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Der böse Frosch oder wie man Menschen unglücklich macht

 1. Kapitel: Der böse Frosch oder wie man Menschen unglücklich macht

 

1

 

Es begab sich einmal vor langer Zeit, an einem wunderschönen Frühlingsmorgen, dass ein Prinz und seine Prinzessin gemeinsam im königlichen Bette lagen. Oder im prinzlichen Bette, wenn man so wollte. Die Nacht war angenehm lau gewesen, was nicht nur am warmen Wetter gelegen hatte. Doch diese Details sollen hier nicht erwähnt werden. Man kann sie woanders nachlesen, allerdings ist es ungleich interessanter dies hier zu lesen. Jedenfalls schien ihnen die strahlende Sonne mitten ins Gesicht und es war so, als wollte sie ihnen damit zeigen, dass es ein guter Tag werden würde.

Der Prinz wachte zuerst auf und blickte in das wunderhübsche Gesicht seiner Verlobten. Es wurde von langen, schwarzen Haaren umrahmt, die seidig weich waren und in der Morgensonne glänzten. Ihre Augen blieben noch geschlossen und so betrachtete er sie weiterhin und dachte, was er doch für ein Glück hatte mit dem schönsten Mädchen der Welt zusammen sein zu dürfen. Im selben Moment dachte er aber auch daran, was sie für ein Glück hatte ihn zum Verlobten zu haben, denn er war zugegebenermaßen etwas eitel. Er verdrängte diesen Gedanken jedoch wieder, denn er wusste sehr wohl um seinen charakterlichen Makel und wollte es damit nicht zu weit treiben. Also wartete der blondgelockte, junge Königsspross sehnsüchtig auf den Moment in dem sich ihre Augen öffnen würden. Ihre wunderbaren, blauen Augen würden ihn ansehen. Dann würde sich ihr ein wundervolles Lächeln entringen und sie würde ihre samtenen, vollen, roten Lippen auf die seinen pressen. Genau diese Vision erfüllte sich tatsächlich. Als sie die Äuglein aufschlug, sagte er mit der liebenswürdigsten Liebenswürdigkeit, die ihm möglich war: „Meine bezaubernde Penelope.“

„Oh, du mein süßer Samuel“, antwortete sie mit einem bezaubernden Lächeln. In der Tat beugte sie sich zu ihm und sie küssten sich. Als diese Liebesbezeugung nach etwa zwanzig Minuten – damals ein Rekord im Dauerküssen – vorbei war, verließen sie das riesige Bett und zogen sich an. Arm in Arm verließen sie das Schloss und machten sich auf zum nahe liegenden See, um zu baden.

Es war wirklich ein wunderschöner Morgen. Diese Tatsache konnte man nicht oft genug betonen. Das Schloss aus grauem Stein ragte majestätisch hinter ihnen auf, ein lustiger Zufall, da doch Ihre Majestät der Herr dieses Schlosses war. Die Spitze des höchsten Schlossturmes ragte fünfhundert Meter in die Höhe. Die zweihundertfünfzig Meter hohen Mauern waren schon oft ein guter Schutz gegen Feinde gewesen. Die konnten nämlich meistens vor lauter Mauern ohnehin kein Schloss mehr sehen. Dieses riesige Schloss hatte insgesamt vier Türme, an jeder Ecke des Rechteckes, das die Mauern bildeten, einen. Sie waren alle sehr hoch, doch sie reichten nicht ganz an die fünfhundert Meter des höchsten Turmes heran. Innerhalb des Rechtecks befand sich einerseits das Dorf. Da die Mauern so hoch waren, hatte dieses Rechteck eine sehr große Fläche, damit genügend Sonne das Dörfchen bescheinen konnte. Direkt in der Mitte des rechteckigen Areals befand sich das eigentliche Schlossgebäude. Es hatte selbst auch einen Turm welcher allerdings „nur“ vierhundert Meter hoch war. Dieses Schlossgebäude war natürlich ein riesengroßes, pompöses Bauwerk und nahm wohl ein Achtel der gesamten Rechtecksfläche ein. Umgeben war es von einem herrlichen und – es war schließlich Frühling – bunten Garten. An der Vorderfront des Schlossgebäudes gab es einen Rosenhain und hinter dem Schloss befand sich ein Labyrinth aus zehn Meter hohen Hecken. In diesem von Steinmauern umgebenen Reich war scheinbar wirklich alles sehr hoch. Niemand verschwendete auch nur einen Gedanken daran, wie das bloß möglich war und das war auch gut so. Auch die Königin, des Prinzen Mutter und somit die Schwiegermutter von Penelope, war nur damit beschäftigt, die Zauberhaftigkeit und Schönheit ihres Reiches, das sie natürlich mit ihrem Mann, dem König, teilte, zu genießen. Sie schlenderte durch den Rosenhain und nachdem sie ihn verlassen hatte, kam sie zwischen den zahlreichen Blumenbeeten zum stehen, die sich dahinter erstreckten. Sie sah ihren glücklichen Bediensteten bei der Arbeit zu und freute sich mit ihnen über den Frühling. Tulpen, Stiefmütterchen und Orchideen erblühten in den verschiedensten Farben und das Personal goss sie mit frischestem Quellwasser aus einem der drei Brunnen, die sich um das Schlossgebäude herum befanden. Nach Ablauf des Morgengrauens ging sie zurück in das Schlossgebäude, mit dem sicheren Wissen, dass jeder einzelne Mensch in ihrem Königreich glücklich und zufrieden war. Die Leute hier waren zwar von pompösen Mauern umschlossen und verließen auch nur selten das Innere dieses Steinwalles, doch wozu sollten sie das tun. Es gab hier herinnen alles im Überfluss und noch dazu in bester und schönster Qualität.

Unterdessen waren der Prinz und die Prinzessin dabei, ihre Kleider auszuziehen und im See, der etwa einen Kilometer vom Schloss entfernt war, zu baden. Natürlich gab es alle bisher erwähnten Längen- und Zeiteinheiten damals noch nicht, doch verlässliche Quellen konnten immer wieder versichern, dass die angegebenen Werte schätzungsweise der Wahrheit entsprachen. Und ein verliebtes Paar denkt über solche Belanglosigkeiten wie eine Wegstrecke ohnehin nicht nach. Der springende Punkt an der Sache war, dass sie sich außerhalb der Schlossmauern befanden. Es kam nicht oft vor, dass ein Bewohner des Königreiches sich so „weit“ davon entfernte, doch diese beiden taten das öfter. Sie waren abenteuerlustige, junge Leute und nur innerhalb der Schlossmauern eingesperrt zu sein erschien ihnen sehr langweilig. Manchem wäre das nicht nur langweilig erschienen, nein, er hätte gewusst, dass man auf Dauer so nicht leben konnte oder wollte. Die beiden dachten sich, dass es bestimmt noch viel mehr da draußen in der Welt gab, als nur glücklich zu sein, egal was man tat. Alle waren immer froh und glücklich, so wie die beiden natürlich auch. Aber warum gab es das „Andere“ nicht? Warum gab es kein Unglück? Oder gab es das vielleicht doch, irgendwo, weit weg? Wäre es da nicht interessant, etwas mehr darüber zu erfahren? So dachten sie, doch – glücklicherweise – hatten sie von dem „Anderen“, wie sie es offen nannten, noch nichts bemerkt. Das Interesse daran schwelgte allerdings schon länger in ihnen.

Der See glitzerte verführerisch in der Sonne und das blutjunge Paar gab dieser Versuchung wieder einmal nach. Bienen summten in allergrößter Emsigkeit um sie herum und ließen sich auf den Blumen nieder, die rund um den See standen. Vogelgroße Schmetterlinge mit schwarzen, roten, blauen, grünen und bunten Schwingen flatterten über ihren Köpfen, während sie sich küssten. Sie tauchten unter die Wasseroberfläche, doch mit dem Küssen hörten sie trotzdem nicht auf. Unter Wasser wurden sie von vielen bunten Fischen begrüßt. Wenig später tauchten sie wieder auf. Der inoffizielle Rekord im Dauerküssen – von dem sie keine Ahnung hatten – war bereits von ihnen aufgestellt worden und somit gab es keinen Grund länger unter Wasser zu bleiben, um etwa auch noch den Rekord im Tauchen zu brechen.

Vom Ufer aus beobachtete ein schwarzes Augenpaar das Geschehen – oder sollte man nicht besser Geknutsche sagen? Es funkelte hinterlistig. Als sich eine kleine, blaue Libelle näherte, schnappte sie der Beobachter und verschlang sie genüsslich. Er hatte vor, das gesamte Glück des Königreichs für immer zu beenden und sein Plan war gut durchdacht.

Drei mal hintereinander hörte das Paar ein Geräusch hinter sich. Es war dies ein lautes Quaken. Sie machten sich nichts daraus. Es gab hier so viele Frösche und Kröten, dass es nichts Besonderes für sie war. Dann hörten sie das Quaken wieder drei Mal und dann weitere drei Male. In ihren Ohren klang es irgendwie verzweifelt und so mussten sie dem armen Tier zu Hilfe eilen. Ihre Erziehung ließ gar nichts anderes zu. Nackt wie Gott sie schuf machten sie sich auf die Suche nach dem Orte von dem aus das Quaken an ihre Ohren gedrungen war. Bald fanden sie die Stelle und dort sahen sie einen großen, grünen Frosch mit glasigen, schwarzen Augen. Er starrte ihre nackten Körper von oben bis unten an, so als würde er... na ja; lassen wir das lieber. Dann quakte er wieder.

„Das ist bestimmt ein verzauberter Prinz!“ rief das junge achtzehnjährige Mädchen in hellster Begeisterung aus. „Ich werde ihn küssen!“

Samuel, der selbst gerade erst neunzehn war, lächelte über das kindliche Verhalten seiner Verlobten und sagte zum Spaß: „Und was ist, wenn es eine verwunschene Prinzessin ist? Lass ihn uns gemeinsam küssen!“

Sie hockten sich nieder und beugten sich vor, um das schleimige, grüne Tier zu küssen.  Als ihre Lippen gleichzeitig die glitschige Haut berührten, sprang das Fröschchen vor Schreck davon, hüpfte in den See und verschwand. Das Paar lachte erheitert auf. Als ob etwas Anderes zu erwarten gewesen wäre, dachte Samuel.

Plötzlich verspürte der Prinz ein merkwürdiges Kribbeln in seinen Händen und Füßen. Es breitete sich langsam auf den Rest seines Körpers aus. Als er auf seine Hände blickte, erkannte er etwas Schreckliches: er hatte gar keine Hände mehr. Stattdessen waren dort Hufe zu sehen. Er glaubte zu erkennen, dass es die Hufe eines Hirsches waren. Auf dem Rest seines Leibes begannen Haare zu wachsen. Es waren rosenrote Haare. Sein dichtes, blondes Kopfhaar verdichtete sich zu zwei astgabelartigen Formen. Links und rechts an seinen Schläfen stand nun je eine davon ab. Die Form verhärtete sich und wurde zu einem richtigen Geweih. Bald war sein ganzer Körper dicht behaart, selbst für einen Mann. Seine Nase wurde länger und verwandelte sich in die Schnauze eines Hirsches. Sein Mund wurde zu einem Hirschmaul. Noch ein letztes Aufbäumen und schon konnte er nicht mehr auf seinen zwei Beinen stehen, die nun die Hinterbeine eines Hirsches waren. Ein Schweif wuchs ihm an der Hinterseite, seine Ohren wurden spitz. Als allerletztes verwandelten sich seine Augen in die des majestätischsten Waldtieres. Nun blieben ihm bloß noch seine Gedanken übrig, denn sein Hirn hatte sich noch nicht verwandelt.

Samuel blickte zu Penelope, die sich in ein anmutiges, weißes Reh verwandelt hatte. Aus ihrem Blick sprach eine Gewissheit: der Frosch hatte sie mit einem bösen Zauber belegt. Oder: der böse Frosch hatte sie mit einem Zauber belegt. Beides war zutreffend. Somit hatten sie ihre erste Kostprobe von dem „Anderen“ bekommen, dem, was gemeinhin als Unglück oder Bosheit bezeichnet wurde. Kurz darauf geschah etwas Merkwürdiges: sie schienen ihr Bewusstsein zu verlieren und doch noch sehen, hören, riechen und fühlen zu können. Menschliche Gedanken konnten sie jedoch keine mehr fassen, denn ihr Hirn war zu dem eines Hirsches und eines Rehs zusammengeschrumpft. Sie verloren zwar nicht ihre Erinnerungen an ihr früheres Leben, jedoch konnten sie nichts damit anfangen. Es bedeutete ihnen nichts mehr. Was sollten denn ein schneeweißes Reh und ein rosenroter Hirsch bei den Menschen? Dort gehörten sie nicht hin. Sie waren Waldtiere. Sie galoppierten auf und davon, tief in den Wald hinein. Zurück blieb nur ihre Kleidung.

Im Schloss machten sich König Thaddäus und seine Gattin Marit große Sorgen. Ihr Sohn und ihre Schwiegertochter in spe waren nicht in ihrem Zimmer und auch sonst nirgends im Schloss. Es war um die Mittagszeit und sie hätten die beiden pünktlich am Esstisch im großen Speisesaal erwartet. Das sah ihnen nicht ähnlich. Selbst wenn sie das Schloss verließen, kamen sie immer zurück. Sofort wurde das ganze Dorf aufgerufen sie zu suchen. Einen ganzen Tag verbrachten die fünftausend Bewohner des von Mauern umschlossenen Reiches und die einhundert Bediensteten des Schlosses mit einer vergeblichen Suche nach dem Adelspaar. Jeder Quadratmillimeter wurde dreimal durchsucht, auch wenn das übertrieben klingt, doch es wurde dreimal nichts gefunden. Schließlich schickte man eine Gruppe starker und mutiger Männer los, um die beiden außerhalb der Reichsmauern zu suchen, doch es war vergebens. Nicht einmal ihre Kleider am See wurden gefunden, geschweige denn machte man sich einen Kopf darüber, dass ein rosenroter Hirsch und ein schneeweißes Reh in den angrenzenden Wäldern umherirrten. Mit sofortiger Wirkung verfielen alle Bewohner des Königreiches in eine tiefe Trauer. Das schönste und wichtigste aller Paare – jedenfalls wichtig für das Reich – war verschwunden und keiner hatte etwas von ihrem Verschwinden bemerkt, bis auf die Tatsache, dass sie verschwunden waren. Niemand hatte gesehen, dass sie das Reich verlassen hätten. Es hatte sie in letzter Zeit ja nicht einmal das Herrscherpaar gesehen.

Als schließlich die Hoffnung erstarb sie jemals wiederzusehen, verflog der Zauber, der die Riesenhaftigkeit und fantastische Größe des Schlosses aufrecht erhalten hatte. Die unbefangene, perfekte Liebe zweier Königskinder war mit dem Paare verschwunden. Sie war quasi die Luft gewesen, die benötigt worden war, um alles pompös und übergroß zu halten. Nun begann das Schlossgebäude zu schrumpfen. Es wurde so klein wie ein Spielzeug. Die Bewohner des Dorfes waren geschockt; da passierte mit ihnen dasselbe. Auch das Dorf schrumpfte mit ihnen, sowie die Felder, Bäume und Wiesen. Nur die Mauern mit ihren Türmen blieben noch groß und erschienen allen wie Riesengebirge. Bald verkleinerten auch sie sich. Was an Stelle des großen Reiches zurückblieb, war eine riesengroße, saftig-grüne Wiese auf der außer Gras nichts wuchs. Warum nicht einfach nur nackter, brauner Erdboden übrig blieb, war zwar merkwürdig, doch die Wege Gottes waren wohl schon immer schwer nachvollziehbar. Das Schloss war jetzt für die Außenwelt klitzeklein. Für die Bewohner schien es jedoch normale Größe zu haben. Doch das zählte nicht viel, denn es war nicht mehr schön in diesem Reich. Die Blumen verwelkten, das Gras wurde braun, die Bäume verloren alle ihre Nadeln und Blätter und die Felder wurden unfruchtbar. Als ob das noch nicht genug gewesen wäre, kam noch hinzu, dass alle Menschen innerhalb der Mauern des Reiches anfingen ohne Unterlass zu weinen. Sie waren verdammt zu ewiger Trauer.

 

2

 

Zu dem Zeitpunkt, als der König und die Königin den Suchtrupp ausschickten, der sein Glück über die Schlossmauern hinaus versuchen sollte, kam an der Stelle am See, wo die Kleider des Prinzen und der Prinzessin lagen, ein alter, vollbärtiger Landstreicher vorbei. Als er das Morgenkleid der Prinzessin und die blaue Samthose und das weiße Leinenhemd des Prinzen erblickte, erkannte er sofort, dass dies die Kleider eines Paares von königlichem Blut sein mussten. Auf dem Markt bekomme ich allein für das Kleid bestimmt zehntausend Goldstücke, dachte er, hob alle Stücke auf und machte sich schnell davon, damit ihn niemand entdeckte. So konnte der Suchtrupp auch keine Kleider mehr finden.

Der Junge kommt ins Spiel

2. Kapitel: Der Junge kommt ins Spiel

 

1

 

Ein junger Mann Anfang zwanzig schlenderte einsam durch den Nadelwald, der sich hinter der Hütte seiner Eltern erstreckte. Er erfreute sich an der Schönheit der Natur: den riesigen Ameisenhügeln, den summenden Bienen, den Riesenschmetterlingen oder den achtbeinigen Eichhörnchen. Moment, das war kein Eichhörnchen, sondern eine Spinne mit dichtem, rotem Pelz, die in ihrem Netz lauerte. Lange Zeit spazierte er so vor sich hin träumend dahin, bis...

„Aua! So ein Mist!“ Er rieb sich den schmerzenden Kopf, der ihm wehtat, weil er gegen eine riesige Tanne gelaufen war. Wie hatte er die bloß übersehen können? Die Erklärung dafür war einfach: er war ziemlich wirr im Kopf. Erst gestern war es ihm passiert, dass er in einen dieser Riesenameisenhügel getreten war. Die daumengroßen Biester waren ihm unter die Hose gekrabbelt und hatten ihn mit ihren federbesetzten Fühlern gekitzelt. Wenigstens konnten sie nicht beißen, doch das Kitzeln konnte derartige Lachkrämpfe auslösen, dass man ohne Weiteres Gefahr lief zu ersticken. Lauthals lachend war er nach Hause gerannt, hatte sich die Kleider vom Leib gerissen und die Ameisen erschlagen, bevor sie ihn zu Tode kitzeln konnten.

Nachdem er die Schmerzen einigermaßen wegmassiert hatte, ging er weiter. Nichts hielt ihn mehr auf und er kam ohne weitere Probleme bei seiner Lieblingslichtung an. Diesmal war sie jedoch nicht verlassen. Schleunigst versteckte er sich hinter einer Birke, doch sie war zu dünn, um ihn vollständig zu verbergen. Hurtig sprang er hinter eine benachbarte Fichte. Von dort aus lugte er vorsichtig hervor, um dieses Schauspiel zu beobachten. Mitten auf der Lichtung stand im hohen Gras ein Tierpärchen. Es äste genüsslich. Allein, es war kein Pärchen von derselben Tierart. Sogar er konnte das erkennen. Das eine war ein Reh, das andere ein prächtiger Hirsch. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, war das Reh doch tatsächlich schneeweiß und der Hirsch rosenrot. Soviel er wusste, war nicht einmal das Winterfell eines Rehs schneeweiß und einen rosenroten Hirsch hatte er auch noch nie gesehen, geschweige denn von einem gehört. Er hatte zwar die Sage vom rosaroten Hirsch gehört, aber das war eine andere Geschichte.

Da er die schönen Tiere nicht verscheuchen wollte, beschloss er, heute nicht auf der Lichtung zu bleiben, um Brombeeren zu essen, sondern nach Hause zurückzukehren. Auf leisen Sohlen machte er sich auf den Rückweg und ging wieder schneller, als er meinte, dass er nun weit genug von der Lichtung entfernt sei. Zuhause angekommen, erwarteten ihn bereits seine Eltern.

„Raffael, wo warst du denn schon wieder?“ rief seine Mutter.

„Ja, wir haben uns Sorgen gemacht“, fügte sein Vater pflichtschuldigst hinzu.

Als seine Mutter die große Beule, die sich auf seiner Stirn gebildet hatte, erblickte, erschrak sie fürchterlich. „Ach, du meine Güte! Was hast du denn da schon wieder angestellt?! Du solltest doch morgen beim Frühlingsfest mit Ruth tanzen. Was wird sie sagen, wenn so ein hübscher Junge wie du mit solch einer hässlichen Beule auftaucht.“

Sein Vater nickte nur, um seine Frau nicht zu verärgern.

Raffael sagte: „Ich war doch gar nicht lange fort. Und die Beule macht bestimmt nichts aus. Ruth wird mich bemitleiden und nicht vor Schreck davonlaufen. Und außerdem bin ich fast einundzwanzig Jahre alt, da kann ich mir doch wohl ein paar Freiheiten erlauben.“

Hier war zu bedenken, dass das Land, in dem er damals lebte – Forestus -, dem heutigen Italien entsprach. Die Mutter wollte ihn also möglichst lange bei sich behalten. Er ahnte jedoch nicht, dass er nicht mehr lange im Elternhaus verweilen würde, ganz im Gegensatz zu diesem Klischee, das damals immerhin schon in manchen Kreisen bekannt war.

„Komm jetzt. Es gibt Mittagessen“, sagte sie und Raffael ging ins Haus.

„Was gibt es denn heute?“ fragte er.

„Rehbraten! Dein Vater hat es selbst erlegt. Dafür musste er eine Säbelzahnfliege töten, die auf dem Rücken des Rehs gesessen hat. Bedank dich schön!“

Raffael schluckte. Rehbraten?

„Danke“, brachte er heraus, „aber ich habe heute keinen Appetit.“

„Iss doch wenigstens von dem Wurzeleintopf“, sagte seine Mutter, doch er schüttelte den Kopf und ging hinaus. Heute konnte er keinen Rehbraten essen. Nicht, nachdem er dieses Reh gesehen hatte. Der Hunger auf Hirsch- oder Rehfleisch war ihm seit heute Morgen vergangen. Eher würde er eine Säbelzahnfliege essen, auch wenn ihre spitzen, weißen Hauer ziemlich hart waren. Der Rest war immerhin weich und die Flügel waren knusprig. Aber das stand ohnehin nicht zur Debatte. Morgen Vormittag würde er als erste Tat nach dem Aufstehen in den Wald gehen und nachsehen, ob das weiße Reh noch lebte. Es konnte doch sein, dass sein Vater es geschossen hatte, während Raffael auf dem Rückweg gewesen war. Ein kleines Zeitfenster hatte es dafür in jedem Fall gegeben. Rehe waren sehr schnell. Es konnte, von ihm unbemerkt, Richtung Hütte gespurtet sein. Jedenfalls wollte er das überprüft wissen. Am Abend konnte er dann beruhigt mit Ruth tanzen. Mit dem Wissen, dass eines der schönsten Geschöpfe des Waldes – mit Verlaub: damit war nicht Ruth gemeint – noch am Leben war, tanzte es sich leichter. Die Beule, wegen der er sich, zugegeben, doch ein wenig Sorgen machte, war bis dahin bestimmt fast verschwunden und wenn er ihr in seiner Ungeschicklichkeit auf die Füße stieg, tat das weniger ihm als ihr weh. Ihm taten dann höchstens die Ohren weh, wenn sie dabei zu laut aufkreischte. Das war alles kein großes Problem.

Am Abend kam ein Bote vorbei. Er sah sehr müde und abgehalftert aus, also luden Raffaels Eltern ihn zum Abendessen ein.

„Erzählen Sie doch, was geschehen ist“, forderte die Mutter ihn auf.

„Gut, ich werde Ihnen alles erzählen, was ich weiß.“ So erfuhren sie vom Verschwinden des glücklichsten Liebespaares im Reich Abschott, wenn nicht von der ganzen Welt.

„Abschott?“ fragte Raffaels Vater. „Ich glaube, dass ich davon schon einmal gehört habe. Die heißen doch so, weil sie sich von der Außenwelt abschotten, oder?“

„Genau“, bestätigte der Bote. „Sie selbst nennen sich jedoch bloß „groß und glücklich“, vor allem glücklich. Ich würde eher größenwahnsinnig und irr – vor Glück – sagen, wenn ich mir ihr Schloss und die Leute dort so ansehe. Habt ihr es vielleicht schon einmal gesehen?“

Alle drei schüttelten simultan den Kopf.

„Schade für euch. Jetzt ist es jedenfalls um einiges kleiner.“

Sie wussten nicht, was er damit meinte, doch sie ließen ihn weitersprechen. „Es geht das Gerücht um, dass es deswegen geschrumpft ist, weil die Liebe von dort verschwunden ist. Versteht ihr?“

Wieder schüttelten die drei den Kopf.

„Natürlich nicht. Das war eine Fangfrage.“ Er lachte herzlich. Auch Raffaels Eltern und er selbst lächelten zumindest, obwohl sie das nicht allzu lustig fanden. Sie wollten höflich sein und den Boten nicht mit Unfreundlichkeit verscheuchen, sodass er ihnen die Geschichte nicht mehr erzählen konnte.

„Wisst ihr, es ist nämlich so: es gab dort nur ein echtes Liebespaar, für das das Wort Liebe auch zutrifft: Prinzessin Penelope und Prinz Samuel.“

„Gab es denn keine Ehepaare?“ fragte Raffaels Mutter.

„Doch, doch. Außer König und Königin noch einige mehr. Aber alle waren bei allem was sie taten so fröhlich und glücklich, dass sie darauf vergessen hatten sich zu lieben. Nur Prinz und Prinzessin nicht. Als sie weg waren, schwand jedoch mit ihnen auch das Glück und scheinbar auch der Zauber, der dem ganzen Reich seine Größe, seinen Lebensinhalt gegeben hat. So viel Glück und Zufriedenheit auf der einen Seite... Keine Kriminalität und... keine Liebe auf der anderen Seite... Ohne Liebe ist dort alles ziemlich leer und oberflächlich und das Schloss ist jetzt ein Kinderspielzeug.“

Die Familie sah ihn fasziniert an. Das war eine nette Geschichte.

„Sehr romantisch, nicht? Ich sage euch etwas: das Ganze trieft vor Schleim und Kitsch. Aber wie gesagt: ich bin nur der Überbringer der Worte, die man sich so erzählt. Ist ja nur ein Gerücht.“ Er grinste.

„Man weiß gar nichts von den Kindern?“ fragte Raffael.

„Königskinder, wenn ich bitten darf.“ Der Mann grinste und ließ gelbe Zähne aufblitzen, sofern diese überhaupt blitzen konnten. „Außer, dass sie schön, jung und verschwunden sind?“ Er grinste immer noch und schüttelte den Kopf.

„Eines noch“, sagte er dann. „Die Bewohner von „Glücklich Abschott“, wenn man es so nennen will, weinen jetzt alle ohne Unterlass. Man sollte annehmen, dass kieselsteingroße Menschen keinen Lärm machen können, jedoch diese Leutchen... So, ich werde dann weitergehen, bevor es zu dunkel wird. Ich bedanke mich für die Gastfreundschaft. Auf ein baldiges Wiedersehen!“ sagte er und verließ die Hütte ohne darauf zu warten, dass jemand aufstand und ihn zur Tür geleitete.

Auf Wiedersehen! Lieber nicht, dachte Raffael, der von Ruth gerne Raffi genannt wurde, was ihn allerdings ziemlich nervte. Morgen würde er ihr als „Rache“ ohnehin auf die Füße treten.

„Ehrlich gesagt glaube ich dem Unhold kein Wort“, mokierte sich sein Vater über den merkwürdigen Boten.

„Klingt doch sehr plausibel“, sagte seine Mutter, aber das meinte sie nicht ernst.

Nur Raffael fragte sich insgeheim, ob da nicht doch etwas Wahres dahinter steckte.

„Es ist schon recht spät. Geh schlafen! Du musst morgen sehr munter sein, um gut zu tanzen“, befahl seine Mutter. Das war ihm heute nur recht. So konnte er morgen früher aufstehen und, ohne dass seine Eltern es merkten, in den Wald schleichen. Somit protestierte er nicht, sondern war, kaum dass seine Mutter „bla“ sagen konnte, im Bett.

Er träumte in dieser Nacht von einem Reh und einem Hirsch, die von einer Säbelzahnfliege gefressen wurden. Diese Fliege wurde daraufhin von ihm und seinen Eltern erlegt und gegessen. So hatten sie Reh, Hirsch und eine Fliege in der Größe eines Hundes in einem.

Am nächsten Morgen erwachte er schweißgebadet. Dieser Traum war ekelhaft gewesen. Als ob seine Mutter nicht schon so schlecht genug kochte, musste sie in diesem Traum auch noch eine Fliege dünsten. „Dünsten, nicht braten“, hatte sie zu ihrem Sohn gesagt. „Sonst wird sie zäh und die Zähne fallen ihr nicht aus.“ Als ob einer Fliege ihre Säbelzähne herausfallen konnten, nur weil sie etwas länger über der Feuerstelle hing.

Er stand auf, zog seine Waldkleidung an und schlich so leise wie möglich aus der Holzhütte. Als eine Diele knarzte, blieb er stocksteif stehen. Nichts regte sich im Bette seiner Eltern. Raff(i)ael schlich weiter.

„Was machst du da?“ sagte eine streng klingende Stimme. Es war seine Mutter. Langsam drehte er sich um, gefasst auf eine Standpauke. Im schwachen Licht der Morgendämmerung erkannte er, dass sie immer noch schlief. Sie träumte also nur. „Tu das nicht“, murmelte sie und Raffael konnte erleichtert das Haus verlassen. Er betrat den Wald. Es war noch ziemlich dunkel, sodass ihm die Schatten unheimlich vorkamen. Jedes auch nur leise Rascheln ließ ihn zusammenzucken. Plötzlich fühlte er etwas unangenehm Vertrautes im Gesicht. Es waren Spinnweben und in seinem Kopfhaar wuselte etwas. Eine Fellspinne! Er kreischte und schlug sich auf den Kopf. An dem matschigen Gatsch zwischen seinen Fingern merkte er, dass er das Untier getötet hatte. Er wischte sich die Spinnfäden aus dem Gesicht und überlegte sich, dass er sich die Haare waschen musste, sobald er nach Hause kam. Gewaschen hätte er sich ohnehin noch. Er tanzte immerhin mit dem – er überlegte kurz – fünftschönsten Mädchen des Dorfes. Wenn man davon absah, dass es dort insgesamt nur sechs junge Damen gab, war das ein guter Wert. Unter einhundert Frauen wäre sie bestimmt auf Platz neunzig gelandet. Wenn er sie doch ein bisschen mehr mögen würde. Sie war zwar seine beste Freundin und er ihr bester Freund, aber sie kannten sich ja auch schon seit ihrem Babyalter. Inzwischen nervten sie sich jedoch mehr, als sich richtig gern zu haben. Den Spruch „Was sich liebt, das neckt sich“ kannte er nicht, doch er hätte in diesem Moment sowieso nicht daran gedacht. Das wäre einfach zu abwegig gewesen. Auf einmal kam ihm schon wieder ein Baum in die Quere. Jetzt würde er eine zweite Beule bekommen. Ob die neue bis zum Abend verschwunden sein würde, stand auf einem anderen Blatt.

Langsam aber sicher wurde es hell. Es wäre jetzt etwa sechs Uhr früh gewesen, doch außer Sonnenuhren und der biologischen Uhr hatte man zu dieser Zeit nichts zur Verfügung. Raffael blieb erschrocken stehen. Direkt vor ihm, etwa hundert Meter entfernt – dass es dieses Maß damals auch nicht gegeben hatte, wurde schon erwähnt -, konnte er eine Silhouette ausmachen. Die Gestalt schien einen langen, spitzen Hut zu tragen und relativ klein zu sein, vor allem ohne den Hut, doch das konnte Raffael bloß schätzen. Schnell versteckte er sich hinter einem Baum. So wie am Vortag erwischte er wieder einen zu dünnen Laubbaum. Es war schon verwunderlich, dass er in einem Nadelwald – das war der Wald schließlich zum Großteil – nun schon zum zweiten Mal beim Verstecken an einen Laubbaum geriet. Wieder sprang er hinter eine benachbarte Fichte. Vorsichtig blickte er hinter seinem Versteck hervor. Die Gestalt rührte sich nicht. Sie schien ihn nicht bemerkt zu haben. Ihr spitzer Hut erinnerte ihn irgendwie an... Oh Schreck! Das musste eine Waldhexe sein! Klein, fett – so wirkte dieser Schatten jedenfalls -, langer und spitzer Hut. Es passte alles zusammen. Langsam schlich er auf die vermeintliche Hexe zu, um sie zu überwältigen. Er hatte gehört, dass, wenn man eine Waldhexe von hinten überwältigte, sie einem drei kleine Wünsche erfüllen musste. Vielleicht konnte er sich die Beulen hinfort wünschen. Bald stand er direkt hinter ihr. Brutalst viel er ihr um den Hals und warf sie mit all seinem Gewicht zu Boden. Nun bettelte die Gestalt um Gnade.

„Bitte, bitte, tu mir nichts! Ich wollte sie zurückgeben, ehrlich!“

Das war eindeutig nicht die Stimme einer Hexe. Dafür war sie zu tief und männlich. Er ließ die Gestalt ein klein wenig frei und drehte sie herum. Das bärtige Gesicht eines Landstreichers starrte ihm entgegen. Er hatte sichtlich Angst um sein Leben.

„Was wolltest du zurückgeben?“ fragte Raffael. Der Landstreicher zeigte ihm die Kleidung, die er an einem See nicht weit von Schloss Abschott gefunden hatte.

„Natürlich wolltest du sie zurückgeben“, sagte Raffael geringschätzig. Er betrachtete die Kleidungsstücke genauer. Vor allem der mit weißem Faden eingestickte Buchstabe auf der blauen Samthose fiel ihm auf. Es war ein S. Hatte der Bote nicht gesagt, dass der verschwundene Prinz Samuel hieß? Natürlich! Also gehörten die Kleider ihm. Nur das zauberhafte, weiße Morgenkleid konnte nicht ihm gehören, außer er war eine Tunte und nun wäre Raffael der einzige, der es wusste. Nein, dieses Kleid war bestimmt im Besitz von Prinzessin Penelope – gewesen. Moment. Wenn die Kleidung der beiden hier war, bedeutete das doch, dass die beiden nackt waren. Sollten nackte Menschen denn in der Öffentlichkeit nicht auffallen? Beim Gedanken an eine nackte Prinzessin wurde ihm ganz heiß, doch halt! Solche Schweinereien hatten hier nichts verloren. Er wurde wütend.

„Was ist eigentlich los mit dir!?“ rief Raffael aus. „Nimmst dir einfach irgendwelche herrenlosen Kleider und dann finde ich dich hier bei... Was hast du hier eigentlich gemacht? Schläfst du im Stehen oder was?“ fragte er verdutzt, als ihm einfiel, dass dieser Kerl ihn nicht bemerkt hatte, obwohl er sich alles andere als leise angeschlichen hatte.

„Manchmal“, sagte der alte Mann. Es war ihm ein wenig peinlich. Das erklärte natürlich auch, warum er Raffael nicht gehört hatte.

„Die nehme ich an mich“, sagte er und hob die Hose, das Hemd und das Kleid auf. „Du flüchtest jetzt besser, sonst...“ Drohend hob er den Zeigefinger. Der Landstreicher rappelte sich auf und humpelte davon. Raffael machte sich auf den Rückweg, der in entgegengesetzter Richtung lag. Er bastelte sich einen irrwitzigen Zusammenhang, was seine neuesten Erlebnisse anging: wenn er hier die Kleider des jungen Paares – Königspaares, verbesserte er sich – in Händen hielt und niemand nackt durch die Gegend gelaufen war – davon hätte man gehört – und plötzlich eine solche Seltenheit wie ein weißes Reh und ein roter Hirsch auftauchten, dann war es doch immerhin möglich, dass diese Tiere bis vor kurzem eben diese Menschen gewesen waren. Ja, und sie haben sich wahrscheinlich verwandelt, nachdem sie einen Frosch geküsst haben. Gleichzeitig! dachte er belustigt. Er musste über sich selbst den Kopf schütteln. So verrückt konnte nur er sein. Eines wusste er jedenfalls: er war jetzt zu aufgeregt, um nach seltenen Tieren zu suchen. So beschloss er, Ruth einen Besuch abzustatten. Mit stolzgeschwellter Brust würde er ihr die königlichen Kleider zeigen. Sie würde ihn ausnahmsweise loben, auch wenn es noch sehr früh war und er sie aufwecken würde müssen. Dann würde er ihr seine verquere Theorie beibringen. Sie mochte solche Geschichten sehr gerne und das nötige Vorwissen hatte ihr bestimmt der Bote gebracht. Weiters würde er sie fragen, ob sie mit ihm nach den beiden Tieren suchen wolle. Sie würde ja sagen, denn sie mochte romantische Abenteuergeschichten, vor allem, wenn sie selbst daran teilhaben konnte. Raffael wollte jetzt wirklich nicht allein den Wald absuchen. Er brauchte Begleitung und es fiel ihm niemand Besseres als Ruth ein. Also schlenderte er in Richtung des Dorfes. Etwa eine halbe Stunde später wich der Wald einem breit ausgetretenen Weg, der zum Dorf führte, dem kleinsten in ganz Forestus, wenngleich das Reich selbst auch sehr klein war. Kurz darauf kam das erste Häuschen in Sicht. Die Bäume waren völlig zurückgewichen und hatten nicht nur Holzhäuschen und einem Lagergebäude für Weizen und Obst Platz gemacht. Weite Felder und Wiesen, sowie Obstplantagen und Weinreben erstreckten sich vor ihm. Sanfte Hügel verdeckten die Sicht auf die dahinterliegende Landschaft. Hinter ihm begann wieder der Wald, sodass man auch in dieser Richtung nicht weit blicken konnte.

Als Raffael das dritte Haus linker Hand erreichte, blieb er stehen. Das war Ruths Haus oder besser gesagt das ihres alten Herrn, der es selbst gebaut hatte. Er war einer der tüchtigsten Männer im Dorf. In einer Rangliste wäre ihm Platz drei sicher gewesen und es gab hier nicht nur vier tüchtige Männer, sondern mindestens zwanzig. Das wollte also etwas heißen. Raffael ging auf das Haus zu und blickte durch ein offenstehendes Fenster. In dem Haus war es noch recht dunkel, aber er konnte in diesem Zimmer die noch schlafende Ruth erkennen. Er bückte sich und hob einen Kieselstein auf. Vielleicht war der Stein auch etwas größer als ein Kiesel, aber wen kümmerte das schon. Er zielte und warf ihn in ihre Richtung. Der Stein traf sie genau ins Gesicht. So gut hatte er noch nie getroffen. Jetzt musste sie nur noch aufwachen. Das tat sie auch. „Aua“, murmelte sie und blickte zum Fenster. Ihre Lider waren noch schwer und sie erfasste die Situation nicht sofort. Als sie jedoch erkannte, was vor sich ging, setzte sie einen bösen Blick auf und kroch leise aus dem Bett, um ihre Eltern nicht zu wecken. Dann stellte sie sich ans Fenster.

„Was willst du denn um diese Zeit hier?“ zischte sie leise. „Die Sonne steht noch nicht einmal zu einem Achtel am Himmel!“

„Tut mir Leid. Verzeih mir“, sagte er, „aber sieh nur, was ich hier habe!“ Er zeigte ihr das königliche Gewand.

„Wo hast du das denn her?“ fragte sie. „Sind das nicht...?“

„Ja, das sind in der Tat die königlichen Kleider von Prinzessin Penelope und Prinz Samuel.“ Er zeigte ihr das kunstvoll und schwungvoll eingestickte S auf der Hose. „Ich habe sie bei einem alten Landstreicher im Wald gefunden.“ Er reichte ihr die Kleider zur näheren Begutachtung.

Ruth schüttelte den Kopf. Ausgerechnet der unauffällige, tollpatschige Raffael fand die Kleider des berühmtesten Königspaares der Welt in dem Wald durch den er immer einsam und allein spazierte. Es war unglaublich. Unglaublich (schlecht) sahen auch seine Haare aus. „Warum hast du eine tote Spinne auf dem Kopf?“ fragte sie unvermittelt.

Raffael griff sich in die Haare. Die Spinne hatte er ganz vergessen. „Das tut jetzt nichts zur Sache“, sagte er. Es war gut, dass der Landstreicher nichts von der arachnoiden Leiche bemerkt hatte. Für einen Kommentar in dieser Richtung hätte Raffael ihn bestimmt geschlagen. „Wichtig ist nur...“, und er erzählte ihr seine Theorie über das Verschwinden der Königssprosse. Dass sie in ein weißes Reh und einen roten Hirsch verwandelt worden wären, und dass er glaube, die einzige Möglichkeit das Königreich Abschott zu retten, sei ihre Rückverwandlung.

„Was ich dich nun fragen wollte: kommst du mit mir mit? Wir suchen zusammen die Tiere und bringen sie zu ihrem Schloss. Das könnte genügen, um alles wieder ins Lot zu befördern.“

Sie überlegte kurz. Dann antwortete sie: „Gut, ich komme mit!“ Sie liebte romantische Abenteuergeschichten, auch wenn sie nur das Hirngespinst eines Jungen waren. Es gab doch keine weißen Rehe oder roten Hirsche. Nicht einmal ihr Winterfell war so gefärbt. Sie zog ihr Nachtgewand aus und schlüpfte in ihre bequemsten, waldtauglichsten Sachen. Raffael wandte indessen, höflich wie er war, den Blick ab. Als sie fertig war, half er ihr dabei aus dem Fenster zu klettern. So war es leiser, als wenn sie die Tür benutzte. Diese knarrte nämlich sehr laut.

Als Ruth neben ihm stand, sagte sie: „Beim nächsten Bach wäschst du dir dieses Ding aus den Haaren. Sind das Beulen auf deiner Stirn?“ Er nickte. „Zwei nebeneinander?“ Sie lachte. Er sagte nichts dazu.

„Ich kenne da zufällig einen kleinen Bach im Wald“, sagte er schließlich.

Gemeinsam gingen sie erst einmal dorthin und er spülte das tote Tier vom Kopf. Als er wieder gerade stand, sagte er: „Jetzt suchen wir die beiden.“

Während der nächsten Stunde, die sie mit Suchen verbrachten, redeten sie recht wenig und wenn dann nur ganz leise, um die beiden Tiere nicht zu erschrecken, falls sie in der Nähe sein sollten. Allerdings fanden sie nichts. Ruth setzte sich auf den Stamm eines entwurzelten Baumes. Sie war müde und etwas enttäuscht darüber, dass sei keines der beiden Tiere gefunden hatten. An der Geschichte gab es wohl doch kein Körnchen Wahrheit.

Ein lautes Rascheln ließ sie hochfahren. Raffael und Ruth blickten in die Richtung aus der es gekommen war. Dort erblickten sie... einen Hasen. Es war einer dieser hübschen, dreiohrigen Hasen. Wenn man einen erlegte und dann nur das eine Ohr in der Mitte seines Kopfes aß, hatte man für die Zeit von einem Vollmond bis zum nächsten Glück in der Liebe – angeblich – und der Hase erwachte wieder zum Leben, um fürderhin mit zwei Ohren durch sein Dasein zu hüpfen. Sie ließen ihn am Leben und marschierten weiter. Sie kamen zu der kleinen Lichtung im Wald. Raffael zog Ruth schnell hinter einen Baum. Er hatte etwas entdeckt. Im hohen Gras auf der Lichtung standen sie. Er zeigte Ruth die schönen Tiere. Sie machte große Augen. Da standen wirklich das schneeweiße Reh und der rosenrote Hirsch. Vielleicht war also doch alles wahr?

„Ich versuche sie anzulocken“, flüsterte Raffael.

„Aber sie sind ganz bestimmt sehr scheu!“ meinte Ruth.

„Das wird sich weisen.“ Er pflückte ein Büschel Gras und kam vorsichtig hinter seiner Deckung hervor. Während er das Büschel hin und her schwenkte, rief er mit sanfter Stimme: „Hallo. Kommt doch her. Ich habe hier etwas Gutes für euch. Ich tue euch auch gar nichts.“ Sie ästen unbeeindruckt weiter.

„So wirst du sie kaum anlocken können“, sagte Ruth. „Sie schauen ja nicht einmal her. Und wenn, würden sie sich erschrecken, denn deine Beulen sehen schrecklich aus.“ Sie versuchte es,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 01.08.2013
ISBN: 978-3-7309-4019-8

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