Katzenjammer
„Nichts ist unmöglich.“ So heißt es in einer Werbung eines bekannten Autoherstellers. Ich musste schon oft feststellen, dass dieser Satz absolut der Wahrheit entsprach; doch dass so etwas möglich war oder möglich ist, hätte wohl nicht einmal der allergrößte Fantast zu glauben gewagt. Aber alles der Reihe nach...
Mein Name ist Alyssa. Ich habe meine Matura mit Auszeichnung bestanden und kann derzeit recht gut leben.
Ich merke, dass ich ein bisschen abschweife, denn es geht hier nicht um meinen Schulabschluss. Ich schweife sehr gerne ab, und es tut mir leid, falls sie einen Anstoß daran finden, wenn es öfters passiert. Ich werde versuchen es, so gut es geht, zu vermeiden. Aber um zum Kern der Sache zurückzukommen, kann ich Ihnen verraten, dass ich schon seit einigen Jahren rätsle, wie denn nun damals alles abgelaufen sein könnte. Nicht etwa, dass ich es Ihnen nicht erzählen könnte. Nein, das ist nicht das Problem. Ich habe nur, wie für Sie verständlich sein wird, keine Erklärung dafür.
Dieses angesprochene „Alles“ geschah, als ich sechzehn Jahre alt war. Und es geschah nicht nur damals, es geschieht noch und wird wohl weiter geschehen, sofern kein Wunder passiert.
Ich werde nun damit beginnen zu erzählen, was sich damals, als ich sechzehn war – wäre das nicht ein guter Titel für eine Geschichte, wenn es denn eine wäre – ereignet hat. Sie können sich auf etwas gefasst machen...
Die Sommerferien gingen ihrem Ende entgegen. Leider Gottes waren sie wieder einmal viel zu kurz gewesen, aber war das denn nicht immer so? Ich denke, auch wenn sie sechs Monate gedauert hätten, wären sie mir viel zu kurz vorgekommen.
Das war wohl wieder eine kleine Abschweifung. Ich hoffe, dass ich Sie nicht allzu sehr damit langweile. Wie gesagt, ich versuche sie, so gut es eben geht, zu vermeiden.
Schon im August hatte ich meinen sechzehnten Geburtstag gefeiert. Nun schrieben wir den achten September und es waren noch fünf Tage bis Schulbeginn und vier Tage bis „Alles“. Mehr verrate ich noch nicht. Nur so viel: es geschah urplötzlich, denn nichts hatte darauf hingedeutet oder hätte darauf hindeuten können. Rein gar nichts. Dementsprechend ereignislos vergingen die kommenden vier Tage. Vielleicht hätte ich diese ruhige Zeit etwas mehr genießen sollen...
Als ich am Morgen des zwölften September aufwachte, schien mir die Sonne ins Gesicht. Das war ein herrliches und angenehm warmes Gefühl. Da es schon neun Uhr dreißig war, stand ich auf und trat zuallererst ans Fenster meines Zimmers. Der Himmel war, wie ich es erhofft hatte, strahlend blau und das Licht der Sonne beschien die Wälder und Wiesen in dieser leicht hügeligen Landschaft. Es hatte in der Nacht scheinbar geregnet, was man nicht nur daran erkennen konnte, dass das feuchte Gras in der Sonne glänzte, sondern auch daran, dass die Weitsicht auf unsere herrliche Umgebung einfach bezaubernd war. Nach einem ergiebigen Regen war das meistens so und ich erfreute mich gerne an diesem Anblick.
Hier, in dieser dreizehn Kilometer von der Stadt entfernten ländlichen Peripherie, wohnten wir, also meine Mutter, mein Vater, unsere Katze und ich, ein Einzelkind. Inzwischen bin ich zwar kein Kind mehr, was ich damals auch nicht mehr war, wenn ich es mir recht überlege, aber gut.
Mein Vater arbeitete als Bankangestellter in Graz, und meine Mutter war als Verkäuferin in einem Supermarkt angestellt. Es war heute Sonntag, also waren meine Eltern beide zu Hause und würden schon wach sein, mein Vater mit der Zeitung in der Hand und meine Mutter mit einer Tasse Kaffee neben ihm. Dass Sonntag war bedeutete, dass die Schule am nächsten Tag, also am Montag, wieder begann, was mich nicht gerade dazu brachte Freudensprünge zu vollführen. Doch von diesem Problem sollte ich noch genügend abgelenkt werden, denn das eigentliche Malheur betraf meine Mutter.
Als ich nach etwa zehn Minuten endlich mein Zimmer verließ, war ich trotz der drohenden Gewitterwolken in Form des Schulanfangs oder, um genauer zu sein, in Form der siebenten Klasse, bestens gelaunt, doch auch das sollte nicht lange währen. In unserem Wohnzimmer, das an die Küche grenzte, sah ich bereits meine Eltern sitzen. Ich wollte eigentlich schon „Guten Morgen“ sagen, doch mir fiel sofort auf, dass etwas nicht stimmte. Erstens las mein Vater die Zeitung nicht, die sonst immer seine Lieblingslektüre für den Sonntagvormittag und auch sonst alle Vormittage war. Zweitens wirkte sein Gesichtsaudruck betroffen. Er war zwar kein Morgenmensch, aber dieser Blick verhieß nichts Gutes. Schließlich kam als dritter Punkt hinzu, dass unsere Katze neben meinem Vater auf dem Sessel saß. Das allein wäre ja keine große Sache gewesen, wenn nicht meine Mutter stattdessen unter dem Tisch gelegen hätte, so als hätte sie mit Tina, unserer Siamkatze, die angestammten Plätze getauscht. Als wäre das noch nicht genug, musste ich auch noch mit ansehen, wie sie sich die Hände und Unterarme leckte, so wie... wie eine Katze! Vielleicht ahnen viele von Ihnen schon, worauf ich hinaus will. Die meisten werden lachen und sich denken „Oh, wie lustig, wie süß“, aber ich kann Ihnen versichern, dass es das eben nicht war. Sie können sich nicht vorstellen wie geschockt ich bei dem Gedanken war, meine Mutter sei verrückt geworden, denn das musste ich, wenigstens in diesem Moment noch, annehmen.
Wenige Sekunden später geschah jedoch etwas, das diesen Verdacht im Keim erstickte, denn gerade als ich meine Mutter fragen wollte, was sie denn da unter dem Tisch tat, bekam ich eine Antwort im Voraus. Doch diese Worte stammten eindeutig nicht von der Frau unter dem Tisch. Sie kamen von dem Sessel neben meinem Papa.
„Hier bin ich“, sagte die Stimme meiner Mutter zu mir und sie sprach aus unserer Katze.
Erst jetzt kam alles aus mir heraus. Ich schrie vor Schreck laut auf, als ich endlich realisiert hatte, was geschehen war. Ich schlug die Hand vor den Mund, meine Augen waren weit aufgerissen und starrten das Tier, das scheinbar keines mehr war, an.
Als ich mich nach einigen Minuten einigermaßen beruhigt hatte, sah ich meine Mutter fragend an und sie sagte: „Ja, ich bin deine Mutter. Und dort unter dem Tisch liegt unsere Katze.“
Mein Vater bestätigte das mit einem betretenen Nicken, während die Frau unter dem Tisch miaute.
Das soll nicht witzig klingen und ich belüge Sie auch nicht. Ich bin vollkommen ehrlich und versuche Ihnen den Ernst der Sache so gut als möglich näher zu bringen. So belustigend es auch wirken mag, was ich hier erzähle, war für meine Familie und mich sehr ernst und vor allem beängstigend. Die Probleme die sich dadurch für uns ergeben konnten, waren zu diesem Zeitpunkt zweitrangig. Wir hatten zuviel Angst vor dem was passiert war oder eher vor dem, was es ausgelöst haben mochte. So etwas konnte doch nicht einfach so von selbst geschehen. Irgendetwas Gefährliches konnte dafür verantwortlich sein. Ich habe wohl schon erwähnt, dass wir bis heute nichts herausgefunden haben. Aber weiter im Text.
Mein Vater und meine Mutter hatten Rat gehalten, während ich noch geschlafen hatte und waren zu der Überzeugung gekommen, dass ich ganz normal zur Schule gehen sollte. Eigentlich war ich nicht ihrer Meinung, doch sie bestanden darauf und ich gab nach. Am Anfang dieser Zeit waren meine Noten weit unter meinem Niveau, was zum Glück keine Fünfer bedeutete. Mein Vater und ich hatten einige Probleme zu bewältigen. Allerdings war es für meine Mutter selbst und auch für unsere Katze nicht viel leichter.
Mama machte es uns zum Glück sehr einfach, was ihr Leben als Katze betraf. Das war bei ihr nichts Überraschendes, denn sie konnte sich gut anpassen und lernte immer schnell. Sie ging von Anfang an aufs Katzenklo, als wäre sie schon immer eine Katze gewesen und konnte sich auch selbst putzen, wie Katzen es taten. Vom Katzenfutter ließen wir sie kosten, doch es schmeckte ihr nicht besonders gut. Scheinbar hatten die beiden auch ihre Geschmacksnerven getauscht und da ich gerade darüber nachdenke auch die Stimmbänder, denn ich war mir nicht sicher ob meine Mutter mit Katzenstimmbändern überhaupt reden konnte, wenn Katzen überhaupt Stimmbänder hatten. Es leuchtete mir sowieso nicht ein, wie das so funktionierte wie es funktionierte und es war auch müßig darüber nachzudenken. Die Hauptsache war, dass sie überhaupt reden konnte.
Meine Mutter bekam wahre Luxusmahlzeiten, für eine „Katze“. Wir gaben ihr Extrawurst mit Käse oder Speck oder auch Leberstreichwurst.
Mit der Katze in Menschenhaut hatten wir weit mehr Probleme. Wir mussten bald feststellen, dass sie nun die doppelte Menge Katzenfutter brauchte, also kam sie uns als Mensch teurer zu stehen. Sie war auch an den neuen Körper nicht gewöhnt und konnte somit nicht auf zwei Beinen stehen, geschweige denn gehen. Dieses Problem konnten wir jedoch schnell beseitigen, denn wir schafften es, ihr das Gehen beizubringen. Anfangs war es schwierig, denn sie fiel immer wieder hin und jedes Mal, wenn wir sie wieder aufrichten wollten, krallte sie nach uns – mit ihren Fingernägeln! Sie stürzte so oft, dass wir schon Angst bekamen, sie würde sich etwas brechen, und sie in diesem Zustand zu einem Arzt zu bringen wäre nur peinlich gewesen. Doch dieses Unglück blieb uns gnädigerweise erspart. Ein, zwei Wochen später hatte sie sich einen mehr oder weniger eleganten Gang angewöhnt. Sie torkelte zwar immer noch relativ häufig, doch sie fiel wenigstens nicht mehr um. Dinge, die wir ihr nicht beibringen konnten, waren, sich auf den neuen Körper einzustellen – der Geruchssinn, Tastsinn und das Gehör waren anders als bei einer Katze – und auf unser „Menschen“-Klo zu gehen. Meine Mutter hatte sich recht gut auf den Katzenkörper eingestellt und ging wie gesagt auf das Katzenklo. Unsere wahre Katze musste bald feststellen, dass sie zu groß für ihr ehemaliges WC war. Sie versuchte etwa eine halbe Stunde lang, darin Platz zu finden, doch es klappte nicht. Am Ende war das halbe Zimmer voller Katzenstreu. Nachdem sie beschlossen hatte, dass es so nicht funktionierte, lief sie zur Eingangstür und kratzte daran. Wir ließen sie hinaus und warteten. Natürlich hatten mein Vater und ich Angst, sie könnte nicht wieder kommen, doch sie kam wieder. Ab diesem Zeitpunkt ließen wir sie immer hinaus, wenn sie sich erleichtern wollte.
Das nächste Problem drängte sich uns regelrecht auf; es stieg uns gleichsam in die Nase. Unsere Katze, beziehungsweise der Körper meiner Mutter, fing an einen unangenehmen Geruch anzunehmen. So kamen wir endlich darauf, dass wir sie waschen mussten. Bekanntlich hassen Katzen das Wasser. Mein Vater und ich trugen sie ohne Probleme ins Bad und setzten sie in die Duschkabine. Sie hatte ja keine Ahnung, was auf sie zukam, also hatte sie auch keine Angst, doch als ich das Wasser aufdrehte und sie die ersten Tropfen auf ihrer Haut spürte, kreischte sie fast, stieß uns mit einer überraschend großen Kraft weg und stürmte aus dem Bad.
„Wenigstens hat sie uns nicht zerkratzt“, meinte ich sarkastisch.
Wir waren uns darüber im klaren, dass wir es immer wieder versuchen mussten, bis wir sie wenigstens annähernd sauber gekriegt hatten. Wir konnten den Körper meiner Mutter ja schlecht verkommen lassen. Wenn es eine Chance gab, dass die beiden wieder tauschten, sollte meine Mutter möglichst normale Bedingungen vorfinden. Vorher mussten wir Tina allerdings suchen, doch sie war unauffindbar. Endlich fanden wir sie in meinem Kleiderschrank. Das war ein gutes Zeichen, denn es bedeutete, dass sie – von sich aus – gelernt hatte Türen zu öffnen – wenigstens Schranktüren. Damit standen die Chancen gut, dass sie auch einige andere praktische Dinge erlernen konnte, vielleicht indem sie diese ausprobierte, denn Katzen waren neugierige Tiere.
Da kauerte sie nun in meinem Schrank und schlief. Mein Vater hob den ein Meter fünfundsechzig großen und sechzig Kilogramm schweren Körper vorsichtig hoch und schaffte es auf diese Art und Weise, sie nicht aufzuwecken. Er brachte sie sogar bis in die Duschkabine, in der sie weiterschlief... bis ich das Wasser aufdrehte. Sofort war sie hellwach, doch ehe sie uns wieder entwischen konnte schoben wir die Kabinentür zu. Sie begann wieder laut zu schreien – „Miau! Miau!“ –, doch es klang eher wie eine Mischung aus menschlichem Gekreische und Katzengejaule. Sie kratzte verzweifelt an dem Plastik der Kabinentür, bis sie merkte, dass sie nicht hinauskonnte. Jetzt versuchte sie dem Wasserstrahl auszuweichen, was ihr auch nicht gelang, denn das Wasser war voll aufgedreht und die Duschkabine war nicht allzu groß. Sie hockte sich mit betretenem Blick nieder und ergab sich so ihrem Schicksal. Fünf Minuten später befreiten wir sie aus ihrer misslichen Lage. Wenigstens jeden zweiten Tag wiederholten wir diese Prozedur und jedes Mal wehrte sie sich energisch, aber es blieb uns nichts anderes übrig. Wir brachten es sogar tatsächlich fertig, dass sie sich einmal die Woche den Körper gründlich mit Seife abrubbeln ließ.
Als nicht weniger schwierig erwies sich die Frage nach ihrer Mundhygiene. Sie würde bestimmt nicht erlernen können, wie man eine Zahnbürste benutzte, also mussten mein Vater und ich wohl oder übel versuchen ihr selbige in den Mund zu stopfen. Bei dieser Aufgabe wechselten wir uns ab, aber leicht war sie nicht, denn sie hielt ihren Mund fest verschlossen, weil sie Angst vor der Bürste hatte und wohl auch den Geruch der Zahnpasta nicht mochte. Mir fiel jedoch ein Trick ein. Ich ging in die Küche, holte ein Stück Whiskas Trockenfutter und hielt es ihr unter die Nase. Sie schnupperte daran und öffnete den Mund. Mein Plan war aufgegangen. In diesem Moment rammte ich ihr die Zahnbürste hinein und schrubbte ihr regelrecht die Zähne. Sie war zwar überrascht über diesen Angriff, doch sie wehrte sich überhaupt nicht dagegen, was wiederum für mich überraschend war. Auch ihre Haare und Fuß- beziehungsweise Fingernägel stutzten wir hin und wieder ohne große Gegenwehr, die wir vor allem beim Haareschneiden erwartet hätten.
Soviel zu den hygienischen Problemen, doch langsam aber sicher brach immer mehr über uns herein, das wir vorher nicht beachtet hatten, sodass wir selber gar nicht mehr viel nachzudenken brauchten, was noch zu tun sei. Zuerst rief der Chef meiner Mutter an und wollte wissen, warum sie seit inzwischen zwei Wochen unentschuldigt von der Arbeit ferngeblieben war.
„Nun...“, begann ich. Was sollte ich denn antworten? Das war eine ziemliche Zwickmühle.
„Darf ich bitte mit deiner Mutter sprechen?“, fragte er. Wenigstens klang er gefasst und nicht wie jemand der völlig außer sich war.
„Sie ist gerade auf der Toilette“, antwortete ich. In gewisser Weise stimmte das auch, was ihren Körper betraf, denn den hatte ich gerade ins Freie gelassen. Meine Mutter selbst saß neben mir und hörte aufmerksam zu. Ich glaube sie verstand sogar jedes Wort, das ihr Chef sagte. Katzen haben nun Mal ein gutes Gehör.
Ihr Chef meinte daraufhin: „Dann werde ich in fünf Minuten wieder anrufen.“
„Ok“, sagte ich und er legte auf. Ich tat es ihm gleich.
Meine Mutter fragte: „Mein Chef?“, obwohl sie es bestimmt schon wusste. Ich nickte. „Wenn du das nächste Mal abnimmst, halt mir bitte den Hörer ans Ohr. Ich rede mit ihm.“
„Aber was willst du ihm denn sagen? Die Wahrheit? Entschuldigen Sie, aber ich bin eine Katze! Und wenn nicht: was willst du dir denn schon groß ausdenken. Mit einer Krankheit kann man sich nicht auf ewig herausreden und die Wahrheit wird er nicht glauben!“, sagte ich mit einem verzweifelten Unterton in der Stimme. Meine Mutter sah mich nur ruhig mit ihren Katzenaugen an und sagte nichts.
Schließlich befahl sie: „Tu einfach, was ich dir gesagt habe.“ Fünf Minuten später tat ich genau das. Ich hob ab und hielt meiner Mutter den Hörer ans Ohr. Ich hörte nur, was sie sagte und es verblüffte mich über alle Maßen. „Herr Pauschenwein, ich muss Ihnen leider sagen, dass ich kündigen muss.“ Ihre Stimme klang ruhig, gelassen, glaubwürdig. Ich hörte fast wirklich, wie ihr Chef – Herr Pauschenwein – fragte: „Warum denn dass, Frau Kohler?“, worauf meine Mutter antwortete: „Sehen sie, ich arbeite zehn bis zwölf Stunden am Tag an sechs Tagen die Woche. Meine Tochter fühlt sich vernachlässigt, sie braucht mich. Sie ist jetzt in einem schwierigen Alter und braucht mehr Liebe und Schutz denn je.“ Ihr Chef schien das zu verstehen, denn dreißig Sekunden später sagte meine Mutter: „Danke für ihr Verständnis“, und marschierte davon. Ich legte auf.
„Was hat er gesagt?“, fragte ich.
„Dass es ein großer Verlust für den Supermarkt ist, dass ich aufhöre, aber er hätte vollstes Verständnis für meine familiäre Situation.“
Mein Vater kam hinzu. „Wer war das?“, fragte er und sah zuerst mich und dann meine Mutter an.
„Ich habe eben gekündigt“, antwortete meine Mutter ohne direkt auf die Frage einzugehen.
„Also war das dein Chef?“, fragte mein Vater. Plötzlich wurden seine Augen riesengroß und er fragte: „Du hast... gekündigt?“ Der Katzenkopf meiner Mutter hob und senkte sich zu einem merkwürdig anmutenden Nicken.
„Es ging nicht anders“, sagte sie. „Es ist besser so, als gefeuert zu werden.“ Mein Vater nickte verständnisvoll. Wenn sie noch länger nicht zur Arbeit erschienen wäre, hätte ihr Chef sie ohnehin hinauswerfen müssen.
Als ich mich am Abend ins Bett legte, musste ich unwillkürlich daran denken, was wir tun sollten, wenn wir bei Freunden oder Verwandten eingeladen waren oder sie zu uns kommen wollten. Ich fragte mich auch, wie lange wir diese Sache noch vor unseren Nachbarn geheim halten konnten. Wenn sie nun „meine Mutter“ nackt im Garten ihr Geschäft verrichten sahen? Sie würden denken, sie sei verrückt geworden und vielleicht die Polizei rufen. Apropos Garten: würde es dort nicht im Winter zu kalt sein, um sie hinauszuschicken, noch dazu nackt? Wie ging es eigentlich meinem Vater dabei, mit einer Katze, die seine Frau war und einem Menschen, der unsere Katze war, in einem Bett zu schlafen? Das musste doch ein merkwürdiges Gefühl sein. Darüber mochte ich gar nicht weiter nachdenken.
Es schien so, als wäre der Anruf des Chefs meiner Mutter die Initialzündung für die Gedanken an alle noch offenen Fragen und Probleme gewesen. Ich war mir sicher, dass sie mir sonst nicht im Kopfe herumgeschwirrt wären. All diese Dinge beschäftigten mich so sehr, dass ich erst nach zwei Stunden einschlafen konnte. Ich träumte schlecht und mein Schlaf war unruhig.
Am nächsten Tag war ich so müde, dass ich während des Unterrichts fast eingeschlafen wäre, doch als mich wieder ein neuer Gedanke durchzuckte, schreckte ich hoch.
„Was ist denn mit dir los?“, fragte meine Freundin Anna, die neben mir saß.
„Ach, nichts. Mir ist nur gerade...“ Das konnte ich ihr nicht sagen. Ich konnte ihr doch nicht sagen, dass mir gerade eingefallen war, dass unsere Katze den halben Tag lang allein zu Hause war und nicht aufs Klo konnte, wenn sie denn musste. Was hatte sie die letzten zwei Wochen gemacht? Hatte sie zufällig nie zwischen sieben und fünfzehn Uhr den Drang verspürt hinauszuflitzen? Ach, wieso fiel mir eigentlich jetzt erst alles auf einmal ein?!? Nun, wenigstens Letzteres klärte sich noch am selben Tag auf. Wie durch ein Wunder hatte sie nämlich herausgefunden, wie man unsere Toilette benutzte, was ich zufällig mitbekam, als ich selber einmal auf die Toilette musste und merkte, dass besetzt war, als ich sie dort sitzen sah. Eigentlich hockte sie nur über der Klomuschel und saß nicht richtig, was sehr merkwürdig aussah, doch es ging wenig und meistens sogar gar nichts daneben. Vor allem löste es das Problem, wo sie im Winter ihre Notdurft verrichten sollte und auch die Nachbarn würden sie so nicht sehen können. Wie sie das gelernt hatte wusste ich beim besten Willen nicht, aber ich hatte den Verdacht, dass meine Mutter ihre Finger dabei im Spiel gehabt hatte.
Der Tagesablauf meines Vaters und mir bestand also daraus, die Haustier(e) zu füttern, zur Arbeit beziehungsweise Schule zu gehen, den Körper meiner Mutter zu waschen und ihm die Zähne zu putzen und dazwischen musste ich auch viel für die Schule lernen. Zum Glück mussten wir unsere Katze nicht rasieren, denn der Körper meiner Mutter hatte einen geringen Haarwuchs. Außerdem glaubten wir immer noch fest daran, dass sich alles zum Guten wenden würde.
Bis Weihnachten ging das so dahin, am dreiundzwanzigsten Dezember jedoch wurden wir angerufen. Das war ja nichts Schlimmes, wären es nicht drei Anrufe mit folgendem Inhalt gewesen: „Hallo, Alyssa, meine Süße. Wir besuchen euch am fünfundzwanzigsten. Wir freuen uns schon sehr. Baba!“ Meine Großeltern und meine Tanten und Onkel wollten uns besuchen kommen. Damit hätten wir rechnen müssen. Mein Vater, meine Mutter und ich beratschlagten sofort die Vorgangsweise für diesen Notfall. Kurzum: wir kamen zu keiner befriedigenden Lösung. Das Beste, was uns einfiel, war, unsere Katze an den Tisch zu setzen und so zu tun als wäre alles ganz normal. Allerdings würde bestimmt jemand bemerken, dass etwas nicht stimmte, wenn sie so still war und mit Messer und Gabel nicht umgehen konnte.
„Dann muss das Essen wohl ohne mich stattfinden“, sagte meine Mutter. Das war die rettende Idee. Wir konnten behaupten, dass sie schwer krank war und nicht gestört werden wollte und die Katze – den Körper meiner Mutter – sperrten wir ein. Meine Mutter konnte bei ihr bleiben und sie beschäftigen.
Ich werde nicht auf die Einzelheiten des Essens eingehen. Es genügt, wenn ich sage, dass unser Plan funktioniert hat. Als wir wenig später bei Freunden eingeladen waren, war meine Mutter wieder „krank“, allerdings war uns klar, dass es so auf Dauer nicht weitergehen konnte. Wenn sie über Jahre hinweg bei jedem Treffen krank spielte, wäre das sehr verdächtig und würde ein schlechtes Licht auf uns werfen.
Irgendwann nach Neujahr sagte ich zu meinen Eltern: „Ihr könntet doch so tun als wäret ihr geschieden!“
„Nein, das geht nicht“, sagte mein Vater sofort. „Wir müssten es doch so aussehen lassen, als ob Mama ausgezogen wäre. Ich kann doch nicht weg, denn wer soll sich dann um dich kümmern. Und wenn sie uns dann nach der Adresse fragen, um sie besuchen zu können? Würde uns jemand glauben, dass wir sie nicht kennen? Das kann nicht klappen!“
Da hatte er vollkommen recht. Es war zum Verzweifeln. Zu allem Überfluss passte auch noch das Wetter zu unserer düsteren Stimmung. Die Wolken hingen dunkelgrau über unseren Köpfen und bei leichten Plusgraden regnete es in Strömen.
Einige Wochen später sagte meine Mutter etwas, das mich bis ins Mark erschütterte: „Ich muss sterben.“ Ich starrte sie entgeistert an, doch sie bewegte den Kopf von links nach rechts. „Doch nicht in Wirklichkeit!“, sagte sie. „Wir müssen nur so tun.“ Das war natürlich die einzige, die letzte Lösung. Nur gab es da ein Problem. Unsere Verwandten würden ein Begräbnis wollen, doch ohne Leiche konnte es kein Begräbnis geben. Meine Mutter sagte: „Wir waren auf Urlaub in Thailand. Die Flutwelle hat mich damals getötet und ich liege in einem der Massengräber.“ Es war schrecklich, dass die Flutkatastrophe von Neujahr 2004 zu etwas gut war, doch in diesem Fall war sie es tatsächlich. Andererseits war die Idee auch schrecklich genial.
Wir führten diesen Einfall aus; alle waren sehr betroffen, weinten bitterlich, Sprüche wie „Mein Beileid“ fielen andauernd und wir brauchten nicht einmal zu spielen, dass wir traurig waren. Der Schmerz darüber, dass wir unsere nächsten Verwandten, allen voran Mamas Eltern, mit dieser Lügengeschichte zum Weinen brachten, gar in tiefste Trauer stürzten, war so groß, dass uns selber die Tränen kamen.
Ich weiß, dass dieser Bericht erfunden klingt. Er klingt vielleicht wie ein schlechter Roman, aber es ist alles wahr. Ich bin jetzt einundzwanzig Jahre alt, studiere Psychologie und Englisch, habe einen netten Freund und lebe noch immer daheim, bei meiner Mutter und meinem Vater. Wir haben, wie gesagt, noch keine Lösung für unser Problem gefunden und langsam glaube ich, dass uns das nie gelingen wird. Für uns bleibt meine Mutter am Leben, doch für die Welt ist sie gestorben.
Hier hören die Aufzeichnungen dieser jungen Dame aus irgendeinem Grund auf. In ihrem Zimmer fand man sonst nichts, was sich auf diese Sache bezogen hätte und auch sonst nirgends in diesem Haus. Die radiometrische Datierung ergab, dass das Papier, auf dem diese Worte geschrieben stehen, fünfzig Jahre alt ist und man nimmt an, dass es damals begonnen hat, dass die Mutter des jungen Mädchens die Erste war, mit der es passiert ist. Inzwischen sind fast fünfzig Prozent der Weltbevölkerung zu Katzen geworden. Vielleicht hat es auch das Mädchen und ihren Vater schon längst erwischt. Man sucht nach Gründen, nach Auslösern für diese „Epidemie“, deren einziges Symptom es ist, dass man ein Menschenleben lang als Katze verbringen muss und dafür eine Katze ein Katzenleben lang als Mensch. Gefunden hat man nichts.
Es gibt in der Bevölkerung die üblichen Spekulationen. „Aliens wollen die Erde übernehmen“ ist die Sci-Fi-Theorie. „Gott will uns bestrafen, weil wir dabei sind seine Schöpfung zu zerstören“ ist die religiöse. Dies sind nur zwei von vielen.
Als abschließende Worte hat der Autor dieser Zeilen noch hinzuzufügen: wahrscheinlich ist das Leben als Katze sogar besser.
P.S.: Und was wird aus den Hunden?
Das Ende
Kapitel 1: Der Anfang
Hänsel und Gretel verliefen sich im Wald
Es war so finster und auch so bitter kalt.
(Hänsel und Gretel, Gebrüder Grimm)
1
Die Kindheit ist der allerschönste Teil des Lebens, auch wenn man das als Kind oder Jugendlicher oft nicht wahrhaben will. Die Eltern sagen es einem oft, wenn man einmal wieder jammert, doch auf sie hören tut keiner. Später, wenn man erwachsen ist und voll in die Arbeitswelt integriert, erinnert man sich oft nur noch bruchstückhaft an die eigene Kindheit, man weiß nicht mehr, wie man sich damals gefühlt hat, man weiß nicht mehr wie es war ein Kind zu sein. Das ist wohl das Problem vieler Erwachsener. In dem Stress, den die Arbeitswelt in sich birgt, vergessen sie, wie es war, unbefangen und ohne zu viel über alles nachzudenken, durch die Welt zu gehen; sie vergessen wie es war Kind zu sein. Man kann ihnen – jedenfalls in den meisten Fällen – keinen Vorwurf daraus machen. Wie denn auch? Unsere Gesellschaft hat sich nun einmal so entwickelt, dass wir nicht ewig Kind sein dürfen. Das klingt nach einer Ausrede für alle, die diese Worte betreffen mögen, ist es aber nicht. Aber so tiefsinnig wird unsere Geschichte nicht werden, auch wenn sie mit diesem Thema etwas zu tun hat.
Die Erzählung beginnt in einer kleinen Stadt in Österreich, in der südlichen Steiermark, um genau zu sein. Drei Jugendliche gingen gerade spazieren, redeten und lachten miteinander und waren frohen Mutes. Es waren zwei Jungen und ein Mädchen, die an diesem düsteren, trüben Oktobertag die Straße entlang schlenderten, einem ungewissen Schicksal entgegen. Das Mädchen hatte schulterlanges, schwarzes Haar und war etwas kleiner als die beiden Jungen. Sie trug Jeans und eine warme Jacke, denn es war zum ersten Mal in diesem Jahr richtig kalt geworden. Die Jungen hatten beide hellbraunes, kurzgeschnittenes Haar. Der eine hatte seine Frisur mit etwas Gel aufgepeppt, die Haare des anderen kamen ohne Hilfsmittel aus. Der Junge ohne Gel in den Haaren trug eine modische, randlose Brille, der andere brauchte wiederum in dieser Hinsicht kein Hilfsmittel. Sie waren in etwa einen Meter achtzig große, schlanke und gutaussehende Burschen in der Blüte ihrer
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 28.04.2014
ISBN: 978-3-7368-0558-3
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