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Der Weihnachtswolf


                       

 

 

 

Ein weihnachtliches Märchen

 

Von Jessika M. Reiter

 

 

 

Vorwort

 Was glaubt ihr, was passieren kann, wenn man sich nur ein schönes Weihnachtsfest zu Hause wünscht? Nicht viel, meint ihr? Ich kann euch sagen, sehr viel. Ich werde euch nun die Geschichte meiner besten Freundin erzählen 

1. Überraschender Besuch

 

Alles begann vier Wochen vor Heiligabend. Bekki schob ihr letztes Blech mit Plätzchen in den Backofen, während die fertigen bereits auf dem Küchentisch abkühlten. Nebenbei räumte sie die Küche auf und rührte die Rumglasur an. Mit der wollte sie ihrer letzten Sorte, den Rumkringeln, eine leckere Dekoration verpassen. Bekki hatte nicht auf die Zeit geachtet, als ihr plötzlich ein übler Geruch in die Nase stieg.

»Mist, ich hab vergessen, die Eieruhr zu stellen. Echt klasse, ausgerechnet meine Lieblingssorte.« Fluchend und grummelnd holte sie das Blech mit den verbrannten Keksen aus dem Ofen. Ohne weitere Betrachtung wanderten diese in den Biomüll.

»Echt schade darum. Na ja, meine Hüften werden es mir danken, das sind ein paar Kilos weniger, die ich mir an Weihnachten drauffuttern werde.«

Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie noch eine gute Stunde Zeit hatte, bevor sie sich umziehen und auf den Weg machen musste. Heute Abend wollte sie mit den Mädels von der Line-Dance-Gruppe auf eine Weihnachtsparty gehen. Dieses Fest fand zum ersten Mal in dieser Form statt. Für diesen Abend haben sich sogar richtig viele von uns angemeldet. Es kann also nur ein schöner Abend werden, überlegte sie mit einer Vorfreude, endlich wieder das Tanzbein schwingen zu können. Gleichzeitig war Bekki sehr gespannt darauf, ob der Saal eher im Countrystil oder sogar weihnachtlich geschmückt war. Vielleicht mit einem Weihnachtsbaum, der mit kleinen Cowboyhüten, -stiefeln und rot-blau-weiße Girlanden behängt war? Die Vorstellung half ihr, über den Frust der verbrannten Rumkringel hinwegzusehen. Flink glasierte sie die übrigen Plätzchen fertig, dabei verschwand hin und wieder eins in ihrem Mund. Am Ende musste sie sich sogar beeilen, um noch rechtzeitig fertig zu werden.

Wie immer überpünktlich, nämlich genau zehn Minuten zu spät, stand Nina vor der Tür, um Bekki abzuholen.

»Sorry, konnte mich nicht entscheiden, welche Cowboystiefel ich heute Abend anziehen soll«, sagte sie hastig, sobald Bekki ihr die Tür geöffnet hatte, anstelle einer Begrüßung.

»Kein Problem«, lächelte Bekki milde.

Sie wusste, dass Nina immer zehn Minuten später kam, als ausgemacht war. Doch trotz ihrer Verspätung lagen sie noch gut in der Zeit. Auf dem Fest nahm es keiner so genau, ob man zehn Minuten früher oder eine halbe Stunde später eintrudelte. Zügig schlüpfte Bekki in ihre Cowboystiefel. Ihre Wahl viel schneller aus, denn sie hatte nur zwei Paar und keine zehn wie Nina. Vor dem Hinausgehen griff sie nach ihrer Jacke, die am Garderobenhacken hing.

»Ich wär soweit, wir können los«, nickte Bekki ihr zu und verschloss die Haustür.

»Super, die anderen werden bestimmt schon auf uns warten.«

»Bestimmt, macht aber nichts, die könnten für uns ja schon mal etwas zum Trinken bestellen«, schlug Bekki lachend vor, und stieg in Ninas Seat-Kombi ein.

»Besser nicht, sonst bestellt mir noch jemand ein Bier.« Bei dem Wort »Bier« musste sich Nina schütteln. »Ich lebe zwar in Bayern, aber an den Geschmack vom Bier kann ich mich einfach nicht gewöhnen. Da lobe ich mir lieber ein schönes Glas Wein.«

»Der Meinung bin ich auch, auch wenn ich Kaffee bevorzuge.«

»Ja, Bekki, du und dein Kaffee.« Kopfschüttelnd startete Nina den Wagen und fuhr los.

Die Fahrt nach Blaubeuren dauerte nicht allzu lange. Nach einer Dreiviertelstunde fuhren sie auf den Parkplatz vor dem Gemeindehaus. Dort warteten bereits die anderen Mädels auf sie. Nachdem Nina das Auto abgestellt und beide ausgestiegen waren, begrüßten sie sich alle mit einer fröhlichen Umarmung.

»Sind alle da oder fehlt noch jemand?«, wollte Nina wissen und sah sich in der Runde um.

»Ja, Franzi fehlt noch«, rief Kerstin von hinten.

»Nein, die fehlt nicht, da kommt sie gerade«, wies Lena in die Richtung, aus der Franzi eben mit ihrem Honda auf den Parkplatz einbog. Kaum war sie ausgestiegen, rief Nina über die lärmende Menge hinweg: »Gut, dann sind wir ja vollzählig. Auf geht’s, gehen wir geschlossen hinein.«

Gespannt steuerten die Mädels schwatzend und lachend auf den Eingang zu. Die Vorfreude auf einen lustigen Abend war ihnen anzusehen. Dort standen, wie erhofft, sogar zwei große Weihnachtsbäume, die sie mit bunten Blinklichtern begrüßten. Geschmückt war er nur mit farbigen Girlanden und den Fähnchen mit dem Logo der Line-Dance-Vereine. Bekki hätte sich die Optik allerdings mehr im Country-Stil gewünscht.  Der Saal hingegen sah aus wie ein Saloon, und neben der Bar gab es einen weiteren Weihnachtsbaum mit derselben Deko. Im Großen und Ganzen war die Dekoration nach Bekkis Geschmack. Nachdem sie ihren Eintritt bezahlt hatten, suchten sie sich einen Tisch in der Nähe der Tanzfläche. Hoffnungsvoll sah sich Bekki nach bekannten Gesichtern um. Als sie Kurt und Alex von der befreundeten Gruppe der Star-Stomps-Dancers sah, steuerte sie direkt darauf zu.

»Hi, Jungs, schön euch wiederzusehen. Wie geht’s, wie steht‘s?«

»Hallo, Bekki, super, und dir?«

»Wie immer, danke. Was denkt ihr, welchen Tanz wir heute in dem Workshop lernen?«

»Keine Ahnung, vielleicht ›Blue Jeans‹?«, spekulierte Kurt.

»Ich hätte nichts dagegen, wenn wir ›White Rose‹ lernen. Denn hab ich mir mal im Internet angesehen. Das Lied gefällt mir so gut, und der Tanz sieht mega aus.«

»Gute Frage«, überlegt Alex. »Lassen wir uns einfach überraschen.«

 Kurz unterhielten sie sich noch über das letzte Fest, bis der Workshop begann. Nachdem sich alle Tänzer in Reihen aufgestellt hatten, begann Miriam, ihnen die ersten Schritte beizubringen. Mit hochgezogenen Augenbrauen sah Bekki auf die Bühne, auf der Miriam mit dem Mikrofon stand.

»Hallo, Freunde, es ist schön, dass heute wieder so viele von euch da sind. Heute zeige ich euch den Tanz ›Strangers‹, er hat 32 Counts, ist ein vier-Wall-Tanz und hat einen Restart.«

Oh je, einen Restart? Ich kann mir nie merken, wann der Restart dran ist, und was man da machen muss. Echt schade, keiner von uns hatte recht. Da bin ich aber gespannt, wie der Tanz ist. Hoffentlich komme ich da mit, schoss es Bekki durch den Kopf.

Die Übung verlief mehr schlecht als recht. Von den vielen schnellen Drehungen bekam Bekki einen Drehwurm, sodass sie mittendrin aufhörte und die Tanzfläche verließ. Kurz sah sie noch nach Nina, die den Schritten problemlos folgen konnte.

Wenn wir den in unsere Tanzliste aufnehmen, wird Nina uns den Tanz auf ihre Art beibringen. Damit komme ich viel besser klar. Also warte ich einfach mal ab. Mit dem Wissen sah sie ihnen am Ende nur noch zu.

Der Abend verlief wie gewohnt, die Band »Greenhorn« spielte die bekanntesten Countrylieder. Daher verbrachten die Mädels die meiste Zeit auf der Tanzfläche. Bis Bekki bemerkte, dass die Männer an dem Tisch in der ersten Reihe so komisch zu ihr herübersahen. Erst als sie ihren Blicken folgte, erkannte sie voller Schrecken, warum die Männer auf ihren Schritt starrten und dabei immer wieder in ihr Bierglas lachten. Bei der nächsten Drehung wagte sie selbst auch einen genaueren Blick nach unten. Peinlich berührt entdeckte sie das Malheur: Ihr Reißverschluss stand sperrangelweit offen.

Dieser blöde Reißverschluss hat sich schon wieder selbstständig gemacht. Wie peinlich ist das denn? Zum Glück hab ich keinen weißen Slip an, der würde wie ein Leuchtfeuer hervorblitzen.

Unmerklich versuchte sie, den widerspenstigen Schließer nach oben zu ziehen, und hoffte, dass er auch endlich blieb, wo er hingehörte. Es dauerte nicht lange und er bahnte sich erneut seinen Weg nach unten. Erneut zog sie ihn grummelnd und verschämt wieder hoch. Dazu stopfte sie ihr Shirt so vor den verfluchten Reißverschluss, dass er zumindest etwas verdeckt war, falls er wieder nach unten glitt.

Warum ist das Shirt nur so kurz? Memo an mich, in Zukunft immer lange Shirts einkaufen.

Zudem wollte sie die Tanzrunde wegen des störrischen Dings nicht einfach so verlassen und harrte geduldig aus, bis die Gruppe das nächste Lied ankündigte. Endlich konnte Bekki auf die Toilette hasten, um dort ihr Malheur in Ordnung zu bringen.

Geh nie ohne Haargummi aus dem Haus, wer weiß, für was man ihn brauchen kann, sprach sie im Stillen zu sich selbst.

Mit raschen Griffen wurde der Gummi durch die kleine Öffnung des Schließers gezogen und das andere Ende am Knopf eingehakt. Nach einem kurzen Test, ob er nun endlich an Ort und Stelle blieb, betrat sie kurz darauf wieder den Saal. Nina winkte ihr zu, sie solle zu ihr kommen.

Bei ihr angekommen, sagte sie: »Komm, wir wollen unser Gruppenfoto machen.«

Gemeinsam gingen sie in den Eingangsbereich, wo die anderen bereits ungeduldig warteten.

»Stellt euch bitte auf und vergesst nicht zu lächeln«, wies Nina sie an.

Es dauerte weitere fünf Minuten, bis alle auf ihrer Position standen und lächelnd in die Kamera blickten. Robert, Ninas Freund, zog Grimassen und zauberte damit jedem Mädel ein Schmunzeln ins Gesicht, dabei drückte er rasch mehrmals auf den Auslöser. Nina, die es immer sehr genau nahm, begutachtete seine Werke. Erst als sie die Bilder für gut befunden hatte, entließ sie die Meute wieder in den Festsaal. Der restliche Abend verlief ohne weitere Ereignisse, worüber Bekki sehr froh war. Spätnachts kam sie müde, mit schmerzenden Beinen, aber glücklich nach Hause. Dort verkroch sie sich sofort ins Bett. Kaum hatte ihr Kopf das Kissen berührt, schlief sie auch schon ein.

 

Leider war die Nacht sehr kurz. Schon sehr früh am Morgen klingelte es stürmisch an der Haustür.

Gähnend sah sie auf den Wecker: »Sieben Uhr? Wer will denn um diese Uhrzeit etwas von mir?«, nuschelte Bekki ganz verschlafen.

In ihrem Teddyschlafanzug schlurfte sie müde zur Eingangstür und öffnete diese einen kleinen Spalt. Gerade nur soweit, dass sie erkennen konnte, wer davor stand.

»Guten Morgen, ich hoffe, ich habe Sie nicht geweckt«, drang eine fröhliche Frauenstimme an ihr Ohr.

»Och nö. Ich sehe immer so aus, als wäre ich gerade aus dem Tiefschlaf gerissen worden«, gab Bekki sarkastisch zurück.

»Schön, das freut mich. Ich bin Barbara Wünsch, und wenn Sie die Tür etwas weiter aufmachen, könnte ich Ihnen besser erklären, was ich von Ihnen möchte.«

»Ehrlich gesagt ist es mir egal, was Sie möchten«, und Bekki wollte die Tür wieder schließen. Da schob die Dame ihr einen Flyer durch den Spalt. Genervt hob Bekki den Zettel auf und wollte ihn schon zusammenknüllen, als sie die laute, klare Stimme der Frau durch den Türspalt hörte.

»Sehen Sie sich doch wenigstens unseren Flyer an, wenn Sie mir schon nicht zuhören wollen. Sie werden es nicht bereuen.«

Genervt schloss sie die Tür. Einige Augenblicke wartete sie ab, ob die Dame den Wink mit der geschlossenen Tür verstanden hatte. Sie lauschte den Schritten, die sich auf dem verschneiten Weg entfernten. Mürrisch und müde ging sie ins Wohnzimmer, dort kuschelte sie sich in eine warme Decke auf dem Sofa. Immer noch den Flyer in der Hand, riskierte sie nun doch einen Blick darauf.

»Was soll an dem Wisch so besonders sein?«, murmelte Bekki halbherzig. »Sie haben gewonnen!!!«, stand ganz oben fett gedruckt. Sogar mit drei Ausrufezeichen. »Das ist doch nur wieder so eine Werbung, die einem alles verspricht und doch nichts hält. Nur, um neue Kunden einzufangen«, brummte sie halblaut vor sich hin und betrachtete das Deckblatt etwas genauer.

Unter der Überschrift war das Foto von einer schneebedeckten Hütte zu sehen. Dahinter funkelte im Sonnenuntergang ein dichter Wald, dessen Äste von dem vielen Schnee schwer nach unten hingen. Die Veranda, die um das Häuschen verlief, war mit einer Lichterkette geschmückt und an der Tür hing ein weihnachtlicher Kranz. Daneben waren noch weitere Bilder vom Inneren des Häuschen abgedruckt. Diese friedliche Idylle erinnerte Bekki an einen ihrer sehnsüchtigsten Wünsche. Einmal Weihnachten an einem winterlichen Ort in einem Waldhäuschen zu verbringen.

»Traumhaft, Weihnachten in einem gemütlichen Häuschen vor dem Kamin. Das wäre zu schön, um wahr zu sein. Wenn dann neben dem Kamin auch noch ein geschmückter Weihnachtsbaum und auf dem Tisch ein Teller mit selbst gemachten Plätzchen stehen würde. Dazu gibt es einen leckeren Punsch und ein gutes Buch. Was braucht man mehr zum Glücklichsein?« , träumte sie mit offenen Augen.

Dieser Gedanke verwandelte sich kurz in Trauer. »Es wäre noch schöner mit einem Mann, der das alles mit einem teilt. Nicht so wie mein Ex. Für den war ich doch nur gut genug, seine Wäsche zu waschen und die Wohnung in Ordnung zu halten. Natürlich musste auch jeden Tag pünktlich sein Essen auf dem Tisch stehen. Wenn ich es mir aussuchen könnte, noch einmal Weihnachten mit ihm zu verbringen oder in dieser einsamen Hütte, da fiele mir die Entscheidung nicht schwer. Ich würde Weihnachten alleine, mit einem guten Buch vor dem Kamin vorziehen. Und wenn das Häuschen nur halb so gut aussieht wie das hier, umso lieber.«

Nun doch neugierig, drehte Bekki den Flyer um. Dort stand: »›Sie haben eine Woche Urlaub in dem idyllischen Örtchen Christmas City gewonnen. Sie wohnen in einem unserer gemütlichen und voll ausgestatten Cottages.‹« Neben dem Text war ein Kamin abgebildet, in dem ein Feuer brannte. Davor befand sich eine gemütliche Sitzgruppe mit einem kleinen Beistelltisch, auf dem ein Teller mit Keksen stand. Das ganze Bild wurde von einem herrlich geschmückten Weihnachtsbaum abgerundet.

»Ich kann es nicht glauben! Genau in so einem Zimmer stelle ich mir den Weihnachtsabend vor. Das wäre mehr als traumhaft«, rief sie erfreut aus.

Sofort las Bekki, innerlich vor Aufregung zitternd, gespannt weiter. »Schicken Sie Ihre Gewinnkarte an uns zurück und Sie erfahren innerhalb einer Woche, welches von unseren Weihnachtshäuschen Sie bekommen. Oder rufen Sie uns unter der Telefonnummer 93446224836 an.«

Auf dem nächsten Bild war ein kleines Holzhaus abgebildet, das vor einem schneebedeckten Hintergrund stand. Ärgerlich den Blick von dem Flyer abgewandt, floss eine Träne aus Bekkis Auge.

»War ja klar, sogar von außen sieht es so aus, wie ich es mir immer vorgestellt habe. Selbst die Weihnachtsbeleuchtung stimmt bis auf jede einzelne Birne. Woher können die das wissen? Wurde in den Städten eine Umfrage gestartet, wie und wo man Weihnachten am liebsten verbringen würde? Es kann doch nicht sein, dass sich so viele nach dieser Einsamkeit sehnen.«

Dabei begutachtete sie erneut das Bild, auf dem die Hütte zu sehen war. Stirnrunzelnd betrachtete sie die Schneedecke vor der Veranda.

»Ich könnte schwören, dass vor einer Minute, als ich mir das Bild zum ersten Mal angesehen habe, keine Fußspuren zu sehen waren. Aber jetzt führen welche vom Haus weg. Wie kann das sein? Vielleicht hab ich mich nur getäuscht und nicht darauf geachtet. Wo ist hier das Kleingedruckte, in dem steht, was man draufzahlen oder kaufen muss, um diesen Gewinn einzulösen? Denn ich bin mir sicher, dass ich bei keinem Preisausschreiben mitgemacht habe.«

Neugierig drehte und wendete sie das Stück Papier von einer Seite zur anderen, konnte jedoch keine Spur des Kleingedruckten finden. Sie wollte die Werbung, für die sie den Zettel nun hielt, gerade wegwerfen, als sie etwas im Augenwinkel sah.

»Spinne ich jetzt? Ich bin mir nun aber hundertprozentig sicher, dass die zweiten Fußspuren vorher nicht auf dem Bild waren. Jetzt führt eine weitere Spur zum Haus zurück. Das ist mir zu gruselig.«

Ängstlich und verstört zerriss sie das Papier und warf es in den Mülleimer, der unter der Spüle stand.

»Ich bin viel zu übermüdet und sehe jetzt schon etwas, was gar nicht sein kann. So etwas wie Magie gibt es nur in Fantasyromanen, nicht in der Wirklichkeit. Mhm … vielleicht war es nur ein Hologramm? Das wird es gewesen ein. Ein Foto, bearbeitet in 3D oder als Hologramm. Klar, wie konnte ich das übersehen. Das war aber täuschend echt gemacht.«

Bekki versuchte, für sich selbst eine Erklärung für die eigenartigen Spuren im Schnee zu finden. Beruhigt von dieser Erklärung, holte sie den zerrissenen Zettel noch einmal aus dem Müll, um sich von der Wahrheit ihrer Vermutung zu überzeugen.

»Was? Das glaube ich jetzt aber nicht. Nein, das geht doch gar nicht. Warum ist der Wisch jetzt wieder ganz? Ich hab ihn mindestens zweimal durchgerissen!«

Verblüfft hielt sie den intakten Flyer in den Händen und betrachtete ihn stirnrunzelnd. Daraufhin untersuchte sie den Abfalleimer genauer. Da sie ihn gestern Abend erst geleert und eine neue Tüte hineingetan hatte, war nichts weiter darin.

»Komisch, wie kann das Papier sich selbst reparieren? Ich hab es doch mindestens zweimal durchgerissen. Ist das ein Funflyer von Uri Geller? Oder was hat das zu bedeuten?«

Ein weiteres Mal zerriss sie den Zettel und warf ihn in den Mülleimer, gespannt darauf wartend, was nun geschehen würde. Erst geschah nichts, doch plötzlich beobachtete sie, wie ein grünes und ein rotes Licht aufleuchtete und die Papierstücke sich erneut aneinanderfügten. Vor Schreck warf sie die Schranktür zu und sperrte den Eimer wieder unter der Spüle ein.

»Das ist mir zu unheimlich. Auf den Schrecken brauche ich jetzt erst einmal eine schöne Tasse Kaffee zur Beruhigung meiner Nerven.«

Während der Kaffee in die Kanne lief, richtete Bekki sich ein kleines Frühstück her, denn nach diesem Erlebnis war nicht mehr daran zu denken, noch einmal ins Bett zu gehen. Schlafen konnte sie nun eh nicht mehr. So beschloss sie, den Tag gemütlich vor dem Fernseher zu beginnen und das Erlebnis von eben zu vergessen. Dazu zündete sie die erste Kerze an ihrem Adventskranz an. Der erste Advent war zwar erst morgen, aber egal, sie liebte es, gemütlich bei Kerzenschein zu essen. Durch den Weihnachtsfilm, den sie versuchte anzusehen, war sie anfangs recht gut abgelenkt. Doch danach fiel ihr Blick immer wieder auf die Schranktür, hinter der sich der Mülleimer befand. Zähneknirschend ging sie ins Bad und zog sich an. Sie wollte noch zum Einkaufen und nach ein paar Weihnachtsgeschenken Ausschau halten. Denn Weihnachten stand ja vor der Tür.

In den Geschäften war um diese frühe Tageszeit noch nicht viel los. Daher war sie sehr schnell mit ihren Besorgungen fertig. Zu Hause räumte sie rasch ihre Einkäufe in die Vorratskammer. Auf dem Rückweg zur Küche blieb ihr Blick wieder an der Spüle hängen. Genervt stapfte sie darauf zu, riss die Tür auf und holte den Flyer heraus. Zumindest wollte sie das tun. Nur … der Eimer war leer.

»Oh nein, wo ist der Zettel hin? Ich bin mir ganz sicher, dass ich ihn zum zweiten Mal zerrissen und in den Mülleimer geworfen habe. Nun ist er komplett verschwunden.«

Verwirrt suchte sie den Spülenunterschrank ab, ob er vielleicht daneben gefallen war. Aber das war nicht der Fall. Kopfschüttelnd schloss sie den Schrank und wandte sich ab. Verwirrt ging sie in ihre Werkstatt. Doch so ganz konnte sie die Fotos von der friedlichen, weihnachtlichen, winterlichen Idylle nicht vergessen – egal, wie sehr sie auch versuchte, sich mit der Arbeit abzulenken.

»So, noch einen Kundenauftrag und die Arbeit für heute ist fertig.«

Bekki mustert Maximilians Skizze des nächsten Schmuckstücks, das sie für eine Bestellung anfertigen sollte, genau. Maximilian Hofstetter, ein guter Bekannter ihrer Mutter, hatte es bei ihr in Auftrag gegeben. Es sollte ein Geschenk für seine Frau werden, zu ihrem fünfundzwanzigsten Hochzeitstag. Ein paar silbergeschmiedete Ohrstecker mit je einem Rubin, Zirkonia und einem gelben Saphir. Die Skizze hatte er selbst mitgebracht und Bekki gefragt, ob sie ihm das Schmuckstück nach dieser Zeichnung anfertigen könne. Sie hatte es nur kurz betrachtet und geantwortet: »Kein Problem, Herr Hofstetter, das bekomme ich hin. Man sieht, Sie lieben Irland und dessen keltische Kunst. Wann fliegen Sie wieder dorthin?«

»Zu ihrem Geburtstag im Mai. Wir freuen uns schon auf diese Reise. Früher geht es leider nicht, da ich noch so viele Aufträge abzuarbeiten habe. Wir wollten zwar zu Weihnachten auch schon nach Irland reisen, aber da streikten unsere Kinder. Sie wollen wie jedes Jahr kommen und Muttis leckeren Surrbraten essen. Sie sagen immer: Weihnachten ohne Muttis Surrbraten ist nicht Weihnachten. Ja, ja, so sind sie eben, die Kinder; selbst wenn sie erwachsen sind und bereits ihr eigenes Leben führen. Sie kommen immer wieder gerne nach Hause zurück. Und ich finde es einfach wunderbar, wenn man an Weihnachten heute noch so schöne und doch einfache Bräuche pflegt.«

»Da stimme ich Ihnen zu. Es ist schön, wenn die Familie sich so gut versteht und gemeinsam Weihnachten feiern will. Geht es ihrer Frau gut, Herr Hofstetter?«

»Ja, danke, ihr geht es sehr gut.« Und das sagte er mit so einem breiten Lächeln, das Bekki fast neidisch wurde. Sie fand es immer wieder romatisch, wenn eine Ehe nach so langer Zeit noch so glücklich verlief, was leider in ihrem Bekanntenkreis viel zu selten vorkam. Schließlich verabschiedete sie sich freundlich von Herrn Hofstetter und begleitete ihn zur Tür. Dort versicherte sie ihm, dass das Schmuckstück rechtzeitig fertig sein würde.

Mit geübten Griffen bog, formte und hämmerte sie das Silber zu einer Triskele, in deren Windungen sie die Steine am Schluss einfügen wollte. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie bereits den ganzen Tag in ihrer Werkstatt saß und an den Ohrringen arbeitete. Wenn sie über einem ihrer Stücke saß, vergaß sie ganz schnell die Zeit. Ein Magenknurren erinnerte sie jedoch daran, dass sie heute außer einem Frühstück noch nichts gegessen hatte. Doch zuerst wollte sie das Schmuckstück fertigstellen, sodass sie es vor der Vollendung noch in die Poliermaschine legen konnte. Während der Wartezeit wollte sie eine Kleinigkeit essen, bevor sie die Arbeit an den Schmuckstücken abschloss. Erst dann wollte Bekki in Ruhe den Feierabend einläuten. Nach dem Essen brauchte sie nur noch die Steine einzusetzten und die Ohrringe für Frau Hofstetter wären fertig.

Etwas später stand sie auf und reckte und streckte sich. Sämtliche Wirbel knackten nach der langen, gebeugten Sitzhaltung. Erneut rumorte es in ihrem Magen, der sie endlich nach oben in die Küche trieb. Rasch belegte Bekki ein paar Sandwiches, eines mit Frischkäse und Tomaten und eines mit Salmi. Dazu goss sie sich ein Glas Roséwein ein und machte es sich vor dem Fernseher gemütlich. Doch es kam nichts Interessantes, daher schaltete sie ihn wieder aus. Nach dem Essen betrat sie noch einmal ihre kleine Werkstatt. Routiniert holte sie die Ohrringe aus dem Polierer und verglich sie mit der Skizze. Kritisch musterte sie die fertigen Ohrstecker, ob auch jede Schweißstelle so gearbeitet war, dass sie nicht mehr zu sehen war. Zufrieden mit dem Ergebnis, grinste sie von einem Ohr zum anderen.

»Die sind sehr gut geworden, die gefallen mir sogar selbst. Vielleicht mache ich für mich auch so ein Paar, aber mit ein paar kleinen Änderungen.«

Rebecca Neuschnee wurde von ihren Freunden immer nur Bekki gerufen. Sie war dafür bekannt, dass sie in ihrer kleinen Schmuckmanufaktur exquisite Einzelstücke anfertigte. Sie liebte ihre Arbeit und daher floss sehr viel Herzblut in jedes ihrer Stück.

Nun kann der Kleber, mit dem ich die Steine befestigt habe, einen Tag in Ruhe aushärten. Wenn Herr Hofstetter am Montag vorbeikommt und sie abholt, kann ich sie vorher noch einmal aufpolieren.

Liebevoll legte Bekki sie auf ein Samttuch. Wieder sah sie auf die Uhr. »Schon fast zweiundzwanzig Uhr, wo ist nur die Zeit geblieben?«

Sie gähnte herzlich und ging zurück ins Wohnzimmer. Dort schaltete sie den Fernseher an, und sofort blieb sie auf einem Kanal hängen, der den Film »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel« zeigte. Diesen Film liebte sie und sah ihn sich sogar im Sommer gern an. Ein paar Minuten später wurde der Film von der leidigen Werbung unterbrochen. Genervt durchforstete sie das Fernsehprogramm, was heute Abend sonst noch so lief.

Da erklang plötzlich eine weibliche Stimme aus den Lautsprechern: »Guten Abend, wie schön, dass Sie eingeschaltet haben. Heute möchte ich Ihnen etwas ganz Besonderes zeigen. Hallo, Sie da. Ich meine Sie auf dem silbergrauen Sofa, die gerade das Fernsehprogramm studiert. Die Dame mit dem dunkelblauen Pulli.«

Verdattert sah sich Bekki um. Sie saß auf ihrem neuen silbergrauen Sofa und hatte einen dunkelblauen Pullover an. Zum Schluss landete ihr Blick auf dem Bildschirm. Dort sah sie der Frau genau in die Augen, die ihr auf den ersten Blick irgendwie bekannt vorkam. Aber wie …? Meint die mich?

Die Frau verzog für einen Wimpernschlag den Mund: »Schauen Sie nicht so verdattert drein. Ja, ich meine Sie.«

Verängstigt von der eigenartigen Erscheinung, griff Bekki nach der Fernbedienung und schaltete auf einen anderen Kanal um. Aber egal, auf welchen Knopf sie drückte, immer tauchte die Frau auf dem Bildschirm auf. Bis sie plötzlich laut: »Stopp!« rief. Erst dann verharrte Bekki in der Bewegung und starrte erschrocken auf den Bildschirm.

»Na endlich, da wird es einem ja schwummerig durch die ganzen Zapperei. Hätten Sie jetzt vielleicht einen Moment Zeit, mir zuzuhören?«

Erst jetzt erkannte Bekki in der Frau die Person wieder, die heute Morgen vor ihrer Tür gestanden hatte. Sie hatte ihr den Flyer durch den Türspalt geschoben.

»Sie? Aber wie kommen Sie in meinen Fernseher? Und was wollen Sie von mir?«, fauchte Bekki.

»Das versuche ich schon die ganze Zeit, Ihnen zu erklären.«

Nun wurde Bekki das Ganze zu bunt, daher schaltete sie den Fernseher aus. Doch wie von Geisterhand ging das blöde Ding wieder an und die Frau sah mürrisch herüber.

Genervt versuchte Bekki diese Prozedur mehrere Male. Doch die Frau verschwand nicht. Geschlagen von ihrem eigenen Fernseher brummte sie: »Na gut, dann sagen Sie, was Sie zu sagen haben und lassen mich dann endlich in Ruhe«, knurrte sie ihren Bildschirm an.

»Das wurde auch Zeit. Ich habe schließlich noch mehr zu tun, als Ihnen ständig hinterherzulaufen. Wenn ich mich kurz vorstellen dürfte: Ich bin Barbara Wünsch, und ich habe die schöne Aufgabe, Ihnen diesen Gewinn zu überreichen. Vorab eine Frage. Haben Sie sich den Flyer schon angesehen?«

»Ja, und ich habe ihn weggeworfen. Was soll ich damit? Ist doch eh nur wieder eine Werbung.«

»Wenn du ihn weggeworfen hast, dann hast du ihn dir nicht richtig angesehen. Nimm ihn noch einmal zur Hand und lies ihn einmal ganz genau durch.«

Dass die Dame so schnell zum Du wechselte, fiel Bekki auf, aber sie war zu müde, um sie darauf anzusprechen. Sie wollte schon widersprechen und ihr sagen, dass der Zettel verschwunden war. Da flatterte er wie durch Magie aus dem Fernseher auf ihren Fußboden.

Barbara Wünsch forderte sie höflich auf, den Zettel zu holen. Bekki stand auf und hob ihn hoch. Auf den Wunsch der Dame hin sah sie ihn sich noch einmal an. Da blieb ihr Blick auf dem Bild mit der Außenansicht der Hütte hängen. Mittlerweile war es Nacht geworden, und die Hütte erstrahlte in einem bunten, weihnachtlichen Farbenmeer. Langsam wunderte Bekki sich über nichts mehr. Im Lichterkegel zeigten sich nun mehrere Fußspuren, die durch den Schnee führten. Die größeren ähnelten denen eines Menschen, währen die kleineren von einem Tier stammen mussten. Auf einmal wurden ihre Augen groß. Neben der Veranda saß ein Hund und sah ihr genau in die Augen. Bekki runzelte die Stirn und betrachtete das Bild genauer. Nein, das ist kein Hund, es sieht eher aus wie ein Wolf.

Kurz musste sie blinzeln und wollte das Tier genauer betrachten. Es war jedoch verschwunden. Mit der Hand wischte sie sich über die Augen und suchte das Bild erneut ab. Aber weit und breit war nichts mehr zu sehen. Zurück blieben nur die Spuren im Schnee.

Mhm ... muss mich wohl getäuscht haben. Jetzt sehe ich schon etwas, was gar nicht da ist. Bin wohl urlaubsreifer, als ich gedacht hatte.

In der winzigen Scheibe des Hauses blitzte der Teil eines Weihnachtsbäumchens hervor, was sie von dem Geisterwolf ablenkte. In Gedanken sehnte sich Bekki in die Hütte, um dort ein glückliches Weihnachtsfest zu verbringen. Nur mit wem? Sie hatte niemanden, den sie hätte mitnehmen könnte. Resigniert zwang sie sich, den Blick von dem Prospekt abzuwenden und sah hoch in ein lächelndes Gesicht, das über den gesamten Bildschirm zu sehen war.

»Schön, und was soll ich da jetzt sehen?«, fragte sie gelangweilt, in dem Versuch,  ihre Unsicherheit zu überspielen.

»Das, was du siehst, kann passieren, wenn du dem Zauber der Weihnacht folgst. Wenn nicht, na dann …«

»Was ist dann?«

»Überlege mal, was du an Weihnachten unternehmen willst, wenn du hierbleibst. Mit wem würdest du Weihnachten feiern?«

Da musste Bekki nicht lange überlegen: »Ich sitze hier, in meiner warmen Wohnung, sehe mir viele Weihnachtsfilme im Fernsehen an und nasche Plätzchen. Wie jedes Jahr eben.«

»Ganz genau, und zwar alleine.«

»Wer sagt mir, dass ich dort nicht auch alleine wäre?«

»Das wirst du nie herausfinden, wenn du deinen Hintern nicht hochbekommst und dich auf den Weg machst.«

»Das heißt, ich muss nicht dorthin, ich kann, wenn ich will?«

»Ja, es liegt ganz bei dir.«

»Gut, dann weiß ich ja, was ich machen werde.« Mit diesen Worten drückte sie noch einmal auf den Ausknopf und der Bildschirm blieb endlich schwarz. »Ich mach es mir zu Hause gemütlich«, verkündete sie kurzerhand ihr Vorhaben.

Von diesem Erlebnis aufgewühlt, wollte Bekki nur noch in ihr Bett und schlafen. Morgen war Sonntag, der erste Advent, da wollte sie mal so richtig ausschlafen. Mit diesem Vorhaben ging sie in Bad, zog ihren Kuschelschlafanzug an und putzte sich die Zähne. Sie hatte nicht vor, vor zwölf Uhr aufzustehen.

 

Am nächsten Morgen wachte sie jedoch gegen neun Uhr auf und fror trotz dicker Decke erbärmlich.

»Was ist denn nun kaputt? Warum ist es in der Wohnung so kalt? Oder werde ich etwa krank? Und das ein paar Wochen vor Weihnachten. Das geht ja mal gar nicht«, schimpfte sie zähneklappernd vor sich hin.

Mit einer Hand befühlte sie ihre Stirn, ob sie vielleicht fiebrigheiß war. Zum Glück war das aber nicht der Fall. Zitternd und frierend stand sie auf und wickelte sich in eine Decke. So eingekuschelt überprüfte sie alle Heizkörper und konnte nur verwirrt den Kopf schütteln, denn alle standen auf Stufe vier.

»Die sind alle kalt.« Daraufhin tapste sie in den Keller und betrachtete die Heizung, an der ein rotes Warnsignal aufleuchtete. Der Temperaturregler stand auf unter 20 Grad.

»Kein Wunder, dass es hier so arschkalt ist. Die Heizung ist aus und das ausgerechnet am Sonntag. Da einen Notdienst zu finden ist schwer, und wenn die kommen, verlangen sie eine Unsumme an Geld. Das sieht man ja schon in den Nachrichten, wie die die armen Leute abzocken, die in eine Notlage geraten sind. Wie soll ich die Kälte bis morgen überbrücken? Ich sehe schon die Schlagzeilen in der Bildzeitung: ›Junge Frau am ersten Advent in ihrer Wohnung erfroren, weil sie keinen Heizungsmonteur angerufen hatte. Redakteur sprach mit dem Eiszapfen.‹«

Zähneklappernd ging Bekki zurück in die Küche, um sich eine Tasse Tee zu machen, damit das heiße Getränk ihre kalten Glieder erwärmen konnte. Mit einer fließenden Handbewegung füllte sie den Wasserkocher und schaltete ihn ein. Dann holte sie aus dem Küchenschrank eine Tasse heraus und legte einen Kräuterteebeutel hinein. Währenddessen wartete sie darauf, dass das Wasser endlich heiß wurde. Der jedoch rührte sich kein bisschen. Mit der Hand befühlte sie den Wasserkocher.

»Kalt.« Mehrmals versuchte sie ihn einzuschalten, aber kein Lämpchen leuchtete auf. »Ist der jetzt etwa auch kaputt? So alt ist der doch noch gar nicht. Egal, es gibt ja immer noch den Herd.«

Schnell war das Wasser in einen Topf umgefüllt und auf die Herdplatte gestellt. Aber die gab auch keinen Mucks von sich.

»Ist etwa der Strom ausgefallen?«

Mit prüfendem Blick sah Bekki an die Decke. Da sie jedoch noch kein Licht eingeschaltet hatte, war dieses natürlich ebenfalls aus.

»Wenn es nicht schon hell draußen wäre, wäre es mir früher aufgefallen, dass kein Strom da ist.«

Zur Sicherheit tippte sie auf den Lichtschalter, doch nichts geschah. Das gab ihr die Bestätigung, dass der Strom in der gesamten Wohnung ausgefallen war.

»Soll ich mir jetzt das Wasser über einer Kerze aufwärmen? Warum hab ich mir für solche Notfälle keinen kleinen Gaskocher besorgt? Mein Daddy sagte immer: ›Mädel, schau, dass du immer einen Gaskocher, genügend Gas und genug zu Essen im Haus hast. Wer weiß, wann die Russen wieder angreifen‹. Ich hab ihm immer wieder versichert, dass wir hier in Deutschland Frieden haben und in der nächsten Zeit keinen Krieg erwarten. Er tätschelte dann nur gutmütig meine Schulter und meinte: ›Vorsorge ist die beste Sorge‹. Tja, was ich jetzt leider feststellen muss. Er hatte mal wieder recht. Gerade eben ist bei mir der Notstand ausgebrochen.«

Wohl oder übel griff sie nun doch zum Handy und versuchte, den Notdienst zu erreichen. Nach dem dritten Klingeln hob bereits jemand den Hörer ab.

»Guten Tag, Sie sprechen mit dem Heizungsnotdienst. Was können wir für Sie tun?«

»Hallo, hier ist Rebecca Neuschnee. Meine Heizung ist ausgefallen und in meiner Wohnung ist es eiskalt. Könnten Sie heute noch vorbeischauen?«

»Tut mir leid, heute geht es nicht mehr. Alle unsere Noteinsatzkräfte sind schon den ganzen Tag unterwegs. Aber ich kann Sie nächste Woche einschieben, lassen Sie mich mal schauen. Oh, da geht es doch nicht. Ah, hier haben wir noch eine Lücke frei. Das wäre dann am Freitag, den 16.12., um siebzehn Uhr. Da sollten Sie dann auch zu Hause sein.«

»Was, so spät erst? Das sind ja über zwei Wochen, bis dahin bin ich erfroren.«

»Tut mir leid, früher geht es wirklich nicht. Bei uns ist der Notstand ausgebrochen. Als hätten sich sämtliche Heizkörper abgesprochen, und gesagt, am ersten Advent schalten wir uns ab und gehen in den Urlaub.«

Der Verzweiflung nahe legte Bekki einfach den Hörer auf und murmelte: »Urlaub, das wäre jetzt schön. Na gut, dann eben in zwei Wochen. Meine Adresse lautet Seegasse 13 in Volkratshofen.«

Die Sekretärin hörte sie schon gar nicht mehr, wie sie sagte: »Sehr gut, ich habe mir alles Nötige notiert. Wünsche Ihnen noch einen schönen ersten Advent.«

Denn plötzlich fiel ihr der Flyer wieder ein. Schnell hastete sie zum Wohnzimmertisch und suchte die Nummer auf dem Prospekt. In ihren Gedanken war sie bereits in der Hütte, vor einem wärmenden Kamin mit einer heißen Tasse Punsch in den Händen. Mit vor Kälte zitternden Fingern wählte sie die Nummer. »93446224836«, las sie laut die Zahlen beim Tippen mit. Hier ging schon nach dem ersten Läuten jemand an den Apparat.

Eine fröhliche weibliche Stimme zwitscherte in den Hörer: »Hallöchen, hier ist das Hauptbüro des Weihnachtsdorfes, Sie sprechen mit Belle Glitter. Was kann ich für Sie tun?«

»Den Satz ›Was kann ich für Sie tun‹ habe ich heute schon einmal gehört, und sie haben nichts für mich getan«, sprach sie leise in den Hörer.

»Bitte, können Sie Ihren letzen Satz noch einmal wiederholen? Ich habe Sie nicht richtig verstanden«, erklang die freundliche Stimme am anderen Ende.

Bekki besann sich kurz und sprach nun deutlich weiter: »Ich rufe wegen dem Gewinn an. Hier heißt es, dass ich eine Woche Urlaub in dem idyllischen Örtchen Christmas City gewonnen hätte. Und in einem Ihrer gemütlichen und vollausgestatten Cottages wohnen werde.«

»Herzlichen Glückwunsch, dann müssen Sie Rebecca Neuschnee sein. Ist das richtig?«

Verdutzt antwortete sie: »Ja, die bin ich. Hat sonst niemand etwas gewonnen, ist das etwa der erste Preis? Ich hab noch nie etwas gewonnen. Wenn ich ehrlich sein soll: Ich kann auch eigentlich nichts gewinnen, ich spiele ja nicht einmal Lotto.« Bekki stutzte: »Ihr müsst euch täuschen, ich habe bei keinem Gewinnspiel mitgemacht.«

»Bei diesem Gewinnspiel müssen Sie das auch nicht. Sie wurden nach dem Zufallsprinzip ausgelost.«

»Zufallsprinzip? Haben Sie einen Stift genommen und sind damit im Blindflug über das Adressregister gegangen und bei mir stehengeblieben?«

»Fast so in der Art, ja«, lachte Belle Glitter fröhlich in den Hörer. »Anschließend haben wir eine unserer Mitarbeiterinnen zu Ihnen geschickt, damit sie Ihnen den Gewinnflyer vorbeibringt und Sie zu uns einlädt.«

»Aha … und jetzt?«

»Jetzt schicken wir Ihnen die restlichen Unterlagen zu. In denen finden Sie die Wegbeschreibung und weitere nützliche Infos, sowie Möglichkeiten, was Sie in unserem schönen Städtchen unternehmen können. In den nächsten Stunden werden Sie alle wichtigen Informationen in Ihren Händen halten. Ab da können Sie dann entscheiden, wann Sie die Reise zu uns antreten wollen.«

Munter sprach Belle Glitter einfach weiter und ließ Bekki nicht zu Wort kommen, die über ihr Tempo protestieren wollte. »Sie werden in einem unserer schönsten Cottages wohnen. Von dort sind es nur ein paar Minuten zu Fuß in das Städtchen, wo ein gemütliches Café zum Verweilen einlädt. Sie können natürlich auch ausgiebige Wanderungen durch die Winterlandschaft unternehmen und die weihnachtliche Beleuchtung genießen. Oder am wärmenden Kamin den Tag mit Punsch und Plätzchen ausklingen lassen. Oder Sie …«

»Stopp!«, schrie Bekki beinahe in den Hörer. Die Vorstellung, vor einem Kamin zu sitzen, in dem ein munteres Feuerchen brannte, statt hier in der kalten Wohnung zu bleiben,  hörte sich nun doch sehr verlockend an. Obwohl, wenn sie ehrlich war, war es eher der Gedanke an eine Hütte mitten im Wald mit einem Weihnachtsbaum, der sie neugierig gemacht hatte. Bekki liebte einfach einen geschmückten Tannenbaum, am liebsten würde sie das ganze Jahr einen im Wohnzimmer stehen haben. Aber wenn sie jemand besuchen würde und so ein Exemplar vorfände, würde er sie doch glatt für verrückt halten.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Belle Glitter besorgt.

Den Kopf in die Hand gestützt, stand Bekki da und stöhnte innerlich auf: »Es ist alles in Ordnung. Bis wann, sagten Sie, werden die restlichen Unterlagen hier sein?«

In Gedanken war sie bereits beim Kofferpacken. Was sollte sie mitnehmen? Auf jeden Fall warme Kleidung.

»Im Laufe der nächsten Stunde müsste alles bei Ihnen eingetroffen sein«, beantwortete Belle ihre Frage. »Dann können Sie sich, wenn Sie möchten, sofort auf den Weg machen.«

So schnell? Die sind ja von der ganz fixen Sorte. Hoffentlich ist das keine Seniorenkaffeefahrt, wo es am Ende schlechtes Essen gibt und Heizdecken zum Kauf angeboten werden, schoss es Bekki sarkastisch durch den Kopf.

»Keine Sorge, wir verkaufen keine Heizdecken, nur Rheumasalben und Stützstrümpfe«, flötete Belle fröhlich durch die Leitung, als hätte sie ihre Gedanken gelesen.

»Bitte was?« Vor Schreck hätte Bekki fast den Hörer fallen gelassen. Hilfe, kann die etwa Gedanken lesen?

»Das war ein Scherz. Ich werde oft danach gefragt, ob dieser Gewinn eine billige Kaffeefahrt sei.«

»Ähm ja, ach so, na dann …« Habe ich das eben laut gesagt oder woher weiß sie, was ich eben gedacht habe? Sie wagte es dennoch nicht, Belle danach zu fragen. Die Frage kam ihr zu albern vor.

Im selben Moment unterbrach ein Läuten an der Haustür ihr Gespräch.

»Einen Augenblick bitte, da ist jemand an der Tür.«

»Gehen Sie ruhig, wir wären hier eh soweit fertig. Oder haben Sie noch Fragen? In den Unterlagen steht alles Weitere drin und falls Sie doch noch Fragen haben sollten, können Sie jederzeit anrufen.« Dann hörte Bekki nur noch ein lautes Tuten.

Bekki war über das abrupte Ende so verblüfft, dass sie verwirrt ihr Telefon anstarrte. Ein erneutes Klingeln holte sie wieder in das Hier und Jetzt. Mit dem Handy in der Hand ging sie zur Tür und öffnete diese. Bekki war nicht allzu überrascht, als sie wieder der Dame vom Morgen gegenüberstand.

»Guten Tag, Frau Neuschnee, so schnell sehen wir uns wieder. Es freut mich sehr, dass Sie sich nun doch entschieden haben, ihren Gewinn anzunehmen.«

»Ähm … ja«, kam es verlegenvon Bekki. In Gedanken sagte sie sich: Was bleibt mir auch anderes übrig. Meine Heizung ist ausgefallen, genau wie der Strom, ich kann ja froh sein, dass ich in weiser Voraussicht gestern mein Handy noch geladen hatte. Sonst hätte ich nicht einmal telefonieren können.

»Hier, ich bringe Ihnen die Unterlagen für Ihren Gewinn vorbei. In dem Umschlag steht alles Notwendige. Aber falls Sie noch Fragen haben …«

»Ich weiß, dann kann ich jederzeit anrufen.«

»Ganz genau«, lachte die Gewinnbotin Barbara fröhlich. Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und schritt auf ein ungewöhnliches Auto zu, das einem Schlitten sehr ähnelte.

Die Autobranche bringt auch jedes Jahr eigenartigere Fabrikate auf den Markt, schoss es Bekki durch den Kopf. Im letzten Moment erkannte sie, dass dieses Gefährt einfach abhob und davonflog.

Was war das? Ich glaube, ich träume immer noch einen eigenartigen Traum. Und wenn ich nicht bald aufwache, kann es passieren, dass mir gleich der Osterhase Hand in Hand mit Jack Frost fröhlich singend über den Weg läuft. Aber dann bin ich echt reif für die Jungs mit den Hab-mich-lieb-Jacken und den weißen Turnschuhen, die mich anschließend in die Gummizelle stecken werden. Wo wir ›zehn kleine Weihnachtselfen backen viele bunte Plätzchen, einer hat zu viel genascht, dann waren es nur noch neun‹ singen.

Kopfschüttelnd schloss sie schnell die Tür und ging in ihr kaltes Wohnzimmer zurück. Da es draußen langsam wieder dämmrig wurde, suchte sie rasch ein paar Kerzen zusammen, um wenigstens etwas Licht zu haben. Aber nicht einmal ihre kleinen Flammen schafften es, die Kälte aus ihr zu vertreiben. Erleichtert über die glückliche Fügung holte sie ihren Reisekoffer und packte für mindestens zwei Wochen Kleidung zusammen. Denn so lange sollte es dauern, bis endlich ein Heizungsmonteur Zeit hatte, um nach ihrer Heizung zu sehen. Das sagte zumindest die Dame am Telefon. Solange konnte sie ja den Gewinn in Anspruch nehmen. Nach dem Urlaub würde sie wieder in ihr dann hoffentlich warmes Heim kommen und Weihnachten ganz gemütlich auf dem Sofa verbringen, so wie sie es ursprünglich geplant hatte.

Wenn sie sich da mal nicht täuschte. Aber Rebecca Neuschnee hatte keine Ahnung, was ihr in ihrem Urlaub noch alles bevorstand.


 

2. Die Reise

 

Zwei Stunden später war der Koffer mit alle Utensilien und warmer Kleidung fertig gepackt und stand wartend im Flur. Sogar eine kleine Provianttasche mit den nötigen Unterlagen, der Wegstrecke und ihrem Navi stand bereit. An diesem Abend kroch Bekki noch einmal in ihr kaltes Bett. Es dauerte eine Weile, bis sie sich in den Schlaf gezittert hatte. Am nächsten Morgen wollte sie sehr zeitig losfahren, um so früh wie möglich anzukommen.

Kurz vor der Abfahrt machte sie einen letzten Rundgang durch ihre kleine Wohnung. Akribisch überprüfte sie, ob alle Geräte aus, die Türen und Fenster verschlossen waren. Zum Schluss stellte sie auch noch das Wasser ab, um einen Rohrbruch zu vermeiden. Nicht dass sie, wenn sie wieder zurückkam, die Wohnung in Schutt und Asche oder alles unter Wasser vorfand. Bei ihrem derzeitigen Glück brauchte sie dies nicht auch noch zusätzlich. Mit dem Navi auf dem Armaturenbrett, dem Reiseproviantrucksack auf dem Beifahrersitz und dem Koffer im Kofferraum starrte sie ihren kleinen Wagen. Gut gerüstet fuhr Bekki in ihrem Mini von der Bundestrasse auf die Autobahn. Auf der A7 ging es geradewegs nach Norden. Ihr Navi sagte mit seiner monotonen Stimme: »Ihre Ankunft wird in zweiundvierzig Stunden sein. Bitte folgen Sie der Straße über 850 Kilometer.«

»Auweia, so lange?«, stöhnte sie. »Ich hätte mir vor der Fahrt die Strecke genauer ansehen sollen. Andererseits, wie hätte ich das ohne Strom und Computer machen sollen?«

Kopfschüttelnd und verwirrt, ob sie sich nicht verhört hatte, warf Bekki einen Blick aufs Navi. Der Anblick ließ sie aufstöhnen. Ihr Bildschirm verriet ihr, dass sie zusätzlich mit einem Schiff übersetzen muss.

»Och nö, da ich muss sogar mit einer Fähre fahren. Mir bleibt auch nichts erspart.«

Ein skeptischer Blick auf ihr leuchtendes Navi bestätigte ihr, dass es nicht bei den 850 Kilometern bleiben würde, und dass sie sich nicht verhört hatte und es tatsächlich über zweiundvierzig Stunden waren. Und sie insgesamt 3437 Kilometer vor sich hatte.

»Ich wäre besser geflogen, als mit dem Auto so weit zu fahren. Da schaffe ich es nie, in zwei Wochen wieder zurück zu sein. Was, wenn die Heizungsmonteure kommen und ich nicht zu Hause bin? Soll ich wirklich fahren?«

Zögernd wich sie langsam vom Gaspedal. In der Absicht, bei der nächsten Ausfahrt abzufahren, setzte sie den Blinker. Da harrte sie doch besser in der kalten Wohnung aus. Sie müsste ja nur einen Tag durchhalten. Denn morgen wäre ja Montag, da könnte sie sich einen Gasheizer und einen Campingkocher kaufen. So würde sie locker die zwei Wochen überstehen. Plötzlich wurde im Radio das Lied unterbrochen.

»Frau Neuschnee, Sie brauchen nicht zurückzufahren. Wegen des Heizungsmonteurs ist alles geregelt. Fahren Sie in Ihren wohlverdienten Urlaub und genießen Sie ihn. Wenn Sie erholt wieder zu Hause sind, ist auch Ihre Heizung repariert.«

»Bitte was? Wer spricht hier?« Vor Schreck hätte Bekki fast eine Vollbremsung auf der Autobahn hingelegt.

»Hier ist Barbara Wünsch. Machen Sie sich keine Sorgen und starten Sie in Ihren verdienten Traumurlaub.«

Du meine Güte. Jetzt höre ich schon auf eine Stimme aus dem Radio. Die hat gut reden. Moment ... woher will sie wissen, dass ich nach Hause fahren wollte?

Beruhigend redete Barbara auf Bekki ein und lenkte sie somit von ihren Grübeleien ab.

»Die gemütliche Weihnachtshütte wartet bereits auf Sie, und ein wärmendes Kaminfeuer, sowie ein liebevoll geschmückter Weihnachtsbaum.«

Mit dem Gedanken an das Feuer im Kamin nahm Bekki den Blinker wieder heraus und fuhr an der Berkheimer Ausfahrt vorbei. »Hoffentlich bereue ich meine Entscheidung nicht.«

Statt einer Antwort ertönte erneut das Gedudel eines Liebessongs.

»Oh nein, so was Schnulziges kann ich jetzt echt nicht gebrauchen.« Rasch legte sie die CD von Avantasia ein, und sofort dröhnten laute E-Gitarrenklänge aus den Lautsprechern.

»Viel besser.« Etwas unrhythmisch sang sie laut und falsch aus vollem Hals mit. Sie verstand zwar kein Wort von den Texten, aber das war ihr egal. Die Hauptsache war ja, man hatte Spaß.

»Reach out for the light far beyond confines. You have read magic lines leading to the light in your mind ...«

Kurz nach Ulm, am Kreuz zur A8, begann der Verkehr zu stocken. »Prima, kaum unterwegs, schon stecke ich im Stau. Hoffentlich ist der nicht zu lang. Sonst dauert es noch länger, bis ich ankomme.«

Mit den Augen auf der Straße drehte Bekki die Musik noch lauter auf und klopfte mit den Fingern auf dem Lenkrad den Takt mit. Es dauerte nicht lange, da stand sie in einer kilometerlangen Schlange. Nicht nur, dass der Stau an ihren Nerven zerrte, nun bahnte sich ein weiteres Problem an.

»Was gibt es noch Schlimmeres, als im Stau zu stehen, wenn man dringend auf die Toilette muss? Oh nein, nicht jetzt! Die nächste Toilette ist noch etliche Kilometer entfernt.«

Stöhnend kniff sie ihre Unterleibsmuskeln zusammen, um das dringende Bedürfnis zu verdrängen. Innerlich schimpfte sie sich eine Närrin. Warum war sie vor der Abfahrt nicht noch schnell gegangen? Aus dem einzigen Grund, da musste sie noch nicht. Zehn Minuten später ging es endlich einen Meter weiter.

»Wenn das so weitergeht, stehe ich morgen noch hier.«

Einige Minuten später bewegte sich die Fahrzeugkolonne ein Stück vor.

»Und wieder ein Meter. Na, prima, im Schneckentempo nach Christmas City, aber das ist besser als nichts«, munterte sie sich selbst auf.

Um ihre gute Laune nicht ganz zu verlieren, kramte sie aus ihrem Rucksack einen Riegel Luftschokolade heraus und vernaschte ihn genüsslich. Dabei sang sie die Lieder ihrer Lieblingsgruppe mit. Die Süße der Schokolade und die schlechte Laune der anderen Staumithäftlinge ließ Bekkis Fröhlichkeit ansteigen. Neben ihr stand ein Pick-up mit einem Mann am Steuer, der wild fluchend in sein Handy sprach. Bei diesem Anblick musste Bekki grinsen und genau in dem Moment sah er zu ihr herüber. Sein Blick verfinsterte sich noch mehr und Bekki konnte ein Lachen nicht mehr unterdrücken. Finster starrte er wieder durch seine Windschutzscheibe.

»Echt ulkig, wie man sich über einen Stau so aufregen kann. Zumindest nehme ich das an. Klar ist so was langweilig, aber es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel, wenn der Kerl von dem Pick-up neben mir im Auto sitzen würde.« Dabei durchfuhr sie ein kurzer Schauer.

Vorsichtig schielte Bekki noch einmal zu dem Mann hinüber, der erneut heftig gestikulierend in sein Handy sprach. Schmunzelnd sah sie nach vorne, wo sich die Autos wieder in Bewegung setzten.

»Ja, prima, wieder ein Meter weiter. Oh nein, jetzt sind es schon zwei und die Autos rollen immer noch. Der Stau wird sich doch nicht auflösen?«

Zu ihrem Verdruss wurde die Vorfreude von den Bremslichtern vor

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Jessika M. Reiter
Bildmaterialien: Jessika M. Reiter
Cover: Jessika M. Reiter
Tag der Veröffentlichung: 21.11.2018
ISBN: 978-3-7487-1070-7

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