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Band I

Man schrieb das Jahr 3Ä 405. Die Feierlichkeiten zum tausendjährigen Bestehen des bretonischen Königreiches Camlorn waren in vollem Gange. Jeder größere Platz und jede kleine Gasse waren mit goldenen und purpurnen Bannern behangen. Manche von ihnen waren einfarbig, manche mit den Insignien der königlichen Familie oder denen der unzähligen Provinzen und Herzogtümer bestickt, die dem König als Vasallen dienten. In jedem Winkel spielten Musiker auf, und an jeder Straßenecke konnte man andere exotische Gaukler sehen: Schlangenbeschwörer der Rothwardonen, khajiitische Akrobaten, mächtige Magier und Artisten, deren geschickte Fähigkeiten es ihnen trotz mangelnden Zauberfähigkeiten erlaubten, ebenso mächtig zu erscheinen.

Der Anblick, der die meisten Männeraugen der Stadt fesselte, war der Marsch der Schönheit. Um die tausend hübsche, junge Frauen tanzten aufreizend gekleidet die lange, weite Hauptstraße entlang: vom Tempel der Sethiete zum königlichen Palast. Die Männer schubsten und drängelten einander, reckten ihre Hälse und wählten ihre Favoritinnen. Es war kein Geheimnis, dass all diese Frauen Prostituierte waren, die nach dem Marsch und dem Blumenfest in den Abendstunden noch für wesentlich intimere Vergnügungen zur Verfügung standen.

Gyna zog mit ihrem groß gewachsenen, wohlproportionierten Körper, der nur von ein paar Streifen aus Seide verdeckt wurde, und ihrem flachsblonden Haar, in das sie sich Blumen gesteckt hatte, viele Blicke auf sich. Fast 30 Jahre alt, war sie zwar nicht mehr die Jüngste, aber mit Sicherheit eine der Begehrtesten von allen. Obwohl man an ihrem Verhalten erkennen konnte, dass sie anzügliche Blicke gewohnt war, begeisterte sie die prunkvoll geschmückte Stadt. Im Vergleich zu dem schäbigen Quartier in Daggerfall, das sie ihr Zuhause nannte, schien Camlorn auf dem Höhepunkt der Festlichkeiten fast unwirklich schön. Und was noch viel seltsamer anmutete: Die Stadt, die sie nie vorher gesehen hatte, war ihr irgendwie vertraut.

Gräfin Jyllia, die Tochter des Königs, ritt aus den Toren des Palastes und verfluchte sofort die unpässliche Situation, in die sie geraten war. Denn sie hatte den Marsch der Schönheit gänzlich vergessen. In den Straßen herrschte völliges Chaos und an ein Fortkommen war kaum zu denken. Es würde noch Stunden dauern, bis der Marsch vorüber sein würde, und sie dabei hatte doch ihrem alten Kindermädchen Ramke versprochen, sie in ihrem Haus im Süden der Stadt zu besuchen. Jyllia überlegte einen Moment lang, stellte sich im Geiste die Straßenzüge vor und beschloss, eine Abkürzung an der Hauptstraße und am Marsch vorbei zu nehmen.

Ein paar Minuten lang ging ihr Plan auf. Sie bahnte sich ihren Weg durch schmale, verwinkelte Seitenstraßen, bis sie auf eine Reihe von Zelten und Buden stieß, die man für die Feierlichkeiten mitten auf dem Weg errichtet hatte. In wenigen Sekunden hatte sie sich in der Stadt verirrt, in der sie bis auf fünf Jahre ihr ganzes Leben verbracht hatte.

Am Ende einer Gasse sah sie die dicht bevölkerte Hauptstraße, in der der Marsch der Schönheit in vollem Gange war. In der Hoffnung, dass dieser Alptraum ein Ende nehmen und sie sich nicht erneut verirren würde, lenkte sie ihr Pferd in Richtung des Festes. Dabei übersah sie den Schlangenbeschwörer am Eingang der Gasse. Als dessen Schlange sich zischend aufrichtete, bäumte sich ihr Pferd voller Angst auf.

Die Frauen in der Parade hielten den Atem an und wichen zurück, aber es gelang Gräfin Jyllia schnell, ihren Hengst zu beruhigen. Beschämt sah sie sich den Aufruhr an, den sie verursacht hatte.

"Entschuldigt, meine Damen", sagte sie und machte dabei zum Scherz eine militärische Geste.

"Keine Ursache, werte Dame", antwortete eine in Seide gehüllte Blondine. "Wir sind gleich aus Eurem Weg verschwunden."

Jyllia starrte in die vorbeilaufende Menge. Der Blick auf diese Hure war wie ein Blick in den Spiegel gewesen. Alter, Größe, Haar, Augen und Figur waren fast genau gleich. Die Frau sah sich nach ihr um, so als hätte sie das Gleiche empfunden.

Und das hatte auch Gyna. Die alten Hexen, die des Öfteren nach Daggerfall kamen, sprachen manchmal von Doppelgängern - Geistern, die die Gestalt ihrer Opfer annahmen und Vorboten eines nahen Todes waren. Trotzdem hatte sie dieses Erlebnis nicht in Angst versetzt. Seltsamerweise fühlte sie sich jetzt in der fremden Stadt sogar heimischer als zuvor. Noch bevor der Marsch die Tore des Palastes erreicht hatte, hatte sie ihre seltsame Begegnung vergessen.

Die Prostituierten strömten in den Hof und der König trat persönlich auf den Balkon, um sie zu begrüßen. An seiner Seite stand sein Hauptleibwächter, der vom Aussehen her ein Kriegsmagier sein musste. Der König selbst war ein ansehnlicher, jedoch etwas unscheinbarer Mann mittleren Alters, dessen Anblick Gyna unglaublichen Respekt einflößte. Vielleicht war es ein Traum. Ja, so musste es wohl sein: Sie konnte ihn sehen, so wie sie ihn in ihren Träumen gesehen hatte. Er stand nun direkt über ihr und beugte sich herab, um sie zu küssen. Kein Kuss aus Leidenschaft, ein Kuss aus Höflichkeit würde es sein.

"Werte Damen, die Ihr die Straßen der großartigen Stadt Camlorn mit Eurer Schönheit erfüllt", rief der König und zwang damit die kichernde, murmelnde Menschenmenge zur Ruhe. Er lächelte stolz. Dann trafen seine Augen auf Gyna und er hielt betroffen inne. Eine Ewigkeit lang starrten sie sich an, bis Seine Hoheit sich wieder auf seine Pflichten besann und seine Rede fortsetzte.

Als die Frauen auf dem Weg zurück in ihre Zelte waren, um sich auf den Abend vorzubereiten, kam eine der älteren Prostituierten zu Gyna: "Habt Ihr gesehen, wie der König Euch angesehen hat? Wenn Ihr es schlau anstellst, seid Ihr die neue königliche Mätresse, noch bevor das Fest zu Ende ist."

"Ich weiß, was verzehrende Blicke sind, und das war keiner", entgegnete Gyna lachend. "Ich vermute, er hat mich mit jemandem wie der Dame verwechselt, die uns fast mit dem Pferd niedergetrampelt hätte. Sie gehört bestimmt zu seiner Familie und jetzt denkt er sicherlich, dass sie sich wie eine Kurtisane angezogen hat, um am Marsch der Schönheit teilzunehmen. Könnt Ihr Euch einen solchen Skandal vorstellen?"

Als sie bei ihren Zelten eintrafen, wurden sie von einem etwas stämmigen, aber gut gekleideten, glatzköpfigen jungen Mann begrüßt, den eine Aura der Autorität umgab. Er stellte sich als Fürst Strale vor, Botschafter des Kaisers und ihr Schirmherr. Er war es, der sie im Auftrag des Kaisers als Geschenk für den König und das Königreich Camlorn angeheuert hatte.

"Der Marsch der Schönheit ist nur ein Vorbote des Blumenfestes heute Abend", sagte er. Anders als der König musste er nicht schreien, um sich Gehör zu verschaffen. Seine Stimme war laut und in ihrer Modulation sauber und exakt. "Ich erwarte von jeder von euch, dass ihr gute Arbeit leistet und die nicht unbedeutenden Kosten rechtfertigt, die mir durch eure Einladung hierher entstanden sind. Jetzt beeilt euch. Ihr müsst umgezogen auf dem Cavilstyr-Felsen sein, bevor die Sonne untergeht."

Der Botschafter hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Anders als normale Frauen waren diese geübt darin, sich schnell an- und auszuziehen, ohne dabei viel Zeit zu verschwenden. Sein Diener Gnorbooth bot seine Hilfe an, hatte aber nur wenig zu tun. Ihre Kostüme waren einfach: Es waren dünne, weiche Laken mit einem Loch, um den Kopf hindurch zu stecken. Nicht einmal Gürtel waren vonnöten. So blieben die Seiten der Kleider offen und man konnte die Haut durchblitzen sehen.

So kam es, dass die Prostituierten, die sich nun in Tänzerinnen verwandelt hatten, schon lange vor Sonnenuntergang am Cavilstyr-Felsen waren: ein großer, breiter Felsvorsprung, auf dem zur Feier des Blumenfestes ein großer Kreis aus Fackeln und bedeckten Körben aufgestellt worden war. Obwohl sie viel früher als nötig dort eingetroffen waren, warteten bereits zahlreiche Schaulustige auf sie. Die Frauen begaben sich in die Mitte des Kreises und warteten ihrerseits, bis es an der Zeit war.

Gyna beobachtete die wachsende Menge und war nicht sonderlich überrascht, als sie die Dame vom Marsch wiedersah, die eine sehr alte und sehr kleine weißhaarige Frau an der Hand führte. Die alte Dame war abgelenkt und zeigte auf einige Inseln im Meer. Die blonde Frau schien unsicher zu sein, so als wüsste sie nicht genau, was sie sagen sollte. Gyna, die den Umgang mit schwierigen Kunden gewohnt war, ergriff zuerst das Wort. "Schön Euch wiederzusehen, edle Dame. Ich bin Gyna aus Daggerfall."

"Ich bin froh, dass Ihr mir wegen des Vorfalls mit dem Pferd nicht böse seid", sagte die Dame und lachte erleichtert. "Ich bin Gräfin Jyllia Raze, die Tochter des Königs."

"Ich dachte immer, dass man die Töchter von Königen Prinzessin nennt", sagte Gyna lächelnd.

"In Camlorn macht man das nur bei Thronerben so. Ich habe einen jüngeren Bruder, ein Sohn der neuen Frau meines Vaters, den er bevorzugt", entgegnete Jyllia. Sie spürte, wie ihr schwindelig wurde. Es war völliger verrückt, mit einer gewöhnlichen Prostituierten zu sprechen und dann auch noch über intimste Familienverhältnisse. "Wo wir gerade bei diesem Thema sind, muss ich Euch etwas fragen. Habt Ihr je von Prinzessin Talara gehört?"

Gyna dachte einen Moment lang nach: "Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Warum sollte ich?"

"Ich weiß nicht. Das ist ein Name, von dem ich dachte, dass Ihr Euch vielleicht daran erinnern könntet", seufzte Gräfin Jyllia. "Wart Ihr schon einmal in Camlorn?"

"Falls ja, muss ich damals noch sehr jung gewesen sein", sagte Gyna, und plötzlich überkam sie das Gefühl, diesmal von ihrer Seite Vertrauen zeigen zu müssen. Irgendetwas an Gräfin Jyllias freundlicher und entgegenkommender Art berührte sie zutiefst. "Um ehrlich zu sein, ich kann mich an nichts aus meiner Kindheit erinnern, was vor meinem zehnten Geburtstag geschehen ist. Vielleicht war ich mit meinen Eltern, wer immer die auch waren, hier, als ich noch ein kleines Mädchen war. Ich habe durchaus das Gefühl, schon einmal hier gewesen zu sein. Ich kann mich zwar nicht daran erinnern, aber die Stadt, der König und Ihr scheint ... es scheint mir so, als hätte ich das alles vor langer Zeit schon einmal gesehen."

Gräfin Jyllia schluckte und trat einen Schritt zurück. Sie nahm die alte Frau, die auf das Wasser blickte und dabei etwas murmelte, bei der Hand. Die verhutzelte Gestalt sah Jyllia erstaunt an und drehte sich dann zu Gyna um. Ihre trüben, halbblinden Augen funkelten auf und sie stieß ein Geräusch des Erstaunens aus. Gyna schreckte zurück. Wenn der König wie jemand aus einem halbvergessenen Traum war, so war dies eine Person, die sie kannte. So klar und doch so undeutlich wie ein Schutzgeist.

"Ich muss mich entschuldigen", stammelte Gräfin Jyllia. "Das ist mein altes Kindermädchen, Ramke."

"Sie ist es!" schrie die alte Frau und riss dabei die Augen weit auf. Sie versuchte, mit offenen Armen nach vorne zu laufen, aber Jyllia hielt sie zurück. Gyna fühlte sich seltsam nackt und zog ihren Umhang enger um ihren Körper.

"Nein, da irrt Ihr Euch", flüsterte Gräfin Jyllia Ramke zu und hielt sie fest. "Die Prinzessin Talara ist tot. Ihr solltet das wissen. Ich hätte Euch nicht herbringen dürfen. Ich werde Euch wieder nach Hause bringen." Sie drehte sich mit Tränen in den Augen zu Gyna um. "Die gesamte königliche Familie von Camlorn wurde vor über zwanzig Jahren umgebracht. Mein Vater, der Herzog von Oloine, war der Bruder des Königs und erbte daher die Krone. Es tut mir leid, Euch belästigt zu haben. Gute Nacht."

Gyna blickte Gräfin Jyllia und dem alten Kindermädchen hinterher, als diese in der Menge verschwanden. Es blieb ihr allerdings wenig Zeit, über die Dinge, die sie gehört hatte, nachzudenken. Die Sonne ging unter und es war an der Zeit für das Blumenfest. Zwölf junge Männer traten, nur mit Lendenschurz bekleidet, aus der Dunkelheit und entzündeten die Fackeln. Als das Feuer aufflammte, rannten Gyna und die anderen Tänzerinnen zu den Körben und zogen Blumen und Weintrauben heraus.

Zuerst tanzten die Frauen nur miteinander und streuten dabei Blumen in den Wind. Als die Musik dann lauter wurde, schloss sich die Menge dem Reigen an. Es war ein verrücktes, wunderschönes Durcheinander. Gyna drehte sich und hüpfte wie eine Waldnymphe. Dann, ohne Vorwarnung, spürte sie plötzlich, wie raue Hände sie von hinten ergriffen und ihr einen Stoß versetzten.

Noch bevor sie verstand, was geschah, war sie schon im Fallen begriffen. Als sie sich ihrer Lage bewusst wurde, befand sie sich bereits nahe des Fußes der gut 30 Meter hohen Klippe. Sie breitete die Arme aus und griff nach der Felswand. Ihre Finger schlugen gegen den Stein, der ihr das Fleisch aufriss, doch es gelang ihr, Halt zu finden. Einen Moment lang hielt sie inne und atmete schwer. Dann begann sie zu schreien.

Doch die Musik und der Lärm des Festes waren zu laut: Niemand konnte sie hören, sie konnte ihre Schreibe kaum selbst hören. Unter ihr krachte die Brandung an den Fels. Jeder Knochen ihres Körpers würde beim Sturz brechen. Sie schloss die Augen und eine Vision kam näher. Ein Mann stand unter ihr. Ein König, voll von Mitgefühl und Weisheit, sah zu ihr hinauf und lächelte. Ein kleines Mädchen mit goldenen Haaren, vielleicht ihre beste Freundin, hing am Felsen neben ihr.

"Das Geheimnis beim Fallen ist, sich zu entspannen und den Körper ganz locker zu lassen. Mit ein bisschen Glück wird dir nichts geschehen", sagte das Mädchen. Sie nickte, als ihr einfiel, wer sie war. Acht Jahre der Dunkelheit lüfteten sich.

Sie lockerte ihren Griff und ließ sich wie ein Blatt in die Tiefen des Wassers unter ihr fallen.

Band II

 

Sie fühlte nichts, Dunkelheit umgab ihren Körper und ihren Geist. Schmerz schoss durch ihr Bein und mit diesem Gefühl kam gleichzeitig eine große Kälte. Sie öffnete die Augen und stellte fest, dass sie zu ertrinken drohte.

Ihr linkes Bein war absolut bewegungslos, aber mit Hilfe des anderen Beines und ihrer Arme kämpfte sie sich nach oben, zu den Monden über ihr. Es war ein langer, schwerer Weg durch die wirbelnden Strömungen, die sie nach unten zogen. Endlich gelang es ihr, die Wasseroberfläche zu durchbrechen. Sie sog die kalte Nachtluft gierig ein. Sie befand sich immer noch nahe der felsigen Küste der Hauptstadt des Königreichs Camlorn, aber die Strömung hatte sie schon ziemlich weit von der Stelle am Cavilstyrfelsen fortgetrieben, wo sie hineingefallen war.

Nicht gefallen, dachte sie und korrigierte sich selbst. Man hatte sie gestoßen.

Sie ließ sich weiter stromabwärts treiben. Die steilen Klippen wurden langsam flacher, bis sie fast mit der Wasseroberfläche auf einer Höhe waren. Am Ufer tauchte die Silhouette eines großen Hauses auf und als sie sich ihm näherte, konnte sie den Rauch sehen, der aus dem Kamin aufstieg, und das Flackern von Licht im Inneren. Der Schmerz in ihrem Bein war stark, aber noch schlimmer war die Kälte des Wassers. Der Gedanke an ein warmes Kaminfeuer war ausreichende Motivation, um wieder mit dem Schwimmen zu beginnen.

Am Ufer angelangt, versuchte sie zu stehen, aber sie musste feststellen, dass es nicht ging. Das einfache weiße Kleid, das sie beim Blumenfest getragen hatte, war zerrissen und fühlte sich wie ein Bleigewicht auf ihrem Rücken an. Vollkommen erschöpft brach sie zusammen und begann zu weinen.

"Hilfe!" rief sie. "Wenn Ihr mich hört, bitte helft!"

Einen Moment später öffnete sich die Tür des Hauses und eine Frau kam heraus. Es war Ramke, die Greisin, die sie auf dem Blumenfest getroffen hatte. Diejenige, die "Sie ist es!" gerufen hatte, noch bevor sie selbst wusste, wer sie war. Im Gegensatz dazu spiegelte sich jetzt kein Erkennen in den Augen der alten Frau, die sich ihr näherte.

"Bei Sethiete, seid Ihr verletzt?" flüsterte Ramke und half ihr auf. "Ich habe dieses Kleid schon einmal gesehen. Wart Ihr eine der Tänzerinnen auf dem Blumenfest heute Abend? Ich war mit Gräfin Jyllia Raze da, der Tochter des Königs."

"Ich weiß, sie hat uns vorgestellt", stöhnte sie. "Ich nannte mich selbst Gyna von Daggerfall."

"Aber natürlich! Ihr kamt mir gleich so bekannt vor", sagte die alte Frau und führte sie über den Strand bis zur Tür. "Mein Gedächtnis ist nicht so gut, wie es einmal war. Wärmt Euch auf und lasst uns Euer Bein ansehen."

Ramke nahm Gynas durchnässtes Kleid, setzte sie vor das Feuer und hüllte sie in eine Decke. Als die Betäubung durch die Kälte langsam nachließ, spürte sie den intensiven Schmerz in ihrem Bein wieder. Bis dahin hatte sie nicht gewagt, es zu betrachten. Als sie es tat, hätte sie sich bei dem Anblick, der sich ihr bot, beinahe übergeben: ein tiefer, klaffender Riss, umgeben von aufgedunsenem, geschwollenem, fischweißem Fleisch. Ein dicker Blutstrom sprudelte aus einer Arterie hervor und rann in Strömen auf den Boden.

"Meine Güte", sagte die alte Frau, als sie zum Feuer zurückkehrte. "Das muss Euch ziemliche Schmerzen bereiten. Ihr habt Glück, dass ich mich noch immer an einige der alten Heilzauber erinnere."

Ramke setzte sich auf den Boden und presste ihre Hände an beide Seiten der Wunde. Gyna fühlte einen stechenden Schmerz und dann ein kühles, sanftes Zwicken und Prickeln. Als sie hinunterschaute, bewegte Ramke ihre faltigen Hände langsam aufeinander zu. Unter ihrer Annäherung begann sich die Wunde vor ihren Augen zu schließen, das Fleisch verband sich wieder und auch die Blutergüsse verschwanden.

"Bei Kynareth", keuchte Gyna. "Ihr habt mir das Leben gerettet."

"Nicht nur das, Ihr werdet auch keine hässliche Narbe auf Eurem hübschen Bein zurückbehalten", kicherte die Alte. "Ich musste diesen Zauber so oft anwenden, als Gräfin Jyllia noch klein war. Ihr müsst wissen, ich war ihr Kindermädchen."

"Ich weiß", lächelte Gyna. "Aber das ist lange her und trotzdem erinnert Ihr Euch noch an den Zauber."

"Oh, wenn man etwas neu erlernt, selbst in der Schule der Wiederherstellung, gibt es immer viel zu lernen und viele Fehler zu machen, aber wenn man einmal so alt ist wie ich, dann muss man sich nicht mehr an die Dinge erinnern. Man weiß es einfach. Schließlich habe ich den Zauber vermutlich schon tausend Mal angewendet. Die kleine Gräfin Jyllia und die kleine Prinzessin Talara verletzten sich andauernd irgendwo. Kein Wunder, wo sie doch immer überall herumkletterten."

Gyna seufzte. "Ihr müsst Gräfin Jyllia sehr geliebt haben."

"Das tue ich immer noch", strahlte Ramke. "Aber sie ist nun erwachsen und alles ist anders. Wisst Ihr, es ist mir zuvor nicht aufgefallen, aber Ihr ähnelt meiner Gräfin sehr. Habe ich das schon erwähnt, als wir uns auf dem Fest begegnet sind?"

"Das habt Ihr", sagte Gyna. "Das heißt, ich glaube, Ihr wart der Meinung, ich sähe aus wie Prinzessin Talara."

"Oh, es wäre so schön, wenn die Prinzessin zurückkehren würde", stieß die alte Frau hervor. "Wisst Ihr, als die ehemalige königliche Familie ermordet wurde und alle sagten, dass die Prinzessin tot sei, obwohl wir die Leiche niemals fanden, hatte ich den Eindruck, dass das wahre Opfer Gräfin Jyllia war. Ihr kleines Herz zerbrach einfach, und eine Zeit lang sah es so aus, als würde das auch für ihren Verstand gelten."

"Wie meint Ihr das?", fragte Gyna. "Was ist damals passiert?"

"Ich weiß nicht, ob ich das einer Fremden erzählen sollte, aber es ist in Camlorn allgemein bekannt und es ist wirklich so, als würde ich Euch kennen." Ramke kämpfte kurz mit ihrem Gewissen und begann dann zu erzählen: "Jyllia war Zeugin der Morde, müsst Ihr wissen. Ich fand sie später, sie hatte sich in dem entsetzlich blutverschmierten Thronraum versteckt. Sie war wie eine zerbrochene Puppe. Sie sprach nicht und sie aß nicht. Ich versuchte es mit all meinen Heilzaubern, aber ich konnte nichts tun. Sie hatte so viel mehr erlitten als nur ein aufgeschlagenes Knie. Ihr Vater, der damalige Herzog von Oloine, schickte sie in ein Sanatorium auf dem Land, damit sie sich erholte."

"Das arme kleine Mädchen", sagte Gyna bedauernd.

"Es dauerte Jahre, bis sie wieder sie selbst war", sagte Ramke nickend. "Und in Wahrheit ist sie auch das nie wieder ganz geworden. Wundert es Euch, dass ihr Vater sie nicht zu seiner Thronerbin machte, als er zum König gekrönt wurde? Er glaubt, dass sie nicht die Richtige ist, und so sehr ich dies auch bestreiten möchte, so hat er doch Recht. Sie erinnerte sich an nichts, an rein gar nichts."

"Denkt Ihr", Gyna wählte ihre Worte sorgfältig, "dass es ihr besser ginge, wenn sie wüsste, dass ihre Cousine, Prinzessin Talara, noch lebt und dass es ihr gut geht?"

Ramke dachte darüber nach. "Ich glaube schon. Aber vielleicht auch nicht. Manchmal ist es am besten, nicht zu hoffen."

Gyna erhob sich und stellte fest, dass ihr Bein genauso kräftig war, wie es aussah. Ihr Kleid war getrocknet und Ramke gab ihr einen Umhang, darauf bestehend, dass sie sich vor der kalten Nachtluft schützte. An der Tür gab Gyna der alten Frau einen Kuss auf die Wange und dankte ihr. Nicht nur für den Heilzauber und den Umhang, sondern für alles andere Gute, dass sie je getan hatte.

Die Straße in der Nähe des Hauses führte nach Norden und nach Süden. Zur Linken lag der Weg zurück nach Camlorn, wo Geheimnisse verborgen lagen, zu denen nur sie allein den Schlüssel besaß. Im Süden befand sich Daggerfall, ihre Heimat seit nun mehr als 20 Jahren. Sie konnte ganz einfach dorthin zurückkehren, zu ihrer Profession auf den Straßen der Stadt. Sie dachte einige Sekunden nach und traf dann eine Entscheidung.

Sie war noch nicht allzu lange gelaufen, als eine schwarze, von drei Pferden gezogene Kutsche mit dem kaiserlichen Wappen, begleitet von acht Reitern, an ihr vorbeifuhr. Sie fuhr noch einige Meter weiter und hielt dann plötzlich an. Sie erkannte einen der Soldaten als Gnorbooth, Fürst Strales Diener. Die Tür öffnete sich und Fürst Strale selbst, der Botschafter des Kaisers, der Mann, der sie und all die anderen Frauen zur Unterhaltung bei Hofe angeheuert hatte, trat heraus.

"Ihr!" rief er missbilligend. "Ihr seid doch eine von den Prostituierten oder nicht? Ihr seid diejenige, die während des Blumenfestes verschwand? Gyna, habe ich Recht?"

"Das alles stimmt", lächelte sie säuerlich. "Bis darauf, dass mein Name, wie ich herausfand, nicht Gyna ist."

"Das ist mir vollkommen egal", sagte Fürst Strale. "Was macht Ihr auf der Straße nach Süden? Ich habe Euch dafür bezahlt, dass Ihr bleibt und das Königreich erfreut."

"Wenn ich zurück nach Camlorn ginge, gäbe es eine Menge Leute, die darüber gar nicht erfreut wären."

"Erklärt Euch", sagte Fürst Strale.

Das tat sie. Und er hörte zu.

Band III

 

 

Gnorbooth verließ seine Lieblingstaverne in Camlorn, den Brechenden Ast, als er hörte, dass jemand seinen Namen rief. Sein Namen war keiner, der leicht mit einem anderen verwechselt werden konnte. Er drehte sich um und sah Fürst Eryl, den königlichen Kampfmagier des Palastes, aus dem Dunkel der Gasse auftauchen.

"Mein Herr", sagte Gnorbooth mit einem freundlichen Lächeln.

"Ich bin überrascht, Euch heute Abend hier zu sehen, Gnorbooth", sagte Fürst Eryl mit einem äußerst unfreundlichen Lächeln. "Ich habe Euch und Euren Herrn seit den Jahrtausendfeierlichkeiten nicht oft gesehen, aber ich hörte, dass Ihr sehr beschäftigt wart. Was ich mich frage, ist, womit Ihr so beschäftigt gewesen seid."

"Die kaiserlichen Interessen in Camlorn zu schützen ist eine auslastende Arbeit, mein Herr. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr an den Details der Termine des Botschafters interessiert seid."

"Doch, das bin ich", sagte der Kampfmagier. "Besonders, da der Botschafter in der letzten Zeit begann, höchst mysteriös, höchst undiplomatisch zu handeln. Und ich habe gehört, dass er eine der Huren vom Blumenfest in sein Haus geholt hat. Ich glaube, ihr Name ist Gyna?"

Gnorbooth zuckte die Schultern: "Ich würde sagen, er ist verliebt, mein Herr. Das kann Männer dazu veranlassen, äußerst seltsam zu handeln, was, wie ich denke, Ihr schon einmal gehört haben könntet."

"Sie ist ein äußerst gut aussehendes Mädchen", lachte Fürst Eryl. "Ist Euch aufgefallen, wie sehr sie der verstorbenen Prinzessin Talara ähnelt?"

"Ich bin erst seit 15 Jahren in Camlorn, mein Herr. Ich habe die verblichene Majestät nie gesehen."

"Nun, ich würde verstehen, wenn er angefangen hätte, Gedichte zu schreiben. Aber welcher verliebte Mann verbringt seine Tage in der Palastküche und unterhält sich mit alten Bediensteten? Das hört sich kaum nach brennender Leidenschaft an, auch nicht gemessen an meinem begrenzten Erfahrungsschatz." Fürst Eryl rollte die Augen. "Und was für Geschäfte hat er zurzeit in - oh, wie war doch gleich der Name dieses Dorfes?"

"Umbington?" antwortete Gnorbooth und bedauerte das Gesagte augenblicklich. Fürst Eryl war ein zu schlauer Schauspieler, es zu zeigen, aber das Gefühl in seiner Magengrube sagte Gnorbooth, dass der Kampfmagier nicht einmal gewusst hatte, dass Fürst Strale das Kapitol verlassen hatte. Er musste fort von hier, um es den Botschafter wissen zu lassen. Aber vorher gab es noch ein Spielchen zu spielen. "Er wird nicht vor morgen dorthin aufbrechen. Ich glaube, es geht dort nur um irgendeine Urkunde, die das kaiserliche Siegel benötigt."

"Ist das alles? Wie langweilig für den armen Kerl. Ich vermute, ich werde ihn dann nach seiner Rückkehr sehen", sagte Fürst Eryl und verbeugte sich. "Habt Dank für Eure Auskünfte. Gehabt Euch wohl."

In dem Moment, in dem der königliche Kampfmagier um die Ecke bog, sprang Gnorbooth auf sein Pferd. Er hatte ein oder zwei Met zu viel getrunken, aber er wusste, dass er vor Fürst Eryls Agenten in Umbington sein musste. Er galoppierte durch den östlichen Ausgang des Kapitols und hoffte, dass es an der Straße Wegweiser geben würde.

In einer Taverne, die nach Schimmel und saurem Bier roch, saß Fürst Strale und wunderte sich, dass die kaiserliche Agentin Fürstin Brisienna für die privatesten Unterredungen immer die öffentlichsten Plätze fand. In Umbington war Erntezeit, und alle Feldarbeiter vertranken ihre mageren Löhne in der lautesten Art und Weise. Für diesen Treffpunkt war er angemessen gekleidet, grobe Hosen und ein einfaches Bauernhemd, und dennoch fühlte er sich auffällig. Verglichen mit seinen beiden Begleiterinnen war er das auch. Die Frau zu seiner Rechten war daran gewöhnt, die niederen Orte von Daggerfall als gemeine Prostituierte aufzusuchen. Fürstin Brisienna zu seiner Linken war noch deutlicher in ihrem Element.

"Mit welchem Namen möchtet Ihr von mir angesprochen werden?" fragte Fürstin Brisienna eifrig.

"Ich bin an den Namen Gyna gewöhnt, obwohl sich das ändern mag", war ihre Antwort. "Oder auch nicht. Die Hure Gyna wird der Name sein, der auf meinem Grab stehen wird."

"Ich werde dafür sorgen, dass es keine weiteren Anschläge auf Euer Leben wie auf dem Blumenfest geben wird". Fürst Strale runzelte die Stirn. "Aber ohne die Hilfe des Kaisers werde ich Euch nicht für immer und ewig beschützen können. Die einzige beständige Lösung ist, diejenigen zu fangen, die Euch Leid zufügen wollen, und Euch dann in die gebührende Position zu erheben."

"Glaubt Ihr meine Geschichte?" Gyna wandte sich Fürstin Brisienna zu.

"Seit nun schon vielen Jahren bin ich Oberagentin des Kaisers, und ich habe wenige Geschichten gehört, die seltsamer waren als die Eure. Wenn Euer Freund, der Botschafter, nicht nachgeforscht und herausgefunden hätte, was er herausgefunden hat, so hätte ich Euch geradewegs als Wahnsinnige abgetan", lachte Brisienna, und brachte damit ein Lächeln auf Gynas Gesicht. "Aber jetzt, ja, ich glaube Euch. Vielleicht macht mich das zur Wahnsinnigen."

"Werdet Ihr uns helfen?" fragte Fürst Strale.

"Es ist ein verzwicktes Unterfangen, sich in die Angelegenheiten der provinziellen Königreiche einzumischen", Fürstin Brisienna schaute nachdenklich in die Tiefen ihres Krugs. "Außer wenn es sich um eine Bedrohung für das Kaiserreich selbst handelt, halten wir es für besser, uns nicht einzumischen. In Eurem Fall haben wir es mit einen sehr schmutzigen Mord zu tun, der vor 20 Jahren verübt wurde, und mit seinen Nachwirkungen. Wenn seine kaiserliche Majestät sich selbst in jede blutige Störung in der Erbfolge in jeder seiner tausend Vasallenkönigreiche verwickeln ließe, so würde er niemals etwas für das übergeordnete Wohl von Tamriel erreichen."

"Ich verstehe", murmelte Gyna. "Als ich mich an alles erinnerte, wer ich war und was mir zugestoßen ist, entschloss ich mich, deswegen nichts zu tun. Tatsächlich war ich gerade dabei, Camlorn zu verlassen und heim nach Daggerfall zu gehen, als ich Fürst Strale wiedersah. Er war derjenige, der dieses Rätsel lösen wollte, nicht ich. Und als er mich zurückbrachte, wollte ich nur meine Cousine sehen, ihr zu sagen, wer ich bin. Aber er verbot es mir."

"Es wäre zu gefährlich gewesen", knurrte Strale. "Wir kennen immer noch nicht die Tiefe dieser Verschwörung. Vielleicht werden wir sie nie kennen."

"Es tut mir leid. Ich gebe immer zu lange Erklärungen auf kurze Fragen. Als Fürst Strale mich fragte, ob ich helfen werde, hätte ich mit 'ja' beginnen sollen." Fürstin Brisienna lachte über die Veränderung in Fürst Strales und Gynas Mienen. "Selbstverständlich werde ich Euch helfen. Aber damit das hier gut ausgeht, müsst Ihr zwei Dinge zur Befriedigung des Kaisers vollbringen. Erstens, Ihr müsst mit absoluter Sicherheit beweisen können, wer die Macht hinter diesem Komplott ist, das Ihr aufgedeckt habt. Ihr müsst jemanden dazu bringen, zu gestehen."

"Und zweitens", sagte Fürst Strale und nickte, "müssen wir beweisen, dass diese Sache der Betrachtung seiner kaiserlichen Majestät würdig ist, und nicht nur bloß eine unbedeutende örtliche Angelegenheit."

Fürst Strale, Fürstin Brisienna, und die Frau, die sich selbst Gyna nannte, diskutierten noch einige Stunden weiter, wie ihre Ziele zu erreichen waren. Als sie sich geeinigt hatten, was zu tun war, verabschiedete sich Fürstin Brisienna, um ihren Verbündeten Prosuccus aufzusuchen. Strale und Gyna brachen nach Westen auf, Richtung Camlorn. Nicht lange nach dem Beginn ihres Ritts durch die Wälder hörten sie das Geräusch von galoppierenden Hufen vor sich. Fürst Strale zog sein Schwert und signalisierte Gyna, ihr Pferd hinter das seine zu bringen.

In diesem Moment wurden sie von allen Seiten angegriffen. Es war ein Hinterhalt. Acht Männer, mit Äxten bewaffnet, hatten ihnen aufgelauert.

Fürst Strale riss Gyna von ihrem Pferd und zog sie hinter sich. Er machte eine kurze, geschickte Handbewegung. Ein Flammenring materialisierte sich um sie, eilte dann nach außen und traf ihre Angreifer. Die Männer schrien vor Schmerzen und fielen auf die Knie. Fürst Strale sprang auf das nächste Pferd und galoppierte in vollem Tempo in Richtung Westen.

"Ich dachte, Ihr seid ein Botschafter und kein Magier!" lachte Gyna.

"Ich glaube immer noch, dass es Zeiten für Diplomatie gibt", antwortete Fürst Strale.

Sie trafen Pferd samt Reiter, die sie vorher schon gehört hatten, an der Straße. Es war Gnorbooth. "Mein Herr, es ist der königliche Kampfmagier! Er fand heraus, dass Ihr beide in Umbington seid!"

"Mit beträchtlicher Leichtigkeit, wie ich hinzufügen darf", dröhnte Fürst Eryls Stimme aus den Wäldern. Gnorbooth, Gyna und Fürst Strale suchten die dunklen Bäumen ab, aber fanden nichts. Die Stimme des Kampfmagiers schien von überall und nirgends zu kommen.

"Es tut mir leid, mein Herr", stöhnte Gnorbooth. "Ich versuchte Euch zu warnen, so schnell ich nur konnte."

"Vielleicht versucht Ihr in Eurem nächsten Leben daran zu denken, Eure Pläne niemals einem Säufer anzuvertrauen", lachte Fürst Eryl. Er hatte sie in Sichtweite und entfesselte seinen Zauber.

Gnorbooth sah ihn zuerst, aufgrund des Lichts des Feuerballs, der seinen Fingerspitzen entsprang. Später fragte Fürst Eryl sich, was der Dummkopf vorhatte. Vielleicht war er nach vorne geeilt, um Fürst Strale aus dem Weg zu ziehen. Vielleicht wollte er dem Pfad der Zerstörung entfliehen, und war einfach nur nach links gelaufen, statt nach rechts. Vielleicht, so unwahrscheinlich es auch schien, war er willens, sein Leben zu opfern, um seinen Herrn zu retten. Welcher Grund auch immer es war, das Ergebnis war dasselbe.

Er geriet in den Weg.

Es gab eine Explosion von Magicka, die die Nacht erfüllte, und ein widerhallendes Dröhnen, das die Vögel im Umkreis von gut eineinhalb Kilometern von den Bäumen fallen ließ. Auf den wenigen Quadratmetern, auf denen Gnorbooth und sein Pferd gestanden hatten, war nichts mehr als schwarzes Gras zu sehen. Sie waren zu weniger als Dunst reduziert worden. Gyna und Fürst Strale waren nach hinten geschleudert worden. Ihr Pferd, als es seine Sinne wiedererlangt hatte, galoppierte so schnell es konnte davon. In der anhaltenden glühenden Aura der Detonation des Zaubers schaute Fürst Strale in die Wälder und geradewegs in den weit aufgerissenen Augen des Kampfmagiers.

"Verdammt", stieß Fürst Eryl hervor und rannte los. Der Botschafter sprang auf seine Füße und verfolgte ihn.

"Das war eine große Verschwendung von Magicka, sogar für Euch", sagte Fürst Strale während er rannte. "Wisst Ihr denn nicht selbst gut genug, dass man Fernzauber nur anwenden sollte, wenn man sicher sein kann, dass das Ziel nicht blockiert wird?"

"Ich hätte nie gedacht, dass ... dieser Idiot ..." Fürst Eryl wurde von hinten getroffen und auf den nassen Waldboden geworfen, noch bevor er die Möglichkeit hatte, sein Jammern zu beenden.

"Es spielt keine Rolle, was Ihr dachtet", sagte Fürst Strale ruhig, drehte den Kampfmagier um und nagelte dessen Arme mit seinen Knien am Boden fest. "Ich bin zwar kein Kampfmagier, aber ich war weise genug, nicht meine ganzen Reserven auf Euren kleinen Hinterhalt zu verschwenden. Vielleicht ist es eine Frage der Philosophie, aber als Regierungsagent neige ich zum Konservatismus."

"Was werdet Ihr tun?" jammerte Fürst Eryl.

"Gnorbooth war ein guter Mann, einer der besten, und deshalb werde ich Euch erhebliche Schmerzen zufügen". Der Botschafter machte eine leichte Bewegung, und seine Hände begannen, hell zu glühen. "So viel ist sicher. Und wie viel Schmerzen ich Euch danach noch zufügen werde, hängt davon ab, was Ihr mir erzählen werdet. Ich möchte etwas über den früheren Herzog von Oloine hören."

"Was genau wollt Ihr wissen?" schrie Fürst Eryl.

"Zunächst einmal - alles", antwortete Fürst Strale mit vollendeter Geduld.

Band IV

 

 

yna sah die kaiserliche Agentin Fürstin Brisienna nie wieder, aber sie hielt ihr Versprechen. Prosuccus, eine Schattenklinge im Dienste des Königreichs, kam in Verkleidung im Haus von Fürst Strale an. Sie war eine begabte Schülerin, und binnen weniger Tage hatte sie begriffen, was sie wissen musste.

"Es ist eine einfache Bezauberung, nicht die Art von Zauber, die einen tobenden Daedroth in einen niedlichen Welpen verwandeln könnte", sagte Prosuccus. "Wenn Ihr etwas sagt oder tut, was Euer Ziel normalerweise verärgern oder kränken würde, wird die Wirkung schwächer werden. Er wird vorübergehend seine Wahrnehmung von Euch verändern, wie Zauber der Illusionsschule es tun, aber seine Gefühle des Respekts und der Bewunderung für Euch müssen von der Bezauberung einer weniger magischen Natur unterstützt werden."

"Ich verstehe", lächelte Gyna und dankte ihrem Tutor für die zwei Illusionszauber, die er sie gelehrt hatte. Es war an der Zeit, ihre neu gefundene Fähigkeit zu nutzen.

Camlorns Gildenhaus der Prostituierten war ein großer Palast im reichen Nordviertel der Stadt. Prinz Sylon konnte den Weg dorthin mit verbundenen Augen, oder betrunken finden, was er oft war. In dieser Nacht jedoch war er nur leicht angeheitert und entschlossen, auch nicht mehr zu trinken. In dieser Nacht war er in der Stimmung für Vergnügen. Seine Art von Vergnügen.

"Wo ist meine Favoritin Grigia?" fragte er die Gildenherrin beim Eintreten.

"Sie erholt sich noch von dem Termin mit Euch letzter Woche", lächelte sie gelassen. "Die meisten Frauen haben schon einen Kunden, aber ich habe eine ganz besondere für Euch aufgehoben. Ein neues Mädchen. Eine, die Ihr sicherlich genießen werdet."

Der Prinz wurde in eine luxuriös dekorierte Suite aus Samt und Seide geführt. Als er eintrat, kam Gyna hinter einem Wandschirm hervor und sprach schnell ihren Zauber, mit glaubensbereitem Geist, wie Prosuccus es sie gelehrt hatte. Zuerst war es schwer zu sagen, ob der Zauber wirkte. Der Prinz schaute sie mit einem grausamen Lächeln an, doch dann, wie die Sonne, die durch die Wolken bricht, war die Grausamkeit verschwunden. Sie wusste nun, dass er ihr gehörte. Er fragte nach ihrem Namen.

"Ich habe im Moment keinen richtigen Namen", neckte sie. "Ich hatte noch nie das Vergnügen eines richtigen Prinzen. Ich war noch nie in einem Palast. Ist Eurer sehr ... groß?"

"Noch ist er nicht mein", zuckte er mit den Schultern. "Aber eines Tages werde ich König sein."

"Es muss wundervoll sein, in einem solchen Palast zu leben", gurrte Gyna. "Tausend Jahre Geschichte. Alles muss so alt und schön sein. Die Gemälde und Bücher und Statuen und Wandteppiche. Hält Eure Familie an diesen ganzen alten Schätzen fest?"

"Ja, zusammen mit einer Menge altem, langweiligem Plunder werden sie in den Archivräumen in den Gewölben gehortet. Bitte, darf ich Euch nun nackt sehen?"

"Zuerst eine kleine Unterhaltung, aber fühlt Euch frei, Euer Gewand abzulegen, wann immer Ihr es wollt", sagte Gyna. "Ich hatte gehört, dass es Archivräume gibt, und dass sie im Verborgenen liegen."

"Es gibt eine falsche Wand hinter der Familienkrypta", sagte der Prinz, nahm ihre Handgelenke und zog sie an sich, um sie zu küssen. Etwas in seinen Augen hatte sich verändert.

"Eure Hoheit, Ihr tut meinem Arm weh", schrie Gyna.

"Genug geredet, Ihr bezaubernde Hure", knurrte er. Gyna hielt einen scharfen Stich der Angst zurück, ließ ihren Verstand abkühlen und ihre Wahrnehmungen wirbeln. Als sein wütender Mund ihre Lippen berührte, sprach sie den zweiten Zauber, den ihr Illusionsmentor sie gelehrt hatte.

Der Prinz fühlte, wie sein Fleisch zu Stein wurde. Er blieb eingefroren und sah, wie Gyna ihre Kleidungsstücke raffte und den Raum verließ. Die Lähmung würde nur noch einige Minuten andauern, aber das war alle Zeit, die sie brauchte.

Die Gildenmeisterin hatte bereits mit allen Mädchen das Gebäude verlassen, so wie Gyna und Fürst Strale es ihr gesagt hatten. Sie würden ihr sagen, wann es sicher war, zurückzukehren. Sie hatte für ihre Rolle in der Falle kein Gold akzeptiert. Sie sagte, es sei Belohnung genug, dass ihre Mädchen nicht länger von diesem äußerst abartigen und grausamen Prinzen gequält wurden.

"Was für ein schrecklicher Bursche", dachte Gyna, während sie sich die Kapuze ihres Mantels aufsetzte und durch die Straßen zu Fürst Strales Haus rannte. "Es ist nur gut, dass er niemals König sein wird."

Am folgenden Morgen hielten der König und die Königin ihre tägliche Audienz mit verschiedenen Adeligen und Diplomaten. Alles in allem eine spärliche Versammlung. Der Thronraum war weitgehend leer. Eine schrecklich langweilige Art und Weise, den Tag zu beginnen. Zwischen den Bittgesuchen gähnten sie königlich.

"Was ist mit all den interessanten Leuten passiert?" raunte die Königin. "Wo ist unser geliebter Junge?"

"Ich hörte, dass er durch das Nordviertel tobt. Auf der Suche nach einer Dirne, die ihn ausgeraubt hat", gluckste der König zärtlich. "Was für ein guter Junge."

"Und was ist mit dem königlichen Kampfmagier?"

"Ich schickte ihn fort, damit er sich um eine heikle Angelegenheit kümmert", runzelte der König die Stirn. "Aber das war vor fast einer Woche, und ich habe seitdem kein Wort mehr von ihm gehört. Das ist irgendwie beunruhigend."

"Das ist es in der Tat. Fürst Eryl sollte nicht für so lange Zeit fort sein", entgegnete die Königin und verzog das Gesicht. "Was wäre, wenn ein feindlicher Hexenmeister kommen und uns bedrohen würde? Mein Gemahl, lacht mich nicht aus. Das ist der Grund, warum alle königlichen Häuser in Hochfels ihre magischen Gefolgsleute nah bei sich haben. Um ihre Höfe vor bösen Verzauberungen zu beschützen. Wie vor einer solchen, die unser armer Kaiser erst kürzlich erlitt."

"Von der Hand seines eigenen Kampfmagiers", gluckste der König.

"Fürst Eryl würde Euch nie in solcher Weise verraten, und dass wisst Ihr auch. Er ist in Euren Diensten, seit Ihr Fürst von Oloine gewesen seid. Ihn mit Jagar Tharn überhaupt vergleichen zu wollen, also wirklich ..." Die Königin winkte abfällig mit der Hand. "Es ist diese Sorte von Mangel an Vertrauen, die die Königreiche in ganz Tamriel ruiniert. Nun, Fürst Strale erzählte mir ..."

"Und ein weiterer Mann, der verschwand", sinnierte der König.

"Der Botschafter?" Die Königin schüttelte den Kopf. "Nein, er ist hier. Er hatte den Wunsch, die Krypten aufzusuchen und Euren edlen Ahnen zu huldigen, also führte ich ihn dorthin. Ich kann mir nicht vorstellen, was ihn so lange aufhält. Er muss frommer sein, als ich dachte."

Sie war überrascht, als der König sich aufgeschreckt erhob. "Warum habt Ihr mir das nicht gesagt?"

Bevor sie noch eine Gelegenheit zur Antwort hatte, kam der Gegenstand ihrer Unterredung durch die offene Tür in den Thronsaal. An seinem Arm war eine wunderschöne blonde Frau in einem stattlichen Kleid aus Scharlachrot und Gold, des höchsten Adels würdig. Die Königin folgte dem erschrockenen Blick ihres Gemahls und war ebenso verblüfft.

"Ich hörte, dass er mit einer der Dirnen vom Blumenfest verbandelt ist, und nicht mit einer Dame", flüsterte sie. "Guter Gott, sie ähnelt auf bemerkenswerte Art und Weise Eurer Tochter, der Gräfin Jyllia."

"Das tut sie", keuchte der König. "Oder ihrer Cousine, der Prinzessin Talara."

Auch die Adeligen im Raum flüsterten untereinander. Obwohl nur wenige schon vor 20 Jahren am Hofe waren, als die Prinzessin verschwand - vermutlich ermordet worden war, wie der Rest der königlichen Familie -, gab es doch noch ein paar ältere Staatsmänner, die sich daran erinnerten. Nicht nur im Thronsaal fiel das Wort "Talara" wie eine Beschwörung.

"Fürst Strale, würdet Ihr uns Eurer Begleiterin vorstellen?" fragte die Königin mit einem höflichen Lächeln.

"Sogleich, Eure Hoheit, aber ich fürchte, ich muss zuerst dringende Angelegenheiten mit Euch besprechen", antwortete Fürst Strale mit einer Verbeugung. "Dürfte ich um eine private Audienz bitten?"

Der König sah den kaiserlichen Botschafter an und versuchte, den Gesichtsausdruck des Mannes zu deuten. Mit einem Wink seiner Hand entließ er die Versammlung und ließ die Türen hinter ihnen schließen. Bis auf den König, die Königin, den Botschafter, ein Dutzend königlicher Wachen, und die mysteriöse Frau war niemand mehr im Audienzzimmer.

Der Botschafter zog ein Bündel alter, vergilbter Pergamente aus seiner Tasche. "Eure Hoheit, als Ihr den Thron bestiegt, nachdem Euer Bruder und seine Familie ermordet worden waren, wurde alles Wichtige, Urkunden und Testamente, selbstverständlich von den Angestellten und Ministern aufgehoben. Seine gesamten beiläufigen, unwichtigen und persönlichen Briefwechsel wurden ins Archiv gebracht, was dem Standardprotokoll entspricht. Dieser Brief war darunter."

"Was soll das Ganze, mein Herr?" dröhnte der König. "Was steht darin?"

"Nichts über Euch, Eure Majestät. In Wahrheit konnte niemand, der den Brief zur Zeit der Thronbesteigung Eurer Majestät las, seine Wichtigkeit erkennen. Es war ein Brief an den Kaiser, den der verblichene König, Euer Bruder, zur Zeit seiner Ermordung niedergeschrieben hatte. Es geht darin um einen Dieb, der früher einmal Magier-Priester im Tempel von Sethiete hier in Camlorn gewesen war. Sein Name war Jagar Tharn."

"Jagar Tharn?" die Königin lachte nervös auf. "Grundgütiger, wir sprachen gerade über ihn."

"Tharn stahl eine Menge Bücher mit mächtigen und vergessenen Zaubersprüchen und Überlieferungen über Artefakte wie den Stab des Chaos, wo er versteckt, und wie er zu benutzen sei. Neuigkeiten gelangen nur langsam in die westlichste Gegend von Hochfels, und zu der Zeit, als Euer Bruder, der König, hörte, dass des Kaisers neuer Kampfmagier ein Mann namens Jagar Tharn war, waren schon viele Jahre verstrichen. Der König hatte einen Brief angefangen, um den Kaiser vor dem Verrat seines kaiserlichen Kampfmagiers zu warnen, aber er wurde nie beendet." Fürst Strale hielt den Brief hoch. "Er trägt das Datum seiner Ermordung im Jahr 385. Vier Jahre, bevor Jagar Tharn seinen Herrn verriet und die zehnjährige Tyrannei des kaiserlichen Simulacrums begann."

"Das ist ja alles ganz interessant", bellte der König. "Aber was hat das mit mir zu tun?"

"Die Ermordung des verblichenen Königs ist nun eine Angelegenheit kaiserlichen Interesses. Und ich habe ein Geständnis Eures königlichen Kampfmagiers, Fürst Eryl."

Das Gesicht des Königs verlor jegliche Farbe: "Ihr elender Wurm! Kein Mann darf es wagen, mich zu bedrohen. Weder Ihr, noch diese Hure, noch dieser Brief werden jemals wieder das Tageslicht sehen. Wachen!"

Die königlichen Wachen zogen ihre Schwerter und drängten nach vorn. Als sie dies taten, schimmerte die Luft plötzlich hell auf und der Raum war mit kaiserlichen Schattenklingen gefüllt, angeführt von Prosuccus. Sie hatten seit Stunden dort gewartet, unsichtbar im Schatten lauernd.

"Ich verhafte Euch im Namen Seiner Kaiserlichen Hoheit, Uriel Septim VII.", sagte Strale.

Die Türen wurden geöffnet, und König und Königin mit gesenkten Köpfen hinausgeleitet. Gyna erzählte Prosuccus, wo ihr Sohn, Prinz Sylon, höchstwahrscheinlich gefunden werden konnte. Die Höflinge und Adeligen, die im Audienzzimmer gewesen waren, starrten auf die seltsame und ernste Prozession ihres Königs und ihrer Königin in ihr königliches Gefängnis. Niemand sagte ein Wort.

Als schließlich eine Stimme zu hören war, schreckten alle auf. Die Gräfin Jyllia war am Hofe angekommen. "Was geschieht hier? Wer wagt es, sich die Autorität des Königs und der Königin anzueignen?"

Fürst Strale wandte sich zu Prosuccus: "Wir möchten allein mit der Gräfin Jyllia reden. Ihr wisst, was getan werden muss."

Prosuccus nickte und ließ die Türen zum Thronsaal ein weiteres Mal schließen. Die Höflinge drückten sich gegen das Holz, gespannt, alles zu hören. Obwohl sie es nicht aussprechen konnten, so wollten sie doch genauso wie Gräfin Jyllia Erklärungen hören.

Band V

 

Mit welchem Recht verhaftet Ihr meinen Vater?" rief Fürstin Jyllia. "Was hat er getan?"

"Ich verhafte den König von Camlorn, den ehemaligen Herzog von Oloine, kraft meiner Autorität als kaiserlicher Kommandant und Botschafter", sagte Fürst Strale. "Kraft des Gesetzes des Kaisers von Tamriel, das alle provinzielle königliche Autorität aufhebt."

Gyna trat vor und versuchte, ihre Hand auf Jyllias Arm zu legen, doch sie wurde kalt zurückgewiesen. Schweigend setzte sie sich zu Füßen des Throns im nunmehr leeren Audienzsaal.

"Diese junge Dame kam zu mir, da sie nun ihr Gedächtnis voll zurück erlangt hat. Doch die Geschichte, die sie erzählte, war derart ungeheuerlich, ich konnte sie einfach nicht glauben", sagte Fürst Strale. "Doch sie war so davon überzeugt, dass ich ihr nachgehen musste. Und so sprach ich mit allen, die vor 20 Jahren hier im Palast gewesen waren, um zu sehen, ob die Geschichte irgendwie wahr sein könnte. Natürlich fand zum Zeitpunkt der Ermordung des Königs und der Königin und des Verschwindens der Prinzessin eine umfassende Untersuchung statt, doch ich stellte diesmal andere Fragen. Fragen über die Beziehung zwischen den beiden kleinen Kusinen, zwischen Fürstin Jyllia Raze und der Prinzessin."

"Ich habe allen immer und immer wieder gesagt, dass ich mich aus dieser Zeit meines Lebens an überhaupt nichts mehr erinnere", sagte Jyllia, und Tränen standen ihr in den Augen.

"Das weiß ich. Es bestand für mich niemals ein Zweifel, dass Ihr einen furchtbaren Mord miterlebt habt und dass Euer Gedächtnisschwund, wie auch ihrer", sagte Fürst Strale und deutete auf Gyna, "vollkommen echt ist, Die Geschichte, die ich von den Bediensteten und anderen Leuten im Palast hörte, war, dass die kleinen Mädchen unzertrennlich waren. Sie hatten keine anderen Spielgefährten, und da der Platz der Prinzessin bei ihren Eltern war, war die kleine Fürstin Jyllia ebenfalls immer dabei. Als der Meuchelmörder kam, um die königliche Familie zu ermorden, befanden sich der König und die Königin in ihrem Schlafgemach, und die Mädchen spielten im Thronsaal."

"Als mein Gedächtnis zurückkehrte, war es, als ob sich eine versiegelte Truhe öffnete", sagte Gyna feierlich. "Alles war so klar und detailliert, als ob es gestern und nicht vor 20 Jahren geschehen sei. Ich saß auf dem Thron und spielte Kaiserin, und Ihr wart hinter dem Baldachin verborgen und gabt vor, Ihr säßet in einem Kerker, in den ich Euch verbannt hatte. Ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte, stürzte aus dem königlichen Schlafgemach in den Raum, und seine Klinge war blutgetränkt. Er ging auf mich los, und ich rannte um mein Leben. Ich erinnere mich, dass ich auf den Baldachin zu rannte, doch dann sah ich Euer Gesicht, starr vor Furcht, und ich wollte ihn nicht zu Euch führen. So rannte ich zum Fenster.

Wir waren schon früher draußen am Schloss herumgeklettert, nur so zum Spaß, das war eine der ersten Erinnerungen, die zurückkamen, als ich mich an die Klippe klammerte. Ihr und ich auf der Schlossmauer, und der König, der zu mir heraufrief und mir sagte, wie ich hinabklettern sollte. Doch an jenem Tag konnte ich mich nicht halten, ich zitterte zu sehr. Ich fiel einfach und landete im Fluss.

Ich weiß nicht, ob es allein das Grauen dessen war, was ich gesehen hatte, oder noch die Wirkung des Sturzes und der Kälte des Wassers hinzukam, doch in meinem Kopf herrschte plötzlich völlige Leere. Als ich mich schließlich aus dem Fluss schleppte, viele Meilen entfernt, hatte ich keine Ahnung mehr, wer ich war. Und so ist es auch geblieben", lächelte Gyna. "Bis jetzt."

"Also seid Ihr Prinzessin Talara?" rief Jyllia.

"Lasst mich mehr erklären, bevor sie diese Frage beantwortet, denn die schlichte Antwort würde Euch nur verwirren, so wie sie mich verwirrte", sagte Fürst Strale. "Der Meuchelmörder wurde gefangen, bevor er aus dem Palast fliehen konnte - um die Wahrheit zu sagen, er muss gewusst haben, dass man ihn fangen würde. Er gestand die Morde an der königlichen Familie auf der Stelle. Die Prinzessin, so sagte er, hatte er aus dem Fenster in den sicheren Tod geworfen. Ein Diener unten hörte den Schrei und sah etwas am Fenster vorbeifliegen, und so wusste man, dass es stimmte.

Erst mehrere Stunden später wurde die kleine Fürstin Jyllia von ihrer Amme Ramke gefunden, wie sie sich hinter dem Baldachin verbarg, bedeckt mit Staub, zitternd vor Furcht und völlig außer Stande zu reden. Ramke war äußerst fürsorglich um Euch besorgt", sagte Strale und nickte Jyllia zu. "Sie bestand darauf, Euch sofort in Euer Zimmer zu bringen, und schickte die Nachricht an den Herzog von Oloine, dass die königliche Familie tot und seine Tochter Zeugin der Morde gewesen sei, doch überlebt habe."

"Ich beginne, mich an etwas dieser Dinge zu erinnern", sagte Jyllia verwundert. "Ich erinnere mich daran, im Bett zu liegen und dass Ramke mich tröstete. Ich war so verwirrt und konnte mich nicht konzentrieren. Ich erinnere mich, dass ich nur wollte, dass alles ein Spiel sein sollte, warum, weiß ich nicht. Und dann erinnere ich mich, dass man mich einpackte und ins Irrenhaus brachte."

"Es wird alles bald zurückkommen", lächelte Gyna. "Versprochen. So habe ich auch angefangen, mich zu erinnern. Erst hatte ich nur ein einziges Detail, und dann brach die Flut los."

"Das ist alles", Jyllia begann, vor Frustration zu schluchzen. "Ich erinnere mich an nichts anderes als Verwirrung. Nein, ich erinnere mich auch daran, dass Papa mich nicht einmal eines Blicks würdigte, als man mich wegbrachte. Und ich erinnere mich, dass es mir gleichgültig war, so wie alles andere."

"Es war für alle eine verwirrende Zeit, und besonders für kleine Mädchen. Ganz besonders für kleine Mädchen, die durchgemacht haben, was ihr beiden durchgemacht habt", sagte Fürst Strale mitfühlend. "Soweit ich es verstehe, verließ der Herzog, sobald er Ramkes Nachricht erhielt, seinen Palast in Oloine, gab Befehl, dass Ihr in ein privates Sanatorium geschickt werden solltet, bis Ihr Euch von Eurem Trauma erholt hättet, und machte sich mit seiner persönlichen Wache daran, den Meuchelmörder zu foltern, um Informationen zu gewinnen. Als ich hörte, dass niemand außer dem Herzog und seiner persönlichen Wache den Meuchelmörder nach seinem anfänglichen Geständnis gesehen hatte, und dass niemand außer dem Herzog und seiner Wache anwesend waren, als der Attentäter bei einem Fluchtversuch getötet wurde, erschien mir das extrem bedeutsam.

Ich sprach mit Fürst Eryl, von dem ich wusste, dass er zugegen gewesen war, und ich musste ihn täuschen und vorgeben, dass ich mehr Beweise hätte, als es tatsächlich der Fall war. Ich erzielte die erhoffte Reaktion, obwohl es ein gefährlicher Spielzug war. Schließlich gestand er das, was ich bereits als die Wahrheit kannte.

Der Meuchelmörder", Fürst Strale hielt inne und schaute zögernd in Jyllias Augen, "war vom Herzog von Oloine angeheuert worden, um die königliche Familie zu ermorden, einschließlich der Prinzessin als der Thronfolgerin, so dass die Krone auf ihn und seine Kinder übergehen konnte."

Jyllia starrte Fürst Strale entsetzt an. "Mein Vater ..."

"Dem Attentäter war versichert worden, dass man ihn, sobald der Herzog ihn in Gewahrsam hätte, bezahlen und dann einen Ausbruch aus dem Kerker arrangieren würde. Der Schurke wählte den falschen Zeitpunkt, gierig zu werden und mehr Gold zu verlangen. Der Herzog beschloss, dass es billiger wäre, ihn zum Schweigen zu bringen, und so ermordete er ihn an Ort und Stelle, so dass der Mann niemals weitererzählen könnte, was wirklich geschehen war." Fürst Strale zuckte die Achseln. "Kein allzu tragischer Verlust, dieser Mord. Nach einigen Jahren kehrtet Ihr dann aus dem Sanatorium zurück, noch etwas mitgenommen, doch sonst wieder ganz normal, bis auf die komplette Gedächtnislücke, die Eure Kindheit umfasste. Und in der Zwischenzeit hatte der ehemalige Herzog von Oloine den Platz seines Bruders als König von Camlorn eingenommen. Kein geringfügiges Manöver."

"Nein", sagte Jyllia leise. "Er muss sehr beschäftigt gewesen sein. Er heiratete ein zweites Mal und hatte ein anderes Kind. Niemand bis auf Ramke hat mich je in diesem Sanatorium besucht."

"Wenn er dich besucht und gesehen hätte", sagte Gyna, "hätte diese Geschichte ganz anders verlaufen können."

"Was meinst du damit?" fragte Jyllia.

"Das ist das Erstaunlichste", sagte Fürst Strale. "Seit langem stellt man sich die Frage, ob Gyna Prinzessin Talara sei. Als ihr Gedächtnis zurückkehrte und sie mir erzählte, an was sie sich erinnerte, habe ich verschiedene Teilbeweise zusammengefügt. Betrachtet diese Tatsachen.

Ihr beide seht Euch erstaunlich ähnlich, selbst nach zwanzig Jahren, in denen Ihr sehr unterschiedliche Leben geführt habt, und als kleine Mädchen und Spielgefährtinnen saht Ihr beinahe identisch aus.

Zum Zeitpunkt des Attentats sah der Meuchelmörder, der zuvor noch nie am Königshof gewesen war, nur ein Mädchen auf dem Thron, das er für sein Opfer hielt.

Die Frau, die Fürstin Jyllia fand, war ihre Amme Ramke, eine Frau mit labilem Verstand und fanatischer Hingabe an ihren Schützling - dieser Typ könnte niemals die Möglichkeit akzeptieren, dass ihr geliebtes kleines Mädchen dasjenige gewesen war, das verschwand. Die Amme war die einzige Person, die sowohl Prinzessin Talara als auch Fürstin Jyllia kannte, und Euch besuchte, während Ihr im Sanatorium wart.

Und schließlich", sagte Fürst Strale, "betrachtet die Tatsache, dass, als Ihr aus dem Sanatorium an den Hof zurückkehrtet, fünf Jahre vergangen waren und Ihr von einem Kind zu einer jungen Dame herangewachsen wart. Ihr saht vertraut aus, doch nicht ganz so, wie Eure Familie Euch im Gedächtnis hatte, was ja auch nur natürlich ist."

"Ich verstehe nicht", rief das arme Mädchen mit aufgerissenen Augen, da es durchaus verstand. Sein Gedächtnis kam zurück wie eine furchtbare Flut.

"Lass es mich so erklären", sagte ihre Cousine und nahm sie in die Arme. "Ich weiß jetzt, wer ich bin. Mein wirklicher Name ist Jyllia Raze. Der Mann, der da verhaftet wurde, war mein Vater, der Mann, der den König ermorden ließ - deinen Vater. DU bist Prinzessin Talara."

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.12.2018

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet dem Bezwinger von Mannimarco, dem Wurmkönig

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