Cover

Band I

EEs begann erneut. Dabei schien alles so friedlich: Die letzten Glutreste knackten leise im Feuer, ein junges Dienstmädchen und ihr Kind schlummerten in einem Stuhl unweit der Tür, eine Stickerei lehnte an der Wand, darauf wartend, am nächsten Tag vollendet zu werden, einer der Monde schien durch eine milchige Wolke ins Fenster hinein, ein einsamer Vogel gurrte friedlich von seiner Ruhestätte unter dem Dach. Doch Tay hörte, wie die ersten Akkorde des Liedes aus weiter Ferne schief herüberwehten.


Der Vogel in den Zweigen krächzte und flog durch das Fenster hinein, das Kind in den Armen des Dienstmädchens erwachte und begann zu schreien. Das Lied gewann an Intensität, doch gleichzeitig blieb es subtil und sein Tempo gemächlich. Alles schien sich im Rhythmus der Musik zu bewegen, wie von einer merkwürdigen Choreografie dazu angeleitet: Das Mädchen erhob sich in Richtung Fenster, die Wolken spiegelten rot das Inferno unter ihnen wieder, ihr Schrei, alles durch das Lied übertönt und unhörbar gemacht. Alles, was danach passierte, hatte Tay schon so oft gesehen, dass es fast schon kein Albtraum mehr war.


An sein Leben vor seiner Ankunft auf der Insel Gorne konnte er sich nicht erinnern, doch er wusste, dass es etwas in seiner Vergangenheit gab, das ihn von seinen Cousins unterschied. Und das war nicht nur die Tatsache, dass seine Eltern tot waren. Die Eltern seiner Cousine Baynarah waren ebenfalls im Krieg gestorben. Und die anderen Hausbewohner in Gorne oder dem nahen Gramfeste waren auch nicht außergewöhnlich gemein zu ihm. Sie behandelten ihn mit der gleichen vornehmen Gleichgültigkeit, mit der jeder Indoril einem achtjährigen Jungen begegnete, der ihm vor die Füße lief.


Aber irgendwie wusste Tay, dass er allein war - und das mit absoluter Gewissheit. Anders. Wegen des Liedes, das er immer hörte, und seiner Albträume.


"Du hast wirklich eine rege Fantasie", sagte seine Tante Ulliah mit einem Lächeln, bevor sie ihn mit einer Handbewegung davonschickte, damit sie sich wieder ihren Schriften und Aufgaben widmen konnte.


"Anders? Jeder auf der Welt denkt, er sei anders, 'etwas Besonderes' - deswegen ist es gerade nichts Besonderes", sagte sein älterer Cousin Kalkorith. Er studierte, um ein Priester im Tempel zu werden, und kannte sich daher mit Paradoxen aus.


"Wenn du noch anderen Leuten erzählst, dass du Musik hörst, wo keine zu hören ist, dann wird man dich für verrückt erklären und lebendig im Schrein von Sheogorath begraben", knurrte sein Onkel Triffith, bevor er mit großen Schritten hinweggehen und sich seinen Geschäften zuwenden würde.


Einzig sein Kindermädchen Edebah hörte ihm ohne Vorbehalte zu und nickte mit einem milden Anflug von Stolz. Aber sie erwiderte nie etwas auf seine Geschichten.


Seine Cousine und liebste Spielkameradin, Baynarah, war von allen am wenigsten an seinen Geschichten über das Lied und über seine Träume interessiert.


"Wie ermüdend deine Geschichten doch sind, Tay", sagte Baynarah nach einem Mittagessen im Sommer seines achten Lebensjahres. Sie, er und sein jüngerer Cousin Vaster betraten eine Lichtung inmitten einiger in voller Blüte stehender Bäume. Das Gras war sehr niedrig, reichte ihnen kaum bis an die Knöchel, und vom letzten Herbst waren noch immer große, dunkle Laubhaufen zu sehen. "Sollen wir jetzt weiterspielen? Und was überhaupt?"


Tay dachte einen Moment lang nach. "Wie wäre es mit der Belagerung von Orsinium?"


"Was soll das sein?", fragte ihr ständiger Begleiter Vaster, der drei Jahre jünger war als die beiden anderen.


"Orsinium war die Heimat der Orks, weit in den Wrothgarianischen Bergen. Über Hunderte von Jahren wurde es immer größer und größer. Die Orks kamen von den Bergen herab, um in ganz Hochfels zu schänden und zu plündern. Doch dann vereinten sich König Joile von Daggerfall und Gaiden Shinji vom Orden von Diagna und noch jemand aus Sentinel, dessen Namen ich vergessen habe, gegen Orsinium. Dreißig Jahre lang kämpften und kämpften sie. Orsinium hatte Mauern aus Eisen, und was immer sie auch versuchten, sie konnten sie nicht durchbrechen."


"Und was ist dann passiert?", fragte Baynarah.


"Du kannst dir doch so gut Geschichten ausdenken, die nie passiert sind, warum lässt du dir kein Ende einfallen?"


Und das taten sie. Tay verkörperte den König der Orks und saß auf einem Baum, den sie Orsinium getauft hatten. Baynarah und Vaster spielten König Joile und Gaiden Shinji und warfen mit Steinen und Stöcken nach oben auf Tay, während er sie mit seiner tiefsten Stimme verspottete. Die drei entschieden, dass die Göttin Kynareth - von Baynarah in einer Doppelrolle gespielt - die Gebete Gaiden Shinjis erhören und eine wilde Regenflut über Orsinium entfesseln würde. Dadurch rosteten die Mauern und zerfielen. Auf ein Zeichen fiel Tay pflichtgemäß vom Baum und ließ zu, dass König Joile und Gaiden Shinji ihn mit ihren magischen Schwertern besiegten.


Den größten Teil des Sommers im Jahr 675 der ersten Ära war Tay von der Macht der Sonne wie berauscht. Es gab keine Wolken, aber es regnete fast jede Nacht, daher war die Vegetation der Insel überwältigend üppig. Die Steine selbst schienen vom Sonnenlicht zu glühen und aus den Gräben leuchteten weiße Süßauen und Petersilienblumen. Überall umgab ihn der zarte Duft der Blüten: Die Bäume mussten den Wind nicht fürchten, ihr Laub war violettgrün, blaugrün, aschgrün und weißgrün. Die weißen Kuppeln, gewundenen Kopfsteinpflasterstraßen und strohbedeckten Dächer des kleinen Städtchens Gorne erschienen ihm ebenso verzaubert wie die massiven, ausgeblichenen Steine des Sandil-Hauses.


Dennoch plagten ihn des Nachts Albträume und das Lied hörte niemals auf, egal, ob er wachte oder schlief.


Entgegen Tante Ulliahs Ermahnungen frühstückten Tay, Baynarah und Vaster jeden Morgen mit den Dienern draußen im Freien. Ulliah richtete wie immer im Haus ein Frühstück für sich selbst und etwaige Würdenträger aus, die ihr einen Besuch abstatteten, doch es gab nur selten Gäste. Daher speiste sie häufig allein. Zunächst aßen die Diener schweigend und versuchten sich in vornehmer Zurückhaltung, doch schließlich gaben sie es auf und unterhielten die Kinder mit Klatsch, Tratsch, Geschichten und Gerüchten.


"Die arme Arnyle liegt schon wieder mit Fieber im Bett."


"Ich sage euch, sie sind verflucht. Sie alle. Pinkelt die Feen an, dann pinkeln sie euch an."


"Spannt sich der Bauch des kleinen Fräuleins Starsia in letzter Zeit nicht ein wenig?"


"Nein, auf gar keinen Fall!"


Die einzige Dienerin, die nie etwas sagte, war Tays Kindermädchen Edebah. Sie war nicht so schön wie die anderen Dienstmädchen, doch die Narben in ihrem Gesicht entstellten sie nicht. Ihre nur schlecht gerichtete, gebrochene Nase und ihr kurzes Haar verliehen ihr eine fremdartige und geheimnisvolle Aura. Sie lächelte über den Tratsch nur milde und blickte Tay nur mit beinahe unheimlicher Liebe und Zuneigung an.


Eines Tages, nach dem Frühstück, flüsterte Baynarah Tay und Vaster zu: "Wir müssen zu den Hügeln auf der anderen Seite der Insel gehen."


Sie hatte solche "Befehle" schon häufig erteilt, und jedes Mal gab es etwas Wunderschönes zu sehen: einen Wasserfall versteckt hinter Farnen und großen Felsen, einen sonnigen Fichtenhain, eine geheime Destillerie, die einige Bauern errichtet hatten, eine verkrüppelte Eiche, die wie ein kniender Mensch aussah, eine eingestürzte Steinmauer, die bestimmt Tausende von Jahren alt war, die letzte Zuflucht einer verfluchten Prinzessin namens Merella.


Die drei gingen durch den Wald, bis sie eine Lichtung erreicht hatten. Einige Hundert Meter unter ihnen grenzte die Wiese an ein ausgetrocknetes Flussbett, das mit kleinen glatten Steinen gefüllt war. Sie folgten dem Flussbett in die dunklen Wälder, wo die Bäume sich hoch über ihren Köpfen erhoben. Gelegentlich leuchteten rote und gelbe Blüten im feuchten Unterholz, aber sie wurden immer seltener, während die Kinder unter den schattigen Eichen und Ulmen hermarschierten. Die Luft war vom stakkatoartigen Chor der Vögel erfüllt, einem Mollakkord des Lieds.


"Wohin gehen wir?", fragte Tay.


"Wohin wir gehen, ist nicht so wichtig wie das, was wir sehen werden", erwiderte Baynarah.


Der Wald umgab die drei Kinder vollkommen, umhüllte sie mit seinen düsteren Farben und umgab sie mit feuchtem Schnalzen und Seufzen. Es fiel ihnen leicht, sich vorzustellen, dass sie sich im Inneren eines Monsters befanden und entlang seines krummen, aus Stein geformten Rückens marschierten.


Baynarah kletterte den steilen Hügel hinauf und spähte durch das Dickicht aus Sträuchern und Bäumen. Tay hob Vaster aus dem Bett des ausgetrockneten Stroms und stieg dann ebenfalls hinaus, wobei er sich an weichen Grashalmen festhielt. Es gab hier keinen Pfad durch den Wald mehr. Dornensträucher und tief hängende Äste schlugen nach ihnen wie die Krallen angeketteter Bestien. Die Schreie der Vögel wurden immer bedrohlicher, als ärgerten sie sich über die Eindringlinge. Einer der Äste verletzte Vasters Wange, aber er blieb still. Selbst Baynarah, die sich sonst mit der Leichtigkeit eines ätherischen Wesens selbst durch das dichteste Unterholz bewegte, blieb mit einem Zopf an einem Dornenbusch hängen und ruinierte so das komplizierte Muster, an dem eine Dienerin stundenlang gearbeitet hatte. Sie blieb kurz stehen, um auch den anderen Zopf zu lösen: Ihre hellen, wilden Locken fielen frei ihren Rücken hinunter. Nun war sie etwas Wildes, eine Nymphe, die die anderen beiden durch ihre Waldheimat führte. Das Lied begann wie ein wilder Puls zu schlagen.


Sie befanden sich auf einem Felsvorsprung unterhalb einer Klippe, die eine gewaltige Schlucht überblickte und schauten gebannt auf ein riesiges Aschefeld. Es sah aus wie der Schauplatz einer großen Schlacht, ein feuriger Ort des Schreckens. Verkohlte Kisten, Waffen, Tierknochen und andere, bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Überreste, bedeckten den Boden. Sprachlos betraten Tay und Vaster das schwarze Feld. Baynarah lächelte, stolz darauf, endlich etwas wirklich Wundersames und Rätselhaftes gefunden zu haben.


"Was ist das hier für ein Ort?", fragte Vaster schließlich.


"Ich weiß es nicht", sagte Baynarah achselzuckend. "Ich dachte erst, dass es eine Art Ruine sei, aber jetzt glaube ich, dass es ein großer Schrotthaufen ist - der sich von allen anderen unterscheidet, die ich bisher gesehen habe. Schaut euch nur dieses Zeug an."


Die drei begannen damit, planlos in den staubigen Haufen herumzustochern. Baynarah fand ein verbogenes, von den Flammen nur leicht geschwärztes Schwert und fing an, es zu polieren, um die Inschrift auf der Klinge lesen zu können. Vaster vergnügte sich damit, kleine, zerbrechliche Kisten mit seinen Händen und Füßen zu zertrümmern und stellte sich dabei vor, ein unglaublich starker Riese zu sein. Tay wurde von einem zerbrochenen Schild angezogen: Aus irgendeinem Grund hallte der Klang des Liedes von ihm wieder. Er zog es heraus und wischte seine Oberfläche ab.


"Dieses Wappen habe ich noch nie gesehen", sagte Baynarah, die über Tays Schulter blickte.


"Ich schon, aber ich kann mich nicht daran erinnern, wo das war", flüsterte Tay, der versuchte, die Bilder aus seinen Träumen herbeizubeschwören. Er war sich sicher, es dort gesehen zu haben.


"Seht euch das an!", rief Vaster und unterbrach Tays Gedanken. Der Junge hielt eine Kristallkugel in die Höhe. Als seine Hand sich über die Oberfläche bewegte und Schmutz und Staub wegwischte, erklang eine Note des Liedes, die Tay erschauern ließ. Baynarah rannte hinüber, um Vasters Schatz näher in Augenschein zu nehmen, doch Tay war wie gelähmt.


"Wo hast du das gefunden?", keuchte sie, während sie in die Wirbel unter der kristallenen Oberfläche blickte.


"Da drüben in dem Wagen." Vaster deutete auf einen Haufen geschwärzten Holzes, der sich nur durch seine Radspeichen von den anderen Haufen unterschied. Baynarah kletterte in die halb eingefallenen Überreste des Wagens, bis nur noch ihre Füße zu sehen waren. Das Lied wurde lauter und fegte über Tay hinweg. Er ging langsam auf Vaster zu.


"Her damit", flüsterte er mit einer Stimme, die er kaum als seine eigene erkennen konnte.


"Nein", wisperte Vaster zurück, seine Augen von den Farben gebannt, die sich im Zentrum der Kugel widerspiegelten. "Sie gehört mir."


Baynarah wühlte noch ein paar Minuten länger in den Überresten des Wagens, doch anders als Vaster konnte sie keine Schätze entdecken. Fast alles darin war zerstört und was noch nicht in seine Einzelteile zerfallen war, besaß wahrlich keinen Wert: zerbrochene Pfeile, Rüstungsteile, Guar-Knochen. Frustriert kletterte sie schließlich ans Sonnenlicht zurück.


Tay stand allein am Rand der großen Schlucht.


"Wo ist Vaster?"


Tay blinzelte und wandte sich dann achselzuckend und mit einem Grinsen seiner Cousine zu: "Er ist umgekehrt, um allen seine neue Beute zu zeigen. Hast du etwas Interessantes gefunden?"


"Nein, kein Stück", sagte Baynarah. "Wir sollten besser zurück nach Hause gehen, bevor Vaster ihnen etwas erzählt, das uns in Schwierigkeiten bringen könnte."


Tay und Baynarah machten sich schnellen Schrittes auf den Rückweg. Tay wusste, dass Vaster nach ihrer Rückkehr nicht auf sie warten würde. Er würde nie wieder nach Hause zurückkehren. Die Kristallkugel lag gut verstaut in Tays Beutel, verborgen unter einem Haufen wertloser Überreste, die er aufgesammelt hatte. Inbrünstig betete er, dass das Lied zurückkehren und die Erinnerung an die Schlucht und den langen, stillen Sturz nach unten hinwegtragen würde. Der Junge war so überrascht gewesen, dass er nicht einmal die Zeit gehabt hatte, zu schreien.

Band II

 

TTay fühlte keinerlei Schuld, was ihm Angst machte. Während des gesamten langen Weges zurück von der Schlucht, durch die Wälder, über das ausgetrocknete Bett des Stroms, plauderte er fröhlich mit Baynarah, sich der Tatsache völlig bewusst, dass er soeben einen Mord begangen hatte. Jedes Mal, wenn seine Gedanken von ihrer Unterhaltung abschweiften und er an die letzten Momente in Vasters kurzem Leben denken musste, schwoll das Lied in seinem Inneren an. Er konnte nicht an den Tod des Jungen denken, doch Tay wusste, dass er verantwortlich war.


"Du meine Güte, wie seht ihr denn aus!", rief Tante Ulliah, als sie die beiden Kinder aus dem Wald hervor und auf das Sandil-Haus zukommen sah. "Wo seid ihr gewesen?"


"Hat euch das Vaster noch nicht erzählt?", fragte Tay.


Alles lief so ab, wie Tay es sich vorgestellt hatte: Jeder Tänzer im Lied trat genau dort auf, wie es die Choreografie vorgab. Tante Ulliah sagte, dass sie Vaster nicht gesehen habe. Baynarah, noch unbekümmert und sorglos, erzählte eine unschuldige Lüge: Die drei seien nicht weit weg gewesen und er müsse sich verlaufen haben. Mit dem Einbruch der Nacht erhöhte sich der Herzschlag der Panik langsam, aber beständig, denn Vaster war immer noch nicht zurückgekehrt. Baynarah und Tay gestanden tränenreich ein - er war überrascht, wie leicht es ihm fiel, ohne jedes Gefühl zu weinen -, wo sie gewesen waren und führten Onkel Triffith und eine Gruppe von Dienern zu der Schlucht und dem Schrotthaufen. Die unermüdliche Suche, die bis zum Tagesanbruch andauerte. Das Weinen. Die leichte Strafe, lediglich Zornesrufe, die Baynarah und Tay dafür erhielten, dass sie ihren kleinen Cousin verloren hatten.


Weil sie so reuevoll aussahen, nahmen alle an, dass die Kinder sich schuldig genug fühlten. Sie wurden bei Tagesanbruch ins Bett geschickt, während die Suche in den Wäldern weiterging.


Tay stand kurz davor, einzuschlafen, als sein Kindermädchen Edebah ins Zimmer kam. Der Ausdruck von unerschütterlicher Liebe und Hingabe war nicht aus ihren Augen verschwunden, und während sie seine Hand hielt, versank er dankbar ins Reich seiner Träume und Albträume. Das Lied wehte beinahe unwahrnehmbar durch sein Bewusstsein, als erneut die Vision des Zimmers im Schloss in ihm aufflammte. Das Mädchen und ihr Kind. Der Vogel unter dem Dach. Das sterbende Feuer. Der plötzliche Gewaltausbruch. Tay riss die Augen auf.


Edebah stahl sich aus dem Zimmer, während sie leise die Melodie des Lieds vor sich hin summte. In ihrer Hand: die Kristallkugel aus seinem Beutel. Er zögerte einen Moment lang, wollte aufschreien. Woher kannte sie das Lied? Wusste sie, dass er einen anderen Jungen ermordet hatte, um an die Kugel zu kommen?


Irgendwie wusste er, dass sie ihm helfen würde, dass sie alles wusste, ihn liebte und ihn durch ihre Tat nur beschützen wollte.


Der nächste Tag, die nächste Woche und der nächste Monat verliefen immer gleich. Keiner sprach viel, und wenn, dann ging es um neue Orte, an denen man nach dem verschwundenen Jungen suchen könnte. Doch die Suche war bereits sehr gründlich gewesen. Tay fragte sich, warum sie nie in der Schlucht nachsahen, aber er wusste, wie unzugänglich sie war.


Ein Nebeneffekt von Vasters Abwesenheit war, dass die Unterrichtsstunden mit Kena Gafrisi eine ernsthaftere, fast schon akademische Qualität annahmen. Die Lebhaftigkeit und begrenzte Aufmerksamkeitsspanne des Jüngeren hatten die Stunden immer verkürzt, doch die sensible Baynarah und der stille Tay waren ideale Schüler. Gafrisi war besonders beeindruckt, wie aufmerksam sie bei einer eher trockenen Geschichtslektion über die heraldischen Symbole des Hauses von Morrowind zuhörten.


"Das Wappen der Hlaalu zeigt eine Waagschale", schnaubte er verächtlich. "Sie betrachten sich selbst als die großen Ausgleicher, als ob das etwas Ehrenvolles wäre. Vor vielen Hundert Jahren waren sie Stammesangehörige unter der Führung von Resdayn, der beschloss ..."


"Verzeiht, Kena", fragte Baynarah. "Aber was ist das für ein Wappen mit dem Insekt darauf?"


"Du kennst das Haus Redoran nicht?", fragte der Lehrer und hob einen der Schilde auf. "Ich weiß, du lebst hier auf Gorne ein behütetes Leben, aber du bist sicherlich alt genug, um zu erkennen ..."


"Nicht dieses, Kena", antwortete Tay. "Ich glaube, sie meint das andere Wappen mit einem Insekt."


"Ich verstehe", nickte Kena Gafrisi mit gerunzelter Stirn. "Ja, ihr seid zu jung, um jemals das Wappen des Sechsten Hauses gesehen zu haben, des Fürstenhauses Dagoth. Sie und die verfluchten ketzerischen Dwemer waren im Krieg am Roten Berg unsere Feinde. Das Geschlecht der Dagoth wurde vollkommen vernichtet, dem Fürsten, der Mutter und dem Zauberer sei Dank. Dieses Haus war seit Urzeiten ein Fluch für unser Land. Als seine Pest endlich ausgelöscht wurde, atmete die Erde selbst erleichtert auf und stieß eine Wolke aus Feuer und Asche aus, die für über ein Jahr lang den Tag zu Nacht machte."


Baynarah und Tay wussten, dass sie nichts sagen konnten, doch sie tauschten wissende Blicke aus, als der Lehrer seine Ausführungen weiter über die große Bosheit der Dwemer und des Hauses Dagoth dozierte. Sofort nach Ende des Unterrichtes verließen sie schweigend das Gelände des Sandil-Hauses, bis sie sich weit genug von neugierigen Augen und Ohren entfernt hatten.


Die Nachmittagssonne ließ die speerartigen Bäume, die die Wiese einrahmten, lange Schatten werfen. In einiger Entfernung konnten sie die Geräusche der Arbeiter hören, welche die herbstliche Ernte vorbereiteten und die sich Unverständliches in rauen wie bekannten Akzenten zuriefen.


"Das war definitiv das gleiche Symbol wie das auf dem Schild, den du auf dem Schrotthaufen gefunden hast", sagte Baynarah schließlich. "Alle Dinge dort müssen Überreste des Fürstenhauses Dagoth sein."


Tay nickte. Er dachte an die seltsame Kristallkugel. Er fühlte, wie die sanfte Schwingung lautloser Musik seinen Körper berührte, und er wusste, dass er dabei war, eine neue Akkordfolge des Liedes zu entdecken.


"Warum haben unsere Leute all das verbrannt und weggeworfen?", fragte er nachdenklich. "Meinst du, das Haus Dagoth war so böse, dass alles, was mit ihm zu tun hatte, verflucht sein könnte?"


Baynarah lachte. Bei Tage erschien das Gerede von Flüchen und dem bösen Sechsten Haus wie reiner Aberglaube: geheimnisvoll und romantisch, aber nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste. Die beiden Kinder gingen zurück ins Schloss, wo sie einmal mehr ein kühles, schweigsames Abendessen erwartete. Bei Anbruch der Nacht schaute Baynarah durch die Schätze, die sie aus dem Schrotthaufen hervorgeholt hatte. Im fahlen Licht der Monde wirkten die kleinen Gefäße, der Ring mit den orangefarbenen Edelsteinen, die Stücke angelaufenen Silbers und das für unbestimmte Zwecke verwendete Gold äußerst bedrohlich.


Ihre Bewunderung schlug augenblicklich in Ekel um. Sie strahlten eine sonderbare Energie aus, einen Hauch von Tod und Verderben, der sich nicht verleugnen ließ. Baynarah rannte zum Fenster und übergab sich.


Als sie auf die dunkle, weite Wiese unter sich schaute, sah sie eine Gestalt, die aus zahlreichen Kerzen ein großes Insekt formte: das Symbol des Fürstenhauses Dagoth. Als die Gestalt in ihre Richtung blickte, wandte sie sich sofort wieder ab, doch sie hatte das Gesicht gesehen, das von den Flammen erhellt wurde. Es war Edebah, Tays Kindermädchen.


Am nächsten Morgen verließ Baynarah schon früh das Schloss und trug einen großen Sack mit ihren Schätzen mit sich. Sie schleppte sie zum Schrotthaufen und ließ sie dort zurück. Anschließend kehrte sie zurück und berichtete ihrem Onkel Triffith, was sie in der Nacht zuvor gesehen hatte. Sie ließ nur den Grund dafür aus, warum ihr überhaupt schlecht geworden war.


Edebah wurde ohne weitere Diskussion von der Insel Gorne verbannt. Sie weinte bitterlich und bettelte darum, sich von Tay verabschieden zu dürfen, aber das hielten alle für zu gefährlich. Als Tay nach ihr fragte, sagte man ihm, dass sie zu ihrer Familie auf das Festland hätte zurückkehren müssen. Er wäre inzwischen ohnehin zu alt für ein Kindermädchen.


Baynarah erzählte ihm nie, was sie erfahren hatte. Denn sie fürchtete sich.

Band III

 

IIm Jahr 685 der Ersten Ära war Tay achtzehn Jahre alt und besuchte zum ersten Mal Gramfeste, die Stadt der Türme und Heimat der Göttin. Sein Cousin Kalkorith, bereits ein Geweihter des Tempels, hatte ein Haus gekauft und überließ ihm einige Räume im Erdgeschoss. Sie waren klein und unmöbliert, doch draußen vor den Fenstern wuchs Bittergrün und wenn der Wind hineinblies, füllten die Pflanzen sein Schlafzimmer mit einer angenehm würzigen Luft.


Die Klänge des Liedes störten ihn nicht mehr. So leise und melodisch war es geworden, dass er es manchmal gar nicht mehr wahrnahm. Gelegentlich passierte er auf dem Weg zum Tempel den einen oder anderen Stadtbewohner und dann schwoll das Lied an, bevor es nach und nach wieder leiser wurde. Tay versuchte nie herauszufinden, was es mit diesen Leuten auf sich hatte. Er erinnerte sich an das letzte Mal, als er dem Lied erlaubt hatte, ihn zu leiten: Es hatte ihn dazu gebracht, seinen Cousin Vaster umzubringen. Die Erinnerung daran belastete ihn nicht übermäßig, doch er wollte nicht noch einmal jemandem wehtun, nur wenn es sein musste.


Kuriere überbrachten Tay regelmäßig Briefe von Baynarah, die immer noch im Sandil-Haus auf der Insel Gorne lebte. Sie hätte ebenfalls im Tempel studieren können, denn sie war ganz sicher klug genug, doch sie hatte sich dagegen entschieden. Schon in einem Jahr, spätestens aber in zwei Jahren würde sie Gorne verlassen und ihren Platz im Fürstenhaus Indoril einnehmen, doch damit hatte sie es nicht eilig. Tay freute sich über den seichten Klatsch und Tratsch, den die Briefe enthielten, und antwortete Baynarah mit Geschichten über seine eigenen Studien und Romanzen.


Schon in seinem dritten Monat in Gramfeste hatte er ein Mädchen kennengelernt. Sie studierte ebenfalls im Tempel und hieß Acra. Tay erzählte Baynarah begeistert von seiner Freundin und beschrieb sie als eine Person, die den Verstand von Sotha Sil, den Witz von Vivec und die Schönheit von Almalexia besäße. Baynarah schrieb gut gelaunt zurück, dass sie vielleicht doch im Tempel studiert hätte, wenn sie gewusst hätte, wie blasphemisch die Studenten dort sein dürfen.


"Ihr steht Eurer Cousine sehr nahe", lachte Acra, als Tay ihr den Brief zeigte. "Blicke ich hier auf die Überreste einer vereitelten Romanze?"


"Sie ist liebreizend, aber an so etwas habe ich in keinem Moment gedacht", höhnte Tay. "Inzest hat mich nie besonders interessiert."


"Dann ist sie wohl eine sehr nahe Cousine?"


Tay dachte kurz nach. "Ich weiß es nicht. Ehrlich gesagt hat damals niemand besonders viel über ihre oder meine Eltern gesprochen, deshalb weiß ich wirklich nicht, wie eng wir verwandt sind. Soviel ich weiß, waren unsere Eltern Opfer des Krieges am Roten Berg, und immer, wenn wir nach ihnen gefragt haben, verdunkelten sich die Gesichter der Erwachsenen. Nach einer Weile haben wir dann nicht mehr gefragt. Aber Ihr seid doch auch eine Indoril. Vielleicht seid Ihr näher mit mir verwandt als Baynarah."


"Vielleicht", lächelte Acra und erhob sich von ihrem Stuhl. Sie löste ihr Haar, das in eine für hochgeborene Priesterinnen reservierte Frisur hochgesteckt war. Während Tay ihr wie gebannt zuschaute, entfernte sie die kleine Brosche, die ihr Gewand an ihrem Schulterumhang festhielt. Der weiche, seidige Stoff glitt langsam hinab und enthüllte ihm ihren dunklen, schlanken Körper zum ersten Mal. "Falls wir es sind, interessiert dich Inzest jetzt vielleicht ganz besonders?"


Während sie sich liebten, begann das Lied langsam und rhythmisch in Tays Kopf anzuschwellen. Der Blick auf Acra unter ihm verschwamm und wechselte zu den Bildern aus seinen Albträumen, bevor sie wieder in sein Blickfeld geriet. Als er schließlich erschöpft zusammensank, schien der Raum immer noch mit den feuerroten Wolken seines Traums gefüllt zu sein, und der Schrei des Mädchens und ihres Kindes, die dem Tod gegenüberstanden, hallte durch sein Bewusstsein. Er öffnete seine Augen - da war Acra, die ihn anlächelte. Tay küsste sie, dankbar, sie in seinen Armen zu halten.


In den nächsten beiden Wochen waren Tay und Acra unzertrennlich. Selbst, wenn sie in gegenüberliegenden Flügeln des Tempels studierten, dachte Tay an seine Geliebte und wusste irgendwie, dass auch sie an ihn dachte. Anschließend eilten sie wieder zueinander. Des Nachts fielen sie in seinen Räumen übereinander her und des Tages in einem vor neugierigen Blicken geschützten Teil des Tempelgartens.


Während Tay eines Nachmittags zu seiner Geliebten eilte, schwoll das Lied in lauten, schrillen Tönen an, als er sich einer alten, zerlumpten Frau näherte. Er schloss seine Augen und versuchte, die Melodie zum Verstummen zu bringen, doch als er sie erneut betrachtete, während sie von einem Straßenhändler Korkblumen-Papyrus kaufte, wusste er, wer sie war: Edebah, sein altes Kindermädchen aus Gorne. Sie, die ihn ohne sich von ihm zu verabschieden verlassen hatte, um zu ihrer Familie auf das Festland zu gehen.


Sie hatte ihn nicht gesehen und als sie weiter die Straße hinabging, drehte sich Tay um und folgte ihr. Sie gingen durch dunkle, enge Straßen in den ärmsten Teil der Stadt, in ein Viertel, das ihm so fremd war wie die abgelegensten Fürstentümer von Akavir. Sie öffnete eine kleine Holztür in einer schmalen, namenlosen Gasse, worauf er endlich ihren Namen rief. Sie drehte sich nicht um, doch als er ihr folgte, fand er die Tür nur angelehnt.


Das Zimmer war düster und feucht wie eine Höhle. Sie stand einfach nur da und blickte ihn an, ihr Gesicht noch faltiger, als er es in Erinnerung hatte, von Sorgenfalten tief gezeichnet. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ergriff sie seine Hand und küsste sie.


"Ihr seid so groß und stark", sagte Edebah und fing an zu weinen. "Ich hätte mich umbringen sollen, anstatt zuzulassen, dass sie mich von Euch trennten."


"Wie geht es Eurer Familie?", fragte Tay kalt.


"Ihr seid meine einzige Familie", flüsterte sie. "Diese Indoril-Schweine zwangen mich, zu gehen und stachen mir ihre Klingen ins Gesicht, als sie herausfanden, dass ich Euch und Eurer Familie und nicht ihnen diente. Die verfluchte Baynarah sah mich bei einem Gebet der Trauer."


"Ihr redet wie eine Verrückte", höhnte Tay. "Wie konntet Ihr mich und meine Familie lieben, aber das Haus Indoril hassen? Ich bin ein Teil des Hauses Indoril."


"Ihr seid jetzt alt genug für die Wahrheit", sagte Edebah erzürnt. Tay hatte über ihren Wahnsinn nur bitter gescherzt, doch nun sah er ihn verdächtig lebhaft in ihren uralten Augen auflodern. "Ihr wurdet nicht in das Fürstenhaus Indoril geboren. Sie haben Euch nach dem Krieg dorthin gebracht, wie es alle Häuser mit den Waisen getan haben. Das war ihre einzige Möglichkeit, die Vergangenheit auszulöschen und alle Spuren ihrer Feinde zu beseitigen, indem sie die Kinder der Feinde als ihre eigenen aufzogen."


Tay wandte sich zur Tür. "Jetzt kann ich verstehen, warum man Euch von Gorne vertrieben hat, alte Frau. Ihr fantasiert."


"Wartet!", rief Edebah und eilte zu einem verstaubten Schrank. Sie holte eine Glaskugel hervor, die selbst in der Düsternis ihres Zimmers in allen Farben des Regenbogens schillerte. "Erkennt Ihr sie wieder? Ihr habt den kleinen Vaster getötet, weil sie ihm gehörte. Ich entfernte sie aus Eurem Zimmer, weil Ihr für die Wahrheit über Eure Herkunft und die damit verbundene Verantwortung noch nicht bereit wart. Habt Ihr Euch denn nie gefragt, warum dieses wertlose Ding Euch so in seinen Bann gezogen hat?"


Tay schnappte nach Luft, und obwohl er es nicht verraten wollte, hörte er seine eigene Stimme sagen: "Manchmal höre ich ein Lied."


"Das ist das Lied Eurer Vorfahren, Eurer wahren Familie", sagte sie nickend. "Ihr dürft es nicht bekämpfen, denn es ist ein Lied des Schicksals. Es wird Euch dazu anleiten, das zu tun, was getan werden muss."


"Schweigt still!", heulte Tay auf. "Alles, was Ihr sagt, ist gelogen! Ihr seid ja verrückt!"


Edebah schleuderte die Kugel mit all ihrer Kraft zu Boden, wo sie mit einem ohrenbetäubenden Klirren in viele kleine Stücke zersprang. Die Scherben lösten sich auf und verschwanden. Alles, was übrig blieb, war ein einfach gefertigter kleiner Silberring mit einer flachen Oberseite. Die alte Frau hob ihn schweigend auf und reichte ihn Tay, der sich zitternd mit dem Rücken an die Tür gelehnt hatte.


"Das hier ist Euer Erbe, als das Oberhaupt des Sechsten Hauses."


Das Siegel auf der flachen Seite des Rings diente dazu, offizielle Bekanntmachungen des Hauses zu unterzeichnen und zu versiegeln. Tay hatte einen ähnlichen Ring bei seinem Onkel Triffith gesehen, mit einem Flügel darauf, dem Siegel des Fürstenhauses Indoril. Dieser Ring war anders: Er zeigte ein Insekt, das er nicht vergessen hatte, seit er es an jenem Tag in Kena Gafrisis Wappenkundeunterricht gesehen hatte.


Das Symbol des verfluchten Hauses Dagoth.


Mit einem Mal überwältigte das Lied Tays Sinne. Er hörte seine Musik, roch sein Entsetzen, schmeckte seine Traurigkeit, fühlte seine Macht - und das Einzige, das er vor sich sehen konnte, waren die Flammen seiner Zerstörung. Tay nahm den Ring an sich und steckte ihn an seinen Finger, ohne überhaupt zu bemerken, was er tat. Und auch als er seinen Dolch aus der Scheide zog und ihn in das Herz seines ehemaligen Kindermädchens stieß, war sein Bewusstsein von nichts anderem als den Klängen des Liedes erfüllt.


Tay hörte noch nicht einmal ihre letzten Worte, als Edebah blutend zu Boden stürzte und mit einem blutverschmierten Lächeln die Worte "Ich danke Euch" hervorstieß.


Als sich der Schleier des Liedes lüftete, bemerkte Tay zunächst nicht, dass er nicht mehr träumte. Er hatte Flammen vor sich gesehen, die gleichen, die sein Heimatland zerstört hatten. Und auch jetzt war er von Flammen umgeben. Doch jetzt waren es Flammen eines Feuers, das er außerhalb der zerfallenen Unterkunft gelegt hatte, und die bereits in deren Inneres eindrangen, um gierig den Körper seines alten Kindermädchens zu verzehren.


Hals über Kopf flüchtete er durch Straßen und Gassen, während die Leute nach der Wache zu rufen begannen.

Band IV

 

AAcra saß am Kamin in Tays Zimmer und las im Schein des Feuers ein Buch. Es behandelte einige Details der Theosophie, an die sie zwar nicht glaubte, die sie aber dennoch auf morbide Weise faszinierte. Als sich die Tür öffnete und sie Tay eintreten hörte, las sie erst noch den Abschnitt zu Ende, bevor sie aufblickte.


"Ich bin schon seit Stunden hier, Geliebter. Hätte ich gewusst, dass du so spät kommen würdest, hätte ich mir mehr Bücher mitgebracht", lachte sie ausgelassen. Sie wurde allerdings sehr schnell ernst, als sie Tays Gesicht und den Zustand seiner Kleider sah. "Was ist passiert? Ist mit dir alles in Ordnung?"


"Ich habe mein ehemaliges Kindermädchen Edebah besucht", sagte er mit einem seltsamen Unterton. "Eine plötzliche Planänderung. Ich habe nicht gewusst, dass sie in Gramfeste war."


"Ich wünschte, du hättest mir gesagt, wo du hingehst", sagte sie und erhob sich dabei langsam von ihrem Stuhl. "Ich hätte sie gerne kennengelernt."


"Nun, dazu ist es jetzt zu spät. Ich habe sie umgebracht."


Acra atmete tief ein und sah sich Tays versteinerte Gesichtszüge genau an. Sie nahm seine Hand und sagte: "Vielleicht solltest du mir einfach alles erzählen."


Tay ließ sich von seiner Geliebten an den Kamin führen, wo er sich hinsetzte und in das Feuer starrte. Er blickte auf den Silberring an seinem Finger. "Bevor ich sie tötete, gab sie mir das hier: den Siegelring des Fürstenhauses Dagoth. Sie sagte mir, dass ich der rechtmäßige Bewahrer des Erbes sei und dass das Lied, das ich ständig im Kopf habe, die Melodie, die mich dazu brachte, als Kind erst einen anderen Jungen und dann Edebah selbst umzubringen, das Lied meiner Ahnen sei."


Tay verstummte. Acra kniete an seiner Seite und streichelte seine beringte Hand. "Erzähl mir mehr."


"Mein Lehrer Kena Gafrisi brachte uns bei, dass das Haus Dagoth ein Fluch für Morrowind war. Er sagte, dass die Erde selbst erleichtert aufgeatmet hätte, als seine Mitglieder am Ende des Krieges alle vernichtet worden waren." Tay schloss die Augen. "Ich kann die Vernichtung sehen. Ich kann sie sogar in dem Lied hören. Edebah sagte mir, dass die fünf Häuser die verwaisten Kinder der Dagoth adoptiert und gemäß ihrer eigenen Traditionen aufzogen haben. Ich dachte, sie sei verrückt oder eine Lügnerin, aber die wahre Lüge sind all die Jahre, in denen ich glaubte, dass meine Familie das Haus Indoril sei."


"Und was wirst du jetzt tun?", fragte Acra flüsternd.


"Nun, Edebah sagte mir, ich solle dem Lied zu meinem Schicksal folgen", erwiderte Tay mit einem bitteren Lachen. "Aber es brachte mich dazu, sie zu ermorden, deshalb weiß ich nicht, ob sie mir diesen Rat immer noch geben würde. Ich weiß, dass ich Gramfeste verlassen muss. Bevor es mir bewusst wurde, hatte ich schon ein Feuer in ihrem Haus gelegt. Die Leute riefen die Wache. Ich weiß einfach nicht, wohin ich gehen soll."


"Du hast viele Freunde, die dich beschützen werden, wenn du beweisen kannst, dass du der neue Führer bist, der dem Sechsten Hauses zu neuem Glanz verhelfen soll." Acra küsste den Ring. "Ich werde dir helfen, sie zu finden."


Tay starrte sie an und fragte: "Warum würdest du mir helfen wollen?"


"Als du noch dachtest, dass ich deine Cousine aus dem Hause Indoril sei, hattest du keine Bedenken, mit mir zu schlafen, obwohl das Inzest hätte sein können", antwortete Acra und sah ihm in die Augen. "Ich habe das Lied ebenfalls gehört. In mir erklingt es nicht so stark wie in dir, aber ich habe mich dafür entschieden, es niemals zu ignorieren. Es hat mir mehr beigebracht, als diese lächerlichen Tempelpriester und -priesterinnen es jemals vermochten. Ich wusste, dass mein wahrer Name Dagoth-Acra war, und ich wusste, dass ich einen Bruder hatte."


"Nein", presste Tay zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Du lügst."


"Du bist Dagoth-Tython."


Tay stieß Acra hart gegen die Wand und rannte aus dem Zimmer. Als er durch den Korridor floh, hörte er den Klang von Kalkoriths Schritten auf der Treppe hinter sich, die in seinem Herzen und Kopf wie ein Trommelwirbel des Liedes widerhallten.


"Cousin", sagte der Geweihte, "hast du schon von dem Feuer gehört ..."


Tay zog seinen Dolch aus der Scheide, drehte sich um und stieß die Waffe bis zum Heft in Kalkoriths Kehle. "Cousin", zischte er, "ich bin nicht dein Cousin."


Die Straßen von Gramfeste waren vom roten Schimmer des Feuers erleuchtet, das sich, von starken, stürmischen Windböen angetrieben schnell durch die engen Gassen der Stadt ausbreitete. Es schien, als sei Dagoth-Ur selbst über der Stadt erschienen, um die Flammen anzufachen, die sein Erbe entzündet hatte. Eine Wache, die auf das Inferno zurannte, blieb beim Anblick Tays stehen, der unsicher vor dem Eingang zu Kalkoriths Haus stand oder vielmehr wankte, eine blutige Klinge in seiner Hand.


"Was habt Ihr getan, Serjo?"


Tay rannte in Richtung Wald, sein Umhang aufgeplustert vom heulenden Wind. Die Wache setzte ihm mit gezogenem Schwert nach. Sie hatte das Haus nicht durchsuchen müssen, um dem Mord zu sehen. Sie wusste Bescheid.


Stundenlang raste Tay durch die Wildnis, von den Klängen des Liedes angetrieben. Die Schritte seines Verfolgers wurden leiser und leiser. Schließlich lichteten sich auch die Bäume, bis er nichts als Luft und Wasser vor sich sah. Eine Klippe, ein dreißig Meter tiefer Sturz in das Innere Meer.


Doch das Lied erlaubte es ihm nicht. Es zog ihn nach Norden, wo es ihm einen Zufluchtsort unter Freunden verhieß. Nicht nur Freunde, sondern Gefolgsleute, die ihn als den Erben von Dagoth verehren würden. Als er langsam auf die Felskante zuging, wurde das Lied bedrohlicher und warnte ihn vor dem Versuch, seiner Bestimmung zu entgehen. Der Tod war kein Ausweg.


Tay verfluchte spuckend sein Haus und warf sich kopfüber in den Abgrund.


Auf der Insel Gorne war wieder ein herrlicher Tag angebrochen - seit Wochen der erste, den Baynarah wirklich genießen konnte. Onkel Triffith hatte wichtigen Besuch gehabt, Angehörige weit entfernter Fürstenhäuser, und sie hatte bei jedem Abendessen, jedem Treffen, jeder Zeremonie dabei sein müssen. Als Kind, so erinnerte sie sich, hatte sie sich immer Aufmerksamkeit gewünscht. Heute war nichts schöner als etwas Freizeit.


Von all den Dingen, die sie geplant hatte, gab es nur eines, das sie im Haus tun musste: einen Brief an ihren Cousin zu schreiben. Aber das konnte bis zum Abend warten, sagte sie sich. Schließlich hatte er ihr schon seit geraumer Zeit nicht mehr geschrieben. Schuld daran war dieses Mädchen, Acra. Nicht, dass sie ihr unsympathisch erschien, aber Baynarah wusste, dass die erste Liebe einen voll und ganz verschlingen konnte. Zumindest hatte sie so etwas gelesen.


Während sie müßig durch das Wildblumenfeld flanierte, war Baynarah so tief in Gedanken versunken, dass sie ihre Magd Hillima nicht rufen hörte. Sie war daher sehr erschrocken, als die junge Dienerin plötzlich hinter ihr auftauchte.


"Serjo", keuchte sie ganz außer Atem. "Bitte kommt mit! Jemand ist an der Küste angespült worden! Es ist Euer Cousin, Serjo Indoril-Tay!"

Band V

ZZwei Tage verbrachten die Heiler des Hauses an Tays Bett, während Baynarah an seiner Seite wachte und seine Hand hielt. Er fieberte, war wie im Delirium und schrie unsichtbare Phantome an. Die Heiler priesen das Glück des jungen Mannes. Schon häufiger waren Körper an den Ufern von Gorne angeschwemmt worden, viele während des Krieges, aber sie hatten noch nie jemanden gesehen, der danach noch lebte.


Tante Ulliah kam mehrmals herein, um Baynarah etwas zu Essen zu bringen: "Vergiss nicht, zu essen, meine Liebe, sonst muss er womöglich noch an deinem Krankenbett wachen, wenn er wieder gesund ist."


Endlich ließ Tays Fieber nach und er konnte die Augen öffnen und die junge Frau sehen, mit der er siebzehn Jahre verbracht hatte - alle bis auf das erste seines Lebens. Sie lächelte ihn an und rief, dass jemand etwas zu essen brachte. Schweigend half sie ihm, die Mahlzeit zu sich zu nehmen.


"Ich wusste, dass du nicht sterben würdest, Cousin", flüsterte sie liebevoll.


"Ich hatte es mir gewünscht, doch irgendwie wusste auch ich es", stöhnte er. "Baynarah, erinnerst du dich an die Albträume, von denen ich dir erzählt habe? Sie sind alle wahr."


"Wir können darüber sprechen, wenn du dich etwas mehr erholt hast."


"Nein", krächzte er. "Ich muss dir jetzt alles erzählen, damit du weißt, was für ein Monster du deinen lieben Cousin Tay nennst. Hättest du all das vorher erfahren können, wärst du vermutlich nicht so darauf bedacht, mich wieder gesund zu sehen."


Eine Träne kullerte Baynarahs Wange hinunter. Sie hatte sich zu einer Schönheit entwickelt, allein in den wenigen Monaten, die er in Gramfeste gewesen war. "Wie kommst du nur darauf, dass ich aufhören würde, dich zu lieben, was immer du auch getan hast?"


"Ich habe mein altes Kindermädchen Edebah gesehen und mit ihr gesprochen."


"Oh." Baynarah hatte sich vor diesem Moment gefürchtet. "Tay, ich weiß nicht, was sie dir gesagt hat, aber es war alles mein Fehler. Du erinnerst dich doch daran, wie Kena Grafisi uns von dem Haus Dagoth und der Verderbtheit erzählt hat, die ihm innewohnt. In jener Nacht sah ich, wie dein Kindermädchen auf der nördlichen Wiese eine Art Altar errichtet und dabei das Symbol des Sechsten Hauses verwendet hat. Sie muss das bereits seit Jahren getan haben, aber ich habe nie gewusst, was es bedeutete. Ich habe es Onkel Triffith erzählt, und er hat sie fortgeschickt. Ich habe es dir schon so oft erzählen wollen, aber ich hatte Angst. Sie war dir so ergeben."


Tay lächelte. "Und hat es dir nicht noch mehr Angst gemacht, dass es eine Verbindung zwischen ihrer Hingabe für mich und dem verfluchten Haus geben könnte? Ich kenne dich, Baynarah. Du gehörst nicht zu den Frauen, die ihren Verstand nicht gebrauchen."


"Tay, ich weiß nicht, was sie dir gesagt hat, aber ich glaube, dass sie sehr verwirrt war, und dass alles, was sie über dich und das Sechste Haus dachte, falsch war. Das darfst du nicht vergessen. Das Gefasel einer Verrückten beweist gar nichts."


"Das ist noch nicht alles", seufzte Tay und hob seine Hand. Einen Moment lang blinzelte er ungläubig, dann wandte er sich ärgerlich zu Baynarah. "Was ist mit meinem Ring passiert? Wenn du ihn gesehen hast, musst du längst gewusst haben, dass alles, was ich sage, wahr ist."


"Ich habe das widerliche Ding weggeworfen." Baynarah erhob sich. "Tay, du musst dich jetzt etwas ausruhen."


"Ich bin der Erbe des Hauses Dagoth." Tay war außer sich, er schrie beinahe. "Nach dem Krieg als Mitglied des Hauses Indoril aufgezogen, doch angetrieben vom Lied meiner Vorfahren. Als wir jung waren, habe ich Vaster getötet, weil das Lied mir verraten hat, dass er mein Erbe gestohlen hätte. Als Edebah mir sagte, wer ich bin, und mir diesen Ring gab, tötete ich sie und brannte ihr Haus nieder, weil das Lied mir sagte, dass sie ihren Zweck erfüllt hätte. Als ich zu Kalkoriths Haus zurückkehrte, erwartete mich meine Geliebte dort und offenbarte mir, dass auch sie aus dem Hause Dagoth stamme und meine Schwester sei. Ich floh und als Kalkorith mich aufhalten wollte, tötete ich auch ihn, da mir das Lied sagte, dass er ein Feind sei."


"Hör auf damit, Tay", schluchzte Baynarah. "Ich glaube dir kein Wort. Du redest im Fieberwahn ..."


"Nicht Tay." Er schüttelte schwer atmend den Kopf. "Der Name, den meine Eltern mir gaben, ist Dagoth-Tython."


"Du kannst Edebah unmöglich getötet haben, du hast sie doch geliebt. Und Vaster und Kalkorith? Sie waren deine Cousins!"


"Sie waren nicht meine wahren Cousins", sagte Tay kühl. "Das Lied sagte mir, dass sie meine Feinde seien. Genau wie es mir jetzt sagt, dass du meine Feindin wärst, doch ich werde nicht darauf hören. Ich werde solange nicht darauf hören, wie ich kann ..."


Baynarah floh aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu, dann nahm sie ihrer verschreckten Magd Hillima den Schlüssel ab und verschloss sie.


"Serjo Indoril-Baynarah", flüsterte Hillima voll Mitgefühl. "Ist mit Eurem Cousin Serjo Indoril-Tay alles in Ordnung?"


"Es wird ihm besser gehen, wenn er sich etwas ausgeruht hat." Baynarah sammelte sich und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. "Er darf unter keinen Umständen gestört werden. Ich werde den Schlüssel mitnehmen. Und jetzt habe ich viel zu tun. Ich nehme nicht an, dass schon jemand den Fischern gesagt hat, dass die Vorräte des Sandil-Hauses wiederaufgefüllt werden müssen."


"Nicht, dass ich wüsste, Serjo", erwiderte die Magd. "Ich glaube nicht."


Baynarah ging zum Hafen hinab und beruhigte ihr Herz auf die einzige Weise, die sie kannte: Sie konzentrierte sich auf die kleinen Dinge. Sie konnte Tays Worte zwar nicht vergessen, doch es tröstete sie eine Weile, mit den Fischern über ihren Fang zu sprechen und ihnen bei ihrer Entscheidung zu helfen, wie viele davon geräuchert, wie viele in den Ort und wie viele frisch in die Speisekammer des Hauses gebracht werden sollten.


Ihre Tante Ulliah beteiligte sich an dem Gespräch, ohne Baynarahs gut überspielten Schmerz zu bemerken. Zusammen besprachen sie, wie viele Vorräte Onkel Triffith und seine Kommandanten während ihrer Wochen auf der Insel verzehrt hatten, wann man mit ihrer Rückkehr rechnen und wie man sich am besten darauf vorbereitete könnte. Der Ruf eines Fischers auf dem Kai unterbrach sie.


"Schiff in Sicht!"


Ulliah und Baynarah begrüßten den Besucher, bei dem es sich um eine junge Frau handelte, die in das Gewand einer Tempelpriesterin gehüllt war. Während die Frau ihr kleines Boot vertäute, wunderte Baynarah sich darüber, wie schön sie war - und dass sie ihr merkwürdig vertraut vorkam.


"Willkommen auf Gorne", begrüßte Baynarah die Fremde. "Ich bin Indoril-Baynarah und das ist meine Tante Indoril-Ulliah. Sind wir uns schon einmal begegnet?"


"Nicht, dass ich wüsste, Serjo", sagte die Frau mit einer Verbeugung. "Der Tempel schickt mich, um zu erfahren, ob Ihr etwas von Eurem Cousin Indoril-Tay gehört habt. Er hat schon seit einigen Tagen seine Lektionen verpasst und die Priester machen sich Sorgen."


"Oh, wir hätten Euch Bescheid geben sollen", gab Ulliah bedauernd zurück. "Er kam hier vor einigen Tagen halb ertrunken an. Inzwischen geht es ihm aber besser. Wir werden Euch zum Haus geleiten."


"Tay ruht sich gerade aus und ich habe darum gebeten, dass er nicht gestört wird", stammelte Baynarah. "Ehrlich gesagt, ich weiß, ich bin furchtbar unhöflich, aber ich muss kurz mit meiner Tante sprechen. Dürfte ich Euch darum bitten, beim Haus auf uns zu warten? Folgt nur dem Pfad den Hügel empor und über den Rasen."


Einmal mehr verneigte die Priesterin sich demütig und machte sich auf den Weg. Ulliah war jedoch außer sich vor Empörung.


"Du solltest es eigentlich besser wissen, eine Repräsentantin des Tempels so zu behandeln", schnappte sie. "Du kannst von der Pflege deines Cousins kaum so erschöpft sein, dass du jeden Sinn für Höflichkeit verloren hast."


"Tante Ulliah", flüsterte Baynarah und nahm die Frau beiseite, sodass die neugierigen Ohren der Fischer sie nicht hören konnten. "Ist Tay wirklich mein Cousin? Er glaubt, er gehöre ... zum Hause Dagoth."


Ulliah zögerte einen Moment, bevor sie antwortete. "Das stimmt. Du warst während des Krieges noch ein Baby, daher kannst du nicht wissen, wie es damals war. Es gab kein Gebiet Morrowinds, das nicht vom Krieg heimgesucht worden war. Sogar hier auf unserer Insel gab es eine Schlacht. Erinnerst du dich noch an den verbrannten Haufen Unrat, den du, Tay und der arme kleine Vaster vor so vielen Jahren entdeckt haben? Das waren die Überreste. Nach dem Krieg, als das verfluchte Haus endlich besiegt war, fanden wir die kleinen Unschuldigen, die Waisen, deren einziges Verbrechen es gewesen war, von niederträchtigen Eltern abzustammen. Ich gebe zu, dass es einige Stimmen in unseren Reihen, den vereinigten Streitkräften der Häuser, gab, die sie liebend gerne allesamt erschlagen hätten, um das Vermächtnis der Dagoth ein für alle Mal auszulöschen. Zum Schluss siegte das Mitleid und die Kinder des Sechsten Hauses wurden von den anderen fünf aufgenommen. Und so glaubten wir, dass wir den Krieg und den Frieden gewonnen hätten."


"Bei der Mutter, dem Fürsten und dem Zauberer, wenn all das wahr ist, was Tay behauptet, dann kann es keinen Frieden geben", zitterte Baynarah. "Er behauptet, dass er das Lied seiner Ahnen vernommen hätte und dass es ihn dazu gezwungen hätte, drei Menschen zu töten, zwei davon Mitglieder unseres Hauses. Cousin Kalkorith und ... als Tay noch ein kleiner Junge war ... Vaster."


Ulliah schlug ihre Hände vor ihrem tränennassen Gesicht zusammen, nicht in der Lage, irgendetwas zu erwidern.


"Und das ist erst der Anfang", sagte Baynarah. "Das Lied spricht immer noch zu ihm. Er sagte, es gäbe andere, die es wüssten, und die ihm helfen würden, das Sechste Haus wieder neu zu errichten. Seine Schwester ..."


"Das muss alles ein böser Traum sein", murmelte Ulliah. Sie bemerkte, dass Baynarahs Blick nun auf den Pfad gerichtet war, der vom Hafen zum Haus führte. "Nichte, woran denkst du?"


"Hat die Priesterin uns ihren Namen genannt?"


Die beiden Frauen rannten, so schnell sie konnten, den Pfad hinauf und riefen nach den Wachen. Die Fischer, die die Herrinnen des Hauses noch nie so aufgeregt gesehen hatten, blickten einander kurz an und folgten ihnen dann auf dem Fuße mit gezückten Haken und Klingen.


Die Eingangstür des Sandil-Hauses stand weit offen. Die ersten Toten lagen schon kurz dahinter. Das Haus war in ein Schlachthaus verwandelt worden, angestrichen mit frischem Blut. Da war Aner, Onkel Triffiths Kammerdiener, den Bauch aufgeschlitzt noch immer am Tisch des Foyers sitzend, wo er sein nachmittägliches Glas Flin genossen hatte. Leryne, eines der Zimmermädchen, war enthauptet worden, als sie gerade ein paar ehemals saubere Betttücher nach oben bringen wollte. Die Leichen von Wachen und Dienern lagen wie vom Wind verwehte Blätter in der Halle verstreut. Am oberen Treppenende musste Baynarah ein Schluchzen unterdrücken, als sie Hillima erblickte. Sie lag am Boden wie eine zerbrochene Puppe, getötet bei dem Versuch, nach draußen auf das schmale Fenstersims zu klettern.


Niemand sprach ein Wort, weder Baynarah noch Tante Ulliah oder die Fischer, als sie langsam durch das blutbesudelte Haus schritten. Sie kamen an Tays Krankenzimmer vorbei: Die Tür war aufgebrochen, der Raum war leer. Als sie am anderen Ende des Ganges Schritte in Baynarahs Zimmer hörten, näherten sie sich langsam und vorsichtig - und voller Furcht.


Die Priesterin vom Hafen stand neben dem Bett. In der Hand hatte sie den Silberring, den Baynarah von Tays Finger abgezogen hatte. In ihrer anderen Hand hielt sie eine lange, gekrümmte Klinge, die wie ihr Priestergewand mit Blut verschmiert war. Sie lächelte freundlich und verbeugte sich, als sie bemerkte, dass sie nicht mehr allein war.


"Acra, ich hätte Euch nach Tays Beschreibungen aus seinen Briefen erkennen müssen", sagte Baynarah mit ihrer festesten Stimme. "Wo ist mein Cousin?"


"Ich bevorzuge es, mich Dagoth-Acra zu nennen", antwortete sie. "Euer falscher Cousin, mein wahrer Bruder, ist bereits unterwegs, um sein Schicksal zu erfüllen. Ich bedauere, dass Ihr nicht hier wart, damit er sich dauerhafter von Euch hätte verabschieden können."


Baynarahs Gesicht verzerrte sich vor Zorn. Sie winkte die Fischer herbei, die mit ihren Waffen näherkamen. "Reißt sie in Stücke!"


"Das Sechste Haus wird sich wieder erheben und Dagoth-Tython wird uns anführen!", rief Acra mit einem triumphierenden Lachen. Ihre Worte waren noch nicht verhallt, als sie das Zeichen der Rückkehr wirkte und sich wie ein Gespenst in Luft auflöste.

 

Band VI

 

DDie prächtigen Gebäude der mächtigen Festung von Indoranyon leuchteten im Licht der untergehenden Sonne. Kommandant Jasrat schaute zu, wie sie langsam hinter dem Horizont verschwand, während er seine Karawane nach Südwesten führte. Es war ein für ihn ungewöhnliches Unterfangen, eine Nachtoperation zu leiten, aber kaum seltsamer als alles andere, mit dem er zu tun hatte. Er war nur siebzig Jahre alt, geradezu jung für einen Bosmer, und dennoch fühlte er sich wie ein Relikt aus einer anderen Zeit.


Er kannte das Land des östlichen Vvardenfell schon sein ganzes Leben lang. Jeder Wald, jeder Garten, jedes kleine Dorf zwischen dem Roten Berg und dem Geistermeer war seine Heimat. Aber jetzt war alles anders, verwandelt in eine Welt, die er seit dem Ausbruch und dem Jahr des Sonnentodes nicht mehr erkannte. Es machte das Reisen bei Nacht noch gefährlicher, aber das war ein Risiko, das einzugehen ihm befohlen wurde.


Der Aschensumpf tauchte auf wie aus dem Nichts. Hätte ein scharfsichtiger Späher ihn nicht entdeckt und das Signal gegeben, hätte der Sumpf womöglich die gesamte Karawane verschlungen. Jasrat fluchte. Das Sumpfland war nicht auf der Karte verzeichnet, doch das war wenig überraschend.


Es war wie eine gewaltige, namenlose Wunde, die sich bis an den Horizont erstreckte. Der Kommandant wog seine Möglichkeiten ab. Er konnte seine Truppe in den Südosten nach Tel Aruhn führen und dann einen westlichen Vorstoß versuchen. Während er seine Karte zurate zog, bemerkte er in der Ferne den Schein eines Lagerfeuers. Zusammen mit seinen Leutnants trieb Jasrat sein Guar vorwärts, um genauer in Augenschein zu nehmen, was ein Mann und eine Frau aus Aschland zu sein schienen.


"Dies ist nicht länger euer Reich", dröhnte er. "Wisst ihr nicht, dass der Tempel entschieden hat, dass dieses Gebiet jetzt den Fürstenhäusern gehört?"


Das Paar erhob sich und machte sich schweigend in Richtung eines schmalen Pfades zwischen Hügel und Aschensumpf auf den Weg. Jasrat rief sie zurück.


"Kennt ihr einen Weg um den Sumpf herum?", fragte er. Sie nickten, ihren Blick immer noch gesenkt. Jasrat gab seiner Karawane ein Signal. "Dann werdet ihr uns führen."


Es war ein tückischer, stark gewundener Weg, fast zu schmal für die Guars. Die Wagen kamen nur langsam voran, während die Kutscher sich bemühten, den Rändern des Aschensumpfs auszuweichen. Die beiden Aschländer an der Spitze der Karawane flüsterten miteinander.


"Was habt Ihr da zu tuscheln, N'wah?", polterte Jasrat.


Ohne sich umzudrehen, antwortete der Mann: "Meine Schwester und ich sprachen über den Dagoth-Aufstand und sie nahm an, dass Ihr Waffen zu der Festung bei Falensarano bringt, was wohl der Grund dafür ist, dass Ihr den Sumpf durchquert, anstatt die Straße zu nehmen."


"Ich hätte es wissen sollen", lachte Jasrat. "Ihr Aschländer seid immer so voller Hoffnung, wenn ihr Anzeichen von Schwierigkeiten bei den Fürstenhäusern und dem Tempel entdeckt. Ich enttäusche Euch nur ungern, aber das, wovon Ihr sprecht, ist kaum ein Aufstand. Eher vereinzelte und unerfreuliche ... Ereignisse. Sagt das Eurer Schwester."


Als sie sich weiter vorwärts mühten, verjüngte sich der enge Weg immer mehr. Die Aschländer fanden eine tiefe, gezackte Spalte in den Hügeln, einen Riss, der durch einen Lavastrom sogar noch vor dem Sonnentod entstanden war. Die Karawane berührte immer wieder die Felswände, als sie sich hindurchzwängte. Nach zwanzig Jahren der Ungewissheit in einem Land, das er nicht verstand, fühlte Kommandant Jasrat, wie sein Instinkt Alarm schlug. Dies hier, dachte er, wäre eine gute Stelle für einen Hinterhalt.


"Aschländer, wie weit ist es noch?", rief er.


"Wir sind am Ziel", antwortete Dagoth-Tython und gab das Signal.


Der Angriff war nach wenigen Minuten vorüber, so wie sie es von vornherein berechnet hatten. Erst, als die letzte Leiche im Aschensumpf versunken war, sahen sie nach, was sich in den Wagen befand. Es war noch besser, als sie erhofft hatten - praktisch alles, was der Aufstand benötigte. Daedrische Schwerter, zahlreiche Rüstungen, Köcher mit fein gearbeiteten Ebenerzbolzen und genug Essensrationen für mehrere Wochen.


"Geh du vor zum Lager", meinte Tython lächelnd zu seiner Schwester. "Ich werde die Karawane anführen. Wir sollten in wenigen Stunden dort sein.


Acra küsste ihn leidenschaftlich und wirkte das Zeichen der Rückkehr. Einen Augenblick später war sie wieder in ihrem Zelt, genau dort, wo sie es verlassen hatte. Die Melodie des Lieds summend legte sie die Aschländer-Lumpen ab und wählte ein passendes, durchscheinendes Gewand aus ihren Truhen. Genau die Art von Kleid, die Tython bei seiner Rückkehr so gerne an ihr sehen würde.


"Muorasa!", rief sie ihre Dienerin. "Ruft die Soldaten zusammen! Tython und die anderen werden bald hier sein - mit allen Waffen und Rationen, die wir brauchen!"


"Muorasa kann Euch nicht hören", sagte eine Stimme, die Acra seit Wochen nicht gehört hatte. Sie drehte sich um und verbannte gekonnt jegliche Spur von Überraschung aus ihrem Gesicht. Es war tatsächlich Indoril-Baynarah, doch nicht das zitternde Geschöpf, das sie nach dem Massaker im Sandil-Haus zurückgelassen hatte. Diese Frau war eine gepanzerte Kriegerin, die voller Selbstvertrauen und mit spöttischem Unterton sagte: "Selbst wenn sie es könnte, wäre sie nicht in der Lage, die Soldaten zusammenzurufen. Ihr mögt Waffen und Rationen haben, Acra, aber es gibt niemanden mehr, der bewaffnet oder verpflegt werden müsste."


Dagoth-Acra wirkte das Zeichen der Rückkehr, doch nichts geschah.


"In dem Moment, in dem wir Euch im Zelt herumwühlen gehört haben, wirkten meine Kampfmagier einen Abwehrzauber gegen den Gebrauch von Magicka", lächelte Baynarah und öffnete das Zelt weiter, um ein Dutzend ihrer Soldaten hereinzulassen. "Ihr werdet uns nicht verlassen."


"Wenn Ihr glaubt, dass mein Bruder in Eure Falle tappen wird, unterschätzt Ihr seine Verbindung mit dem Lied. Es teilt ihm alles mit, was er wissen muss. Ich habe ihn überzeugt, nicht länger dagegen anzukämpfen, sondern zuzulassen, dass es ihn und uns zu unserem endgültigen Sieg führt."


"Ich kenne ihn länger und besser, als Ihr ihn jemals kennen werdet", sagte Baynarah kalt. "Jetzt will ich hören, was das Lied Euch einflüstert. Ich will wissen, wo ich Tay finden kann."


"Tython, meine Dame", verbesserte Acra sie. "Er ist nicht länger ein Sklave Eures Hauses und der Lügen des Tempels. Ihr könnt mich foltern, so viel Ihr wollt, aber ich schwöre Euch: Wenn Ihr ihn das nächste Mal seht, geschieht es, weil er es will - und nicht Ihr. Und das wird der letzte Moment Eures Lebens sein."


"Sorgt Euch nicht, Serjo", zwinkerte Baynarahs Schattenklinge ihr zu. "Alle sagen, dass sie unter der Folter nicht zusammenbrechen werden, aber dann passiert es am Ende doch."


Baynarah verließ das Zelt. All das war ein Teil der Kriegführung, das war ihr klar, doch dabei zuzusehen bereitete ihr nur wenig Genuss. Sie konnte noch nicht einmal hinschauen, als die Soldaten des Hauses die Leichen der Aufständischen wegschafften. Sie hatte gehofft, dass das Blutvergießen sie im Laufe der Zeit abstumpfen lassen würde, nach all den Wochen, in denen sie Tython und Acra gefolgt war, Massaker nach Massaker. Doch es machte keinen Unterschied, dass es nun die Leichen ihrer Feinde waren. Tod war immer noch Tod.


Sie hatte erst wenige Minuten in ihrem Zelt verbracht, als ihre Schattenklinge erschien.


"Sie war nicht so hart, wie es schien", grinste er. "Ich musste nur freundlich fragen und meinen Dolch auf ihren Bauch richten, schon sprudelten die Worte aus ihr hervor. Überrascht mich nicht. Die mit dem größten Mundwerk brechen immer am schnellsten zusammen. Ich erinnere mich noch, wie einige Jahre vor Eurer Geburt ..."


"Garuan, was hat sie gesagt?", fragte Baynarah.


"Das Lied, was immer das auch ist, hat ihrem Bruder mitgeteilt, dass sie gefangen wurde und dass er nicht zum Lager zurückkehren soll", antwortete die Schattenklinge, nur unwesentlich verärgert darüber, dass er seine ruhmreiche Geschichte nicht zu Ende erzählen konnte. "Er hat ein halbes Dutzend Dunmer bei sich, und sie wollen den töten, der die Armee der Indoril im Krieg angeführt hat. General Indoril-Triffith."


"Onkel Triffith", keuchte Baynarah. "Wo ist er derzeit stationiert?"


"Das weiß ich nicht genau, Serjo. Soll ich sie fragen, ob sie es weiß?"


"Ich komme mit", sagte Baynarah. Während sie auf Acras Zelt zugingen, hörten sie Schreie. Und noch bevor sie den Ort erreicht hatten, wurde ihnen klar, was geschehen war. Drei Wachen lagen tot am Boden und die Gefangene war entkommen.


"Eine interessante Frau", sagte Garuan. "Ein schwaches Herz, aber ein starker Arm. Sollen wir General Indoril-Triffith warnen?"


"Wenn wir ihn noch rechtzeitig finden", antwortete Baynarah.

 

Band VII

 

TTriffith stand auf der Zinne der Festung Barysimayn und dachte über den Vulkan nach. Die Metaphern der Dichter reichten nicht aus, um seinen Anblick gebührend zu beschreiben. Sicher, eine eitrige Wunde könnte man ihn nennen, angesichts der Lava, die wie Blut und Eiter an ihm hinabrann. Oder Aschenkönig, wenn man seine stets gegenwärtige Rauchkrone betrachtete. Und doch kam nichts davon der Wirklichkeit nahe, denn die schier unglaublichen Ausmaße des Berges übertrafen alles, was er in seinem bisherigen Leben gesehen hatte. Der Rote Berg lag viele Kilometer von der Festung entfernt und dennoch füllte sein Anblick den Horizont vollständig aus.


Doch bevor er sich zu winzig fühlen konnte, hörte er, wie jemand von drinnen seinen Namen rief. Es tröstete ihn etwas, dass er, unbedeutend im Vergleich mit dem Berg, dennoch über Macht und Einfluss verfügte.


"General Indoril-Triffith", sagte Kommandant Rael. "Es gibt Ärger am Osttor."


Der Ärger war jedoch kaum mehr als ein Handgemenge. Ein Aschländer, vermutlich trunken vom Shein, hatte einen Kampf mit den Wachen des Hauses am hinteren Tor begonnen. Als sie versuchten, ihn zu vertreiben, gesellten sich seine Cousins zu ihm, und schon bald prügelten sich sechs Aschländer mit einem Dutzend von Triffiths Wachen. Wären die N'wahs nicht so gut bewaffnet gewesen, hätte der Kampf vorüber sein können, bevor er richtig angefangen hätte. So allerdings waren bei der Ankunft des Generals und einiger weiterer Wachen am Ort des Geschehens zwei der Aschländer tot und die anderen auf der Flucht.


"Der Rauch benebelt ihren Verstand", meinte Rael. "Treibt sie in den Wahnsinn."


Triffith stieg die Treppe hinauf und kehrte in seine Gemächer zurück, um sich für das Abendessen umzukleiden. General Redoran-Vorilk und Berater Hlaalu-Nothoc würden in Kürze eintreffen, um die Pläne des Tempels für die Neuordnung der Ländereien der Fürstenhäuser von Morrowind zu besprechen. Gramfeste sollte in Almalexia umbenannt werden. Zu Ehren Vivecs sollte eine große, neue Stadt errichtet werden, doch mit wessen Geld? Das bereitete ihm Kopfschmerzen. So viele Details - eine lange Nacht voller Streit, Drohungen und Kompromisse lag vor ihm.


Der General war so tief in Gedanken versunken, dass er das Gewand seines Hauses beinahe verkehrt herum angezogen hätte. Außerdem hatte er die schattenhafte Gestalt nicht bemerkt, die lautlos hinter dem Wandteppich hervorkam und die Tür zum Schlafgemach schloss. Erst, als Triffith den Riegel zuschnappen hörte, wandte er sich um.


"Du bist hereingeschlichen, als ich von dem Tumult am hinteren Tor abgelenkt war. Sehr clever, Tay", sagte er einfach. "Oder nennst du dich heutzutage Dagoth-Tython?"


"Du solltest alle meine Namen kennen", stieß der junge Mann hervor und zog sein Schwert. "Ich war Tython, bevor du meine Familie abgeschlachtet und versucht hast, meinen Stamm auszulöschen. Ich war Tay, als du mich in dein Haus brachtest, um mich mit Propaganda gegen mein eigenes Volk zu vergiften. Und nun darfst du mich Rache nennen."


Jemand klopfte an der Tür, doch Tython und Triffith ließen die Augen nicht voneinander. Das Klopfen ging in ein lautes Hämmern über. "General Indoril-Triffith, geht es Euch gut? Ist alles in Ordnung?"


"Wenn du mich töten willst, Junge, solltest du dich beeilen", knurrte Triffith. "Meine Männer werden die Tür in zwei Minuten aufgebrochen haben."


"Du hast mir nicht zu sagen, was ich zu tun habe, 'Onkel'", sagte Tython und schüttelte den Kopf. "Das Lied meiner Vorfahren leitet mich. Es sagt mir, dass du meinen Vater um sein Leben hast betteln lassen, bevor du ihn getötet hast, und ich will dich das Gleiche tun sehen."


"Wenn deine Vorfahren so allwissend sind", lächelte Triffith, "warum sind sie dann alle tot?"


Aus tiefster Kehle stieß Tython einen unmenschlichen Laut hervor und kam näher. Die Tür bog sich derweil unter dem Ansturm der Wachen, doch sie war nicht von ungefähr stabil und sicher. Die Einschätzung des Generals, dass ihre restliche Lebensdauer nicht mehr als zwei Minuten betrage, schien ein klarer Irrtum zu sein.


Mit einem Mal hörte das Hämmern auf. Stattdessen ertönte eine vertraute Stimme.


"Tay", rief Baynarah. "Hör mir zu."


Tython feixte. "Du kommst gerade rechtzeitig, um deinen Onkel um sein erbärmliches Leben betteln zu hören, 'Cousine'. Ich befürchtete schon, du kämest zu spät. Als Nächstes wirst du das Todesröcheln des Mannes hören, der mein Haus versklavt hat."


"Das Lied hat dich versklavt, nicht Onkel Triffith. Du kannst dem Lied nicht vertrauen. Es vergiftet dich. Es ließ zu, dass du zuerst von dieser verrückten alten Frau und nun von dieser bösen Hexe Acra gelenkt wirst, die sich selbst deine Schwester nennt."


Tython berührte mit der Schwertspitze die Kehle des Generals. Der ältere Mann wich zurück, doch Tython setzte ihm nach. Seine Augen folgten seinem ausgestreckten Arm bis zum Griff seiner Klinge. Im Silberring des Hauses Dagoth fing sich das rote Licht des Vulkans, das durch das Fenster hineinschien.


"Tay, bitte tu niemandem mehr weh. Bitte. Höre mir nur einen Moment zu und nicht dem Gesang, dann wirst du wissen, was richtig ist. Ich liebe dich." Baynarah unterdrückte ihr Schluchzen, damit ihre Stimme deutlich und ruhig klang. Von der Treppe hinter ihr ertönten Schritte. Die Wache des Generals war endlich mit dem Rammbock eingetroffen.


Zwei Stöße später zersplitterte die Tür und schwang in hohem Bogen auf. General Indoril-Triffith hielt sich die Kehle und starrte aus dem Fenster.


"Onkel! Geht es dir gut?" Baynarah rannte zu ihm. Er nickte langsam und ließ seine Hand sinken. An seinem Hals befand sich nur ein winziger Kratzer. "Wo ist Tay?"


"Er ist aus dem Fenster gesprungen", sagte Triffith und zeigte nach draußen, wo in einiger Entfernung eine Gestalt auf einem Guar in Richtung des Vulkans ritt. "Ich dachte, er würde sich umbringen, aber er hatte wohl einen Fluchtplan."


"Wir werden ihn kriegen, General", sagte Kommandant Rael und befahl den Wachen, ihre Reittiere zu holen. Baynarah sah zu, wie sie fortritten. Dann gab sie ihrem Onkel einen raschen Kuss und rannte in den Hof zu ihrem eigenen Guar.


Tay war schweißgebadet, als er näher und näher auf den Gipfel des Roten Berges zuritt. Das Guar atmete schwer und trottete noch langsamer voran, während es sich mit leisen Grunzlauten über die Hitze beschwerte. Schließlich ließ er sein Reittier zurück und begann, die fast senkrechte Wand hinaufzuklettern. Asche blies ihm vom Vulkan in sein Gesicht. Beinahe blind war es nahezu unmöglich, die ständigen, schrillen Töne des Liedes zu ignorieren.


Ein seidig glänzender Strom tiefroter Lava, von kristallinen Formationen durchzogen, schoss einige Meter entfernt in die Höhe - nahe genug, dass Tay fühlen konnte, wie seine Haut brannte und Blasen warf. Er wandte sich ab und sah eine Gestalt aus dem Rauch hervorkommen. Baynarah.


"Was tust du, Tay?", schrie sie über das Tosen des Vulkans hinweg. "Habe ich dir nicht gesagt, du sollst nicht auf das Lied hören?"


"Zum ersten Mal wollen das Lied und ich dasselbe!", schrie er zurück. "Ich kann dich nicht darum bitten, mir zu vergeben, doch versuche bitte zu vergessen!"


Er kletterte höher und damit aus Baynarahs Blickwinkel. Sie schrie seinen Namen und stieg die Felsen hinauf, bis sie dem offenen Krater ganz nah war. Wellen aus kochendem Gas schlugen über ihr zusammen und sie fiel nach Luft schnappend auf die Knie. Durch die wogenden Dämpfe sah sie Tay, am Rande des Kraters stehend. Flammen schossen aus seiner Kleidung und seinen Haaren. Für einen kurzen Moment drehte er sich zu ihr um und lächelte.


Dann sprang er.


Baynarah war tief in Gedanken versunken, als sie den langen, gefährlichen Abstieg vom Vulkan begann. Sie dachte an die vor ihr liegenden Aufgaben. Befanden sich in den Speisekammern ihres Hauses auf Gorne genug Vorräte für das Treffen der Häuser? Die Ratsherren würden für Wochen dort bleiben, vielleicht für Monate. Es gab viel zu tun. Während sie hinabstieg, begann sie langsam zu vergessen. Es würde nicht anhalten, aber es war ein Anfang.


Dagoth-Acra stand so nah am Schlund des Vulkans, wie sie konnte, ihre blinzelnden Augen von der Asche gereizt und durchnässt von der Hitze. Sie hatte alles mit angesehen und lächelte. Auf dem Boden lag der Silberring mit dem Siegel des Hauses Dagoth. Tython hatte so stark geschwitzt, dass ihm vom Finger gerutscht war. Sie hob ihn auf und steckte ihn sich an ihren eigenen Finger. Und während sie ihren Bauch berührte, hörte sie, wie eine neue Strophe des vergifteten Lieds von Morrowind erklang.

 

— Bristin Xel

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.12.2018

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet den Dwemern, in deren Ruinen man viel wertvolles Altmetal findet. Aber man hüte sich vor den niederträchtigen Falmern!

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