7. Eisherbst 3Ä 397 Die Kaiserstadt, Cyrodiil
Es schien, als sei der Palast schon immer der Sitz der Atrius-Baubehörde gewesen, jener Gruppe von Schreibern
und Grundstücksverwaltern, die fast jedes Schriftstück zu den wichtigsten Bauwerken des Kaiserreiches verfasst und
beglaubigt hatte. Der Palast stand seit Kaiser Magnus' Regentschaft, also seit über 250 Jahren, mit seiner schlichten
Fassaden und seinen schmucklosen Hallen an einem kleinen, aber durchaus ansehnlichen Platz in der Kaiserstadt.
Hier arbeiteten ambitionierte, durchsetzungsstarke Frauen und Männer aus der Mittelschicht, gleichzeitig aber auch
einige, wie Decumus Scotti selbstgefällig und schon etwas älter waren. Niemand hätte sich eine Welt ohne die
Baubehörde vorstellen können, am wenigsten Scotti. Um genau zu sein, konnte er sich keine Welt vorstellen, in der er
nicht der Kommission angehörte.
"Fürst Atrius ist sich Eurer Leistungen sehr wohl bewusst", sagte der Bürovorsteher und schloss die Tür von die
Scottis Büro hinter sich. "Aber Ihr wisst sicher um die Schwierigkeiten der letzten Zeit."
"Ja", sagte Scotti steif.
"Fürst Vanechs Männer stehen mit uns in starker Konkurrenz und wir müssen effizienter werden, wenn wir überleben
wollen. Unglücklicherweise bedeutet das auch, dass wir uns von einigen unserer besten, aber leider derzeit am
wenigsten produktiven Mitarbeiter trennen müssen."
"Ich verstehe. Da kann man wohl nichts machen."
"Ich freue mich über Ihr Verständnis", sagte der Bürovorsteher mit einem verkrampften Lächeln, während er sich zu
gehen anschickte. "Bitte räumen Sie Ihr Büro ohne Verzug."
Scotti machte sich daran, die Übergabe an seinen Nachfolger zu planen. Es würde vermutlich der junge Imbrallius
sein, der die meisten seiner Aufgaben von jetzt an in die Hand nehmen würde. So würde alles seinen natürlichen
Weg gehen, dachte Scotti in einem fast philosophischen Anflug. Dieser Knabe wusste einfach, wo sich Geschäfte
machen ließen. Scotti fragte sich, was der Kerl wohl mit den Verträgen für die neue Statue der heiligen Alessia
machen würde, um die sich der Tempel des Einen bemüht hatte. Vermutlich würde er einen Buchungsfehler
erfinden, ihn auf seinen alten Vorgänger Decumus Scotti schieben und dann zusätzliche Kosten für dessen
Behebung in Rechnung stellen.
"Ich habe einen Brief für Decumus Scotti, Angestellter der Atrius-Baubehörde."
Scotti sah auf. Ein fettgesichtiger Bote hatte das Büro betreten und streckte ihm nun eine versiegelte Schriftrolle
entgegen. Er gab dem Jungen eine Septime und öffnete die Schriftrolle. Anhand der unbeholfenen Federführung,
der grauenhaften Schreibweise und Grammatik und den mehr als unprofessionellen Formulierungen erkannte er
schnell den Autor des Schriftstückes: Liodes Jurus, ein anderer Büroangestellter, der die Kommission verlassen
musste, nachdem man ihm unlautere Geschäftspraktiken vorgeworfen hatte.
Lieber Schkotti,
wie ich mir vorstellen kann, frugst du dich schon immer, was aus mir geworden ist. Am wenigsten hättest du mich
vielleicht drausen in den Wäldern erwatet. Aber genau da bin ich. Ha ha. Wenn du schlau bist und viel Geld für Fürst
Atrius vertienen willst (und für dich selber, ha ha), dann kommst du auch nach Vallinwalt. Solltest du die politichen
Geschähnisse der letzten Jahre mitverfolgt haben oder auch nicht, so weist du sicherlich, dass zwischen den
Boshmer und deren Nachbarn Elsweyre seit zwei Jahren Krieg ist. Die Dinge beruhigen sich langtsam und es gibt
eine Menge von Dingen, die neu gebaut werden müssen.
Ich habe hier mehr Arpeit, als ich bewältigen kann. Aber ich brauche jemanden, mit dem man represäntiren kann, um
bei neuen Auftraggebern einen Fus in die Türe zu bekommen. Und dieserwelche bist du mein Freund. Komm uhnt
treffe misch in M'tter Paskos Schennke in Falinnesti, Vallinwald. Ich werte zwei Wochen hier sein und es soll dein
Schaden nicht sein.
- Jurus
PS: Bring eine Wagenladung Holz mit, wenns geht.
"Was habt Ihr da, Scotti?" fragte eine Stimme.
Scotti erschrak. Es war Imbrallius. Mit seinem beneidenswert hübschen Gesicht lugte er durch die halb geöffnete Tür.
Dabei lächelte er dieses süße Lächeln, mit dem er selbst die Herzen hart gesottener Steinmetze und Auftraggeber zu
erweichen vermochte. Scotti steckte den Brief in seine Jackentasche.
"Eine Privatangelegenheit", schniefte er. "Ich habe hier in ein paar Minuten aufgeräumt."
"Ich will Euch nicht hetzen", sagte Imbrallius, während er ein paar leere Vertragsformulare von Scottis Schreibtisch
nahm. "Ich habe nur gerade einen Stapel davon benutzt, die Hände meines jungen Schreibers verkrampfen sich
schon. Ich dachte mir, dass Ihr sicherlich ein paar davon entbehren könnt."
Der Kerl verschwand. Scotti nahm den Brief heraus und las ihn ein weiteres Mal. Er dachte über sein Leben nach -
etwas, das er äußerst selten tat. Es kam ihm wie ein graues Meer vor, von einer unüberwindbaren, schwarzen Mauer
bedroht. In dieser Mauer sah er nur einen winzigen Durchgang. Schnell und ohne großes Nachdenken nahm er ein
Dutzend Blankoverträge, auf denen in goldener Prägung "ATRIUS-BAUBEHÖRDE, KAISERLICHER
HOFLIEFERANT" zu lesen war und versteckte sie in seinen persönlichen Gegenständen.
Am nächsten Tag trat er mit einem schwindelerregenden Mangel an Unentschlossenheit sein Abenteuer an. Er
reservierte einen Platz in der Karawane nach Valenwald, dem einzigen bewachten Transportmittel, das die Kaiserstadt
in dieser Woche nach Südosten verlassen würde. Obwohl ihm nur wenige Stunden zum Packen blieben, dachte er
doch daran, eine Wagenladung Holz zu erwerben.
"Das Pferd für den Wagen kostet aber extra", sagte der Anführer der Karawane grimmig.
"Das dachte ich mir bereits", antwortete Scotti, während er sein bestes Imbrallius-Grinsen aufsetzte.
An diesem Nachmittag fuhren insgesamt zehn Wagen durch die cyrodiilische Landschaft. An Feldern mit Wildblumen,
sich sanft in der Entfernung wiegenden Wäldern und kleinen, freundlich wirkenden Dörfern vorbei. Der Hufschlag der
Pferde erinnerte Scotti daran, dass die Straße von der Atrius-Baubehörde errichtet worden war. Er selbst hatte fünf der
dafür notwendigen 18 Formulare bearbeitet.
"Sehr schlau von Euch, Holz mitzunehmen", sagte Bretone mit grauen Bartstoppeln, der neben ihm auf dem Wagen
saß. "Ihr müsst Geschäftsmann sein."
"In gewisser Weise schon", erwiderte Scotti - auf eine Art, von der er hoffte, dass sie besonders mysteriös wirken
würde. Dann stellte er sich vor: "Decumus Scotti."
"Gryf Mallon", entgegnete der Mann. "Ich bin ein Dichter. Um genau zu sein, ein Übersetzer alter bosmerischer
Literatur. Vor zwei Jahren erforschte ich gerade neu entdeckte Fragmente des Mnoriad Pley Bar, als der Krieg
ausbrach und ich fliehen musste. Das Mnoriad ist Euch sicherlich bekannt, sofern Ihr den Grünen Pakt kennt."
Scotti, der sich fragte, ob er in seinem Leben jemals ähnlich sinnloses Geschwafel gehört hatte, nickte.
"Ich möchte natürlich nicht behaupten, dass das Mnoriad genauso bekannt ist wie das Meh Ayleidion oder auch nur
annähernd so alt ist wie das Dansir Gol. Ich bin allerdings der Meinung, dass es Einblicke in die Natur der
bosmerischen Gedankenwelt erlaubt, die von nicht unerheblicher Bedeutung sind. Die Aversion der Waldelfen, ihr
eigenes Holz zu schlagen oder Pflanzen zu essen, und dann im Gegensatz dazu das Paradoxon, dass sie diese
Dinge von anderen Rassen kaufen, kann meiner Auffassung nach in direkte Verbindung mit einer Passage aus dem
Mnoriad gebracht werden." Mallon begann seine Unterlagen nach dem angesprochenen Text zu durchwühlen.
Zu Scottis großer Erleichterung hielt die Karawane schon bald an, um die Nacht über zu rasten. Sie befanden sich
hoch auf einer Klippe an einem grauen Fluss und vor ihnen lag das große Tal von Valenwald. Nur am Schrei der
Seevögel konnte man die Anwesenheit des Ozeans im Westen erahnen: Hier stand der Wald so hoch und weit, dass
er wie in sich verschlungen eine Art Netz bildete, das, in Äonen von Jahren gewoben, ein Durchkommen unmöglich
machte. Einige kleinere Bäume, deren niedrigste Äste in 15 Meter vom Erdboden entfernt wuchsen, umrandeten das
Zeltlager auf der Klippe. Dieser Anblick war Scotti so fremd, dass ihm schon der Gedanke den Schlaf raubte, tiefer in
die Wälder vorzustoßen.
Glücklicherweise hatte Mallon einen weiteren Akademiker mit einer Neigung für die lyrischen Rätsel alter Kulturen
gefunden. Bis tief in die Nacht hinein zitierte er bosmerische Verse im Original und in seiner eigenen Übersetzung. Er
sprach mal lauter und mal leiser, hob und senkte seine Stimme, wann immer der Text es seiner Meinung nach
verlangte. Scotti wurde immer schläfriger, bis ihn ein lautes Holzknacken empor schrecken lies.
"Was war das?"
Mallon lächelte: "Schön, nicht wahr? 'Zusammentreffen im listigen Nebel des mondlosen Spiegels, ein Tanz im Feuer
...'"
"In den Bäumen über uns bewegen sich riesige Vögel", flüsterte Scotti und deutete dabei auf die dunklen Umrisse
über ihren Köpfen.
"Darüber würde ich mir keine Gedanken machen", sagte Mallon, von der Ignoranz seines Publikums leicht irritiert.
"Jetzt lauschen wir dem Dichter, wie er Herma-Moras Bittgebet im achtzehnten Vers des vierten Buches vorträgt."
Einige der dunklen Schatten in den Bäumen erinnerten an auf Ästen sitzende Vögel, andere schlängelten sich wie
Schlangen umher und wieder andere standen aufrecht wie Menschen. Während Mallon seine Verse rezitierte,
beobachtete Scotti, wie sich die Gestalten von Ast zu Ast schwangen und dabei für Wesen ohne Flügel schier
unmögliche Distanzen überwanden. Sie sammelten sich in Grüppchen und wechselten die Stellung, bis sie jeden
Baum, der das Lager umgab, besetzt hatten. Plötzlich stürzten sie sich zu Boden.
"Mara!" schrie Scotti. "Sie fallen auf uns wie Hagelkörner!"
"Vermutlich Samenkapseln", antwortete Mallon schulterzuckend, ohne sich überhaupt umzudrehen. "Einige dieser
Bäume verfügen wirklich über erstaunliche ..."
Im Lager brach totales Chaos aus. Aus den Wagen schlugen Flammen, die Pferde wieherten laut unter tödlichen
Schlägen. Fässer mit Wein, Wasser und erlesenen Likören zerbrachen, ihr Inhalt ergoss sich auf den Boden. Ein
behänder Schatten schoss an Scotti und Mallon vorbei, um Säcke voller Korn und Gold mit unglaublicher Anmut und
Geschwindigkeit an sich zu reißen. Scotti erhaschte einen kurzen Blick auf eines der Wesen, als in der Nähe eine
Flamme zum Himmel züngelte: eine schlanke Kreatur mit spitzen Ohren, großen gelben Augen, scheckigem Fell und
einem Schwanz, der vom Aussehen her einer Peitsche ähnelte.
"Werwölfe", wimmerte er und er schreckte zurück.
"Cathay-Raht", ächzte Mallon. "Viel schlimmer. Verwandt mit Khajiit oder so was Ähnlichem. Sie sind gekommen, um
zu plündern."
"Seid Ihr sicher?"
So schnell wie die Kreaturen zugeschlagen hatten, verschwanden sie auch wieder - noch bevor dem Begleitschutz
der Karawane, einem Kampfmagier und einem Ritter, überhaupt klar wurde, was geschehen war. Mallon und Scotti
rannten zum Abgrund und sahen, wie dreißig Meter unter ihnen Gestalten aus dem Wasser traten. Sie schüttelten sich
und verschwanden blitzschnell im Wald.
"Werwölfe sind nicht so beweglich", sagte Mallon. "Das waren mit Sicherheit Cathay-Raht. Diese verdammten Diebe.
Stendarr sei Dank, dass sie nicht den Wert meiner Notizbücher kannten. Das wäre ein schrecklicher Verlust gewesen.
Es war ein vollständiger Verlust. Die Cathay-Raht hatten in diesen wenigen Minuten fast jeden wertvollen
Gegenstand der Karawane gestohlen oder zerstört. Decumus Scottis Wagenladung Holz, mit der er, wie er gehofft
hatte, mit den Bosmern Handel treiben wollte, war in Brand gesteckt und dann über den Steilhang gestürzt worden.
Seine Kleidung und Verträge waren zerrissen und in den Schlamm, der mittlerweile aus Schmutz und verschüttetem
Wein bestand, geworfen. Alle Pilger, Kaufleute und Abenteurer der Gruppe stöhnten und weinten, während sie die
Überreste ihrer Habseligkeiten in der aufgehenden Dämmerungssonne aufsammelten.
"Ich erzähle besser niemandem, dass ich es geschafft habe, meine Aufzeichnungen für das Mnoriad Pley Bar zu
retten", flüsterte der Dichter Gryf Mallon. "Sie würden sich vielleicht gegen mich richten."
Scotti verwarf aus Höflichkeit die Gelegenheit, Mallon zu sagen, wie wenig Wert er selbst auf den Besitz des Mannes
legte. Stattdessen zählte er die Münzen in seinem Geldbeutel. 34 Draken. Sehr wenig, wahrhaft, für einen
Unternehmer, der ein neues Geschäft eröffnen möchte.
"Hey!" erklang ein Schrei aus dem Wald. Eine kleine Gruppe Bosmer tauchte aus dem Dickicht auf, gekleidet in
Lederrüstung und Waffen tragend. "Freund oder Feind?"
"Keins von beidem", knurrte der Leiter des Konvois.
"Ihr müsst die Cyrodiil sein", lachte der Führer der Gruppe, ein gerippedünner Jüngling mit einem spitzen
Fuchsgesicht. "Wir hörten, dass Ihr unterwegs seid. Offensichtlich haben das auch unsere Feinde gehört."
"Ich dachte, der Krieg sei vorbei", murmelte einer der ruinierten Kaufleute aus der Karawane.
Der Bosmer lachte erneut: "Keine Kriegshandlung. Nur ein kleines Grenzgeschäft. Ihr geht nach Falinesti?"
"Ich nicht", sagte der Leiter des Konvois und schüttelte den Kopf. "So weit es mich betrifft, ist meine Aufgabe erledigt.
Keine Pferde mehr, keine Karawane mehr. Nur ein fetter Profitverlust für mich."
Die Männer und Frauen drängten sich um den Mann, protestierend, bedrohend, bettelnd, aber er lehnte es ab,
Valenwald zu betreten. Wenn dies die neuen Friedenszeiten seien, sagte er, würde er eher zum nächsten Krieg
zurückkommen.
Scotti versuchte einen anderen Weg und trat an den Bosmer heran. Er sprach mit einer freundschaftlichen, aber
Respekt einflößenden Stimme - jene Stimme, die er in Verhandlungen mit den nörgeligen Zimmermännern benutzte:
"Würdet Ihr eventuell in Erwägung ziehen, mich nach Falinesti zu geleiten? Ich bin ein Vertreter einer wichtigen
kaiserlichen Organisation, Atrius' Baubehörde. Und ich kam her, um einige Probleme, die der Krieg mit den Khajiit in
Eure Provinz gebracht hat, zu beheben und zu mildern. Patriotismus ..."
"Zwanzig Draken, und Ihr müsst Euer Gepäck selbst tragen, falls Ihr noch welches habt", antwortete der Bosmer.
Scotti dachte darüber nach, dass die Verhandlungen mit den nörgeligen Zimmermännern genauso selten zu seiner
Zufriedenheit verliefen.
Sechs unternehmungslustige Leute besaßen genug Gold für die Bezahlung. Unter denjenigen ohne Gold war der
Dichter, der Scotti um Hilfe ersuchte.
"Es tut mir leid, Gryf, ich habe nur noch 14 Draken übrig. Nicht einmal genug für ein anständiges Zimmer, wenn ich
erst in Falinesti sein werde. Ich würde Euch helfen, wenn ich nur könnte", antwortete Scotti und versuchte, sich selbst
vom Wahrheitsgehalt des Gesagten zu überzeugen.
Die sechsköpfige Gruppe und ihre Bosmer-Eskorte machte sich an den Abstieg, einen felsigen Pfad den Steilabhang
hinunter. Binnen einer Stunde befanden sie sich tief in den Dschungeln von Valenwald. Ein unendlicher Baldachin
aus braunen und grünen Farbschattierungen verdeckte den Himmel. Herabgefallene Blätter formten einen tiefen, von
Würmern befallenen See der Zersetzung unter ihren Füssen. Durch diesen Schleim watend legten sie mehrere
Kilometer zurück. Für die folgenden schlugen sie einen labyrinthartigen Pfad ein, der über herab gefallene Zweige
und durch tief hängende Äste von Riesenbäumen führte.
Während der ganzen Zeit, Stunde für Stunde, lief der unermüdliche bosmerische Führer so schnell, dass die Cyrodiil
sich abmühen mussten, nicht zurückgelassen zu werden. Ein rotgesichtiger Kaufmann mit kurzen Beinen stolperte
über einen verrotteten Zweig und fiel hin. Seine Mitprovinzler mussten ihm aufhelfen. Die Bosmer pausierten nur
einen Moment lang und ihre Augen blickten unaufhörlich in die Bäume über ihnen, bevor sie in ihrem üblichen
Tempo weitereilten.
"Weswegen sind sie so nervös?" schnaufte der Kaufmann gereizt. "Noch mehr Cathay-Raht?"
"Macht Euch doch nicht lächerlich!" lachte der Bosmer nicht gerade überzeugend. "Khajiit? So weit in Valenwald? In
Friedenszeiten? Das würden sie nie wagen."
Als die Gruppe so weit über den Sumpf gelangt war, dass der Gestank sich weitgehend aufgelöst hatte, spürte Scotti
plötzlich quälende Hungergefühle. Er war, gemäß dem Brauch der Cyrodiil, an vier Mahlzeiten pro Tag gewöhnt.
Stunden voller andauernder Anstrengung ohne Nahrung gehörten nicht zu seiner Lebensweise als gut bezahlter
Angestellter. Er fühlte sich einem Delirium nah und wog ab, wie lange sie schon durch den Dschungel gestapft sein
mochten. Zwölf Stunden? 20? Eine Woche? Zeit war bedeutungslos. Sonnenlicht drang nur vereinzelt durch die
Blätterdecke. Phosphoreszierender Schimmel an den Bäumen und im Dreck darunter bildete die einzige regelmäßige
Lichtquelle.
"Wäre es irgendwie möglich, Rast zu machen und zu essen?" brüllte er dem Führer weiter vorne zu.
"Wir sind nahe Falinesti", hallte dessen Antwort zurück. "Jede Menge Nahrung dort."
Der Pfad stieg noch für mehrere Stunden weiter an, quer über einen Haufen gefällter Baumstämme, und erhob sich
zu den ersten und dann zweiten Ästen der Baumgrenze. Als sie um eine lange Kurve bogen, fanden die Reisenden
sich auf halbem Weg hoch zu einem Wasserfall, der mehr als 30 Meter in die Tiefe fiel. Niemand hatte noch die
Energie, sich zu beschweren, als sie begannen, sich an den Steinhaufen hochzuziehen, quälender Meter um Meter.
Das bosmerische Geleit verschwand in den Nebel, aber Scotti setzte seine Kletterpartie fort, bis kein Stein mehr übrig
war. Er wischte sich den Schweiß und das Flusswasser aus den Augen.
Falinesti breitete sich am Horizont vor ihm aus. Zu beiden Seiten des Flussufers erstreckte sich die mächtige Graht-
Eichenstadt, mit Hainen und Plantagen kleinerer Bäume, die sich an sie drängten wie Bittsteller an ihren König. Mit
weniger spektakulären Nachbarn Skala wäre der Baum, der die wandernde Stadt formte, außergewöhnlich gewesen:
knorrig und gewunden, mit einer prächtigen goldgrünen Krone, überladen mit Ranken und mit leuchtendem Saft. Mit
1600 Metern Höhe und der Hälfte an Breite, war es das prachtvollste, das Scotti jemals gesehen hatte. Wenn er kein
hungernder Mann mit der Seele eines Angestellten gewesen wäre, hätte er gesungen.
"Hier wären wir", sagte der Führer der Eskorte. "Kein langer Marsch. Ihr solltet froh sein, dass Winter ist. Während des
Sommers befindet sich die Stadt im äußersten Süden der Provinz."
Scotti wusste nicht, wie er seinen Weg fortsetzen sollte. Der Anblick der senkrechten Metropole, in der Menschen wie
Ameisen unterwegs waren, verwirrte seine gesamten Sinne.
"Ihr kennt nicht zufällig eine Herberge namens ...", er hielt inne und zog dann Jurus Brief aus seiner Tasche.
"Irgendetwas wie 'Mutter Paskos Taverne'?"
"Mutter Pascost?" Der anführende Bosmer lachte sein gewohnt überhebliches Gelächter. "Ihr wollt doch nicht dort
unterkommen? Besucher bevorzugen stets die Aysia Halle in den Spitzenästen. Teuer, aber sehr nett."
"Ich treffe jemanden in Mutter Pascosts Taverne."
"Wenn Ihr Euch zum Gehen entschieden, lasst Euch bis zum Havelsturz mitnehmen und fragt dort nach dem Weg.
Verlauft Euch bloß nicht und schlaft auch nicht an der westlichen Kreuzung ein."
Dies erschien den Freunden des Jünglings als ein sehr witziger Scherz, also überquerte Scotti mit ihrem hallenden
Gelächter im Rücken das gewundene Wurzelsystem am Fuß von Falinesti. Der Boden war übersät mit Blättern und
Müll, und von Zeit zu Zeit fiel ein Glas oder ein Knochen von weit oben herunter, weshalb er mit schiefem Hals ging,
um früh genug gewarnt zu sein. Ein kompliziertes Netzwerk von Plattformen - verankert an dicken Ranken und bedient
von Männern mit Armen dick wie ein Ochsenbauch - rutschte mit vollendeter Anmut den glatten Stamm der Stadt
hoch und hinunter. Scotti näherte sich dem nächsten Burschen auf einer der Plattformen, der faul an einer Glaspfeife
zog.
"Würdet Ihr mich wohl zum Havelsturz bringen?"
Der Mer nickte und binnen Minuten war Scotti 70 Meter hoch in der Luft, an der Gabelung zwischen zwei mächtigen
Ästen. Gekräuselte Moosflechten erstreckten sich uneben über die Gabel und formten ein gemeinsames Dach für
mehrere Dutzend kleiner Gebäude. In der Gasse waren nur wenige Seelen, aber hinter der Biegung weiter vorn
konnte er die Geräusche von Menschen und Musik hören. Scotti gab dem Fährmann der Falinesti-Plattform eine
Drake und fragte ihn nach der Lage von Mutter Pascosts Taverne.
"Immer geradeaus, Sir, aber Ihr werdet dort niemanden vorfinden", erklärte der Fährmann und zeigte in Richtung des
Lärms. "Morndas feiert jeder in Havelsturz ein wildes Gelage."
Scotti wanderte vorsichtig über die enge Straße. Obwohl der Boden sich so massiv anfühlte wie die Marmoralleen der
Kaiserstadt, gab es doch rutschige Spalten in der Borke, die den verheerenden Abgrund in den Fluss freigaben. Er
nahm sich einen Augenblick Zeit, um sich zu setzen und auszuruhen und sich an den Anblick aus dieser Höhe zu
gewöhnen. Es war sicherlich ein wunderschöner Tag, aber Scotti brauchte nur wenige Minuten zu sinnieren, bevor
er alarmiert wieder aufschreckte. Ein buntes Floß unter ihm, das flussabwärts verankert war, hatte sich deutlich um
einige Zentimeter bewegt, während er es beobachtet hatte. Aber es hatte sich gar nicht bewegt. Er hatte sich bewegt.
Zusammen mit allem anderen um ihn herum. Es war keine Metapher: Die Stadt Falinesti wanderte. Und, gemessen
an ihrer Größe, bewegte sie sich schnell.
Scotti erhob sich in eine Rauchwolke hinein, die hinter der Biegung hervor kroch. Es war der delikateste Braten, den
er jemals gerochen hatte. Der Angestellte vergaß seine Angst und rannte los.
Das "wilde Gelage", wie es der Fährmann genannt hatte, fand auf einer riesigen Plattform statt, die am Baum
festgebunden und groß genug für den Marktplatz jeder anderen Stadt wäre. Eine fantastische Ansammlung der
erstaunlichsten Leute, die Scotti jemals gesehen hatte, waren Schulter an Schulter aneinandergedrängt: Viele aßen,
noch viel mehr tranken, und einige tanzten zur Musik eines Lautenspielers und Sängers, die auf einem Zweig über
der Menge saßen. Es waren weitgehend Bosmer, wahre Einheimische, gekleidet in farbenfrohes Leder und
Knochen, mit einer kleinen Minderheit von Orks. Durch das Gewühl wirbelnd, tanzend und einander anschreiend
waren furchtbare Affenmenschen unterwegs. Die wenigen Köpfe, die aus der Menge herausragten, gehörten nicht,
wie Scotti zuerst dachte, zu sehr großen Menschen, sondern zu einer Familie Zentauren.
"Mögt Ihr etwas Hammelfleisch?" fragte ein alter, runzliger Mer, der ein riesiges Tier auf einigen glühendheißen
Steinen briet.
Scotti bezahlte ihm schnell eine Drake und verschlang die Keule, die ihm gegeben worden war. Und dann eine
weitere Drake und eine weitere Keule. Der Alte lachte leise, als Scotti sich fast an einem Stück Knorpel verschluckte,
und gab ihm einen Krug mit einem schäumenden weißen Getränk. Er trank es und fühlte ein Beben durch seinen
Körper strömen, als ob er gekitzelt würde.
"Was ist das?" fragte Scotti.
"Jagga. Gegorene Schweinemilch. Ich kann Euch einen Krug davon und ein wenig mehr Hammelfleisch für eine
weitere Drake geben."
Scotti willigte ein, bezahlte, schlang das Fleisch hinunter, und nahm den Krug mit, als er sich unter die Menge
mischte. Sein Mitarbeiter Liodes Jurus, der Mann, der ihn gebeten hatte, nach Valenwald zu kommen, war nirgends
zu sehen. Als der Krug zu einem Viertel leer war, hörte Scotti auf, nach Jurus zu suchen. Als er halbleer war, tanzte
Scotti mit der Gruppe und vergaß vollkommen die zerbrochenen Bohlen und Lücken im Holz. Als der Krug
dreiviertelleer war, tauschte er Witze mit einer Gruppe von Kreaturen aus, deren Sprache ihm völlig fremd war. Als der
Krug vollständig geleert war, schlief er fest und schnarchte, während das wilde Gelage um ihn herum andauerte.
Am nächsten Morgen hatte Scotti, immer noch schlafend, das Gefühl, geküsst zu werden. Er schürzte die Lippen, um
den Gefallen zu erwidern, aber brennende Schmerzen breiteten sich in seiner Brust aus und zwangen ihn, die Augen
zu öffnen. Ein Insekt von der Größe eines Kalbs saß auf ihm, quetschte ihn, seine stacheligen Beine hielten ihn auf
dem Boden fest, während ein spiralförmiger, messerscharfer Strudel, der Mund des Insekts, durch sein Hemd stach.
Er schrie und schlug um sich, aber das Tier war zu stark. Es hatte sein Fressen gefunden und es würde es auch
beenden.
Es ist aus, dachte Scotti wirr, ich hätte meine Heimat niemals verlassen dürfen. Ich hätte in der Stadt bleiben und
vielleicht Arbeit bei Fürst Vanech finden können. Ich hätte als niedriger Angestellter neu beginnen und mich wieder
hocharbeiten können.
Plötzlich ließ der Mund von ihm ab. Die Kreatur erbebte einmal, gab einen Schwall gelber Gallenflüssigkeit von sich,
und starb.
"Hab' einen!" rief eine nicht weit entfernte Stimme.
Für einen Moment blieb Scotti still liegen. Sein Kopf dröhnte und seine Brust brannte. Aus den Augenwinkeln nahm
er Bewegungen wahr. Ein weiteres dieser schrecklichen Monster wurde in seine Richtung gejagt. Er zappelte,
versuchte sich frei zu bekommen, aber bevor er es geschafft hatte, war das Knacken eines Bogens zu hören, und ein
Pfeil durchbohrte das zweite Insekt.
"Guter Schuss!" rief eine andere Stimme. "Zielt noch einmal auf die Erste! Ich sah, wie es sich gerade ein wenig
bewegte!"
Dieses Mal spürte Scotti den Druck des Bolzens, der in den Kadaver einschlug. Er schrie auf, aber er konnte selbst
hören, wie gedämpft seine Stimme durch den Körper der Riesenzecke klang. Vorsichtig versuchte er, einen Fuß
auszustrecken und unter dem Körper weg zu rollen, aber die Bewegung hatte offensichtlich den Effekt, die
Bogenschützen davon zu überzeugen, dass die Kreatur noch immer lebte. Ein Pfeilhagel wurde abgeschossen. Nun
war das Tier so durchlöchert, dass Lachen seines Bluts, und wahrscheinlich auch des Bluts seiner Opfer, auf Scottis
Körper hinabsickerten.
Als Scotti ein Junge war, ging er oft in die kaiserliche Arena zu den Kriegswettbewerben, bevor er zu kultiviert für
diese Sportarten wurde. Er erinnerte sich, dass er einen berühmten Kriegsveteran nach seinem Geheimnis gefragt
hatte, und dieser geantwortet hatte: "Wann immer ich Zweifel habe, was zu tun ist, und ich einen Schild habe, bleibe
ich dahinter stehen."
Scotti befolgte diesen Ratschlag. Nach einer Stunde, als er keine Pfeile mehr hörte, die abgefeuert wurden, stemmte
er die Überreste der Zecke von sich und sprang auf die Füße. Das war keinen Moment zu früh. Eine Gruppe von acht
Bogenschützen hielten ihre Bögen in seine Richtung, bereit zu feuern. Als sie ihn sahen, begannen sie zu lachen.
"Hat Euch nie jemand davor gewarnt, an der westlichen Kreuzung einzuschlafen? Wie sollen wir denn all
diese Hoarvors ausrotten, wenn Ihr Betrunkenen sie weiterhin füttert?"
Scotti schüttelte den Kopf und ging die Plattform entlang, um die Biegung, zum Havelsturz. Er war blutverschmiert und
verschrammt und müde und er hatte viel zu viel gegorene Schweinemilch getrunken. Alles was er wollte, war ein
angemessener Ort, an dem er sich niederlegen konnte. Er trat ein in Mutter Pascosts Taverne, ein nach Schimmel
stinkender, feuchter Ort.
"Mein Name ist Decumus Scotti", sagte er. "Ich hatte gehofft, jemanden namens Jurus hier zu treffen."
"Decumus Scotti?" überlegte die fleischige Inhaberin, Mutter Pascost persönlich. "Den Namen habe ich schon einmal
gehört. Oh, Ihr müsst der Bursche sein, für den er diese Nachricht hinterlassen hat. Lasst mich nachschauen, ob ich
sie finden kann."
Mutter Pascost verschwand in dem schäbigen Loch - ihrer Taverne - und tauchte wenige Augenblicke später mit
einem Fetzen Papier wieder auf, der das schon vertraute Gekritzel von Liodes Jurus enthielt. Decumus Scotti hielt die
Zeilen ins Sonnenlicht, das gerade so durch die massiven Zweige der Baumstadt drang, und begann zu lesen.
Sckotti,
Du hast es also bis nach Falinnesti, Vallinwald gechafft! Herzlichstgeglückwunscht! Sicherlich war deine Reise bis
hierhin beschwörlich und foller Abenteuer. Wie du dir sicherlich schon gedacht hast, bin ich nicht mehr hir. Es gibt
flussabwärts eine Stadt, die Athie heist. Schnappp dir ein Boot und komm tsu mir! Es ist toll hier! Ich hofe, du hast fiele
Verträge mitgebracht, denn die Leute hier brauchen fiele neu Gebäude. Sie standen kurz vorm Krig, aber auch nicht
so kurz, dass sie nicht mehr bezahlen könen. Ha ha. Komm so schnell wie möklich her.
- Jurus
Nun, dachte sich Scotti, Jurus hatte Falinesti also verlassen und befand sich jetzt an einem Ort namens Athie.
Angesichts des schlechten Schriftbildes und der miserablen Rechtschreibung könnte das Gekrakel allerdings
genauso gut Athy, Aphy, Othry, Imthri, Urtha oder Krakamaka bedeuten. Scotti wusste, dass es am vernünftigsten sein
würde, das Abenteuer für beendet zu erklären. Am besten würde er jetzt schon damit beginnen, sich irgendwie den
Weg nach Hause in die Kaiserstadt zu bahnen. Er war schließlich kein Söldner, dessen Leben aus einer
Aneinanderreihung von Nervenkitzeln bestand, sondern ein leitender Verwaltungsangestellter in einer erfolgreichen
privaten Baubehörde. Oder besser: Er war es gewesen. Innerhalb der letzten Wochen war er von den Cathay-Raht
ausgeraubt, von einer Gruppe kichernder Bosmer zu einem Todesmarsch durch den Dschungel genötigt, mit
vergorener Schweinemilch betrunken gemacht, von Bogenschützen angegriffen und fast von einer Riesenzecke
getötet worden - und zu allem Überfluss wäre er beinahe verhungert. Er war verdreckt, erschöpft und hatte nur noch
zehn Septime. Der Mann, der ihm den ganzen Schlamassel eingebrockt hatte, war jetzt nicht einmal hier, um ihn in
Empfang zu nehmen. Es schien wirklich das einzig Vernünftige zu sein, das ganze Unternehmen abzublasen.
Und trotz all dem hörte er eine leise und doch eindrückliche Stimme in seinem Kopf, die sagte: "Du wurdest
auserwählt. Er bleibt dir keine andere Wahl, als das hier durchzustehen."
Scotti drehte sich zu der beleibten alten Frau um - Mutter Pascost hatte ihn schon die ganze Zeit über neugierig
beäugt. "Ich frage mich, ob Euch ein Dorf bekannt ist, das noch bis vor kurzem im Streit mit Elsweyr lag. Es heißt Ath-
ie oder so ähnlich."
"Ihr meint wohl Athay", sagte sie grinsend. "Der mittlere meiner drei Söhne betreibt dort eine Molkerei. Nettes
Fleckchen. Liegt ein Stück weiter am Fluss entlang. Ist Euer Freund dorthin gegangen?"
"Ja", sagte Scotti. "Kennt Ihr den schnellsten Weg dorthin?"
Nach einem kurzen Gespräch, einer noch kürzeren Plattformfahrt zu Falinestis Wurzeln und einem kurzen Fußmarsch
zum Flussufer verhandelte Scotti mit einem Bosmer, dessen Gesicht ihn an einen eingelegten Karpfen erinnerte, über
eine Mitfahrgelegenheit. Der Mann nannte sich Kapitän Balfix, aber selbst der so wohlbehütete Scotti, erkannte
schnell, wer er wirklich war. Ein Piratensöldner, der sich zur Ruhe gesetzt hatte, mit Sicherheit ein Schmuggler,
vermutlich sogar noch etwas viel Schlimmeres. Sein Schiff, das offensichtlich vor einiger Zeit gestohlen worden war:
eine geflickte, alte Schaluppe des Kaiservolkes.
"Fünfzig Septime und wir sind in zwei Tagen in Athay", tönte es aus Kapitän Balfix' Mund.
"Ich habe zehn, nein Entschuldigung, neun Septime", sagte Scotti, der sofort das Gefühl hatte, sich für seinen
Versprecher rechtfertigen zu müssen. "Ich hatte zehn, aber ich habe dem Fährmann eines geben müssen, damit er
mich hierher bringt."
"Neun ist auch gut", sagte der Kapitän. "Um die Wahrheit zu sagen, ich wäre ohnehin nach Athay gefahren, ob Ihr
mich bezahlt hättet oder nicht. Macht es Euch auf dem Boot bequem, wir legen in ein paar Minuten ab."
Decumus Scotti nahm auf dem Boot Platz, das tief im Wasser lag. Der Stauraum der Schaluppe quoll vor Säcken über
und an Deck stapelten sich unzählige Kisten. Jede von ihnen war mit Zetteln beklebt, auf denen man die
harmlosesten Dinge lesen konnte: Kupferschrott, Schweineschmalz, Tinte, Hochfels-Futter (mit dem Zusatz "speziell
für Rinder"), Teer, Lederjacken, Fisch in Aspik. Scotti stellte sich bildlich vor, welche verbotenen Güter wohl wirklich
an Bord waren.
Es dauerte länger als nur ein paar Minuten, bis Kapitän Balfix den Rest der Ladung an Bord geschafft hatte. Aber noch
in der gleichen Stunde wurde der Anker gelichtet und sie segelten den Fluss hinunter in Richtung Athay. Das
graugrüne Wasser lag still vor ihnen und wurde nur ab und an von einer leichten Brise in Wallung gebracht. Üppige
Flora säumte die Sandbänke und aus allen Richtungen hörte man Tiere, die aufgekratzt miteinander schnatterten oder
sich grimmig anknurrten. Von der malerischen Umgebung eingelullt, schlief Scotti allmählich ein.
Abends wachte er auf und nahm dankbar saubere Kleidung und etwas zu essen von Kapitän Balfix in Empfang.
"Warum reist Ihr nach Athay, wenn ich fragen darf?", fragte der Bosmer.
"Ich treffe mich dort mit einem ehemaligen Kollegen. Er bat mich, aus der Kaiserstadt zu ihm zu kommen. Dort hatte
ich für die Atrius-Baubehörde einige Verträge ausgehandelt." Scotti nahm einen weiteren Bissen von der
getrockneten Würste, die sich die beiden zum Essen teilten. "Wir werden versuchen, Brücken, Straßen und andere
Gebäude zu reparieren oder instand zu setzen, die bei den Auseinandersetzungen mit den Khajiit beschädigt worden
sind."
"Es waren zwei harte Jahre", nickte der Kapitän. "Obwohl sie für mich, Euch und Euren Freund wohl auch sehr gut
waren. Die Handelsrouten sind unterbrochen. Jetzt glaubt man, dass es bald Krieg mit dem Inselreich Summerset
geben wird. Habt Ihr davon gehört?'
Scotti schüttelte den Kopf.
"Ich habe eine Menge Skooma die Küste hinab geschmuggelt und auch so manchem Revolutionär zur Flucht
verholfen, aber jetzt hat der Krieg aus mir offiziell einen Händler gemacht, einen Geschäftsmann. Die ersten Opfer des
Krieges sind immer die Korrupten."
Scotti sagte, dass er dies bedauere. Dann schwiegen beide und betrachteten die Spiegelung der Sterne und des
Mondes auf dem ruhigen Wasser. Als Scotti am nächsten Morgen aufwachte, fand er den Kapitän in ein Segel
eingewickelt vor. Komplett betrunken brummte er in einer tiefen Stimmlage undeutliche Strophen eines Liedes. Als er
sah, wie Scotti sich aufrichtete, bot er ihm seinen Krug mit Jagga an.
"Ich habe meine Lektion während der Gelage an der westlichen Kreuzung gelernt."
Der Kapitän lachte und brach dann plötzlich in Tränen aus, "Ich will nicht rechtschaffen sein. Die anderen Piraten, die
ich kenne, vergewaltigen, brandschatzen und plündern noch immer. Die verkaufen gute Leute wie Euch an
Sklavenhändler. Ich schwöre Euch, als ich die erste Ladung mit legalen Gütern an Bord hatte, hätte ich mir nie
träumen lassen, dass es mit mir einmal so enden würde. Oh, ich weiß, ich könnte jederzeit wieder damit anfangen.
Aber Baan Dar weiß: nicht nach all dem, was ich gesehen habe, nicht mehr kann. Ich bin ruiniert."
Scotti half dem jammernden Mann aus dem Segel und murmelte beruhigende Worte. Dann sagte er: "Vergebt mir,
aber ich habe vergessen, wo wir sind."
"Oh", sagte Kapitän Balfix in jämmerlichem Ton. "Wir liegen gut in der Zeit. Athay liegt direkt hinter der Flussbiegung."
"Dann scheint es mir allerdings, als stünde Athay in Flammen", entgegnete Scotti, mit dem Finger deutend.
Eine große Rauchwolke stieg schwarz wie die Nacht über den Bäumen in den Himmel auf. Als sie um eine
Flussbiegung trieben, sahen sie zuerst die Flammen und dann die verkohlten Überreste der Stadt. Sterbende,
brennende Dorfbewohner stürzten sich von den Felsen in den Fluss hinab. Eine schaurige Symphonie des
Wehklagens drang an ihr Ohr und an den Rändern der Stadt konnten sie khajiitische Soldaten mit Fackeln erkennen.
"Baan Dar segne mich!" nuschelte der Kapitän. "Der Krieg ist zurück!"
"Oh nein!" wimmerte Scotti.
Die Schaluppe trieb auf das der brennenden Stadt gegenüber liegende Ufer zu. Das Ufer und die Sicherheit, die es
bot, zogen Scottis ganze Aufmerksamkeit auf sich. Ein ruhiger Hafen, weg von all dem Grauen. Doch zwei der Bäume
begannen zu rascheln und schon stürzten daraus Dutzende mit Pfeil und Bogen bewaffnete Khajiit heraus.
"Sie haben uns gesehen", zischte Scotti. "Und sie haben Bögen!"
"Ja, natürlich haben sie Bögen", knurrte Kapitän Balfix. "Wir Bosmer haben jede Menge todbringendes Zeug
erfunden, aber leider haben wir dabei wohl vergessen, es geheim zu halten, du dämlicher Bürokrat."
"Jetzt setzen sie ihre Pfeile in Brand!"
"Ja, ja, das machen sie manchmal."
"Kapitän, sie schießen auf uns! Sie schießen mit brennenden Pfeilen auf uns!"
"Aye, das tun sie wohl", sagte der Kapitän zustimmend. "Unser Ziel sollte es sein, möglichst nicht getroffen zu
werden."
Aber sie wurden getroffen, und zwar kurz, nachdem der Kapitän das gesagt hatte. Als ob dies nicht schon schlimm
genug war, schlug die zweite Pfeilsalve in die Vorräte ein, die sich unter lautem Zischen entzündeten. Scotti griff sich
Kapitän Balfix und sie sprangen über Bord, kurz bevor sich das Schiff und all seine Ladung in Feuer und Rauch
auflösten. Der Schock des kalten Wassers brachte den Bosmer schnell in einen mehr oder weniger nüchternen
Zustand zurück. Er rief nach Scotti, der so schnell er konnte in Richtung Flussbiegung schwamm.
"Meister Decumus, was denkt Ihr, wohin Ihr schwimmt?"
"Zurück nach Falinesti!" rief Scotti.
"Das wird zwei Tage dauern! Bis dahin wird jeder von dem Angriff auf Athay wissen! Sie werden niemanden
hineinlassen, den sie nicht kennen! Das nächste Dorf von hier ist Grenos, vielleicht wird man uns dort
Unterschlupf geben!"
Scotti schwamm zurück zum Kapitän und Seite an Seite paddelten sie zur Flussmitte, an den brennenden
Überbleibseln des Dorfes vorbei. Er dankte Mara, dass er schwimmen konnte. Viele in Cyrodiil konnten das nicht, da
diese kaiserliche Provinz zum größten Teil von Land umschlossen war. Wäre er in Mir Corrup oder Artemon
aufgewachsen, so wäre er jetzt verloren. Aber die Kaiserstadt war zu großen Teilen von Wasser umgeben und so
wusste jeder, wie man den Fluss ohne Boot überqueren konnte. Selbst die, die zu Büroangestellten und nicht zu
Abenteurern bestimmt waren, konnten schwimmen.
Kapitän Balfix' Nüchternheit schwand wieder, als er sich langsam an die Temperatur des Wassers gewöhnte. Selbst
im Winter besaß das Wasser des Xylo-Flusses eine erträgliche Temperatur und nach einem Moment der
Gewöhnung ließ es sich in ihm angenehm schwimmen. Die Ruderbewegungen des Bosmers waren unregelmäßig.
Manchmal schwamm er vor, manchmal neben Scotti, manchmal hinter ihm und manchmal fiel er zurück.
Scotti blickte auf das Ufer zu seiner Rechten: Die Flammen hatten die Bäume wie Zunder in Brand gesetzt. Hinter
ihnen lag ein Inferno, mit dem sie nur schwer mithalten konnten. Am Ufer zu seiner Linken sah alles ruhig aus, bis er
Bewegungen im Schilf wahrnahm und deren Ursache erkannte: eine Gruppe der größten Katzen, die er je gesehen
hatte. Es waren kastanienbraune Wesen mit grünen Augen sowie Klauen und Fängen, die er sich in seinen wildesten
Alpträumen nicht hätte vorstellen können. Und diese Wesen beobachteten die beiden Schwimmer und blieben auf
gleicher Höhe.
"Kapitän Balfix, wir können weder zur einen noch zur anderen Seite. Entweder frisst man uns oder man röstet uns",
flüsterte Scotti. "Versucht, Eure Schwimmbewegungen gleichmäßiger zu halten. Atmet, wie Ihr es auch
normalerweise tun würdet. Wenn Ihr Euch müde fühlt, so sagt es mir. Dann lassen wir uns einen Moment lang auf
dem Rücken treiben."
Doch jeder, der einmal versucht hat, einem Betrunkenen vernünftige Ratschläge zu erteilen, hätte die
Hoffnungslosigkeit dieses Unterfangens erkannt. Scotti passte sich an die Schwimmbewegungen des Kapitäns an. Er
schwamm langsamer, schneller, driftete mal nach links, mal nach rechts ab, während der Bosmer Lieder aus seinen
alten Piratentagen ächzte. Wenn er nicht auf seinen Kameraden aufpasste, beobachtete Scotti die Katzen am Ufer.
Nach einer Biegung drehte er sich nach rechts. Ein weiteres Dorf hatte Feuer gefangen. Das war ohne Zweifel
Grenos. Scotti starrte in die wütende Feuersbrunst, vom Anblick der unglaublichen Zerstörung gefesselt. Dabei fiel
ihm gar nicht auf, dass der Kapitän aufgehört hatte zu singen.
Als er sich umdrehte, war Kapitän Balfix verschwunden.
Scotti tauchte immer und immer wieder in die schlammigen Tiefen des Flusses hinunter. Er konnte nichts mehr tun.
Als er nach seinem letzten Rettungsversuch an die Oberfläche kam, bemerkte er, dass sich die Katzen, vermutlich in
der Annahme, dass auch er ertrunken sei, weiterbewegt hatten. Er setzte seine einsame Reise im Flusswasser fort.
Kurz darauf bemerkte er, dass ein Nebenfluss die Flammen davon abhielt, sich weiter auszubreiten. Aber es kamen
keine weiteren Ansiedlungen in Sicht. Nach einigen Stunden spielte er mit dem Gedanken, an Land zu gehen. Die
Frage war nur, welches Ufer er wählen sollte.
Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Vor ihm lag eine Felsinsel, auf der ein Feuer brannte. Er wusste nicht,
ob er Bosmer oder Khajiit beim Feiern stören würde, nur, dass er nicht länger schwimmen konnte. Mit verspannten,
schmerzenden Muskeln wuchtete er sich auf den Fels.
Noch bevor sie einen Ton sagten, war ihm klar, dass es sich um bosmerische Flüchtlinge handelte. Über dem Feuer
brutzelte eine der riesigen Katzen, die ihn die ganze Zeit im Dschungel des gegenüber liegenden Ufers verfolgt
hatten.
"Senche-Tiger", meinte einer der jungen Krieger gierig. "Das sind keine Tiere. Die sind so klug wie jeder Cathay-Raht
oder Ohmes oder jeder verdammte Khajiit. Ein Jammer, dass dieser hier ertrunken ist. Ich hätte ihn liebend gern
getötet. Das Fleisch wird Euch schmecken. Es ist süß von dem ganzen Zucker, den sie verschlingen."
Scotti wusste nicht, ob er in der Lage sein würde, ein Wesen zu essen, das genauso intelligent war wie ein Mensch.
Aber wie es in den letzten Tagen schon so oft passiert war, überraschte er sich auch diesmal. Das Fleisch war
schmackhaft, sättigend und süß, wie gezuckertes Schwein, obwohl nichts hinzugefügt worden war. Er beobachtete
die Gruppe, während er aß. Ein trauriger Haufen. Einige von ihnen weinten immer noch um die Familienmitglieder,
die sie verloren hatten. Sie alle waren Überlebende der Dörfer Grenos und Athay und alle redeten über den
neuerlichen Kriegsausbruch. Warum hatten die Khajiit wieder angegriffen? Warum - und diese Frage ging direkt an
Scotti als Bewohner Cyrodiils - unternahm der Kaiser nichts, um den Frieden in seinen Provinzen zu
sichern?
"Ich wollte mich mit einem anderen Cyrodiil treffen", sagte er zu einer jungen bosmerischen Frau, die wie er gehört
hatte aus Athay stammte. "Sein Name war Liodes Jurus. Ihr seid ihm wohl nicht zufällig begegnet, oder?"
"Ich kenne Euren Freund nicht, aber es waren viele Cyrodiil in Athay, als das Feuer kam", sagte das Mädchen.
"Einige von ihnen reisten schnell ab. Sie zogen in Richtung Vindisi, ins Landesinnere, in den Dschungel. Ich reise
morgen auch dorthin, so wie viele von uns. Wenn Ihr wünscht, so könnt Ihr uns begleiten."
Decumus Scotti nickte ernst. Er machte es sich auf dem kalten, steinigen Felsboden der Insel so gut es ging bequem
und irgendwie gelang es ihm auch, nach einiger Anstrengung zu schlafen. Dieser Schlaf war allerdings alles andere
als gut.
Achtzehn Bosmer und ein cyrodiilischer, ehemals leitender Büroangestellter der kaiserlichen Baubehörde bahnten
sich vom Fluss Xylo aus ihren Weg nach Westen, durch den Dschungel zum alten Dorf Vindisi. Für Decumus Scotti
war der Dschungel eine feindliche, unbekannte Umgebung. Die riesigen, wurmstichigen Bäume, die das helle
Morgenlicht mit Dunkelheit erfüllten, schienen nichts anderes zu sein als Krallen, die mit Macht ihr Fortkommen zu
verhindern suchten. Selbst die Farne zitterten vor boshafter Energie. Schlimmer noch als seine Angst war die
Tatsache, dass die anderen sie teilten. Seine Mitreisenden - Ortsansässige, die die Angriffe der Khajiit überlebt hatten
- trugen blankes Entsetzen im Gesicht.
In diesem Dschungel war etwas zu spüren. Dieses Etwas waren nicht nur wahnsinnige, sondern auch milde und
gütige Geister. Aus den Augenwinkeln entdeckte Scotti Schatten der Khajiit, die den Flüchtlingen folgten und sich
dabei von Ast zu Ast schwangen. Immer wenn er sich in ihre Richtung drehte, verschwanden die Umrisse in der
Dunkelheit, so als seien sie nie dort gewesen. Aber er war sich sicher, dass er sie gesehen hatte. Den Bosmern ging
es genauso und sie begannen, schneller zu gehen.
Nach achtzehn Stunden, in denen sie von Insekten zerstochen und von Tausenden von Dornen zerkratzt worden
waren, gelangten sie endlich auf eine Lichtung in einem Tal. Die Nacht war tiefschwarz, doch eine Reihe brennender
Fackeln begrüßte sie. Die Fackeln erleuchteten die ledernen Zelte und zusammen gewürfelten Steine des Dorfes
Vindisi. Am Ende des Tals markierten Fackeln eine heilige Stätte. Dort waren knorrige Äste zu einer Art Tempel
zusammengedrückt worden. Still schritten die Bosmer durch den mit Fackeln gesäumten Pfad auf die Bäume zu.
Scotti folgte ihnen. Als sie sich dem massiven Gebilde aus lebenden Hölzern genähert hatten, sah Scotti aus dem
einzigen Eingang bläuliches Licht herausschimmern. Von drinnen war das tiefe Wehklagen Hunderter Stimmen zu
hören. Die junge Bosmerin, der er gefolgt war, hielt die Hand empor und stoppte ihn.
"Ihr versteht es vielleicht nicht, aber kein Fremder, nicht einmal ein Freund, darf diesen Ort betreten", sagte sie. "Dies
ist ein heiliger Ort."
Scotti nickte und beobachtete, wie die Flüchtlinge mit gesenkten Köpfen in den Tempel gingen. Ihre Stimmen
stimmten in das Wehklagen im Tempel ein. Nachdem der letzte Waldelf hineingegangen war, richtete Scotti seine
Aufmerksamkeit wieder auf das Dorf. Irgendwo müsste doch etwas zu essen zu finden sein. Eine dünne Rauchsäule
und der sanfte Geruch von Geröstetem weckten seine Lebensgeister in Sekundenschnelle.
Fünf Cyrodiil, zwei Bretonen, und ein Nord hatten sich um ein Lagerfeuer aus glühenden, weißen Steinen verteilt.
Abwechselnd rissen sie dampfende Fleischstreifen vom Kadaver eines großen Hirsches. Als Scotti sich näherte,
standen alle bis auf den Nord auf, der zu sehr von seinem Brocken Fleisch abgelenkt zu sein schien.
"Einen guten Abend wünsche ich Euch. Entschuldigt meine Störung, aber ich habe mich gefragt, ob Ihr etwas zu
essen entbehren könntet. Ich fürchte, ich bin ein wenig hungrig, nachdem ich den ganzen Tag mit diesen
Flüchtlingen aus Grenos und Athay marschiert bin."
Sie luden ihn ein, sich zu setzen und stellten sich einander vor.
"Nun, der Krieg ist wohl wieder ausgebrochen", sagte Scotti freundlich.
"Das Beste, was diesen faulen Taugenichtsen passieren konnte", antwortete der Nord zwischen zwei Bissen. "Ich
habe in meinem Leben noch nie so ein faules Volk gesehen. Jetzt werden sie an Land von den Khajiit und auf See
von den Hochelfen angegriffen. Wenn es eine Provinz gibt, die ein wenig Leid verdient, dann ist es Valenwald."
"Ich verstehe nicht, was Euch so gegen sie aufgebracht hat", sagte einer der Bretonen lachend.
"Sie sind ausgefuchste Diebe. Dabei sind sie schlimmer als die Khajiit, weil sie in ihrer Aggression noch freundlich
erscheinen", antwortete der Nord und spuckte dabei ein Stück Fett aus, das auf den heißen Steinen des Feuers zu
zischen begann. "Sie pflanzen ihre Wälder in Gebiete, die ihnen nicht gehören. So beginnen sie langsam, das Land
ihrer Nachbarn an sich zu reißen. Und dann wundern sie sich, wenn Elsweyr sie zurückdrängt. Alles Verbrecher der
schlimmsten Sorte."
"Was macht Ihr hier?", fragte Scotti.
"Ich bin Diplomat am Hofe von Jehenna", stieß der Nord hervor, bevor er sich wieder um sein Essen kümmerte.
"Und Ihr? Was treibt Euch hierher?", fragte einer der Cyrodiil.
"Ich arbeite für Fürst Atrius' Baubehörde in der Kaiserstadt", sagte Scotti. "Einer meiner früheren Arbeitskollegen
schlug vor, ich solle nach Valenwald kommen. Er sagte, dass der Krieg vorüber sei und dass ich viele Aufträge für
meine Firma bekommen könnte, da die zerstörten Gebäude alle wieder aufgebaut werden müssten. Doch eine
Katastrophe folgte der anderen und jetzt habe ich all mein Geld verloren. Jetzt stecke ich mitten in einem neu
aufflammenden Krieg und kann meinen ehemaligen Kollegen nicht finden."
"Euer ehemaliger Kollege", murmelte einer der Cyrodiil, der sich als Reglius vorgestellt hatte, "er trägt
nicht zufällig den Namen Liodes Jurus?"
"Ihr kennt ihn?"
"Er hat mich mit exakt den gleichen Sprüchen nach Valenwald gelockt", sagte Reglius mit einem leicht säuerlichen
Lächeln. "Ich habe für einen Konkurrenten Eures Arbeitgebers, Fürst Vanech, gearbeitet. Dort war Liodes Jurus auch
einmal. Er hat mir geschrieben und mich gebeten, als Angestellter einer Kaiserlichen Baukommission einen Beitrag
zum Wiederaufbau nach dem Krieg zu leisten. Ich war gerade von meinem Arbeitsplatz gefeuert worden und dachte
mir, dass wenn ich ein paar neue Aufträge mitbringen würde, ich vielleicht an meinen Platz zurückkehren könnte.
Jurus und ich trafen uns in Athay. Er sagte, dass er ein sehr lukratives Treffen zwischen mir und dem Silvenar
arrangieren würde."
Scotti war völlig verblüfft. "Wo ist er jetzt?"
"Ich bin kein Theologe, daher weiß ich es nicht", sagte Reglius und zuckte mit den Schultern. "Er ist tot. Als die Khajiit
Athay angegriffen haben, setzten sie den Hafen in Brand. Dort war Jurus gerade dabei, sein Boot startklar zu machen.
Ich sollte vielleicht besser mein Boot sagen, da es mit dem Gold gekauft wurde, das ich mitgebracht hatte. Bevor uns
klar wurde, was passierte oder wir überhaupt ans Fliehen denken konnten, war schon alles in Ufernähe Asche und
Flamme. Die Khajiit mögen Tiere sein, aber sie wissen, wie man einen Angriff durchführt."
"Ich glaube, sie sind uns durch den Dschungel nach Vindisi gefolgt", sagte Scotti nervös. "Es ist definitiv etwas durch
die Baumkronen gehüpft."
"Vermutlich ein paar Affen", schnaubte der Nord verächtlich. "Nichts, um das man sich sorgen müsste."
"Nachdem wir nach Vindisi gekommen waren und alle Bosmer diesen Baum betreten hatten, wurden sie
fuchsteufelswild. Sie sprachen davon, einen uralten Terror gegen ihre Feinde einzusetzen", sagte der Bretone mit
deutlichem Unbehagen in der Stimme. "Sie sind jetzt schon eineinhalb Tage hier. Wenn Ihr etwas sucht, vor dem Ihr
Euch fürchten könnt, dann empfehle ich einen Blick in deren Richtung."
Der andere Bretone, ein Repräsentant der Magiergilde von Daggerfall, starrte in die Dunkelheit, während sein
Landsmann sprach. "Möglicherweise. Aber am Rand des Dschungels, am Dorfrand, schaut etwas in unsere
Richtung."
"Vielleicht noch mehr Flüchtlinge?", sagte Scotti, der sich sichtlich Mühe gab, die Angst in seiner Stimme zu
unterdrücken.
"Dann müssten sie schon über die Baumwipfel geflohen sein", flüsterte der Zauberer. Der Nord und einer der Cyrodiil
griffen nach einem langen Stück feuchten Leders und zogen es über das Feuer, das mit nicht mehr als einem
Zischen sofort erlosch. Jetzt konnte Scotti die Eindringlinge sehen. Ihre elliptischen, gelben Augen und langen,
bösartigen Klingen reflektierten das Licht der Fackeln. Er war starr vor Angst und betete, dass sie ihn nicht sehen
würden.
Er spürte, wie etwas gegen seinen Rücken schlug und ächzte.
Reglius' Stimme war von oben zu hören: "Um Maras Willen, seid still und klettert hier hoch."
Scotti griff sich die zusammengeknotete Kletterpflanze, die von einem hohen Baum am Rand des erloschen
Lagerfeuers hinab hing. Er kletterte sie so schnell es ging hinauf und hielt dabei den Atem an, damit ihm auch ja kein
Laut entfleuchen konnte. Am Ende der Kletterpflanze, hoch über dem Dorf, befand sich auf einer dreifingrigen
Astgabelung das verlassene Nest eines riesigen Vogels. Unmittelbar nachdem sich Scotti in das weiche, stark
riechende Nest hinaufgezogen hatte, begann Reglius damit, die Kletterpflanze hochzuziehen. Niemand sonst war zu
sehen und als Scotti nach unten blickte, konnte er auch niemanden entdecken. Niemanden bis auf die Khajiit, die sich
langsam dem schwach leuchtenden Eingang des Tempelbaumes näherten.
"Ich danke Euch", flüsterte Scotti, den es zutiefst berührte, dass ihm ein Mitbewerber geholfen hatte. Er drehte sich
vom Dorf weg und sah, dass die oberen Äste des Baumes sich gegen die mit Moos bewachsenen Felshänge
lehnten, die das Tal umringten. "Wie steht es um Eure Kletterkünste?"
"Ihr seid verrückt", sagte Reglius mit leiser Stimme. "Wir sollten hier warten, bis sie wieder verschwunden sind."
"Wenn die Khajiit Vindisi genauso abfackeln wie Athay und Grenos, dann sind wir hier oben ebenso todgeweiht wie
am Boden." Scotti begann langsam und vorsichtig den Baum hochzuklettern. Dabei überprüfte er jeden Ast auf seine
Stabilität. "Könnt Ihr sehen, was sie machen?"
"Nicht besonders gut." Reglius starrte in die Dunkelheit. 'Sie stehen vor dem Tempel. Es scheint so, als hätten sie
lange Seile dabei, die sie hinter sich herziehen."
Scotti kroch auf den stärksten Ast und deutete auf die nasse, felsige Klippenwand. Kein weiter Sprung. Die Klippe war
sogar so nahe, dass er die Feuchtigkeit des Steins riechen und seine Kälte spüren konnte. Aber es war trotz allem ein
Sprung und in seiner bisherigen Laufbahn als Büroangestellter hatte er noch niemals in fast hundert Meter Höhe von
einem Baum auf einen Felsen springen müssen. Vor seinem geistigen Auge stellte er sich die Schatten vor, die ihn in
solchen Höhen durch den Dschungel verfolgt hatten. Er dachte an ihre Beine beim Sprung, wie ihre Arme elegant
nach vorne geschnellt waren, um nach Halt zu greifen. Er sprang.
Seine Hände griffen nach dem Felsen, aber die langen, dicken Stränge aus Moos waren einfacher zu greifen. Er hielt
sich gut fest, aber als er versuchte, die Position seiner Füße zu verändern, rutschte er weg. Ein paar Sekunden lang
hing er kopfüber, bis es ihm endlich gelang, sich wieder in eine etwas komfortablere Position zu bringen. In der Klippe
fand er eine schmale Ausbuchtung, in der er stehen und in Ruhe durchatmen konnte.
"Reglius! Reglius! Reglius!" Scotti traute sich nicht, laut zu rufen. Eine Minute später wackelten die Äste, dann kam
Fürst Vanechs Mann zum Vorschein. Erst seine Tasche, dann sein Kopf und dann der Rest seines Körpers. Scotti
begann etwas zu flüstern, aber Reglius schüttelte aufgeregt den Kopf und deutete nach unten. Einer der Khajiit stand
unten am Baumstamm und sah auf die Überreste des Lagerfeuers.
Reglius versuchte, sein Gleichgewicht so gut es ging zu halten, doch obwohl der Ast sehr stabil war, fiel es ihm mit
nur einer freien Hand alles andere als leicht. Scotti gestikulierte Reglius, ihm die Tasche zuzuwerfen. Es schien
Reglius zwar sehr zu missfallen, sich von seiner Tasche trennen zu müssen, aber letztendlich warf er sie Scotti zu.
Doch da war ein kleines, kaum sichtbares Loch in der Tasche - und als Scotti sie auffing, fiel eine einzelne Goldmünze
heraus. Mit einem Klingeln, das Scotti so laut wie die schrillsten Alarmglocken zu sein schien, schlug sie gegen den
Fels.
Dann geschah alles sehr schnell.
Der Cathay-Raht, der unten am Baum stand, sah nach oben und gab einen lauten Schrei von sich. Die anderen Khajiit
stimmten in das Geheule ein, während sich die Katze unten am Baum duckte, um kurz darauf in die unteren Äste des
Baumes zu springen. Reglius sah, wie sie mit unglaublicher Geschicklichkeit auf ihn zukletterte und geriet in Panik.
Noch bevor er sprang, wusste Scotti, dass er fallen würde. Mit einem Schrei stürzte der Büroangestellte Reglius auf
den Bode und brach sich durch die Wucht des Aufpralls sein Genick.
Ein weißer Blitz drang aus jeder Spalte des Tempels und das Wehklagen der Gebete der Bosmer schlug in
schreckliche, überirdische Geräusche um. Der kletternde Cathay-Raht hielt inne und begann zu starren.
"Keirgo", ächzte er. "Die Wilde Jagd."
Es war, als habe sich eine Spalte in der Wirklichkeit aufgetan. Eine Flut von furchteinflößenden Kreaturen,
tentakelbewehrten Kröten, gepanzerten, mit Stacheln besetzten Insekten, glitschigen Schlangen, nebelhaften
Gestalten mit götterähnlichen Gesichtern, all das strömte mit unbändiger Wut und Grausamkeit aus jedem Winkel des
großen, hohlen Baumes. Die Khajiit, die sich vor dem Tempel befanden, wurden von ihnen einfach in Stücke
gerissen. Alle anderen Katzen flohen in den Dschungel und zogen dabei an den Seilen, die sie mit sich trugen.
Innerhalb von Sekunden war das ganze Dorf Vindisi mit den grausamen Bildern der Wilden Jagd erfüllt.
Über das Geschnatter, Geheule und Gebrüll der wilden Horde hörte Scotti die Schreie der Cyrodiils, die in ihren
Verstecken zerfleischt wurden. Der Nord und beide Bretonen - ebenfalls entdeckt und gefressen. Der Zauberer hatte
sich selbst unsichtbar gemacht, aber der Schwarm war nicht auf Augen angewiesen. Der Baum, in dem sich der
Cathay-Raht befand, bebte unter dem schrecklichen, unaussprechlichen Grauen, das zu seinen Füßen tobte. Scotti
blickte in die angsterfüllten Augen des Khajiit und streckte ihm einen der Moosstränge entgegen.
Im Gesicht der Katze war eine mitleidige Dankbarkeit zu sehen, als sie zum Sprung ansetzte. Ihr blieb keine Zeit mehr,
diesen Gesichtsausdruck zu ändern, als Scotti den Strang blitzartig zurückzog und der Katze beim Sturz zusah. Die
Wilde Jagd hatte sie bis auf die Knochen abgenagt, noch bevor sie den Boden erreicht hatte.
Scottis Sprung auf den nächsten Felsvorsprung war indes erfolgreicher. Von dort aus gelang es ihm, sich auf den
Klippenrand hinaufzuziehen und einen Blick auf das Chaos im ehemaligen das Dorf Vindisi zu werfen. Die Jagd war
gewachsen und begann aus dem Tal hinter den fliehenden Khajiit herzuströmen. Erst zu diesem Zeitpunkt begann
der eigentliche Wahnsinn.
Im Mondschein konnte Scotti erkennen, woran die Khajiit ihre Seile befestigt hatten: Mit unglaublichen Lärm stürzten
Felsen herab und versiegelten den Pass. Nachdem sich der Staub gelegt hatte, sah er, dass der Ausgang aus dem
Tal verschlossen war. Die Wilde Jagd hatte nichts außer sich selbst, gegen das sie sich richten konnte.
Scotti wandte sich schaudernd ab. Er konnte die kannibalistische Orgie nicht mit ansehen. Vor ihm lag der nächtliche
Dschungel, ein wahres Baumlabyrinth. Er warf sich Reglius' Tasche über die Schulter und betrat es.
Seife! Der Wald wird Liebe essen! Geradeaus! Dumm und eine dumme Kuh!"
Die laute Stimme ertönte so plötzlich, dass Decumus Scotti vor Schreck zusammenzuckte. Er blickte konzentriert in
den trüben Dschungelsumpf hinein, aus dem er Augenblicke zuvor nur Tierlaute, Insektenbrummen und das
schwache Pfeifen des Windes gehört hatte. Es war eine seltsame, sonderbar akzentuierte Stimme unbestimmten
Geschlechts, bebend in ihrer Modulation, aber zweifellos menschlich. Oder zumindest elfisch. Ein isolierter Bosmer
vielleicht, mit oberflächlicher Kenntnis der cyrodiilischen Sprache. Nach unzähligen Stunden, in denen er durch das
dichte Gestrüpp des Valenwald-Dschungels gestapft war, klang jede Stimme von auch nur entferntester Vertrautheit
wie Musik in seinen Ohren.
"Hallo?" rief er.
"Käfer auf irgendwelchen Namen? Sicherlich gestern, ja!" rief die Stimme zurück. "Wer, was und wann, und Mäuse!"
"Ich fürchte, ich verstehe nicht", antwortete Scotti und drehte sich zu dem von Gestrüpp umgebenen Baum um, breit
wie ein Wagen, von wo die Stimme hergekommen war. "Aber Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben. Mein Name
ist Decumus Scotti. Ich bin ein Cyrodiil aus der Kaiserstadt. Ich bin hergekommen, um nach dem Krieg beim
Wiederaufbau von Valenwald zu helfen, versteht Ihr, und habe die Orientierung verloren."
"Edelsteine und gegrillte Sklaven ... der Krieg", stöhnte die Stimme und wurde zu einem Schluchzen.
"Ihr wisst von dem Krieg? Ich war mir nicht sicher, ich bin mir noch nicht einmal sicher, wie weit ich von der Grenze
entfernt bin." Scotti begann, langsam auf den Baum zuzugehen. Er legte Reglius' Beutel auf den Boden und breitete
seine leeren Hände aus. "Ich bin unbewaffnet. Ich möchte nur den Weg zur nächsten Stadt wissen. Ich versuche,
meinen Freund Liodes Jurus in Silvenar zu treffen."
"Silvenar!" lachte die Stimme. Sie lachte sogar noch lauter, als Scotti um den Baum herumging. "Würmer und Wein!
Würmer und Wein! Silvenar singt für Würmer und Wein!"
Hinter dem Baum war nirgendwo etwas zu finden. "Ich kann Euch nicht sehen. Wo versteckt Ihr Euch?"
Mit aus Hunger und Erschöpfung geborener Frustration schlug er gegen den Baumstamm. Ein plötzlicher
Gewitterregen aus Gold und Rot brach aus einer Aushöhlung weiter oben hervor und Scotti wurde von sechs
geflügelten Wesen umkreist, die kaum länger als ein paar Zentimeter waren. Helle purpurrote Augen befanden sich
beidseitig der tunnelartigen Ausstülpungen, den immer offenen Mäulern der Tiere. Sie hatten keine Beine und ihre
dünnen, schnell schlagenden, golden glänzenden Flügel schienen schlecht geeignet, ihre fetten, aufgedunsenen
Bäuche zu tragen. Und dennoch schossen sie durch die Luft wie Funken von einem Feuer. Um den armen
Angestellten herumwirbelnd, begannen sie zu schnattern, was er nun als absoluten Unsinn vernahm.
"Weine und Würmer, wie weit von der Grenze bin ich! Akademische Verzierungen und oh ja, Liodes Jurus!"
"Hallo, ich fürchte ich bin unbewaffnet? Rauchende Flammen und die nächste Stadt ist geliebte Vergessenheit."
"Geschwollen auf schlechtem Fleisch, ein dunkelblauer Heiligenschein, aber Ihr braucht keine Angst vor mir
haben!"
"Warum versteckt Ihr Euch? Warum versteckt Ihr Euch? Bevor ich anfange zu freunden, liebt mich, Lady
Zuleika!"
Zornig über das Geplapper schlug Scotti mit den Armen um sich und jagte die seltsamen Wesen in die Baumwipfel
hoch. Er stapfte auf die Lichtung zurück und öffnete noch einmal den Sack, wie er es schon einige Stunden zuvor
getan hatte. Darin war, nicht überraschend, noch immer nichts Nützliches und auch nichts zu essen, weder in einer
Ecke noch in einer Innentasche. Eine beträchtliche Menge an Gold - er lächelte bitter, wie er es schon zuvor getan
hatte, über die Ironie, im Dschungel Geld zu besitzen -, ein Stapel sauberer Blankoformulare von Lord Vanechs
Baubehörde, etwas dünne Kordel und ein geölter Lederumhang für schlechtes Wetter. Zumindest, überlegte Scotti,
hatte er nicht unter Regen leiden müssen.
Ein dunkles Donnergrollen erinnerte Scotti an das, was er schon seit Wochen vermutet hatte. Er war verflucht.
Innerhalb der nächsten Stunde trug er den Umhang und kämpfte sich mühsam durch den Matsch. Die Bäume, die
zuvor kein Sonnenlicht durchgelassen hatten, boten nun ebenso wenig Schutz gegen den schlagenden Sturm und
Wind. Die einzigen Geräusche, die das Prasseln des Regens durchdrangen, waren die spottenden Rufe der
fliegenden Wesen, die direkt über ihm umherflitzten und ihren Unsinn brabbelten. Scotti brüllte sie an und warf Steine
nach ihnen, doch sie schienen seine Gesellschaft zu mögen.
Als er gerade nach einem vielversprechend aussehenden Stein griff, um ihn auf die kleinen Quälgeister zu
schleudern, fühlte Scotti, wie der Boden unter seinen Füßen nachgab. Nasser, jedoch fester Boden verflüssigte sich
plötzlich und wurde zu einer rollenden Welle, die ihn vorwärts trieb. Leicht wie ein Blatt flog er, sich überschlagend,
bis der Schlammfluss nach unten stürzte und ihn acht Meter tief in einen Fluss katapultierte.
Der Sturm verzog sich genauso schnell, wie er gekommen war. Die Sonne löste die dunklen Wolken auf und wärmte
Scotti, als er ans Ufer schwamm. Dort begrüßte ihn ein weiteres Zeugnis des Eindringens der Khajiit nach Valenwald.
Ein kleines Fischerdorf hatte einst hier gestanden, so frisch vernichtet, dass es glomm wie eine noch warme Leiche.
Lehmtöpfe, die ihrem Geruch nach einmal Fische enthalten hatten, lagen auf dem Boden verstreut, ihr Inhalt in Asche
verwandelt. Flöße und Boote lagen zerbrochen da, versunken und halb untergetaucht. Die Dorfbewohner waren
verschwunden, sie waren entweder tot oder irgendwo weit weg auf der Flucht. Das nahm er jedenfalls an. Etwas
schlug gegen die Wand einer der Ruinen. Scotti rannte hin, um nachzusehen.
"Mein Name ist Decumus Scotti?" sang das erste geflügelte Wesen. "Ich bin ein Cyrodiil aus? Der Kaiserstadt? Ich bin
hergekommen, um nach dem Krieg beim Wiederaufbau von Valenwald zu helfen, versteht Ihr, und habe die
Orientierung verloren?"
"Ich schwelle, um mich zu beflecken, Affengesicht!" stimmte einer seiner Begleiter zu. "Ich sehe Euch nicht. Warum
versteckt Ihr Euch?"
Während sie in ihr Geschnatter verfielen, begann Scotti, den Rest des Dorfes zu durchsuchen. Bestimmt hatten die
Katzen etwas zurückgelassen, ein Stück Trockenfleisch, einen Bissen Fischwurst, irgendetwas. Aber die Auslöschung
des Dorfes war vollkommen. Es gab nirgendwo etwas zu essen. Scotti fand allerdings etwas von Nutzen unter den
eingestürzten Überresten einer Steinhütte: einen Bogen und zwei Pfeile aus Knochen. Die Sehne fehlte, vermutlich
war sie in der Hitze des Feuers verbrannt, aber er nahm die Kordel aus Reglius' Sack und zog sie auf.
Die Wesen flogen über ihn und schwebten in der Nähe, während er arbeitete: "Der Orden des heiligen Liodes
Jurus?"
"Ihr wisst von dem Krieg! Würmer und Wein, bekränze einen goldenen Gast, Affengesicht!"
Sobald die Schnur gespannt war, legte Scotti einen Pfeil an und drehte sich um, dabei zog er die Sehne eng an seine
Brust. Die geflügelten Wesen, die bereits Erfahrungen mit Bogenschützen gemacht hatten, stoben wild in alle
Richtungen davon. Nicht dass dies nötig gewesen wäre. Scottis erster Pfeil bohrte sich drei Fuß vor ihm in den
Boden. Er fluchte und hob ihn wieder auf. Die Stimmenimitatoren, die gleichfalls Erfahrungen mit schlechten
Bogenschützen gemacht hatten, kehrten sofort wieder zurück und verspotteten Scotti aus nächster Nähe.
Der zweite Schuss Scottis war wesentlich besser - jedenfalls in rein technischem Sinn. Er erinnerte sich, wie die
Bogenschützen in Falinesti ausgesehen hatten, als sie auf ihn zielten. Er hielt die linke Hand, die rechte Hand und
den rechten Ellbogen in einer symmetrischen Linie und spannte den Bogen, so dass seine Hand sein Kinn berührte
und er das anvisierte Wesen sehen konnte, als wäre der Pfeil ein Finger, mit dem er auf die Kreatur zeigte. Der Pfeil
verfehlte sein Ziel nur um etwa sechzig Zentimeter, aber er setzte seine Flugbahn fort und zerbrach an einer
Steinmauer.
Scotti ging zum Flussufer. Er hatte nur noch einen Pfeil übrig und vielleicht, so überlegte er, wäre es vernünftiger,
einen langsam schwimmenden Fisch zu finden und auf den zu feuern. Wenn er vorbeischoss, war zumindest die
Chance geringer, dass der Schaft zerbrach, und er konnte ihn immer wieder aus dem Wasser zurückholen. Ein eher
träger Fisch mit langen Backenhaaren schwamm vorbei und diesen nahm er ins Visier.
"Mein Name ist Decumus Scotti!" heulte eins der Wesen und verjagte den Fisch. "Dumm und eine dumme Kuh! Wirst
du einen Tanz im Feuer tanzen!"
Scotti wandte sich um und zielte mit dem Pfeil, wie er es zuvor getan hatte. Diesmal jedoch erinnerte er sich daran,
seine Füße so zu stellen, wie die Bogenschützen es getan hatten, zwanzig Zentimeter auseinander, die Knie
gestreckt, das linke Bein leicht nach vorne versetzt, um mit seiner rechten Schulter den richtigen Winkel zu bilden. Er
schoss den letzten Pfeil ab.
Der Pfeil erwies sich auch als nützlicher Spieß, um die Kreatur über den qualmenden, heißen Steinen einer der
Ruinen zu rösten. Seine Gefährten verschwanden in dem Moment, da das erste Wesen getötet worden war, und
Scotti hatte Gelegenheit, in Ruhe zu essen. Das Fleisch erwies sich als sehr schmackhaft, wenngleich es kaum mehr
als eine Vorspeise war. Er pflückte gerade die letzten Reste von den Knochen, als ein Boot hinter der Biegung des
Flusses in Sichtweite kam. Am Steuer waren bosmerische Seeleute. Scotti rannte ans Ufer und wedelte mit den
Armen. Sie wandten ihre Augen ab und fuhren vorbei.
"Ihr verdammten, herzlosen Bastarde!" heulte Scotti. "Schurken! Halunken! Affengesichter! Schufte!"
Eine Gestalt mit grauem Schnurrbart erschien aus einer Luke und Scotti erkannte sie sofort als Gryf Mallon, den
poetischen Übersetzer, den er in der Karawane von Cyrodiil getroffen hatte.
Er spähte in Scottis Richtung und seine Augen erstrahlten vor Freude. "Decumus Scotti! Genau der Mann, den ich zu
treffen gehofft hatte. Ich möchte, dass Ihr Euch Gedanken über eine wirklich rätselhafte Passage in der Mnoriad Pley
Bar macht. Sie beginnt: 'Ich kam weinend auf die Welt, auf der Suche nach Wundern' - vielleicht seid Ihr mit ihr
vertraut?'
"Ich würde wirklich nichts lieber tun, als mit Euch die Mnoriad Pley Bar zu diskutieren, Gryf!" rief Scotti zurück. "Aber
würdet Ihr mich zuerst an Bord kommen lassen?"
Überglücklich, sich an Bord eines Schiff zu befinden, das auf einen, wenn auch ungewissen Hafen zusteuerte, hielt
Scotti sein Wort. Über eine Stunde lang, während das Boot den Fluss entlang glitt, vorbei an den geschwärzten
Überresten bosmerischer Dörfer, stellte er keine Frage und sprach nicht über seine Erlebnisse der letzten Wochen. Er
lauschte einfach Mallons Theorien über die merethische Esoterik der Aldmer. Der Übersetzer stellte keine Ansprüche
an die Gelehrtheit seines Gastes und akzeptierte Nicken und Achselzucken als zivilisierte Konversation. Er brachte
sogar etwas Wein und Fischsülze hervor, die er geistesabwesend mit Scotti teilte, während er verschiedene Theorien
zum Besten gab.
Schließlich, als Mallon gerade einen Verweis zu einem der Unterpunkte in seinen Notizen suchte, sagte Scotti: "Es
gehört zwar nicht zum Thema, aber ich frage mich, wo wir eigentlich hinfahren."
"In das Herz der Provinz, nach Silvenar", sagte Mallon, ohne von seinem Text aufzusehen. "Es ist zwar etwas
ärgerlich, da ich zuerst nach Waldschlot gehen wollte, um mit einem Bosmer zu reden, der behauptet, eine
Originalausgabe der Dirith Yalmillhiad zu besitzen, falls Ihr das glauben könnt. Aber das muss nun erst einmal warten.
Summerset hat die Stadt eingekreist und ist dabei, die Bevölkerung auszuhungern, bis sie sich ergibt. Es ist ein
ermüdender Versuch, da die Bosmer sich gerne gegenseitig aufessen, so dass das Risiko besteht, dass zum Schluss
nur ein einziger Waldelf übrig bleibt, um die Fahne zu schwenken."
"Das ist ärgerlich", stimmte Scotti mitfühlend zu. "Im Osten verbrennen die Khajiit alles und im Westen führen die
Hochelfen Krieg. Ich nehme nicht an, dass die Grenzen nach Norden offen sind?"
"Dort sieht es noch schlimmer aus", antwortete Mallon, den Finger auf der Seite, noch immer abgelenkt. "Die Cyrodiil
und die Rothwardonen wollen keine bosmerischen Flüchtlinge in ihre Provinzen strömen sehen. Und damit haben
sie Recht. Stellt Euch nur vor, um wie viel stärker ihre kriminellen Neigungen jetzt sein müssen, wo sie heimatlos und
hungrig sind."
"Also", murmelte Scotti mit einem Frösteln, "sind wir in Valenwald gefangen."
"Nicht im Geringsten. Ich muss selbst ziemlich bald aufbrechen, da mein Herausgeber einen sehr klaren Termin für
meine neueste Übersetzung festgesetzt hat. So wie ich es verstanden habe, muss man nur den Silvenar um einen
speziellen Geleitschutz bitten und man kann gefahrlos nach Cyrodiil einreisen."
"Den Silvenar bitten oder in Silvenar eine Bitte äußern?"
"Den Silvenar in Silvenar ersuchen. Es ist eine merkwürdige Nomenklatur, die für diesen Ort typisch ist - die Art von
Dingen, die meine Aufgabe als Übersetzer so schwierig machen. Der Silvenar, er oder eher sie, ist das bosmerische
Gegenstück zu unseren Anführern. Das Wichtigste, was man über den Silvenar nicht vergessen darf ..." Mallon
lächelte, als er den Abschnitt fand, den er gesucht hatte. "Hier! 'Nach vierzehn Tagen, unerklärbar, tanzt die Welt im
Feuer.' Da ist diese Metapher wieder."
"Was hattet Ihr über den Silvenar gesagt?" fragte Scotti. "Das Wichtige, das man nicht vergessen darf?"
"Ich erinnere mich nicht, was ich gesagt habe', antwortete Mallon und wandte sich wieder seiner Rede zu. Eine
Woche später rumpelte das kleine Boot über die flachen, ruhigeren Gewässer des schäumenden Stroms, zu dem der
Xylo geworden war, und Decumus Scotti erblickte erstmals die Stadt Silvenar. Wenn Falinesti ein Baum war, dann war
Silvenar eine Blume. Eine prächtige Ansammlung der verschiedensten Schattierungen von hellem Grün, Rot, Blau
und Weiß, die kristallgleich schimmerten. Mallon hatte nebenbei erwähnt, wenn er nicht gerade die Prosodie der
Aldmer erläuterte, dass Silvenar einst eine blühende Lichtung im Wald gewesen war, aber durch einen Zauber oder
eine natürliche Ursache die Bäume begonnen hatten, eine durchsichtige Flüssigkeit abzusondern. Als der
Pflanzensaft immer weiter floss und sich über den farbenprächtigen Bäumen langsam verhärtete, entstand das
faszinierende Netz der Stadt. Mallons Beschreibung war beeindruckend, aber sie konnte ihn kaum auf die wahre
Schönheit der Stadt vorbereiten.
"Welches ist die beste, luxuriöseste Taverne hier?" fragte Scotti einen der bosmerischen Seeleute.
"Prithala", antwortete Mallon. "Aber warum bleibt Ihr nicht bei mir? Ich besuche einen Bekannten, einen Gelehrten,
den Ihr mit Sicherheit faszinierend finden werdet. Sein kleines Haus ist nichts Besonderes, aber er hat die
erstaunlichsten Ansichten über die Prinzipien eines merethischen Aldmer-Stammes, die Sarmathi ..."
"Unter anderen Umständen würde ich mit Freude annehmen", sagte Scotti freundlich. "Aber nach all den Wochen,
die ich auf dem Boden oder einem Floß geschlafen habe und gegessen habe, was immer ich in die Hände
bekommen konnte, habe ich das Verlangen nach etwas Komfort. Und dann, in ein oder zwei Tagen, werde ich den
Silvenar um eine sichere Passage nach Cyrodiil ersuchen."
Die Männer verabschiedeten sich voneinander. Gryf Mallon gab ihm die Adresse seines Herausgebers in der
Kaiserstadt, die Scotti annahm und schnell wieder vergaß. Der Schreiber wanderte durch die Straßen von Silvenar,
überquerte Brücken aus Bernstein und bewunderte die versteinerte Wald-Architektur. Vor einem besonders
beeindruckenden Palast aus silbrig scheinendem Kristall fand er Prithala.
Er nahm das beste Zimmer und bestellte ein verschwenderisches Mal der feinsten Qualität. An einem Nebentisch sah
er zwei äußerst fettleibige Gestalten, einen Mann und einen Bosmer, die darüber sprachen, um wie viel besser das
Essen hier war als in Silvenars Palast. Sie begannen, über den Krieg und einige finanzielle Themen und den
Wiederaufbau der Brücken in der Provinz zu reden. Der Mann bemerkte, dass Scotti zu ihnen herübersah, und in
seinen Augen spiegelte sich Erkennen wider.
"Scotti, seid Ihr das? Bei Kynareth, wo seid Ihr gewesen? Ich habe hier alle Verträge alleine aushandeln
müssen!"
Scotti erkannte ihn am Klang seiner Stimme. Der fettleibige Mann war Liodes Jurus, gewaltig auseinander gegangen.
Decumus Scotti setzte sich und lauschte Liodes Jurus' Worten. Der Buchhalter konnte kaum glauben, wie fett sein
ehemaliger Kollege bei Fürst Atrius' Baubehörde geworden war. Das pikante Aroma gerösteten Fleischs auf dem
Teller vor ihm verflog. Alle anderen Geräusche und Formen in Prithala verschwanden um ihn herum, als existiere
nichts anderes außer Jurus' massiver Gestalt. Scotti sah sich selbst nicht als emotional, aber der Anblick des Mannes,
dessen schlecht geschriebene Briefe ihm im Eisherbst den Weg aus der Kaiserstadt gewiesen hatten, bewegte ihn
doch.
"Wo seid Ihr gewesen?", fragte Jurus noch einmal. "Ich hatte Euch gebeten, mich vor Wochen in Falinesti zu treffen."
"Ich war vor drei Wochen dort", stammelte Scotti, zu überrascht, um verärgert zu sein. "Ich hatte Eure Nachricht
bekommen, Euch in Athay zu treffen, also ging ich dorthin, aber die Khajiit hatten den Ort in Schutt und Asche gelegt.
Irgendwie habe ich die Flüchtlinge in einem anderen Dorf getroffen, und jemand dort erzählte mir, dass man Euch
getötet hätte."
"Und das habt Ihr sofort geglaubt?" schnaubte Jurus.
"Der Bursche schien sehr gut über Euch informiert zu sein. Er war ein Angestellter von Fürst Vanechs Baubehörde
namens Reglius, und er sagte, dass Ihr ihm ebenfalls empfohlen hattet, nach Valenwald zu kommen, um vom Krieg
zu profitieren."
"Oh, ja", sagt Jurus, nachdem er kurz überlegt hatte. "Jetzt erinnere mich an den Namen. Nun, es ist gut für das
Geschäft, zwei Vertreter der kaiserlichen Baubehörde hier zu haben. Wir müssen bloß alle unsere Angebote
koordinieren und alles sollte gut werden."
"Reglius ist tot", sagte Scotti. "Aber ich habe seine Verträge von Fürst Vanechs Kommission."
"Umso besser", stieß Jurus beeindruckt hervor. "Ich wusste gar nicht, dass Ihr so ein gnadenloser Konkurrent seid,
Decumus Scotti. Ja, das könnte unsere Position beim Silvenar eindeutig verbessern. Habe ich Euch Basth hier schon
vorgestellt?"
Scotti war sich der Anwesenheit des Bosmers nur undeutlich bewusst, was erstaunlich war, wenn man in Betracht
zog, dass der Umfang des Bosmers dem seines Tischgenossen beinahe gleichkam. Der Buchhalter nickte Basth kühl
zu, immer noch betäubt und verwirrt. Er hatte noch nicht vergessen, dass er vor nur einer Stunde noch vorgehabt
hatte, den Silvenar um sicheres Geleit zurück nach Cyrodiil zu ersuchen. Der Gedanke, letztlich doch noch Geschäfte
mit Jurus zu machen, vom Krieg Valenwalds gegen Elsweyr und nun dem zweiten gegen die Insel Summerset zu
profitieren, kam ihm wie etwas vor, das jemandem anderen passierte.
"Euer Kollege und ich sprachen gerade über den Silvenar", sagte Basth und legte die Hammelkeule nieder, an der er
genagt hatte. "Ich nehme nicht an, dass Ihr schon von seiner Natur gehört habt?"
"Ein wenig, aber nichts Genaues. Ich habe den Eindruck erhalten, dass er sehr wichtig und sehr eigenartig ist."
"Er ist der Vertreter seines Volkes, rechtlich, körperlich und emotional", erklärte Jurus, ein wenig verärgert über den
Mangel an Allgemeinwissen, den sein neuer Partner offenbarte. "Wenn sie gesund sind, ist er es auch. Wenn sie
hauptsächlich weiblich sind, ist er es auch. Wenn sie nach Nahrung schreien oder nach Handel, oder weniger
fremdländische Einflüsse haben wollen, fühlt er dasselbe und macht entsprechende Gesetze. Auf gewisse Weise ist
er ein Despot, aber er ist ein Despot des Volkes."
"Das hört sich", sagte Scotti, nach dem passenden Ausdruck suchend, "wie ... völliger Unsinn an."
"Vielleicht ist es das", sagte Basth mit einem Achselzucken. "Aber als Stimme des Volkes hat er viele Rechte,
einschließlich der Bewilligung ausländischer Bau- und Handelsverträge. Es ist nicht wichtig, dass Ihr uns glaubt. Stellt
Euch den Silvenar einfach als einen Eurer wahnsinnigen Herrscher vor, wie beispielsweise Pelagius. Das Problem,
vor dem wir stehen, liegt darin, dass Silvenar aufgrund der Tatsache, dass Valenwald von allen Seiten angegriffen
wird, Fremdländern zurzeit mit Misstrauen und Furcht begegnet. Die einzige Hoffnung seines Volkes und damit des
Silvenars selbst, ist, dass der Kaiser eingreifen und den Krieg beenden wird."
"Wird er das?" fragte Scotti.
"Ihr wisst genauso gut wie wir, dass der Kaiser in der letzten Zeit nicht er selbst gewesen ist", Jurus griff sich Reglius'
Tasche und holte die leeren Verträge heraus. "Wer weiß, was er als Nächstes tun, oder nicht tun wird? Und das soll
im Augenblick auch nicht unsere Sorge sein, aber dieser Segen des verblichenen guten Sir Reglius macht unsere
Arbeit viel leichter."
Sie sprachen bis zum Abend darüber, wie sie vor dem Silvenar auftreten würden. Scotti aß ununterbrochen, aber bei
weitem nicht soviel wie Jurus und Basth. Als die Sonne hinter den Hügeln aufging, und rötlich durch die kristallenen
Wände der Taverne schien, begaben sich Jurus und Basth zu ihren Räumen im Palast, die ihnen als diplomatische
Geste anstatt einer sofortigen Audienz beim Silvenar gewährt worden waren. Scotti ging auf sein Zimmer. Er erwog
zunächst, noch etwas aufzubleiben, um über Jurus' Pläne nachzudenken und nach möglichen Fehlern zu suchen,
aber in dem Moment, da er das kühle, weiche Bett berührte, schlief er auch schon ein.
Am nächsten Nachmittag erwachte Scotti und fühlte sich wieder wie er selbst. Mit anderen Worten, ängstlich.
Wochenlang hatte er um sein bloßes Überleben kämpfen müssen. Er war zur völligen Erschöpfung getrieben
worden, von zahlreichen Dschungelbestien angegriffen, ausgehungert, beinahe ertrunken und zu Diskussionen über
die antike Dichtung der Aldmer gezwungen worden. Das Gespräch, dass er mit Jurus und Basth darüber geführt hatte,
wie man den Silvenar dahingehend täuschen konnte, dass er die Verträge unterschrieb, war ihm dagegen
vollkommen vernünftig erschienen. Scotti legte seine alten, arg mitgenommenen Kleider an und ging nach unten, auf
der Suche nach etwas zu Essen und einem friedlichen Ort zum Nachdenken.
"Ihr seid aufgestanden", rief Basth bei seinem Anblick. "Wir sollten jetzt zum Palast gehen."
"Jetzt?" stöhnte Scotti. "Seht mich an. Ich brauche neue Kleider. In diesem Aufzug sollte man noch nicht einmal einer
Prostituierten einen Besuch abstatten, geschweige denn der Stimme des Volkes von Valenwald. Ich habe noch nicht
einmal gebadet."
"Ihr müsst von diesem Moment an aufhören, ein Buchhalter zu sein, und ein Student des Handels werden", sagte
Liodes Jurus gönnerhaft und führte ihn am Arm nach draußen auf die vom Sonnenschein durchfluteten Straße. "Die
erste Regel lautet, zu erkennen, was man dem zukünftigen Kunden gegenüber darstellt und welches Vorgehen sich
am besten eignet. Ihr könnt ihn nicht mit opulenter Kleidung und professionellem Gehabe täuschen, mein lieber
Junge, und es könnte fatal sein, es zu versuchen. Vertraut mir darin. Neben mir und Basth befinden sich noch einige
andere Gäste im Palast, und sie alle haben den Fehler gemacht, zu eifrig, zu formell, zu geschäftsmäßig zu sein. Man
wird ihnen niemals eine Audienz beim Silvenar gewähren, aber wir haben uns seit der anfänglichen Ablehnung sehr
zurückgehalten. Ich habe viel Zeit bei Hofe verbracht, mein Wissen über das Leben in der Kaiserstadt verbreitet, habe
meine Ohrläppchen durchstechen lassen, habe Festlichkeiten beigewohnt, und alles gegessen und getrunken, was
man mir angeboten hat. Ich habe wohl ein oder zwei Kilo zugenommen. Die Botschaft, die wir übermitteln ist klar: es
ist in seinem, nicht unserem, besten Interesse, uns zu treffen."
"Unser Plan hat funktioniert", fügte Basth hinzu. "Als ich dem Minister mitteilte, dass unser kaiserlicher Repräsentant
eingetroffen ist und wir nun endlich bereit seien, uns an diesem Morgen mit dem Silvenar zu treffen, wies man uns an,
Euch sofort herzubringen."
"Sind wir dann nicht zu spät dran?" fragte Scotti.
"Sehr", lachte Jurus. "Aber das ist ein Teil unserer Strategie. Wohlwollendes Desinteresse. Vergesst nicht, dass man
den Silvenar nicht mit einem gewöhnlichen Herrscher vergleichen kann. Er ist der Geist der einfachen Leute. Wenn
man das begriffen hat, wird einem auch klar, wie man ihn manipuliert."
Jurus verbrachte die letzten Minuten ihres Weges durch die Stadt damit, seine Theorien darüber darzulegen, was
Valenwald brauchte - wie viel und zu welchem Preis. Es waren gewaltige Summen, weitaus mehr Bautätigkeit und viel
höhere Kosten, als alles, womit Scotti bis jetzt zu tun gehabt hatte. Er hörte aufmerksam zu. Um sie herum offenbarte
sich ihnen die Stadt von Silvenar, Glas und Blumen, tosende Winde und wunderschöne Verzierungen. Als sie den
Palast erreichten, blieb Decumus Scotti gebannt stehen. Jurus schaute ihn kurz an und lachte dann.
"Ziemlich bizarr, nicht wahr?"
Das war es. Eine gefrorene, scharlachrote Explosion unregelmäßiger Zacken, als ob eine neue Sonne am Himmel
erschienen wäre. Eine Blüte von der Größe eines Dorfes, wo Höflinge und Diener nichts stärker ähnelten als Insekten,
die darüber liefen und seinen Nektar saugten. Die drei betraten den Palast über eine gebogene, blütenblatt-ähnliche
Brücke und gingen durch den Palast mit seinen unregelmäßigen Wänden. Dort, wo die einzelnen Teile nahe
beieinander standen oder sich berührten, gab es einen schattigen Saal oder ein kleines Zimmer. Dort wo sie sich
voneinander weg bogen, lag ein Innenhof. Es gab nirgendwo Türen - man konnte nicht zum Silvenar gelangen, ohne
die gesamte Spirale des Palastes zu durchqueren, Versammlungs- und Schlafzimmer, Speisesäle, frühere
Würdenträger, Gesellschafterinnen, und viele Wachen.
"Ein interessanter Ort", sagte Basth. "Aber es gibt kaum Privatsphäre. Natürlich passt dies dem Silvenar sehr gut."
Als sie die inneren Korridore erreichten, zwei Stunden, nachdem sie den Palast betreten hatten, wurden sie von
Wachen mit Schwertern und Bögen aufgehalten.
"Wir haben eine Audienz beim Silvenar", sagte Jurus geduldig. "Dies ist Fürst Decumus Scotti, der Repräsentant des
Kaisers."
Eine der Wachen verschwand in dem gewundenen Gang und kehrte kurz darauf mit einem großen, stolzen Bosmer
zurück, der mit einem lockeren Gewand aus zusammen gepuzzeltem Leder bekleidet war. Es war der
Handelsminister. "Der Silvenar wünscht mit Fürst Decumus Scotti allein zu sprechen."
Dies war nicht der Ort für Diskussionen oder Furcht, daher trat Scotti vor, ohne Jurus und Basth überhaupt
anzuschauen. Er war sich sicher, dass sie ihre Masken wohlwollender Gleichgültigkeit trugen. Während Scotti dem
Minister ins Audienzzimmer folgte, wiederholte Scotti noch einmal innerlich die Zahlen, die Jurus ihm präsentiert hatte.
Er zwang sich dazu, den Standpunkt, den er repräsentieren musste und den Eindruck, den es zu erwecken galt, zu
verinnerlichen.
Das Audienzzimmer des Silvenar war eine gewaltige Kuppel, deren Wände sich vom Boden aus wie eine Schale
ausdehnten und sich hoch oben beinahe trafen. Ein dünner Sonnenstrahl strömte durch die Öffnung, beinahe
hundert Meter über ihnen, und schien direkt auf den Silvenar, der auf einem Wölkchen aus glänzendem grauen
Puder stand. Im Gegensatz zu allen Wundern der Stadt und des Palastes, sah der Silvenar selbst völlig gewöhnlich
aus. Ein durchschnittlicher, auf langweilige Weise hübscher, etwas müde aussehender, vollkommen gewöhnlicher
Waldelf, wie sie einem in jeder Hauptstadt des Kaiserreiches begegneten. Es war erst, als er von dem Podest hinunter
trat, dass Scotti etwas Besonderes an seiner Erscheinung bemerkte. Er war sehr klein.
"Ich musste mit Euch allein sprechen", sagte der Silvenar mit einer gewöhnlichen und ungeschliffenen Stimme. "Kann
ich Eure Papiere sehen?"
Scotti reichte ihm die leeren Verträge von Fürst Vanechs Baubehörde. Der Silvenar studierte sie und fuhr mit seinem
Finger über das eingeprägte Siegel des Kaisers, bevor er sie zurückgab. Er erschien plötzlich scheu und blickte zu
Boden. "Es gibt an meinem Hofe viele Betrüger, die bloß einen Profit aus den Kriegen schlagen wollen. Ich dachte,
dass Ihr und Eure Kollegen zu ihnen gehörten, aber diese Verträge sind echt."
"Ja, das sind sie", sagte Scotti gelassen. Die gewöhnliche Erscheinung des Silvenars machte es Scotti leicht, zu
sprechen - ohne formelle Begrüßung, ohne Ehrerbietung, genau wie Jurus ihn angewiesen hatte: "Es erscheint mir
am besten, direkt auf die Straßen zu sprechen zu kommen, die wieder hergerichtet werden müssen, und dann auf die
Häfen, die von den Altmern zerstört wurden, und dann kann ich Euch meine Schätzung darüber abgeben, was der
Wiederaufbau und die Neugestaltung der Handelsrouten kosten werden."
"Warum hat es der Kaiser vor zwei Jahren, als der Krieg mit Elsweyr begann, nicht für nötig gehalten, einen
Repräsentanten zu schicken?", fragte der Silvenar verdrießlich.
Scotti dachte, bevor er antwortete, einen Moment an all die gewöhnlichen Bosmer, die ihm in Valenwald begegnet
waren. Die gierigen, verängstigten Söldner, die ihn von der Grenze eskortiert hatten. Die trinkfesten, Ungeziefer
vernichtenden Bogenschützern an der westlichen Kreuzung von Falinesti. Die neugierige alte Mutter Pascost in
Havelsturz. Kapitän Balfix, der arme, unglücklich reformierte Pirat. Die verschreckten, aber hoffnungsvollen Flüchtlinge
von Athay und Grenos. Die verrückte, mörderische, sich selbst verzehrende Wilde Jagd von Vindisi. Die
schweigsamen, düsteren Bootsleute, die Gryf Mallon angeheuert hatte. Der degenerierte, habgierige Basth. Wenn ein
einziges Geschöpf die Essenz des bosmerischen Wesen verkörperte, wie würde seine Persönlichkeit aussehen?
Scotti war von Beruf und von Natur aus Buchhalter, instinktiv damit vertraut, Dinge zu katalogisieren und zu sortieren,
sie in ein System einzuordnen. Wenn man die Seele Valenwalds abheften wollte, wohin würde man sie stecken?
Die Antwort kam ihm beinahe schon, bevor er sich überhaupt die Frage gestellt hatte. Verdrängung.
"Ich fürchte, diese Frage interessiert mich nicht", sagte Scotti. "Können wir jetzt zu unserem Geschäft
zurückkommen?"
Den ganzen Nachmittag lang diskutierten Scotti und der Silvenar die dringenden Bedürfnisse Valenwalds. Jeder
Vertrag wurde ausgefüllt und unterzeichnet. So vieles wurde benötigt und es waren so viele Kosten damit verbunden,
dass vielen Verträge noch Zusätze und Nachträge hinzugefügt wurden, diese mussten dann neu unterschrieben
werden. Scotti bewahrte seine wohlwollende Gleichgültigkeit, aber er stellte fest, dass der Umgang mit dem Silvenar
nicht ganz derselbe war wie der mit einem einfachen, mürrischen Kind. Die Stimme des Volkes wusste über
bestimmte praktische, alltägliche Dinge sehr genau Bescheid: die Erträge aus dem Fischfang, die Gewinne aus dem
Handel, den Zustand jeder Siedlung und jedes Waldes in der Provinz.
"Wir werden morgen ein Bankett abhalten, um dieses Geschäft zu feiern", sagte der Silvenar zum Schluss.
"Heute Nacht wäre besser", antwortete Scotti. "Wir sollten morgen mit den Verträgen nach Cyrodiil aufbrechen, ich
werde also sicheres Geleit zur Grenze benötigen. Wir verschwenden am besten nicht noch mehr Zeit."
"Einverstanden", sagte der Silvenar und rief nach dem Handelsminister, damit dieser sein Siegel unter die Verträge
setzte und das Festessen arrangierte.
Scotti verließ das Zimmer und wurde von Basth und Jurus empfangen. Ihre Gesichter zeigten die Anstrengung, die es
sie gekostet hatte, stundenlang die Illusion der Gleichgültigkeit aufrecht zu erhalten. Sobald sie sich außerhalb der
Sichtweite der Wachen befanden, flehten sie Scotti an, ihnen alles zu erzählen. Als er ihnen den Vertrag zeigte,
begann Basth vor Freude zu weinen.
"Gab es irgendetwas an dem Silvenar, das Euch überrascht hat?" fragte Jurus.
"Ich hatte nicht erwartet, dass er nur halb so groß ist wie ich."
"War er das?", Jurus sah leicht überrascht aus. "Er muss seit meinem Versuch, eine Audienz bei ihm zu bekommen,
geschrumpft sein. Vielleicht ist doch etwas an diesem ganzen Unsinn dran, dass er vom Zustand seines Volkes
beeinflusst wird."
Scene: Silvenar, Valenwald,
am 13. Sonnenuntergang 3Ä 397.
Das Bankett im Palast des Silvenars war sehr gut besucht. Jeder neidische Bürokrat oder Händler, der versucht hatte,
den Vertrag über den Wiederaufbau von Valenwald an Land zu ziehen, war anwesend. Sie betrachteten Decumus
Scotti, Liodes Jurus und Basth mit unverhohlenem Hass. Scotti fühlte sich dadurch unbehaglich, aber Jurus genoss
es. Während die Diener eine Platte mit geröstetem Fleisch nach der anderen auftischten, goss sich Jurus einen
Becher Jagga ein und prostete dem Buchhalter zu.
"Jetzt kann ich es ja zugeben", sagte Jurus. "Ich hatte große Bedenken, Euch zu diesem Abenteuer einzuladen. All
die anderen Angestellten und Vertreter der Baukommission, die ich kontaktiert hatte, waren nach außen hin viel
aggressiver, aber keiner schaffte es hierher, ganz zu schweigen bis ins Audienzzimmer, ganz zu schweigen davon,
die Verträge ganz allein abzuschließen, so wie Ihr das getan habt. Kommt, trinkt einen Becher Jagga mit mir."
"Nein danke", sagte Scotti. "Ich habe in Falinesti zuviel von dieser Droge genossen und bin deswegen beinahe von
einer gigantischen Zecke ausgesaugt worden. Ich werde mir irgendetwas anderes zu trinken suchen."
Scotti schlenderte durch den Saal, bis er einige Diplomaten entdeckte, die aus Krügen mit einer dampfenden,
braunen Flüssigkeit tranken, die aus einer großen silbernen Kanne eingeschenkt wurde. Er fragte sie, ob das Tee sei.
"Aus Blättern gemachter Tee?" spottete der erste Diplomat. "Nicht in Valenwald. Das ist Rotmeth."
Scotti schüttete sich selbst einen Krug ein und nahm einen vorsichtigen Schluck. Es war pikant, bitter, gezuckert und
sehr salzig. Zunächst fühlte sich das warme Gebräu etwas unangenehm an seinem Gaumen an, aber schon wenig
später hatte er den Krug geleert und schenkte sich einen weiteren ein. Sein ganzer Körper kribbelte. Die Geräusche
im Raum klangen seltsam verzerrt, aber nicht auf unangenehme Weise.
"Ihr seid also der Bursche, der den Silvenar dazu gebracht hat, all diese Verträge zu unterzeichnen", sagte der zweite
Diplomat. "Das muss Euch einiges an Verhandlungsgeschick gekostet haben."
"Überhaupt nicht, überhaupt nicht, nur ein wenig grundlegendes Verständnis für den kaufmännischen Handel",
grinste Scotti und schüttete sich den dritten Krug Rotmeth ein. "Der Silvenar war sehr daran interessiert, den
kaiserlichen Staat mit den Angelegenheiten Valenwalds in Verbindung zu bringen. Und er war auch sehr daran
interessiert, einen Prozentsatz des Ertrages zu übernehmen. Bei all diesem gesegneten Eifer ging es lediglich noch
darum, die Feder aufs Papier zu bringen. Prost."
"Seid Ihr schon lange in den Diensten seiner kaiserlichen Majestät?" fragte der erste Diplomat.
"Das ist in der Kaiserstadt alles ein wenig, oder sagen wir ein wenig sehr kompliziert. Unter uns gesagt, ich habe
eigentlich keinen Job. Ich arbeitete früher für Fürst Atrius und seine Baubehörde, aber ich wurde gefeuert. Und
außerdem sind die Verträge von Fürst Vanech und seiner Baubehörde, weil ich sie von diesem Reglius bekommen
habe, der ein Konkurrent, aber trotzdem ein sehr anständiger Bursche war, bevor er von diesen Khajiit getötet wurde",
Scotti leerte seinen fünften Krug. "Wenn ich zurück in der Kaiserstadt bin, können die wirklichen Verhandlungen
beginnen, Prost. Ich kann zu meinem alten Arbeitgeber und zu Fürst Vanech gehen und sagen: Schaut her, wer von
euch will diese Vollmachten? Und sie werden sich darum schlagen, sie von mir zu bekommen. Es wird einen
Angebotskrieg geben, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat."
"Ihr seid also kein Vertreter seiner kaiserlichen Majestät, des Kaisers?" fragte der erste Diplomat.
"Habt Ihr denn nicht gehört, was ich sage? Seid Ihr blöd?" Scotti fühlte eine kurze Woge des Zorns, die aber schnell
nachließ. Er kicherte und goss sich einen siebten Krug ein. "Die Baubehörden sind in Privatbesitz, aber sie sind
trotzdem Repräsentanten des Kaisers. Also bin ich ein Repräsentant des Kaisers. Oder werde es sein. Wenn ich
diese Verträge zurückbringe. Es ist sehr kompliziert. Ich kann verstehen, dass Ihr mir nicht folgen könnt, Prost. Es ist
alles, wie der Dichter sagt, ein Tanz im Feuer, wenn Ihr der Spiegelung, ich meine Anspielung folgen könnt."
"Und Eure Kollegen? Sind sie Repräsentanten des Kaisers?", fragte der zweite Diplomat.
Scotti brach in Gelächter aus und schüttelte den Kopf. Die Diplomaten erwiesen ihm ihre Hochachtung und gingen,
um mit dem Minister zu reden. Scotti torkelte aus dem Palast und taumelte durch die fremdartigen, organischen
Straßen und Wege der Stadt. Er brauchte mehrere Stunden, um Prithala und sein Zimmer zu finden. Dort
angekommen, schlief er ein, beinahe auf seinem Bett.
Am nächsten Morgen wurde er von Jurus und Basth geweckt, die ihn schüttelten. Er war noch im Halbschlaf und
konnte seine Augen nicht ganz öffnen, aber ansonsten ging es ihm gut. Das Gespräch mit den Diplomaten trieb wie
ein Nebel durch sein Gedächtnis, wie eine verblassende Kindheitserinnerung.
"Was in Maras Namen ist Rotmeth?" fragte er schnell.
"Ranzige, stark fermentierte Fleischsäfte mit zahlreichen Gewürzen darin, um die Gifte abzutöten", lächelte Basth. "Ich
hätte Euch raten sollen, bei Jagga zu bleiben."
"Ihr solltet das Mandat des Fleisches mittlerweile verstanden haben", lachte Jurus. "Diese Bosmer würden sich eher
gegenseitig aufessen, als die Frucht der Rebe oder des Feldes anzufassen."
"Was habe ich diesen Diplomaten gesagt?", rief Scotti voller Panik.
"Offenbar nichts Schlimmes", sagte Jurus und zog einige Papiere hervor. "Eure Eskorte wartet unten, um Euch in die
kaiserliche Provinz zu bringen. Hier sind Eure Reisepapiere, die Euch sicheres Geleit gewähren. Der Silvenar scheint
es nicht erwarten zu können, dass die Geschäfte vorangehen. Er hat versprochen, Euch eine Art seltenen Schatz zu
schicken, wenn die Verträge erfüllt sind. Seht, er hat mir bereits etwas gegeben."
Jurus führte seinen neuen, mit einem wunderschönen großen, geschliffenen Rubin geschmückten Ohrring vor. Basth
zeigte, dass er einen ähnlichen hatte. Die beiden fetten Männer verließen den Raum, so dass Scotti sich anziehen
und packen konnte.
Ein ganzes Garderegiment des Silvenars erwartete ihn auf der Straße vor der Taverne. Sie umstanden eine Kutsche,
die mit dem offiziellen Wappen von Valenwald versehen war. Immer noch benommen stieg Scotti ein und der Kapitän
der Garde gab das Signal. Sie fielen in einen schnellen Galopp. Scotti schüttelte sich und blickte sich dann um. Basth
und Jurus winkten ihm zum Abschied.
"Wartet!" rief Scotti. "Kommt Ihr nicht auch mit zurück zur kaiserlichen Provinz?"
"Der Silvenar hat darum gebeten, dass wir als kaiserliche Repräsentanten zurückbleiben!" schrie Liodes zurück. "Für
den Fall, dass noch weitere Verträge und Verhandlungen vonnöten sind! Er hat uns zu Unthrappas ernannt, eine Art
besonderer Ehre für Fremde bei Hofe! Macht Euch keine Sorgen! Eine Menge Bankette erwarten uns! Ihr könnt die
Verhandlungen mit Vanech und Atrius selbst führen, und wir werden uns hier um alles kümmern."
Jurus brüllte noch weitere geschäftliche Ratschläge, aber seine Stimme wurde mit der Entfernung immer
undeutlicher. Schließlich war sie ganz verschwunden, als der Konvoi durch die Straßen von Silvenar raste. Der
Dschungel tauchte unvermittelt auf und schon befanden sie sich mittendrin. Scotti hatte ihn bisher nur zu Fuß oder in
langsamen Booten entlang des Flusses durchquert. Jetzt leuchtete er überall um ihn herum in unzähligen
Schattierungen von grün. Die Pferde schienen sich im Unterholz sogar noch schneller zu bewegen, als auf den
gleichmäßigen Straßen der Stadt. Weder die seltsamen Dschungelgeräusche noch die schweren Gerüche des
Dschungels durchdrangen die Eskorte. Es kam Scotti so vor, als würde er ein Theaterstück über den Dschungel
betrachten, mit einem sich schnell bewegenden Hintergrund, der nur einen flüchtigen Eindruck des Ortes gewährte.
So ging es mehrere Wochen lang. In der Kutsche befand sich ausreichend Wasser und Nahrung, er aß und schlief
also, während die Karawane unermüdlich weitereilte. Von Zeit zu Zeit hörte er das Geräusch von aufeinander
schlagenden Klingen, aber wenn er sich umsah, war, was immer die Karawane angegriffen hatte, schon lange hinter
ihnen verschwunden. Endlich erreichten sie die Grenze, wo eine kaiserliche Garnison stationiert war.
Scotti übergab den Soldaten, welche die Kutsche empfingen, seine Papiere. Sie bombardierten ihn mit unzähligen
Fragen, die er einsilbig beantwortete, und dann ließen sie ihn passieren. Es brauchte noch einige weitere Tage, bis
sie die Tore der Kaiserstadt erreichten. Die Pferde, die so schnell durch den Dschungel geflogen waren, wurden
langsamer. Im Gegensatz zu den Wochen zuvor erweckten die Schreie der einheimischen Vögel und die Gerüche
der Pflanzen Decumus Scotti wieder zum Leben. Es war, als hätte er in den letzten Monaten nur geträumt.
Vor den Toren der Stadt angelangt, wurde die Tür der Kutsche für Scotti geöffnet und er trat auf unsicheren Beinen
hinaus. Bevor er die Möglichkeit hatte, der Eskorte irgendetwas zu sagen, war sie auch schon verschwunden und
galoppierte durch den Wald zurück nach Süden. Das erste, was er tat, nun da er zu Hause war, war zur nächsten
Taverne zu gehen und einen Tee und Früchte und Brot zu sich zu nehmen. Wenn er nie wieder Fleisch äße, sagte
er zu sich selbst, würde ihm das sehr gut tun.
Die Verhandlungen mit Fürst Atrius und Fürst Vanech fanden unmittelbar danach statt. Es verlief alles sehr gut. Beiden
Kommissionen war klar, wie lukrativ der Wiederaufbau Valenwalds für ihre Agentur sein würde. Fürst Vanech bestand
mit einigem Recht darauf, dass er aufgrund der Tatsache, dass die Verträge auf Formularen seiner Kommission
geschrieben waren, das legale Recht auf sie habe. Fürst Atrius behauptete, dass Decumus Scotti sein Agent und
Repräsentant sei und dass er niemals entlassen worden war. Der Kaiser wurde als Vermittler angerufen, aber er
behauptete, nicht verfügbar zu sein. Sein Ratgeber, der kaiserliche Kampfmagier Jagar Tharn, war vor langer Zeit
verschwunden und konnte nicht aufgrund seiner Weisheit und unparteiischen Vermittlung hinzugezogen werden.
Scotti lebte in der Zwischenzeit sehr komfortabel von den Bestechungsgeldern, die ihm Fürst Atrius und Fürst Vanech
zukommen ließen. Woche um Woche traf ein Brief von Jurus oder Basth ein und fragte nach dem Stand der
Verhandlungen. Allmählich wurden diese Briefe immer seltener, dafür kamen nun dringendere vom Handelsminister
und dem Silvenar selbst. Der Krieg der Blauen Schlucht mit den Summerset-Inseln endete damit, dass die Altmer den
Waldelfen einige küstennahe Inseln abrangen. Der Krieg mit Elsweyr setzte sich fort und verwüstete die östlichen
Grenzregionen Valenwalds. Trotzdem stritten Vanech und Atrius immer noch darüber, wer helfen würde.
Eines schönen Morgens, zu Beginn des Frühlings des Jahres 3Ä 398, erschien ein Kurier an Decumus Scottis Tür.
"Fürst Vanech hat den Auftrag für den Wiederaufbau Valenwalds bekommen und bittet Euch, sobald wie möglich mit
den Verträgen zu ihm zu kommen."
"Hat Fürst Atrius beschlossen, nicht weiter zu bieten?" fragte Scotti.
"Er ist dazu leider nicht mehr in der Lage, da er leider einem ungeheuer bedauerlichen Unfall zum Opfer gefallen ist",
sagte der Kurier.
Scotti hatte sich schon gefragt, wie lange es dauern würde, bis die Dunkle Bruderschaft für einige finale
Verhandlungen hinzugezogen wurde. Als er zu Fürst Vanechs Baubehörde hinüber ging, einem beeindruckenden
Stück Architektur auf einem kleinen, aber respektablen Platz, fragte er sich, ob er das Spiel so gespielt hatte, wie er es
hätte tun sollen. Konnte Vanech so habgierig sein, ihm eine geringere Beteiligung zuzusprechen, nun da sein
Hauptkonkurrent tot war? Erfreut stellte er fest, dass Fürst Vanech bereits beschlossen hatte, Scotti zu zahlen, was sie
in der Hitze der Winterverhandlungen ausgemacht hatten. Seine Berater hatten ihm erklärt, dass andere, kleinere
Baubehörden den Zuschlag bekommen könnten, wenn die Angelegenheit nicht schnell und fair erledigt wurde.
"Ich bin froh, dass wir die geschäftlichen Angelegenheiten hinter uns gebracht haben", sagte Fürst Vanech freundlich.
"Jetzt können wir endlich den armen Bosmern helfen und die Gewinne einsammeln. Es ist zu schade, dass ihr nicht
während der Sache mit Bend'r-mahk und den Arnesianern unser Vertreter wart. Aber es wird noch viele Kriege
geben, da bin ich mir sicher."
Scotti und Fürst Vanech sandten dem Silvenar Nachricht, dass sie die Verträge endlich erfüllen könnten. Einige
Wochen später wurde ein Bankett zur Feier des ertragreichen Unternehmens veranstaltet. Decumus Scotti war der
Liebling der Kaiserstadt und keine Ausgabe wurde gescheut, es zu einem unvergesslichen Abend zu machen.
Als Scotti die Adeligen und reichen Kaufleute traf, die von seinen Geschäftsabschlüssen profitieren würden, drang ein
exotischer, aber irgendwie entfernt vertrauter Geruch in seine Nase. Er verfolgte ihn an seine Quelle: Eine dicke
geröstete Scheibe Fleisch, so lang und dick, dass sie mehrere Servierplatten bedeckte. Die cyrodiilischen Gäste aßen
es gierig, unfähig ihre Begeisterung für seinen Geschmack und seine Struktur in Worte zu kleiden.
"So etwas habe ich noch nie zuvor gegessen!"
"Es schmeckt wie Wild, das Schweinefleisch zu fressen bekommen hat!"
"Seht Ihr diese Maserung von Fett und Fleisch? Es ist ein Meisterstück!"
Scotti wollte sich auch eine Scheibe holen, aber dann sah er etwas, das tief in das geröstete Fleisch eingebettet war.
Er stieß beinahe mit seinem neuen Arbeitgeber Fürst Vanech zusammen, als er zurückstolperte.
"Wo kommt das her?" stammelte Scotti.
"Von unserem Klienten, dem Silvenar", strahlte der Fürst. "Es ist eine Art regionale Spezialität, die sie Unthrappa
nennen."
Scotti übergab sich, und konnte ziemlich lange nicht damit aufhören. Seine Unpässlichkeit warf einen
vorübergehenden Schatten auf den Abend, aber als Decumus Scotti nach Hause zu seinem Anwesen gebracht
wurde, setzten die Gäste ihr Mahl fort. Das Unthrappa war das Vergnügen aller. Noch umso mehr, als sich Fürst
Vanech selbst eine Scheibe abschnitt und tief darin den ersten von zwei Rubinen fand. Wie ungemein klug, sich ein
solches Gericht auszudenken, stimmten die Cyrodiil überein.
Waughin Jarth
Tag der Veröffentlichung: 13.12.2018
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Gewidmet demjenigen der Mehrunes Dagon bezwungen und alle Obliviontore geschlossen hat.