwerverletzenden Gegenständen in Sicherheit zu bringen. Außerdem gelang es mir wie durch ein Wunder, mein Augenlicht zu retten. Denn diesmal wollten diese Kerle zuallererst meine Augen zerstören. Immer wieder zielten sie mit spitzen und scharfen Gegenständen auf meine Augen. Und da es für mich die schlimmste Vorstellung war, zu erblinden, geriet ich noch mehr in Panik und hielt meine Augenlider so oft es ging geschlossen und drehte meinen Kopf wie wild hin und her, damit mir keine spitzen Gegenstände durch die Augenlider stachen. Allerdings wurde mir nach einigen Sekunden vom wilden Hin- und Hergedrehe meines Kopfes so schwindelig, dass mir die Sinne zu schwinden drohten und ich meinen Kopf eine Zeit lang stillhalten musste. Auch musste ich meine Augen öffnen, um wieder etwas sehen und mich zu Wehr setzen zu können. Ich war so damit beschäftigt, die Angriffe abzuwehren, dass es mir gar nicht einfiel, selbst Dinge zu unserem eigenen Schutz herbeizuzaubern.

Finn hockte neben meinem Rollstuhl und sah teils amüsiert, teils staunend, teils ängstlich dieser Szenerie zu. Sicherlich hält er dieses hier bloß für einen Traum., schoss es mir durch den Kopf, als ich bemerkte, dass er nichts tat, um uns zu schützen und zu retten. Traurigerweise hatten wir dieses Thema so gut es ging gemieden und somit wusste ich nicht, wie er sich im Traum gegen diese Geschöpfe verteidigt hatte. Langsam spürte ich, wie Wut in mir hochkroch. War nicht ich hier das schwache Geschlecht, das beschützt werden musste? Sollte ich mich wirklich so getäuscht haben, dass Finn mich nicht in allen Lebenslagen beschützte und mir zu Hilfe eilte? Und dabei sehnte ich mich in diesem Augenblick so sehr danach. Ich spürte, wie gerne ich Finn hier und jetzt zur Rede gestellt und lauthals angeschrien hätte. Doch leider war in diesem Moment keine Zeit dafür. Denn noch immer tobten die Riesen vor Wut.

Und mit einem Male konnte ich beinahe klare, deutliche Worte aus dem einen der fürchterlich stinkenden Münder verstehen. Sie sprachen! Gebannt und fast ein bisschen erfreut hörte ich dem mutmaßlichen Anführer der Truppe zu.

 

›Du bist nicht gut für das Weltall. Wir wollen die einzige belebte Welt sein. Du und dein Freund müsst aus diesem Grunde auf ewig verschwinden. Es würde allerdings schon ausreichen, wenn deine Augen erblinden. Denn ein Gesicht mit blinden, trüben Augen verliert gleich ein wenig an Ausdruck. Und während du dich daran gewöhnst, nicht mehr sehen zu können und von deinem zukünftigen Ehemann umsorgt wirst, kannst du dich, könnt ihr euch, nicht mehr recht auf deine, eure, Aufgabe konzentrieren. Jedenfalls fürs Erste nicht!‹

 

›Na, du redest schon wieder völligen Humbug, denn es sind ja nicht nur ihre Augen, mit denen ihr alles gelingt, sondern ihre ganze Art. Entweder wir töten sie oder nehmen sie mit auf unseren kleinen Planeten. Alle beide.‹, meldete sich jetzt eine andere Stimme zu Wort.

 

›Was, kidnappen? Das ist jetzt völliger Blödsinn! Dann kannst du vielleicht erahnen, was danach passiert, oder? Diese dämliche Idee hattest du schon im Sudan. Damals hat unser Kamerad dir erzählt, was daraufhin geschieht. Die größten und stärksten Hexen und Zauberer würden zu uns kommen und unseren kleinen, gemütlichen Planeten kommen. Nee, eben weil wir noch niemanden von ihnen gefangen genommen haben, halten sich die Hexen und Zauberer von unserer Erde fern.‹

 

›Ja, du bist witzig! Wie bitte schön hätten wir bislang auch an sie herankommen sollen, wenn sie ständig von irgendwelchen seltsamen, kleinen, vierbeinigen und gänzlich behaarten Kreaturen bewacht und beschützt wird, die anscheinend zu ihren Leuten gehören, he? Ich habe immer noch einen furchtbar tiefen Kratzer unter dem linken Auge, den mir dieses kleine, pelzige Vieh erst vor kurzem mit seinen scharfen Krallen beigebracht hat. Na ja, und ihr leiblicher Vater hat sie, als sie noch ganz klein war und im Hause ihrer Pflegefamilie wohnte, während des Falls immer wieder aufgefangen und wohlbehalten ins Haus zurückgebracht. Wir konnten sie immer nur während ihren Reisen abfangen und darauf hoffen, ihr etwas zu leide tun zu können.‹

 

Trotz meiner noch immer großen Angst konnte ich mir nur mit größter Mühe bei der Vorstellung das Lachen verkneifen, wie meine kleine, süße Momo wie eine Furie auf den Riesen losgegangen war und ihm einen recht tiefen Kratzer am Auge beigebracht hatte, als dieser höchstwahrscheinlich vor noch nicht allzu langer Zeit versuchte, mich nachts im Schlaf anzugreifen.

 

›Ich sag' ja, du bist ein gottverdammtes Weichei und ein Jammerlappen‹, konterte der Anführer zugleich prompt, als sein Kumpane ihm mit einem recht weinerlichen Gesichtsausdruck den Kratzer zeigte.

 

›Ach komm‹, du hast es doch auch nicht besser hinbekommen, denn sonst müssten wir uns jetzt nicht mehr mit ihr beschäftigen!‹, spottete der Andere.

 

›Hm, wollen wir hier jetzt eigentlich einen kleinen Plausch halten oder unsere Aufgabe erledigen?‹, kam es ungeduldig vom dritten Riesen.

 

Wow, das war doch gar nicht mal so schlecht, dachte ich. Man kann euch tatsächlich verstehen. Doch ehe ich ein wenig Luft holen konnte, sah ich wie mein Gegenüber seine riesige Faust ballte, um sie auf mich hinabsausen zu lassen. Oh nein, dachte ich und rollte mich gerade noch rechtzeitig zur Seite. Und dann erinnerte ich mich an mein Zusammentreffen mit den Riesen im Sudan. Ich erinnerte mich, wie die Riesen auch in China ganz plötzlich zur Ruhe gekommen waren. Lag es wirklich an der Ruhe, die ich ausstrahlte? Oder lag es an meinem Verständnis und Mitgefühl, das ich diesem Geschöpfen ganz offen gezeigt hatte? Hatte ich mit meiner Theorie etwa doch Recht, dass man mit diesen Dingen beinahe jedes Lebewesen erreichte? Vielleicht gelang es mir noch einmal, mit unseren Gegnern gedanklich einen kleinen Plausch zu halten. Denn zum deutlichen Sprechen war ich in diesem Moment nicht imstande. Einen Versuch ist es allemal wert, durchzuckte mich der Gedanke. Und so versuchte ich, dem aufgebrachten Riesen, der gerade vor mir stand, direkt in die Augen zu blicken. Allerdings war dies nicht gerade einfach. Denn noch immer musste ich hin und wieder irgendeinem spitzen Gegenstand ausweichen oder meinen Kopf heftig drehen und meine Augen schließen. Außerdem war die immer fortschreitende Dunkelheit nicht zum größten Vorteil. Aber der nahe gelegene Flughafen mit seinen „tausenden“ Lichtern, die nicht gerade wenigen Straßenlaternen und die erleuchteten Fenster der umherliegenden Wohnungen und Häuser spendeten genügend Helligkeit, um das einigermaßen gute und klare Sehen zu ermöglichen.

Finn hockte immer noch wie versteinert im feuchten Gras und vermochte sich nicht zu bewegen. Nach einigen Augenblicken, die einer Ewigkeit glichen, gelang es mir, den Riesen direkt in die Augen zu blicken. Und gleichzeitig spürte ich, wie auch ich ruhig und gelassen wurde. Furcht und Hektik schienen von mir abzufallen. Ich blickte meinem Gegner an und sprach gedanklich beruhigend auf ihn ein. Dann stellte ich dem Riesen und seinen Freunden des gelben Planeten Fragen:

 

›Okay Jungs, ich kann eure Wut und Enttäuschung größtenteils verstehen. Ihr fühlt euch von den anderen Lebewesen des Weltalls nicht ernst genommen, nichtrespektiert genug und ausgegrenzt. Aber gibt es denn nicht schon genug Hass, Gewalt und Unruhe auf den einzelnen Welten? Ja gut, ich meine, ich war zwar bis jetzt auf keinem anderen Planeten gewesen. Aber aus den Erzählungen meiner Großmutter und den Anderen konnte ich heraushören, dass es auf Jedem etwas größere Auseinandersetzungen gibt. Sollten wir uns nicht eher darum bemühen, dass wzumindest von uns Außerirdischen ein wenig Ruhe und Zufriedenheit auf die Planetenbewohner übertragen wird?", erkundigte ich mich gedanklich."Was bringt es euch denn, wenn ihr das Weltall allein beherrscht? Es gibt so viel Unruhe und Missverständnisse, die zu Trauer, Verzweiflung, Machtlosigkeit und dann zu Kriegen führen. Überall wird sich vor dem Anderen, dem Größeren, gefürchtet. Es gibt nur Angst und die große Ungewissheit. Ist es da nicht viel sinnvoller, mit den anderen Planetenbewohnern zusammenzuarbeiten, eine Art Gemeinschaft zu bilden und ein wenig Klarheit im Weltall zu schaffen? Angst, Ungewissheit,Gewalt und Krieg zu vernichten, anstatt uns? Und wer weiß schon, ob es nicht noch größere und gewaltigere Lebewesen gibt, die ebenfalls danach streben, das Weltall allein zu beherrschen. Wäre es nicht schön, wenn wir alle zusammen die großen, unbekannten Wesen davon überzeugen könnten, dass Andere auch das Recht haben, zu leben? Denn es wäre doch fatal, wenn ihr irgendwann vor diesen Wesen, die sich vielleicht noch niemals gezeigt haben, ganz mutterseelenallein stehen würdet? Und überhaupt, ist es nicht schön zu wissen, dass man nicht allein ist? Also mich persönlich beruhigt es immer wieder aufs Neue. Man kann sich austauschen und voneinander lernen. Kommt, lasst uns doch gemeinsam diese unschönen und störenden Dinge auf den belebten Planeten beseitigen, die veranlassen, dass die Menschen oder die anderen Lebewesen nicht friedlich miteinander leben können. Niemand von uns möchte euch auf irgendeine Seite ziehen. Wir bitten euch lediglich, die Ruhe im Weltall zu bewahren und die anderen Lebewesen in Frieden leben zu lassen. Mehr verlangen wir gar nicht!‹

 

Und plötzlich bemerkte ich, wie auch diese Riesen etwas ruhiger wurden und schließlich zu toben aufhörten und zu überlegen begannen.

 

Ich kann es wirklich, jubelte ich in Gedanken auf. Ich kann jemanden mit meinen Augen und mit meinen bloßen Gedanken beruhigen und ihm etwas mitteilen."

 

›Freu' dich nicht zu früh, kleine Zappelhexe. Sooo beruhigend bist du nun auch wieder nicht. Aber ich muss ehrlich gestehen, wir Bewohner des gelben Planeten haben noch nie mit Hexen und Zauberern gemeinsame Sache gemacht‹, hörte ich den Anführer plötzlich sagen. ›Wir glauben auch nicht, dass dies möglich ist. Die Welten bekriegen sich seit eh und je. Und wir wollen nun mal die alleinige Macht über das Weltall haben. Denn wir sind einfach die Mächtigsten.‹

 

›Dann versucht es doch wenigstens mal zu akzeptieren, dass es Lebewesen auf anderen Planeten gibt, die leben wollen, und nicht mehr solche Wut auf sie zu haben. Ja gut, ich meine, ich habe zwar auch noch nie gehört, dass die Bewohner der einzelnen Erden Freunde wurden. Aber wir könnten es doch wenigstens mal versuchen. Findet ihr nicht? Keiner von uns allen ist mächtiger als der Andere. Und es kann nie schaden, sich untereinander zu verstehen. Denn wenn es zum Beispiel bei euch auf dem Planeten irgendwann einmal zu Auseinandersetzungen kommt, würden wir ebenfalls versuchen, den Frieden wieder herzustellen‹, versuchte ich meinen Gegner zu überzeugen und hoffte, dass er mich vom Sprachlichen her verstanden hatte, da ich Letzteres nämlich gesprochen hatte. Allerdings hatte er neben meinen gesprochenem Sätzen wahrscheinlich auch noch meine Gedanken gelesen. Ein paar Minuten schaute mein Gegenüber etwas verträumt in den Himmel, an dem allmählich die dicke Wolkendecke zerriss und ein paar Sterne hervorlugten.

 

›Hm, ihr haltet euch wohl für die Polizisten des Weltalls, nicht wahr? Und ich gebe es zwar nicht gerne zu, aber mitunter könnten wir tatsächlich Hilfe von Anderen gebrauchen. Und wenn ich mir die Menschen so angucke, kann ich einige Parallelen zu uns ziehen. Zudem ist der Gedanke wirklich ein wenig beängstigend, irgendwann einmal vor den mächtigeren Wesen gänzlich allein dazustehen, die es irgendwo womöglich noch gibt. Hier hast du wirklich Recht!‹ Dann verzog sich sein Gesicht etwas, und für einige Sekunden glaubte ich beinahe, ein kleines Lächeln zu sehen.

 

›Und vielleicht ist es gar nicht mal so schlecht, eine wahre Hexe zur Freundin zu haben. Überhaupt wenn sie solche Ruhe wie du in sich trägt und ausstrahlt. Es wird zwar nicht gerade einfach werden, unseren vordersten Mann von dieser Idee zu überzeugen, doch versuchen können wir es mal. Nein, leicht wird es gewiss nicht werden! Ich muss ihm doch sagen können, dass wir dich, euch beiden, vernichtet haben. Er kann mit seinem Fernglas nämlich bis zum blauen Planeten hinübergucken. Na, und dann wird er sehen, dass wir ihn angelogen haben.‹

 

›Herr Gott noch mal, dann nimm ihm das bescheuerte Fernglas doch ganz einfach weg und verstecke es irgendwo, wo er es erstmal nicht wieder finden kann“, meldete sich urplötzlich mein zukünftiger Ehemann zu Wort, der sich endlich wagte, über meinen Rollstuhl etwas mehr hinweg zu gucken.

 

›Meinst du wirklich, dass das funktionieren würde?‹, erkundigte sich der Riese ungläubig bei Finn.

 

›Ja, aber sicher doch, du Komiker! Du musst für das Superfernglas nur einen sicheren Ort finden. Und wenn ihr Zerlina dann noch auf eure Erde zum Streitschlichten oder gar zum Kriegsverhindern holt, wird euer so genannter vorderster Mann spätestens in diesem Augenblick einsehen, dass man sich mit den Wesen von den anderen Planeten ruhig verstehen sollte.‹

 

›Nein, das kann einfach nicht gut gehen‹, wiederholte der Riese jetzt noch einmal unbeholfen auf Finns Idee. ›Wir müssen euch beide jetzt auf der Stelle vernichten. Denn dir, der du dich so ziemlich feige hinter diesem rollenden Stuhl versteckst, geht's nun auch endgültig an den Kragen. Kommt schon endlich her, ihr zwei‹, und schon traten sie uns gefährlich nahe.

 

›Einen Augenblick‹, sagte Finn mit dem Oberkörper zurückweichend noch einmal. ›Wollt ihr wirklich, dass das größere Wesen dort draußen im Weltall eines Tages Gericht über euch abhält und ihr womöglich als kleine und verfolgte Hexen und Zauberer wiedergeboren werdet? Das wollt ihr doch sicher nicht, oder? Denn jedes Wesen, das lebt, wird irgendwann nach seinem Ableben wiedergeboren. Das wisst ihr doch, nicht wahr? Nun ja, und dann bekommt es jede schlimme Tat, die es in seinem vorherigen Leben begangen hat, heimgezahlt.‹

 

›Meinst du, dass dieses Wesen dort draußen tatsächlich existiert? Wenn es wirklich so ist, müssen wir es unbedingt unserem Vordermann erzählen. Denn ich möchte in meinem nächsten Leben nicht so furchtbar hart bestraft werden. Schon gar nicht möchte ich als Mensch wieder zurück ins Leben kommen. Am besten kehren wir jetzt erst einmal auf unseren Planeten zurück und erzählen diese Sache unserem Vordermann.‹

Seine Mitriesen schienen damit einverstanden zu sein. Denn innerhalb der nächsten Augenblicke waren die Riesen tatsächlich verschwunden.

 

„Zerlina, was war das, um Himmelswillen? Aus welchem Fantasiefilm sind die denn entsprungen? Na, aber wie gut, dass sehr große Leute meistens nur sehr wenig Hirn haben.‹, prustete Finn plötzlich los und warf sich auf den Rücken ins völlig nasse Gras.

 

Geschafft und sprachlos blickte ich Finn eine Weile an. Und obwohl das Gras vom Regen immer noch ziemlich nass war, machte Finn keinerlei Anstalten, endlich aufzustehen.

 

›Tja, mein Lieber, wie ein kleiner Schisser versteckst du dich hinter meinem Rollstuhl.‹, bluffte ich meinen Freund ungehalten an, nachdem ich meine Stimme wieder gefunden hatte. ›Du schaffst es einfach nicht, dich mit deiner wahren Identität zu identifizieren und vertraut zu machen. Du bekommst es noch nicht einmal hin, mich zu beschützen.‹

 

›Wieso? Ich habe die Riesen doch auf die Idee gebracht, dich am Leben zu lassen, damit du auf ihrer Erde Streitereien schlichten kannst. Auch habe ich ihnen mit dem großen, unbekannten Wesen einen reichlichen Schrecken eingejagt.Selbst wenn  sie dich niemals im Leben angefasst oder gar verletzt hätten. Aus welchem Grund dennn auch? Und überhaupt wollt ihr Frauen doch immer die Gleichberechtigung haben. Aber wenn wir Männer euch dann den Vortritt lassen, ist es auch nicht recht. Meine Güte noch mal, was sollen wir denn eigentlich machen, um es den Damen angenehm zu gestalten, he?‹, erklärte Finn jetzt ein wenig gereizt.

 

›Nun, euch zumindest nicht wie die letzten Feiglinge benehmen!‹, herrschte ich Finn weiter an.

 

„Aber jetzt sag' schon, wo kamen diese Verrückten her? Vor denen konnte man wirklich ein bisschen Angst bekommen. Seltsamerweise hatten sie sehr große Ähnlichkeit mit den riesigen Geschöpfen, von denen ich als Kind und Jugendlicher manchmal träumte und die mich in letzter Zeit in meinen Träumen auch wieder häufiger heimsuchten. Dennoch waren das keine Außerirdischen! Jetzt erzähl' schon, waren wir etwa bei so 'ner bekloppten Fernsehshow dabei und sind heimlich gefilmt worden? Au, und ich habe mich noch nicht einmal rasiert.“, nörgelte Finn gespielt und strich sich mit der linken Hand übers Kinn.

 

„Weder noch!“, gab ich jetzt leicht matt zurück und ließ mich schlapp in meinen Rollstuhlsitz zurücksinken.

 

„Es waren definitiv die Riesen des gelben Planeten, von denen du als Kind manchmal geträumt hast und die dich in letzter Zeit wieder häufiger besuchten. Da kannst du dich drehen und wenden wie du willst. Du musst der Tatsache jetzt endgültig ins Gesicht sehen. Wir sind Außerirdische, beherrschen das Zaubern eigentlich perfekt sollen unter den Menschen eine Gemeinschaft bilden und werden von den Bewohnern des gelben Planeten verfolgt. Also, wir haben noch einiges vor uns, Finn! Die Planeten brauchen uns. Und gerade so einem Angsthasen wie dir soll ich in möglichst kürzester Zeit nahebringen, dass er ein waschechter Zauberer ist, von einem anderen Planeten kommt und es eines Tages an ihm liegt, dass es in fünfhundert Jahren noch Leben in unserem Weltall gibt?! Das bekomme ich doch niemals hin, verdammt noch mal. Was ist bloß los mit dir? Wieso hast du dich so verändert? Du warst doch mal so mutig, für alles offen und wolltest die Welt verändern. Wo ist dieser mutige Mensch jetzt hin? Mann, von uns hängt das Leben im Weltall ab. Du kommst vom Planeten der Hexen und Zauberer, bist der Sohn des Königs aus dem Land der vierzehn silbernen Seen und sollst irgendwann den Thron besteigen und dieses Land regieren.‹

 

›Ach, Zerlina, das hört sich alles nach einem wunderschönen, romantischen Märchen an, oder?! Ich kann mir nun einmal partout nicht vorstellen, in ein paar Jahren auf einen Planeten zurückzukehren, auf dem ich vor knapp sechsunddreißig Jahren angeblich geboren wurde. Das ist vollkommener Quatsch! Ich bin ein ganz normaler Mensch und von Beruf Bürokaufmann und werde demnächst nebenbei mein Studium zum Sozialpädagogen beenden. Von politischen Dingen habe ich überhaupt keine Ahnung. Ja gut, ich weiß ungefähr, was die hohen Herren, die in der Politik sitzen, tun müssen oder besser gesagt tun müssten, damit es den Menschen besser geht. Aber wenn ich daran denke, diese Dinge irgendwann selbst in der Hand zu haben, wird mir flau im Magen. Das kann ich, kleiner Mann, doch gar nicht. Ich habe nun mal von Politik nur das nötigste Wissen. Außerdem halte ich es für totalen Schwachsinn, nicht von dieser Welt zu kommen. Ja, ich kann ziemlich gut zaubern. Das ist Fakt. Doch vielleicht war mein Ur-ur-großvater ja so was Ähnliches wie ein David Copperfield oder so ähnlich. Es gibt viele gute Zauberer, sodass es nicht weiter verwunderlich ist, von Dingen zu hören, die nur schwer oder gar nicht zu erklären sind.‹

 

Finn hatte ruhig zu mir gesprochen, wie es seine Art war. Er verlor beinahe nie die Beherrschung oder geriet gar in Wut.

 

›Und wie erklärst du es dir bitte schön, woher die Dinge, mit denen sie uns beworfen haben? Oder dass manche Menschen durch die Luft fliegen können. Bist du nicht auch schon mal auf einem Besen irgendwohin geflogen?‹

 

›Nein, das bin ich nicht! Du weißt genau, dass ich wegen meiner Höhenangst nur unter Protest in ein Flugzeug steige. Und es gibt durchaus Dinge, die man sich nicht erklären kann sowie ich es eben schon gesagt habe. Aber es ist unmöglich, dass man weite Strecken auf einem Besen zurücklegen kann. Ein ganz kurzes Stückchen vielleicht. Von einem kleinen Berg hinunter, etwa wie beim Skispringen. Aber Strecken von mehreren Kilometern sind völlig unmöglich!‹

 

›Tja, aber in Afrika habe ich die Anderen allein mit meinen Gedanken herbeigerufen. Wie erklärst du dir das? Denn im Sudan habe ich die anderen Hexen und Zauberer zur Hilfe geholt, obwohl ich mit Emma ganz alleine spazieren gegangen bin. Das habe ich dir doch erzählt, oder? Auch habe ich die Strecke von Deutschland bis in den Sudan auf meinem Besen zurückgelegt.«

 

»Tz, solch einen gottverdammten Blödsinn möchtest du mir nicht allen Ernstes erzählen?! Ich meine, mit diesem Teil, das in deinem Schlafzimmer gut versteckt hinter dem langen Vorhang am Fenster steht und dessen Stiel manchmal von deinen Katzen als Kratzbaum benutzt wird, kannst du doch unmöglich auch nur einen einzigen Meter weit fliegen. Ich habe gedacht, mit diesem Besen mit der Sitzschale oben drauf, dessen Machart wirklich sehr gelungen aussieht, gehst du zum Karneval oder Ähnliches. Sag bloß, du möchtest mir jetzt glaubhaft machen, dass du auf diesem Ding von München bis in den Sudan geflogen bist, ohne Schutz um dich herum?!, erkundigte Finn sich beinahe fassungslos bei mir und schnitt eine lächelnde Grimasse. ›Wenn ja, bringe ich dich gleich, sofort in die Psychiatrie. Denn dann stimmt irgendetwas mit dir und deiner Psyche nicht. Ja gut, ich glaube manchmal auch an Dinge, die nicht hundertprozentig logisch zu erklären sind. Aber fliegende Besen, Teppiche oder UFOs halte ich für etwas, das sich die Menschen für ihre Romane, Filme oder Märchen ausgedacht haben.«

 

Da Finn mich nun mit einem ernsten Gesichtsausdruck ansah, der mich zweifeln ließ, ob er mich nicht tatsächlich schnurstracks in eine Psychiatrie bringen würde, wagte ich nicht mehr, weiter zu sprechen und ihm noch Weiteres aus meinem Leben als echte Hexe auf einem fliegenden Besen zu erzählen.

 

›Ach ja, und zu deiner Frage, was ich wohl meine, wie du damals im Sudan die anderen Hexen und Zauberer herbeigerufen hast, so muss ich dich daran erinnern, dass Gedankenübertragung die älteste Sache der Welt ist‹, erklärte Finn nun leicht genervt. ›Und nur weil Menschen, die etwas Unerklärliches können, heutzutage nicht mehr sofort gehängt oder auf einem Scheiterhaufen verbrannt werden, dürfen sie ihren Mitmenschen ihr Können offenbaren. In manchen Ländern der Erde zumindest. Nein, von Gedankenübertragung erzählte man sich wirklich schon im tiefsten Mittelalter. Nur dass man zu diesem Zeitpunkt die Menschen noch hinrichtete, weil es halt mit verbotener Zauberei zu tun hatten. Ich habe neulich in einem historischen Roman von einem Jungen gelesen, der sich gedanklich mit Pferden unterhalten konnte. Und höchstwahrscheinlich gibt es Menschen, die einen so ein feines Gespür haben, dass sie es wahrnehmen, wenn ihnen gedanklich etwas erzählt wird oder sie gedanklich gerufen werden. Wir beide können es ja auch spüren, wenn jemand von uns krank ist und den Anderen dringend braucht. Und gerade du, meine kleine Zapplerin, hast eine ganz besonders feine Antenne. Das hat sogar schon Kira bemerken müssen, die sonst nicht an übernatürliche Dinge glaubt. Und eben hat es auch so ausgesehen, als ob du dich mit diesen seltsamen Typen gedanklich unterhalten hättest. Nur ist es dir nicht gelungen, Hilfe zu holen. Ganz logisch, oder? Auch möchte ich es noch einmal betonen; ich habe niemals behauptet, ein ganz klein wenig anders als die übrigen Menschen zu sein. Denn sonst würde ich meine so genannten Lebensaufgabe doch überhaupt nicht ernst nehmen und mich ihrer annehmen. Denn ich bin ja ebenfalls ein wenig buddhistisch angehaucht und glaube, dass jedes Lebewesen in seinem Leben eine bestimmte Aufgabe zu erledigen hat. Ganz egal, welches Lebewesen es ist! Nur kann ich es einfach nicht glauben, von einem ganz anderen Planeten zu kommen und der Sohn eines Königs zu sein. Das ist ehrlich völliger Humbug! Dennoch halte ich es für möglich, dass mir vor einigen Monaten mein längst verstorbener Großvater im Traum erschienen ist. Denn ich glaube durchaus, dass die Geister Verstorbener noch auf dieser Welt wandeln.

 

›Na gut, aber wo denkst du, kommen unsere Gegner her, wenn es deiner Meinung nach keine andere bewohnte Erde im Weltall gibt? Denn kein Mensch hat diese Riesen bisher hier sehen können. Und ähneln tun sie uns auch in keiner Weise. Somit vermute ich, dass nur wir Hexen und Zauberer sie in Erinnerung behalten können.‹

 

„Ach, Mensch, Zerlina, das waren eben doch nur saumäßig gute Schauspieler, die für eine Aufführung geprobt haben oder so 'n Quatsch. Sie wollten einfach nur mal testen, ob sie wirklich sooo furchteinflößend sind, wie sie denken oder hoffen. Na ja, und dass sie den Gruselgestalten aus meinen Kinderträumen ähneln, ist purer Zufall. Wir träumen ja alle mal schlecht und gruseln uns. Selbst im Erwachsenenalter‹, bekam ich knapp und noch ein wenig gereizter zur Antwort.

 

›Hast du Angst zu versagen?! Denkst du, du schaffst es nicht, eine größere Verantwortung zu übernehmen. Aber als Bürokaufmann und Sozialpädagoge musst du schließlich auch Verantwortung übernehmen.‹, hakte ich nach kurzem Schweigen nach. Und plötzlich fiel mir wieder auf, was ich bei Finn so sehr vermisste und eigentlich nie bei ihm gefunden hatte. Er konnte mich einfach nicht beschützen und hatte es auch noch zu keiner anderen Zeit gekonnt. Aber bei dir, Jonas Müller, hatte ich mich hingegen immer sicher, beschützt und richtig geborgen gefühlt. Woher dieses Gefühl kam, wusste ich nicht. Denn du musstest mich noch keinmal richtig beschützen. Wahrscheinlich lag es allein an deinem streng wirkenden Gesicht«, unterbrach ich plötzlich meine Erzählung und sah meinen Mann fragend und nachdenklich an. Ein nicht wissendes Achselzucken meines Mannes war die einzige Reaktion auf mein Gesagtes. Und nach einigen Augenblicken erzählte ich weiter .

 

›Und würdest du an unsere kleine Welt glauben, wenn du sie sehen würdest?‹, fragte ich Finn plötzlich.

 

Mein Freund riss einen nassen Grashalm aus und steckte ihn sich gedankenverloren zwischen die Zähne und zog seine Beine an.

 

›Hm, tja, hat nicht jeder Angst davor, irgendwann einmal zu versagen? Ein einfacher Bürokaufmann oder ein einfacher Sozialpädagoge hat nun einmal nicht solche mächtige Verantwortung wie ein König. Und, ja, wenn ich unseren Heimatplaneten mit eigenen Augen sehe, würde ich glauben, dass es ihn gibt. Dann müsste ich ja notgedrungen an ihn glauben. Dennoch würde ich es noch immer nicht so ohne Weiteres hinnehmen, ein Königssohn zu sein. Sag mal, warst du schon mal bei den Zauberwesen zu Hause? Oder warum bist du dir so sicher, dass es diese Welt gibt?‹

 

Doch da ich erschöpft und müde war, verschwieg ich, dass ich immer noch in einigen Nächten Besuch von meiner längst verstorbenen Großmutter bekam und ich mich vorhin mit den Riesen wirklich gedanklich unterhalten hatte. Auch verschwieg ich, dass seine jüngste Schwester schon einige Male bei ihren leiblichen Eltern war. Stattdessen sagte ich, dass ich schon mein Leben lang gespürt hatte, eine Außerirdische zu sein. Woraufhin Finn mir mit einem Lächeln sagte, auch er habe es immer spüren können, ein ganz besonderes Wesen zu sein. Und plötzlich waren mir zwei recht gute Ideen gekommen, die ich unbedingt mit Janica besprechen musste.

 

 

 

 

 

XVIII

 

Schon während unseres Kampfes mit den Riesen hatte ich gespürt, wie sehr mir mein Rücken wehtat. Und in den kommenden Wochen konnte ich mich an manchen Tagen kaum bewegen. Seltsamerweise war mir diese Art von Rückenschmerzen neu. Zwar war ich aufgrund des vielen Sitzens im Lendenwirbelbereich eigentlich ständig verspannt, aber diese Schmerzen waren im Allgemeinen gut auszuhalten. Doch diese Muskelverspannungen waren jetzt kaum mehr zu ertragen. Ängstlich dachte ich daran, mich bald gar nicht mehr bewegen zu können. Ich lief von Arzt zu Arzt, aber niemand konnte mir so recht helfen oder auch nur eine genauere Diagnose stellen. Einige Ärzte verschrieben mir spastikhemmenden Medikamente, die ich aber nicht einnahm. Und schließlich schlugen sie mir vor, die am stärksten verspannten Muskeln meines Fußes und rechten Beines operativ ein Stück weit einzuritzen, damit die Spannung in den einzelnen Muskeln ein bisschen nachließe. So auch im Rücken. Auf diesen Vorschlag hatte ich schon lange gewartet!

 

›Und das so kurz vor meiner Hochzeit!‹, weinte ich mich bei Kira aus. „Hätten die Ärzte nicht schon viel früher auf diese Operationsmöglichkeit kommen können?“

 

›Nun mach' mal keine Panik! Es wird schon alles gut!‹, tröstete meine beste Freundin mich. ›Du weißt doch, wie stark du immer auf Stress reagierst. Sag' mal, warum möchte Finn dich denn eigentlich so plötzlich heiraten? Ich meine, es wird zwar langsam Zeit für euch, aber ein bisschen komisch finde ich es trotzdem. Hm, schwanger bist du aber nicht, oder? Das würde dann nämlich auch deine starken Rückenschmerzen erklären.‹

 

Mit einem herzhaften Lachen und noch mit Tränen in den Augen erklärte ich Kira, dass ich definitiv nicht schwanger sei und meine Rückenschmerzen wohl eher vom ganzen Stress beziehungsweise von meiner Spastik kämen. Warum Finn mich so plötzlich heiraten wollte, verschwieg ich ihr allerdings.

 

›Du, Zerlina, möchtest du wegen deiner starken Rückenschmerzen und deiner bevorstehenden Operation nicht lieber noch einmal Jonas, deinen ehemaligen Masseur, sprechen?‹, fragte mich eine meiner Assistentinnen eines Morgens beim Frühstück, als ich gerade wieder von einer Voruntersuchung für meine OP zurückkam und ein Marmeladenbrot aß. ›Denn der Jonas scheint ja richtig viel Ahnung zu haben. Auch sagtest du einmal, du glaubst, dass er heilende Hände habe. Denn er braucht sie nur auf deinen Rücken zu legen, um deine Schmerzen weniger werden zu lassen‹, fügte meine Assistentin nach kurzem Schweigen zu ihrem Vorschlag erklärend hinzu und nahm, die Ellenbogen auf meinem massiven Holztisch gestützt, einen Schluck aus ihrer Teetasse.

 

›Ja, das schon. Allerdings müssten meine Schmerzen, wenn Jonas tatsächlich heilende Hände hätte, denn nicht vollkommen und fortwährend verschwinden? Jedoch kann es auch sein, dass bei meiner starken Spastik gar nicht möglich ist, meine Schmerzen für immer verschwinden zu lassen. Meine Muskeln stehen ja permanent unter großer Anspannung und verkrampfen sich ständig neu. Ach, ich weiß es doch auch nicht. Aber ich glaube, momentan ist Jonas völlig mit seinen bevorstehenden Prüfungen zum Heilpraktiker beschäftigt und hat für mich, als zusätzliche Patientin, gar keine Zeit‹, sagte ich und schnappte sogleich nervös nach meinem Strohhalm in meinem Teebecher, damit dieser mich am Weitersprechen hinderte. ›Zudem ist der Weg von München nach Frankfurt so weit.‹, setzte ich hinzu, nachdem ich genug getrunken hatte.

 

›Oh, dein ehemaliger Masseur macht eine Ausbildung zum Heilpraktiker?‹, fragte meine junge Assistentin neugierig, während sie Momo auf ihren Schoß nahm.

 

›Hm, das hat mir zumindest neulich einer meiner früheren Mitbewohner aus der Wohngruppe erzählt. Er hat mit dieser Ausbildung auch erst angefangen, nachdem ich aus Frankfurt weggezogen bin. Denn wie es scheint, läuft die Massagepraxis von Katja, seiner Chefin, wohl nicht mehr sooo gut. Na, und dieses ist ja nun auch kein größeres Wunder, da ja in diesem Bereich heftig gekürzt wird. Zu wenigen Leuten wird noch Massage verschrieben. Und aus diesem Grunde wissen die Praxen heutzutage manchmal gar nicht mehr so recht, wie sie sich über Wasser halten sollen. Erst recht nicht, wenn es sich um so eine Kleine handelt wie bei Katja. Aber dass ihre Praxis jetzt so sang– und klanglos untergeht, hat sie wirklich nicht verdient. Sie hat dafür wie eine Blöde gearbeitet. Am Anfang stand sie an manchen Tagen doch glatt geschlagene sechzehn Stunden lang in ihrer Praxis, um sie zum Laufen zu bringen.“

 

„Tja, und wenn man sich dann auch noch in einer Stadt selbstständig macht, in der es recht viele Massagepraxen gibt, ist man sowieso nicht gut dran. Auf jeden Fall wäre es wohl nicht so unbedingt gut, wenn ich Jonas so kurz vor seiner Prüfung noch einmal aufsuche. Und ich habe ja nun ebenfalls eine Menge um die Ohren, so dass mir ein Aufenthalt von drei, vier Tagen wirklich zu viel werden würde‹, teilte ich meiner Assistentin aus dem Fenster blickend in einem etwas gehetzten Tonfall mit.

 

Zu meinem bloßen Erstaunen und Entsetzen warf mir meine junge Assistentin in diesem Moment einen fragenden und zugleich mitfühlenden Blick zu, der mich schließen ließ, dass auch sie in der Lage war, in die Herzen anderer Menschen zu sehen und somit recht genau zu wissen schien, wie es um mich stand. Doch als meine Schmerzen so stark wurden, dass ich mich nachts nicht einmal mehr von einer auf die andere Seite drehen konnte, ließ ich es zu, dass eine von meinen Assistentinnen zum Telefonhörer griff, dich anrief und einen Termin für mich ausmachte. Wenn ich mit dir vor meiner Hochzeit keinen so engen Kontakt mehr gehabt hätte, wäre ich jetzt vermutlich mit Finn verheiratet.“, erklärte ich nun fast flüsternd und blickte gedankenverloren auf Momo hinab, die noch immer in meinem Arm döste.

Die kommenden Tage waren ein Auf und Ab. Denn einerseits freute ich mich, wegen einer so unauffälligen und zugleich notwendigen Sache wieder mit dir in Kontakt zu treten, aber andererseits verspürte ich auch ein wenig Angst in mir. Aus welchem Grunde und wovor konnte ich allerdings nicht genau sagen. Denn ich glaubte, dir in der Zwischenzeit nur noch als einfache Patientin gegenübertreten zu können. Ich war ja schließlich eine fast verheiratete und sehr glückliche Frau. Ich hatte einen überaus tollen Mann, der zwar nicht gerade der Mutigste war, aber der mich wirklich auf Händen durchs Leben tragen und alles Erdenkliche für mich tun würde. Und je näher mein Behandlungstermin rückte, desto weniger war ich mir sicher, dass ich bei deinem lebendigen Anblick so kühl bleiben würde, wie beim Anblick deines Fotos. Und drei Wochen vor meiner Hochzeit fuhr ich dann tatsächlich für zwei Tage nach Frankfurt. Finn, der natürlich von meinen starken Rückenschmerzen wusste, fand nichts Beunruhigendes bei diesem Gedanken. Er hoffte nur, dass es mir bald wieder besser ginge.«

 

»Tja, und ich kann mich noch ganz genau erinnern, wie ich dich dann das allererste Mal wiedergesehen habe. Ja gut, ich meine, ich hatte dich zwar schon zwischendurch einige Male gesehen, aber dies waren immer nur wenige Minuten gewesen, wenn du in Frankfurt Freunde besuchtest.«, schaltete sich mein Mann streckend in meine Erzählung ein. »Mein Gott, man konnte dir deine starken Rückenschmerzen buchstäblich ansehen. Ich hatte dich noch nie so zusammen gekrümmt im Rollstuhl sitzen sehen. Ein bisschen geschockt nahm ich deine Behandlung auf. Mir war schon nach den ersten Minuten klar, dass ich dich niemals in nur zwei Behandlungsstunden von deinen großen Schmerzen befreien konnte. Auch wenn dir deine Hausärztin zweimal eine ganze, statt zweimal nur eine halbe Stunde Behandlung aufgeschrieben hatte. Wie es eigentlich der Normalfall war. Trotzdem konnte ich in diesen insgesamt hundertzwanzig Minuten nicht sehr viel ausrichten.«

 

»Nein, du sagtest stattdessen, nachdem du mich auf deine Behandlungsbank gelegt hattest, dass ich mindestens noch drei, vier weitere Male zu dir kommen müsse. Für wesentlich effektiver würdest du es jedoch halten, wenn ich von jetzt an so häufig wie nur möglich zu dir zur Behandlung kommen würde. Höchst verzweifelt, aber gleichzeitig auch höchst erfreut hörte ich diese Worte. Denn bereits beim allerersten Blick in deine braunen Augen fühlte ich wieder diese seltsame Vertrautheit. Auch fühlte ich, wie sehr ich dich noch mochte. Leicht erbost über mich selbst teilte ich dir plötzlich mit, dass ich in drei Wochen Finn heiraten würde. Ach, wie gerne hätte ich dir in diesem Moment alles erzählt. Ich meine, von meinem Hexendasein, von den Riesen mit den sechseckigen Augen, von Finn, der nicht glauben wollte, von einem anderen Planeten zu kommen und in naher Zukunft ein Land regieren zu müssen, und davon, dass mit Finns Weggang auch ich diese Erde für immer verlassen musste. Aber da ich genau wusste, was du von dieser Sache halten und du mich für völlig verrückt halten würdest, hielt ich lieber meinen Mund und beobachtete weiter, was du alles versuchtest, um mir meine Schmerzen zu nehmen.«

 

»Nun, ich glaube, auf die Nachricht von deiner bevorstehenden Hochzeit habe ich aber auch nicht viel anders reagiert, als wohl auf all die anderen Sachen, von denen du mir am liebsten erzählt hättest, oder?«, erkundigte sich mein Mann jetzt etwas verlegen bei mir und grinste ebenso verlegen.

 

»Nö, das kann man nicht gerade sagen!«, antwortete ich knapp. »Ziemlich ungehalten hast du sogar reagiert. Und jeden Augenblick habe ich damit gerechnet, dass du mich fragst, was ich mit diesem Typen denn möchte. Und dieses, obwohl du Finn ja noch nie gesehen hattest.«

 

»Das nennt man dann wohl pure Eifersucht«, piepste Momo jetzt auch mal wiede dazwischen und lachte leise vor sich hin.

 

»In den kommenden Nächten konnte ich kaum ein Auge zutun. Und dieses nicht, weil mich meine Rückenschmerzen daran hinderten, sondern weil ich mir immer wieder vorstellte, wie es wäre, dich anstatt Finn zu heiraten. Zutiefst beschämt kroch ich weit unter meine Bettdecke und hätte das Atmen am liebsten eingestellt. Auf einmal musste ich daran denken, nie mehr Rückenschmerzen leiden zu müssen. Denn bereits nach der allerersten Behandlungsstunde, die ich bei dir wahrgenommen hatte, waren meine Rückenschmerzen so weit zurückgegangen, dass ich mich nachts im Bett wieder ohne größere Schwierigkeiten drehen konnte. Völlig erstaunt erzählte ich es Kira, sobald ich nach München zurückgekehrt war.

 

›Tja, vielleicht hat der Mann so etwas Ähnliches wie heilende Hände?‹, dachte meine Freundin laut und strich sich mit dem Zeigefinger über ihre Nasenspitze.

 

Mit einem bestimmten Nicken bestätigte ich die Vermutung und erklärte ihr, dass es tatsächlich Menschen mit heilenden Händen gab, und du höchstwahrscheinlich dazugehörtest. Mit weit aufgerissenen Augen erkundigte sich meine Freundin bei mir, ob ich an solch eine Sache glaubte. Ich erzählte ihr, dass es dieses Phänomen durchaus gab.

 

›Ja, nee, Zerlina, ist schon klar! Womöglich gehört Jonas Müller nachher noch zu den Zauberern‹, vermutete sie und musste plötzlich herzhaft loslachen.

 

Ach, es gibt mehr Hexen und Zauberer, als du es dir erträumen kannst, dachte ich und blickte meine Freundin sanftmütig von der Seite an.

 

›Warum kann ich Jonas nicht heiraten?‹, fragte ich mich gedanklich immer häufiger und wäre dabei vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Auch musste ich zu meinem bloßen Entsetzen feststellen, dass ich es nach den beiden Behandlungen bei dir immer mehr hasste, von meinen männlichen Assistenten gepflegt zu werden. Eigentlich empfand ich dieses immer schon als sehr, sehr unangenehm und ekelhaft, aber nachdem ich nur zweimal wieder bei dir war und in deine faszinierenden braunen Augen geblickt hatte, wurde ich nahezu hysterisch, wenn mich ein anderer Mann anfasste. Selbst dann, wenn es nur wegen des Pflegens war. Etwas beschämt fiel mir auf, dass ich diese starken Empfindungen in den vergangenen Jahren nicht so in diesem Maße hatte. Obwohl ich seit langem in einer festen Liebesbeziehung mit einem wirklich tollen Mann stand. Aber höchstwahrscheinlich gehörte Finn schon viel zu lange zu meinem Leben dazu, als dass ich ihm gegenüber noch irgendwelche Scham und ein schlechtes Gewissen hätte empfinden können. Und vielleicht hatte er auch schon längst den Part meines Bruders, statt den meines zukünftigen Ehemannes eingenommen. Komisch, kam es mir plötzlich wieder in den Sinn, dass es den nicht behinderten Menschen ausreicht, nur bei der körperlichen Liebe mit ihrem Partner engen Kontakt zu haben. Ich glaube, ich würde vor Sehnsucht nach meinem Partner sterben. Bereits unzählige Male stellte ich mir, als eine nicht behinderte Frau mit einem Mann in einer Liebesbeziehung zu stehen. Seltsamerweise empfand ich bei dieser Vorstellung nur eine Art Trauer und Enttäuschung. Das innige Verhältnis und das daraus automatisch hervorgehende maßlose Vertrauen in der Beziehung mit Finn hatte mich so glücklich gemacht, dass ich mir irgendeine andere Form von Beziehung rein gar nicht vorstellen konnte und wollte! Ja, ich empfand regelrechtes Mitleid mit meinen nicht behinderten Mitmenschen. Denn sie erfuhren niemals, wie schön es war, von ihren Partnern geduscht, gebadet, an- und ausgekleidet und auf Toilette gesetzt zu werden. Jedenfalls nicht in solcher Form, wie ich es erfuhr. Auch Finn hatte mir erklärt, wie sehr ihn diese absolute Vertrautheit unserer Beziehung glücklich machte. Und allein aus diesem Grunde genoss ich es in vollen Zügen, so stark körperbehindert zu sein! Und das meine ich auch wirklich so, wie ich es hier jetzt sage!!!

 

»Obwohl ich nach den ersten Behandlungen bei dir beinahe schmerzfrei war, entschloss ich mich dennoch, die Operation an meinem rechten Bein vornehmen zu lassen. Zwei Wochen vor meiner Hochzeit wurde ich dann operiert. Nun, um ganz ehrlich zu sein, war diese OP das schönste Hochzeitsgeschenk, das ich überhaupt bekommen konnte. Das glaubte ich zumindest die ersten paar Wochen. Doch als ich schließlich bemerkte, die gefährlichen Dinge, die in naher Zukunft geschehen würden, nicht mehr spüren zu können, fragte ich mich immer wieder, warum ich dieser Operation zugestimmt hatte.

Nach gut fünf Tagen entließ man mich aus dem Münchener Orthopädiekrankenhaus. Von dem Zwischenfall, um ein Haar in der Narkose geblieben zu sein, erfuhr ich erst etwas später.

 

Nun rückte der Tag von Finns und meiner Hochzeit unaufhaltsam in Sicht. Dabei versuchte ich das Gefühl tiefer, endloser Leere tapfer und noch immer ein wenig schlapp zu ignorieren und niederzukämpfen. Zwischendurch war ich schon wieder dreimal bei dir in Behandlung gewesen. Denn auch gegen meine anfangs sehr starken Narbenschmerzen konntest du etwas tun. Ich weiß noch, wie du bei der ersten Behandlung nach meiner Operation wie ein Rohrspatz geschimpft hast. Du sagtest immer wieder, dass ich diesen Eingriff nicht hätte machen lassen dürfen, weil ich bald jegliches Gefühl für mein Bein verliere. Aber abgesehen von meiner noch nicht so lang zurückliegenden Operation, ging es mir auch sonst nicht sonderlich gut. Ich fühlte mich von Tag zu Tag schlapper und müder.

Und obwohl ich nicht so recht daran glauben konnte, allein an dem sicheren Untergang der bewohnten Planeten etwas tun zu können, machte ich mir noch immer tonnenschwere Vorwürfe, nicht alles perfekt im Griff zu haben. Und der Gedanke, dass in nicht allzu ferner Zukunft kein Leben mehr im Weltall existieren würde, machte mir so zu schaffen, dass ich kaum noch etwas essen konnte. Irgendwie musste man es den Menschen doch begreiflich machen können, dass man ganz friedlich zusammenleben konnte. Wenn man es denn wirklich wollte! Aber jemand, der einmal irgendetwas Böses getan hatte, blieb auf ewig böse und wurde aus der Gesellschaft aus- und weggeschlossen. Zumindest war es in den meisten Fällen so. Gar niemand versuchte, sich diesem bösen Menschen zu nähern, um mit ihm ein vernünftiges und tief gehendes Gespräch zu führen und ihm sein Mitgefühl und Verständnis entgegenzubringen. Stattdessen wurde er allein gelassen und von seinen Mitmenschen entfernt, ohne dass man auch nur das kleinste bisschen von ihm erfahren hatte. Oder man versuchte eben, einen vollkommen anderen Menschen aus ihm zu machen. Einen perfekten Menschen. Das Ebenbild der perfekten Menschen! Ja, es entsprach schon der ganzen und durchaus vollen Wahrheit, dass es äußerst schwierig und beinahe unvorstellbar war, beispielsweise mit einem Mörder oder einem brutalen Vergewaltiger ein mitfühlendes Gespräch zu führen und ihm ein gewisses Verständnis entgegenzubringen. Jedoch sollte man versuchen, soviel Mensch zu sein und von seinem klaren und logischen Verstand Gebrauch zu machen, um zumindest daran zu denken. Denn niemand, aber auch wirklich niemand, ist von Grund auf böse, psychisch angeknackst oder ein mutwilliger Störenfried! Vor einiger Zeit hörte ich von einem Mann, der mit einem mehrfachen Vergewaltiger befreundet war und der absolut nicht wusste, ob er jeglichen Kontakt zu seinem langjährigen Freund abbrechen oder die Freundschaft zu ihm aufrechterhalten sollte. Ich hoffe, dieser Mann hat den Kontakt zu seinem Freund gehalten, der so sehr um Zuneigung, Aufmerksamkeit und Wärme bettelte. Denn diese Menschen, die so etwas Schreckliches und Grausames tun, brauchen die Aufmerksamkeit, Zuneigung und Wärme ihrer Familie und ihrer Freunde sehr, sehr viel dringender, als wir es alle wahrhaben möchten! Ja, das ist ein äußerst heikler Themenbereich, den man nicht gerne thematisieren möchte. Dennoch sollte man es tun!!!

„Ob ich es meinen eigenen Leuten wohl deutlich genug klargemacht habe, was unter den Menschen so sehr fehlt?“, fragte ich Momo eines Abends. Es war der Abend, an dem ich mir am Tage zuvor mit einer anderen Hexe mein Brautkleid ausgesucht und gekauft hatte. Nur noch sieben Tage waren es jetzt bis zu Finns und meiner Hochzeit

 

„Ja, ich glaub' schon! Denn alle versuchen ja nun, mehr Wärme und Nähe unter die Menschen zu bringen und sie zur Umsicht zu bewegen. Ansonsten schreibe eine Art Buch, sodass jeder von diesen Dingen lesen kann, Zerlina!“, nuschelte Momo, kuschelte sich eng an mich und schlief ein.

 

›Was ist denn jetzt überhaupt mit Jonas, deinem Masseur?“. plauderte Elena eines Tages völlig unerwartet und ohne jegliche Vorwarnung munter drauf los, als wir gerade in ihrem schön verwilderten Gartenbeim Erdbeerenputzen saßen.

Etwas verdutzt und ziemlich erschrocken blickte ich zu meiner Freundin hinüber. Doch dann riss ich mich zusammen und sagte möglichst leicht: „Was soll schon mit ihm sein? Er ist immer noch dabei, seine Ausbildung zum Heilpraktiker zu machen und fleißig für seine Prüfungen zu lernen.“ Mit gesenktem Blick weiter zu, wie meine Freundin Erdbeeren zerschnitt.

 

›Bist du sicher, dass bei dir alles in Ordnung ist?‹, erkundigte sich Elena sorgenvoll bei mir. ›Momo meint nämlich etwas ganz Anderes, und sie hat sich noch nie getäuscht. Erst recht nicht, wenn es um dich ging. Du bist nun mal ihr allerliebstes Frauchen. Möchtest du mir nicht endlich sagen, wie es tatsächlich um dich steht, bevor es zu spät ist?‹

 

›Als ob das an meiner jetzigen Situation noch groß etwas verändern könnte‹, gab ich erschöpft von mir und schloss für einen Augenblick meine brennenden Augen. ›Außerdem hat Momo nur ein einziges Frauchen, du Pappnase!Und ich bin mir wirklich sicher, Finn heiraten zu wollen. Nein, meine liebste Ellie, ich opfere mich keinesfalls!‹

 

›Na, dann is' ja gut. Allerdings weißt du, dass das härteste Stück Arbeit noch auf dich wartet?! Denn du hast es noch immer nicht geschafft, Finn davon zu überzeugen, von einem anderen Planeten zu kommen und ein Königssohn zu sein, der das Schicksal der rund sechs belebten Planeten, die wir bis hierhin entdeckt haben, in der Hand hält. Wenn du für die ganzen Lebewesen, die im Weltall leben, noch etwas Gutes tun möchtest, solltest du dich wirklich ein wenig sputen und mit Finn sprechen, liebe Zerlina! Denn es hängt so wahnsinnig viel davon ab. Denk' doch nur mal an die ganzen Streitereien auf den Planeten. Allerdings scheinen deine und Finns Eltern anzunehmen, dass du es schaffst, Finn rechtzeitig zu überzeugen."

 

Ich nickte kurz und spürte, wie mir das Herz bleischwer wurde und die übergroßen Schuldgefühle wieder an mir zu nagen begannen.

 

 

 

XIX

 

Nachdem mein persönlicher Assistent mich an diesem Abend ins Bett gelegt hatte und ich still im Dunkeln meines Zimmers lag, grübelte ich noch lange über das Gespräch mit Elena nach. Und die großen Gewissensbisse lagen mir so sehr auf der Seele, dass ich mich nach einiger Zeit vor Rückenschmerzen wieder nicht bewegen konnte. Aber die einzige Person, der ich mich ohne Weiteres anvertrauen konnte, war Momo. Doch alles, was dieses kleine, süße Biest tat, war, sobald ich tief und fest schlief, zu Elena zu laufen, die nur wenige Häuserblocks von mir entfernt wohnte, und ihr alles brühwarm zu erzählen. Dass Momo nachts manchmal unterwegs war, bemerkte ich nie. Ich wunderte mich immer nur, dass ihre Öhrchen so kalt waren, wenn sie morgens zu mir zum Kuscheln ins Bett gesprungen kam.«

 

»Was hätte ich bitte schön denn sonst tun sollen, hm?«, erkundigte sich Momo nun ein wenig erregt bei mir und knabberte nervös an ihren Krallen. »Ich habe Elena ja auch nicht alles erzählt, sondern nur, dass ich glaube, du seist noch nicht bereit, Finn zu heiraten. Dass Jonas dahintersteckt, hat sie selbst herausgefunden.«

 

»Ja, ja, Momo, ich weiß! Ellie hat schon verdammt lange gewusst, was ich für Jonas empfinde. Sie konnte es ja in meinen Augen sehen. Drei Tage vor meiner Hochzeit hatte ich dann meinen vorerst letzten Behandlungstermin bei dir«, begann ich, mich in mein Kopfkissen kuschelnd, wieder zu erzählen und streichelte Momo sanft ihre weiße Pfote.

»Ich weiß nicht, was mir an diesem Tag in den Sinn kam, dich zu meiner Hochzeit einzuladen. Aber ich fühlte, dass ich mich freuen würde, wenn du in irgendeiner Ecke der Kirche sitzen würdest. Denn da Finn Mitglied in der evangelischen Kirche war, durften wir in einer Kirche heiraten. Zwar konnte ich mit der Kirche an sich absolut nichts anfangen, dennoch fand ich die Bauten unheimlich schön, ich wurde in ihnen irgendwie immer an das Mittelalter erinnert, und wünschte mir aus diesem Grunde, einmal in einer Kirche zu heiraten. Ich schaute in deine hellbraunen Augen und fragte dich dann, ob du zu meiner Hochzeit kommen möchtest. Und zu meiner großen Freude und zugleich zu meinem bloßen Entsetzen antwortetest du mir, dass du dich sehr geehrt fühlst und gerne kommst. Nein, dass du zusagst, hätte ich nie und nimmer für möglich gehalten. Du wolltest sowieso für einige Tage in den Süden Deutschlands fahren, um dort ein wenig Urlaub zu machen. So erklärtest du zumindest. Einmal ganz alleine und nur für dich sein, danach sehntest du dich schon länger. Und Finn und ich heirateten natürlich in München. Auch wenn Finn noch nicht ganz wieder in München wohnte und viele Freunde, die er in der Uni kennen gelernt hatte, für unsere Hochzeit extra weit reisen mussten. Aber wir fanden es wichtig, dass unsere Familien bei der großen Feier dabei sein konnten. Aus diesem Grunde musstest du auf deiner Reise eben einen Abstecher in die bayerische Landeshauptstadt machen.«

 

»Ja, irgendwie fühlte ich, dass ich dich an diesem Tag um keinen Preis allein lassen dürfe«, meldete Jonas sich jetzt leise zu Wort und streichelte zärtlich meine Hand, die er in seiner hielt. »Warum ich dieses Gefühl hatte, weiß ich bis heute nicht. Es war wohl eine Eingabe. Vielleicht war des Nachts auch jemand bei mir gewesen und hat mir zugeflüstert, dass ich unbedingt bei deiner Hochzeit dabei sein müsse. Ich meine, bei deinen Leuten weiß man ja nie so genau...«

 

»Stimmt!«, gab ich lächelnd zurück. »In der letzten Nacht, in der ich eine unverheiratete Frau war, trafen wir uns noch einmal auf dem Brocken, um so was Ähnliches wie einen Junggesellenabschied zu feiern. Nur mit dem Unterschied, dass zu dieser Feier Finn und ausschließlich Hexen und Zauberer zusammenkamen, die ich in Deutschland kennen gelernt hatte. Natürlich kamen nicht alle Hexen und Zauberer. Dennoch waren zu meiner großen Freude all diejenigen gekommen, die ich gerne auf dieser Feier haben wollte. Nur auf Antonia wartete ich vergebens. Und das fand ich wirklich sehr, sehr schade. Denn wie gerne hätte ich diese überaus tolle Person heute getroffen. Seltsamerweise hatte ich Antonia nur bei meinem allerersten Besuch auf dem Brocken gesehen. Danach sah ich sie nie wieder. Und auch auf meine Fragen hin, wer sie denn sei, bekam ich von den Anderen niemals eine direkte Antwort. Allerdings entging es mir ihre Nervosität nicht, wenn ich nach Antonia fragte. Hm, komisch, wunderte ich mich im Stillen. Trotz meiner Müdigkeit, die mich während des Junggesellenabschiedes penetrant heimsuchte und meine Augen brennen ließ, verlebte ich nette Stunden. In dieser Nacht war es auch das erste Mal, dass Finn und ich gemeinsam auf einem Fest unserer Leute waren. Allerdings sah ich ihm sein Unbehagen an. Und um ihn vor unangenehmen Fragen oder gar Tadeln zu schützen, schlug ich ein lustiges Detektivspiel vor, bei dem alle begeistert mitmachten und gar nicht mehr daran dachten, Finn zu tadeln

Lange, lange spielten wir miteinander und vergaßen darüber die Zeit. Und plötzlich klatschte Janica aufgeregt in die Hände und rief, dass es in gut drei Stunden hell werden würde. Eiligst räumten wir auf und machten uns auf den Heimweg.

 

›Danke, Zerlina!‹, flüsterte Finn mir noch schnell zu, bevor er zu einem Freund ging, der ganz in der Nähe des Brockens wohnte und mit dem er am nächsten Tag zurück nach München fahren wollte. Zum Glück war dieser Freund ebenfalls zu unserer Hochzeit eingeladen. Auch glaubte Finn, dass auch ich bei einer Freundin im Harz übernachte und am kommenden Morgen in aller Frühe und in Windeseile mit dem Auto zurückfuhr.

 

Es war eine wunderschöne, alte Kirche, in der unsere Trauung stattfinden sollte. Sie war bestimmt an die zweihundert Jahre alt und stand am Standrand von München neben einem genauso alten Friedhof, auf dem Wolfram und Emma beerdigt lagen. Dieser Friedhof war teilweise vollkommen zugewachsen, wirkte dennoch keinesfalls verwahrlost. Und weil gerade hier auf diesem urigen Friedhof mein Vater und meine Großmutter beerdigt lagen, hatte ich mir gewünscht, in dieser Kirche zu heiraten. Als wir endlich aus dem Auto stiegen, das sich Ellie extra von einer Freundin für diesen Anlass geliehen hatte, fühlte ich mich eigenartig leer. Eigentlich hätten wir nur nachts heiraten können. Aber weil Finn und ich Freunde, Bekannte und natürlich unsere Familien zu unserer Hochzeit einladen wollten, die zu den Menschen gehörten, hatten wir uns entschieden, am Tage zu heiraten. Die letzten beiden Nächte hatte ich kaum geschlafen. Mit aller Kraft hatte ich versucht, meine Gefühle und Gedanken zu verdrängen, um Momo und auch sonst niemand Anderen wissen zu lassen, wie durcheinander ich doch war. Nun machten sich diese beiden fast durchwachten Nächte richtig bemerkbar.

Als ich all die schick gekleideten Menschen auf dem Kirchhof stehen sah, wurde mir erst richtig bewusst, dass ich in knapp einer Stunde verheiratet sein würde. Um mich herum standen meine Mutter und meine fünf Schwestern. Meine Schwester Steff zupfte nervös am Oberteil meines Kleides herum, um es noch mal zu ordnen. Meine Mutter schnatterte aufgeregt wie eine Ente auf mich ein und gab mir Tipps für eine gut funktionierende Ehe. Meine anderen Schwestern standen eher anteilnahmslos und etwas abseits vom Trubel. Ich war die Zweite, die von meinen fünf Schwestern heiratete. Und auch Kira plapperte vollkommen aufgeregt auf mich ein.

Völlig gedankenverloren und das Geplapper weitgehend ausblendend blickte ich zur mächtigen Kirche hinauf. Glücklicherweise erhielten wir die Erlaubnis, uns von einem Freund von Finn trauen zu lassen. Zwar hatte er er vor kurzem sein Theologiestudium abgeschlossen, aber zu guter Letzt bemerkte er doch, dass er dafür nicht so recht geschaffen war. Und so strebte dieser Freund von Finn nun ebenfalls das Studium zum Sozialpädagogen an.

Ein wenig schüchtern hielt ich nach dir Ausschau. Aber nirgends warst du zu entdecken. Wo und wann ich auf Finn treffen sollte, interessierte mich auf einmal herzlich wenig. Ich wollte dich nur noch einmal sehen. Und dann wollte ich, dass diese ganze Sache möglichst schnell vorbei war. Morgen um diese Zeit würde ich mit meinem angetrauten Ehemann in einem Flugzeug in unsere zweiwöchigen Flitterwochen nach Spanien fliegen. Und danach würde ich weiterhin versuchen, den Menschen nahezubringen, dass sie eine große Gemeinschaft waren. Zudem würde ich meine ganze Überzeugungskraft zusammenraffen, um Finn klarzumachen, dass es den Planeten der Hexen und Zauberer tatsächlich gab und er ein Königssohn war. Und in einigen Jahren würde ich dann wahrscheinlich auf immer und ewig bei meiner leiblichen Familie leben können.

Nach einiger Zeit bewegten wir uns alle langsam auf die Kirche zu. Der kurze, ziemlich schmale Weg bis zu Kirche bestand aus Sand und Kies. Zum Glück war es mir dennoch möglich, mit meinem Rollstuhl gut voranzukommen. Steff und Kira schoben mich gemeinsam. Jeder hielt einen Schiebegriff umfasst. Recht schnell fing ich an, in der Kirche in meinem dünnen Kleidchen zu frieren. Ich konnte es nicht verhindern, dass meine Zähne vor Kälte aufeinander schlugen. Sorgenvoll betrachtete Elena mich und legte mir kurzerhand ihr dünnes Jäckchen über die Schultern. Und Steff hielt meine Hände in ihren, um mich noch mehr zu wärmen.

 

›Das ist die Aufregung, dass dir so kalt ist‹, erklärte Ellie mehr sich selbst als mir.

 

Die Zeit, die wir auf Finn warten mussten, kam mir wie eine Ewigkeit vor. Wahrscheinlich steckt er im Stau, vermutete ich gedanklich und musste grinsen. Denn mein Leben lang hatte ich auf Finn warten müssen. Zu unseren Verabredungen kam er stets eine gute halbe Stunde zu spät. Und nun kam er zu seiner eigenen Hochzeit doch glatt auch noch zu spät. Immer wieder suchte ich mit den Blicken nach dir. Ich wollte wenigstens noch einmal ganz für mich allein Abschied von dir nehmen. Aber nirgends konnte ich dich entdecken. Dann wurde die Kirchentür aufgerissen und Finn stürmte hinein. Sich wieder und wieder für seine Verspätung entschuldigend ergriff er die Schiebegriffe meines Rollstuhls und schob mich den Gang hinunter, während die Orgel flotte Musik zu spielen begann. Alle standen auf und klatschten.

Eigentlich wird die Braut ja von ihrem Vater geführt, dachte ich schmerzvoll . An welchen von meinen beiden Vätern ich in diesem Augenblick dachte, wusste ich selbst nicht so recht. Für einen kurzen Augenblick musste ich wieder lächeln, da ich es einfach für zu komisch hielt, zwei Väter zu haben, von dem sich einer auch noch auf einem ganz anderen Planeten befand.

 

›So, sind jetzt wirklich alle da? Können wir mit der Trauung endlich beginnen?‹,fragte der Kumpel und demnächst auch Kollege von Finn leicht grinsend.

 

Als Antwort bekam er von Finn und mir ein eifriges Nicken. Hoffnungsvoll blickte ich noch einmal hinter mich und erblickte dich tatsächlich an der Wand stehend. Für einen kurzen Moment konnte ich direkt in deine Augen blicken. Und es lag etwas ganz Seltsames in ihnen, das ich nicht richtig zu deuten vermochte. Mein Gott, wie ich diesen Menschen bloß mag, schoss es mir ganz plötzlich und so unerwartet durch den Kopf, dass ich vor lauter Schreck um ein Haar laut aufgeschrien hätte.

Das Letzte, das ich wie durch einen dicken Schleier mitbekam, war, dass Finn meine Hand in seine nahm und lächelnd zu mir hinunterblickte. Ich hörte noch, wie Finns Kumpel zu erzählen anfing, als mir plötzlich ganz komisch wurde und ich durch einen dunklen Tunnel fuhr, an dessen Ende ein helles, gemütliches Licht erschien. Zuerst dachte ich, ich wäre gestorben. Denn viele Sterbende fuhren gehen durch einen dunklen Tunnel, an dessen Ende sie ein helles, Hoffnung erweckendes Licht sahen. Jedenfalls hatte ich es schon mehrfach in Büchern, Zeitungsberichten gelesen oder in Fernsehberichten gehört. Aber wie durch ein Wunder fand ich mich im nächsten Augenblick an einem reich gedeckten Küchentisch wieder. Verwundert sah ich mich um und merkte, dass ich mich zwischen einer ganzen Schar von Menschen befand, die gerade über einen Witz lachte, den der ältere Herr mir gegenüber erzählt hatte.

 

›Zerlina, möchtest du noch etwas essen? Vom Gemüse mit der leckeren Soße vielleicht? Keine Sorge, in meinem gekochten Essen ist auch garantiert kein Fleisch oder sonstiges Tierisches!‹, informierte mich die junge Frau, die neben mir auf einem weich gepolsterten Stuhl kniete und mir das Essen reichte.

Komischerweise wusste ich sofort, wo ich mich befand und wer diese Leute waren. Auch fühlte ich mich bei ihnen auf Anhieb sicher und geborgen. Ich ließ meinen Blick von Einem zum Anderen wandern. Ja, ich konnte genau erkennen, dass es sich bei diesen Leuten um meine eigene, leibliche Familie handelte. Zuerst betrachtete ich meine elf Schwestern. Sie waren alle schlank und recht hochgewachsen, hatten große, leuchtende Augen, recht fein geschnittene Gesichtszüge und lange Haare. Es war sehr amüsant zu bemerken, dass sechs von ihnen blond und die anderen Sechs dunkelhaarig waren. Zwischen ihnen saßen teilweise meine Nichten und Neffen, die ihren Nachwuchs wiederum um sich geschart hatten. Anfangs hatte ich ein wenig Schwierigkeiten, recht auszumachen, welche von ihnen meine jüngeren Schwestern waren. Aber nach einigen Augenblicken wurde ich mir sicher, meine Schwestern genau zu erkennen.

Dann schaute ich zum allerersten Mal in meinem Leben auf meine leiblichen Eltern. Mein Vater hatte ein freundliches und liebes Gesicht, aus dem zwei ebenso freundliche und liebe Augen hervorsahen. Und obwohl er schon gute achtzig Jahre alt war, hatte er noch kein einziges graues Haar und wirkte auch sonst jung und frisch. Meine Mutter hatte rehbraune Augen, ebenso feine Gesichtszüge wie meine Schwestern und strahlte, ganz genau wie mein Vater, etwas vollkommen Liebes und Freundliches aus. Sie sah trotz ihres hohen Alters richtig jugendlich aus.

Nach einiger Zeit schaute meine Mutter mich an und lächelte. ›Na, meine Tochter, wie gefällt es dir denn so auf der Erde der Menschen? Wir haben schon viel Positives über dein Wirken dort gehört. Emma, die wir extra dafür ausgesucht haben, um dich in dein richtiges Hexendasein und in deine Lebensaufgabe einzuweisen, muss uns nämlich in regelmäßigen Abständen Bericht über dein Vorankommen erstatten. Wir glaubten, es wäre für dich zu viel, wenn du vom Leben als Hexe, deiner dir auferlegten Lebensaufgabe erfährst und dann auch noch von einer dir völlig unbekannten Person alles lernen musst. Allerdings durfte dir diese Person auch wiederum nicht allzu vertraut sein, weil sie dann vermutlich nicht streng genug gewesen wäre. Zudem hättest du dich womöglich zu sehr auf sie und ihr Können verlassen. Und somit schickten wir dir deine Großmutter Emma, die recht zufrieden mit dir ist. Ja, wir sind stolz auf dich. Das kann man nicht anders sagen. Und du wirst mit deiner Entdeckung genau das auf die Planeten zurückbringen, was im Laufe der Jahrtausende beinahe gänzlich abhandengekommen ist. Mach' nur so weiter! Hm, aber neulich, als Janica ihrer leiblichen Familie mal wieder einen Besuch abstattete, hat sie den Verdacht geäußert, dass du dich von Finn nicht mehr genug beschützt fühlst. Sie hat sogar erzählt, dass sie glaubt, ein anderer Mann sei in dein Leben getreten. Stimmt das?‹

 

Etwas unruhig rutschte ich in meinem Rollstuhl hin und her.

 

›Dir ist hoffentlich bewusst, meine liebe Tochter, dass du dafür Sorge trägst, dass Finn Schwelm irgendwann einmal hierhin zurückkehren und König unseres Nachbarlandes wird?! Und wenn er es jemandem am ehesten glaubt, der zu sein, der er ist, dann dir. Denn ihr beide habt so ein vertrautes Verhältnis zueinander wie nur wenige Paare.‹

 

›Mensch, Waltraud‹, schaltete sich plötzlich mein Vater ein, ›wenn Zerlina nun einfach keine Kraft mehr hat, diesem Sturkopf klarzumachen, ein so mächtiger Mann zu sein, ist es doch nur ganz klar zu verstehen, oder?! Sie hat in ihrem Leben schon so viel geleistet, dass ich meine, sie hat sich redlich eine Verschnaufpause verdient. Und vielleicht gibt es noch jemand Anderen, der Finn von seiner Wichtigkeit überzeugen kann. Wie wäre es denn, wenn der junge Mann eines Nachts, wenn auf der Erdhälfte der blauen Kugel, auf der Zerlina und er wohnen, beinahe alles schläft, einmal hierhin gebracht wird? Denn er hat ja gesagt, er würde es ohne Weiteres glauben, dass unsere kleine Welt existiert, wenn er sie mit eigenen Augen sähe. Das hat Zerlina wenigstens ihrer kleinen Momo erzählt, die das Janica erzählte.‹

 

›Ach, nee, auf einmal spielst du hier den verständnisvollen Papa, oder wie?! Wer, mein lieber Willibald, hat denn gesagt, es wäre eine reine Schande für unsere Familie und zugleich die reinste Katastrophe für unser Nachbarland, wenn unsere Tochter ihre zweite große Aufgabe nicht erledigt bekommt?‹, fragte meine Mutter und sah meinen Vater ein wenig erbost von der Seite an.

 

›Ja, du hast irgendwo schon Recht, Liebes. Aber meinst du nicht, dass unsere Tochter schon genug für Andere und für uns getan hat? Ich meine, sie bemüht sich jetzt darum, ein großes und wichtiges Teil auf den blauen Planeten zurückzubringen, und vielleicht sogar auf die übrigen Planeten.‹

 

›Tja, fragt sich nur, ob die anderen Hexen und Zauberer das den Menschen auch so mühelos nahelegen können wie sie. Du weißt genau, dass sie dies alles nur mit ihrer verständnisvollen, ruhigen und fröhlichen Art erreicht‹, sprach meine Mutter weiter auf meinen Vater ein und füllte sich noch etwas Gemüse auf ihren Teller.

 

›Ja, Waltraud, aber du weißt auch, dass sie den Anderen genau erklärt hat, wie sie es anstellen müssen, um mehr Wärme und Nähe auf die Welten zu bringen. Und ich meine, Verständnis und Warmherzigkeit kann wirklich jeder zeigen und dem Anderen entgegenbringen. Ganz egal, wer er ist. Er muss sich nur dem Anderen öffnen, sich für ihn interessieren und ihm helfen wollen. In diesem Punkt hat unsere Tochter Recht. Auch sollte er sich gut in die Lage des Anderen hineinversetzen können, damit er weiß, was und wie sein Gegenüber empfindet. Von daher wäre es zum Positiven, wenn unsere Tochter auf der blauen Erde bliebe. Wenigstens vorerst noch. Und außerdem haben wir es doch so eingerichtet, dass Zerlina diesen Jonas irgendwann kennen lernt, damit sie von ihren starken Rückenschmerzen befreit wird.“

 

„Wir wollten nur, dass Jonas Müller sie von ihren Rückenschmerzen befreit. Mehr war nicht geplant. Und wir glaubten, dass Moritz, ihr verstorbener Cousin, den wir ihr nachschickten, uns wieder mal irgendwelchen Blödsinn erzählt, um uns in Angst und Schrecken zu versetzen. Denn daran fand er ja schon immer seinen Spaß. Aus diesem Grunnd sind wir jetzt irgendwie selber Schuld. Und dieser Jonas scheint Zerlina wirklich zu mögen.", zischte meine Mutter gefährlich leise zwischen den Zähnen hervor.

 

„Wenn wir allerdings ehrlich sein wollen, war es Wolfram’s Idee, unsere Tochter mit diesem Jonas Müller bekannt zu machen. Er hatte halt von seinen heilenden Händen gehört. Wir können also nicht wirklich etwas, dass die Beiden sich kennen gelernt haben.“, antwortete mein Vater, leckte seinen Löffel ab und legte ihn auf seinen leeren Teller.

 

"Aber vielleicht hast du Recht, wenn du sagst, die anderen Hexen und Zauberer könnten die Art von Zerlina nicht so exakt übernehmen und sie an die einzelnen Planetenbewohner weitergeben. Allerdings würden Zerlina und Finn auch noch fünf bis zehn Jahre bei den Bewohnern der blauen Erde bleiben. Sie würde ja nicht gleich nächste Woche zu uns zurückkehren. Und vielleicht reicht diese Zeit aus, um den anderen Hexen und Zauberern zu erklären, wie sie die Menschen näher aneinander rücken lassen können.‹, überlegte meine Mutter plötzlich ganz ruhig geworden und blickte etwas geistesabwesend vor sich hin.

 

›Ja, du weißt, dass es unserer Tochter nicht gut geht, wenn sie Druck auf ihren Schultern spürt und glaubt, keine Zeit mehr zu haben. Genau dieses ist übrigens das Zweite, das sie auf dem Planeten Erde und bei den Menschen entdeckt hat. Die Menschen verspüren große Angst, nicht mehr genügend Zeit für wichtige Dinge zu haben.‹, erklärte mein Vater bestimmt weiter.

 

›Nun, bist du dir überhaupt im Klaren, dass ihr, meine liebe Tochter, wenn du Finn nicht zu uns zurückbringst, wirklich auf ewig auf der Erde bleiben müsst? Du würdest uns niemals wieder sehen‹ Plötzlich wirkte meine Mutter hilflos und traurig.

 

Ich spürte, wie vor Erschöpfung die Tränen in mir hochstiegen und wie meine Schwester, die neben mir saß und die ganze Zeit über schwieg, liebevoll den Arm um mich legte, mich sanft an sich drückte und flüsternd und beruhigend auf mich einsprach. Und auf einmal erkannte ich in meiner jüngeren Schwester, die die drittälteste von uns zwölf Schwestern war, Antonia. Darum hatte ich mich damals, als ich das allererste Mal beim Treffen auf dem Brocken dabei war, in Antonias Gegenwart so geborgen gefühlt. Ich hatte damals allen Anscheinen nach gespürt, dass wir leibliche Schwestern waren. Und aus diesem Grunde waren die Hexen und Zauberer vielleicht hinterher jedes Mal nervös geworden und sind meinen Fragen ausgewichen, wenn ich mich bei ihnen nach Antonia erkundigte. Doch auf einmal verwandelte sich die gemütliche Wohnküche mit der großen, tickenden Standuhr, den schönen Holzwänden und dem warmen Licht. Ich spürte, wie es kälter wurde und ich zu zittern anfing.

 

›Nein, ich möchte nicht wieder weg von euch‹, stöhnte ich leise auf, als sich unsere Wohnküche und meine Familie vor meinen Augen langsam aufzulösen begann, ›ich möchte jetzt zu Hause bleiben!‹

 

›Es wird alles gut werden, mein Kind!‹, hörte ich noch die Stimme meines Vaters sagen. Und erst in diesem Moment erkannte ich, dass mein leiblicher Vater der gute Engel war, der mich schon so häufig aus den Händen der Riesen gerettet hatte.

 

›Bitte wein' doch nicht‹, sagte meine Schwester und wiegte mich in ihren Armen sanft hin und her.

 

Verzweifelt versuchte ich, mich an meiner Schwester Antonia festzuklammern. Ich fühlte ihre warme, weiche Wange an meiner. Aber plötzlich spürte ich, wie die Haut dieser Wange etwas rauer wurde und einen leichten Dreitagesbart bekam. Und auch die Stimme meiner Schwester wurde auf einmal ein wenig tiefer.

 

 

XX

 

›Zerlina, komm', wach' bitte auf!‹, bettelte eine vertraute Männerstimme leise. Jemand schien mich ebenfalls in seinen Armen zu halten, als ich aus dem dunklen Tunnel wieder ins reale Leben auftauchte. Auch saß ich nicht mehr in meinem Rollstuhl in der Kirche vor dem Altar, wie vor meinem Besuch bei meiner leiblichen Familie, sondern lag halbwegs ausgestreckt auf einer Kirchenbank und irgendjemand streichelte liebevoll mein Gesicht. Dabei sagte sagte er in einigen Abständen leise meinen Namen. Langsam und mühsam öffnete ich meine Augen und glaubte im Nebel meiner nachhallenden Ohnmacht die Umrisse eines mir vertrauten Menschen zu erkennen. Leise stöhnte ich auf und versuchte, mich zu bewegen.

 

›Bleib‹ ganz ruhig liegen, Zerlina. Du bist ohnmächtig geworden.‹

 

Dann spürte ich, wie ich etwas aufgesetzt und mit meinem Gesicht sanft gegen eine Schulter gedrückt wurde, die mir Halt gab. Eine Träne rollte mir über die Wange. Und auf einmal konnte ich das heftige Schluchzen nicht mehr unterdrücken, das ich so lange Zeit mit aller Kraft zurückgehalten hatte.

 

›Es ist schon in Ordnung, Zerlina!‹, sagte der Mann leise und wiegte mich sanft in seinen Armen.

 

Finn! Jetzt erkannte ich den Mann endlich, in dessen Armen ich lag. Aber wie konnte dies sein. Stand ich vor wenigen Augenblicken mit ihm nicht noch vor dem Altar und wurde getraut? Was war passiert? Und war ich zwischendurch tatsächlich bei meiner leiblichen Familie auf dem Planeten der Hexen und Zauberer gewesen? Aber wie konnte das alles sein? Sicherlich träume ich dies alles nur und wachte jeden Moment in meinem Bett neben meiner kleinen, süßen und treuen Momo auf, dachte ich weiter. Allmählich kehrte Ruhe in meinen Körper ein, der Nebel vor meinen Augen verschwand und ich konnte wieder klar sehen.

 

›Finn«, kam es mir recht matt über die Lippen. Dann sah ich, dass die ganze Hochzeitsgesellschaft um uns herumstand und besorgt auf mich hinabblickte. Auch sah ich dich vor Finn und mir knien. Und Steff rief mit ihrem Handy gerade den Krankenwagen.

 

„Mensch, Mensch, Zerlina, was machst du für Sachen, hm?‹ fragte Finn mich außer sich vor Sorge.

 

»Was ist denn passiert?«, erkundigte ich mich leise.

 

»Tja, wenn du es nicht weißt, wissen wir es erst recht nicht. Du bist mit einem Mal in deinem Rollstuhl zusammengesunken und hast auf nichts mehr reagiert. Wahrscheinlich bist du vor lauter Aufregung ohnmächtig geworden,«, erklärtest du weiter. »was manchmal passiert.«

Dann nahmst du meinen Arm und versuchtest, mir den Puls zu fühlen.

 

»Und?«, fragte Finn.

 

»Soweit ich fühlen kann, ist alles in Ordnung. Aber aufgrund ihrer starken Zappelspastik ist es nicht einfach, ihr den Puls korrekt zu fühlen. Aber die Ärzte im Krankenhaus werden es gleich herausfinden, ob ihr Puls normal geht und was ihr fehlt.«

 

»Wer bist du eigentlich?«, erkundigte Finn nun plötzlich bei dir und versuchte, mich noch etwas weiter aufzurichten.

 

Du erklärtest ihm, dass du in Frankfurt Masseur und angehender Heilpraktiker seist und mich wegen meiner starken und immer wiederkehrenden Rückenschmerzen manchmal behandelst.

 

»Ach ja, von dir hat Zerlina mir schon einige Male erzählt. Denn erst vor Kurzem war sie ja wieder einmal in Frankfurt gewesen, um sich von dir behandeln zu lassen. Das stimmt.«, fiel es Finn jetzt wieder ein. »Hast du nicht auch heilende Hände? Zerlina hatte dies erwähnt. Sie sagte, du brauchst deine Hände nur auf ihren Rücken zu legen und schon wären ihre Schmerzen beinahe verschwunden. Stimmt das, dass du jemandem mit deinen bloßen Händen den Schmerz nehmen kannst? Und stehst du in Frankfurt nicht auch manchmal auf der Bühne und zauberst? Denn ich meine nämlich, Freunde von mir hätten das mal erzählt. Sie sagten, du seist echt gut.“

 

Und mit einem Mal erinnerte ich mich ebenfalls, dich schon auf der Bühne stehen gesehen zu haben. Es war noch zu der Zeit gewesen, in der ich in Frankfurt in der betreuten Wohngruppe gewohnt hatte und du noch gar nicht als Masseur gearbeitet hattest. Es war in der Turnhalle einer Schule gewesen. Du warst in der Tat sehr, sehr gut, manches Mal meinte man wirklich, es gehe nicht mit rechten Dingen zu. Bei dieser Erinnerung flog ein winzig kleines Lächeln über mein Gesicht.

 

"Ja, das Zaubern ist mein Hobby. Und einige Male im Jahr trete ich vor kleinem Publikum auf. Das stimmt. Aber ich glaube, wir sollten Zerlina jetzt erst mal nach draußen in den Sonnenschein bringen, damit sie sich wieder ein wenig aufwärmen kann. Denn sie zittert noch immer wie Espenlaub«, entgegnetest du schnell und beinahe schon ein bisschen verlegen.

 

»Das ist eine gute Idee«, gab Finn zur Antwort, stand mit mir auf dem Arm auf und ging nach draußen in den Sonnenschein und setzte sich auf die alte Friedhofsmauer. Die Sonne wärmte mich sogleich ein wenig auf, was mir unendlich gut tat. Meine Familie und Kira folgten uns nervös.

 

Wohl zehn Minuten später kam der Krankenwagen auf den Kirchhof gefahren. Schnell wurde ich auf die Trage gelegt und in den Krankenwagen geschoben. Mir blieb nur noch ein kurzer Augenblick, um zu dir herüberzublicken. Und du fandest auch kaum noch Zeit, mir zuzurufen, dass du auf einen Anruf von mir wartest, sobald es mir wieder besser ging, damit wir neue Behandlungstermine absprechen könnten. Dann stiegen Finn, Steff und Kira hinter der Trage mit in den Krankenwagen ein und die Türen wurden geschlossen.

Ich erfuhr eigentlich nie so richtig, weshalb ich während meiner Hochzeit zusammengebrochen war. War es wirklich deswegen gewesen, weil ich Finn gar nicht heiraten und mit ihm ein gemeinsames Leben führen wollte? Oder hatte Wolfram mich ohnmächtig werden lassen, da er sich ganz einfach in den Kopf gesetzt hatte, meine ewige Bindung mit Finn zu verhindern? Denn hatte meine Mutter während meines Ohnmachtsanfall nicht gesagt, dass es Wolframs Idee war, mich mit dir bekannt zu machen? Vielleicht wusste er ja, dass wir beiden miteinander viel glücklicher werden würden, als Finn und ich es jemals geworden wären. Ich konnte es nicht sagen. Vielmehr wollte ich den Grund für meine plötzliche Ohnmacht auch gar nicht wissen und wahrhaben. Denn noch immer war es mein striktes Ziel, meine leibliche Familie, meine zukünftigen Schwiegereltern und die Bewohner meines Heimatplaneten nicht zu enttäuschen und meine Lebensaufgabe gewissenhaft bis zum Ende weiterzuführen.

Da ich erst mal wieder zu Kräften kommen und mich erholen sollte, hatten Finn und ich unsere Hochzeit bis auf Weiteres verschoben. Stumm dankte ich Finn dafür, dass er noch kein neues Datum für unsere Hochzeit festgesetzt hatte.

Dafür konnte ich mich in den kommenden Tagen, während ich mich von meinen Assistenten, Steff, Kira und Finn in meiner Wohnung liebevoll noch ein bisschen pflegen ließ, umso besser an meinen Besuch bei meiner Familie erinnern. Und manchmal meinte ich, zu erahnen, aus welchem Grunde ich ohnmächtig geworden war und mich dann mitten in meiner leiblichen Familie wiedergefunden hatte. Immer, wenn ich in diesen kommenden Tagen spazieren ging, blickte ich sehnsuchtsvoll in den Himmel hinauf und versuchte auszumachen, in welche Richtung es zu mir nach Hause ging. Nachts blickte ich neben meinem Bett aus dem Fenster und fragte mich, ob man unseren Planeten wohl als Stern leuchten sah. Auch konnte ich mich außerordentlich gut an die Unterhaltung mit meinen Eltern erinnern. Meine Mutter hatte mich zwar dafür gelobt, dem blauen Planeten genau das Teilchen zurückzugeben, das verloren gegangen zu sein schien. Aber sie tadelte mich auch nicht gerade wenig dafür, dass ich es noch nicht geschafft hatte, Finn davon zu überzeugen, nicht zu den Menschen zu gehören, ein Königssohn und eine überaus wichtige Person zu sein. Plötzlich fühlte ich mich wieder unendlich schlapp und hatte das schmerzende Gefühl, wieder einmal versagt zu haben. Mein Vater hingegen schien stolz auf mich zu sein. Und es schien ebenfalls so, als ob er mich verstehen könnte, meine beiden Aufgaben noch nicht perfekt erledigt zu haben. Er hatte sogar einen Vorschlag gemacht, wie man meinem Freund glaubhaft machen könne, dass unsere kleine Erde tatsächlich existierte. Er hatte witzigerweise dieselbe Idee geäußert, die mir beim letzten großen Angriff auf Finn und mich gekommen war und die ich immer noch mit Janica besprechen wollte.

Mehrmals kamen Elena und Janica nach meinem Zusammenbruch vorbei, um nach mir zu sehen. Da Finn in Frankfurt wegen seines Umzugs nach München noch einiges erledigen musste, war er, nachdem es mir wieder ein bisschen besser ging, zurück nach Frankfurt gefahren.

Und eines schönen Nachmittags erzählte Janica bei einem ihrer Besuche mir dann von ihrer eigenen Idee. Sie sagte, ihr wäre schon vor längerer Zeit der Einfall gekommen, dass man Finn des Nachts einfach auf den Planeten der Hexen und Zauberer bringen und ihm dort alles zeigen könne. Vielleicht würde er dann tatsächlich alles für wahr hinnehmen. Natürlich würde es eine Zeit lang dauern, bis man ihn auf unserer kleinen Welt herumgeführt hatte. Denn, auch wenn es bei uns nur zwei Länder gab, so dauerte es doch einige Monate, bis man diese Kugel einmal umkreist hatte. Man brauchte ja schon gute drei bis vier Monate, ehe man bei uns ein Land bereist hatte. Immer wieder begegnete man einem Stamm, der einen gastfreundlich beherbergte und mit jedem Einzelnen seines Stammes bekannt machen wollte. Also würde Finn für längere Zeit weg sein. Janica erzählte weiter, dass es zwar strengstens verboten war, jemanden zwischendurch auf unsere Erde zu bringen, aber weil er für die Lebewesen lebenswichtig war, müsste man dies einfach tun. Mit einem äußerst breiten Lächeln im Gesicht erzählte ich Janica, dass mir diese Idee vor einiger Zeit ebenfalls gekommen sei und ich mit ihr über diese eigentlich schon längst hätte sprechen wollen.

 

›Und was ist mit dem Sauerstoff?‹, entfuhr es mir auf einmal besorgt und ängstlich. ›Denn je näher man dem Himmel kommt, desto weniger Sauerstoff ist doch vorhanden, bis man ganz hoch oben schließlich überhaupt nicht mehr atmen kann und in bitterer Kälte erfriert und zugleich verbrennt.‹

 

Finns Schwester grinste mich breit an und erzählte dann, dass sie ganz spezielle und besonders gut isolierte und gefütterte Sauerstoffanzüge hätten, von denen sie auch drei zu Hause hatte, da sie ja selbst manchmal im Weltall umherflog.

Auf die Frage hin, ob ich meinen Freund begleiten möchte, wusste ich nicht sofort eine Antwort. Einerseits hätte ich nur allzu gerne in der Realität gesehen, woher ich kam und meine Eltern und meine Schwestern wieder getroffen, andererseits befürchtete ich ja, dass wir niemals mehr auf die Erde der Menschen zurückkehren konnten, wenn wir einmal in unserer Heimat waren. Zwar waren unsere Lebensaufgaben noch nicht erledigt, dennoch sagte mir irgend eine Stimme, dass wir von unseren Familien nicht mehr zurückgelassen werden würden.

Trotz meiner Bedenken teilte ich Janica bei ihrem nächsten Besuch meine Entscheidung mit einem mulmigen Gefühl im Magen mit. Mit einem leichten, zufriedenen Lächeln auf den Lippen hörte sie zu, als ich in einem festen Tonfall sagte, dass ich Finn auf unseren Planetenbe gleiten wolle.

Aber weil ich noch immer schlapp war, riet meine Schwägerin mir, ich möge doch noch einige Tage auf der Erde der Menschen bleiben und Finn erst später  folgen. Und so geschah es, dass ich mich von meinem langjährigen Weg-begleiter gar nicht so richtig verabschiedet konnte. Mit einem Mal war die Nacht gekommen, in der er auf den Planeten der Hexen und Zauberer zurückgebracht werden sollte. Auch für Finn selbst war es eine ziemlich große Überraschung. In dieser Nacht schlief ich bei einer Freundin, die ein wenig auf mich achtgeben wollte. Janica hatte diese Nacht auch gar nicht so recht angekündigt. Sie tat es wohl deswegen, um mir nicht noch mehr ein schlechtes Gewissen zu machen. Und so kam es, dass ich Finn vor seiner Reise nicht mehr sah!

Gut zwei Wochen nach meinem Zusammenbruch in der Kirche ging es mir soweit wieder gut, dass ich für ein paar Tage nach Frankfurt fuhr, um meine allerletzten Behandlungstermine bei dir wahrzunehmen. Denn auf meinem Behandlungsrezept, das mir meine Hausärztin ausgeschrieben hatte, waren noch drei Behandlungstermine offen.

Und plötzlich ging alles rasend schnell mit uns beiden, erinnerte ich mich noch immer verblüfft. Eigentlich war nach meinem gescheiterten Heiratsversuch alles wie immer zwischen uns. Wir stritten uns über jede kleinste Kleinigkeit, lachten viel über uns selbst und baten uns bei Problemen gegenseitig um Rat. Und ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass ein Mann, der weder körperlich, noch geistig groß beeinträchtigt und zudem auch erst Ende zwanzig war, ohne Vorwarnung meinen ständig zuckenden Mund küsst. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«, lächelte ich meinen Mann nun leicht an und kuschelte mich noch ein wenig enger an ihn.

»Hm, ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich in diesem Moment gar nichts gedacht habe. Denn sonst hätte ich dich ja vermutlich nicht geküsst. Ich verspürte einfach ein großes Bedürfnis danach«, antwortete Jonas prompt und direkt.

 

Völlig verwirrt und konfus gingen wir nach dieser Behandlungsstunde auseinander. Ich wusste nicht, ob ich geschockt oder glücklich über diesen Kuss sein sollte. Allerdings glaube ich schon, dass ich überglücklich war. Aber das konnte und durfte ich mir in diesem Augenblick nicht eingestehen.«, sagte ich und lächelte Jonas ein wenig scheu und verlegen an. Per E-Mail einigten wir uns dann darauf, dass es wohl besser sei, wenn ich die beiden noch offenen Behandlungsterminen nicht mehr komme und zurück nach München reise. Auch wusste ich, dass unsere Zuneigung füreinander dir womöglich die Zulassung zum Masseur und Heilpraktiker kostet. Statt von dir behandelt zu werden, erhielt ich von jetzt ab an regelmäßig ellenlange E-Mails, die ich jedes Mal eifrig beantwortete. Und wieder fühlte ich mich wie in einem seltsamen Traum, aus dem ich diesmal aber niemals aufwachen wollte. Ich hatte regelrechte Panik, alles nur zu träumen, wenn ich morgens meine Augen aufschlug. Doch immer, wenn ich mich an meinen Laptop setzte, um meine Mails zu checken, sah ich, dass alles Realität war. Mit sehr großen Gewissensbissen dachte ich regelmäßig an Finn, der jetzt auf unserer Erde weilte, und von alledem nichts ahnte. Trotzdem fühlte ich mich immer glücklicher! Aber mir ist es immer noch nicht so ganz klar geworden, warum du dich in mich verliebt hast und dir deine Gefühle mit einem Schlag eingestanden hast.«

 

»Nun, vielleicht ist dies bei den Bewohnern der blauen Erde nicht üblich, aber höchstwahrscheinlich steckt auch in mir etwas Magisches? Hast du daran schon einmal gedacht? Zudem bin und werde ich bestimmt nicht der erste und der letzte Mann im Weltall sein, der sich in eine stark körperbehinderte Frau verliebt und über seine Liebe zu ihr all seine Bedenken und Zweifel über Bord wirft! Ich meine, du hast es doch schon selbst alles jahrelang mit einem anderen Mann durchlebt.«, erwiderte Jonas leicht amüsiert.

 

»Jonas, was ist wirklich passiert?«, fuhr ich ihn jetzt ein wenig heftig an und blickte ihm mich auf meinen Ellenbogen stützend direkt in die Augen. »Und warum bist du vorhin so hippelig geworden, als ich angedeutet habe, dass meine leiblichen Eltern deine von irgendwoher zu kennen scheinen? Was hat das alles zu bedeuten, Süßer? Seid ihr etwa auch welche von uns?

 

»Also gut!“, erwiderte Jonas ein wenig hektisch und blickte starr hinaus in unseren Garten. „Als du damals mit deinen starken Rückenschmerzen zu mir gekommen bist, die nach der allerersten Behandlung so weit zurückgegangen waren, dass du dich nachts im Bett wieder selbst umdrehen konntest, war ich zuerst nur guter Dinge und dachte mir nichts dabei. Zwar hatte ich in meiner beruflichen Laufbahn noch keine so starke Spastikerin behandelt, aber menschliche Körper ähneln sich nun einmal. Doch als du mich darum batest, meine Hand auf deinen Magen zu legen, als du gerade ziemliche Magenschmerzen hattest, und diese dann ebenfalls ganz plötzlich verschwunden waren, überlegte ich, ob das mit rechten Dingen zuginge. Einen Behandlungstermin darauf hattest du ziemliche Kopfschmerzen. Ich legte meine Hände auf deinen Kopf und nach ungefähr zehn Minuten waren auch diese komplett verschwunden. Langsam wusste ich tatsächlich nicht mehr, ob ich mich über diese Gabe freuen, ob ich stolz auf sie sein oder ob ich Angst vor ihr haben sollte. Denn auch bei Mirja, meiner Ex-Freundin, funktionierte das Handauflegen. Zwar nicht es so gut wie bei dir, aber sie spürte danach ebenfalls deutliche Linderung. Tja, und so begann ich, meine Gabe, die ich durch dich erst so richtig wahrgenommen hatte, auch bei meinen anderen Patienten ganz bewusst auszuprobieren. Und es funktionierte. Und jeder, der eigentlich nur für eine normale Behandlung zu mir kam, ging beinahe jedes Mal vollkommen schmerzfrei nach Hause. Dann erinnerte ich mich plötzlich daran, dass wir beide uns einmal über unsere Vorfahren unterhalten hatten. Auch wusste ich, dass du der festen Überzeugung warst, es gebe Menschen mit heilenden Händen. Aus Büchern und zahlreichen Erzählungen wusste ich, dass man heilende Hände nur erben konnte. Auch das „perfekte“ Zaubern konnte man nicht so ohne Weiteres erlernen. Und wieder dachte ich daran, wie meine Zuschauer immer meinten, man könne sich partout nicht vorstellen, wie ich diese so genannten "Zaubertricks" auf der Bühne zustande bringe. In einigen Augenblicken wusste ich es selbst nicht recht. So seltsam dies auch klingen mag! Ich wusste nur, dass es völlig unmöglich war, sich das richtige Zaubern und die heilende Hände im Laufe seines Lebens durch irgendwelche Übungen oder Lehrgänge anzueignen.Somit beschloss ich, Ahnenforschung zu betreiben. Meine Eltern hatten mir erzählt, dass unser Kontakt zu meiner Urgroßmutter mütterlicherseits eigentlich nie so recht stattfand. Aus diesen Geschichten konnte ich mir zusammenreimen, dass mehr dahinter steckte, als nur ein ziemlich heftiger Streit. Natürlich fragte ich meine Mutter mehrmals, warum sie sich so sehr gestritten hatten, bekam aber nie eine richtige Antwort. Leider war ich damals erst ein paar Tage alt, als meine Urgroßmutter starb. Ich wusste jedoch, dass im Schlafzimmer meiner Eltern eine große Holztruhe stand, die mich schon als kleinen Jungen immer wahnsinnig interessiert hatte, in die ich jedoch niemals gucken durfte. Keiner von uns sieben Jungs durfte jemals auch nur in die Nähe dieser großen und geheimnisvolle Truhe kommen. Unsere Mutter passte immer wie ein Luchs darauf auf und ließ uns nie allein ins Schlafzimmer. Und da sie uns erzählte, unser sprechender Papagei würde es ihr erzählen, wenn wir alleine in ihr Schlafzimmer gingen, wagten wir es nicht. Denn unser Papagei war wirklich ziemlich schlau und sprach auch richtig kluge Sätze. Am darauf folgenden Wochenende, nachdem ich den Entschluss gefasst hatte, Ahnenforschung zu betreiben, stattete ich meiner Mutter einen Besuch ab. Mein Vater war in diesen Tagen zu meinem zweitältesten Bruder nach Stuttgart gefahren. Unter dem Vorwand, bei meinen Eltern endlich mal nach den feuchten Wänden ihres schon recht alten Fachwerkhauses gucken zu wollen, fiel es gar nicht auf, dass ich ganz gemütlich durch die Zimmer schlenderte und mich darin ein wenig umsah. Zum Glück fuhren Mirja und meine Mutter an diesem Nachmittag zum Friedhof, um das Grab meiner Großeltern zu bepflanzen. Und anschießend wollten sie in einem Möbelgeschäft noch eine kleine Kommode für Mirjas und mein Schlafzimmer kaufen. Meiner Freundin hatte ich von meinem Vorhaben nichts erzählt, da ich wusste, dass sie die ganze Sache als puren Blödsinn abtun würde. Meine Mutter und Mirja wussten, dass ich es hasste, stundenlang in einem Möbelgeschäft zu verbringen, somit ließen sie mich ohne Bedenken im Haus meiner Eltern zurück.

Sobald die Beiden außer Hör- und Sichtweite waren, lief ich geradewegs ins Schlafzimmer meiner Eltern, ging zu der alten Holztruhe, die eher einer Schatzkiste glich, und öffnete nach und nach die einzelnen Schubladen. Zu meinem Glück hatte unser Papagei inzwischen bei Freunden meiner Eltern sein zu Hause gefunden. Zuerst fand ich nur belangloses Zeug, wie uralte Fotos von uns Kindern und sonstigen Krimskrams in den Schubladen. Ich hatte schon beinahe die Hoffnung aufgegeben, etwas Aufschlussreicheres zu finden und fragte mich gerade, warum meine Mutter diese Kiste wie ihren Augapfel hütete, als ich in der untersten Schublade gut versteckt auf ein ziemlich dickes Buch stieß. Zu meinem Erstaunen sah es ganz danach aus, als ob darin in regelmäßigen Abständen gelesen oder es zumindest immer mal wieder herausgenommen wurde. Der Einband war wirklich wunderschön und das  Buch schien sehr alt zu sein. Neugierig begann ich in diesem dicken Buch zu lesen, dessen Seiten eng und klein beschrieben waren. Es war aber eine wunderschöne Handschrift. Vollkommen sauber und sehr schwungvoll. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich auf dem Ehebett meiner Eltern hockte und unsere Familiengeschichte las. Kreuz und quer blätterte ich. Ziemlich weit hinten im Buch stieß ich dann auf die Textstellen, von denen ich gehofft hatte, sie zu finden. Unsere Familiengeschichte war seit Ende des 17. Jahrhunderts aufgeschrieben worden. Das konnte ich an den Daten erkennen, die am Anfang jeder Eintragung standen.

In diesen zwei, drei Stunden, in denen ich las, erfuhr ich, dass man meiner Urgroßmutter in ihrem kleinen Dorf in Rumänien, in dem sie als junge Frau lebte, nachsagte, sie stamme von den Hexen ab. Denn sie konnte Kranke durch das Verabreichen bestimmter Kräuter in bestimmter Mischung heilen. Auch war es ihr möglich, durch bloßes Handauflegen ihre Mitmenschen von körperlichen Schmerzen zu befreien. Den Dorfbewohnern erschien diese Gabe jedoch als teuflisch und mieden sie. Es wurde sogar behauptet, dass sie von einem anderen Planeten käme. Denn dies hatte sie angeblich mal zu ihren Freunden gesagt, die sie im Dorf hatte. Nun, und einige ihrer Freunde erzählten diese Geschichte sogleich fröhlich weiter. Ein eisiger Schauer lief mir bei dem Gedanken den Rücken hinunter. Die arme Frau musste wirklich sehr darunter gelitten haben. Und das Grausigste an der ganzen Sache war, dass ihre beiden Kinder ebenfalls aus der Gemeinschaft des Dorfes ausgeschlossen wurden. Selbst ihre Verwandten wollten aufgrund dieses Verdachts bald nichts mehr mit ihr zu tun haben. Selbst ihre eigenen Kinder und Enkel wandten sich im erwachsenen Alter von ihr ab. Menschen können manchmal wirklich so verdammt grausam sein.«

 

»Ja, und wenn man denn noch bedenkt, dass deine Großmutter vor gar nicht allzu langer Zeit gelebt hat. Man müsste doch meinen, dass die Menschen zu diesem Zeitpunkt schon ein wenig aufgeklärter waren. Allerdings wird in einigen Ländern dieser Erde noch heute Hexenverfolgung betrieben. Wie zum Beispiel in Westafrika oder in Südostasien. Selbst laut der deutschen Verfassung war bis neunzehnhundertsechzig die Hexenverbrennung in Deutschland erlaubt. Zum Glück wurde sie zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vollzogen«, entgegnete ich laut überlegend und starrte vor mich hin.

 

»Tja, und meine Urgroßmutter hat es scheinbar auch nie bestritten, eine Hexe zu sein. Ganz schön mutig und auch ein bisschen waghalsig von ihr.«, antwortete Jonas mir nun ebenso in Gedanken versunken. „Na ja, auf jeden Fall konnte ich mir nun so ungefähr vorstellen, woher ich meine heilenden Hände geerbt hatte. Doch bevor Mirja und meine Mutter wieder nach Hause kamen, stach mir noch ein ganz besonderer Satz ins Auge. Dieser Satz wies seinen Leser daraufhin, dass, wenn man sicher sein wollte, ein magisches Wesen zu sein, man sich an einem bestimmten Datum im April um Mitternacht dem besagten und berüchtigten Brocken im Harz nähern müsse. Genauer gesagt war es die Nacht des dreißigsten Aprils. Diese Nacht war die Nacht aller Hexen und Zauberer. Aber das weißt du ja. Und wenn man dann menschenähnliche Gestalten auf einem Besen durch die Luft reiten sehen und sie mit bloßem Auge von den großen Raubvögeln unterscheiden konnte, gehörte man unweigerlich zu den magischen Wesen. Denn die normalen Menschen konnten in der tiefen Dunkelheit eine Hexe oder einen Zauberer nicht von einem großen Raubvogel unterscheiden. In den hohen Lüften sehen die Zauberwesen sehr viel kleiner aus, als sie in Wirklichkeit sind. Leider musste ich unser Familientagebuch an dieser Stelle hastig zuklappen und wieder in die Truhe verstauen, denn Mirja und meine Mutter waren nach Hause gekommen. Schnell schloss ich leise die Schublade, stand auf und tat so, als ob ich die Wände Stück für Stück abtastete und begutachtete. Auf die Frage hin, ob ich jetzt endlich wüsste, was man gegen die feuchten Wände tun könnte, antwortete ich mit einem leichten und bestimmten Kopfnicken.

Nächtelang saß ich nun am Fenster und blickte in den dunklen Himmel hinauf. Doch leider entdeckte ich niemals ein menschenähnliches Geschöpf auf einem Besen. Ich fand diese Vorstellung auch recht albern. Denn fliegende Zauberwesen gab es doch nur in irgendwelchen Kindermärchen oder in bekloppten Filmen. Zwar wusste ich ja durchaus, dass es Menschen gab, die mit ihrem Wesen und ihrem Können etwas Außergewöhnliches zustande brachten, aber dass ein Lebewesen, das nicht zu den fliegenden Tierarten gehörte, sich aus eigenem Antrieb und eigener Kraft in die Lüfte erheben konnte, hielt ich für bloßen Humbug. Trotzdem musste ich immer wieder an meine Urgroßmutter und ihre heilenden Hände zurückdenken. Und plötzlich wusste ich, wohin ich mit Mirja während unseres Kurzurlaubs Ende April fahren wollte. Es sollte eine Überraschungsfahrt für sie sein. Denn wir waren dann mittlerweile vier Jahre zusammen.

Also buchte ich kurzerhand ein Zimmer in einem wunderschönen Gasthof, der mitten im Harz und nicht weit vom Brocken entfernt lag. Glücklicherweise freute sich Mirja sehr, als sie erfuhr, wohin wir fuhren. Und es war ein weiteres Glück für mich, dass sie im Normalfall immer verhältnismäßig früh schlafen ging und dann auch bald tief und fest schlief. Erst recht, wenn sie tagsüber viel gewandert war. Demnach konnte ich mich also in der Nacht dieses besagten Datums einfach leise aus dem Gasthof schleichen und zum Brocken wandern. Es war eine sternklare Nacht und der Vollmond schien beinahe so hell wie am Tage die Sonne. Ein wenig enttäuscht sah ich bei meiner Ankunft, dass der Berg ruhig und verlassen dalag. Trotzdem versteckte ich mich im Gebüsch, holte mein Fernglas heraus, das ich mir für diesen Urlaub extra gekauft hatte, und wartete ab. Mir schien es so, als ob die Minuten Stunden waren und bald schon glaubte ich nicht mehr daran, eine Hexe zu sehen. Aber plötzlich vernahm ich ein leises Rauschen in der Luft, das stetig anschwoll und schließlich so laut wurde, dass ich mir ein ganz klein wenig die Ohren zuhalten musste. Überrascht blickte ich hoch und entdeckte einen riesigen Vogelschwarm über mir sowie ich ihn noch nie gesehen hatte. Doch nicht nur dieser Schwarm war unvorstellbar groß, sondern auch die Vögel. Verwirrt und zugleich maßlos aufgeregt griff ich nach meinem Fernglas, schaute hindurch und erblickte lauter kleine menschenähnliche Geschöpfe am Himmel. Erschrocken, aber gleichzeitig auch höchst erfreut blieb ich in meinem Versteck sitzen und schaute zu, wie ihr alle über mich hinweg flogt. Wie war dies möglich? Konnte man den Geschichten von den Hexen und Zauberern tatsächlich Glauben schenken? Aber dass es diese magischen Wesen aus den Kindermärchen und Fantasiefilmen tatsächlich geben sollte, konnte ich einfach nicht glauben. Doch dann besah ich wieder meine Hände, erinnerte mich an mein doch nahezu perfektes Zaubern und dachte an diese Frau zurück, die Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Rumänien gelebt hatte, für eine Hexe gehalten wurde und unweigerlich zu meiner Familie gehörte. Und nun war es mir auch noch möglich, diese großen Vögel als menschenähnliche Lebewesen zu identifizieren.

Und dann auf einmal sah ich dich in deiner Sitzschale über mich hinwegfliegen. Das sah übrigens ziemlich süß aus. Ich saß in meinem Gebüsch und wusste nicht, ob ich wache oder träume, ob ich hysterisch auflachen oder weinen sollte. Erst als ihr nicht mehr zu sehen wart, ich zu frieren anfing und immer noch nicht aufwachte, wurde mir klar, nicht im Bett zu liegen und zu schlafen, sondern am Brocken im Gras zu kauern und euch zuzusehen, wie ihr vergnügt zu eurem Fest flogt.

In dieser Nacht konnte ich natürlich kein Auge mehr zutun. Und einige Tage nach Ende unseres Kurzurlaubes beschloss ich, mich für eine gewisse Zeit von meiner Freundin zu trennen. Ich wollte erstmal einen klaren Kopf bekommen und mir über das Leben eines magisches Wesen klar werden. Denn nun gab es keinen Zweifel mehr, kein herkömmliches Lebewesen dieses Planeten zu sein. Auch konnte ich mir während der Trennung von Mirja gleichzeitig über meine Gefühle für dich klar werden.«, beendete Jonas seine kleine Geschichte und drückte mich sanft an sich und gab mir einen Kuss auf die Stirn. »In der ersten Zeit war es natürlich noch schwierig und seltsam für mich, zu verinnerlichen, ein magisches Wesen zu sein. Manchmal glaubte ich, zu fantasieren. Erst nachdem wir zusammengekommen waren und ich deine drei Katzen miteinander plaudern hörte, wusste ich, dass ich mir diese Sache keineswegs eingebildet oder sie geträumt hatte. Ich meine, beim allerersten Mal, als ich von Momo, Hannes und Kimmy klare Worte vernahm, habe ich es ein bisschen mit der Angst zu tun bekommen und geglaubt, nun völlig verrückt geworden zu sein. Aber dann konnte ich mich erinnern, und das stand übrigens auch noch in unserem Familienbuch, dass nur wirkliche Zauberwesen Tiere sprechen hören konnten. Und dies funktionierte ganz besonders gut, wenn in diesen Tieren die Seelen verstorbener Verwandte von einem selbst oder von Menschen wohnten, zu denen man sich eng hingezogen fühlte. Und schließlich habe ich dich etwas gefragt, woraufhin du ahnungslos anfingst, mir einen Teil deiner Lebensgeschichte zu erzählen, die ich dann gerne komplett hören wollte«, fügte mein Mann nun erklärend und grinsend hinzu.

 

»D ... dann kannst du Momo, Kimmy und Hannes also doch verstehen? Oh, du Schuft!«, erkundigte ich mich etwas geschockt und zugleich wissend und knuffte meinen Mann kräftig in die Seite.

 

»Nun, was denkst du wohl, warum ich dich nicht ständig nach dem Thema eurer Unterhaltung frage? Zudem weiß ich auch immer auf Anhieb, was die Drei morgens und abends zum Essen haben möchten.«

 

»Ja, ich sage es dir auch jedes Mal.«, gab ich lachend zur Antwort.

 

 

 

 

 

 

 XXI

 

Doch etwas nachdenklich geworden ließ ich mich zurück gegen mein weiches Kissen fallen. Inzwischen war es in unserem Schlafzimmer schon dämmrig geworden. Ich hatte tatsächlich den ganzen Tag damit zugebracht, Jonas meine Lebensgeschichte zu erzählen. Mittlerweile lagen auch Kimmy und Hannes in unserem Bett und schnurrten zufrieden und träumten vor sich hin. Als ich schluckte, merkte ich, wie trocken meine Kehle in der Zwischenzeit geworden war. Denn auch wenn ich während des Tages mehrere Becher Früchtetee und Wasser trank, so hatte mir das lange Erzählen trotz alledem recht viel Speichel gekostet.

 

»Dann hat mein kleiner Mausmann also von deinen Vorfahren gewusst«, schoss es mir auf einmal durch den Kopf. »Und deswegen war es dann gar nicht so furchtbar schlimm, mich in dich verliebt und geheiratet zu haben. Denn du bist sozusagen einer von uns. Dabei habe ich mich andauernd gefragt, warum meine Familie dies nicht als reine Tragödie und Schande ansieht. Und selbst, als ich Janica und Elena mit vor Verlegenheit hochrotem Kopf und gesenktem Blick endlich beichtete, mich in dich verliebt zu haben und zu vermuten, ein furchtbarer Fluch breche nun über mich hinein, haben sie nur mit dem Kopf geschüttelt. Ja, sie beruhigten mich sogar und sagten, ich würde von meinen Leuten bestimmt nichts Schlimmes zu erwarten haben. Doch bevor ich Janica und Elena von meinen wahren Gefühlen für dich erzählte, stellten sie mich noch einmal vor die Wahl.“, begann ich nun mit dem Rest meiner Geschichte.

Denn da Finn sich auf unserem Hzeimatplaneten hervorragend machte und sich dort pudelwohl fühlte, hatte er beschlossen, nicht wieder auf die Erde zurückzukehren. Er genoss es in vollen Zügen, nicht mehr persönlich irgendwo helfend eingreifen zu müssen. Tja, und da unsere Eltern der Meinung waren, wir könnten unsere Lebensaufgabe auch von unserem Heimatplaneten aus zu Ende bringen, wurde es Finn ohne viele Worte gestattet, auf der Erde der Hexen und Zauberer zu bleiben.

 

›Nun, entweder bleibst du vorerst noch hier bei den Menschen oder du gehst in den nächsten Tagen mit Janica auf unseren Planeten‹, teilte Elena mir die beiden Möglichkeiten mit, als sie mich eines Abends ohne Janica besuchen kam. ›Denn die anderen Hexen und Zauberer wissen ja nun, was sie den Menschen nahelegen müssen, um es hier ein wenig wärmer werden zu lassen. Deswegen könntest du jetzt beruhigt nach Hause! Wenn du jedoch einmal bei uns zu Hause bist, kann es geschehen, dass du niemals mehr hierhin zurückkehrst. Denn, wenn ein Bewohner unseres Planeten, der sein Leben lang auf einer anderen Erde wohnte, zurückkommt, bleibt er normalerweise auch bei uns. Und selbst Finn könnten wir im Normalfall nicht wieder auf diesen Planeten zurücklassen. Somit musst du also damit rechnen, möglicherweise den Rest deines Leben bei uns zu bleiben. Zwar bist du die leibliche Tochter eines zukünftigen Königs, dennoch ist es dir keinesfalls erlaubt, zwischen zwei oder gar mehreren bewohnten Planeten zu wandeln. Denn da dieses schon deiner drittältesten Schwester gestattet ist, können wir es dir nicht auch noch erlauben. In jeder Königsfamilie wird nämlich nur ein einziger Nachkommen dazu auserwählt, im Weltall zu wandeln. Selbst deine leibliche Mutter darf nur im äußersten Notfall auf eine andere Erde reisen. Bloß dein Vater kann zwischen den bewohnten Planeten umherreisen. Du hast zwei Tage Zeit, dir noch einmal alles gründlich zu überlegen. Allerdings möchtest du wahrscheinlich so schnell wie möglich zu Finn, nicht wahr? Dennoch würde es dir erlaubt werden, noch eine Weile hier bei den Menschen zu bleiben, um dich noch ein wenig erholen zu können."

 

Die beiden kommenden Tage und Nächte grübelte ich, was ich tun sollte. Ich glaubte, mit dir restlos glücklich zu sein. Auch waren allmählich jegliche Schmerzen aus meinem Körper gewichen, die mich beinahe mein Leben lang plagten. Dennoch gehörte ich zu Finn. Und er hatte endlich begriffen, ein Königssohn zu sein und eine wichtige Rolle im Leben der Hexen und Zauberer zu spielen. Auch musste ich, wenn ich ganz ehrlich war, zugeben, dass ich noch immer ziemlich an meinem Verlobten hing und somit versuchen würde, wieder ganz und gar zu ihm zurückzufinden. Denn wir beiden waren nun einmal die vertrautesten Personen. Vielleicht bedeuteten mir die Tage, die ich mit dir bis hierhin verbrachte, in Wirklichkeit gar nicht soviel, wie ich glaubte. Aus diesem Grunde erklärte ich Janica am nächsten Abend, als sie wegen eines vergessenen Schlüsselanhängers noch einmal zu mir kam, dass ich in vier Tagen, sobald es dunkel geworden war, mit ihr auf unseren Planeten fliegen würde. Etwas verblüfft blickte sie mich von der Seite an, zuckte dann aber mit ihren Schultern und sagte, sie werde mal nach einem passenden Sauerstoffanzug für mich suchen, den sie in ihrem Kleiderschrank ganz bestimmt noch hängen habe.

Die ganzen kommenden vier Tage brachte ich damit zu, die Sachen zusammenzusuchen, die ich nicht hier zurücklassen wollte. Die Anderen würde ich mir später ganz einfach „nachzaubern“. Meine drei Katzen konnte ich sofort mitnehmen, was für mich das Allerwichtigste war. Ich sollte sie mit in meinen Sauerstoffanzug stecken. Hannes protestierte zwar ein bisschen, für längere Zeit in einen so engen und warmen Anzug gehen zu müssen, aber als Momo ihm zuflüsterte, sie könnten dann endlich mal wieder in aller Ruhe miteinander kuscheln, hörte er ganz plötzlich zu maulen auf.

Die Nacht, in der ich auf unseren Planeten fliegen sollte, war wolkig, aber recht warm. Als Janica durch mein halb offenes Fenster stieg, um mich abzuholen, war ich noch immer wach und suchte mit meinen Blicken mein Zimmer ab, ob ich an alles gedacht hatte. Neugierig begutachtete ich den seltsam aussehenden Sauerstoffanzug, der den halben Tag lang von außen an meiner Kleiderschranktür hing und aussah, wie ein grüner, langärmeliger und äußerst gut isolierter Hosenanzug aus einer Art Gummistoff. Ich bezweifelte, dass Momo, Kimmy, Hannes und ich genügend Platz darin finden würden. Janica hatte ihn mir an diesem Tage kurz vorbeigebracht, da sie ihn tatsächlich noch in ihrem Kleiderschrank gefunden hatte. Doch als Janica mir den Sauerstoffanzug an diesem Abend übergezogen hatte, musste ich erfreut feststellen, dass er wirklich groß genug war, um drei ausgewachsene Katzen darin mitzunehmen. Als ich fertig angezogen war, große Ähnlichkeit mit einem dicken Michelinmännchen hatte, diese Art "rundliche Käseglocke" auf dem Kopf trug, die außerhalb der erdnischen Atmosphäre irgendwie dafür sorgen würde, dass man während des Fluges genügend Sauerstoff bekam, meine drei Katzen wie ein Känguru vor dem Bauch trug und auf meinem Besen saß, blickte ich mich noch einmal in meinem hell erleuchteten Schlafzimmer um. Dabei sah ich plötzlich auf dein Foto, das noch neben dem Kopfende meines Bettes hing. Es war so, als ob in deinem Foto ein kleiner, aber äußerst starker Magnet steckte, der meinen Blick festhielt. Und dann brach ich vollkommen unerwartet laut weinend zusammen. Es geschah so plötzlich, dass ich mich selbst maßlos erschreckte. Ich konnte weder sprechen noch etwas fühlen. Ich saß nur da und weinte bitterlich. Nach einigen Augenblicken hob Janica mich stillschweigend aus der Sitzschale meines Besens, legte mich vorsichtig auf mein Bett und zog mir den doch recht unbequemen und warmen Sauerstoffanzug aus. Aber anstatt mit mir zu schimpfen oder mir schwere Vorwürfe zu machen, strich sie mir nur liebevoll durchs Haar, lächelte mich an und sagte in einem sanften und beruhigenden Ton: ›Es ist alles in Ordnung, Zerlina! Du kannst hier auf der Erde bei den Menschen bleiben. Du hast schon so viel Gutes hierher gebracht, dass wir alle mächtig stolz auf dich sind. Bleib' hier und werde richtig glücklich, ja? Du bist eine recht starke Frau, die sich nur schwer verbiegen lässt. Und das ist gut so!‹

 

Komisch, dachte ich, kurz bevor ich wenig später in einen tiefen Schlaf fiel, Finn hat sie mit keiner einzigen Silbe erwähnt. Ob es ihm wohl gut geht? Ich hoffe es jedenfalls!

 

›Ich hätte es auch keine Viertelstunde mit euch beiden, oder besser gesagt mit euch drei Frauen in diesem ekelhaften und stickigen Anzug ausgehalten!‹, maulte Hannes wieder einmal sehr ungehalten, sobald er sich wiieder frei in meiner Wohnung bewegen konnte, und lief schnurstracks und überaus glücklich zu seinem Korb und legte sich schnurrend hinein.

 

Zum Glück hatte ich den Pflegedienst noch nicht gekündigt, so dass meine Assistenten am nächsten Morgen wie gewohnt zu mir kamen. Auch hätte ich gar keinen Grund für meinen so plötzlichen Weggang zu nennen gewusst, sodass ich mich nach längerem Überlegen dazu entschloss, einfach heimlich, still und ganz leise zu verschwinden.

Natürlich vermisste ich Finn in der ersten Zeit ziemlich stark. Aber komischerweise fehlte er mir nicht so sehr als Mann, sondern vielmehr als bester Freund.

 

„Und ich glaube, mein kleiner Brummelbär, wir sind uns in unserem jetzigen Leben schon so häufig begegnet. Außer jetzt natürlich, bei den zahlreichen Massageterminen und das eine Mal in der Turnhalle in Frankfurt, in der du deine Zauberkunststücke vorführtest. Aber weil wir glaubten, ganz normale Menschen zu sein, die keinerlei Gemeinsamkeiten haben und sich deshalb nicht füreinander interessieren dürfen, bemerkten wir uns nicht. Denn bei den Erdenbewohnern muss ja immer alles zusammenkommen, was auch äußerlich recht gut zusammenpasst.«, murmelte ich. „Nun, und ich meine, mich an einige Augenblicke sogar erinnern zu können, in denen ich dich gesehen und leider auch gleich wieder verloren habe.“

 

»Hm, anscheinend habe ich in meinem Leben die Aufgabe zugewiesen bekommen, den Menschen durch Handauflegen all ihre körperlichen Schmerzen zu nehmen. Aber sag' mal, Süße, woher ist eigentlich auf einmal das ganze Geld für unsere Hochzeit gekommen? Denn du hattest plötzlich so viel Geld auf deinem Konto, dass du mich fragen konntest, ob ich dein Ehemann werden möchte. Zwar heirateten wir nur standesamtlich und feierten mit zehn von unseren engsten Freunden und unsere beiden Familien in einem gemütlichen Restaurant, das vor fünfzig Jahren einmal ein Bauernhaus mit Viehställen war, aber trotzdem kostete unsere Hochzeit doch „etwas“ Geld!, erkundigte und wunderte Jonas sich im leisen Ton.«

 

"Oh ja, unsere Hochzeit war wirklich total schön!", entgegnete ich ebenso leise und lächelnd. »Komischerweise hat sich meine Familie gar nicht daran gestört, dass ich dich, anstatt Finn geheiratet habe. Hm, bist du eigentlich etwas enttäuscht, dass ich dir einen Heiratsantrag gemacht habe?«, zwinkerte ich meinem Mann jetzt zu und legte meinen Arm um seinen Hals. "Denn manches Mal habe ich wirklich den Eindruck, dass du mich gerne gefragt hättest, ob ich deine Ehefrau werden möchte."

Aber mehr als ein leises Brummen und ein Paar vor der Brust verschränkter Arme bekam ich von meinem Ehemann leider nicht zur Antwort.

 

»Nun, und um deine Frage zu beantworten, muss ich dir leider sagen, dass ich wirklich nicht die geringste Ahnung habe, woher das plötzliche das Geld auf meinem Konto kam. Aber vielleicht war es ja tatsächlich Wolframs dringender Wunsch, dass ich dich heirate und er mir deshalb so viel Geld zauberte. Denn wer weiß, ob er nicht doch etwas mehr an Magie in sich trägt als vermutet, zumal er noch immer in normaler Menschengestalt auf der Erde wandelt. Und für meine ganzen Reisen hatte ich seltsamerweise ja auch immer genügend Geld. Ach, Brummelbär, wer kann schon sagen, was für Phänomene es auf der Welt gibt? Jedenfalls reichte das Geld noch aus, um in die Niederlande auszuwandern und dieses kleine, wunderschöne Häuschen am äußersten Stadtrand von Groningen zu kaufen. Denn ohne es so richtig vom Anderen gewusst zu haben, hegten wir schon lange den Wunsch, in einem anderen Land zu leben. D?ie Deutschen waren uns immer viel zu spießig. Na ja, und die Niederländer zum Beispiiel gehen wirklich sehr viel offener miteinander um. Überhaupt mit ihren Mitmenschen, die in anderen Ländern so konsequent an den Rand der Gesellschaft gedrängt werden.", lächelte ich Jonas an und zog ihn sanft zu mir herüber.

 

In der folgenden Nacht, nachdem ich Jonas meine ganze Lebensgeschichte erzählt hatte, besuchten Emma und Wolfram mich zum allerletzten Mal.

 

»Da du ja jetzt weißt, wer du bist und was für eine Aufgabe du in diesem Leben erledigen musst, können wir uns beruhigt in unser Grab legen, zu Staub zerfallen und darauf warten, bis auf irgendeinem bewohnten Planeten ein neuer, kleiner Körper geboren wird, in den unsere Seele einfahren und weiterleben kann. Denn, wie du weißt, durften wir nur deshalb noch auf der blauen Erde wandeln, um dir alles zu erklären und dir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.Wir schliefen übrigens die ganze Zeit über in einer Art Grotte etwas abgelegen der Stadt und in unserem kompletten Körper in Särgen. Wir zauberten uns die Särge extra für diesen Zweck. Denn du wundertest dich ja immer, warum Emma und ich noch so unversehrt aussehen. Doch weil du nun über dein Hexendasein Bescheid weißt und somit allein zurechtkommst, müssen wir verschwinden, zu Staub zerfallen und wieder in unsere Urnen zurückkehren.«, erklärte mein Vater und lächelte mich an und strich mir sanft übers Haar.

»Mach's gut, meine Kleine! Ich bin mir sicher, dass du weiterhin alles so meisterst, wie es von dir verlangt und erwartet wird. Allerdings wirst du nun doch nicht die Prinzessin oder besser gesagt die Königin des Landes der vierzehn silbernen Seen. Aber dafür wirst du hier auf der Erde noch so Manches zum Guten wenden. Da bin ich mir sicher. Denn es war schon lange keine Hexe mehr auf irgendeinem Planeten des Weltalls, die ihre Lebensaufgabe so mutig, zielstrebig, eisern, genau und mit so viel Freude entgegennahm, wie du. Du hast viel erreicht, Zerlina. Auch wenn du das im Augenblick noch nicht alles siehst. Selbst den Papst hast du ein wenig überzeugen können. Und mit diesem Mann da an deiner Seite«, dabei deutete Papa auf Jonas, der schlafend und leise vor sich hin schnarchend neben mir lag, »schaffst du einfach alles. Ja, selbst deine starken Rückenschmerzen in den Griff zu bekommen. Und in unserem nächsten Leben werden wir uns bestimmt wieder begegnen. Ich freu' mich schon darauf, mein kleines Töchterchen!«

 

»Tja, ich gebe es zwar nicht allzu gerne zu, aber dein Vater Wolfram hat wieder mal Recht mit dem, was er gesagt hat. Auch hast du Glück, dass Jonas' Urgroßmutter tatsächlich eine von uns Hexen war. Denn sonst hättest du deinen jetzigen Ehemann niemals heiraten dürfen. Und Jonas' Urgroßmutter sollte die Menschen ebenfalls zu mehr Toleranz und Mitgefühl bewegen. Allerdings war sie, nachdem man ihr mitteilte, wer sie ist und welche Lebensaufgabe sie zu erledigen hat, so unvorsichtig und hat es einigen ihren Freunden erzählt, die sie unter den Menschen gewann. Na, und somit outete sie sich als wahrhaftige Hexe. Tja, und was daraufhin geschah, hat Jonas dir heute Abend erzählt. Ja, und ich meine ebenfalls, dass deine leiblichen Eltern stolz auf dich sein können. Denn du hast wirklich einiges auf diesem Planeten bewerkstelligt sowie Wolfram es eben gesagt hat. Und deine Eltern sind auch stolz auf dich. Das weiß ich! Aber kauft oder zaubert euch demnächst mal bequemere Sessel, auf denen man vernünftig sitzen kann.«, krächzte Emma plötzlich wieder so schrill und durchdringend wie bei ihrem zweiten Besuch bei mir.

„Außerdem solltest du dir noch mal überlegen, ob du keinen kleinen Ableger von dir produzieren möchtest, der genau dieselben Augen und dieselbe beruhigende, fröhliche Art wie du hat und später alles weiterführt. Na, aber da du eine Hexe bist und eine sehr viel höhere Lebenserwartung als ein Mensch hast, kannst du dir diese Sache noch ein ganz klein wenig durch den Kopf gehen lassen.«

 

Ein wenig verträumt blickte ich zu dir hinüber und spürte plötzlich, wie gerne ich mit dir eine eigene kleine Familie hätte. Denn auch Du solltest deine Gene unbedingt weitergeben. Aber da ich mir bewusst war, niemals auf die Erde der Hexen und Zauberer zurückkehren zu können und unser Kind dadurch größtenteils ohne seine leiblichen Großeltern und seine zahlreichen Tanten, Nichten und Neffen aufwachsen müsste, verwarf ich diesen Gedanken gleich wieder.

Dann kam mein Vater noch einmal zu meiner Bettseite hinüber, beugte sich zu mir hinunter, küsste mich zum allerletzten Mal und verschwand mit seiner Mutter genauso plötzlich, wie sie aufgetaucht waren.

 

»Toll! Und mich hat natürlich mal wieder niemand erwähnt«, schmollte Momo. „Dabei habe ich deine Leute doch so tatkräftig unterstützt. Noch nicht einmal deine Nummer eins bin ich mehr. Bei Finn war ich es noch. Aber nun bei Jonas nicht mehr. Jede Nacht liegt er schnarchend neben dir. Es ist einfach kein Platz mehr für mich bei dir!«

 

»Oh doch, Momo, du stehst bei mir immer an allererster Stelle sowie Kimmy und Hannes auch. Möge kommen, was da wolle!«, murmelte ich mit Tränen in den Augen und kuschelte mein Gesicht in ihr weiches, glänzendes Fell.

 

»Na, wenigstens etwas«, kam es grummelnd aus dem zusammengerollten, grauweißen Fellball neben meinem Kopf hervor.

 

Nach dieser Nacht träumte ich dann nie wieder, die Menschen dieser Erde nicht genügend zu beschützen. Vielleicht waren meine Eltern tatsächlich mit mir zufrieden.

Auch die Riesen sah ich niemals mehr wieder. Nur hier und dort hörte ich von irgendeiner Hexe oder irgendeinem Zauberer, dass die Riesen manchmal noch auf dem blauen Planeten umher spazierten und sich unter die Menschen mischten. Dabei versuchten sie jedoch niemanden mehr, Angst einzuflößen oder ihn mit Gewalt auf ihre Seite zu ziehen. Sie hatten einfach bemerkt, dass sie respektiert und toleriert wurden und verspürten somit keine Angst, Trauer oder Wut mehr.

Allerdings bin ich noch lange nicht fertig, helfend bei den Menschen einzugreifen. Morgen würden ich und einige der anderen invaliden Zauberwesen uns weiter darum bemühen, auf diese Erde etwas mehr Empathie und Respekt zu bringen. Auch würde ich mich bemühen, die unverdorbene Fröhlichkeit hierhin zurückzuholen, die direkt aus dem Herzen kam. Finn würde sich in einigen Jahren bemühen, aus den Neugeborenen von derr Welt der Hexen und Zauberer tüchtige, kleine Wesen auszusuchen, die die anderen belebten Planeten vor Ungerechtigkeiten schützten.

Aber ob es uns gelingt, die Welten vor ihrem Untergang zu schützen, hängt auch von der Unterstützung der Menschen und den anderen Planetenbewohnern ab. Im Jahr 2020 allerdiings wurde unser Können noch einmal auf eine ganz besonders harte Probe gestelllt. Als nämlich das vermeintliche Coronavirus unter den Menschen des blauen Planeten ausbrach. Auch meine über alles geliebte Kira verstarb am 31. Januar des Jahres 2023 in meinen Armen an den Nebenwirkungen der Coronaimpfungen. Mir war es einfach nicht möglich, sie zu retten. Neben mir waren Viele von meinen Mitstreitern in diesen Jahren versucht, ihre zugeteilte Lebenssaufgabe nicht weiterhin auszuführen und auf Ewig zu verschwinden. Wir waren schlichtweg fassungslos, wie so etwas Abgrundtiefes in den menschlichen Bewohnern stecken konnte. Zumindest in recht Vielen. Doch nichtsdestotrotz konnten wir die Lebewesen, die seit Beginn an bei Mama Erde waren, keineswegs ihrem gewaltvollen und entgültigen Ende überlassen. Denn ohne diese außerordentlich liebevollen, gutmütigen und tatkräftigen Wesen war dieser unglaublich schöne Planet für immer verloren. Aus diesem Grunde blieben die Hexen und Zuberer!

 

Nun, und vielleicht hat der Eine oder der Andere während des Lesens dieses Buches ja die Energie erfahren, mit uns gemeinsam die grenzenlose Fürsorge, die grenzenlose Liebe unnd die Magie der Empathie auf diese Wellt herbeizuzaubern.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Epilog

 

Nun, man sollte sich als Mensch wirklich jeden einzelnen Tag danach fragen, wer man eigentlich ist. Denn, bevor ich Ende 2010 für gute drei Jahre lang engen Kontakt zu strenggläubigen Menschen hatte, hegte ich ebenfalls eine mehr oder weniger bewusste, recht hohe Arroganz in mir, für die ich mich im Nachhinein stark schäme. Ich stehe nämlich keineswegs über den Pflanzen und über unseren etwas mehr behaarten Vorfahren, sondern bin nur ein klitzekleines Licht inmitten dieser unglaublich schönen Natur, die das Komplette dieser Welt ist.

Aus diesem Grunde kann ich also behaupten, dass die Menschen, die einen menschenähnlichen Gott anbeten, mit ihrer Weltanschauung der Auslöser dafür waren, mich endlich darauf zu besinnen, wer ich eigentlich bin und woher ich komme und die dringende Bitte von Mutternatur zu empfangen, sie stets gut, äußerst liebevoll zu behandeln und mich ihr kommentarlos und demütig unterzuordnen.

 Auch gedachte ich häufig den armen, vollkommen wehrlosen Tieren und Pflaanzen, die Tag für Tag für uns Menschen auf wirklich bestialische Art und Weise gequält, gefoltert und getötet werden.

In diesem Zusammenhang gedachte ich ebenfalls meinem Kaninchenweibchen, Pauline, das mich am 31.07.2022 mit ihrer bloßen geistigen Energie und Willenskraft aus unserer brennenden Wohnung hinausbrachte! Denn zuvor rettete auch ich sie dreimal vor dem sicheren Tode.Und ihre liebevolle Revanche und reine, vollkommen angstfreie Selbstlosigkeit war es nun, mich gleichfalls vor dem sicheren Tode zu bewahren.

Ja, es ist wahrhaftig dringend an der Zeit, Muttererde für ihre Heldentaten von ganzem Herzen zu würdigenzN!!!

 

Einen aufrichtigen respektvollen und sehr tiefen Dank hierfür!!!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bei desen folgenden Person möchte ich mich ganz besonders bedanken:

 

Merle Plath

 

Jacob Plath

 

Emmy Plath

 

Martha Plath

 

Adam Plath

 

Emil Plath

 

Wilhelmine Plath

 

Alexandra Kohlhaus-Gessner

 

Holger Swart

 

Annette Winkel

 

Melanie, Lena und Lara-Sophie Stecknitz

 

Maren Stecknitz, die leider viell, viel zu früh von diesem Planeten ging!!!!

 

Mandy Stumpe

 

Corinna Lobgesang

 

Elke Brückner

 

Jannick Bolus

 

Christine Reinhardt

 

Ulrich Rademann

 

Sigrid Pigula

 

Kyra Rendigs

 

Antalia Rheineck

 

Anna Pietsch

 

Anika Petersen

 

Elsa Sanches

 

Björn Gast

 

Antje Gündner

 

Riko Milinski

 

Ibrahim Örs

 

Mirco Dalos´

 

Aanja Henseler

 

Felix Adam

 

Andreas Kattenstroth

 

Wolfgang Friedrich Plath

 

Helga Maria Margarethe Stannebein

 

Rainer Stannebein

 

Sylvia Margarethe Erna Plath

 

Frauke Plath

 

Aimo Plath

 

Svenja und Arya Skopp

 

Nina, Lilli und Louis Plath

 

Nele Plath

 

Silke Plath-Schilmöller

 

Cay und Jannes Plath-Schilmöller

 

Brigitte und Werner Paul Wilhelm Pünjer

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.10.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch widme ich: Ibrahim Örs, der am 01.04.2018 mit nur 33 Jahren unerwartet verstarb und ein total toller, liebenswerter Kumpel war!!!! Sonja Stecknitz, die am 31. Januar 2023 mit nur 56 Jahren an den Coronaimpfungen in meinen Armen verstarb!!! Pauline Plath

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