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Piratenkönigin wider Willen

 

 

     

      

 

                                         

 

 

  Ein Piraten- Fantasie Roman von Richard M. Reiter

 

Vorwort

 

Wer würde meine Geschichte glauben, wenn man sie nicht selbst erlebt hat?

Ich würde mal behaupten, niemand. Nicht einmal ich würde solch einem Märchen Glauben schenken. Doch ich habe sie erlebt, und da mir die Zuhörer keinen Glauben schenken würden, schreibe ich sie auf. So kann der Leser selbst entscheiden, ob sie wahr ist, oder ob der Autor einfach zu viel Fantasie besaß.

Prolog

 

2017

 

»Endlich Urlaub«, kam es müde über ihre Lippen. Die letzten Monate hatten viel zu sehr an ihren Nerven und ihrer Kraft gezehrt.

»Ich liebe meinen Job, er ist abwechslungsreich und die Arbeitszeit variabel. Heutzutage gibt es wenige Firmen, in denen eine flexible Arbeitszeit noch möglich ist. Im Normalfall ist die Arbeit nicht anstrengend, aber einer der Großkunden wollte anscheinend, dass wir uns nicht zu sehr langweilen. Daher bescherte er uns einen großen Auftrag, den wir in einer bestimmten Zeit abarbeiten mussten. Schafften wir es nicht, müsste die Firma, für die ich arbeite, eine hohe Strafe zahlen. Doch welcher Chef zahlt schon gerne etwas, sie sehen lieber schwarze Zahlen. Zudem bekamen wir noch ein großes Problem wegen unserer Lieferanten. Die externen Lieferanten kamen mit der Lieferung des Materials, das wir so dringend benötigten, nicht nach. Leider waren die Produkte, die nach langer Verspätung endlich bei uns ankamen, oft mangelhaft gearbeitet. Wir mussten entweder Zeit für die Reparatur investieren oder gleich alles verschrotten. So dauerte es weitere Wochen, bis die nächste Ware eintraf. Es war zum Haare raufen. Daher standen wir monatelang unter Druck, um den Auftrag rechtzeitig zu schaffen. Nur mit Mehrarbeit und Überstunden konnten wir das Ganze auffangen, trotz der vielen Fehlteile. Ich weiß, es klingt komisch; kein Material bedeutet normalerweise weniger Arbeit. Nur, bei uns war es verrückterweise anders. Keine Ahnung, wie unsere Chefs es jeden Tag geschafft hatten, die Lücken zu schließen. Gemeinsam haben wir die Aufträge geschafft. Der Kunde war mit unserer Arbeit zufrieden. Und jetzt stand endlich mein lang ersehnter Urlaub bevor. Morgen geht es mit dem Flieger vier Wochen nach Singapur. Sommer, Sonne, ein gutes Buch, die Stadt ansehen und Land und Leute kennenlernen, einfach nichts tun. Was will man mehr?

Jetzt wird es langsam Zeit, mich vorzustellen. Ich heiße Carlotta Hope, aber alle sagen Charly zu mir. Ich bin einen Meter fünfundsiebzig groß, habe dunkelblaue Augen und dunkelblonde Haare. Meinen Namen habe ich von meiner spanischen Mutter bekommen. Aber die helle Haut und Haarfarbe von meinem Vater, der aus Amerika, genauer gesagt, aus Miami kommt. Beide hatte der Beruf nach Memmingen geführt, wo sie sesshaft geworden sind. Ein Jahr später vervollständigte ich ihr gemeinsames Glück. Auch ich arbeite in Memmingen, und zwar bei einem der größten Arbeitgeber der Stadt, bei ›Weiß-Blau‹. Wir produzieren Geräte für die Autoindustrie und die Raumfahrt. In den nächsten vier Wochen werden mich meine lieben Kollegen allerdings nicht mehr sehen. Der Koffer für den Flug ist längst gepackt, er steht abflugbereit im Flur meiner kleinen Wohnung.«

 

Ein letztes Mal überprüfte sie ihr Handgepäck mit Auslandskrankenschein, Reisepass und was man sonst noch für einen vierzehnstündigen Flug benötigte. Morgen, am 13. September 2017, geht es mit dem Zug zum Münchner Flughafen. Von dort ab in den Flieger nach Singapur. In die angeblich sauberste und sicherste Stadt der Welt. Charly war schon richtig aufgeregt, was sie dort so alles erwarten würde. Sie hatte schon Wochen vorher eine Liste geschrieben, was sie sich alles ansehen wollte. Die Unterwasser-Welt, Chinatown, Little India, ein malaysisches Städtchen und den Zoo. Was natürlich auf keinen Fall fehlen durfte war das Hotel Marina Bay, das aussieht, als habe es ein Schiff auf dem Dach. Natürlich durfte auch der Flughafen nicht fehlen, selbst der musste einen Ausflug wert sein. Das hatte ihr zu mindestens das Internet verraten.

Wenn ihr jemand vor dem Abflug erzählt hätte, dass sie ein ganz anderes Ziel vorfinden würde, hätte sie ihn für verrückt erklärt.

 

Gut gerüstet ging es am nächsten Tag mit der Bahn zum Münchner Flughafen. Dort gab sie sofort ihr Gepäck am Schalter auf. Anschließend nutzte sie die restliche Zeit, um sich vor dem langen Flug die Beine zu vertreten, in dem sie durch die Duty-Free-Shops schlenderte.

Endlich im Flieger, freute sie sich schon auf die Landung. Charly konnte es kaum erwarten, ihre Sightseeingtour zu starten. Allmählich füllte sich das Flugzeug mit den restlichen Passagieren. Sie hoffte inständig, dass der Platz neben ihr frei bleiben würde, dann könnte sie es sich während des Fluges gemütlich machen und die Beine ausstrecken. Ihre Hoffnung blieb unerfüllt. Zu ihrem Verdruss nahm ein korpulenter Herr mit Vollbart, der Mühe mit seiner Atmung hatte, neben Charly Platz.

Entweder bekommt er wegen seines dicken Bauches keine Luft, oder er hat Flugangst. Oh je, das kann ja heiter werden, schoss es Charly durch den Kopf.

Später, als endlich auch der letzte seinen Platz gefunden hatte, schlossen die freundlichen Mädels von der Flugbegleitung die Ablagefächer, während eine andere die Regeln für den Notfall erklärte. Doch da hörte Charly schon nicht mehr zu, es war ja nicht ihr erster Flug. Bereits beim Einsteigen hatte sie nach allen Notausgängen Ausschau gehalten. Das hatte sie sich so angewöhnt, schließlich war sie Sicherheitsbeauftragte in ihrer Firma. Egal, wo sie sich befand, sei es im Hotel, im Flugzeug, im Zug oder im Bus, hielt sie nach dem Notausstieg Ausschau. Um in Notfall den Weg ins Freie zu finden. Darum steckten bereits die Ohrstöpsel ihres MP3-Players in den Ohren, und sie lauschte ihrer Lieblingsmusik von Orden Ogan, »We are Pirates«. So beiläufig wie möglich warf Charly einen Blick auf den Fluggast neben ihr. Den großen, kräftigen Mann mit Vollbart hätte sie anfangs fast für einen Teddybär halten können, wenn er nicht so schwer atmen würde. So knuddelig sah er aus, seit er ruhig neben ihr seine Zeitung durchblätterte.

Er war wohl etwas spät dran, um den Flieger noch rechtzeitig zu erreichen. Denn von einer Flugangst kann man bei ihm nicht mehr reden, so ruhig wie er nun seine Zeitung liest. Ab da beachtete sie ihn kaum noch und war ganz in ihrer Musik versunken.

Der Flieger ruckte, nach einer kurzen Beschleunigung hoben sie ab, und unter ihr wurde die Stadt kleiner und kleiner. Auf der Anzeige, die über ihren Sitzen heruntergeklappt war, konnte Charly ihre Flugroute verfolgen und sah, über welchem Land sie sich gerade befanden. Ihr Blick fiel auf die Uhrzeit; innerlich stöhnte sie auf: Vierzehn Stunden, noch so lange. Wecken Sie mich einfach, wenn wir da sind, wollte sie dem Mann neben ihr sagen. Sie behielt es jedoch für sich.

Allmählich fing ihr Magen an zu knurren: Hoffentlich gibt es bald etwas zu Essen und hoffentlich auch etwas Richtiges. Kein so labbriges Schinkensandwich, wie auf den Vier-Stunden-Flügen.

Ihr Wunsch wurde erfüllt. Es gab gedünstetes Gemüse, Fleisch mit einem Klecks Soße, die man in der Schale allerdings suchen musste. Dazu lag in einem Extrafach ein Löffel voll weicher Nudeln, über die sich ihre Oma bestimmt gefreut hätte. Man konnte sie ohne zu kauen prima hinunterschlucken. Das Ganze wurde mit dem Dessert abgerundet. Charly überlegte immer noch, was es darstellen sollte. Für einen Pudding ist es zu flüssig, oder ist es etwa die Vorspeise gewesen? Eine süße Suppe? Hätte ich sie zuerst essen sollen? Woher sollte ich wissen, wie die Esskulturen in Singapur sind. Darüber habe ich mir bis heute keine Gedanken gemacht. Aber die, ähm, Suppe ... Pudding war wirklich das Beste am ganzen Menü. Zum Glück habe ich immer etwas zum Knabbern dabei, denn die Stunden bis zur Landung können noch recht lang werden.

So war es auch, die Zeit kroch langsamer dahin als eine Krabbe im Rückwärtsgang. Zumindest kam es ihr so vor. Irgendwann fielen Charly die Augen zu, und sie schlief eingerollt auf dem engen Sitz ein. Geraume Zeit später schreckte sie aus einem traumlosen Schlaf auf, weil sie kaum mehr Luft bekam.

»Was zum Henker ...?« Mit einem Ruck wollte sie sich aufsetzten, doch etwas Schweres hinderte sie daran. Erst da bemerkte sie, dass ihr Sitznachbar sie als Kissen benutzte. Schwerfällig und mit einer großen Kraftanstrengung konnte sich Charlie unter ihm hervorwinden.

Als sie sich endlich etwas Luft verschafft hatte, rutschte er nach und lag ein weiteres Mal auf ihrem Oberkörper. So blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn zu wecken, damit er sich wieder auf seinen Platz setzte.

Dazu sollte es jedoch nicht mehr kommen ...

Das Flugzeug sackte urplötzlich ab, fing sich aber wieder. Als nächstes erzitterte die Kabine, und die Passagiere schrien vor Schreck laut auf. Sofort blinkten die Lämpchen für die Sicherheitsgurte. Gleich darauf fielen die Sauerstoffmasken von der Decke herunter. Der kräftige Mann mit Bart bekam von alldem jedoch nichts mit, er schlief seelenruhig weiter. Charly versuchte vergebens, ihren Sitznachbarn zu wecken, damit er endlich aufwachte und sich aufsetzte. Eilig kam eine Stewardess vorbei, um zu überprüfen, ob alle Tische hochgeklappt, die Rückenlehnen aufrecht waren und alle Passagiere sich angeschnallt hatten. Als sie bei Charly ankam, bemerkte sie sofort deren Dilemma und half ihr, den Mann von ihr herunterzuziehen. Erst dadurch wachte er auf. Total verschlafen blickte er um sich, brummte kurz etwas Unverständliches, bevor er wieder einschlief.

»Sie müssen sich anschnallen, Sir«, forderte die junge Frau ihn auf. Plötzlich durchfuhr das Flugzeug ein starker Ruck, und die Stewardess, die dem Mann behilflich sein wollte, stürzte den Gang entlang nach hinten. Die panischen Schreie der Passagiere hallten durch den gesamten Innenraum. Charly schaffte es selbst nicht, sich anzuschnallen. Durch den plötzlichen Ruck rutschte der Mann wieder auf sie. Schwer begrub er Charly unter sich und klemmte sie zwischen sich und dem Sitz ein. In ihr stieg Todesangst auf.

»Ich will noch nicht sterben, ich habe doch noch so viel vor«, jammerte sie atemlos.

Diesen Satz wiederholte sie wie ein Mantra. Tränen rannen ihr über die Wangen, während sie immer noch versuchte, den Mann von sich herunterzubekommen. »Entweder ich ersticke oder ich werde zerquetscht. Ich weiß nicht, welcher Tod mir besser gefällt. Am liebsten möchte ich natürlich leben. Ich habe doch noch nie richtig geliebt. Das Flugzeug stürzt ab, und ich beschwere mich, dass mir in meinen dreißig Jahren nie Mister Right über den Weg gelaufen ist? Ja, ich beschwere mich. Einmal im Leben wollte ich meinem Traummann begegnen. Einen großen kräftigen Mann mit schulterlangen schwarzen Haaren. Ich weiß nicht warum, aber ich stehe unheimlich auf grüne Augen, die finde ich faszinierend. Mich würde auch nicht stören, wenn er Narben im Gesicht oder am Körper hätte. Denn jede Narbe erzählt eine Geschichte, und die würde ich alle so gerne hören. Schön wäre außerdem, wenn ihm meine Kilos nichts ausmachen würde. Ich bin zwar nicht dick, nur eben sehr weiblich.«

All das murmelte sie vor sich hin, während um sie herum das Chaos ausbrach; schreiende Passagiere, das Jaulen der Triebwerke und der übergewichtige Mann, der ihr dem Atem nahm.

Ein weiteres starkes Zittern durchdrang die Bordwände, das alle Lichter erlöschen ließ.

Charly vergrub ihr Gesicht an der Schulter des Mannes, unter dem sie noch immer feststeckte. Sie hatte es aufgegeben, ihn von sich herunterschaffen zu wollen. Ihre Finger krallten sich nun in sein Hemd, seine Körperwärme spendete ihr Trost. So musste sie wenigstens nicht allein sterben ...

Tränen bahnten sich einen Weg über ihr Gesicht. Schließlich hörte sie nur noch ein ohrenbetäubendes Krachen, danach wurde alles um sie herum schwarz.

1 Die Insel der verlorenen Seelen

 

2117

 

Blinzelnd erwachte Charly unter einem Berg von Eisenteilen. Irritiert von dem, was passiert war, stöhnte sie leise. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren und wusste nicht, wie lange sie schon so dalag. Mit verschwommenem Blick versuchte sie, etwas vor sich zu erkennen. Es dauerte einige Sekunden, bis Charlie ihre Umgebung klar erkennen konnte und das ganze Ausmaß der Verwüstung wahrnahm. Sachte wandte sie ihren Kopf, so gut es ging, um sich zu orientieren.

Die kleine Waldlichtung war zu einem Ort des Grauens, des Todes und der Verzweiflung geworden. Überall um sie herum lagen Koffer, Flugzeugteile und Menschen. Es sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Das Flugzeug war in unzählige Teile zerbrochen, aus denen immer noch Rauch hervorquoll. Durchtrennte Kabel hingen lose und funkensprühend aus sämtlichen Öffnungen heraus. Stöhnen oder gar Schreie der anderen Passagiere vernahm Charly aber nicht. Das Einzige, was sie hören konnte, war das Feuer, das sich an einigen Stellen durch die Wrackteile fraß.

 Unweit von ihr lag ihr Sitznachbar. Seine Glieder waren unnatürlich verrenkt. Allmählich machten sich bei Charly die Schmerzen bemerkbar. Leise stöhnend wollte sie sich aufrappeln, um nach dem Mann zu sehen. Sie konnte sich jedoch kaum bewegen, denn es lag immer noch etwas Unförmiges auf ihr. Mühsam überprüfte sie ihre Glieder, ob sie sich nicht doch etwas gebrochen hatte.

Gebrochen hatte sie sich nichts, denn sie konnte alle Glieder bewegen. Auch wenn sie höllisch schmerzten. Sie kam sich vor, als hätte man sie durch den Fleischwolf gedreht. Als sie versuchte, ihre Beine zu heben, geriet sie in Panik. Charly schaffte es weder ihre Hüfte noch ihre Beine zu heben. In ihr kam die Befürchtung hoch, querschnittsgelähmt zu sein.

Ängstlich hob sie den Kopf, um ihre Vermutung im Keim zu ersticken. Denn hier in der Wildnis wäre es ihr Tod, wenn dies tatsächlich der Fall sein sollte. Entsetzt sah sie, was auf ihrer Hüfte und den Beinen lag. Bei dem Anblick kam in Charlie das pure Grauen hoch. Quer über ihr lag eine Frau, zumindest das, was von ihr noch übrig war. Charlie konnte sie nur anhand ihrer Kleidung identifizieren. Die Dame hatte in derselben Reihe wie sie gesessen, auf der gegenüberliegenden Seite. Das Gesicht schmerzverzerrt versuchte sie, den toten Körper der Frau von ihr herunter zuschieben. Es dauerte eine geraume Zeit, bis sie es endlich geschafft hatte. Leicht schwankend versuchte sie aufzustehen. Die Erleichterung, dass sie auf ihren eigenen Beinen stehen konnte, verflog sofort wieder. Der nächste Anblick, der sich ihr bot, war nichts für einen schwachen Magen. An Ort und Stelle erbrach sie ihr letztes Essen. Nach diesem Dilemma sah sie sich ein weiteres Mal um. Am liebsten wollte sie von dem Unglücksort weg. Trotz Angst und Panik suchte Charly die Absturzstelle nach weiteren Überlebenden ab. Alles, was sie fand, waren Flugzeugtrümmer, verstreutes Gepäck der Fluggäste, sowie die Passagiere. Diese lagen in einem größeren Umkreis der Absturzstelle kreuz und quer auf dem Boden. Bei einigen sah sie schon von weitem, dass sie nicht mehr lebten. Trotz ausgiebiger Suche fand sie leider keine Überlebenden mehr. Nachdem sie sich einen groben Überblick über die Unglücksstelle gemacht hatte, zog sie ihr Handy hervor, um Hilfe herbeizurufen.

Zum Glück hatte ich mein Telefon in meine Hosentasche geschoben, und es hat den Absturz überstanden.

 

Zitternd wählte sie die App mit dem Notruf. Geduldig wartete sie, dass es endlich am anderen Ende Läuten würde. Die Zeit schien stillzustehen, bis ihr Blick auf die Empfangsbalken im Display fiel. Kein einziger Balken ließ sich darauf blicken. Darum kletterte Charly auf einen der größeren Trümmerreste, um vielleicht von dort oben mehr Glück zu haben und einen Notruf abzusetzen zu können. Ihr Display blieb auch dort weiterhin tot. Sie bekam einfach kein Empfang, noch nicht einmal das Zeichen für den Notruf tauchte auf.

»Was soll der Mist? Selbst in den abgelegensten Gegenden kann man mit dem Notruf Hilfe herbeiholen. Aber hier findet mein Handy nichts. So eine tote Gegend kann es doch nicht mehr geben. Oder bin ich etwa in einem Funkloch?«

Verärgert fluchte sie laut vor sich hin. Danach sah sie sich in der Umgebung genauer um. Sie entdeckte nur Bäume, Büsche, Berge, und ganz weit in der Ferne schimmerte etwas Blaues in der Sonne.

»Ist da vorne das Meer? Wo bin ich eigentlich hier gelandet? Wie heißt dieses Land?«

Mit noch mehr Fragen im Kopf suchte sie weiter nach einem Funken der Zivilisation.

»Nichts! Ich muss also in diese Richtung, denn wo Wasser ist, ist meistens auch Leben.«

Die Angst und das Adrenalin ließen sie einfach nur funktionieren. Tief in ihr steckte der Drang, so schnell wie möglich Hilfe herbeizuholen. Zusammenklappen konnte sie anschließend. Sobald sie jemanden gefunden hatte, der hier die Aufgabe übernahm, den Menschen zu helfen. Hastig sammelte sie einige der Lebensmittel, die aus der Bordküche hinausgeschleudert worden waren, ein. Dabei fand sie zu ihrer Freude ihren Koffer unter einem der Tragflügelteile. Ohne noch einmal zu der Unglücksstelle zurückzusehen, folgte sie stolpernd einem steinigen Pfad den Berg hinunter. Immer wieder blieb sie mit ihrem Trolley an tiefhängenden Ästen oder den hochstehenden Wurzeln hängen. Als ihr Koffer sich zum x-ten Mal in einem Busch verhakte, als wollte er einfach nicht mit ihr kommen, reichte es ihr. Ärgerlich öffnete sie ihn, kramte das Nötigste heraus, je eine Jeans, ein Shirt, Unterwäsche und etwas aus ihrem Waschbeutel. Bevor sie ihn wieder verschloss, griff sie nach ihrem schwarzen Filzhut, den sie sich kurzerhand aufsetzte. Warum Charly den eigentlich zu Hause mit eingepackt hatte, war ihr ein Rätsel. Was hatte sie sich dabei gedacht? Als Sonnenschutz? Wohl kaum. Aber darüber machte sie sich jetzt keine Gedanken, sie hatte jetzt andere Sorgen.

Ihre Kleidung stopfte sie in den Rucksack zu den Lebensmitteln. Anschließend suchte sie für ihren verschlossenen Koffer nach einem geeigneten Versteck, fand jedoch nur ein paar dichte Büsche. Schulterzuckend schob sie das klobige Teil darunter, und versuchte sich die Stelle genau einzuprägen, um ihn später zu holen. Aber erst musste sie Hilfe herbeischaffen für die Menschen aus dem abgestürzten Flugzeug. Die Maschine wurde bestimmt schon vermisst. Es musste doch auffallen, wenn ein Flugzeug auf einmal vom Radar verschwand. Doch bis Hilfe hier auftauchte, konnte sie ja schon einmal etwas Nützliches tun.

 

Mit leichtem Gepäck machte sie sich weiter an den Abstieg. So lief es sich auch viel angenehmer, und Charly kam schneller vorwärts. Dennoch dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis sie endlich aus dem Dschungel kam und auf ein spärlich besiedeltes Dorf traf. Die Häuser sahen genauso aus wie die in der letzten Reportage, die Charly vor ein paar Tagen im Fernsehen gesehen hatte. Diese waren in einem rustikalen Stil erbaut. Mit ihren Strohdächern glaubte man fast, man befände sich hier in einem Museum aus dem 14. Jahrhundert. Staunend trat Charly an den Waldrand, sie wollte in dem mittelalterlichen Dorf fragen, ob sie kurz telefonieren dürfte. Denn auch nach mehrmaligen Versuchen schien ihr Handy keinen Empfang zu haben.

»Es zeigt sich immer noch kein einziger Balken. Auf was für einer verlassenen Insel bin ich denn hier gestrandet? Oder hat das Handy einen Schlag bekommen, und funktioniert deshalb nicht mehr?«

Laute Rufe ließen Charly zurück in den Wald stolpern. Und wie sollte es auch anders sein? Sie fiel über eine hochstehende Wurzel und landete in einem dichten Busch. Sie wollte sich schon lautstark beschweren, als einige Männer auf Pferden an ihr vorbeipreschten. Sie saß geschützt zwischen den Ästen, verborgen vor den Blicken der Reiter.

»Menschen, na endlich. Das ist meine Chance, hier kommt die Kavallerie.«

Bevor sie jedoch laut auf sich aufmerksam machen konnte, blieben ihr die Worte im Hals stecken.

»Was zum Henker ist das?«

Durch das Blättergewirr musste sie zweimal hinsehen. Die Männer riefen laut etwas in einer fremden Sprache und stürmten regelrecht in das kleine Dorf. Die Bewohner kamen langsam auf die Reiter zu, blieben aber einige Schritte vor ihnen stehen.

»Was ist das? Ein mittelalterliches Theater oder ein Freilichtbühnenspiel?«

Gespannt beobachtete Charly, was dort nun vor sich ging. Unfähig wegzusehen, starrte sie zu den Männern auf den Pferden. Besonders einer stach ihr ins Auge, es war ihr Rädelsführer. Von ihrer Unterhaltung verstand sie kein Wort, dafür war Charly zu weit weg.

»So viel dazu, und ich weiß immer noch nicht, in welchem Land ich mich befinde.«

Auf einmal kam Regung in die Reiter, und der Rädelsführer zog ein Mädchen auf sein Pferd, wobei der Vater des Mädchens dagegen protestieren wollte. Der Anführer der Reiter hob jedoch sein Schwert, Säbel oder ... Charly konnte es nicht genau erkennen, und der Kerl stach auf den Mann ein. Das Mädchen auf dem Pferd kreischte laut auf und versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien. Dies ließ der Mann nicht zu, und gleichzeitig zog er seine Waffe zurück. Anschließend sackte der alte Mann in sich zusammen. Wie eine Stoffpuppe landete er auf dem Boden. Beinahe hätte Charly ebenfalls einen lauten Schrei von sich gegeben, konnte sich aber gerade noch rechtzeitig mit der Hand vorm Mund zurückhalten.

»Das kann doch nicht wahr sein, der wird den Mann doch nicht umgebracht haben?«

Der Schrecken nach so einer grausamen Tat saß schwer in ihren Gliedern, Charly vergaß sogar zu atmen. Charly hoffte so sehr, dass es nur ein Theaterschauplatz war, kein Kriegsgebiet. Erleichtert atmete sie aus und tief wieder ein. Dabei sah sie sich weiter um, entdeckte aber außer den zehn Reiter sowie den Dorfbewohnern keine weitere Menschenseele. Nirgends gab es Ränge, auf denen Zuschauer oder sonstige Personen saßen.

Wird hier ein Film gedreht? Gut, dass ich nicht in das Dorf gegangen bin, da hätte ich bestimmt die Filmeinstellung ruiniert. Eisern verharrte sie in ihrem Versteck, und betrachtete neugierig ihre Umgebung. Müssten da nicht irgendwelche Lampen, Kameras und eine Filmcrew stehen?, überlegte sie angestrengt. Doch nirgends war auch nur das kleinste Anzeichen davon zu sehen.

Laute Rufe lenkten ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Dorf, wo die Reiter wendeten, und im Galopp davonjagten. Gespannt wartete Charly, ob aus einer Ecke, wo sie niemanden sehen konnte, doch noch jemand brüllte: »Cut, und baut die neue Szene auf.« Und dass der blutende Mann, der auf dem Boden lag, aufstand. Doch nichts davon passierte. Stattdessen fielen einige Frauen weinend auf die Knie, während vier Männer mit einer Trage herbeieilten. Diese legten den Mann darauf und gingen wie in einer Trauerprozession mit ihm davon. Wie erstarrt saß Charly noch eine ganze Weile unter dem Busch und traute sich nicht heraus. Irgendwann schliefen ihre Beine ein, daher zwang sie sich unsicher aus ihrem Versteck. Das Kribbeln in den Beinen ließ nur langsam nach, erst dann wagte sich Charly in den Schatten der untergehenden Sonne in Richtung des Dorfes. Aus der Ferne konnte sie einen Scheiterhaufen in der Mitte des Dorfplatzes erkennen. Darauf lag der Mann, den sie mit der Trage weggebracht hatten.

»Wo bin ich hier nur gelandet? Ist ja schlimmer als bei den Barbaren im Mittelalter.«

Von ihrem neuen Standpunkt aus konnte Charly das Dorf und die Umgebung besser erkennen. An den Häusern gab es keine extra Lichter oder Kameras. Das sieht hier keineswegs nach einem Filmset aus? Nur, was ist das hier dann?

In diesem Moment zündete einer der Männer den Scheiterhaufen an. Das trockene Holz fing sofort Feuer. Die Flammen schossen in Rot und Gelb weit hoch in den frühen Abendhimmel. Die Frauen weinten, schluchzten und klagten um den Toten. Die Männer, die sich um den Scheiterhaufen aufgereiht hatten, neigten nur ihre Köpfe.

Der muss wohl etwas ganz Wichtiges gewesen sein. Wenn die so eine Zeremonie aufführen. Oder ist das hier so üblich? Fragen, über Fragen, nur wer kann die mir beantworten?

Etwas in Charly sagte ihr, dass sie sich besser von dem Ort fernhalten sollte. Eigentlich wollte sie hier nur um Hilfe bitten. Da fiel ihr ein: Warum wird nicht nach dem Flugzeug gesucht? Bis jetzt habe ich noch keinen Hubschrauber gesehen, der die Gegend danach absucht. Im Fernsehen schicken sie immer, sobald eins vom Radar verschwindet, sofort einen Suchtrupp los. Aber hier? Nichts, keine Hubschrauber, noch nicht mal ein Auto. Die im Tower müssen doch längst mitbekommen haben, dass einer ihrer Maschinen abhandengekommen ist.

Das Wehklagen und Gejammer der Frauen lenkte Charlys Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen vor ihr. Dieser Anblick verursachte ihr ein eigenartiges Gefühl im Magen, und ihre Beine wollten nur noch weglaufen. So wich sie unsicher Schritt für Schritt zurück. Dabei trat sie auf einen dürren Zweig, der in ihren Ohren viel zu laut knackte.

Aufgeschreckt von dem Geräusch, sahen die Bewohner wachsam auf. Ihre Blicke verhießen nichts Gutes. Einige griffen hastig nach den Mistgabeln und Sensen. Langsam kamen sie auf Charly zu. Die Angst kroch unaufhörlich in ihr hoch. Ihre innere Stimme schrie laut: »Renn, renn um dein Leben.« Das tat sie dann auch. Die Bewohner rannten ihr hinterher, und schrien ihr in einer ihr unbekannten Sprache etwas zu, was nicht freundlich klang. Wie heißt es so schön? Angst verleiht Flügel. Wie wahr, in meiner Schulzeit war es dasselbe. Dort wollten mich die älteren Jungs immer verprügeln. Meistens schaffte ich es, ihnen zu entkommen. Leider nur meistens, nicht immer. Dafür hoffe ich, dem wütenden Pulk hinter mir zu entkommen. Auch wenn ich nicht weiß, warum sie hinter mir her sind. Ich kenne sie ja noch nicht einmal.

Voller Panik rannte Charly um ihr Leben. Sie dankte Gott, dass sie flache und feste Schuhe angezogen hatte statt halsbrecherischer High Heels. Ihr Atem wurde mit jedem Schritt hektischer, schon nach wenigen Metern bekam sie Seitenstechen. Im Laufen war sie noch nie gut gewesen, daher vermied sie es, wo es nur ging. Das rächte sich nun, denn schon nach kurzer Zeit verfluchte sie ihre schlechte Kondition. Dennoch rannte sie weiter, bis die Stimmen im Hintergrund leiser wurden. Charly wagte es nicht, nach hinten zu sehen, das würde sie nur ausbremsen. Bei ihrem momentanen Glück würde sie bestimmt über eine der blöden hochstehenden Wurzeln stolpern. Erst überquerte sie eine Wiese, die von dem Wald eingesäumt war, aus dem sie vorhin gekommen war. Sie wollte jedoch nicht zu lange in ihrer Sicht laufen, daher sprang Charly über einen kleinen Bach, der aussah, als sei er versiegt, in den Wald hinein. Dort rannte sie weiter bergabwärts, und bald wusste sie nicht mehr, wo sie sich befand. Charly wollte nur noch weg von hier, und das so schnell wie möglich. Von dem anstrengenden Laufen ging ihr allmählich die Puste aus. Immer häufiger stolperte sie auf dem unebenen Boden mit den vielen hochstehenden Wurzeln. Fast wäre sie gestrauchelt, konnte sich aber gerade noch an einem Baum abfangen. Keuchend und unsicher riskierte sie nun doch einen Blick nach hinten. Hinter ihr war weit und breit keine wütende Menschenmeute mehr zu sehen. Erleichtert darüber, ihre Verfolger abgehängt zu haben, sah sie nicht, was vor ihr lag. Wie sollte es auch anders sein? Wegen des Blickes nach hinten übersah sie etwas vor ihr, und stolperte darüber. Zu ihrem momentanen Pech kam ein Abhang, den sie hinunterkullerte. Schwer atmend blieb Charly erst einmal eine Weile auf dem Rücken liegen. Nebenbei lauschte sie angestrengt in die Ferne, ob sich ihr jemand näherte. Da schien sie endlich mal etwas Glück zu haben. Denn dies war nicht der Fall.

Zum wiederholten Mal fragte sie sich, wo sie hier gelandet war. Sobald sich ihr Herzrasen und die Atmung wieder normalisiert hatten, setzte sie sich auf. Wachsam betrachtete Charly ihre neue Umgebung.

»Ich kann mir nicht helfen, aber hier sieht es aus wie im Mittelalter. Ist das Jahr 2017 hier noch nicht angekommen?«

Vor ihr lag ein verschlafenes Fischerdörfchen mit einem Hafen, in dem kleinere Fischerkutter vor Anker lagen. Etwas weiter draußen machte sie größere Schiffe aus, aber keine, die sie erwartet hätte. Denn diese Art von Schiffen kannte Charly nur aus dem Museum oder aus alten Filmen über Kolumbus, Marco Polo oder Piraten. Die Szenerie wirkte so unheimlich und surreal auf sie.

»Ich bin doch nicht im berühmten Bermudadreieck gelandet? Wo alles und jeder verschwindet?«

Aus der Ferne beobachtete sie Menschen, die in dem Fischerdorf arbeiteten und lebten. Endlich einen Funken der Zivilisation, aber keine Zeichen, die ihr sagten, immer noch im 20. Jahrhundert zu sein. Verstohlen sah sie ihre Kleidung an. Für sie war es nichts Ungewöhnliches, eine Bluejeans, bequeme Stiefeletten, Shirt und eine Fleecejacke zu tragen. Dennoch fiel sie in ihrem Aufzug hier auf wie ein bunter Hund auf einer Black-and-White-Party. Zudem war ihre Kleidung total verschmutzt von dem geronnenen Blut der Leiche, die auf ihr gelegen hatte.

»So kann ich nicht weiter hier herumlaufen. Ich brauche dringend etwas anderes. Doch das was ich in meinem Rucksack habe, hilft mir hier auch nicht weiter. Ich hab keine Lust, noch einmal so gejagt zu werden.«

Zum wiederholten Mal sah sie auf ihr Handydisplay. Trotz der baumfreien Landschaft bekam sie kein einziges Signal. Frustriert schaltete sie es aus, um den Akku zu schonen. Ihr Handy hatte zwar noch zwei Akku-Balken, aber wer wusste schon, wann sie hier im Nirgendwo die Gelegenheit bekommen würde, es wieder aufzuladen. Nachdem die Schmerzen von der Flucht und dem Sturz etwas nachgelassen hatten, stand sie auf, und suchte eine Möglichkeit, ihre Kleidung in etwas Passenderes umzuändern. Denn so konnte sie hier nicht länger herumspazieren. Durch das Fischerdorf wollte sie nicht gehen. Ihr steckte der Schrecken von vorhin noch tief in den Knochen.

Auf Hilfe für die Toten des Flugzeugabsturzes brauche ich hier nicht hoffen. Die hätten das Unglück mitbekommen müssen, und schon in ihrer Gier auf Beute und aus Neugierde danach gesucht. Außer mir hat den leider keiner überlebt. Ich empfinde es immer noch als ein Wunder, dass mir außer ein paar Prellungen nichts passiert ist. Daran war der kräftige Mann nicht ganz unbeteiligt, dank ihm, der wie ein Schutzkissen für mich war, habe ich den Absturz überlebt. Nur kann ich mir immer noch nicht erklären, wie dann die Frau auf einmal auf mir liegen konnte. Nach dem ersten Aufprall muss das Flugzeug so herumgewirbelt sein, dass es den Mann fortgeschleudert hat und die kopflose Dame auf mir landete. Anders kann ich es mir nicht vorstellen. Wie auch immer es tatsächlich war, ich bin ich da heil herausgekommen. Jetzt geht es mir nur noch darum, von hier wegzukommen. In eine richtige Stadt mit mehr Zivilisation als diese einsame Insel mit den Neandertalern. Damit ich den Opfern helfen kann.

Langsam ging Charly am Dorfrand entlang, auf der Suche nach einem passenden Outfit, damit sie nicht weiter in ihrer blutverschmierten Kleidung auffiel. Ein leises Schnarchen lenkte ihre Aufmerksamkeit auf einen Baum, der von mehreren Hecken gesäumt war. Leise schlich sie darauf zu, und vorsichtig spähte sie durch das dichte Geäst. An den Stamm gelehnt schlief, nein schnarchte, ein großer kräftiger Mann. Seine Kleidung war schlicht und schmutzig. Er hatte seinen Mantel über einen der Äste gehängt, der vom Wind sachte hin und her geweht wurde.

Belustigt dachte sie: Oder kommt es von seinem Schnarchen? Dass den Baum leicht erzittern lässt und somit den Mantel in Bewegung versetzt? Aber der Mantel wäre zumindest ein kleiner Anfang. Mit dem Kleidungstück könnte ich mich ganz einhüllen und würde nicht mehr so auffallen.

Gesagt, getan. Vorsichtig näherte sich Charly dem übergroßen Stoffteil, fast hatte sie ihn zwischen den Fingern, da veränderte der Mann sein Schnarchkonzert. Vorher war es ein eintöniger Grunzlaut gewesen. Jetzt dagegen schmatzte er noch zusätzlich als würde er etwas leckeres essen. Charly verharrte wie angewurzelt in ihrer Haltung auf einem Fuß stehend, und den Arm nach dem Mantel ausgestreckt. Ihre Beinmuskulatur fing bereits vor Überanstrengung an zu zittern. Ihre Prellungen steuerten noch zusätzlich weitere Schmerzen bei. Sie betete inständig, dass er jetzt nicht aufwachen würde, weil er vielleicht Hunger hatte. Plötzlich ging sein Schnarchen wieder in das vorherige Grunzen und Pusten über. Rasch griff sie nach dem Kleidungsstück, vorsichtig zog sie es von dem Ast herunter. Gerade als sie dachte, sie hätte es, blieb der Mantel an einem kleineren Zweig hängen. Durch das Rascheln der Büsche gestört, drehte sich der Mann in ihre Richtung. Charly glaubte, nun habe ihr letztes Stündlein geschlagen. Doch dann drehte er sich ein weiteres Mal zur Seite und schlief weiter. Mit fahrigen Fingern zupfte sie den Stoff von dem gemeinen Ast, der sie fast verraten hätte, herunter. Mit zitternden Fingern schlang sie sich den Mantel um die Schultern. Mit dem Rucksack auf dem Rücken sah sie jetzt zwar wie der Glöckner von Notre-Dame aus, aber das war ihr egal.

In ihrem neuen Outfit machte sie sich nun im Moment keine großen Sorgen mehr um ihre Sicherheit, aber es waren immer noch einige Fragen offen.

Wo bin ich hier nur gestrandet? Wie komme ich wieder nach Hause? Auf ihren gebuchten und geplanten Urlaub, vier Wochen in Singapur, hatte Charly nun keine Lust mehr. Die Freude daran war ihr komplett vergangen.

In den schwarzen Mantel gehüllt, strich sie weiter um die schäbigen Häuser der kleinen Fischersiedlung. Dabei entdeckte sie auf einer Bank einen Hut. Ihren hatte sie leider irgendwann auf ihrer Flucht verloren. An einer Wäscheleine hingen ein paar Hosen, Hemden und ein schwarzes Tuch. Charly lieh sich eine Hose, ein Hemd sowie das Tuch für eine unbestimmte Zeit aus. Die Kleidung war zwar zerschlissen, aber sauber. Mit ihrer Beute zog sie sich in den Wald zurück, wo sie rasch die Kleidung wechselte. Ihre stopfte sie zu den anderen Sachen in den Rucksack.

Charly hatte langes dunkelblondes Haar, das ihr bis zum Po reichte, worauf sie sehr stolz war. So kam es nicht infrage, es abzuschneiden, auch wenn sie damit nur Aufmerksamkeit erregen würde. Daher versteckte sie es unter dem Tuch, das sie sich wie ein Biker um den Kopf schlang. Auf das Kopftuch setzte sie zu guter Letzt den Hut. In dieser Aufmachung sah sie fast wie einer der Seefahrer aus. Nur Charly kam sich so vor als würde sie auf einen Maskenball gehen. Als Mann verkleidet, schritt sie etwas sicherer durch das kleine Fischerstädtchen. Neugierig betrachtete sie ihre Umgebung und die Menschen, die hier lebten. Die Bewohner hingegen sahen sie recht eigenartig an.

Warum schauen die mich so komisch an? Sehe ich immer noch zu ausländisch aus? Stirnrunzelnd betrachte sie ihren Aufzug, konnte aber keinen Unterschied zwischen den Einwohnern und sich erkennen. Daher konnte sie die bösen Blicke der Bewohner keineswegs verstehen. Doch plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Die Menschen sahen sehr verarmt aus, im Gegensatz zu Charlys Mantel, der sauber und recht kostbar wirkte. Um nicht länger aufzufallen und wieder als Zielscheibe zu enden, huschte sie in eine schmale Gasse, in der es furchtbar stank. Nach was es hier roch wollte Charly gar nicht so genau wissen. Mit beiden Händen wühlte sie im Dreck, der sich einfach nur eklig anfühlte. Angeekelt verteilte sie den Schmutz auf dem Mantel. Gleichzeitig hoffte sie, dass die Erde nur vom Regen nass war, und nicht von anderen undefinierbaren Flüssigkeiten.

 Mit dem neuen Parfüm auf der Kleidung betrat sie erneut die schlammige Straße, und beobachtete verstohlen die Menschen, die ihren Weg kreuzten. Sie schenkten ihr diesmal keine Beachtung mehr, und wenn doch, waren sie nicht mehr feindselig. Erleichtert ging sie weiter und schlug, ohne es zu wissen, den Weg zum Hafen ein. Auf der Suche nach Hilfe betrachtete sie die kleine Stadt und ihrer Bewohner. Auf ihrem Weg kam sie an unzähligen Häusern vorbei, die sich mehr oder weniger schäbig aneinanderreihten. Es waren einstöckige Holzhäuser mit Strohdächern, ihre Fenster waren alle schief und unterschiedlich groß. Es musste erst vor Kurzen geregnet haben, die Straßen waren recht schlammig. Hin und wieder musste Charly achtgeben, um nicht in eine größere Pfütze zu treten. Zudem hielten sich hier sehr viele Menschen auf. Einige Frauen standen vor ihren Haustüren und unterhielten sich, in der Nähe spielten ihre Kinder im Dreck. Ein paar Männer zogen ihren Karren mit Heu, Obst, Gemüse oder Fischfässern über die schlammigen Wege.

Wenn das keine mittelalterlichen Filmkulissen sind, was ist es dann? Neureiche, die einen Wildtour-Erlebnisurlaub machen wollen, und das freiwillig? Doch diesen Gedanken verwarf Charly sofort wieder. Etwas später kam sie an einer Schmiede vorbei, vor der sich zwei Männer lautstark stritten. Einer von ihnen musste der Kleidung nach der Schmied sein. In seinem Lederschurz fuchtelte er wild vor einem groß gewachsenen Mann herum. Sie konnte nur den Rücken des großen Mannes sehen und dass er um seinen schmalen Hüften ein Schwert geschnallt hatte. Er zeigte dem Schmied ein weiteres, das er in Händen hielt und das von Weiten etwas schmaler aussah. Kurz blieb Charly stehen, um die Szenerie genauer zu beobachten.

Hoffentlich sticht er den Schmied nicht nieder, so wie der Reiter heute Nachmittag in dem kleinen Bergdorf. Ist das alles erst heute passiert? Flugzeugabsturz, Flucht vor der wütenden Meute und jetzt das Fischerstädtchen? Kaum zu glauben, was alles an einem Tag passieren kann, wenn man in den Urlaub fährt. Dabei hatte ich mich auf ein paar ruhige Wochen gefreut.

Ihr Blick wanderte über den Mann, der ihr immer noch den Rücken zugewandt hatte. Er hatte rabenschwarzes, leicht gewelltes, schulterlanges Haar, das er offen trug. In der untergehenden Sonne hatte es einen faszinierenden Glanz. Seine Kleidung wirkte robust, und er trug den Stil, den Charly schon immer an Männern geliebt hatte. Wild, mit dem Hauch eines Piraten, einfach sexy.

Enge Lederhosen und hohe Schaftstiefel. Den Rest konnte sie von ihrem Standpunkt aus nicht erkennen, weil er ihr den Rücken zugewandt hatte. Wo bin ich hier gelandet? Wo sich Männer anziehen wie Piraten, die der rauen See trotzen. Zumindest kenne ich solche Kleidung aus den alten Piratenfilmen, die nichts mit der Realität zu tun haben. Die echten Piraten waren raue Burschen, keineswegs so weichgespült und freundlich, wie es die Filmindustrie uns weismachen möchte. Zumindest habe ich mal einen Bericht darüber gesehen.

Charly konnte sich von dem schwarzhaarigen Mann nicht abwenden, ihr Blick heftete sich noch immer bewundernd auf ihn. Bis der sich plötzlich zu ihr umwandte. Sein kalter Blick traf tief in ihre Seele. Seine grünen Augen funkelten sie zornig an. Ertappt senkte Charly rasch den Blick und verließ eilig den Platz.

Wahnsinn, was für Augen!, schwärmte Charly insgeheim. Aber so, wie er mich angesehen hat, könnte man meinen, er würde mich durchschauen und er weiß nun, dass ich nicht von hier bin. Es war echt unheimlich.

Ein kalter Schauer ließ sie am ganzen Körper frösteln, daher schlang sie sich den Mantel enger um den Körper. Die Kleidung, die ich mir von der Leine ... ähm, geliehen habe, ist nicht sehr warm und kratzt unangenehm auf der Haut. Ich hätte darunter wenigstens mein eigenes Shirt anlassen sollen. Vielleicht finde ich ein Plätzchen, wo ich das ändern kann. Auf dem Weg zum Hafen spürte sie stechende Blicke in ihrem Rücken. Ich weiß nicht, aber ich habe irgendwie einen siebten Sinn dafür. Für das Gefühl, beobachtet oder verfolgt zu werden. Genauso fühle ich mich gerade, und das gefällt mir keineswegs. Eigentlich bin ich nicht sehr ängstlich, aber im Moment kriecht die pure Angst meinen Rücken hinauf.

Charly wollte das Unbehagen so schnell wie möglich abschütteln. So schnell, wie es ihr schmerzender Körper zuließ, huschte sie zwischen der Menschenmenge und den Arbeitern mit ihren Karren hindurch. Einige Straßen weiter ließ das Gefühl nach, und sie atmete erleichtert aus. Das befreite Gefühl blieb jedoch nur für kurze Zeit. Beängstigt blickte sie sich nach allen Seiten nach dem Grund des Unbehagens um. Ein leichtes Ziehen zog sich durch ihren Magen. Werde ich schon wieder verfolgt?, war ihr erster Gedanke. Im selben Augenblick hörte sie ein lautes Knurren. Oh nein was war das? Mein Verfolger? Nein, das war nur mein Magen. Als der sich ein zweites Mal bemerkbar machte, musste sie sich ein erleichtertes Auflachen verkneifen. Erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass sie heute kaum etwas gegessen hatte. Zum Glück steckte etwas Essbares aus der zerstörten Bordküche des Flugzeuges in ihrem Rucksack. Doch in der muffigen Gasse wollte sie nichts essen. Der Geruch vertrieb ihr eher den Appetit, darum sah sie sich ein weiteres Mal um, und als sich nichts Auffälliges entdeckte, betrat sie wieder die Straße. Dort stieß sie fast mit einem Ochsenkarren zusammen, der sie um ein Haar umgefahren hätte. Reflexartig sprang sie einen Schritt zurück, und knallte gegen etwas Hartes. Plötzlich strich ein heißer Atem über ihr Ohr. Leise flüsterte eine tiefe Stimme: »Nihow os gilie, egunj?« (Wohin so eilig, Junge?)

Charly erschrak bei der Stimme, von der sie kein Wort verstand. Am liebsten wollte sie wegrennen, doch zwei starke Hände hinderten sie daran. Diese packten sie und drehten sie zu sich um. Auf einmal blickte Charly geradewegs in zwei funkelnde grüne Augen.

Hilfe, wo kommt der so plötzlich her? Vor Staunen blieb ihr der Mund offen stehen. Auch wenn sie es nicht für möglich gehalten hätte, aber der Blick ihres Gegenübers wurde noch düsterer. Schließlich wiederholte er seine Worte ein weiteres Mal: »Nihow os gilie, egunj?«

Charly sah ihn nur fragend an, sie verstand kein einziges Wort von dem, was er zu ihr sagte. Ängstlich und vorsichtig wagte sie es, den Kopf sachte zu schütteln. Sie wollte ihm damit zu verstehen geben, dass sie ihn nicht verstanden hatte. Für einen Augenblick glaubte Charly, er wollte noch etwas sagen, er tat es jedoch nicht. Diesen Moment nutzte sie aus, um ihn genauer zu mustern. Sein markantes Gesicht war wie aus Marmor gemeißelt. Große Augen, eine schmale Nase und ein voller Mund, der zum Küssen einlud, wenn er nicht so grimmig verzogen wäre. Was seiner Schönheit keinen Abbruch tat, im Gegenteil, sein Aussehen verlieh ihm eine faszinierende kriegerische Schönheit. Besonders seine Augen hatten es Charly angetan. Genau von so einem Mann hatte sie immer geträumt. Nun stand er vor ihr, der Mann ihrer geheimsten Träume. Mit gemischten Gefühlen, die eher Trauer beinhalteten, versuchte sie ihn nicht zu genau anzusehen. Was ihr kläglich misslang. Am liebsten wollte Charly seine Lippen mit dem Finger nachfahren, unterließ es jedoch. Wer wusste schon, wer der Kerl war und warum er ihr gefolgt war. Er ließ sie urplötzlich los, aber seine Augen brannten sich in die ihren. Auf einmal lenkte eine Stimme hinter ihm seine Aufmerksamkeit auf den Neuankömmling. Diese Unachtsamkeit seinerseits nutzte Charly und verschwand in die herannahende Dämmerung.

Die Situation hatte sie so aufgewühlt, dass sie jede Vorsicht außer Acht ließ. Hakenschlagend wie ein verängstigtes Häschen rannte sie zwischen den Menschen und ihren Karren davon. Irgendwann hatte sie die Orientierung komplett verloren, und sie wusste nicht mehr, von wo sie gekommen war und wohin sie rannte. Da sah sie vor sich mehrere große Holzkisten, die zu einem Turm aufgestapelt waren. Schon fast außer Atem, sammelte sie ihre letzten Kraftreserven und steuerte darauf zu. Sie quetschte sich durch eine Lücke in eine leere Kiste, die gut verborgen vor neugierigen Augen dastand. Hier in ihrem kleinen Versteck versuchte sie, erst einmal ihr wildpochendes Herz zu beruhigen. Nach geraumer Zeit wagte sie es, einen Blick auf die still gewordene Straße zu werfen, auf der nur noch vereinzelt Menschen unterwegs waren. In der Dunkelheit und mit der spärlichen Straßenbeleuchtung sahen sie unheimlich und beängstigend aus. Rasch kroch sie tiefer in ihr Versteck hinein, mit der Stirn lehnte sie sich an das kühle Holz. Inständig hoffte sie, dass alles nur ein sehr schlechter Traum war, und sie morgen wieder in ihrem eigenen Bett aufwachte.

Im Moment fragte sie sich jedoch verzweifelt zum x-ten Mal: »Wo zu Henker bin ich hier gestrandet?« Erneut zog sie ihr Handy aus dem Rucksack und hoffte auf ein rettendes Signal. Obwohl sie sich nun in einer Kleinstadt befand, verweigerte es ihr Handy, den Balken der Erlösung zu zeigen. »Das gibt es doch nicht. So tief in der Provinz kann ich doch nicht gestrandet sein. Irgendwann muss ich ein Signal empfangen.« Um die Batterie zu schonen, schaltete sie das Gerät ganz aus.

Laute Stimmen drangen an ihr Ohr, und vorsichtig spähte Carlotta durch eine Ritze hindurch, wo sie mehrere Männer entdeckte, die zu einem Kahn unterwegs waren. Sie unterhielten sich in der ihr völlig unbekannten Sprache. Es war genau dieselbe, die auch der Mann mit den grünen Augen benutzt hatte. Zumindest klang sie wie diese. Ängstlich beobachtete sie weiterhin die Männer, wie sie in mehrere Boten stiegen, um damit auf das offene Meer zu paddeln.

»Das müssen die Fischer sein, die in der Nacht hinausfahren und ihre Netze einholen.« Dies redete sich Charly einfach mal ein, um sich selbst zu beruhigen. Sicher war sie sich nicht, aber was sollten sie sonst sein. Danach wurde es sehr still um sie herum. Langsam kam auch sie nun zur Ruhe, wodurch jedoch die Schmerzen der Verletzungen, die sie sich beim Flugzeugabsturz zugezogen hatte, wieder verstärkt in ihr Bewusstsein traten. Zusätzlich plagte sie auch ein ziemlicher Hunger. So kramte sie in ihrem Rucksack nach den Proviantpäckchen, und bei der Aussicht auf etwas Essbare knurrte ihr Magen laut auf. Trotz ihres großen Hungers zügelte sie sich, noch etwas für den nächsten Tag aufzuheben. Wer wusste schon, wann sie wieder an etwas Essbares herankommen würde. Mit leicht knurrenden Magen, rollte sie sich in ihrem Versteck zusammen und schlief bald darauf ein.

2 Eine Schiffsreise ins Ungewisse

 

Ein leichtes Ruckeln und Rauschen weckte Charly aus einem sehr tiefen Schlaf auf. Sie musste erst einige Male blinzeln, um zu erkennen, wo sie sich nun befand.

 Mhm ...? Scheibenkleister, wo bin ich? Und was bedeutet das eigenartige Gerüttel hier?

Verwirrt versuchte Charly, sich in ihrem Versteck zu orientieren, bis endlich der Groschen gefallen war. Moment, da war doch der schreckliche Flugzeugabsturz, dann das gruselige Dorf, und am Schluss die Flucht vor den geheimnisvollen grünen Augen. Vor lauter Angst habe ich mich in einer Kiste versteckt. Lauschend verhielt sie sich ganz ruhig und versuchte, die Geräusche zu lokalisieren. Was zum Teufel ist da draußen los?

Erneut hörte sie die lauten Männerstimmen. Besonders eine war extrem laut. Diese schrie regelrecht, was ihre Furcht noch mehr schürte. Keine der Stimmen da draußen klangen freundlich. Daher wagte Charly es nicht, aus ihrem Versteck hervorzukommen. Sie hatte die Hoffnung, dass die Männer irgendwann wieder verschwinden würden, so wie die in der letzten Nacht. Leider taten sie ihr diesen Gefallen nicht. Stattdessen drang der Geruch des Meeres immer deutlicher in ihre Nase. Vorsichtig lugte sie wieder durch ihr Guckloch, diesmal sah sie allerdings nur jede Menge Holz.

Du meine Güte, wo bin ich jetzt schon wieder hineingeraten? Hört der Albtraum denn nie auf?

Eine andere männliche Stimme übertönte die der anderen. Was er brüllte, verstand Charly einfach nicht. Sie vermutete, dass es irgendwelche Befehle sein musste, dem Tonfall nach. Auf einmal wurde an der Kiste gerüttelt, in der Charly saß.

Oh nein, bitte nicht, flehte sie ängstlich.

Die nackte Angst kroch wie hundert Spinnen in ihr hoch. Sie rollte sich so klein wie möglich zusammen, damit sie keiner entdeckte. Nur, das ging nicht lange gut. Plötzlich kippte die Kiste, die daraufhin mit einem lauten Krachen auf dem Boden aufschlug. Dabei klappte der Deckel auf und Charly kullerte heraus. Sie landete genau vor einem schwarzen Stiefel und einem Holzbein, dessen Besitzer ein grimmiger Mann mit einer Glatze und einem vernarbtem Gesicht war. Missbilligend sah er auf sie herab, als wäre sie eine Kakerlake in seinem Rum, die ihr Schwimmabzeichen machte.

Laut brüllte er: » Rew tis sad? Rehow tmmok eseid ettardnal?« (»Wer ist das? Woher kommt diese Landratte?«)

Die Männer um sie herum sahen sich ratlos an. Bis ihr Anführer, dafür hielt ihn Charly, sagte: »Tfrew nhi rebü Drob.« (»Werft ihn über Bord.«)

Seine Männer jubelten, doch ihre Freude wurde jäh unterbrochen. Ein kräftiger, braun gebrannter Mann, der mit einer Peitsche spielte, trat vor den Anführer. Ein paar Mal hätte er Charly fast mit der Peitsche erwischt. Wie ein Häufchen Elend lag sie eingerollt vor ihnen und ließ die Männer nicht aus den Augen. Die Kerle jagten ihr eine panische Angst ein. Wie ein Mantra sagte sie sich immer wieder im Stillen: Das ist nur ein Traum. Bald wachst du auf. Dann liegst du zu Hause in deinem Bett. Die Männer sind nicht real. Leider sehen die noch schlimmer aus als Piraten. Ähm ... gibt es heutzutage eigentlich noch Sklavenhändler? Mal abgesehen von den Leiharbeitsfirmen. Die auch im 21. Jahrhundert sowas in der Art betreiben. Nur, die tragen ordentliche Kleidung, manche sogar Anzüge. Aber ich weiß von keiner Leiharbeitsfirma, die mit solchen Lumpen unterwegs ist. Ihre Hosen sind fleckig, und die Hemden gehören auch nicht zu der neuesten Mode, mit den ganzen Löchern. Oder ist das hier der letzte Schrei? Um nicht länger über die hiesige Modewelt nachgrübeln zu müssen, richtete sie ihre Aufmerksamkeit zurück auf die beiden Männer vor ihr.

Der mit der Peitsche unterhielt sich eine ganze Weile mit dem Glatzkopf. Besser gesagt, sie stritten sich, der Lautstärke nach. Charly wüsste zu gerne, um was es da ging. Wahrscheinlich um sie, nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, wollte sie aber lieber nicht wissen. Auf einmal sah der Anführer wütend zu ihr hinunter, schließlich nickte er dem Kerl mit der Peitsche zu und ging. Der große Kräftige ließ seine Peitsche eine Haaresbreite vor ihrem Gesicht knallen und rief ihr etwas zu. Charly sah ängstlich zu ihm auf. Vor lauter Panik weigerte sich ihr Körper, sich zu rühren. Vor sich hin knurrend, beugte er sich zu ihr hinab und zog sie auf die Beine. Erst jetzt stellte sie fest, dass sie sich auf einem Schiff befand. Oben, über dem Krähennest flatterte eine Totenkopfflagge. Was sie daran am meisten erschreckte war, dass sie bereits über das offene Meer der Sonne entgegenschipperten.

Oh nein, das, das ist ei... ein Piratenschiff ... dachte sie bestürzt, ohne einen Ton über die Lippen zu bringen.

Bevor Charly an was anderes denken konnte, zog sie der Kerl in einem groben Griff mit sich in den Ruderraum. Dort stieß er sie auf eine Bank, und bedeutete ihr, wie die anderen Sklaven zu rudern. Zusätzlich wurden ihre Füße mit einer schweren Kette an einem Eisenring befestigt. Kurz überprüfte er, ob die Ketten hielten. Zufrieden gab er ein Zeichen und die anderen armen Geschöpfe nahmen ihre Ruder auf. Im hinteren Teil des Schiffes erklang ein lautes Klopfgeräusch, und die Ruderer bewegten sich genau in dessen Takt. Mit aller Kraft brachten sie das Schiff auf volle Fahrt.

Scheibenkleister, was soll das? Wo bin ich hier gelandet? Der Albtraum wird ja immer konfuser. Jetzt sitze ich hier, in einem Schiffsbauch, an einem Ruder festgekettet. Von Fensterlüften halten die hier wohl nicht sehr viel, so wie das hier ... ähm, müffelt. Mal gelinde ausgedrückt. Das wird doch nicht ein neues Fitnessboot sein? Dann sollten sie hier mal das Sportprogramm überarbeiten, ganz zu schweigen von der Hintergrundmusik. Die ist ja so was von nervig. Immer das gleiche ... bomm, bomm, bomm, bomm.

Plötzlich hielt der Musikus inne, und es wurde still. Bis auf ein lautes Röcheln und das Meer war nichts zu hören. Darum erklang der nächste Krach sehr laut in ihren Ohren.

Oh je, was war das? Mit großen Augen suchte sie nach dem Grund des Geräusches und fand auch sofort die Ursache. Zwei Reihen vor ihr war jemand von seiner Bank gekippt und auf den Boden geknallt. Entsetzt beobachtete sie, was nun geschehen würde. Ob ihm geholfen wurde und besonders wie. Sie rechnete jedoch nicht mit besonders herzlicher Hilfe, die der arme Mann bekommen würde. Charly sollte mit ihrer Befürchtung recht behalten.

 Die Männer, die nicht mit dem Tempo mithalten konnten, bekamen auf ihrem ohnehin schon zerschundenen Rücken die Peitsche zu spüren. Sobald sie sich nicht mehr rührten, bekamen sie ein kostenloses Bad im Meer – ohne Rettungsring. Jedes Mal, wenn das eine oder andere geschah, machte sich Charly immer ganz klein, um ja nicht aufzufallen.

 Zu ihrem Glück hatte Charly immer noch die Männerkleidung an. Nur der Mantel und der Hut sowie ihr Rucksack lagen vermutlich noch in der Kiste. Ihre Unaufmerksamkeit bereute sie sofort, weil der nächste Peitschenschlag über ihren Rücken zischte. Sie hatte mit dem rudern kurz innegehalten, um zu verschnaufen. Der Schmerz jagte wie ein Messer durch die Innereinen. Krampfhaft biss Charly die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Sonst hätte sie sich sofort als Frau enttarnt.

Das ist definitiv kein Traum. Scheiße, tut das weh!

Die Stimme des Dompteurs dröhnte durch den ganzen Raum: »Rudere schneller, oder du läufst über die Planken, du fauler Hund.«

Tief atmete Charly ein und aus. Der Geruch, der ihr in die Nase stieg, roch alles andere als nach einer frischen Meeresbrise. Schnell wandte sie ihren Kopf zu dem kleinen Loch in der Bordwand, in dem ihr Ruder steckte. Gierig sog sie von dort die frische Luft in ihre Lungen. Ohne Vorwarnung landete ein weiterer Schlag auf ihrem Rücken, und der Kerl knurrte sie wütend an. Mit Tränen in den Augen wandte sie den Kopf ab. Verbissen umklammerte sie das Holz und versuchte ihr Ruder im gleichen Takt durchs Wasser zu ziehen wie ihre Leidensgenossen. Mühsam unterdrückte sie die Schmerzensschreie.

Wer weiß, was die Kerle mit mir machen würden, wüssten sie, dass ich eine Frau bin. Nicht auszudenken! Also, Carlotta, halt bloß den Mund, egal was passiert. Dir darf kein einziger Laut über die Lippen kommen. So hast du vielleicht eine Chance, diese Folterkammer hier zu überleben, sprach sie sich selbst Mut zu.

Es dauerte nicht lange, da bekam sie schon die ersten Blasen an den Händen. Sie hoffte zwar immer noch, in einem Albtraum festzustecken, aber die Schmerzen fühlten sich einfach zu real an. Charly verlor jegliches Zeitgefühl, je länger sie im Ruderraum war. Viel zu selten bekamen die Sklaven etwas zu essen und zu trinken. Daher wunderte es keinen, wenn immer wieder einer von ihnen unter der Anstrengung zusammenbrach. Die Kranken und die Toten wurden ganz einfach im Meer entsorgt. Sie hörte nur das Aufplatschen, wenn der Körper auf dem Wasser auftraf. Erholung gab es, sobald ein starker Wind aufkam. Dann hatten die Ruderer eine Pause und konnten sich von der Anstrengung erholen. Zu ihrem Leidwesen mussten sie während der gesamten Zeit im Bauch des Schiffes bleiben. Es war ihnen unter Androhung der Todesstrafe verboten, nach oben zu gehen, um etwas frische Seeluft zu schnuppern. Was auch recht schwierig war mit den Fesseln an ihren Beinen. Daher blieb Charly auch lieber in dem Gestank, der nach Unrat, Schweiß und Moder roch, als tot zu sein.

 

Erschöpft, mit blutenden Händen und schmerzenden Gliedern, ruderte sie schon gefühlte Wochen, als endlich erneut der ersehnte Wind aufkam. Erschöpft zogen sie die Ruder ein. Charly lehnte sich müde darauf, mit der Nase zu dem kleinen Guckloch gerichtet. Über ihr Gesicht in der Armbeuge verborgen, rannen dicke Tränen. Einer der Sklaven hinter ihr tippte Charly sachte auf die Schulter. Rasch wischte sie die verräterischen Spuren weg, bevor sie sich zu ihm umdrehte. Hier durfte niemand erfahren, dass sie eine Frau an Bord hatten. Sie wäre ein gefundenes Fressen für eine Bande hungriger Piraten. Fragend sah sie nach hinten. Der Mann hinter ihr war dunkelhäutig und kräftig. Sie hatte ihn jedoch noch nie mit einem Lächeln gesehen. Auch jetzt verzog er keine Mine. Dafür reichte er ihr ein Stück trockenes Brot. Oder war es etwa Zwieback? Nickend dankte Charly ihm und wandte sich rasch wieder von ihm ab. Hungrig knabberte sie an dem trockenen Stück herum. Es war so trocken, dass sie es kaum schlucken konnte. Noch dazu schmeckte es grässlich, aber es stillte für einen Augenblick ihren Hunger. Die nächste Ration Wasser würde sie erst viel später bekommen, wenn überhaupt. Ihr brannten die Lippen, die bereits trocken und spröde waren. Selbst ihre Kehle war vor lauter Durst schon fast zu einer Dörrpflaume zusammengeschrumpelt.

Gedankenverloren sah sie durch die kleine Luke auf das Meer hinaus. Viel konnte sie von ihrem Standort aus nicht erkennen, dazu war das Loch zu klein. Dafür wehte etwas frische Luft herein, die sie in vollen Zügen genoss. Ihre Jacke hing nur noch in Fetzen an ihrem Leib. Die ständigen Peitschenhiebe rissen immer wieder ein weiteres Loch in den dünnen Stoff. Irgendwann rupfte sie ein Stück vom Saum ihres Oberteils ab und verband damit ihre blutenden Hände, die von dem vielen Rudern aufgesprungen waren. Hier in dem Dreck machte sich keiner Gedanken über irgendwelche Infektionen. Aber mit dem Stoff um ihre Handflächen konnte sie das raue Holz besser packen.

Grübelnd überlegte Charly: Wie lange bin ich schon hier? Tage? Wochen? Mein Urlaub ist mit Sicherheit schon längst vorbei. Ob sich meine Chefs fragen werden, wo ich so lange bleibe? Warum ich mich nicht melde und nicht erreichbar bin? Falls ich jemals wieder nach Hause komme: Habe ich dann noch meinen Job? Ich seh schon, hier habe ich viel zu viel Zeit, um darüber nachzudenken. Das ist nicht gut. Da sterbe ich eher an Verzweiflung, als an den ganzen Krankheitserregern, die hier so herumschwirren. Ich sollte mir eher Gedanken darüber machen, wie ich von diesem Schiff herunterkomme. Erst dann kann ich mir überlegen, wie es weitergeht.

Ihren Kampfgeist und ihren Überlebenswillen hatte Charly noch nicht gänzlich verloren, auch wenn sie keine Möglichkeit sah, wie sie von hier verschwinden könnte. Immer wieder betrachtete sie die schweren Ketten, die sie an das Schiff fesselten.

Soll ich mich totstellen? Dann würden sie mich ins offene Meer schmeißen, dann wäre ich nicht nur frei, sondern auch ein Leckerbissen für die Haie. Also ist das auch keine gute Option. Daher verwarf sie die Möglichkeit sofort wieder und hoffte, dass das Schiff irgendwann vor Anker ging, und sie heimlich von Bord flüchten könnte.

 

Die Zeit verging, der Tag wechselte zur Nacht, und die Nacht ging in einen neuen Tag über. Die einzige Abwechslung, die es auf dem Schiff gab, war das Wetter. Von Sonne über Regen und Flaute bis hin zum Sturm war alles dabei. Oft wurde es Charly übel, wenn das Schiff in den Wellen zu sehr schaukelte. Sie glaubte schon, sie würde sich nie an den rauen Seegang gewöhnen. Doch eines Tages musste sie sich nicht mehr übergeben. Wahrscheinlich, weil sich nichts mehr in ihrem Magen befand, was nach oben kommen konnte. Die Essensrationen wurden immer seltener. Dafür wurden ihre Arme und ihr Oberkörper durch das viele Rudern immer kräftiger. Wenn nur nicht ständig ihr Magen vor lauter Hunger so knurren würde. Eines schönen Tages ließ ihr Dompteur, so nannte sie den Mann mit der Peitsche insgeheim, die Ruder einziehen. Er ging dann wie immer mit der Peitsche knallend durch die Reihen, um ihre Fußfesseln zu überprüfen. Sobald er zufrieden war, dass sich keiner selbst befreien konnte, verließ er den Ruderraum. Es dauerte nicht lange, bis sie ein lautes Platschen hörte, und neben dem Schiff Rudergeräusche vernahm.

Was ist nun los? Kommt jemand oder geht jemand von Bord? Charly versuchte, durch das Guckloch etwas zu erkennen. Sie sah jedoch nichts weiter als Wasser. Sie überprüfte die Reihen, ob jemand fehlte. Da fiel ihr ein Platz auf, an dem vorhin noch jemand regungslos über dem Ruder gehangen hatte. Jetzt war er fort.

Den haben die anscheinend eiskalt über Bord entsorgt, spekulierte sie traurig.

Für diesen Tag war es die einzige Aktion, die an Bord geschah. Ab da vergingen wieder viele langweilige Stunden, und die nächste Nacht brach herein. Müde von den Anstrengungen der letzten Wochen, schlief sie mit dem Kopf in die Hände gestützt ein. Charly wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, bis sie plötzlich ein Gejohle und ein eigenartiger Singsang aufweckten. Kurz darauf polterte es auf dem Oberdeck und jemand stampfte zu ihnen die Stufen nach unten. Müde sah sie auf und erwartete schon, den Dompteur mit seiner Peitsche zu sehen. Doch diesmal kam jemand Fremdes herunter, der zwei große Eimer dabei hatte.

Sarkastisch dachte Charly: Kommt jetzt endlich die Putzfrau? Wurde auch Zeit, so wie es hier aussieht, kann man einfach nicht vom Fußboden essen.

Der Mann fing jedoch nicht an zu putzen, sondern teilte Schalen an die Männer aus, in die er etwas Flüssigkeit schüttete und jedem einen Brotlaib gab.

Na endlich, der Zimmerservice kommt vorbei. Ich hätte gerne eine Tasse Kaffee und ein Marmeladenbrötchen, scherzte sie mit schwarzem Humor. Auch bei ihr blieb er stehen. Stumm reichte er ihr ein Stück Brot und die Schale mit Wasser. Nur, das Getränk war kein Wasser, dazu roch es viel zu streng. Aber ihr Mund war so trocken, dass die Wüste Sahara die reinste Tropenlandschaft dagegen gewesen wäre. Angewidert nippte sie an dem Getränk.

Ist das Rum? Wein kann es nicht sein, und Essig auch nicht, auch wenn er so brannte. Egal, zumindest tötet der Alkohol, der hier sehr hoch sein muss, die ganzen Bakterien in mir ab.

Charly wollte sich nicht beschweren, denn zumindest hielt sie endlich mal wieder etwas zu essen in den Händen. Ihr großer Hunger wollte sie dazu zwingen, alles schnell auf einmal zu essen. Aber wegen ihres Überlebenswillens aß sie sehr langsam. Heimlich schob sie etwas von dem Brot in ihre Hosentasche.

Für später, man weiß ja nie, wann es wieder etwas zu essen gibt.

Kurz darauf ging es auf dem Oberdeck erneut rund. Dem Klang nach wurden die Segel gesetzt. Es dauerte nicht lange, schon nahm das Schiff wieder Fahrt auf. Der Mann mit dem Essen war trotz alldem immer noch hier unten. Eben erreichte er die letzte Reihe. Dort drehte er sich um. Langsam ging er erneut zu jedem Ruderer und schenkte ihnen von dem komischen Gebräu nach. Es schmeckte zwar widerlich, aber immer noch besser als das Salzwasser, das hin und wieder hereinschwappte. So hielt sie ihm ihre Schale hin, sobald er neben ihr stehengeblieben war. Artig füllte er auch ihre Schale auf. Diesmal sogar bis zum Rand. Sie wollte schon vor Dankbarkeit lächeln, verkniff es sich jedoch ganz schnell. Ängstlich schaute Charly in ihren Schoß, wo das restliche Brot lag. Um ihn kein weiteres Mal ansehen zu müssen, trank sie bedächtig von dem komischen Gebräu. Gleichzeitig lauschte sie, bis seine Schritte verklangen. Frische Seeluft drang immer stärker durch die kleinen Löcher in der Bordwand. Genüsslich sog Charly diese in ihre Lunge. Dabei merkte sie, wie das Schiff Fahrt aufnahm; schnell durchpflügte es die Wellen.

Bin gespannt, wie lange wir jetzt wieder auf hoher See sind, bis wir erneut irgendwo anlegen. Ich muss mir endlich einen Plan zurechtlegen, damit ich beim nächsten Mal von Bord fliehen kann. In der Nähe eines Hafens hätte ich bestimmt mehr Chancen, an Land zu kommen, als mitten auf dem Meer. Aber wie mach ich das mit den Ketten? Die sind so fest mit den Planken verschraubt, dass ich die ohne Werkzeug nicht aufbekommen werde. Wie komme ich an so etwas heran? Zu Hause hätte ich meine Handtasche dabei, in der ich immer ein Bündel Werkzeug verstaut habe, anstelle von Lippenstift und Make-up. Ich halte einfach nix davon, sich das Gesicht mit Farbe zuzukleistern.

Deprimiert starrte sie weiter auf das Wasser, in der Hoffnung, eine Lösung dort draußen zu entdecken. Leider sprang keine Meerjungfrau aus den Fluten heraus und verriet ihr, was sie am besten tun könnte.

In den nächsten Wochen lebte Charly wie in Trance zwischen dem Rudern und dem Versuch, die Ketten heimlich zu öffnen. Eines Tages schaffte sie es endlich, einen rostigen Nagel aus einem der Balken zu ziehen. Aber das blöde Schloss wollte und wollte einfach nicht aufgehen. Wegen dem Salzwasser war das Schloss total verrostet. Ohne etwas Essig und Öl gegen den Rost würde sie es nie öffnen können. Aber ihr Überlebenswillen ließ sie nicht aufgeben. Eines schönen Tages kam nach einer langen Flaute endlich wieder ein starker Wind auf. Die Ruderer bekamen ihre verdiente Verschnaufpause. Müde und erschöpft nickte Charly immer wieder ein, während das Schiff durch das Wasser pflügte. Bis sie plötzlich von lauten Schreien, die vom Deck kamen, aufgeschreckt wurde. Wie aus dem Nichts verstummten diese ebenso rasch, wie sie ertönt waren. Wachsam sah sie durch das kleine Loch in der Bordwand. Dahinter starrte sie geradewegs auf ein mächtiges Schiff mit sechs Masten, das immer näher kam. Oben am Mast wehte eine goldrote Fahne. Innerlich hoffte sie, dass dies die Marine wäre, die den Piraten eins auf die Mütze geben und die Gefangenen befreien würden. Charly sehnte sich nach der Freiheit. Wenn es nach ihr ginge, konnte das Schiff die Piraten nicht schnell genug kapern. Aufgeregt wies sie mit Handzeichen den Mann vor und hinter ihr auf die herannahende Rettung hin. Die nahmen diese Nachricht allerdings nur mit einem Schulterzucken und Kopfschütteln zur Kenntnis. Charly ließ das Schiff jedoch nicht aus den Augen, sie beobachtete ängstlich, wie es längsseits ging. Unter den Piraten über ihr herrschte eine gespenstische Ruhe.

Was haben die da oben vor? Wollen die das Schiff entern oder warten sie ab? Ich glaube kaum, dass die Fremden sich freiwillig ergeben werden. Hoffentlich sind es keine Händler, die mit ihren Kostbarkeiten jetzt in die Hände der Piraten fallen. Betend saß Charly auf ihrem Platz und vergaß vor Aufregung ihren schmerzenden Körper. Ihr schien es, als wären Stunden vergangen, bis auf dem Deck plötzlich ein Tumult entstand und gleichzeitig mehrere Kanonen abgefeuert wurden.

Du meine Güte, die Piraten greifen an! Zitternd verfolgte sie, wie die Munition aus Eisenresten und Schrott vor dem Schiff im Wasser landeten.

Mit dem Zielen haben die Piraten es wohl nicht so. Zaghaft lächelt sie, da die Unschuldigen hoffentlich dadurch verschont blieben, dass sie den nächsten Schüssen ausweichen konnten. Weit gefehlt, im selben Augenblick öffneten die Neuankömmlinge ihre Luken, und erwiderten das Feuer. Die neben uns müssen bessere Kanonen zur Verfügung haben. Keine so altersschwachen Teile, wie die Piraten hier. Die haben die ihren wohl im Sommerschlussverkauf ganz günstig erstanden.

Charly stellte es sich bildlich vor, wie der glatzköpfige Captain zum Händler ging, auf die Kanonen mit dem roten Angebotsschildchen deutet und sagte: »Einpacken brauchen sie die nicht, ich nehme sie gleich so mit.« Aus denen flitzte nun munter die Eisenmunition über das Meer. Eine erwischte fast das Heck des prachtvollen Schiffes. Der Steuermann war jedoch ein waches Kerlchen und riss rechtzeitig das Steuer herum. So verfehlte die Munition ihr Ziel um Haaresbreite. Die Schreie der Männer wurden lauter, während Seile mit Hacken die Schiffe wechselten. Eine weitere Kugel flog zurück, genau an die Breitseite, wo Charly saß. Sie wollte schon laut aufschreien, damit alle in Deckung gingen, verhedderte sich bei der raschen Bewegung jedoch in ihren Ketten, mit denen sie immer noch an den Planken gefesselt war.

Mit einem leisen »uff« landete sie auf dem Bauch. Im selben Moment krachte die Kugel durch die Schiffswand neben ihr. Der Mann vor ihr wurde komplett weggeschossen, mitsamt der Halterung der Ketten. Ein Blick zur Seite sagte ihr, dass der Mann hinter ihr sich ebenfalls auf den Boden geworfen hatte und ihr zunickte.

Gut, ihn hat es nicht erwischt. Das ist unsere Chance zu fliehen.

Energisch zog sie an den Ketten, die sich nun locker durch die kaputten Ösen ziehen ließen. Rasch befreite sie ihre Beine von dem lästigen Übel. Danach half sie dem Mann hinter ihr, um auch ihn von seinen Fesseln zu befreien. Plötzlich rauschte eine weitere Kugel knapp an ihrem Kopf vorbei. Die Holzsplitter flogen ihnen wie Schneegestöber um die Ohren. Hastig zogen beide gleichzeitig die Köpfe ein, um den scharfen Geschossen auszuweichen. Nebenbei fädelte sie die Ketten durch ihre Fußfesseln. Anschließend fielen auch die Manschetten von ihren Knöcheln ab. Endlich ohne Ketten, deutete der Mann nach oben. Charly folgte seinem Wink und nickte. Beide robbten auf dem Bauch in Richtung des Aufgangs. Sie kamen nur langsam voran, denn ihre schmerzenden Glieder bremsten jede ihrer Bewegungen.

Einer der Piraten war so dumm und stellte sich ihnen in den Weg. Es war der Dompteur mit seiner Peitsche. Er hieb erst auf den Mann ein, dessen Name Charly noch immer nicht kannte. Sie schnappte sich ein Stück der zerbrochen Kette, die neben ihr auf dem Boden lag. Damit schlug sie auf den Piraten ein. Gemeinsam brachten sie den Dompteur zu Fall und beförderten ihn durch das große Loch in der Bordwand ins Meer. Sie mussten so schnell wie möglich von hier weg. Das Meerwasser füllte bereits den Bauch des Schiffes, und es begann langsam zu sinken. Kurz warf Charly ein Blick auf die anderen Sklaven. Leider konnten sie für diese nichts mehr tun. Das Wasser füllte stetig den Raum und sie kamen nicht mehr zu ihnen durch. Für sie kam jede Hilfe zu spät. Schnell bahnten sie sich einen Weg nach oben auf das Deck, auf dem seit Längerem ein erbitterter Kampf stattfand. Charly und ihr Mitstreiter griffen sich von je einem der Toten ein Schwert. Mit denen fochten sie sich ihren Weg in die ersehnte Freiheit.

Du meine Güte, ich hab doch keine Ahnung vom Fechten oder dem Schwertkampf. Lange werde ich so den heutigen Tag nicht überleben.

Die Wut und das Adrenalin putschten Charlys Überlebenswillen jedoch auf. Heute wollte sie nicht sterben. Hackend wie mit einer Axt schlug sie mit dem schweren Schwert auf ihre Angreifer ein. Ihr Hass galt besonders dem Captain des Kahns, der sie in diese Misere gebracht hatte. Auch wenn er vielleicht nicht wusste, dass sie sich in der Kiste versteckt hatte. Nun, das war jetzt irrelevant. Wütend nahm sie sich einen nach dem anderen vor. Dabei bemerkte sie nicht, wie ein großgewachsener Mann sie beobachtete, wie sie hektisch und ungelenk auf ihre Feinde losging. Um sie herum herrschte das pure Chaos, trotzdem suchte sie nach ihrem eigentlichen Ziel, dem Kapitän. Tote, schwer Verletzte und schreiende kämpfende Männer kreuzten ihren Weg. Hackend bahnte sie sich Schritt für Schritt einen Weg auf die Kommandobrücke. Dort focht der glatzköpfige Pirat gegen einen ganz in schwarz gekleideten Mann. Sie schenkten sich nichts. Mal trieb der Pirat den Schwarzhaarigen vor sich her, dann der Schwarzhaarige den Piraten. Wie aus dem Nichts wendete sich das Blatt, und plötzlich musste der Pirat harte Schwerthiebe einstecken.

Der Hass auf den Glatzkopf stieg in Charly rasant an. Dich hab ich gesucht, du Mistkerl. Jetzt bist du fällig, du wirst jetzt dafür bezahlen, was mir dein Sklaventreiber angetan hat. Lange werde ich heute nicht überleben, aber dich Mistkerl nehme ich mit. Jetzt bin ich am Zug.

Energisch umklammerte Charly ihr viel zu schweres Schwert mit beiden Händen. Wild umherfuchtelnd bahnte sie sich einen Weg zu ihrem Ziel. Auf der Kommandobrücke angekommen, beobachtete Charly aufmerksam den dunkelhaarigen Mann, der wendig seine zwei Schwerter durch die Luft sausen ließ. Mit der rechten Hand parierte er einen heftigen Schlag des Piraten von oben, gleichzeitig griff er mit der linken von der Seite her an.

Wow, ich möchte auch so kämpfen können. Das sieht nicht nach einem Kampf aus, sondern eher wie ein Tanz, als wären seine Schwerter seine Partnerinnen, die er über das Parkett wirbelt. Gegen ihn sehe ich aus wie eine tollpatschige Ente mit einem Brieföffner, die damit auf eine Meute Wölfe losgeht. Ob er mir ein paar Tricks zeigen könnte? Während Charly sich das fragte, schlich sich von der anderen Seite ein weiterer Pirat von hinten an den Schwarzhaarigen heran. Oh nein, nicht mit mir. Von hinten angreifen ist feige, und der Kerl ist meine einzige Rettung, von hier fortzukommen. Die nimmst du mir nicht weg, du Mistkerl. Denn die Feinde des Piraten sind meine Freunde.

Ohne weiter darüber nachzudenken, stellte sich Charly dem Piraten in den Weg. Sie versuchte, die Bewegungen des schwarzhaarigen Adonis nachzuahmen, leider misslang ihr das auf ganzer Linie. Daher gab sie auf und hackte, wie sie es am besten konnte, wütend auf den Feigling ein. Denn Holzhacken hatte sie schon als kleines Mädchen bei ihrem Opa auf dem Bauernhof gelernt. Er dagegen war ein geübter Kämpfer, und parierte oder wich ihren Schlägen flink aus. Nur durch einen Zufall schaffte es Charly, einen sonst tödlichen Hieb zu parieren. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie der Schwarzhaarige die Hand hob, um einen Angriff abzuwehren. Aus Reflex tat sie es ihm gleich, und so schaffte sie es, ihren Gegner zu blocken. Mit zitternden Armen, denen so langsam die Kraft ausging, überlegte sie. Ich kann bald nicht mehr, aber den Captain will ich mit ins Grab nehmen. Ich muss einfach durchhalten.

Mit neuer Kraft, die von reinem Hass gespeist wurde, ging sie zum Angriff über. Nach weiteren Hieben musste sie ihrem Gegner ausweichen. In dem Moment, als er sie wieder mit dem Schwert von oben herab angriff, tauchte sie darunter hinweg. In einer Drehung verpasste sie dem Piraten einen Tritt in die Kniekehlen. Die Abwehr fiel ihr zum Glück gerade rechtzeitig wieder ein. Denn vor einiger Zeit hatte Charly an einem Selbstverteidigungskurs für Frauen teilgenommen. Dort waren ihr einige Abwehrtechniken, für den Fall, dass man mit einem Messer angriffen wurde, gezeigt worden. Mit dem Tritt hatte der Pirat nicht gerechnet: Ungelenk knickte er ein und verlor sein Gleichgewicht. Diese Chance nutzte Charly aus. Sie schwang das schwere und unhandliche Schwert in einem Bogen und hieb mit voller Wucht auf ihn ein, und trennte ihm den Kopf von den Schultern. In derselben Sekunde ging ein gewaltiger Ruck durch den Kahn; das Wasser reichte schon fast bis zum Oberdeck. Die ersten Wellen schwappten bereits durch die Spalten der Reling. Von dem Zittern wurde Charly kurz abgelenkt, dabei sah sie, wie die ersten Leichen von Bord gespült wurden.

Hinter ihr ertönte ein lautes Klatschen. Mit hocherhobenem Schwert wandte sie sich um und erwartete, den glatzköpfigen Piraten zu sehen. Stattdessen klatschte der Schwarzhaarige ihr Beifall.

»Rüf nenie Lebanhcsnürg tsib Ud thcin thcelhcs, Run na renied Kinhcet tssum Ud hcon Netiebra.« (»Für einen Grünschnabel bist du nicht schlecht, nur an deiner Technik musst du noch arbeiten.«)

Stirnrunzelnd sah sie ihn an. Ich hab kein Wort verstanden. Aufmerksam betrachtete sie ihn genauer. Wegen seines blutverschmiertem Gesichts war kaum etwas zu erkennen. Nur, dass es sehr markant, verwegen und männlich war mit seinem Dreitagebart. Zustimmend nickte er ihr zu. Wieder verstand Charly nicht, was er damit sagen wollte. Aber sie sah hinter ihm den glatzköpfigen Pirat, wie er sich vom Boden aufrappelte. Leise schlich er sich von hinten an den Adonis heran. Die Zähne zusammenbeißend, sprang sie mit dem gezogenen Schwert vor, doch gerade als sie ihn erreichte hatte, verließen sie ihre Kräfte und sie sank nach vorne. Charly vernahm gerade noch ein leises Stöhnen, bevor alles um sie herum schwarz wurde.

3 Der Piratenkönig

 

An seine Mannschaft gerichtet sprach der schwarzhaarige Hüne:

»Männer, nehmt mit, was ihr tragen könnt, dann verlassen wir das sinkende Schiff.«

Schwere Schritte kamen näher und blieben neben dem schmächtigen Kerlchen stehen, das noch immer halb auf dem glatzköpfigen grausamen Peete lag. Er konnte es kaum glauben, wie schnell er an ihm vorbeigestürmt war und sich auf den Piraten geworfen hatte. Bei dem Sturz hatte er sein Schwert in die Brust des grausamen Peetes gerammt.

Der Kleine hat echt Mumm, aber seine Schwerthand ähnelt eher dem eines Holzfällers. Kopfschüttelnd drehte der Hüne den Knaben auf den Rücken. Da erkannte er, dass der Bursche schwer verletzt, aber noch am Leben war. Mit einem Schwung warf er sich den Bewusstlosen über die Schulter, und sah nach seiner Mannschaft.

Mit ihrer neuen Beute verschwanden sie, so plötzlich, wie sie aufgetaucht waren, dabei überließen sie das sinkende Piratenschiff, die ›»Normonas«, ihrem Schicksal. Zurück auf der »Dark Angel« zählte der Captain seine Männer, ob jemand fehlte oder es Verletzte gab. Zufrieden über seine treuen Männer, die abgesehen von leichten Verletzungen wohlauf vor ihm standen, nickte er ihnen lobend zu.

Die Dark Angel war ein stolzes Schiff mit sechs Masten, und das schnellste, das auf den sechs Weltenmeeren unterwegs war. Weder der König noch ein anderer Piratencaptain war im Besitz eines solchen Schiffes. Doch jeder jagte es und war scharf auf die Schätze, die es in seinem Bauch verbarg. Der Captain vertraute seinen Männern blind, die eben die neue Beute im Unterdeck verstauten. Anschließend befahl der schwarzhaarige Captain der Dark Angel seinem ersten Maat, das Steuer zu übernehmen. Er hingegen ging mit Charly auf der Schulter in seine Kajüte. Dort legte er sie auf einem Lager ab und betrachtete sie genauer.

»Für sein Alter sieht er viel zu weich aus. Er hat noch nicht mal einen Bartwuchs, aber den Mut von zehn Männern. Er riecht auch wie zehn verschwitzte Männer. Möchte nicht wissen, wo der zuletzt gesteckt hat.«

Ihm war nicht verborgen geblieben, dass dieser Bursche ihm zweimal das Leben gerettet hatte. Aus diesem Grund hatte er ihn mit auf sein Schiff genommen, anstatt ihn seinem Schicksal zu überlassen. Vom Geruch seines Gastes belästigt, goss er etwas Wasser in eine Schale. Mit einem frischen Lappen versuchte er sachte, den Schmutz sowie das Blut von dem Bewusstlosen abzuwaschen. Er fing im Gesicht an, und fuhr sachte über seine hageren Konturen.

»Er hat wohl schon lange nichts Richtiges mehr zu essen bekommen. Seine Gesichtsknochen stechen schon bald durch die Haut. Was will man auch vom grausamen Peete erwarten? Er war nie gut zu seiner Mannschaft. Sie hatten vor ihm keinen Respekt, dafür eine unglaubliche Todesangst.«

Wieder tauchte er den Lappen in die Schale und wrang ihn danach aus. Auf ein Neues begann er, seinen Gast von Gestank, Schmutz und Blut zu befreien. In dem Moment, als er seinem Gast vom Hals abwärts fahren wollte, wachte dieser auf. Ängstlich rollte sich Charly von ihm weg, kam jedoch nicht sehr weit. Hinter ihr befand sich die Holzwand der Kajüte, die ihre Flucht stoppte. Von dem Aufprall verzog sie schmerzverzehrt ihr Gesicht. Als er seinem Gast helfen wollte, schlug sie ihm die Hände weg.

»Tbah eniek Tsgna hci eut hcue sthcin.« (Habt keine Angst, ich tue euch nichts.)

Verständnislos blinzelte sie ihn an. Vor ihr stand ein großgewachsener Mann in schwarzen Hosen, dessen Beine in glänzenden Stiefeln steckten. Darüber trug er ein schwarzes Hemd, trotzdem ließ sich gut erahnen, dass sich ein kräftiger Oberkörper darunter verbarg. Von seinem ebenmäßigen, markanten Gesicht mit einem Dreitagebart sahen zwei smaragdgrüne Augen neugierig auf sie herab. Sie musste sich zusammenreißen, um ihn nicht zu berühren. Sonst könnte es ja passieren, dass diese Erscheinung von einem Traummann sich einfach wieder in Luft auflöste. Diesen Anblick wollte sie noch ein Weilchen genießen und einfach weiter träumen. Denn so einen Mann würde sie kein zweites Mal zu Gesicht bekommen.

Weiter fragte er: »Tshetsrev Ud, saw hci egas?« (Verstehst du, was ich sage?) Wieder erntete er nur fragende Blicke und als nach längerem Warten keine Antwort kam, fragte er: »Rew tsib ud?« (Wer bist du?)

Seine Worte wecken sie aus ihren Tagträumen. Charly wagte es nicht, etwas zu sagen. Sie hatte keine Ahnung, wer er war und ob sie ihm vertrauen konnte. Nachdem sie in den letzten Wochen kein einziges Wort gesprochen hatte, wusste sie nicht, ob ihre Stimmbänder sie nicht im Stich lassen würden. Bei ihrem Glück saß sie nun erneut auf einem Schiff fest, auf dem sie keinen verstand.

Doch dieser Mann ist der Erste, der mit mir spricht. Mit echten Worten, die sogar nach Sätze klangen. Aber ich verstehe ihre Bedeutung nicht. Was will er mir sagen, oder fragt er mich etwas? Wer weiß, wer der Kerl ist. Zumindest bin ich nicht wieder in einem Ruderraum eingeschlossen. Auch wenn er der Feind meiner Peiniger ist, so muss er noch lange kein Freund sein. Wenn ich wenigstens verstehen würde, was er zu mir sagt.

Er startete einen neuen Versuch, indem er ihre Hand nahm. Sofort wollte sie ihm diese wieder entziehen, sein Griff wurde jedoch fester, aber nur so, dass sie ihm nicht entkam. Mit einem Finger ihrer Hand zeigte er auf sich und sagte: »Erol.« Danach deutete er auf ihre Brust und sah sie abwartend an.

Kann der Bursche tatsächlich nicht sprechen? Oh je, das wird dann eine einseitige Unterhaltung. Was habe ich mir da nur an Bord geholt? Kann er mich wenigstens hören? Er wird doch nicht taub und stumm sein?

Endlich verstand Charly seine Geste. Krampfhaft überlegte sie, welchen Namen sie ihm geben könnte, der männlich genug klang. Denn »Carlotta« wäre der falsche Name, um weiterhin als Mann durchzukommen. Gleichzeitig hoffte sie, dass er nicht hinter ihr Geheimnis kam, wenn sie ihm antwortete. Es könnte auch passieren, dass sie überhaupt einen Ton herausbrachte. Zur Sicherheit räusperte sie sich einmal kurz, um die Stimmbänder zu testen. Erleichtert darüber, dass ein rauer Ton hervorkam, blickte sie ihn etwas unsicher an. Da kam ihr die Idee. Jeder hohe Herr hatte meist einen Diener, der Carl, Charles oder so ähnlich hieß. Mit einem weiteren Räuspern versuchte sie, ihre Stimme tiefer klingen zu lassen, was ihr in dem Moment nicht schwerfiel, da ihre Kehle wie ausgedörrt war. Krächzend wie eine alte Diesellok brummte sie: »Charly.« Du meine Güte, wie klingt denn meine Stimme? So habe ich mich noch nie angehört, noch nicht einmal, wenn ich eine starke Halsentzündung hatte. Hoffentlich habe ich jetzt keinen Fehler gemacht, weil ich ihm geantwortet habe.

Ja halleluja, der Bursche kann ja doch reden. Erfreut über diese Erkenntnis, deutete er auf sich, und sagte: »Erol« dann wieder auf sie: »Charly.« Zaghaft nickte sie ihm zustimmend zu.

Danach konnte sie ihre Hand wieder aus der seinen ziehen. Kaum hatte er sie losgelassen, durchströmte Charly ein Gefühl der Einsamkeit und Sehnsucht. Am liebsten hätte sie sich an seine starke Brust geworfen und erst einmal ein paar Stunden so richtig geweint. Doch wie sähe das aus? Eine Frau, zwar in Männerkleider, die sich an einen anderen Mann warf. Da könnte man fast meinen, der Mann stehe auf Gleichgeschlechtliche. Da sie nicht wusste, wie Homosexualität in diesem Land gehandhabt wurde, ließ sie es besser bleiben. Auch wenn es nicht schlimm wäre, denn sie war ja kein Mann. Bloß manchmal vergaß selbst sie es.

Kurz darauf streckte er ihr einen Lappen hin und deutete damit auf die Schale mit dem Wasser. Mit dem Lappen unter der Nase lenkte er Charlys Aufmerksamkeit wieder auf sich. Dann zeigte er auf sie, und bedeutete ihr, sich selbst zu waschen, weil er mit der anderen Hand seine Nase zuhielt. Das verstand sie so, als würde sie stinken, was wohl auch den Tatsachen entsprach. Wer weiß, wie lange es schon her war, dass sie eine Dusche, geschweige denn ein Bad von innen gesehen hatte.

Ich stinke bestimmt zum Himmel. Warum hat er mich hierhergebracht? Und was ist dem glatzköpfigen Piraten geschehen? Wo ist er? Vorsicht schnüffelte sie an ihrem Hemd. Puh, oh ja, er hat recht. Wie hält der Mann vor mir meinen Gestank aus? Dabei könnte ich mir bessere und verlockendere Gerüche vorstellen als die nach Schweiß, Blut, Exkrementen und wer weiß, was noch für unaussprechliche Dinge. In dem letzten Rattenloch gab es ja kein passendes Wellnessprogramm, dort war nur Sporttreiben angesagt. Ich sollte den Betreiber echt verklagen.

Während er wartend auf sie herabsah, schoss es ihr durch den Kopf: Der erwartete doch nicht etwa, dass ich mich vor ihm ausziehe? Dabei sieht er selber aus, als würde er eine Dusche benötigen.

Ein kurzes Klopfen an der Tür schreckte beide auf. Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete sich diese, und ein älterer Mann mit Vollbart steckte den Kopf durch einen kleinen Spalt.

»Captain, die Männer wollen wissen, was sie mit dem Gefangenen tun sollen.«

»Ich komme sofort.«

Der Mann nickte und verschwand wieder so geräuschlos, wie er aufgetaucht war. Anschließend ging Erol zu einer Truhe, und kramte darin herum. Zügig beförderte er ein paar Kleidungsstücke zutage, die er neben ihr auf die Liege legte. Ohne weitere Worte ging er schließlich selbst zur Tür hinaus.

»Was war das?«, krächzte Charly ratlos.

Mühsam kroch sie über die Laken zu der Schüssel mit dem Wasser. »Das müssen echte Soldaten sein. Die sehen auch viel ordentlicher aus als die Piraten.«

In dem Spiegelbild des Wassers konnte sie einen verschwommenen Blick auf sich erhaschen. Ihr blieben für einen Moment die Worte im Hals stecken. »Oh je, ich sehe echt erschreckend aus mit dem ganzen Blut, das an mir klebt. Mich wundert es echt, dass hier niemand vor Schreck vor mir davonläuft.«

Vorsichtig schnupperte sie noch einmal kräftiger an ihrer Kleidung. Was sie besser vermieden hätte. »Bäh!« Der Geruch löste einen leichten Hustenreiz bei ihr aus.

»Oh ja, ich bin echt eine Zumutung für andere.«

Charly hoffte, dass niemand die Koje betrat, solange sie sich wusch und umzog. Sie wollte auch versuchen, zusätzlich ihre Lumpen loswerden. Was nicht so einfach war, da ihre alten Klamotten an ihren Wunden festklebten. Sobald sie den Stoff wegzupfte, öffneten sie sich teilweise erneut, da sie den Schorf mit von der Haut riss. Schmerzverzehrt biss sie ihre Zähne fest zusammen, um keinen lauten Schrei von sich zu geben. Wer wusste schon, wer dann angerannt käme, und sie in ihrer momentanen prekären Situation vorfände. Als nackte Frau in einer Koje. Darauf konnte sie sehr gut verzichten. Nach längerem Ziehen und Zerren hatte sie endlich die restlichen Stofffetzen von ihrem Körper gerissen. Sachte wusch sie ihren geschundenen Körper. Vorsichtig tupfend versorgte sie die alten und neuen Wunden. Charly wagte es nicht, in den Truhen nach etwas Verbandsmaterial zu suchen. Sie wollte auf keinen Fall beim Herumschnüffeln erwischt werden.

Trotzdem wäre es gut, wenn ich etwas finden könnte ... weiter kam sie nicht.

Der Lärm von oben lenkte ihre Aufmerksamkeit in diese Richtung. Viele laute Rufe und eine Stimme, die ihr vage bekannt vorkam, ließen sie ihren Blick an die Decke richten. Daher zwang sie sich zur Eile. Mit fahrigen Gliedern schlüpfte sie in die viel zu große Kleidung, die ihr Erol hingelegt hatte. Die schwarze Hose und das Hemd waren sauber, aber sie kratzten auf ihrer wunden Haut unangenehm.

»Ich muss eine Möglichkeit finden, meine Wunden besser zu versorgen. Das Hemd ist zum Glück schwarz, da wird man nicht so schnell das frische Blut von den Peitschenhiebe und Schnittwunden sehen. Und wenn ich mich nicht zu schnell bewege, platzen sie hoffentlich nicht wieder auf.«

Zum Schluss band sie sich ein Tuch um den Kopf und verbarg ihre langen dunkelblonden Haare darunter. Mit einem letzten sehnsüchtigen Blick auf die Liege, wohin sie jetzt viel lieber zurückgekehrt wäre, um ein paar Stunden zu schlafen, wandte sie sich resigniert ab. Wann sie endlich zum Schlafen käme, stand noch in den Sternen. Die Neugierde trieb sie nach oben. Charly wollte wissen, was diesen ständigen Lärm verursachte. Wankend stieg sie über die schwankenden Stufen nach oben.

»Nein es sind nicht die Treppen, die so wackelig sind, es ist das Schiff.«

Oben angekommen, bot sich ihr ein Bild des Grauens. Sie hatte schon geahnt, wieder auf einem Schiff zu sein, aber nicht auf einem in voller Fahrt. Dazu stand die Mannschaft geschlossen auf dem Deck, um einen Mann in ärmlichen Lumpen herum. Dieser hockte gefesselt vor ihnen auf dem Boden. Charly erkannte ihn sofort, es war der Mann, der ebenso wie sie auf dem Piratenschiff als Ruderer hinter ihr gesessen hatte. Er war bis jetzt gut zu ihr gewesen. Auf dem Schiff hatte er ihr das Leben etwas erleichtert und ihr geholfen, sich besser zurechtzufinden. Der Mann hatte sie nie gedrängt, etwas zu sagen, so wie es die anderen ständig getan hatten. Die hatten irgendwann aufgegeben, da sie glaubten, der Neuankömmling könne nicht reden, vielleicht war ihm ja die Zunge herausgeschnitten worden.

Ich kenne noch nicht einmal seinen Namen, ging es Charly durch den Kopf, als sie das Geschehen weiter beobachtete.

Einer aus der Mannschaft hob ein Schwert und deutete damit auf den gefesselten Mann vor sich.

He, was wollen die mit ihm anstellen? Die werden ihn doch nicht töten wollen? Gehören die nicht zu den Guten? Das sind keine Piraten, sie sind doch Soldaten, die für Gerechtigkeit sorgen! Oder?

Ohne weiter darüber nachzudenken sprang Charly vor. Dabei griff sie nach dem Schwert, das an einem Fass lehnte. Im selben Augenblick, als der Soldat seine Waffe auf den Mann sinken ließ, parierte sie sein Schwert. In letzter Sekunde hinderte sie den Soldaten daran, den gefesselten Mann zu töten. Mit aller Kraft versuchte sie, sich ihm entgegenzustellen.

 Zu ihrem Glück war der kräftige Seebär mit seinen rotblonden kurzen Stoppeln und blauen Augen so verblüfft von ihrem Auftauchen, das er es langsam zurückzog. Das Schwert war für sie viel zu schwer, und wegen der fehlenden Gegenwehr konnte sie es nicht mehr hochhalten. Erschöpft ließ sie es sinken. Nun nutzte es Charly als Stockersatz, um ihr Gleichgewicht besser aufrechtzuerhalten. Erst jetzt erkannte sie, dass sie inmitten der raubeinigen Männer stand. Um ihnen keine Spur ihrer Angst zu zeigen, blickte sie grimmig in die Runde. Dem Gefangenen hinter ihr schenkte sie keinen weiteren Blick. Sie wollte lieber keinen der anderen Männer aus den Augen lassen.

Nachdem der Schwertkämpfer seine Verblüffung abgeschüttelt hatte, hob er seine Waffe erneut an. Charly kam nicht mehr dazu, die ihre zu heben. Mittlerweile war sie für sie auch viel zu schwer, um sie anzuheben. Ihre Kräfte verließen sie zusehends. Sie schaffte es kaum noch, sich aufrecht zu halten. Die Schmerzen in Rücken, Armen und den Beinen raubten ihr den letzten Atem. Trotzdem wich sie nicht zur Seite und starrte den Mann vor ihr grimmig an. Dieser ließ auf einen Zuruf plötzlich seine Waffe sinken und trat beiseite, wodurch eine Lücke entstand. Zwischen den Reihen kam Erol auf sie zu. Ihn hatte sie vor lauter Tumult überhaupt nicht bemerkt, bis er schließlich vor ihr stand.

Na, ganz klasse, der hat mir gerade noch gefehlt. Kann der nicht wieder gehen, und das tun, was er am besten kann? Sich ans Ruder stellen, und einfach nur mega sexy aussehen? Sexy? Wo kommt das denn schon wieder her? Ich meinte einfach, er soll mir aus der Sonne gehen. Er lenkt mich zu sehr ab. Wenn ich nur nicht so müde wäre, ich kann kaum meine Augen offenhalten. Ein Königreich für ein Bett, oh ja, das wäre jetzt genau das Richtige. Bei dem Gedanken daran musste sie ein Gähnen unterdrücken.

Captain Erol wusste bereits, dass sein Gast seine Sprache nicht verstand. Daher richtet er seine Worte an den Gefangenen hinter ihr.

»Wer seid Ihr, und woher kommt Ihr? Wer ist der junge Mann, der versucht, dich vor uns zu beschützen?«

Seine Antwort kam prompt: »Wir waren Sklaven auf der Piratengaleere, der Normonas, bis ihr uns angegriffen hattet. Der junge Mann kam erst vor neun Wochen zu uns an Bord, nachdem wir vor der Stadt der verlorenen Seelen ankerten. Die Piraten müssen ihn von dort auf das Schiff gebracht haben. Viel kann ich nicht über ihn sagen. Einen Tag, nachdem wir wieder ausgelaufen waren, brachte ihn der Kerkermeister zu uns nach unten. Er durfte einen Sklaven ersetzten, der zwei Tage zuvor gestorben war.«

Prüfend musterte Erol den nun in saubere Kleider gehüllten großen Mann, der für seinen Geschmack ein viel zu weiches Gesicht besaß.

In Charly regt sich Unsicherheit bei seinem prüfenden Blick, der auf ihr lag. Warum schaut der mich so komisch an? Hat er etwa herausbekommen, dass ich kein Mann, sondern eine Frau bin? Hoffentlich nicht. Ich habe trotzdem das Gefühl, die reden gerade über mich. Oder machen die sich etwa über mich lustig?

Ein Blick in ihre Gesichter sagte ihr, dass das nicht der Fall war. Die Situation schien auf sie keineswegs bedrohlich zu wirken. Aber das konnte natürlich auch täuschen. Womöglich spielte eher ihre Müdigkeit ihr einen Streich. Das war auch einer der Gründe, warum sie ihr Schwert nicht aus der Hand legen wollte. Denn ohne ihre Stütze würde sie schon längst schlafend auf den Planken liegen.

Ich würde zu gerne wissen, über was die sich unterhalten. Ich verstehe kein Wort von ihrer Sprache, was ist das eigentlich für eine? So eine habe ich bis jetzt noch nie gehört. So wie das hier aussieht, ist dieser Erol wohl der Chef des ganzen Ladens hier. Was die hier wohl machen? Ob die zur Wasserschutzpolizei gehören? Diese Klamotten, die die Männer hier tragen, sehen mir zwar nicht nach Uniformen aus. Aber das muss ja nix heißen, ich kenne mich in dem Bereich eh nicht aus.

Kurz ließ sie ihren Blick über die Mannschaft schweifen. Alle trugen festes Schuhwerk, Jeans oder Baumwollhosen, darüber Hemden und Shirts. Außer Erol, der noch immer mit dem ehemaligen Sklaven sprach, der trug eine Art Uniform. Alles an ihm war schwarz, von den Stiefeln, über die Hose bis hin zum Hemd und der Jacke mit den silbernen Knöpfen. Stirnrunzelnd betrachtete Charly ihn nun etwas genauer und überlegte: Irgendwoher kenne ich den ... oder täuschen mich meine müden Augen?

Nachdem der Gefangene geendet hatte, gab der Kapitän einem seiner Männer hinter Charly ein Handzeichen. Sie schüttelte den letzten Gedanken sofort ab. Wegen ihres desolaten Zustandes war ihre Reaktion viel zu langsam. Sie konnte gerade noch erkennen, wie einer der Männer die Fesseln des Gefangenen durchschnitt. Schwerfällig stand dieser auf und lächelte Charly beruhigend zu. Wieder wurde ihre Aufmerksamkeit auf den Captain gelenkt, der seine Worte an den Mann hinter ihr richtete.

»Wie lautet euer Name?«

»Zaim, Captain.«

»Zaim, du gehst mit Krümel ...«, damit zeigte er auf einen kleinen, hageren Mann, der eher nach einem Teenager aussah. »In der Kajüte lässt du deine Wunden versorgen. Krümel gibt dir etwas Frisches zum Anziehen, aber vorher wäscht du dich. Du stinkst schlimmer als ein Iltis aus dem Arsch. Anschließend hilfst du mit beim Segelsetzten.«

Von den Worten des Captains drang lautes Gelächter über das Deck. Zaim wusste viel zu gut Bescheid über seinen eigenen Zustand. Daher nahm er die Worte dem Captain nicht übel. Vor Charly ließ er sich seinen erschöpften Zustand nicht anmerken. Kurz nickte Zaim ihr zu und legte für einen Moment die Hand auf ihre Schulter. Das war für sie ein Zeichen, dass er ihr ohne Worte Mut zusprechen wollte. Genau das hatte er während ihrer Gefangenschaft auch jedes Mal getan, um ihr zu signalisieren, sie solle nicht aufgeben. Seine Geste tat ihr auch dieses Mal gut. Darum straffte sie ihre Schultern und kämpfte gegen all das an, was ihr im Moment zu schaffen machte. Die Schmerzen, ihre Müdigkeit, sowie die neue Herausforderung, auf einem fremden Schiff inmitten der vielen Männer zu stehen. Das Bild vor ihr erinnerte sie an eine ähnliche Situation. Diese versetzte sie schlagartig zurück auf das letzte Schiff, und das, was sie dort durchleben musste.

Sie erinnerte sich an die erste Stunde ihrer Gefangenschaft an Bord der Normonas. Er war der Erste gewesen, der Kontakt zu ihr aufgenommen hatte und ihr zeigte, was sie tun musste. Immer wenn sie verzweifelt war, legte er ihr die Hand auf die Schulte. Damit ließ er sie spüren, dass sie nicht allein war mit ihrem Kummer. Die schlimmste Zeit begann in dem Moment, in dem sie dachte, sie sei unbeobachtet, um einen Blick auf ihr Handy zu werfen. Sie wollte nur nachsehen, ob nicht endlich eine Möglichkeit bestand, Hilfe herbeizurufen. Kurz zog sie es aus ihrer Hosentasche und schaltete es an. Aber wie schon die Male zuvor war der kleine Funkmasten auf ihrem Display tot. Einer ihrer Mitsklaven sah, dass sie etwas in den Händen hielt, das leuchtete. Die Gier danach glomm in seinen Augen auf. Sein Blick verhieß nichts Gutes, er wollte es unbedingt haben und griff danach. Charly war zu langsam, wodurch es zu einem Gerangel kam. Dabei glitt ihr das Handy aus der Hand und auf den Boden. Dort schlitterte es über die rutschigen Planken und schließlich plumpste es durch ein kleines Loch ins Meer. Mit einem letzten Aufleuchten verschwand ihr Handy in der Tiefe. Mit einer Mischung aus Wut und Trauer sah sie ihm hinterher, bis es aus ihrer Sicht verschwand. Da ging ihre letzte Hoffnung auf Hilfe baden, und das ganz ohne Schwimmreifen. In dem Moment sah sie nur noch rot. Die geballte Mischung aus Wut und Verzweiflung, aus einem unerklärlichen Grund in so einer misslichen Lage zu stecken, ohne eine Spur der Hoffnung, kroch in Charly hoch. Das war sonst gar nicht ihre Art, doch nun verspürte sie nur Lust auf Gewalt. Den Wunsch, jemanden zu schlagen, war übermächtig. Wie von selbst nahm sie das nächstbeste Teil, das sie in die Finger bekam. Es war ein Stück Holz von ihrer Bank, dass etwas abstand. Sie brach es ab und schlug damit wie in Rage auf den Sklaven ein. Bis sie plötzlich von dem Mann, der hinter ihr saß, von dem blutenden Körper wegzogen worden war. Das Geschrei der anderen Männer rief die Piraten auf den Plan. Mit polternden Schritten kamen weitere Piraten die Stufen herunter. Sofort bemerkte der glatzköpfige Captain, was hier abging. Wütend über diesen Vorfall suchte er den Schuldigen. Kaum fiel sein Blick auf Charly, die sich aus dem Griff ihres Hintermanns befreien wollte, verzog er sein Gesicht. Mit einem knappen Befehl an seine rechte Hand, den Sklaven Herold, ließ er sie vor aller Augen auspeitschen. Anschließend band man ihre Beine mit einer schweren Kette am Plankenboden fest. Keiner ihrer Ruderleidensgenossen hatte Mitleid mit ihr. Trotz ihrer Wunden musste sie rudern, ansonsten bekäme sie zusätzliche Schläge. Zu ihrem Glück war ihre Kleidung nicht zu sehr zerrissen. Sie bedeckten noch immer ihre Weiblichkeit. Trotzdem hoffte sie, dass keiner der Männer hinter ihr Geheimnis kam. Sobald sie sich unbeobachtet fühlte, weinte sie leise in ihren schmutzigen Ärmel hinein.

Wenn die glauben, ich lass mich unterkriegen, dann haben sie sich aber sauber geschnitten. Von klein auf bin ich an starke Schmerzen gewöhnt. Was mich nicht tötet, macht mich nur stärker. Besonders der Hass auf diese Männer trägt ein großes Stück dazu bei. Sollte ich die Gelegenheit bekommen, den Captain zu durchlöchern, werde ich es tun. Denn die Gesetze, was das Morden betrifft, gelten hier anscheinend nicht. Ihre Wut gab ihr die nötige Kraft, diesen Albtraum zu überstehen.

Ein ungeduldiges Räuspern riss Charly aus ihrer Gedankenwelt. Zurück im Hier und Jetzt stand sie noch immer völlig erschöpft vor dem schwarzhaarigen Captain. Ihre Beine zitterten bereits, nur dank ihrer puren Willenskraft und der Stütze des Schwertes schaffte sie es, aufrecht zu stehen. Um die letzten grauenhaften Gedanken zu vertreiben, schüttelte sie den Kopf. Gleichzeitig versuchte sie krampfhaft, ihren Blick zu klären. Aber ihre Müdigkeit machte aus ihrer Gehirnmasse nur noch einen weichen Matschekuchen. Tief atmete sie ein. Für einen kurzen Augenblick klärte sich ihre Sicht. Sie musste aber überlegen, wer der Kerl vor ihr war.

Wie heißt er gleich wieder? Ach ja, Erol, wie der berühmte Schauspieler. Dabei sieht er dem überhaupt nicht ähnlich. Der hier sieht um einiges besser aus. Ich liebe Männer, die fast zwei Meter groß sind, mit einem wohldefinierten Körperbau. Breite Schultern, schmale Taille und traumhaft grüne Augen. Der Kerl ist einfach zum Dahinschmelzen. Genau so hab ich mir meinen Traummann immer vorgestellt, und nun steht er wahrhaftig vor mir. Wer hätte das gedacht? Oh nein, was geht mir da durch den Kopf? Ich kenn den Kerl ja überhaupt nicht. Was ist, wenn er so ein brutaler Mistkerl ist wie der letzte Captain? Schlag dir den Mann aus dem Kopf, er ist nicht gut für deine Gesundheit. Rasch verbot sich Charly, den Mann vor sich noch genauer zu mustern.

Dieser bemerkte, dass er nun endlich die Aufmerksamkeit des großen mageren jungen Mannes hatte. Wenn er sich nicht auf das Schwert stützen würde, würde er mit Sicherheit umfallen, so müde wie er aussieht. Oder liegt es an seinen weichen, schon fast mädchenhaften Zügen? Für die schwere Arbeit an Bord scheint er mir nicht kräftig genug zu sein. Da fällt mir ein, dass ich einen Diener sehr gut gebrauchen könnte.

So beschloss Captain Erol Storm, den jungen Mann, der in Wahrheit eine Frau war, zu seinem Kammerdiener zu machen.

»Dieser Mann ist mutig und hat jede Menge Eier in der Hose, darum ist er ab sofort mein Kammerdiener.«

Die lauten Worte vom Captain drangen über das gesamte Deck. Keiner seiner Männer widersetzte sich seinen Befehlen, dazu respektierten sie ihn viel zu sehr. Weiter befahl er: »Wenn einer unter euch es wagen sollte, sich ihm zu nähern oder ihm ein Haar zu krümmen, bezahlt er dies mit einer hohen Strafe.«

Wütende Blicke trafen den Captain, doch er ließ sich nicht beirren und starrte ernst zurück, bis sie ihre Augen senkten. Erol wusste, wie seine Männer mit Frischfleisch an Bord umgingen. Doch diesen würden sie nicht bekommen. Er schlief ja schon fast im Stehen ein. Dann war da noch das Gefühl, den Burschen beschützen zu müssen. Warum das so war, konnte er sich nicht erklären. Sorgenvoll betrachtet er Charly. Trotz seiner nun sauberen und viel zu großen Kleidung sah er nicht besser aus. Die Stoffhose, ebenso sein schwarzes Hemd, hing an ihm wie ein Mehlsack. Das ließ sich im Moment jedoch nicht ändern. Etwas anderes war für ihn nicht an Bord. Seine Mannschaft bestand aus groß gewachsenen und kräftigen Männern, die jedem Sturm auf hoher See trotzten. Die einzige Ausnahme war der kleine Krümel, der Zaim eben nach unten geführt hatte. Er lebte schon von klein auf unter ihnen. Doc, der Schiffsarzt, hatte den Kleinen eines Tages an Bord gebracht und wie seinen Sohn aufgezogen.

Plötzlich durchfuhr Charly ein unermessliches Zittern. Hätte der Captain sie nicht

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: J. M. G. /Richard M. Reiter
Bildmaterialien: J. M. G / Richard M. Reiter
Cover: J. M. G. / Richard M. Reiter
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2018
ISBN: 978-3-7487-7712-0

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