Band I
Es war einmal, vor fünfhundert Jahren, da lebte in Gramfeste - der Stadt der Edelsteine - eine blinde Witwe mit ihrem
einzigen Kind, einem jungen Mann von beeindruckender Statur. Wie sein Vater vor ihm war er Bergmann - ein einfacher
Arbeiter in den Bergwerken des Fürsten von Gramfeste, denn er war kein sehr begabter Magier. Es war ein ehrenhaftes
Tagewerk, doch die Bezahlung war schlecht. So buk und verkaufte die alte Witwe Cohmbeerenkuchen auf dem Markt in der Stadt,
damit sie ihr karges Auskommen hatten. Wenn man sie fragte, so entgegnete sie stets, es gehe ihnen recht gut. Schließlich
mussten sie nie Hunger leiden, und mehr als eine Garnitur Kleidung konnte ohnehin kein Mensch auf einmal tragen. Und das
Dach war auch nur bei Regen undicht. Doch Symmachus dürstete es nach mehr. Er hoffte, eines Tages im Bergwerk auf eine gute
Ader zu stoßen und dafür mit einem reichen Bonus belohnt zu werden. In seiner Freizeit trank er gern mit seinen Freunden
den ein oder anderen Krug Bier in der Taverne, und spielte mit ihnen Karten. Mehr als einmal fiel sein Auge auf das eine
oder andere hübsche Elfenmädchen - und dabei blieb es meist nicht - doch lange konnte keines sein Interesse fesseln. Genau
genommen wirkte er wie ein typischer junger Dunkelelf einfacher Herkunft. Außergewöhnlich war nur seine Größe. Angeblich
sollte etwas nordisches Blut durch seine Adern fließen.
Im dreißigsten Lebensjahr des Symmachus gab es großen Jubel in Gramfeste - der fürstlichen Familie war eine Tochter geboren
worden. Eine Königin, freute sich das Volk das Volk, eine Königin ist uns geboren! Denn in Gramfeste galt die Geburt einer
Thronfolgerin stets als sicheres Vorzeichen für Frieden und Wohlstand.
Als die Zeit für die Zeremonie der Namensgebung des Mädchens gekommen war, wurden die Bergwerke geschlossen. Symmachus
eilte nach Hause, um zu baden und sein bestes Hemd anzuziehen. „Ich kehre direkt danach nach Hause zurück und will Euch
davon berichten”, versprach er seiner Mutter, die zu schwach war, um selbst der Zeremonie beizuwohnen. Die Witwe war krank,
und der Andrang fast aller Bürger von Gramfeste bei diesem Ereignis wäre zu viel für sie gewesen. Aber da sie blind war,
meinte sie, könne sie ohnehin nichts sehen.
„Mein Sohn”, sagte sie nun. „Holt mir noch einen Priester oder einen Heiler, bevor Ihr geht. Mag sein, dass ich aus diesem
Leben scheiden muss, noch ehe Ihr zurückkehrt.”
Symmachus ging sogleich an ihr Krankenlager. Besorgt bemerkte er, dass Ihr Atem flach und ihre Stirn heiß war. Er hebelte
die Bodenplanke auf, unter der ihre geringen Ersparnisse lagen. Doch es war bei weitem nicht genug, um einen Priester für
den Heilritus zu bezahlen. Er würde bieten müssen, was sie hatten, und den Rest schuldig bleiben. Geschwind nahm er sein
Gewand und eilte davon.
Die Strassen waren voller Menschen, die zum geheiligten Hain strömten, doch die Tempel waren verriegelt und verschlossen.
„Geschlossen für die Dauer der Zeremonie”, stand auf sämtlichen Schildern.
Symmachus drängte sich durch die Menschenmenge. Es gelang ihm, einen Priester in brauner Kutte ausfindig zu machen. „Nach
der Zeremonie will ich gerne nach Eurer Mutter sehen, Bruder, wenn ihr das Geld habt”, wiegelte dieser ihn ab. Milord hat
allen Priestern und Geistlichen befohlen, teilzunehmen - und ich möchte seinen Zorn nicht auf mich ziehen.'
„Aber meine Mutter ist sterbenskrank”, suchte ihn Symmachus zu erweichen. „Sicher wird es Milord nicht auffallen, wenn ein
einziger Priester fehlt.”
„Gewiss nicht, doch dem Erzkanoniker schon”, gab der Priester nervös zurück. Mit diesen Worten riss er seine Kutte aus
Symmachus verzweifeltem Griff und verschwand in der Menge.
Er sprach viele weitere Priester an, und sogar einige Magier, ohne jedoch mehr Glück zu haben. Wachen in Rüstung
marschierten durch die Straße und schoben ihn mit ihren Lanzen zur Seite. Ihm wurde klar, dass die Kutsche des Fürsten
nahte.
Als die Kutsche der Herrscherfamilie auf seiner Höhe war, stürzte Symmachus auf sie zu und rief „Milord, Milord! Meine
Mutter stirbt und ...!”
„Ich verbiete ihr, so etwas an diesem großen Tage zu tun!” rief der Fürst, lachte und warf dem Volk ein paar Münzen zu.
Symmachus war nahe genug, um den Wein in seinem Atem zu riechen. Auf der anderen Seite der Kutsche hielt seine Gemahlin ihr
Kind fest umklammert und starrte Symmachus feindselig aus zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen an. Sie schnaubte
angewidert.
„Wachen!” rief sie. „Schafft uns diesen Esel vom Leibe.” Symmachus wurde von harten Männerhänden gepackt, geschlagen, und
landete benebelt im Straßengraben.
Mit dröhnendem Kopf folgte er der Menge aus der Ferne. Die Namensgebung erlebte er von einem nahe gelegenen Hügel aus mit.
Er sah, wie die braun gewandeten Priester und die Magier in ihren blauen Roben weit unten bei den Edelleuten standen.
Barenziah.
Schwach war der Name aus der Ferne zu hören, als der Hohepriester das Kind in seinem Taufkleid emporhob und es den beiden
Monden auf beiden Seiten des Horizonts zuwandte: Dem auf- und dem untergehenden Jonu.
„Sehet die Fürstin Barenziah, geboren dem Lande Gramfeste! Gewährt ihr Euren Segen und Euren Rat, gütige Götter, auf dass
sie ewig gütig über Gramfeste herrschen möge, über das Reich und sein Wohl, sein Volk und sein Schicksal.”
„Gewährt ihr Euren Segen, so bitten wir ...”, tönte es aus allen Kehlen zusammen mit Fürst und Fürstin, die Menschen
standen mit emporgereckten Armen da.
Symmachus allein blieb still, das Haupt gesenkt, in seinem Herzen die Gewissheit tragend, dass seine geliebte Mutter nicht
unter den Lebenden weilte. In diesem Augenblick schwor er schweigend einen mächtigen Eid: Für den Niedergang des Fürsten
würde er kämpfen. Als Rache für den sinnlosen Tod seiner Mutter wolle er das Kind Barenziah zu seinem eigenen Weib nehmen,
auf dass die Enkel seiner Mutter einst als Herrscher über Gramfeste geboren würden.
Die Zeremonie war vorbei. Teilnahmslos sah er zu, wie die königliche Prozession zum Palast zurückkehrte. Da erblickte er
den Priester, mit dem er zuerst gesprochen hatte. Nun war der Mann durchaus willens, mit ihm zu kommen, wenn Symmachus ihm
das Geld gäbe, das er hatte und ihm versprach, dass er später noch mehr erhalten solle.
Doch die Mutter war bereits tot.
Seufzend steckte der Priester das Geld ein. „Es tut mir aufrichtig Leid, Bruder. Lasst es mit dem übrigen Geld gut sein,
hier kann ich nichts mehr ausrichten. Wahrscheinlich -”
„Gebt mir mein Geld zurück!” fauchte ihn Symmachus an. „Ihr habt keinen Finger gerührt, um es Euch zu verdienen!” Drohend
hob er den rechten Arm.
Erschrocken trat der Priester ein paar Schritte zurück und wollte einen Fluch aussprechen. Doch Symmachus Schlag traf ihn
ins Gesicht, bevor er auch nur drei Worte sprechen konnte. Er fiel schwer, und sein Kopf schlug hart auf der steinernen
Feuerstelle auf. Der Mann war sofort tot.
Symmachus packte das Geld und floh aus der Stadt. Im Lauf wiederholte er ein Wort immer und immer wieder, als sei es die
Beschwörung eines Zauberers. „Barenziah”, murmelte er. „Barenziah. Barenziah.”
Barenziah stand auf einem der Balkone des Palasts. Sie blickte starr in den Hof. Hier wimmelte es vor Soldaten in
funkelnder Rüstung. Bald stellten sie sich in Reih und Glied auf und jubelten, als ihre Eltern, von Kopf bis Fuß in
funkelnd schwarzer Rüstung und in lange violette Pelzroben gehüllt aus dem Palast traten. Herrlich geschmückte Streitrösser
mit glänzend schwarzem Fell wurden für sie herbeigeführt. Sie stiegen auf und ritten zum Tor und wandten sich ein letztes
Mal zum Gruß um.
„Barenziah!” riefen sie. „Lebe wohl, geliebte Barenziah!”
Die Kleine kämpfte gegen die Tränen und winkte tapfer mit ihrer freien Hand. Mit der anderen hielt sie ihr Lieblings-
Plüschtier - einen grauen Wolfwelpen, den sie Wuffel nannte - fest an ihre Brust gedrückt. Noch nie war sie von ihren
Eltern getrennt gewesen. Sie hatte auch keine Ahnung, was all das zu bedeuten hatte. Man hatte ihr lediglich gesagt, dass
im Westen Krieg herrsche, und dass der Name Tiber Septim allerorts Furcht und Schrecken verbreite.
„Barenziah!” riefen nun auch die Soldaten, und reckten ihre Lanzen, Schwerter und Bögen empor, um sie zu grüßen. Dann
wandten sich ihre geliebten Eltern ab und ritten von dannen, gefolgt von Rittern. Bald war der Hof so gut wie leer.
Einige Zeit später rüttelte ein Kindermädchen Barenziah früh morgens eilig wach, zog sie an, und brachte sie aus dem
Palast.
Ihre einzige Erinnerung an diese schreckliche Zeit war später, dass ein riesiger Schatten mit brennenden Augen am Himmel zu
sehen war. Man reichte sie von einer Hand zur nächsten. Fremde Soldaten kamen, gingen, und manchmal kehrten sie auch
zurück. Ihr Kindermädchen verschwand und wurde durch Fremde ersetzt, manche davon fremdartiger als andere. Tage- oder
vielleicht wochenlang war sie auf Reisen.
Eines Morgens erwachte sie und trat aus der Kutsche. Der Ort war kalt. Eine riesige, graue Festung aus Fels stand inmitten
von leeren, endlosen grau-grünen Hügeln, auf denen Reste von grau-weißem Schnee zu sehen waren. Mit beiden Händen klammerte
sie sich an Wuffel, als sie blinzelnd und zitternd im Grau des Morgens stand. Sie fühlte sich sehr klein und sehr dunkel in
dieser endlosen grau-weißen Weite.
Zusammen mit Hana, einer dunkelhäutigen, schwarzhaarigen Dienerin, die seit mehreren Tagen mit ihr reiste, betrat sie die
Festung. Eine riesige grau-weiße Frau mit eisgrau-goldenem Haar stand in einem der Zimmer am Feuer. Mit entsetzlich
durchdringenden, hellblauen Augen blickte sie Barenziah durchdringend an.
„Sie ist schon sehr -- schwarz, nicht wahr?” meinte die Frau zu Hana. „Ich habe noch nie einen Dunkelelf gesehen.”
„Ich weiß selbst nicht viel über sie, Milady”, sagte Hana. „Aber die Kleine hier hat rote Haare und das passende
Temperament dazu, das kann ich Euch garantieren. Nehmt Euch in acht. Sie beißt. Und das ist nicht alles.”
„Das werde ich ihr bald austreiben”, sagte die Frau naserümpfend. „Und was ist das denn für ein widerliches Ding? Pfui!”
Mit diesen Worten packte sie Wuffel und warf ihn in die Flammen.
Barenziah schrie und wollte sich ebenfalls ins Feuer werfen, doch alles Beißen und Kratzen nützte nichts: Starke Hände
hielten sie zurück. Bald war der arme Wuffel zu einem winziges Häufchen Asche verkohlt.
Barenziah wuchs wie ein junger Schössling im Garten in Himmelsrand als Mündel von Graf Sven und Gräfin Inga auf. Äußerlich
hatte es den Anschein, als gedeihe sie prächtig ... doch die Kälte und Leere, die sie empfand, war stets bei ihr.
„Wie meine eigene Tochter habe ich sie behandelt”, seufzte Gräfin Inga häufig, wenn die Damen der Nachbarschaft zum Klatsch
kamen. „Aber sie ist und bleibt ein Dunkelelf. Da kann man wohl nichts anderes erwarten, fürchte ich.”
Diese Worte waren nicht für Barenziahs Ohren bestimmt ... dessen war sie sich relativ sicher. Doch ihr Gehör war feiner als
jenes ihrer nordischen Vormünder. Andere, weniger wünschenswerte Wesenszüge schlossen Plündern, Lügen und ein wenig
fehlgeleitete Magie ein, ein kleiner Feuerzauber hier oder ein kleiner Levitationszauber dort konnte ja nichts schaden ...
Mit zunehmendem Alter kam ein großes Interesse an jungen und nicht ganz so jungen Männern hinzu, die sehr Angenehmes zu
bieten hatten -- und sogar Geschenke, wie sie überrascht feststellte. Aus Gründen, die Barenziah verborgen blieben, sah
Gräfin Inga diese äußerst ungern, weshalb sie diesen Aspekt so geheim wie möglich hielt.
„Sie kann wunderbar mit Kindern umgehen”, setzte Inga hinzu. Dies bezog sich auf ihre fünf Söhne, allesamt jünger als
Barenziah. „Ich glaube, sie würde nie zulassen, dass man ihnen auch nur ein Haar krümmt.” Als Jonni sechs und Barenziah
acht Jahre alt war, hatte man einen Hauslehrer angeheuert, der die beiden gemeinsam unterrichtete. Zu gerne hätte sie auch
die Kriegskünste erlernt, doch bereits das bloße Ansinnen rief blankes Entsetzen bei Graf Sven und Gräfin Inga hervor.
Immerhin bekam sie einen kleinen Bogen und durfte mit den Jungen zum Spaß auf Zielscheiben schießen. Wann immer sie konnte,
sah sie den Jungen beim Waffentraining zu, kämpfte gegen sie, wenn gerade keine Erwachsenen zusahen, und wusste genau, dass
sie mindestens genauso gut war wie die Jungen - wenn nicht besser.
„Aber sie ist schon arg ... stolz, nicht wahr?” flüsterte eine der Damen dann Inga zu, und Barenziah nickte in stiller
Zustimmung, obwohl sie tat, als hörte sie nichts. Sie konnte nicht anders, als sich dem Graf und der Gräfin gegenüber
überlegen zu fühlen. Sie hatten irgendetwas an sich, das verachtenswürdig war.
Später sollte sie erfahren, dass Sven und Inga entfernte Verwandte der letzten adligen Herrscher der Festung Finstermoor
waren. Da endlich begriff sie. Die beiden waren Poseure, Hochstapler, keine wahren Herrscher. Zumindest waren sie nicht zum
Herrschen geboren. Dieser Gedanke weckte in ihr einen merkwürdigen Zorn auf die beiden - einen glasklaren Hass, der nichts
mit Abneigung zu tun hatte. Mit der Zeit betrachtete sie die beiden als widerliche, abstoßende Insekten, die man verachten,
doch niemals fürchten konnte.
Einmal im Monat kam ein Kurier vom Kaiserhof. Stets brachte er einen kleinen Beutel mit Geld für Sven und Inga und einen
großen Beutel getrocknete Pilze aus Morrowind für Barenziah, ihre Leibspeise. Bei diesen Gelegenheiten putzte man sie
heraus - zumindest soweit, wie dies in Gräfin Ingas Augen bei einer dürren Dunkelelfe möglich war, bevor sie dem Kurier für
ein kurzes Gespräch vorgeführt wurde. Selten kam derselbe Kurier zweimal, doch alle beäugten sie wie ein Bauer sein
Schwein, um zu schauen, ob es schon marktreif war.
Im Frühjahr ihres sechzehnten Lebensjahrs meinte Barenziah, der Kurier sähe sie an, als sei sie nun reif für den Markt.
Nach reiflicher Überlegung beschloss sie, dass sie nicht den Wunsch hatte, zu Markt getragen zu werden. Seit einigen Wochen
drängte sie der Stalljunge Strenz bereits - ein großer, muskelbepackter blonder Junge, ein wenig tollpatschig, lieb und
zärtlich sowie eher einfach gestrickt -, mit ihm davonzulaufen. Barenziah stibitzte den Beutel mit dem dem Geld, nahm die
Pilze aus dem Vorratskeller, und verkleidete sich mit Hilfe von Jonnis alten Waffenröcken und Kniehosen als Junge. In einer
herrlichen Frühlingsnacht nahm sie mit Strenz zusammen die beiden besten Pferde aus dem Stall und ritt die ganze Nacht
hindurch bis nach Weißlauf, die nächste erwähnenswerte Stadt und der Ort, an dem Strenz sein wollte. Doch Gramfeste und
Morrowind lagen ebenfalls gen Osten und zogen Barenziah an, wie ein Magnetstein Eisen anzieht.
Im Morgengrauen bestand Barenziah darauf, dass sie die Pferde hinter sich ließen. Sie wusste, dass man sie vermissen und
verfolgen würde, und hoffte, eventuelle Verfolger so auf die falsche Fährte zu bringen.
Bis zum späten Nachmittag gingen sie zu Fuß weiter, und hielten sich an die Seitenstraßen. Einige Stunden Schlaf
ergatterten sie in einer verlassenen Hütte. Abends gingen sie weiter und erreichten kurz vor Morgengrauen die Stadttore von
Weißlauf. Barenziah hatte eine Art Pass für Strenz zusammengestellt, ein improvisiertes Dokument, das besagte, dass er für
einen kleinen Dorffürsten etwas in der Stadt zu tun habe. Sie selbst nutzte einen Levitationszauber, um über die Mauern zu
gelangen. Diese Massnahmen traf sie aus der Überlegung heraus, dass die Wachen am Tor mittlerweile sicher angewiesen worden
waren, ein Auge auf eine junge Dunkelelfe und einen nordischen Jungen zu haben, die gemeinsam unterwegs waren - eine
Vermutung, die sich später als absolut zutreffend herausstellen sollte. Allein reisende Dorfjungen wie Strenz dagegen waren
zuhauf unterwegs. Alleine und durch Papiere ausgewiesen war es unwahrscheinlich, dass er Aufmerksamkeit auf sich ziehen
würde.
Ihr einfacher Plan lief ohne Probleme. Sie traf Strenz beim Tempel in der Nähe des Tores - diesen kannte sie von diversen
früheren Besuchen in Weißlauf. Strenz dagegen war noch nie mehr als einige Meilen von Graf Svens Besitz entfernt gewesen,
auf dem er auch geboren war.
Gemeinsam machten sie sich dann auf zu einem heruntergekommenen Gasthof im ärmeren Stadtteil von Weißlauf. Handschuhe,
Umhang und Kapuze schützten Barenziah nicht nur vor der Kälte, sondern versteckten auch ihre dunkle Haut und ihre roten
Augen. Getrennt betraten Sie die Wirtsstube. Strenz bezahlte ein einfaches Lager, eine riesige Mahlzeit, und zwei Krüge
Bier. Wenige Minuten später schlich sich Barenziah in den Raum.
Voller Freude aßen und tranken sie zusammen, feierten ihre erfolgreiche Flucht, und gingen auf dem schmalen Lager mit
großer Energie den Freuden des Fleisches nach. Bald darauf sanken sie erschöpft in einen traumlosen Schlaf.
Sie blieben eine Woche lang in Weißlauf. Strenz verdiente ein bisschen Geld mit Botengängen, und Barenziah brach nachts in
einige Häuser ein. Sie kleidete sich weiterhin als Junge. Das Haar schnitt sie kurz ab und färbte ihre flammend rote Mähne
pechschwarz, um die Verkleidung zu verbessern. Außerdem blieb sie so weit wie möglich außer Sichtweite, denn in Weißlauf
gab es nur wenige Dunkelelfen.
Eines Tages gelang es Strenz, für sie beiden den Auftrag zur Bewachung einer Händlerkarawane zu ergattern, die gen Osten
reiste. Der einarmige Feldwebel sah sie skeptisch an.
„Dunkelelf, hm?” lachte er vor sich hin. „'s wie'n Wolf abstellen, um die Schafe zu bewachen. Aber ich brauch Leute, die
mit Waffen gut sind. Und so nah kommen wir nicht an Morrowind, Ihr werdet uns wohl nicht verraten. Und unsere Straßenräuber
schneiden dir genauso gern die Kehle durch wie mir.”
Mit diesen Worten wandte er sich um, um Strenz wohlwollend zu betrachten. Plötzlich drehte er sich blitzschnell wieder zu
Barenziah um und zückte sein Kurzschwert. Im Handumdrehen hatte sie den eigenen Dolch gezückt und war in
Verteidigungshaltung. Strenz zog ebenfalls sein Messer und war in Windeseile hinter ihm. Der Mann ließ das Schwert fallen
und lachte abermals.
„Gar nicht schlecht, Kinder. Wie steht's mit Euren Künsten im Bogenschießen, Dunkelelf?” Barenziah gab eine kurze Kostprobe
ihres Könnens. „Na, ich hab schon schlechteres geseh'n. Und'n Junge, der nachts gut sieht und hört, den können wir
brauchen. Bessere Kampfgefährten als vertrauenswürdige Dunkelelfen gibt's nicht. Ich muss es wohl wissen. Habe selbst unter
Symmachus höchstpersönlich gedient, bevor ich den Arm verloren hab und als Invalide aus der Armee des Kaisers ausscheiden
musste.”
„Wir könnten sie verraten. Ich kenne Leute, die uns viel Geld dafür geben würden', meinte Strenz später, als sie sich zum
letzten Mal in der baufälligen Gaststätte schlafen legten. 'Oder sie gleich selbst ausrauben. Berry, diese Händler sind
sehr, sehr reich.”
Barenziah lachte. „Was würden wir denn mit so viel Geld anstellen? Und außerdem brauchen wir ihren Schutz auf der Reise
genauso sehr wie sie den unseren.”
„Wir könnten uns einen kleinen Hof kaufen, Berry, nur du und ich - und uns niederlassen und immer glücklich sein.”
Was für ein Bauer! dachte Barenziah verächtlich. Strenz war durch und durch bäuerlicher Abstammung und hatte nichts als
bäuerliche Träume. Doch sie sagte nur „Hier nicht, Strenz, wir sind noch zu nah an Finstermoor. Weiter im Osten haben wir
bessere Chancen.”
Die Karawane zog nicht weiter als bis Sonnwach. Kaiser Tiber Septim I. hatte dafür gesorgt, dass relativ sichere und
regelmäßig patrouillierte Straßen gebaut wurden. Die Zölle waren jedoch hoch, und ihre Karawane versuchte diese durch
Benutzung von Seitenstraßen möglichst zu umgehen. So waren sie aber natürlich Wegelagerern und Straßenräubern - Menschen
wie Orks - sowie umherziehenden Banden verschiedenster Rassen ausgeliefert. Doch das war die alltägliche Gefahr in diesem
Geschäft.
Zwei Überfälle dieser Art ereigneten sich, bevor sie Sonnwach erreichten: einen Hinterhalt, vor dem Barenziahs
hervorragendes Gehör sie jedoch rechtzeitig warnte, so dass sie die Räuber von hinten überraschen konnten, und ein
nächtlicher Überfall durch eine gemischte Truppe Khajiit, Menschen und Waldelfen. Letztere waren erfahrene Kämpfer und
sogar Barenziah hörte sie nicht rechtzeitig, um schnell genug eine Warnung ausgeben zu können. Dieses Mal wurde hart
gekämpft. Zwar konnten sie die Angreifer abwehren, doch zwei der anderen Wachen der Karawane ließen dabei ihr Leben und
Strenz steckte eine üble Schnittverletzung am Oberschenkel ein, bevor es Barenziah gelang, die Kehle seines Angreifers -
eines Khajiit - durchzuschneiden.
Barenziah genoss dieses Leben auf gewisse Weise. Der knurrige Feldwebel hatte sie ins Herz geschlossen, und so verbrachte
sie den Großteil ihrer Abende am Lagerfeuer und hörte seinen Erzählungen über Kämpfe in Morrowind mit Tiber Septim und
General Symmachus zu. Diesen Symmachus hatte man zum General berufen, nachdem Gramfeste gefallen war. „Er ist ein guter
Soldat, dieser Symmachus, wirklich. Aber gute Soldaten reichen nicht für Morrowind, wenn Ihr versteht, was ich meine. Aber
darüber wisst Ihr wohl alles, schätze ich.”
„Nein, eigentlich nicht”, meinte Barenziah, bemüht, möglichst nonchalant zu wirken. „Ich habe fast mein ganzes Leben in
Himmelsrand verbracht. Meine Mutter hat einen Mann von dort geheiratet. Sind aber beide tot. Was ist denn mit der
fürstlichen Familie von Gramfeste passiert?”
Der Feldwebel zuckte mit den Schultern. „Hab ich nie erfahren. Vermutlich sind sie tot. Es gab eine Menge Kämpfe bevor der
Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet wurde. Derzeit ist es ziemlich ruhig - vielleicht zu ruhig. Wie die Ruhe vor dem
Sturm. Wollt Ihr da etwa wieder hin?”
„Kann sein”, entgegnete Barenziah. In Wahrheit zog sie Morrowind unwiderstehlich an, besonders Gramfeste - sie fühlte sich
wie eine Motte, die in ein brennendes Haus fliegen muss. Strenz bemerkte das und war gar nicht froh darüber. Insgesamt war
er unfroh darüber, dass sie nicht zusammen schlafen konnten - sie war ja angeblich ein Junge. Barenziah vermisste das zwar
auch, aber anscheinend längst nicht so sehr wie er.
Der Feldwebel wollte sie für die Rückreise gleich wieder anheuern, doch sie lehnten ab. Dennoch gab er ihnen mehr, als
vereinbart gewesen war, und außerdem ein Empfehlungsschreiben.
Strenz wollte sich dauerhaft in der Nähe von Sonnwach niederlassen, doch Barenziah bestand darauf, ihre Reise gen Osten
fortzusetzen. „Ich bin die rechtmäßige Königin von Gramfeste”, sagte sie, auch wenn sie sich nicht ganz sicher war, ob das
stimmte -- vielleicht war es ja auch nur der Tagtraum eines einsamen, verlorenen Kindes gewesen? „Ich will nach Hause. Ich
muss nach Hause.” Das zumindest stimmte.
Ein paar Wochen später gelang es ihnen, eine andere Karawane zu finden, die gen Osten zog und sie anheuerte. Zu Beginn des
Winters hatten sie Rifton erreicht und näherten sich der Grenze zu Morrowind. Doch das Wetter war in den letzten Tagen
immer rauer und kälter geworden und sie erfuhren, dass vor Mitte des Frühjahrs keine Händlerkarawanen mehr losziehen
würden.
Barenziah stand auf der Stadtmauer und starrte gebannt über die tiefe Schlucht, welche Rifton von den schneebedeckten
Bergen trennte, die Morrowind auf der anderen Seite schützten.
„Berry”, sagte Strenz sanft. „Gramfeste ist noch weit, fast so weit wie wir bisher gekommen sind. Und das Land bis dorthin
ist wild, voller Wölfe, Banditen, Orks und noch viel Schlimmerem. Wir müssen bis zum Frühjahr warten.”
„Immerhin Turm Silgrod gibt es”, entgegnete sie. Turm Silgrod war eine Stadt der Dunkelelfen, die um ein uraltes Minarett
herum entstanden war, das die Grenze zwischen Himmelsrand und Morrowind bewachte.
„Die Wachen auf der Brücke lassen mich nicht durch, Berry. Das sind die besten Truppen des Kaisers. Sie sind absolut
unbestechlich. Wenn du gehst, musst du alleine gehen. Ich werde nicht versuchen, dich aufzuhalten. Aber was willst du dort
tun? Turm Silgrod ist voll mit Soldaten des Kaiserreichs. Willst du für sie Wäsche waschen? Oder dich von ihnen aushalten
lassen?”
„Nein”, sagte Barenziah langsam und nachdenklich. So uninteressant war die Idee eigentlich nicht. Sicher könnte sie ihr
Auskommen haben, indem sie für Geld mit den Soldaten schlief. In Himmelsrand hatte sie einige Abenteuer dieser Art erlebt -
gelegentlich hatte sie sich als Frau gekleidet und war von Strenz weggeschlichen. Sie suchte eigentlich nichts weiter als
ein bisschen Abwechslung. Strenz war sehr lieb, aber eben langweilig. Sie war überrascht, aber auch sehr erfreut gewesen,
als die Männer ihr hinterher Geld angeboten hatten. Strenz war darüber sehr unglücklich gewesen. Wenn er sie erwischt
hatte, hatte er erst eine Zeit lang getobt und dann tagelang geschmollt. Er war recht eifersüchtig und hatte sogar gedroht,
sie zu verlassen. Was er allerdings nie tat. Und auch nicht konnte.
Doch die Kaiserlichen Wachen waren in jeder Hinsicht eine raue, brutale Bande, und Barenziah selbst hatte schon einige sehr
hässliche Geschichten am Lagerfeuer gehört. Bei weitem die Schrecklichsten hatten alte Armeeveteranen mit Stolz erzählt.
Sie hatten natürlich versucht, sie und Strenz zu beeindrucken und zu schockieren, das war ihr klar - aber genauso gut
wusste sie, dass ein wahrer Kern in alledem steckte. Strenz hasste diese Art von Erzählungen, ganz besonders, wenn sie es
hörte. Aber ein Teil von ihm war dennoch fasziniert gewesen.
Barenziah spürte das und hatte ihn ermutigt, sich auch andere Frauen zu suchen. Doch er sagte, er wolle niemanden außer
ihr. Sie sagte ihm unmissverständlich, dass sie keine solchen Gefühle für ihn hegte, aber dass sie ihn doch mehr mochte als
sonst irgendjemanden. „Warum gehst du dann zu anderen Männern?” hatte sie Strenz bei einer solchen Gelegenheit gefragt.
„Ich weiß es nicht.”
Strenz seufzte. „Angeblich sind alle Dunkelelfen so.”
Barenziah lächelte und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Oder vielleicht doch ... Ja, doch, ich weiß es.” Sie
wandte sich um und küsste ihn liebevoll. „Ich glaube, das ist wohl die einzige Erklärung, die es gibt.”
Band II
Barenziah und Strenz liessen sich also den Winter über in Rifton nieder. Zu diesem Zweck mieteten sie sich in einem
billigen Zimmer im ärmeren Viertel der Stadt ein. Barenziah wollte der Diebesgilde beitreten, sehr wohl wissend, dass es
Ärger gäbe, wenn man sie bei eigenmächtigen Diebestouren erwischte. Eines Tages traf sie in einer Taverne auf ein bekanntes
Gildenmitglied, einen verwegenen jungen Khajiit namens Therris. Sie bot an, mit ihm zu schlafen, wenn er Pate für ihre
Aufnahme stehen würde. Er sah sie von oben bis unten an, grinste, und stimmte zu. Allerdings würde sie trotzdem einen
Initiationsritus mitmachen müssen.
„Und wie sieht der aus?”
„Ah”, sagte Therris. „Erst will ich sehen, was ich da geboten kriege, Süße.”
[Diese Passage wurde auf Befehl des Tempels zensiert]
Strenz würde sie umbringen. Und Therris womöglich auch. Was in Tamriel war nur in sie gefahren, so etwas zu tun? Sie sah
sich besorgt im Raum um, doch die anderen Gäste hatten bereits das Interesse verloren und sich wieder ihren eigenen
Angelegenheiten zugewandt. Sie erkannte keinen der Gäste - es war ein anderes Gasthaus als das, in dem sie sich mit Strenz
eingemietet hatte. Mit etwas Glück würde es einige Zeit dauern, bis Strenz davon erfuhr. Oder vielleicht, so hoffte sie,
würde sie es vollständig geheim halten können.
Therris war bei weitem der aufregendste und attraktivste Mann, dem sie je begegnet war. Er unterrichtete sie nicht nur über
die Fähigkeiten, die sie brauchen würde, um Mitglied der Diebesgilde zu werden, sondern unterwies sie auch persönlich darin
oder, falls das nicht ging, machte er sie mit den richtigen Leuten bekannt, die ihr alles Nötige beibringen konnten.
Unter ihnen war eine Frau, die einiges über Magie wusste. Katisha war eine stämmige, matronenhafte Nordin. Ihr Mann war
Schmied, sie hatte zwei Kinder im jugendlichen Alter, und war durch und durch gewöhnlich und ehrlich - mit der Ausnahme,
dass sie Katzen sehr gerne mochte (und somit logischerweise auch deren menschenähnliche Gegenstücke, die Khajiit), ein
Talent für eine gewisse Art von Magie und eher merkwürdige Freunde hatte. Sie brachte Barenziah einen Unsichbarkeitszauber
bei und bildete sie in anderen Formen des Schleichens und der Tarnung aus. Katisha verband magische und nichtmagische
Talente freimütig, und wertete so das eine durch das andere auf. Sie war kein Mitglied der Diebesgilde, hegte jedoch
irgendwie mütterliche Gefühle für Therris. Barenziah schloss sie ins Herz, wie das nie zuvor bei einer Frau der Fall
gewesen war. Im Verlauf der nächsten Wochen erzählte sie Katisha alles über sich.
Gelegentlich brachte sie Strenz ebenfalls mit. Strenz mochte Katisha. Therris dagegen keineswegs. Therris dagegen fand
Strenz „interessant” und schlug Barenziah vor, dass sie es doch einmal mit einem „flotten Dreier” probieren sollten, wie er
es nannte.
„Auf gar keinen Fall”, antwortete Barenziah empört. Sie war froh, dass Therris das Thema wenigstens dies eine Mal unter
vier Augen angesprochen hatte. „Das würde ihm überhaupt nicht gefallen. Und mir auch nicht!”
Therris lächelte auf seine ureigene charmante, katzenhaft-dreieckige Weise, und streckte sich faul auf dem Stuhl aus. „Ihr
wärt sicher überrascht. Beide. Zu zweit ist das alles so langweilig ...”
Barenziah sah ihn mit blitzenden Augen wütend an.
„Oder vielleicht mögt Ihr's ja auch nicht, wenn dieser Dorftrottel da mitmacht, Süße. Wie wär's, wenn ich 'nen Kumpel
mitbrächte?”
„Das würde mich allerdings stören. Wenn ich Euch zu langweilig bin, könnt Ihr Euch mit Eurem Kumpel jemand anderen suchen.”
Sie war mittlerweile Mitglied der Diebesgilde, hatte den Initiationsritus bestanden. Therris war ganz nützlich, aber nicht
wichtig. Vielleicht langweilte er sie auch einfach ein wenig.
Bei Katisha fand sie ein offenes Ohr für ihre Männerprobleme. Oder das, was sie für ihre Männerprobleme hielt. Katisha
schüttelte den Kopf und sagte ihr, dass sie nach Liebe und nicht nach Sex suche. Sie würde den richtigen Mann schon
erkennen, wenn sie ihn erst einmal gefunden habe - und dass weder Strenz noch Therris der Richtige seien.
Barenziah legte den Kopf fragend zur Seite. „Angeblich sind die Frauen der Dunkelelfen alle po ... pro ... Prostituierte?”
fragte sie zweifelnd.
„Du meinst, sie sind polygam. Obwohl sicher einige Prositituierte sind, nehme ich an”, fügte Katisha nachdenklich hinzu.
„Elfen sind in der Jugend nicht monogam. Aber das wächst sich aus. Vielleicht hat das bei dir bereits angefangen”, fügte
sie hoffnungsvoll hinzu. Sie mochte Barenziah, hatte sie regelrecht ins Herz geschlossen. „Du solltest ein paar nette
Elfenjungs kennen lernen. Wenn du dich weiterhin mit Khajiit, Menschen und weiß der Himmel wem noch, herumtreibst, bist du
im Handumdrehen schwanger.”
Barenziah musste bei diesem Gedanken lächeln. „Ich glaube, das würde mir gefallen. Aber es wäre wirklich derzeit etwas
unpraktisch, nicht wahr? Kleine Kinder sind ziemlich anstrengend, und ich habe noch nicht einmal ein eigenes Zuhause.”
„Wie alt bist du jetzt eigentlich, Berry? Siebzehn? Nun, wenn du nicht großes Pech hast, dauert es noch ein Jahr oder zwei,
bis du fruchtbar wirst. Auch danach bekommen Elfen nicht sehr schnell mit anderen Elfen Kinder, wenn du dich also an Elfen
hältst, dürfte das kein großes Problem sein.”
Barenziah erinnerte sich an etwas anderes. „Strenz will, dass wir einen Bauernhof kaufen und heiraten.”
„Willst du das auch?”
„Nein. Noch nicht. Vielleicht irgendwann einmal. Ja, eines Tages einmal. Aber nicht, wenn ich nicht Königin sein kann. Und
ich will nicht irgendeine Königin sein. Ich will Königin von Gramfeste sein.” Sie sagte es entschlossen, fast dickköpfig,
als wolle sie jeden Zweifel daran im Keim ersticken.
Katisha beschloss, diese letzte Bemerkung zu ignorieren. Die überbordende Fantasie des Mädchens belustigte sie, doch sie
sah es als Zeichen eines gut funktionierenden Kopfes. „Bevor „eines Tages” erreicht ist, wird Strenz wohl ein sehr alter
Mann sein. Elfen leben sehr lange.” Der traurige, fast neidische Blick, den Menschen immer dann bekamen, wenn sie daran
dachten, dass Elfen ein tausendjähriges Leben vergönnt war, huschte kurz über Katishas Gesicht. Gewiss, nur wenige lebten
tatsächlich so lange - Krankheit und Gewalt forderten beide einen hohen Tribut. Aber immerhin konnten sie so alt werden.
Und dem ein oder anderen gelang das auch.
„Ich mag auch alte Männer”, meinte Berry.
Katisha lachte.
Barenziah zappelte ungeduldig, während Therris die Papiere auf dem Schreibtisch durchging. Er ging sehr sorgfältig und
äußerst methodisch vor, und legte alles wieder exakt an die Stelle, an der er es gefunden hatte.
Sie waren bei einem Edelmann eingebrochen, Strenz war als Wache draußen geblieben. Therris hatte gemeint, es sei ein
einfacher, aber äußerst geheimer Auftrag. Er hatte noch nicht einmal andere Gildenmitglieder mitnehmen wollen. Berry und
Strenz konnte er trauen, aber sonst keinem, hatte er gesagt.
„Sagt mir, was Ihr sucht, ich finde es sicher schnell”, wisperte Berry drängend. Therris konnte bei Nacht lange nicht so
gut sehen wie sie, und wollte nicht, dass sie auch nur das geringste Bisschen Licht herbeizauberte.
Noch nie war sie in einem so luxuriösen Haus gewesen. Nicht einmal die Burg von Graf Sven und Gräfin Inga in Finstermoor
konnte da mithalten. Staunend hatte sie sich umgesehen, als sie durch die riesige, reich geschmückte Halle im Erdgeschoss
geschlichen waren. Doch Therris schien sich für nichts als den Sekretär in einem kleinen Studierzimmer voller Bücher im
oberen Stockwerk zu interessieren.
„Psst”, zischte er wütend.
„Da kommt jemand!” sagte Berry nur einen Augenblick bevor die Tür aufging und zwei dunkle Gestalten den Raum betraten.
Therris schubste sie heftig in Richtung der beiden und sprang zum Fenster. Barenziahs Muskeln schienen einzufrieren - sie
konnte sich weder bewegen noch sprechen. Hilflos musste sie mit ansehen, wie die kleinere der beiden Gestalten Therris
nachsprang. Zwei blitzschnelle, völlig stille blaue Lichtblitze zuckten auf, und Therris sank lautlos zu einem regungslosen
Häufchen zusammen.
Vor dem Studierzimmer herrschte großer Aufruhr - Schritte hallten durch die Flure, Stimmen riefen aufgeregt durcheinander,
und hastig angelegte Rüstungen rasselten.
Der größere der beiden Männer, anscheinend ein Dunkelelf, schleifte und trug Therris zur Tür und übergab ihn einem anderen
Elf. Dann gab er ein Zeichen mit dem Kopf, und sein Begleiter, kleiner als er selbst und in blauer Robe, folgte ihnen. Nun
schlenderte er zu Barenziah, die sich jetzt wieder bewegen konnte, auch wenn ihr Kopf fürchterlich pochte, wenn sie es auch
nur versuchte.
„Macht Euer Hemd auf, Barenziah”, sagte er. Barenziah starrte ihn an und verschränkte entschlossen die Arme. „Ihr seid kein
Junge, Berry, nicht wahr?” sagte er leise. „Ihr hättet vor Monaten aufhören sollen, Euch als Junge zu verkleiden, wirklich.
So habt Ihr nur die Aufmerksamkeit auf Euch gelenkt. Und sich auch noch Berry zu nennen! Ist Euer lieber Strenz denn zu
dämlich, um sich einen anderen Namen zu merken?”
„Das ist ein durchaus gängiger Name bei Elfen”, verteidigte sich Barenziah.
Traurig schüttelte ihr Gegenüber den Kopf. „Bei Dunkelelfen nicht, meine Liebe. Aber über Dunkelelfen wisst Ihr wohl nicht
sehr viel. Das bedaure ich, aber es ließ sich nicht vermeiden. Sei's drum. Ich werde versuchen, dem Abhilfe zu schaffen.”
„Wer seid Ihr?” wollte Barenziah wissen.
„Nun. Soviel zum Thema Ruhm”, lächelte der Mann gequält und zuckte mit den Schultern. „Ich, Milady Barenziah, bin
Symmachus. General Symmachus im Dienste der kaiserlichen Armee seiner Ehrfurcht Gebietenden und Formidablen Majestät Tiber
Septim I. Ich muss schon sagen, Ihr habt mich auf einer ziemlich wilden Jagd durch ganz Tamriel gescheucht. Zumindest durch
diesen Teil des Landes. Ich hatte mir allerdings - und wohl zu Recht - schon gedacht, dass Ihr nach und nach in Richtung
Morrowind kommen würdet. Ihr hattet ziemlich viel Glück. In Weißlauf fand man eine Leiche, die man für Strenz hielt. Daher
haben wir nicht nach zwei Personen gesucht. Sehr nachlässig von mir. Ich hätte allerdings nicht gedacht, dass ihr so lange
zusammenbleiben würdet.”
„Wo ist er? Geht es ihm gut?” fragte sie ernsthaft besorgt.
„Ihm geht es gut. Zumindest vorläufig. Natürlich ist er inhaftiert.” Er wandte sich ab. „Dann ist er Euch also ...
wichtig?” meinte er plötzlich, sie mit brennender Neugierde ansehend. Die roten Augen, die sie anschauten, wirkten sehr
befremdlich für sie - normalerweise sah sie rote Augen nur in ihrem eigenen Spiegelbild.
„Er ist ein guter Freund”, entgegnete Barenziah. Die Wörter hörten sich sogar in ihren eigenen Ohren teilnahms- und
hoffnungslos an. Symmachus! Ein General der Kaiserlichen Armee - und angeblich sogar Freund und Berater von Tiber Septim
selbst.
„Nun. Ihr scheint eine ganze Anzahl unangemessener Freunde zu haben, wenn ich das einmal sagen darf, Milady.”
„Hört auf, mich so zu nennen.” Der anscheinende Sarkasmus des Generals irritierte sie. Doch er lächelte nur.
Während sie sprachen, klang das geschäftige Treiben und der Aufruhr im Haus ab. Allerdings konnte sie noch einige Stimmen
hören, die nicht weit entfernt flüsterten, vermutlich die Bewohner. Der große Elf setzte sich auf eine Ecke des
Schreibtischs. Er wirkte recht entspannt und bereit, einige Zeit lang zu bleiben.
Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Eine ganze Anzahl unangemessener Freunde? Das hatte er doch gesagt! Der
Mann wusste alles über sie! Oder zumindest genug. Was ungefähr auf dasselbe hinauslief.
„W-was werdet Ihr mit ihnen tun? Und mit ... mit mir?”
„Ah. Wie Ihr wisst, gehört dieses Haus dem Befehlshaber der Kaiserlichen Truppen in dieser Gegend. Das heißt, es gehört
mir.” Barenziah schnappte nach Luft. Symmachus blickte überrascht auf. „Das wusstet Ihr nicht. Ts, ts, ts. Ihr seid
wirklich sehr waghalsig, Milady, sogar für eine Siebzehnjährige. Ihr solltet stets wissen, was Ihr tut, und in welche
Gefahr Ihr Euch begebt.”
„Aber, aber ... die Gilde ... sie hätte nie ...” Barenziah zitterte förmlich. Niemals hätte die Diebesgilde eine Mission
gewagt, die der kaiserlichen Politik in die Quere kam. Niemand wagte es, sich gegen Tiber Septim zu stellen, zumindest
keiner, von dem sie wusste. Irgend jemand bei der Gilde hatte einen Fehler gemacht. Einen sehr schweren Fehler. Und sie
würde dafür bezahlen müssen.
„Da würde ich Euch Recht geben. Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass Therris für diese Sache hier die Genehmigung
der Gilde hatte. Ich frage mich sogar ...” Sorgsam untersuchte Symmachus den Sekretär und zog nacheinander die Schubladen
heraus. Eine davon setzte er auf die Schreibfläche und entfernte einen doppelten Boden. Unter ihm befand sich ein
gefaltetes Stück Pergament. Es schien eine Art Landkarte zu sein. Barenziah versuchte, einen Blick darauf zu erhaschen.
Symmachus zog das Papier weg und lachte. „Die Waghalsigkeit in Person!” Er warf einen Blick darauf, faltete das Pergament
und legte es wieder in das Versteck.
„Gerade habt Ihr mir gesagt, ich solle mich um Wissen bemühen.”
„In der Tat, in der Tat.” Plötzlich schien er sehr gute Laune zu haben. „Wir müssen uns auf den Weg machen, Milady.”
Er lotste sie zur Tür, die Treppe hinunter und hinaus in die Nacht. Es war keiner zugegen. Bareziah sah sich nervös nach
Schatten um. Vielleicht konnte sie irgendwie weglaufen? Irgendwie entkommen?
„Ihr überlegt Euch doch nicht etwa, zu fliehen, oder? Nein, sicher nicht. Wollt Ihr nicht zuerst wissen, welche Pläne ich
für Euch habe?” Fast schien er ein bisschen verletzt zu sein.
„Jetzt, da Ihr darauf zu sprechen kommt - doch, in der Tat.”
„Vielleicht wollt Ihr zuvor wissen, was mit Euren Freunden geschehen ist.”
„Nein.”
Er schaute zufrieden drein ob dieser Antwort. Offenbar war es das, was er hören wollte, dachte Barenziah. Aber es war
gleichzeitig die Wahrheit. Zwar machte sie sich durchaus Sorgen um ihre Freunde - besonders um Strenz - aber wichtiger war,
was mit ihr selbst geschehen würde.
„Ihr werdet Eure rechtmäßige Stellung als Königin von Gramfeste einnehmen.”
Symmachus erklärte, dass das von Anfang an der Plan gewesen sei, den er und Tiber Septim für sie gehabt hatten. Gramfeste,
das in den über zehn Jahren seit sie nicht mehr im Land gewesen war, unter Militärherrschaft gestanden hatte, sollte nach
und nach zur zivilen Regierungsform zurückgebracht werden - natürlich unter Aufsicht des Kaiserreichs und als Teil der
kaiserlichen Provinz Morrowind.
„Aber warum wurde ich dann nach Finstermoor geschickt?” fragte Barenziah nach, die kaum glauben konnte, was sie da hörte.
„Zu Eurer Sicherheit natürlich. Warum seid Ihr weggelaufen?”
Barenziah zuckte mit den Schultern. „Ich konnte keinen Grund sehen, zu bleiben. Man hätte es mir sagen müssen.”
„Das wäre mittlerweile auch geschehen. Ich hatte sogar bereits Boten ausgeschickt, die Euch in die kaiserliche Stadt
bringen sollten, so dass Ihr eine Zeit am kaiserlichen Hof würdet verbringen können. Aber da wart ihr bereits ... nun, ihr
hattet sozusagen das Schiff bereits verlassen. Was Euer Schicksal angeht, so hätte Euch das doch vollkommen klar sein
müssen. Tiber Septim hält jene nicht am Leben, für die er keine Verwendung hat - und zu was hättet Ihr ihm sonst zu Nutze
sein können?”
„Ich weiß nichts über ihn. Über Euch übrigens auch nicht.”
„Dann wisst dieses: Tiber Septim gewährt Freunden und Feinden gleichermaßen das, was ihnen gebührt.”
Daran hatte Barenziah eine Weile zu knabbern. Schließlich sagte sie: „Strenz hat mich stets gut behandelt und geschützt.
Nie hat er jemandem etwas zuleide getan. Er ist kein Mitglied der Diebesgilde. Er kam nur mit, um mich zu beschützen. Er
verdient unseren Unterhalt mit Botengängen und ... und er ...”
Symmachus wedelte ungeduldig mit der Hand. „Jaja. Ich weiß alles über Strenz”, sagte er. „Und über Therris.”' Er blickte
sie durchdringend an. „Also? Was?”
Sie atmete tief ein. „Strenz wünscht sich nichts sehnlicher als einen kleinen Bauernhof. Wenn ich denn reich bin, dann
hätte ich gerne, dass ihm dieser Wunsch gewährt wird.”
„Sehr wohl.” Er schien zunächst überrascht, dann erfreut darüber. „Gut. Er soll seinen Bauernhof haben. Und was ist mit
Therris?”
„Er hat mich verraten”, sagte Barenziah kalt. Er hätte ihr sagen müssen, welche Gefahr bei diesem Auftrag auf sie wartete.
Und dann hatte er sie direkt in die Arme der Feinde geschoben, um zu versuchen, die eigene Haut zu retten. Das war gewiss
kein Mann, den man belohnen sollte. Und dem man auch nicht trauen konnte, wenn man sich es recht überlegte.
„Ja. Und?”
„Nun, er sollte für seine Taten büßen ... oder etwa nicht?”
„Das erscheint mir nur vernünftig. Und in welcher Form soll er büßen?”
Barenziah ballte die Hände zu Fäusten. Am liebsten hätte sie den Khajiit selbst verprügelt und zerkratzt. Aber angesichts
der aktuellen Ereignisse schien das keine sehr königliche Verhaltensweise zu sein. „Auspeitschen vielleicht. Wären zwanzig
Schläge wohl zu viel? Ich will ihm ja keinen dauerhaften Schaden zufügen. Er soll nur seine Lektion lernen.”
„Gewiss. Selbstverständlich.” Symmachus grinste. Plötzlich besann er sich und wurde wieder ernst. „So soll es geschehen,
Eure Hoheit Königin Barenziah von Gramfeste.” Mit diesen Worten verbeugte er sich vor ihr - tief, mit Schwung, wie man sich
eine tiefe Verbeugung am Hofe vorstellte. Es war absurd und wunderbar zugleich.
Barenziahs Herz hüpfte vor Glück.
Sie verbrachte zwei Tage im Haus des Symmachus. Während dieser Zeit war sie sehr beschäftigt. Eine Dunkelelfe namens
Drelliane versorgte sie mit allem Nötigen. Allerdings schien sie keine Dienerin zu sein, da sie mit ihnen speiste. Sie
schien jedoch auch nicht Symmachus Frau oder Liebhaberin zu sein. Drelliane schaute amüsiert drein, als Barenziah dies
einmal ansprach. Sie entgegnete, sie sei vom General angestellt und tue, was man von ihr verlange.
Mit Drellianes Hilfe wurden mehrere Paar Schuhe und verschiedene edle Roben für sie bestellt, ebenso Reitkleidung, Stiefel
und einige andere kleinere Dinge des täglichen Bedarfs. Sie bekam ein Zimmer für sich alleine.
Symmachus war sehr viel unterwegs. Sie sah ihn bei den Mahlzeiten, doch er sprach nur wenig über sich selbst oder darüber,
was er getan hatte. Er war stets höflich und korrekt, durchaus willens, sich über die meisten Themen zu unterhalten, und
schien an fast allem interessiert zu sein, das sie zu sagen hatte. Mit Drelliane war es nicht anders. Barenziah fand sie
durchaus freundlich, aber wurde einfach nicht richtig warm mit ihnen, wie Katisha es gesagt hätte. Irgendwie war sie
enttäuscht. Es waren die ersten Dunkelelfen, mit denen sie näheren Kontakt hatte. Sie hatte erwartet, dass sie sich bei
ihnen wohl fühlen würde, sich endlich irgendwo zugehörig und als Teil einer Gruppe zu fühlen. Statt dessen vermisste sie
ihre nordischen Freunde Katisha und Strenz schrecklich.
Als Symmachus ihr daher mitteilte, dass sie am Morgen zur Kaiserstadt aufbrechen würden, bat sie daher um Erlaubnis, sich
von ihnen verabschieden zu dürfen.
„Katisha?” fragte er. „Gewiss. Nun ... ich denke, ich bin ihr etwas schuldig. Sie war es ja, die mich zu Euch führte, indem
sie mir von einer einsamen Dunkelelfe namens Berry erzählte, die Freunde unter den Elfen brauchte - und die sich manchmal
als Junge verkleidete. Anscheinend hat sie keinerlei Verbindung zur Diebesgilde. Und niemand, der mit der Diebesgilde zu
tun hat, scheint Eure wahre Identität zu kennen, abgesehen von Therris. Das ist gut so. Eure ehemalige Gildenzugehörigkeit
sollte lieber nicht öffentlich bekannt werden. Sprecht bitte zu niemandem darüber, Eure Hoheit. Eine solche Vergangenheit
... schickt sich nicht für eine Königin im Kaiserreich.”
„Außer Strenz und Therris weiß keiner davon. Und sie werden niemandem davon erzählen.”
„Nein.” Ein merkwürdiges Lächeln huschte über sein Gesicht. „Nein, das werden sie nicht.”
Er wusste also nicht, dass Katisha es wusste. Aber seine Art war merkwürdig gewesen ...
Strenz kam am Morgen ihrer Abreise in ihre Räume. Man ließ sie im Vorzimmer alleine, doch Barenziah wusste genau, dass
andere Elfen in Hörweite waren. Er war blass und sah nicht gut aus. Einige Minuten lang umarmten sie sich schweigend.
Strenzs Schultern zitterten und er weinte bitterlich, sagte jedoch nichts.
Barenziah versuchte, zu lächeln. „Wir bekommen also beide, was wir uns gewünscht haben, wie? Ich werde Königin von
Gramfeste und du Herrscher über deinen eigenen Hof.” Sie nahm seine Hand. Ihr Lächeln kam von Herzen. „Ich werde dir
schreiben, Strenz. Das verspreche ich dir. Du musst schauen, dass du einen Schreiber findest, damit du mir antworten
kannst.”
Strenz schüttelte nur traurig den Kopf. Doch Barenziah ließ nicht locker. Da öffnete er den Mund und zeigte darauf, während
er unverständliche Laute von sich gab. Schlagartig wurde ihr klar, was geschehen war. Er hatte keine Zunge mehr - sie war
ihm abgetrennt worden.
Barenziah brach weinend auf einem Stuhl zusammen.
„Aber warum nur?” forderte sie von Symmachus zu wissen, als Strenz weggebracht worden war. „Warum?”
Symmachus zuckte nur mit den Schultern. „Er weiß zu viel. Er könnte gefährlich sein. Immerhin ist er am Leben, und seine
Zunge wird er ja nicht brauchen um ... um Schweine zu züchten, oder was immer er vorhat.”
„Ich hasse Euch!” kreischte ihn Barenziah an, bevor ihr übel wurde und sie sich übergeben musste. Sie beschimpfte ihn
weiter, während sie sich wieder und wieder übergab. Er hörte ohne Regung zu, während Drelliane den Boden säuberte. Am Ende
sagte er nur, sie solle aufhören, sonst werde er sie für die Reise zum Kaiser knebeln müssen.
Auf dem Weg aus der Stadt hielten sie bei Katisha. Symmachus und Drelliane stiegen nicht ab. Alles schien wie immer, doch
Barenziah hatte Angst, als sie an der Tür klopfte. Katisha ging an die Tür. Stumm dankte Barenziah den Göttern, dass es
zumindest Katisha gut ging. Aber auch sie hatte offenbar geweint. Auf jeden Fall umarmte sie Barenziah herzlich.
„Warum weint Ihr?” fragte Barenziah.
„Wegen Therris natürlich. Habt Ihr es noch nicht gehört? O du meine Güte. Der arme Therris. Er ist tot.” Barenziah spürte,
wie es ihr kalt ums Herz wurde. „Man hat ihn erwischt, als er versuchte, einen Diebstahl im Haus des Generals zu begehen.
Der arme Junge. Aber das war auch so dumm von ihm. O Berry - man hat ihn heute früh auf Befehl des Generals hin
gevierteilt!” Sie schluchzte laut auf. „Ich bin hingegangen. Er hat nach mir gefragt. Es war so schrecklich. Er hat so
gelitten, bevor er starb. Das werde ich nie vergessen. Ich habe nach dir und Strenz Ausschau gehalten, aber keiner wusste,
was mit Euch geschehen war.” Sie schaute hinter Barenziah. „Das ist er, der General, nicht wahr? Symmachus.” Und dann tat
sie etwas merkwürdiges. Sie hörte auf zu weinen und ein breites Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Wisst Ihr,
als ich ihn gesehen habe, dachte ich mir gleich „Das ist der Richtige für Barenziah!”” Sie wischte sich mit einem Eck ihrer
Schürze die Augen. „Ich habe Euch von ihm erzählt, wisst Ihr noch?”
„Ja”, sagte Barenziah, „ich weiß.” Sie nahm Katishas Hände in die Ihren und sah sie flehend an. „Katisha, ich habe Euch
furchtbar gern. Ich werde Euch schrecklich vermissen. Aber bitte, bitte erzähle niemals irgendjemandem irgendetwas über
mich. Niemals. Hörst du? Versprich es mir. Und vor allem nicht Symmachus. Und kümmere dich um Strenz, um meinetwillen.
Versprich es mir.”
Katisha versprach es gerne, auch wenn die Bitte sie offensichtlich verwirrte. „Berry, Therris wurde nicht irgendwie wegen
mir erwischt, oder? Ich habe niemals irgendetwas über Therris gesagt. Nicht ... ihm nicht.” Sie schaute kurz zu Symmachus.
Barenziah versicherte ihr, dass das nicht der Fall war, und dass ein Informant der Kaiserlichen Wache Therris Pläne
verraten hatte. Das war vermutlich die Unwahrheit, aber es war nur allzu offensichtlich, dass Katisha dringend ein wenig
Trost brauchte.
„Nun, da bin ich aber froh - wenn ich mich im Augenblick überhaupt über etwas freuen kann. Es wäre zu schrecklich, wenn ...
aber wie hätte ich es denn auch wissen können?” Sie beugte sich vor und flüsterte Barenziah ins Ohr. „Symmachus ist
wirklich sehr gut aussehend, nicht wahr? Und so charmant!”
„Davon habe ich noch nichts gemerkt”, meinte Barenziah trocken. „Darüber habe ich bisher noch nicht nachgedacht. Ich hatte
andere Dinge, über die ich nachdenken musste.” Eilig erklärte sie, dass sie Königin von Gramfeste sei und nun eine Zeit
lang in der Kaiserstadt leben werde. „Er hat mich gesucht, weiter nichts. Auf Befehl des Kaisers. Ich war das Objekt, das
es zu finden galt ... ein ... ein Ziel eben, das er erreichen musste. Ich glaube nicht, dass er mich überhaupt als Frau
betrachtet. Immerhin hat er gesagt, ich sähe nicht wie ein Junge aus”, setzte sie angesichts der ungläubigen Miene Katishas
hinzu. Katisha wusste genau, dass Barenziah eigentlich jedes männliche Wesen zuallererst hinsichtlich seiner Attraktivität
und seiner Verfügbarkeit beurteilte. „Sicher ist es der Schock, dass ich wirklich Königin bin”, fügte sie hinzu. Katisha
stimmte ihr zu, dass es das wohl ein Schock sein müsse, auch wenn sie damit selbst wohl keine Erfahrung habe. Sie lächelte.
Barenziah lächelte mit. Zum letzten Mal umarmten sie sich unter Tränen. Katisha sollte sie nie wieder sehen. Genauso wenig
wie Strenz.
Die hochherrschaftliche Reisegesellschaft verliess Rifton durch das große Südtor. Als sie hindurchgeritten waren, tippte er
ihr auf die Schulter und zeigte auf das Tor, durch das sie gerade gekommen waren. „Wolltet Ihr Euch nicht auch von Therris
verabschieden, Eure Hoheit?”
Barenziah starrte kurz, aber ohne sich abzuwenden auf den Kopf, der über dem Tor aufgespießt war. Vögel hatten schon
begonnen, daran zu picken, doch das Gesicht war noch erkennbar. „Er wird mich wohl nicht hören können, sich aber sicher
freuen, zu wissen, dass es mir gut geht”, gab sie zurück, bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. „Wir sollten vielleicht
lieber unseres Weges ziehen, General, was meint Ihr?”
Symmachus war sichtlich enttäuscht über ihre mangelnde Reaktion. „Gewiss. Ich nehme an, Ihr habt durch Katisha davon
gehört?”
„Ihr geht recht in der Annahme. Sie hat der Exekution beigewohnt”, sagte Barenziah beiläufig. Wenn er es nicht bereits
wusste, würde er es ohnehin bald erfahren, dessen war sie sich sicher.
„Wusste sie, dass Therris in der Gilde war?”
Sie zuckte mit den Schultern. „Das wusste jeder. Nur die Mitglieder niederen Ranges wie ich waren gehalten, ihre
Mitgliedschaft geheim zu halten. Die höheren Ränge sind allseits bekannt.” Sie wandte sich um und schenkte ihm ein
zuckersüßes Lächeln. „Aber das wisst Ihr ja sicher am besten, General, nicht wahr?” sagte sie betont freundlich.
Er schien nichts zu bemerken. „Ihr habt ihr also verraten, wer ihr seid, und woher ihr wart, nicht jedoch von Eurer
Gildenmitgliedschaft erzählt.”
„Die Mitgliedschaft in der Gilde war nicht mein Geheimnis. Ich durfte es nicht verraten. Das andere Geheimnis war meines.
Ein großer Unterschied, wie ich meine. Außerdem ist Katisha eine sehr ehrliche Frau. Wenn ich ihr das gesagt hätte, hätte
es mich in ihren Augen abgewertet. Sie hat Therris immer wieder ins Gewissen geredet, dass er sich eine ehrlichere Arbeit
suchen solle. Und ich schätze ihre Wertschätzung.” Mit eiskaltem Blick setzte sie hinzu, „Nicht, dass es Euch etwas
anginge, aber wisst Ihr, was sie noch meinte? Sie dachte, ich würde glücklicher sein, wenn ich mich für einen einzigen Mann
entschiede. Einen meiner eigenen Art. Mit den richtigen Eigenschaften. Und der weiß, was man sagt und wie man sich verhält.
Genau genommen meinte sie, ausgerechnet Ihr wärt der ideale Kandidat.” Sie packte die Zügel fester in Vorbereitung auf eine
schnellere Gangart - aber nicht, ohne zuvor noch eine letzte Spitze loszuwerden. „Ist es nicht merkwürdig, wie Wünsche wahr
werden - aber nicht in der Art, wie man sich es vorgestellt hatte? Oder vielleicht eher so, dass sie genau das Gegenteil
dessen darstellen, was man sich gewünscht hätte?”
Seine Antwort überraschte sie so sehr, dass sie vor Verblüffung völlig vergaß, loszugaloppieren. „In der Tat. Die Dinge
entwickeln sich manchmal auf äußerst merkwürdige Weise.” Sein Tonfall stimmte exakt mit dem Inhalt seiner Aussage überein.
Mit diesen Worten fiel er hinter ihr in Schritt.
Sie hielt den Kopf empor und trieb ihr Pferd an, bemüht, möglichst unbeeindruckt zu wirken. Irgend etwas an seiner Antwort
kam ihr merkwürdig vor. Nur was? Es war nicht so sehr, was er gesagt hatte. Nein, das war es nicht. Es war etwas in der
Art, auf die er es gesagt hatte. Irgendwie gab er ihr das Gefühl dass sie - Barenziah - einer der Träume war, die für ihn
wirklich wahr geworden waren. So unwahrscheinlich das scheinen mochte, drehte und wendete sie diesen Gedanken hin und her.
Gewiss, er hatte sie nach monatelanger Suche unter Druck des Kaisers gefunden. Sein Wunsch war also in Erfüllung gegangen.
Das musste es wohl sein.
Aber anscheinend auf eine Weise, die ihm nicht vollauf behagte.
Band III
Viele Tage lang war Barenziah sehr bedrückt über die Ereignisse und die Trennung von ihren Freunden. In der zweiten Woche
hellte sich ihre Stimmung jedoch wieder auf. Sie stellte fest, dass sie es genoss, wieder unterwegs zu sein, auch wenn sie
Strenzs Gesellschaft mehr vermisste, als sie das je für möglich gehalten hätte. Eine Truppe Ritter - allesamt Männer der
Rothwardonen - eskortierte sie. Im Umgang mit diesen fühlte sie sich wohl, obwohl sie weit disziplinierter waren und sich
weit schicklicher verhielten als die Wachen der Händlerkarawanen, mit denen sie zusammen gewesen war. Sie waren freundlich,
hielten jedoch trotz ihrer Flirtversuche stets respektvolle Distanz.
Symmachus redete ihr unter vier Augen ins Gewissen - eine Königin habe zu jeder Zeit königliche Würde zu wahren.
„Soll das heißen, ich darf nie das geringste Bisschen Spaß haben?” quengelte sie.
„Nein. Nicht mit solchen. Sie stehen unter Euch. Jene mit Macht haben gütig und wohlwollend zu sein, Milady, nicht aber zu
vertraulich. In der Kaiserstadt werdet ihr Euch keusch und sittsam verhalten.”
Barenziah zog ein Gesicht. „Da wäre ich ja am besten gleich in Festung Finstermoor geblieben. Elfen sind von Natur aus
polygam. Das sagt jeder.”
„Dann hat eben „jeder” Unrecht. Manche sind es, andere nicht. Der Kaiser erwartet, dass Ihr sowohl gutes Urteilsvermögen
wie auch guten Geschmack an den Tag legt. Und ich auch. Ich möchte Euch erinnern, dass Ihr, Hoheit, den Thron von Gramfeste
nicht auf Grund Eurer Herkunft, sondern ausschließlich von Gnaden des Tiber Septim halten werdet. Wenn er Euch für
ungeeignet hält, ist Eure Herrschaft zu Ende, noch bevor sie begonnen hat. Er fordert Intelligenz, Gehorsam, Besonnenheit
und absolute Loyalität von all seinen Herrschern, und bei Frauen bevorzugt er Keuschheit und Bescheidenheit. Ich kann Euch
nur ans Herz legen, Euer Verhalten dem der ehrenwerten Drelliane anzupassen, Milady.”
„Lieber wäre ich wieder in Finstermoor!” gab Barenziah wütend zurück, beleidigt angesichts der Vorstellung, der prüden,
geradezu frigiden Drelliane in irgend einer Weise nacheifern zu müssen.
„Ihr habt keine Wahl, Hoheit. Wenn Ihr Tiber Septim nicht mehr nützlich seid, wird er dafür Sorge tragen, dass ihr seinen
Feinden auch nicht nützen könnt. Wenn Ihr Euren Kopf auf Euren Schultern behalten wollt, nehmt Ihr Euch besser in Acht. Ich
möchte hinzufügen, dass Macht noch andere Freuden bietet als jene des Fleisches und des unziemlichen Umgangs mit niederer
Gesellschaft.”
Er begann, ihr von Kunst, Literatur, Theater, Musik und den großen Bällen am kaiserlichen Hof zu erzählen. Barenziah hörte
mit wachsendem Interesse zu, nicht nur auf Grund der Drohungen. Danach fragte sie schüchtern, ob sie ihre Studien im
Bereich der Magie in der kaiserlichen Stadt fortsetzen könne. Symmachus schien erfreut, das zu hören und versprach, dafür
zu sorgen. Von dieser Reaktion ermutigt bat sie um die Erlaubnis, mit den drei weiblichen Eskorten unter den Rittern ein
bisschen trainieren zu dürfen, allein um der Bewegung willen. Dieser Vorschlag stieß auf weniger Begeisterung als der
Vorherige, doch schließlich gab er seine Einwilligung, solange sie nur mit den Frauen kämpfe.
Das spätwinterliche Wetter blieb für den Rest der Reise kühl, aber freundlich. So kamen sie schnell auf guten Straßen
voran. Am letzten Tag ihrer Reise schien endlich der Frühling zu nahen - erste Zeichen des Tauens machten sich bemerkbar.
Die Straßen wurden schlammig und überall war das leise, aber stetige Tropfen des Wassers zu hören. Es war ein sehr
willkommenes Geräusch.
Bei Sonnenuntergang erreichten sie die große Brücke, die in die Kaiserstadt führte. Der Schein der untergehenden Sonne
tauchte die blendend weißen Marmorbauten der Hauptstadt in ein zartes Rosa. Alles sah sehr neu, sehr großzügig und absolut
blitzblank aus. Eine breite Straße führte nach Norden zum Palast. Wesen aller Herkunft und Art drängten sich auf der
breiten Promenade. Die Lichter gingen in den Läden aus und in den Gasthäusern an, als es dämmerte und die Sterne zunächst
einzeln, und dann zu zweit und zu dritt hervorkamen. Sogar die Seitenstraßen waren breit und hell erleuchtet. In der Nähe
des Palasts ragten die Türme einer immens großen Halle der Magiergilde im Osten empor, während im Westen die
Buntglasfenster eines riesigen Tempels im Licht der untergehenden Sonne funkelten.
Die Räume des Symmachus befanden sich in einem grandiosen Bau, der hinter dem Tempel nur zwei Straßen vom Palast entfernt
lag. („Der Tempel des Einen” nannte er diesen, als sie vorbeiritten. Es handelte sich um einen uralten nordischen Kult, den
Tiber Septim wieder belebt hatte. Von Barenziah würde man erwarten, Mitglied des Tempels zu werden, falls der Kaiser sie
für geeignet für ihre Aufgabe hielt.) Die Gemächer waren prächtig - trafen Barenziahs Geschmack jedoch keineswegs. Die
Wände und Möbel waren in reinstem Weiß gehalten, dekoriert lediglich mit geringsten Mengen stumpfen Goldes, die Böden waren
aus blankgeputztem schwarzen Marmor. Barenziahs Augen sehnten sich nach Farbe und dem Spiel verschiedenster Schattierungen.
Am nächsten Morgen brachten sie Symmachus und Drelliane in den Kaiserpalast. Barenziah bemerkte, dass jeder, den sie
trafen, Symmachus mit einer Ehrerbietung willkommen hieß, die fast schon ins Kriecherische ging. Der General schien dies
als Selbstverständlichkeit hinzunehmen.
Man brachte sie direkt zum Kaiser. Die Morgensonne strahlte hell durch ein riesiges Fenster mit winzigen Fensterscheibchen
in den kleinen Raum, und erleuchtete einen mit allen erdenklichen Leckereien beladenen Frühstückstisch und den Mann, der
alleine daran saß und sich dunkel gegen das Licht abhob. Er sprang auf, als sie eintraten, und eilte auf sie zu. „Ah,
Symmachus, treuer Freund! Wir begrüßen Eure Rückkehr mit größter Freude.” Er fasste Symmachus kurz und mit großer Zuneigung
an den Schultern, damit den tiefen Kniefall verhindernd, zu dem jener gerade angesetzt hatte.
Barenziah machte einen Knicks, als Tiber Septim sich ihr zuwandte.
„Und da haben wir ja Barenziah, die ungezogene kleine Ausreißerin. Wie geht es Euch, mein Kind? Lasst Euch anschauen. Aber
Symmachus, sie ist ja hinreißend, einfach hinreißend! Warum habt ihr sie nur so viele Jahre vor uns versteckt? Ist das
Licht zu hell, Kind? Sollen wir die Vorhänge zuziehen? Ja, gewiss doch.” Mit einer Handbewegung brachte er den
protestierenden Symmachus zum Verstummen und zog die Vorhänge selbst zu, ohne zuvor einen Diener zu rufen. „Ihr müsst uns
diesen Mangel an Höflichkeit schon verzeihen, liebe Gäste. Wir müssen uns um so vieles Gedanken machen, auch wenn das
keineswegs mangelnde Gastfreundschaft entschuldigen kann. Aber setzt Euch doch zu uns. Wir haben hervorragende Nektarinen
aus Schwarzmarsch bekommen.”
Sie setzten sich an den Tisch. Barenziah hatte es die Sprache verschlagen. Tiber Septim war keineswegs der hünenhafte,
graue, erbitterte Krieger, den sie sich vorgestellt hatte. Er war von durchschnittlicher Größe, einen halben Kopf kleiner
als Symmachus, und dabei sehr muskulös und behände. Er hatte ein gewinnendes Lächeln und helle - geradezu durchdringende
blaue Augen, und das von Wind, Wetter und Zeit gezeichnete Gesicht wurde von einem wilden Schopf blendend weißer Haare
gekrönt. Sein Alter war unmöglich zu erraten - doch es musste irgendwo zwischen vierzig und sechzig liegen. Er nötigte sie,
noch mehr zu essen und zu trinken, und wiederholte dann die Frage, die ihr General Symmachus bereits vor einigen Tagen
gestellt hatte: Warum war sie weggelaufen? Waren ihre Vormünder denn nicht gut zu ihr gewesen?
„Nein, Eure Exzellenz”, antwortete Barenziah, „sie waren gut zu mir - auch wenn ich gelegentlich anderes vermutete.”
Symmachus hatte sich eine Geschichte für sie ausgedacht, die sie jetzt zum Besten gab, wenn auch nicht ohne Gewissensbisse.
Strenz, der Stalljunge, habe sie überzeugt, dass ihre Vormünder keinen geeigneten Mann für sie finden konnten und
vorhatten, sie daher als Konkubine nach Rihad zu verkaufen. Als tatsächlich ein Mann der Rothwardonen gekommen war, sei sie
in Panik geraten und mit Strenz geflohen.
Tiber Septim schien völlig fasziniert und hörte begeistert zu, als sie von ihrem Leben als Wache für eine Händlerkarawane
berichtete. „Aber das ist ja wie eine Ballade!” rief er aus. „Beim Einen, das werden wir vom Hofbarden vertonen lassen. Was
müsst Ihr für einen charmanten Jungen abgegeben haben!”
„General Symmachus sagte ...” Barenziah hielt verwirrt inne, und setzte dann ihre Rede fort. „Er sagte - nun, dass man mich
nun nicht mehr für einen Jungen halten würde. In den vergangenen Monaten bin ich doch ein wenig ... gewachsen.” Sie senkte
ihren Blick und hoffte, damit einigermaßen mädchenhaft-keusch zu wirken. „Gewiss, unserem treuen Freund Symmachus entgeht
kaum etwas.”
„Ich weiß, dass ich sehr unklug gehandelt habe, Euer Exzellenz. Ich bitte um Eure Vergebung und um jene meiner Vormünder,
die stets gut zu mir waren. Ich ... ich habe das bereits vor einiger Zeit erkannt, schämte mich jedoch zu sehr, um
zurückzukehren. Doch nun möchte ich nicht mehr zurück nach Finstermoor. Eure Exzellenz, ich sehne mich nach Gramfeste.
Meine Seele sehnt sich nach meinem eigenen Land.”
„Liebes Kind. Wir versprechen Euch, Ihr werdet nach Hause kommen. Doch wollen wir Euch bitten, noch kurze Zeit bei uns zu
weilen, um Euch so für die ernste, schwere Aufgabe vorzubereiten, die wir Euch aufbürden wollen.”
Barenziah blickte ihn aufgeregt an, ihr Herz schlug laut. Alles lief genau so ab, wie es Symmachus prophezeit hatte. Ihr
wurde warm ums Herz vor Dankbarkeit, doch sie achtete genau darauf, ihre Aufmerksamkeit weiter beim Kaiser zu halten. „Ich
fühle mich sehr geehrt, Eure Exzellenz, und wünsche nichts sehnlicher, als Euch und dem großen Reich, das Ihr erschaffen
habt, zu dienen, wie ich kann.” Natürlich war dies das, was von ihr erwartet wurde - doch Barenziah meinte es ernst. Die
Größe der Stadt ebenso wie die Disziplin und Ordnung, die überall herrschten, hatten sie tief beeindruckt. Ihre Aufregung
angesichts der Aussicht, Teil davon zu sein, war groß. Und der sanfte Tiber Septim hatte es ihr auch angetan.
Einige Tage später machte sich Symmachos nach Gramfeste aus, um die Pflichten des Gouverneurs zu übernehmen, bis Barenziah
bereit war, den Thron zu besteigen. Danach würde er als Premierminister dienen. Barenziah wurde mit Drelliane als
Anstandsdame in Räumen des kaiserlichen Palasts untergebracht. Man stellte ihr verschiedene Lehrer an die Seite und
unterwies sie in allen Bereichen, über die eine Königin Bescheid wissen musste. In dieser Zeit interessierte sie sich
zunehmend für die magischen Künste. Geschichte und Politik, so musste sie jedoch feststellen, behagten ihr ganz und gar
nicht.
Gelegentlich traf sie sich mit Tiber Septim in den Gärten des Palasts. Nie versäumte er es, sich höflich nach ihren
Fortschritten zu erkundigen - und sie lächelnd zu ermahnen, wenn sie abermals ein mangelndes Interesse an Politik an den
Tag legte. Doch stets war er gerne bereit, sie in der hohen Kunst der Magie zu unterweisen, und sogar Geschichte und
Politik hörte sich aus seinem Munde interessant an. „Das waren und sind alles Lebewesen, Kind, nicht nur trockene Fakten
aus einem verstaubten Buch”, pflegte er stets zu wiederholen.
Je größer Ihr Wissen wurde, desto länger, intensiver und häufiger unterhielten sie sich. Er sprach zu ihr von seiner Vision
eines vereinten Tamriel, in dem jede Rasse getrennt ihre eigene Kultur leben könne, jedoch mit gemeinsamen Idealen und
Zielen, alle zum Gemeinwohl beitragend. „Manche Dinge gelten für alle intelligenten Lebewesen, die das Gute im Herzen
tragen”, pflegte er zu sagen. „Das lehrt uns der Eine. Vereint müssen wir zusammen stehen gegen die Böswilligen, die
Barbaren, die Schurken - die Orks, Trolle, Goblins, und noch schlimmere Kreaturen - statt gegeneinander zu kämpfen.” Seine
blauen Augen leuchteten, wenn er in diesen Traum blickte, und Barenziah bereitete es große Freude, ihm einfach nur still
zuzuhören. Wenn er sich ihr näherte, strömte eine Hitze durch ihren Körper, als habe sie Feuer gefangen; wenn ihre Hände
sich berührten, prickelte ihr Leib, als zucke ein Blitz hindurch.
Eines Tages nahm er völlig überraschend ihr Gesicht in die Hände und küsste sie zart auf den Mund. Nach einem kurzen
Augenblick löste sie sich aus dem Kuss, völlig überwältigt von der Heftigkeit ihrer Gefühle. Er entschuldigte sich sofort.
„Ich ... wir ... es tut uns Leid. Ihr seid ... ihr seid nur so wunderschön, meine Liebe. So schön.” In seinen Augen
spiegelten sich Hoffnungslosigkeit und Verlangen zugleich.
Sie wandte sich ab. Tränen liefen über ihre Wangen.
„Seid Ihr böse auf uns? Sprecht mit uns. Bitte.”
Barenziah schüttelte den Kopf. „Ich könnte Euch nie böse sein, Eure Exzellenz. Ich ... Ich liebe Euch. Ich weiß, dass es
falsch ist, doch ich kann nichts dagegen tun.”
„Wir haben eine Gemahlin”, sagte er. „Sie ist eine brave, ehrbare Frau, die Mutter unserer Kinder und Erben. Undenkbar, sie
zu verstoßen - und doch gibt es nichts zwischen uns, keine geistige Grundlage. Sie wünscht uns anders, als wir sind. Wir
sind die mächtigste Person in ganz Tamriel und ... Barenziah, wir ... ich ... ich glaube, auch die einsamste.” Abrupt erhob
er sich. „Macht!” spuckte er verächtlich. „Ich würde viel davon für Jugend und Liebe geben, wenn die Götter es mir nur
gewährten.”
„Aber ihr seid stark und lebendig und vital, mehr als jeder andere Mann, den ich kenne.”
Er schüttelte vehement den Kopf. „Heute bin ich das vielleicht. Und doch bin ich es weniger als gestern, im vergangenen
Jahr und noch vor zehn Jahren. Ich spüre den Stachel meiner Sterblichkeit, und er schmerzt mich sehr.”
„Lasst mich Euren Schmerz lindern, so ich es kann”, sagte Barenziah zart, und ging mit offenen Armen auf ihn zu.
„Nein. Eure Unschuld will ich Euch nicht rauben.”
„So unschuldig bin ich nicht.”
„Wie das?” Plötzlich war etwas Hartes in seiner Stimme, und seine Stirn verfinsterte sich.
Barenziah schluckte nervös. Was hatte sie nur gesagt? Doch nun gab es kein Zurück mehr. Er würde darauf bestehen, es zu
erfahren. „Nun, es gab Strenz”, sagte sie stockend. „Ich ... auch ich war einsam. Bin einsam. Und nicht so stark wir Ihr.”
Verschämt senkte sie ihren Blick. „Ich ... ich bin nicht würdig, Eure Exzellenz ...”
„Nein, aber nein. Barenziah. Meine liebe Barenziah. Lang darf es nicht währen. Ihr habt eine Pflicht gegenüber Gramfeste
und auch gegenüber dem Reich. Auch ich muss meiner Pflicht nachkommen. Doch solange es uns gestattet ist ... wollen wir
nicht teilen, was wir haben, was uns vergönnt ist, und beten, dass der Eine unsere Schwäche verzeihen wird?”
Tiber Septim streckte die Arme aus - und ohne ein Wort und mit klarem Willen schritt Barenziah in die Umarmung.
„Ihr tanzt auf dem Vilkan, Kind”, ermahnte sie Drelliane, als Barenziah den herrlichen Sternensaphirring bewunderte, den
ihr der kaiserliche Liebhaber zur Feier ihres einmonatigen Jubiläums geschenkt hatte.
„Wie kann das sein? Wir machen einander glücklich. Wir tun keinem etwas zu Leide. Symmachus wies mich an, meinen Verstand
zu nutzen und eine gute Wahl zu treffen. Was für eine bessere Wahl könnte ich denn treffen? Und wir sind sehr diskret. In
der Öffentlichkeit behandelt er mich wie eine Tochter.” Die nächtlichen Besuche Tiber Septims erfolgten durch einen
Geheimgang, von dem nur wenige Personen im Palast Kenntnis hatten - der Kaiser selbst und eine Hand voll Leibwächter, denen
er vertraute.
„Er lechzt förmlich nach Euch wie ein Hund nach Wasser. Habt Ihr noch nicht bemerkt, wie kühl sich die Kaiserin und ihr
Sohn Euch gegenüber verhalten?”
Barenziah zuckte die Schultern. Auch vor Beginn der Affäre hatte die Familie sie nur mit dem Nötigsten an Höflichkeit
behandelt. Mit dem Allernötigsten. „Ja und? Tiber ist es doch, der die Macht hat.”
„Aber seinem Sohn gehört die Zukunft. Macht nicht den Fehler, seine Mutter der Lächerlichkeit preiszugeben.”
„Kann ich etwas dafür, wenn diese vertrocknete Schachtel das Interesse ihres Mannes nicht einmal während einer Unterhaltung
beim Abendessen halten kann?”
„Haltet es weniger öffentlich. Mehr verlange ich nicht. Sie ist kaum von Bedeutung, das ist wahr - doch ihre Kinder lieben
sie, und Ihr solltet sie Euch nicht zu Feinden machen. Tiber Septim hat nicht mehr lange zu Leben. Was ich meine, ist”
setzte sie schnell hinzu, als sie Barenziahs Miene sah, „dass alle Menschen nur kurze Zeit leben. Sie sind flüchtig, wie
wir Elfen sagen. Sie kommen und gehen wie die Jahreszeiten - doch die Familien der Mächtigen bleiben einige Zeit. Ihr müsst
der Familie eine Freundin sein, wenn ihr aus der Beziehung auf Dauer Vorteile schöpfen wollt. Aber wie kann ich Euch die
Wahrheit sehen machen, die ihr so jung und darüber hinaus noch von Menschen aufgezogen seid! Hört auf mich und seid weise -
dann werdet Ihr mit Gramfeste zusammen das Ende der Dynastie des Septim noch erleben, so er denn eine gegründet hat, genau,
wie ihr deren Aufstieg erlebt habt. So ist das mit der Geschichte der Menschen. Sie kommen und gehen wie die Gezeiten. Ihre
Städte und Reiche blühen wie Blüten im Frühjahr auf, nur um sogleich in der sommerlichen Hitze zu welken und zu sterben.
Doch die Elfen bleiben. Wir sind wie Jahre zu ihren Stunden, Jahrzehnte zu ihren Tagen.”
Barenziah lachte nur. Sie wusste, dass die Gerüchteküche kochte. Sie genoss die Aufmerksamkeit, denn außer der Kaiserin und
deren Sohn schien ein jeder von ihr eingenommen zu sein. Minnesänger besangen ihre dunkle Schönheit und ihren Charme. Sie
war allseits beliebt und verliebt - auch wenn das nur vorübergehend sein mochte. So war das Leben nun einmal. Zum ersten
Mal, seit sie zurückdenken konnte, war sie glücklich. Ihre Tage waren erfüllt von Freude und Glück. Übertroffen wurden sie
nur noch von den Nächten.
„Was ist nur mit mir los?” klagte Barenziah. „Seht nur, kein einziger meiner Röcke passt mir mehr. Was ist nur mit meiner
Taille? Ich werde doch nicht etwa dick?” Barenziah sah ihre dünnen Arme und Beine und die eindeutig dicker gewordene Taille
missbilligend im Spiegel an.
Drelliane zuckte mit den Schultern. „Trotz Eures jugendlichen Alters scheint Ihr schwanger zu sein. Durch den ständigen
intimen Kontakt zu Menschen seid Ihr früher fruchtbar geworden als üblich. Ihr müsst wohl oder übel mit dem Kaiser darüber
sprechen. Ihr seid in seiner Hand. Ich denke, es wäre wohl am besten, wenn er Euch direkt nach Gramfeste gehen ließe, damit
ihr das Kind dort bekommen könnt.”
„Allein?” Barenziah legte die Hände auf den kleinen Bauch und verdrückte eine Träne. Mit jeder Faser ihres Seins sehnte
sich sie danach, die Frucht ihrer Liebe mit ihrem Geliebten zu teilen. „Nie wird er dem zustimmen. Nun wird er gewiss nicht
weit von mir sein wollen. Ihr werdet schon sehen.”
Drelliane schüttelte den Kopf. Obwohl nie nichts weiter sagte, blickte sie Barenziah nicht mit der üblichen kühlen
Herablassung, sondern mit Mitgefühl und Mitleid an.
Noch in derselben Nacht teilte sie Tiber Septim die Nachricht mit, als er wie üblich zu ihr kam.
„Ein Kind?” Er wirkte schockiert, völlig entgeistert. „Seid Ihr sicher? Aber man sagte mir doch, Elfen seien in diesem
Alter noch nicht fruchtbar ...”
Barenziah versuchte, zu lächeln. „Wie könnte ich denn sicher sein? Ich habe noch nie-”
„Mein Heiler soll kommen.”
Der Heiler, ein Hochelf mittleren Alters, bestätigte die Vermutung, dass Barenziah schwanger sei, und dass so etwas noch
nie zuvor geschehen sei. Es sei Zeugnis der Potenz seiner Exzellenz, sagte der Heiler schmeichlerisch. Tiber Septim verlor
die Fassung.
„Es darf nicht sein!” rief er. „Macht es ungeschehen. Das ist ein kaiserlicher Befehl.”
„Aber Herr”, stammelte der Heiler fassungslos. „Ich kann doch nicht ... Ich darf nicht -”
„Natürlich könnt Ihr das, Ihr inkompetenter Schwachkopf”, fuhr ihn der Kaiser an. „Es ist unser ausdrücklicher Wunsch.”
Barenziah, die das Geschehen bis dahin stumm und mit vor Entsetzen geweiteten Augen verfolgt hatte, setzte sich plötzlich
auf. „Nein!” schrie sie. „Nein! Wovon redet Ihr da?”
„Kind.” Tiber Septim setzte sich neben sie, mit einem unwiderstehlichen Lächeln auf den Lippen. „Es tut mir aufrichtig
Leid. Aber das darf nicht sein. Es wäre eine Gefahr für meinen Sohn und dessen Söhne. Muss ich mich noch klarer
ausdrücken.”
„Aber mein Kind ist auch Eures!” heulte sie auf.
„Nein. Es ist bisher nichts als eine Möglichkeit, ein potenzielles Wesen, das noch keine Seele hat und noch nicht wirklich
lebt. Ich werde es nicht akzeptieren. Ich verbiete es.” Er sah den Heiler abermals böse an. Dieser begann zu zittern.
„Aber Herr. Es ist ihr Kind. Elfen haben sehr wenige Kinder. Keine Elfin kann mehr als vier Mal empfangen, und auch das ist
sehr selten. Meist haben Elfinnen zwei Kinder. Manche haben nur ein Kind, und einige gar keine. Wenn ich ihr dieses Kind
nehme, Herr, wird sie vielleicht niemals empfangen.”
„Ihr hattet bereits vorausgesagt, dass sie kein Kind von uns bekommen könne. Wir haben kaum Vertrauen in Eure weiteren
Weissagungen.”
Nackt wie sie war, kletterte Barenziah aus dem Bett und rannte zur Tür. Sie wusste nicht, wohin sie wollte, nur, dass sie
hier weg musste. Sie sollte sie nicht mehr erreichen. Finsternis legte sich über sie.
Als sie wieder zu sich kam, empfand sie schrecklichen Schmerz. Ein Gefühl unerträglicher Leere machte sich breit. Ein Teil,
in dem zuvor etwas Lebendiges gewesen war, war nun leer, das Leben tot und auf ewig verloren. Drelliane blieb bei ihr, um
den Schmerz zu lindern und das Blut, das sich immer noch zwischen ihren Beinen sammelte, wegzuputzen. Doch nichts und
niemand konnte diese Leere füllen. Nichts konnte es ersetzen.
Der Kaiser schickte ihr herrliche Geschenke und große Blumengestecke, und er stattete ihr kurze Besuche ab, jedoch nie
alleine. Zunächst freute sich Barenziah über diese Besuche. Doch Nachts kam Tiber Septim nicht mehr zu ihr - und nach
einiger Zeit wünschte sie dies auch nicht mehr.
Einige Wochen vergingen. Als sie sich körperlich erholt hatte, gab ihr Drelliane Bescheid, dass Symmachus geschrieben habe
mit der Bitte, man möge sie früher als geplant nach Gramfeste schicken. Umgehend wurde ihre Abreise verkündet.
Man gewährte ihr ein großes Gefolge, eine großartige Aussteuer, wie es sich für eine Königin ziemte, und bereitete ihr
einen beeindruckenden zeremoniellen Abschied an den Toren der Kaiserstadt. Einige bedauerten ihre Abreise zutiefst, und
drückten ihre Trauer in Tränen und Rufen aus. Andere jedoch waren nicht traurig, sie gehen zu sehen, und zeigten keine
Trauer.
Band IV
Alles, was mir je etwas bedeutet hat, habe ich verloren.”, dachte Barenziah verzweifelt bei sich angesichts der Ritter, die
vor und hinter ihr ritten, und ihrer Zofen, die in einer Kutsche in der Nähe reisten. „Und doch habe ich ein Maß an
Reichtum und Macht erlangt, das noch größer zu werden verspricht. Der Preis dafür war hoch. Nun verstehe ich Tiber Septim
Liebe dazu besser, wenn auch er oft einen solchen Preis bezahlen musste. Denn gewiss muss der Wert am Preis gemessen
werden, den wir zahlen.” Auf eigenen Wunsch ritt sie eine herrliche Rotschimmelstute, gekleidet als Kriegerin im grandiosen
Kettenpanzer der Dunkelelfen.
Langsam vergingen die Tage, während sich ihr Gefolge auf der gewundenen Straße nach Osten in Richtung der untergehenden
Sonne bewegte. Nach und nach erhoben sich um sie die steilen Berghänge von Morrowind. Die Luft war dünn, und stets wehte
ein kalter Herbstwind, der den nahenden Winter ankündigte. Doch gleichzeitig war die Luft erfüllt vom süßen, würzigen Duft
der spät blühenden schwarzen Rose von Morrowind, die in jedem schattigen Winkel des Hochlands wuchs und auch in den
felsigsten Gegenden noch Nahrung fand. In kleinen Dörfern und Orten sammelten sich zerlumpte Dunkelelfen, um ihren Namen zu
rufen oder einfach nur ungläubig zu schauen. Die meisten der Ritter, die mit ihr ritten, waren Männer der Rothwardonen,
doch es waren auch einige Hochelfen, Nords und Bretonen darunter. Je weiter sie ins Herz von Morrowind vordrangen, desto
unwohler fühlten sie sich und neigten dazu, Schutz in Gruppen zu suchen. Sogar die Elfen wirkten misstrauisch.
Doch Barenziah fühlte sich endlich zu Hause. Sie fühlte sich vom Land willkommen geheißen. Von ihrem Land.
Symmachous stiess an der Grenze von Gramfeste zu ihr, begleitet von einer Rittertruppe, von denen etwa die Hälfte
Dunkelelfen waren. Alle im kaiserlichen Kampfdress, wie sie bemerkte.
Mit einer großen Parade wurde sie in die Stadt geführt, und staatliche Würdenträger hießen sie in ausführlichen Reden
willkommen.
„Ich habe die Räume der Königin für Euch herrichten lassen”, berichtete der General, als sie später den Palast erreichten,
„doch Ihr könnt natürlich alles so ändern, wie es Euch gefällt.” Er fuhr mit den Einzelheiten der Krönung fort, die in
einer Woche stattfinden sollte. Seine gebieterische Art hatte er nicht abgelegt - doch etwas hatte sich verändert. Er
suchte ganz offenbar ihre Zustimmung zu dem, was er arrangiert hatte, tat sein Möglichstes, um diese von ihr zu erhalten.
Das war neu. Ihr Lob hatte er zuvor nie gesucht.
Er stellte ihr keine Fragen zu ihrem Aufenthalt in der kaiserlichen Stadt und zur Affäre mit Tiber Septim - auch wenn
Barenziah sicher war, dass Drelliane ihm alle Einzelheiten erzählt oder zuvor bereits geschrieben hatte.
Die Zeremonie selbst war wie so vieles eine Mischung aus Altem und Neuem - Teile der uralten Tradition der Dunkelelfen von
Gramfeste wurden verbunden mit den Vorschriften des Kaisers. Sie legte ihren Amtseid auf den Dienst am Kaiserreich und
Tiber Septim wie auf das Land Gramfeste und sein Volk ab. Sie nahm Treueschwüre und Bündniseide vom Volk, dem Adel und dem
Rat entgegen. Letzterer bestand aus kaiserlichen Gesandten (so genannten „Beratern”) und Vertretern des Volks von
Gramfeste, nach elfischer Tradition meist ältere, weise Frauen und Männer.
Später sollte Barenziah feststellen, dass sie einen Großteil ihrer Zeit damit zubringen musste, zu versuchen, diese beiden
Parteien und deren Anhänger zu versöhnen. Die Ältesten sollten den Großteil der Schlichtungsaufgaben wahrnehmen, angesichts
der Reformen, die das Reich in Bezug auf Landbesitz und Landwirtschaft eingeführt hatte. Die meisten dieser Reformen liefen
jedoch den althergebrachten Bräuchen der Dunkelelfen direkt zuwider. Tiber Septim hatte 'im Namen des Einen' eine neue
Tradition quasi erlassen - und anscheinend erwartete man sogar von den Göttern und Göttinnen, dass sie dem Erlass Folge
leisteten.
Die neue Königin stürzte sich in die Arbeit und ihre Studien. Von Männern und der Liebe hatte sie erst einmal genug - für
sehr lange Zeit, wenn nicht gar auf ewig. Sie stellte jedoch bald fest, dass es auch andere Freuden gab, wie ihr Symmachus
vor langer Zeit versprochen hatte: die Freuden des Geistes, und jene der Macht. Sie entwickelte (zu ihrer eigenen
Überraschung, denn stets hatte sie gegen ihre Lehrer in der kaiserlichen Stadt rebelliert) eine tiefe Liebe zur Geschichte
und Mythologie der Dunkelelfen, und ein starkes Verlangen, das Volk besser kennen zu lernen, aus dem sie stammte. Es
erfreute ihr Herz, zu erfahren, dass ihr Volk seit jeher ein Volk stolzer Krieger, fähiger Handwerker und herausragender
Magier gewesen war.
Tiber Septim lebte noch ein halbes Jahrhundert lang. In dieser Zeit sah sie ihn mehrfach, da sie von Zeit zu Zeit bei
politischen Anlässen an den kaiserlichen Hof gerufen wurde. Bei diesen Besuchen begrüßte er sie herzlich, und wenn sie
Gelegenheit dazu hatten, führten sie sogar lange Gespräche über die Ereignisse im Kaiserreich. Er schien völlig vergessen
zu haben, dass es zwischen ihnen je mehr als eine lockere Freundschaft und ein tiefes politisches Bündnis gegeben hatte. Er
veränderte sich kaum im Verlauf der Jahre. Gerüchten zufolge sollten seine Magier Zauber entwickelt haben, die seine
Lebenskraft verlängerten, und man hörte sogar, dass der Eine ihm Unsterblichkeit gewährt haben solle. Und doch kam der Tag,
an dem ein Bote die Nachricht überbrachte, dass Tiber Septim tot war und sein Enkel Pelagius die Thronfolge angetreten
hatte.
Sie war alleine mit Symmachus, als die Nachricht kam. Der einstige General und heutige vertraute Premierminister nahm die
Nachricht so stoisch auf wie fast alles andere auch.
„Irgendwie scheint das alles ganz unwirklich”, sagte Barenziah.
„Ich habe es dir oft gesagt. So ist das mit den Menschen. Sie sind ein kurzlebiges Volk. Aber es ist eigentlich nicht
wichtig. Seine Macht besteht weiter, nur hält sie nun sein Enkel in Händen.”
„Du hast ihn einst als Freund bezeichnet. Empfindest du nichts? Keine Trauer?”
Er zuckte mit den Schultern. „Es gab eine Zeit in deinem Leben, da stand er dir noch näher. Was empfindest du, Barenziah?”
Bereits vor langer Zeit hatten sie aufgehört, sich mit Titel und offizieller Anrede anzusprechen.
„Leere. Einsamkeit”, meinte sie achselzuckend. „Aber das ist nichts Neues.”
„Ja. Ich weiß”, sagte er leise, und nahm dabei ihre Hand. „Barenziah ...” Er küsste sie.
Sie war völlig überrascht. Sie konnte sich auch nicht erinnern, dass er sie je zuvor berührt hätte. Auf diese Weise hatte
sie noch nie an ihn gedacht - und doch war da zweifelsfrei eine alte, vertraute Wärme, die durch sie strömte. Sie hatte
völlig vergessen, wie gut sich diese Wärme anfühlte. Nicht die flammende Hitze, die sie mit Tiber Septim empfunden hatte,
sondern die beruhigende, starke Leidenschaft, die sie stets mit ... mit wem nur verbunden hatte? Mit Strenz! Der arme
Strenz. Sie hatte schon sehr lange nicht mehr an ihn gedacht. Wenn er noch am Leben war, wäre er bereits mittleren Alters.
Wahrscheinlich hatte er ein Dutzend Kinder - bei diesem Gedanken musste sie lächeln - und hoffentlich eine zupackende Frau,
die genug für zwei reden konnte.
„Willst du mich nicht heiraten, Barenziah?” sagte Symmachus. Er musste wohl ihre Gedanken über Ehe, Kinder und ...
Ehefrauen gelesen haben. „Habe ich nicht lange genug gearbeitet und gewartet?”
Ehe. Ein Bauer mit bäuerlichen Träumen. Der Gedanke stand plötzlich ganz klar in ihrem Kopf, ohne, dass sie es wollte.
Hatte sie nicht einst Strenz vor so langer Zeit just in diesen Worten beschrieben? - Und doch - was sprach dagegen? Wer
sonst, wenn nicht Symmachus?
Die großen Adelsfamilien von Morrowind waren, im großen Vereinigungskrieg von Tiber Septim, vor dem Waffenstillstand,
ausgelöscht worden. Gewiss, die Herrschaft der Dunkelelfen war wiederhergestellt worden - aber nicht die des alten, des
wahren Adels. Die meisten waren Emporkömmlinge wie Symmachus, und nicht halb so verdienstvoll und gut wie er es war. Er
hatte um die Einheit und Unversehrtheit von Gramfeste gekämpft, während die so genannten Berater des Reichs es ausweiden
wollten, das Land hatten ausbluten wollen wie das benachbarte Ebenherz. Er hatte für Gramfeste gekämpft, für sie gekämpft,
während sie und das Königreich wuchsen und gediehen. Sie empfand plötzlich tiefe Dankbarkeit - und zweifelsfrei auch
Zuneigung. Er war zuverlässig und stetig. Und er hatte ihr gut gedient. Und sie stets liebevoll behandelt.
„Warum nicht?” sagte sie lächelnd. Und nahm seine Hand. Und küsste ihn.
Es war eine gute Verbindung - politisch wie privat. Während Kaiser Pelagius I., der Enkel des Tiber Septim, sie mit einer
gewissen Feindseligkeit betrachtete, hatte er unerschütterliches Vertrauen zu dem alten Freund seines Vaters.
Dagegen wurde Symmachus von den Höherrangigen in Morrowind immer noch misstrauisch betrachtet. Ihnen missfiel seine
bäuerliche Herkunft und seine enge Bindung an das Kaiserreich. Doch die Königin erfreute sich unerschütterlicher
Beliebtheit. „Königin Barenziah ist eine von uns”, flüsterte man sich zu, „sie wird ebenso gefangen gehalten wie wir.”
Barenziah war zufrieden. Arbeit gab es genug, wie auch Freude - was konnte man sich vom Leben sonst noch wünschen?
Schnell vergingen die Jahre. Es gab Stürme und Hungersnöte, die es zu überstehen galt, Verschwörungen zu vereiteln und die
Exekution der Verschwörer durchzuführen. Gramfeste gedieh zunehmend. Das Volk des Landes lebte in Sicherheit, hatte genug
zu Essen, die Bergwerke und die Landwirtschaft waren sehr produktiv. Alles stand zum Besten - nur gingen aus der
königlichen Ehe keine Kinder hervor. Und somit gab es keine Erben.
Es dauert lange, bis Elfen Kinder bekommen - alle Umstände müssen stimmen. Bei Kindern von Edelleuten gilt dies noch mehr
als bei anderen. So vergingen viele Jahrzehnte, bis sie sich Sorgen machten.
„Der Fehler liegt bei mir, Symmachus. Ich bin beschädigt. Verbraucht”, sagte Barenziah verbittert. „Wenn Ihr eine andere
zur Frau nehmen wollt ...”
„Ich will keine andere”, sagte Symmachus sanft, „und wir können nicht sicher wissen, dass es an dir liegt. Vielleicht liegt
es an mir. Nun. Wie dem auch sei. Wir werden Heilung suchen. Wenn es wirklich einen Schaden gibt, lässt er sich gewiss
beheben.”
„Wie kann das sein? Wo wir doch keinem die wahre Geschichte anvertrauen können? Der Eid eines Heilers hält nicht immer.”
„Wenn wir die Zeit und die Umstände etwas verändern, wird es nichts machen. Was immer wir sagen oder nicht sagen, der
Geschichtenerzähler Jephre ist ohne Rast. Der kreative Geist und die schnelle Zunge des Gottes sind stets mit dem
Verbreiten von Gerüchten beschäftigt.”
Priester, Heiler und Magier kamen und gingen. Doch all ihre Gebete, Tränke und Zauber konnten nicht einmal eine Hoffnung
aufkeimen lassen. Mit der Zeit verdrängten sie die Angelegenheit aus ihrem Geist und überließen sie den Göttern. Für Elfen
waren sie noch jung, und Jahrhunderte lagen vor ihnen. Es gab Zeit. Elfen hatten immer Zeit.
Barenziah saß in der großen Halle beim Abendessen. Sie stocherte lustlos im Essen herum, fühlte sich gelangweilt und
unruhig. Symmachus war fort. Der Urgroßenkel von Tiber Septim, Uriel Septim, hatte ihn in die kaiserliche Stadt berufen.
Oder war es sein Ur-Urgroßenkel? Sie stellte fest, dass sie es nicht mehr wusste. Ihre Gesichter schienen miteinander zu
verschmelzen. Vielleicht hätte sie mit ihm gehen sollen, doch es war gerade eine Delegation aus Tränenstadt da gewesen, mit
einer eher heiklen Angelegenheit.
Ein Barde sang in einem Alkoven der Halle, doch Barenziah hörte nicht zu. In letzter Zeit hörten sich alle Lieder für sie
gleich an, ob neu oder alt. Plötzlich erregte ein Satzfetzen ihre Aufmerksamkeit. Der Mann sang von Freiheit, von
Abenteuer, davon, Morrowind von seinen Ketten zu befreien. Wie konnte er es wagen! Barenziah setzte sich auf und warf ihm
einen finsteren Blick zu. Zu allem Überfluss stellte sie fest, dass er von einem alten und längst vergessenen Krieg mit den
Nords aus Himmelsrand sang, und die Heldenhaftigkeit der Könige Edward und Moraelyn und deren tapferen Begleitern pries.
Sicher, die Geschichte war eine alte, doch das Lied war neu. Und was die Bedeutung anbelangte ... Barenziah war sich
wirklich nicht sicher.
Ein verwegener Mann, dieser Barde, aber einer mit einer starken, leidenschaftlichen Stimme und einem guten Ohr für Musik.
Und eine gewisses liederliches gutes Aussehen hatte er auch an sich. Er sah nicht aus, als sei er sehr reich, und so jung
war er auch nicht mehr. Gewiss nicht jünger als hundert Jahre. Warum hatte sie ihn dann nicht zuvor gehört, oder zumindest
von ihm gehört?
„Wer ist das?” fragte sie ihre Hofdame.
Die Frau zuckte mit den Schultern und meinte nur: „Er nennt sich Nachtigall, Milady. Keiner scheint je von ihm gehört zu
haben.”
„Bittet ihn auf ein Gespräch zu mir, wenn er fertig ist.”
Der Mann, der sich Nachtigall nannte, kam zu ihr, und dankte ihr sowohl für die Ehre der Audienz wie auch für den gut
gefüllten Beutel, den sie ihm reichte. Seine Art war gar nicht verwegen, stellte sie fest, er wirkte eher ruhig und
bescheiden. Er redete gern und viel über andere, doch über ihn selbst erfuhr sie nichts - alle Fragen wehrte er mit einer
gewitzten Antwort oder einer anzüglichen Anekdote ab. Und doch erzählte er diese mit solchem Charme, dass es unmöglich war,
es ihm zu verübeln.
„Mein wahrer Name? Aber Milady, ich bin niemand. Wahrlich, meine Eltern nannten mich Ny Mant. Doch was tut dies schon? Es
ist ganz gleich. Wie sollen Eltern das benennen, was sie nicht kennen? So trafen meine eine gute Entscheidung. Soweit ich
mich entsinnen kann. Denn ich bin bereits so lange Nachtigall, dass ich mich nicht entsinnen kann - bereits seit -
mindestens einem Monat - oder doch seit einer Woche? All meine Erinnerung geht in Gesang und Lied über, wie ihr seht,
Milady. Für mich bleibt da nichts übrig. Ich bin in der Tat recht langweilig. Wo wurde ich geboren? Nun, in Nir Gendwo.
Sollte ich es je erreichen, will ich in Nider Lassen sesshaft werden ... doch ich habe es nicht eilig.”
„In der Tat. Und dann werdet Ihr wohl eine gewisse Mag Sein ehelichen?”
„Wie aufmerksam von Euch, Milady. Vielleicht, vielleicht. Obwohl die gute Über Eilt auch nicht der Reize entbehrt.”
„Ah. So seid Ihr wankelmütig?”
„Unbeständig wie der Wind, Milady. Ich blase mal nach hier und mal nach da, bin mal heiß, mal kalt - wie es mir so kommt.
Der Zufall ist mein bester Anzug. Keiner trägt ihn so wie ich.”
Barenziah lächelte. „So bleibt eine Weile bei uns ... so Ihr das wünscht, werter Herr Sprunghaft.”
„Wie es Euch beliebt, kluge Königin.”
Nach diesem kurzen Wortwechsel stellte Barenziah fest, dass sie irgendwie den Spaß am Leben wieder gefunden hatte. Alles,
was ihr zuvor tot und grau erschienen war, wurde wieder frisch und neu. Voller Energie begrüßte sie jeden Tag, und freute
sich bereits auf die Unterhaltung mit Nachtigall und seine Lieder. Im Gegensatz zu anderen Barden sang er niemals Loblieder
auf sie oder auf andere Frauen, sondern nur auf große Abenteuer und mutige Taten.
Als sie ihn danach fragte, sagte er nur: „Welch größeres Lob Eurer Schönheit könnt Ihr wünschen, Milady, als jenes, das Ihr
erfahrt, wenn Ihr in Euren Spiegel blickt? Und so Ihr Worte haben wollt, so habt ihr doch bereits jene der Größten aller
Großen - die weit mehr wert sind als ich es je vermöchte. Wie sollte ich es ihnen je gleichtun, sie gar übertreffen, ich,
der ich erst vor einer Woche geboren wurde?”
Ausnahmsweise einmal sprachen sie unter vier Augen. Barenziah hatte nicht schlafen können und ihn in ihr Zimmer bestellt,
damit seine Musik sie beruhigen solle. „Ihr seid faul und feige, mein Herr, oder aber ich habe keinen Liebreiz in Euren
Augen.”
„Milady, um Euch loben zu können, muss ich Euch kennen. Doch das kann niemals sein. Zu umwoben seid Ihr von geheimnisvollem
Zauber.”
„Ihr irrt Euch. Eure Worte sind es, die den Zauber weben. Eure Worte ... und Eure Augen. Und Euer Körper. Lernt mich
kennen, wenn Ihr es wollt. Wenn Ihr es wagt.”
Er kam zu ihr. Sie lagen eng umschlungen und küssten einander. „Nicht einmal Barenziah kennt die wahre Barenziah”,
flüsterte er leise. „Wie soll dies dann mir gelingen? Milady, Ihr sucht und wisst es nicht, noch wisst Ihr, wonach Ihr
sucht. Wonach dürstet es Euch, was Ihr nicht habt?”
„Leidenschaft”, gab sie zurück. „Leidenschaft. Und Kinder, die daraus entspringen.”
„Und was wünscht Ihr für Eure Kinder? Welches Geburtsrecht sollen sie haben?”
„Freiheit”, sagte sie, „die Freiheit, zu sein, was sie sein wollen. Sagt mir, Ihr, der Ihr diesen Augen und Ohren, dieser
Seele am meisten Weisheit zu haben scheint. Wo soll ich diese Dinge suchen?”
„Das eine liegt neben Euch, das andere unter Euch. Aber würdet Ihr es wagen, Eure Hand auszustrecken und das zu nehmen, was
Eures sein könnte? Was Euren Kindern gehören könnte?”
„Symmachus ...”
„In mir liegt die Antwort zu einem Teil dessen, wonach Ihr Euch sehnt. Der andere Teil liegt unter uns in den Bergwerken
Eures eigenen Königreichs. Er kann uns die Kraft verleihen, diese Träume zu erfüllen und wahr zu machen. Jenes, das Edward
und Moraelyn gemeinsam nutzten, um Hochfels und seine Geister von der verhassten Herrschaft der Nord zu befreien. In den
Händen der Richtigen kann diesem keiner widerstehen, nicht einmal die Macht des Kaisers. Freiheit, sagt Ihr? Barenziah,
dieses wird Euch Freiheit von Euren Ketten schenken. Denkt darüber nach, Milady.” Er küsste sie erneut leicht auf die
Lippen und stand auf.
„Ihr wollt doch nicht gehen ... ?” rief sie. Jede Faser ihres Leibes sehnte sich nach ihm.
„Für's Erste”, meinte er. „Fleischliche Lust ist nichts gegen das, was wir zusammen haben könnten. Denkt darüber nach,
Milady.”
„Darüber muss ich nicht nachdenken. Was müssen wir tun? Welche Vorbreitungen müssen wir treffen?”
„Aber nicht doch. Gewiss, die Bergwerke sind bewacht. Doch mit der Königin an meiner Seite wird sich uns keiner in den Weg
stellen. Dort kann ich Euch dann zu dem Ort führen, an dem dieses Objekt liegt, und es aus seiner Ruhestatt bergen.”
Plötzlich erinnerte sich an ihre vielen Studien. „Das Horn der Einheit”, flüsterte sie ehrfürchtig. „Ist das wahr? Kann es
sein? Woher wollt Ihr das wissen? Ich habe gelesen, es läge unter den endlosen Höhlen von Daggerfall begraben.”
„Dem ist nicht so. Lange schon habe ich mich damit befasst. Vor seinem Tode gab König Edward das Horn zur sicheren
Aufbewahrung seinem alten Freund König Moraelyn. Dieser brachte es auf geheimen Wegen in ein Versteck in Gramfeste,
beschützt vom Gott Ephen, dessen Geburtsstatt und Bereich dies ist. Nun wisst Ihr, was es mich viele lange Jahre und viele
erschöpfende Meilen gekostet hat, herauszufinden.”
„Aber was ist mit dem Gott? Was ist mit Ephen?”
„Vertraut mir, verehrte Dame. Alles wird gut.” Mit einem leisen Lachen blies er ihr einen letzten Kuss zu und verschwand.
Am nächsten Morgen gingen sie gemeinsam an den Wachen vorüber, die die mächtigen Tore zu den Bergwerken und allem, was
darunter lag, bewachten. Barenziah gab vor, ihre übliche Inspektion vorzunehmen, und ging mit Nachtigall durch einen
unterirdischen Raum nach dem anderen. Schließlich erreichten sie etwas, das wie ein vergessener, versiegelter Durchgang
aussah. Sie gingen hindurch und stellten fest, dass er in uralte Schächte führte, die seit langer Zeit nicht mehr benutzt
worden waren. Der Weg war gefährlich, denn einige der alten Schächte waren eingestürzt. So mussten sie sich entweder einen
Weg durch den Schutt bahnen oder einen Weg darum herum finden. Aggressive, riesige Ratten und Spinnen von fürchterlichen
Ausmaßen waren überall und griffen sie sogar gelegentlich an. Doch Barenziahs Feuerblitz-Zauber und die schnelle Klinge von
Nachtigall hatten sie nichts entgegen zu setzen.
„Wir sind bereits zu lange weg”, meinte Barenziah schließlich. „Man wird uns suchen. Was soll ich ihnen nur sagen?”
„Was immer Ihr möchtet”, lachte Nachtigall. „Ihr seid doch schließlich Königin, oder nicht?”
„Fürst Symmachus-”
„Dieser Bauer gehorcht dem, der die Macht hält. Das hat er stets getan und wird es immer tun. Und die Macht wird unser
sein, meine geliebte Königin.” Seine Lippen waren wie süßer Wein, seine Berührung Feuer und Eis zugleich.
„Jetzt”, sagte sie, „nehmt mich jetzt. Ich bin bereit.” Ihr ganzer Körper schien zu flirren, jeder Nerv, jeder Muskel war
in höchster Spannung.
„Noch nicht. Nicht hier, nicht so.” Mit den Händen wies er auf die alten, staubigen Ruinen und den grauen, unerbittlichen
Stein. „Nur noch kurze Zeit.” Zögerlich nickte Barenziah ihre Zustimmung. Sie gingen weiter.
„Hier”, sagte er endlich, vor einer leeren Wand anhaltend. „Hier liegt es.” Er kratzte eine Rune in den Staub und wob mit
der anderen Hand gleichzeitig einen Zauber.
Der Stein löste sich auf und gab den Eingang zu einem uralten Schrein frei. In seiner Mitte stand die Statue eines Gottes
mit erhobenem Hammer über einem Amboss aus Adamantium.
„Bei meinem Blut rufe ich dich an, Ephen!” rief Nachtigall: „Erwache! Moraelyns Erbe von Ebenherz bin ich, letzter des
königlichen Geblüts, von deinem eigenen Blute. In der größten Not von Morrowind erzittert jeder Elf in Entsetzen und Furcht
um sich und seine Seele! Gib mir, worüber du wachst! Lass den Hammer fallen!”
Bei diesen Worten begann die Statue zu leuchten und regelrecht zum Leben zu erwachen. Die leeren Augen aus Stein leuchteten
feuerrot. Der riesige Kopf nickte, der Hammer fiel auf den Amboss, und dieser brach mit einem entsetzlichen Donnerschlag
auseinander. Der Stein selbst bröckelte. Barenziah schlug die Hände über die Ohren und kauerte sich auf den Boden,
entsetzlich zitternd und laut stöhnend.
Nachtigall dagegen schritt kühn nach vorne und nahm das Objekt seiner Sehnsucht, das in den Trümmern lag. Mit ekstatischem
Blick hob er es empor.
„Da kommt jemand!” rief Barenziah erschrocken - und im gleichen Augenblick sah sie zum ersten Mal klar, was er da
emporhielt. „Wartet! Das ist gar nicht das Horn! Das ist ... ein Stab!”
„'Wahrlich, Milady! Endlich sind Eure Augen offen!”' Er lachte laut auf. „Es tut mir wahrlich Leid, Milady, doch nun muss
ich Euch wirklich verlassen. Vielleicht werden wir uns eines Tages wieder sehen. Bis dahin ... Ah! Bis dahin ist Sie Euer,
Symmachus”, sagte er zu der Gestalt im Kettenpanzer, die gerade hinter ihm aufgetaucht war. „Ihr könnt sie zurücknehmen.”
„Nein!” schrie Barenziah. Sie sprang auf und rannte auf ihn zu, doch er war bereits verschwunden. Er löste sich in exakt
demselben Augenblick in Luft auf, als Symmachus ihn mit gezücktem Schwert erreichte. Zischend sauste das Schwert durch
nichts als Luft. Symmachus stand wie zu Eis gefroren da, als wolle er den Platz des steinernen Gottes einnehmen.
Barenziah sagte nichts, hörte nichts, sah nichts ... und fühlte nichts.
Symmachus sagte dem halben Dutzend Elfen in seiner Begleitung, Nachtigall und Königin Barenziah hätten sich verirrt und
seien von riesigen Spinnen angegriffen worden. Nachtigall sei gestolpert und in eine tiefe Spalte gefallen, die sich über
ihm geschlossen habe. Sein Körper könne nicht geborgen werden. Die Königin sei durch die Ereignisse völlig verstört und in
großer Trauer über den Verlust des Freundes, der gefallen sei beim Versuch, sie zu verteidigen. Seine Geistesgegenwart und
Selbstbeherrschung war so groß, dass die verblüfften Ritter, von denen keiner mehr als einen kurzen Blick auf die
Ereignisse erhascht hatte, überzeugt waren, dass sich alles genau so zugetragen habe, wie er es geschildert hatte.
Die Königin wurde zurück in den Palast eskortiert und in ihr Privatzimmer gebracht. Hier schickte sie die Diener weg. Lange
Zeit sass sie reglos vor dem Spiegel, völlig niedergeschmettert, zu entsetzt, um auch nur zu weinen. Symmachus wachte über
sie.
„Hast du irgend eine Ahnung, was du gerade getan hast?” fragte er schließlich hart und kalt.
„Du hättest es mir sagen müssen”, flüsterte Barenziah. „Der Stab des Chaos! Nie hätte ich geträumt, dass er hier liegen
könnte. Er sagte ... er hat gesagt ...” ein leises Wimmern kam über ihre Lippen und sie krümmte sich vor Verzweiflung. „Was
habe ich nur getan? Was habe ich getan? Was wird nun passieren? Was soll aus mir werden? Aus uns allen?”
„Hast du ihn geliebt?”
„Ja. Ja, ja, ja! Mein lieber Symmachus, mögen sich die Götter meiner erbarmen. Ich liebte ich. Vorher. Doch jetzt ... jetzt
... Ich weiß es nicht ... Ich bin mir nicht sicher ... ich ...”
Die harten Linien in Symmachus Gesicht wurden etwas weicher, in seinen Augen regte sich ein neues Leuchten, und er seufzte.
„Nun. Immerhin etwas. Ihr werdet doch noch Mutter, wenn es in meiner Macht liegt. Was das andere angeht - Barenziah, meine
liebe Barenziah, ich fürchte, ihr habt einen schrecklichen Sturm über dem Land entfacht. Er wird sich noch eine Zeit lang
zusammenbrauen. Doch wenn er kommt, werden wir ihn zusammen überstehen. Wie alles andere bisher.”
Da ging er zu ihr, zog sie aus, und trug sie zum Bett. Aus Ihrer Verzweiflung und Sehnsucht heraus reagierte ihr
geschwächter Leib auf seinen starken Körper wie nie zuvor, und gab alles frei, was Nachtigall in ihr zum Leben erweckt
hatte. Und beruhigte so die ruhelosen Geister all dessen, was er vernichtet hatte.
Sie war völlig leer gewesen. Und dann war sie erfüllt, denn ein Same wurde gesät und ein Kind wuchs in ihr heran. Während
ihr Sohn in ihrem Schoß wuchs, so wuchs auch die Tiefe ihres Gefühls für den geduldigen, treuen, ergebenen Symmachus, das
stets auf langer Freundschaft und stetiger Zuneigung beruht hatte, und das jetzt endlich zu wahrer, erfüllter Liebe reifte.
Acht Jahre später segneten sie die Götter abermals, diesmal mit einer Tochter.
Sofort nach dem Diebstahl des Chaos durch Nachtigall hatte Symmachus dringende geheime Kommuniqués an Uriel Septim
geschickt. Er war jedoch nicht wie sonst selbst gegangen, sondern hatte sich entschieden, in ihrer fruchtbaren Zeit bei
Barenziah zu bleiben, um einen Sohn zu zeugen. Dafür und für den Raub fiel er bei Uriel Septim vorübergehend in Ungnade und
wurde ungerechtfertigterweise verdächtigt. Man suchte mit Spionen nach dem Dieb, doch Nachtigall schien dahin verschwunden,
wo er hergekommen war - wo auch immer das sein mochte.
„Teils Dunkelelf vielleicht”, sagte Barenziah, „aber auch teils Mensch, glaube ich, in Verkleidung. Sonst wäre ich nicht so
schnell fruchtbar geworden.”
„Teils Dunkelelf, gewiss, und aus altem Ra'athim-Geblüt noch dazu, sonst hätte er den Stab nicht befreien können”, dachte
Symmachus laut. Er drehte sich zu ihr um und sah sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Ich glaube nicht, dass er in dein
Bett gekommen wäre. Als Elf konnte er das nicht wagen, sonst hätte er dich nicht verlassen können.” Er lächelte. Dann wurde
er wieder Ernst. „Ja. Er wusste, dass der Stab und nicht das Horn dort lag, und dass er mit einem Teleportzauber in
Sicherheit gelangen musste. Der Stab ist keine Waffe, die ihn klar erkannt hätte, im Gegensatz zum Horn. Ich danke den
Göttern dass er zumindest das nicht hat! Anscheinend war alles so, wie er es erwartet hatte - aber wie konnte er es wissen?
Ich habe den Stab dort selbst verwahrt, mit Hilfe des erbärmlichen Überrests des Ra'athim-Clans, der nun als Belohnung als
König im Schloss Ebenherz weilt. Tiber Septim hat das Horn für sich beansprucht, doch den Stab ließ er hier, damit er
sicher verwahrt werde. Es darf nicht sein. Nun kann Nachtigall den Stab verwenden, um Streit und Missgunst zu säen, wo
immer er geht, wenn er das möchte. Doch das alleine wird ihm keine Macht verschaffen. Die liegt im Horn und der Fähigkeit,
es einzusetzen.”
„Ich bin mit nicht so sicher, dass es Macht ist, wonach Nachtigall strebt”, überlegte Barenziah.
„Jeder strebt nach Macht”, meinte Symmachus. „Jeder auf seine eigene Weise.”
„Ich nicht”, gab sie zurück. „Ich habe gefunden, wonach ich strebte, mein Herr.”
Band V
Symmachus sollte Recht behalten. Auf kurze Sicht hatte der Diebstahl des Stabes kaum Konsequenzen. Der derzeitige Kaiser
Uriel Septim schickte einige recht ungehaltene Nachrichten, in denen er sein Entsetzen und seinen Ärger über das
Verschwinden des Stabes zum Ausdruck brachte. Er drängte Symmachus, keine Mühe zu scheuen, den Aufbewahrungsort des Stabes
ausfindig zu machen und alle diesbezüglichen Entwicklungen dem neu ernannten Kaiserlichen Kampfmagier Jagar Tharn
mitzuteilen, in dessen Hände man die Angelegenheit gelegt hatte.
„Tharn!” tobte Symmachus, angewidert und frustriert in der kleinen Kammer auf und ab marschierend, in der die schwangere
Barenziah ruhig saß und eine Babydecke bestickte. „Jagar Tharn, ausgerechnet. Es darf nicht sein. Dem würde ich nicht
einmal sagen, wie er die Straße überqueren kann, und wäre er ein tattriger blinder Greis!”
„Was hast du denn gegen ihn, mein Liebster?”
„Ich vertraue diesem Mischlingself einfach nicht. Teils Dunkelelf, teils Hochelf, und der Rest - das wissen nur die Götter.
Hat all die schlechtesten Qualitäten seiner Vorfahren in sich vereint, würde ich wetten." Er schnaubte. "Niemand weiß viel
über ihn. Behauptet, er sei Sohn einer Waldelfin im Süden von Valenwald. Und seither ist er wohl in der ganzen
Weltgeschichte herumgereist, seit ...”
Barenziah, völlig versunken in der Ruhe und Zufriedenheit ihrer Schwangerschaft, hatte Symmachus bisher nur eine gute
Gesprächspartnerin sein wollen. Doch nun ließ sie ihre Handarbeit plötzlich in den Schoß fallen und sah ihn an. Irgend
etwas hatte ihr Interesse hervorgerufen. „Symmachus. Könnte dieser Jagar Tharn in Verkleidung nicht Nachtigall gewesen
sein?”
Symmachus dachte ein wenig darüber nach, bevor er antwortete. „Nein, meine Liebe. Menschliches Blut scheint so ziemlich das
Einzige zu sein, woran es Tharns Vorfahren gefehlt hat.” Für Symmachus war das keine gute Eigenschaft, wie Barenziah wohl
wusste. Ihr Angetrauter verachtete Waldelfen als faule Diebe, Hochelfen hielt er für abgehobene, nichtsnutzige
Intellektuelle. Doch Menschen bewunderte er, besonders Bretonen, sie waren pragmatisch, intelligent und tüchtig.
„Nachtigall stammt aus Ebenherz, vom Ra'athim-Clan, dem Hause Hlaalu, insbesondere dem Hause Mora, das würde ich schwören.
In dieser Blutlinie fließt seit Mora menschliches Blut. Ebenherz war bereits eifersüchtig, als der Stab hier verwahrt
wurde, als Tiber Septim das Horn der Einheit von uns nahm.”
Barenziah seufzte ein wenig. Die Konkurrenz zwischen Ebenherz und Gramfeste währte bereits fast seit Anbeginn der
Geschichte von Morrowind. Einst waren die beiden Nationen eins gewesen. Die Ra'athim waren Lehnsherren aller ertragreichen
Bergwerke. Deren Edelleute waren Hochkönige von Morrowind. Ebenherz hatte sich in zwei getrennte Stadtstaaten - Ebenherz
und Gramfeste - geteilt, als die Zwillingssöhne von Königin Lian - Enkel des legendären Königs Moraelyn - gemeinsam als
Erben eingesetzt wurden. Etwa zu dieser Zeit war es auch, dass das Amt des Hochkönigs nicht wieder besetzt wurde und
stattdessen ein vorübergehender Kriegsherr von einem Rat ernannt werden sollte, falls eine Notlage dies erforderte.
Dennoch wachte Ebenherz eifersüchtig über seine Vorrechte als ältester Stadtstaat von Morrowind („Unter Gleichen der Erste”
war der Ausdruck, den seine Herrscher gerne verwendeten) und bestand darauf, dass der Stab des Chaos rechtmäßig in seine
Obhut hätte gegeben werden müssen. Gramfeste gab stets zurück, dass König Moraelyn höchstpersönlich den Stab dem Gott Ephen
zur Aufbewahrung übergeben habe - und dass Gramfeste ohne jeden Zweifel der Geburtsort des Gottes gewesen sei.
„Warum berichtest du Jagar Tharn dann nicht von deinem Verdacht? Lass ihn den Stab wieder zurückholen. Solange er in
Sicherheit gebracht wird, ist doch wohl gleich, wer ihn zurückbringt und wo er aufbewahrt wird?”
Symmachus sah sie verständnislos an. „Es ist nicht gleich”, sagte er nach einiger Zeit leise. „Aber so wichtig wohl auch
nicht. Gewiss ...” fuhr er fort, „nicht so wichtig, dass du dich näher damit beschäftigen müsstest. Bleib du ruhig in der
Ecke sitzen und kümmere dich um deine ...” - an dieser Stelle grinste er sie frech an, „... Stickarbeiten.”
Barenziah schleuderte ihm das Sticktuch ins Gesicht. Und traf - mitsamt Nadel und Fingerhut.
Einige Monate später gebar Barenziah einen gesunden, prächtigen Jungen, den sie Helseth tauften. Man hörte nichts weiter
vom Stab des Chaos oder Nachtigall. Wenn Ebenherz den Stab nun besaß, prahlte man jedenfalls nicht damit.
Die Jahre gingen schnell und glücklich vorüber. Helseth wuchs zu einem großen, starken Jüngling heran. Er ähnelte seinem
Vater sehr, und betete diesen förmlich an. Als Helseth acht Jahre als war, gebar Barenziah ein zweites Kind, zur
anhaltenden Freude von Symmachus. Helseth war sein ganzer Stolz, doch die kleine Morgiah - die nach Symmachus Mutter
benannt war - besaß sein Herz.
Leider war ihre Geburt keineswegs ein Vorbote besserer Zeiten. Die Beziehungen zum Kaiserreich wurden immer schlechter,
ohne dass ein Grund hierfür erkennbar gewesen wäre. Die Steuern stiegen und die Zehnten wurden jedes Jahr erhöht. Symmachus
glaubte, der Kaiser verdächtige ihn, am Verschwinden des Stabes beteiligt gewesen zu sein. So strebte er danach, seine
Treue unter Beweis zu stellen, indem er keine Mühe scheute, den steigenden Forderungen nachzukommen. Er verlängerte die
Arbeitszeiten und erhöhte die Steuern, und einen Teil der Differenz beglich er sogar aus der königlichen Schatzkammer und
ihrem Privatbesitz. Doch die Belastung wuchs immer mehr, und das einfache Volk wie die Edelleute begannen, sich laut zu
beklagen. Es schien ein unheilvolles Grollen zu sein.
„Ich möchte, dass du die Kinder mitnimmst, und in die kaiserliche Stadt reist”, sagte Symmachus in seiner Verzweiflung
schließlich einen Abend nach dem Essen. „Du musst den Kaiser zur Vernunft bringen, sonst wird ganz Gramfeste im Frühjahr
den Aufstand proben.” Er zwang sich zu einem Lächeln. „Mit Männern kannst du gut umgehen, meine Liebe. Das konntest du
schon immer.”
Barenziah zwang sich ihrerseits zu einem Lächeln. „Sogar mit dir, wenn ich das recht verstehe.”
„Ja. Besonders mit mir”, erkannte er gut gelaunt an.
„Beide Kinder?” Barenziah sah zum Eckfenster, wo Helseth auf einer Laute spielte und ein Duett mit seiner kleinen Schwester
krähte. Helseth war mittlerweile fünfzehn, Morgiah acht.
„Vielleicht erweichen sie sein Herz. Außerdem ist es allerhöchste Zeit, dass Helseth am kaiserlichen Hof präsentiert wird.”
„Mag sein. Aber das ist nicht der wahre Grund.” Barenziah atmete tief ein und fasste den Mut, es auszusprechen. „Du glaubst
nicht, dass sie hier in Sicherheit sind. Wenn das der Fall ist, bist du hier auch nicht in Sicherheit. Komm mit uns”,
drängte sie ihn.
Er nahm sie bei den Händen. „Barenziah. Meine geliebte Barenziah. Mein Herz, mein Alles. Wenn ich jetzt gehe, wird es
nichts geben, wohin wir zurückkehren könnten. Sorge dich nicht um mich. Mir wird es gut gehen. Wirklich. Ich kann auf mich
selbst aufpassen, und noch besser, wenn ich mich nicht um dich und die Kinder sorgen muss.”
Barenziah legte ihren Kopf auf seine Brust. „Vergiss nur nicht, dass wir dich brauchen. Dass ich dich brauche. Wir können
alles andere erübrigen, wenn wir nur zusammen sind. Leere Hände und leere Bäuche sind leichter zu ertragen als ein leeres
Herz.” Sie begann zu weinen, als sie an Nachtigall und die schreckliche Angelegenheit mit dem Stab dachte. „Allein meine
Dummheit hat uns in diese Lage gebracht.”
Er lächelte sie zärtlich an. „Wenn dem so ist, so ist es doch keine so schlechte Sache.” Liebevoll blickte er die Kinder
an. „Keiner von uns soll je etwas entbehren, oder Mangel leiden. Niemals. Das werde ich nie zulassen, Liebste, das
verspreche ich dir. Einst habe ich dich alles gekostet, Barenziah - ich und Tiber Septim. Doch. Ohne meine Hilfe hätte das
Kaiserreich nie geschaffen werden können. Ich habe geholfen, es groß zu machen.” Seine Stimme wurde hart. „Ich kann auch
seinen Niedergang bewirken. Das kannst du Uriel Septim ausrichten. Das, und dass sogar meine Geduld ihre Grenzen hat.”
Barenziah atmete scharf ein. Symmachus war kein Mann der leeren Worte. Nie hätte sie erwartet, dass er sich je gegen das
Reich stellen würde - ebenso wenig wie sie vom alten Hauswolf, der vor dem Feuer döste, erwartete, dass er sie anfallen
könnte. "Aber wie?" verlangte sie atemlos zu wissen. Doch er schüttelte den Kopf.
„Es ist besser, wenn du es nicht weißt”, meinte er. „Sage ihm einfach, was ich dir gesagt habe, falls er hartnäckig bleibt,
und hab keine Angst. Soviel Septim ist er, dass er seinen Zorn nicht am Boten auslassen wird.” Ein zorniges Lächeln machte
sich auf seinem Gesicht breit. "Denn sollte er das tun, sollte er dir auch nur ein Haar krümmen, Liebste, oder den Kindern
- bei allen Göttern von Tamriel, dann wird er beten, er wäre niemals geboren worden. Dann werde ich ihn jagen und stellen -
ihn und seine gesamte Familie. Und ich werde nicht ruhen, bis der letzte Septim tot ist." Seine roten Augen leuchteten hell
neben dem schwächer werdenden Feuerschein. „Diesen Eid schwöre ich auf dich, meine Liebste. Meine Königin ... meine
Barenziah.”
Barenziah hielt ihn so fest wie sie nur konnte. Trotz der Wärme seiner Umarmung zitterte sie.
Barenziah stand vor dem Thron des Kaisers und versuchte, die Schwierigkeiten von Gramfeste zu erläutern. Wochenlang hatte
sie auf eine Audienz mit Uriel Septim warten müssen, stets hatte man sie aus irgend einem vorgeschobenen Grund warten
lassen. „Seine Majestät ist unpässlich.” „Eine dringende Angelegenheit erfordert die Aufmerksamkeit seiner Exzellenz.” „Ich
bedaure, Hoheit, da muss ein Fehler vorliegen. Euer Termin ist erst nächste Woche. Ganz bestimmt ...” Und nun lief die
Unterhaltung nicht einmal gut. Der Kaiser gab sich nicht die geringste Mühe, auch nur den Anschein zu erwecken, als höre er
ihr zu. Er hatte sie weder gebeten, sich doch zu setzen, noch hatte er die Kinder gehen lassen. Helseth stand wie in Stein
gemeißelt da, doch die kleine Morgiah wurde langsam unruhig.
Die vielen Gedanken, die ihr im Kopf herumschwirrten, trugen nicht zur Besserung der Lage bei. Kurz nach ihrer Ankunft in
ihren Räumen hatte der Botschafter Gramfestes in der kaiserlichen Stadt um Eintritt nachgesucht, in seiner Hand einen
ganzen Stapel Botschaften von Symmachus. Es gab schlechte Nachrichten, und mehr als genug davon. Die Revolte hatte in der
Tat begonnen. Die Bauern hatten sich um einige unzufriedene Mitglieder der unteren Adelsränge von Gramfeste geschart, und
verlangten den Rücktritt von Symmachus und die Übergabe der Regierungsmacht. Nur die kaiserliche Wache und eine Hand voll
Truppen, deren Familien seit Generationen Gefolgsleute von Barenziahs Familie gewesen waren, standen zwischen Symmachus und
den Aufrührern. Die Kampfhandlungen hatten bereits begonnen, doch anscheinend war Symmachus in Sicherheit und hatte noch
die Oberhand. Doch das konnte nicht lange so bleiben. Er beschwor Barenziah, ihr Möglichstes beim Kaiser zu versuchen -
aber auf jeden Fall in der Kaiserstadt zu bleiben, bis er ihr schrieb, dass es sicher sei, mit den Kindern zurückzukehren.
Sie hatte ohne großen Erfolg versucht, sich mit Gewalt gegen die kaiserliche Bürokratie durchzusetzen. Ihre Panik wuchs,
als plötzlich keine Nachrichten mehr aus Gramfeste kamen. Die Wochen vergingen zäh und qualvoll, während sie hin- und
hergerissen war zwischen ihrer Wut auf die unzähligen Haushofmeister des Kaisers und ihrer Angst um das Schicksal ihrer
Familie. Eines Tages kam schließlich der Botschafter von Gramfeste und teilte ihr mit, dass sie Nachrichten von Symmachus
spätestens in der kommenden Nacht erwarten solle - nicht durch die üblichen Wege, sondern per Nachtfalke. Plötzlich schien
alles auf einmal zu passieren: Noch am selben Tag informierte sie ein Bediensteter des kaiserlichen Hofstaats, dass Uriel
Septim endlich eingewilligt hatte, ihr früh am nächsten Morgen eine Audienz zu gewähren.
Der Kaiser hatte sie alle drei bei ihrem Eintritt mit einem allzu überschwänglichen Lächeln begrüßt, das sie wohl
willkommen heißen sollte, seine Augen jedoch nicht erreichte. Als sie dann ihre Kinder vorgestellt hatte, hatte er sie mit
einer Aufmerksamkeit fixiert, die durchaus echt, aber irgendwie unpassend war. Barenziah hatte nun seit fast fünfhundert
Jahren mit Menschen zu tun und dabei die Fähigkeit entwickelt, weit mehr aus ihrem Gesichtsausdruck und ihren Bewegungen zu
lesen als je ein menschliches Wesen es könnte. So sehr er auch versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, war der Blick
des Kaisers doch von einem seltsamen Hunger, einer gewissen Gier erfüllt. Und da war noch etwas. Bedauern? Ja. Bedauern.
Aber warum? Er hatte selbst mehrere gesunde, wunderbare Kinder. Weshalb sollte es ihn da nach ihren dürsten? Und warum
betrachtete er sie mit so heftiger Sehnsucht - egal, wie kurz der Blick gewesen sein mochte? Vielleicht war er seiner
Gemahlin müde. Menschen waren berüchtigt für ihre Untreue, wenn diese auch sehr vorhersehbar war. Nach diesem einen langen,
brennenden Blick hatte er seine Augen abgewendet, als sie von ihrem Anliegen und der Gewalt sprach, die in Gramfeste
ausgebrochen war. Er saß völlig still und steif da, während sie sprach.
Von seiner Trägheit überrascht und äußerst ungehalten starrte Barenziah in das blasse Gesicht mit den entschlossenen Zügen
auf der Suche nach den Mitgliedern der Familie Septim, die sie früher gekannt hatte. Uriel Septim kannte sie nicht sehr
gut. Sie hatte ihn nur zweimal gesehen - einmal war er noch ein Kind gewesen, und vor zwanzig Jahren hatte sie seiner
Krönung beigewohnt. Zwei Mal, mehr nicht. Er war stets streng und würdevoll gewesen, sogar als junger Mann - aber nicht so
eisig und fern wie dieser reifere Mann. Trotz der körperlichen Ähnlichkeit schien er gar nicht derselbe Mann zu sein. Und
dennoch schien irgendetwas an ihm vertraut, vertrauter, als es sein dürfte, irgendetwas in der Gestik oder in der Haltung
...
Plötzlich wurde ihr schrecklich heiß, als habe man sie mit heißer Lava übergossen. Illusion! Sie hatte die Kunst der
Illusion ernsthaft studiert, seit Nachtigall sie damals so schwer getäuscht hatte. Sie hatte gelernt, sie zu erkennen - und
sie spürte sie auch jetzt, so sicher wie ein Blinder die Sonne auf seinem Gesicht sieht. Illusion! Aber warum nur? Ihre
Gedanken rasten, während sie weiterhin von den Schwierigkeiten Gramfestes berichtete. Eitelkeit? Menschen schämten sich oft
so sehr der Zeichen des Alterns wie Elfen stolz darauf waren, sie zu zeigen. Doch das Gesicht des Uriel Septim schien zu
seinem Alter zu passen.
Barenziah wagte es nicht, selbst Magie anzuwenden. Sogar geringere Edelleute konnten Magie in ihren eigenen Hallen erkennen
und sich zum Teil sogar davor schützen. Wenn sie hier Zauberei anwendete, wäre ihr der Zorn des Kaisers ebenso sicher, als
zöge sie einen Dolch.
Magie.
Illusion.
Auf einmal musste sie an Nachtigall denken. Und dann saß er plötzlich vor ihr. Die Vision änderte sich wieder, und es war
Uriel Septim. Er sah traurig aus. Gefangen. Und dann verblasste auch diese Vision und ein anderer Mann saß an seiner
Stelle. Er ähnelte Nachtigall, und ähnelte ihm doch wieder nicht. Bleiche Haut, blutunterlaufene Augen, die Ohren eines
Elfen und um sich eine starke Aura konzentrierter Bosheit, eine finstere elfische Energie - ein schrecklicher,
zerstörerischer Schein. Dieser Mann war zu allem fähig!
Und dann blickte sie abermals in das Gesicht von Uriel Septim.
Wie konnte sie sicher sein, dass sie sich das nicht alles nur einbildete? Vielleicht spielte ihr Gehirn ihr Streiche.
Plötzlich fühlte sie sich schrecklich, entsetzlich müde, als habe sie eine schwere Last bereits viel zu lange und viel zu
weit getragen. Sie beschloss, ihre engagierten Berichte über die Schwierigkeiten von Gramfeste zu beenden - schließlich
bewirkte sie damit offensichtlich rein gar nichts - und wieder zu allgemeinen Nettigkeiten zu wechseln. Allerdings mit
einem etwas anderen Ziel.
„Erinnert Ihr Euch noch, Hoheit, als ich und Symmachus kurz nach der Krönung Eures Vaters hier mit Eurer Familie speisten?
Ihr wart gerade so alt wie die kleine Morgiah hier. Wir waren sehr geehrt, an diesem Abend die einzigen Gäste zu sein -
natürlich mit Ausnahme Eures besten Freundes Justin.”
„In der Tat”, sagte der Kaiser mit einem vorsichtigen Lächeln. Mit einem sehr vorsichtigen Lächeln. „Ich glaube, daran
erinnere ich mich wirklich.”
„Ihr wart solch gute Freunde, Majestät. Man sagte mir, der Junge sei kurz darauf gestorben. Sehr bedauerlich.”
„In der Tat. Bis heute spreche ich nicht gern von ihm.” Sein Blick wurde leer - noch leerer als zuvor, wenn dies überhaupt
möglich war. „Was Eure Bitte angeht, so werden wir darüber beraten und Euch informieren, Milady.”
Barenziah verbeugte sich, die Kinder taten es ihr nach. Durch ein Nicken signalisierte der Kaiser, dass sie gehen konnten,
und so verließen sie rückwärts die kaiserliche Gegenwart.
Sie atmete tief ein, als sie aus dem Thronraum kamen. „Justin” war ein imaginärer Spielkamerad gewesen, obwohl Uriel als
Kind stets darauf bestanden hatte, dass für Justin bei jeder Mahlzeit mit gedeckt wurde. Und nicht nur das - Justin war ein
Mädchen gewesen! Lange, nachdem Justin verschwunden war, wie dies die imaginären Freunde der Kindheit zu tun pflegen, hatte
Symmachus immer wieder nach ihrem Befinden gefragt, wann immer er Uriel Septim getroffen hatte. Die Antwort war stets im
Spaß ernsthaft gewesen. Als Barenziah das letzte Mal vor einigen Jahren von Justin gehört hatte, hatte der Kaiser wohl
ausführlich mit Symmachus gewitzelt, dass sie einen abenteuerlustigen, völlig unverbesserlichen Khajiit getroffen und sich
in Lilandril niedergelassen habe, um Feuerfarne und Beifuß zu züchten.
Der Mann auf dem Diwan des Kaisers war jedenfalls nicht Uriel Septim! Nachtigall? Könnte er es sein? Ja. Doch! Es fühlte
sich einfach richtig an. Er war es wirklich! Nachtigall! Und er posierte als Kaiser! Symmachus hatte sich geirrt,
entsetzlich geirrt ...
Was nun? fragte sie sich panisch. Was war aus Uriel Septim geworden und, noch viel wichtiger, was bedeutete das alles für
sie und Symmachus, ja für ganz Gramfeste? Wenn Sie zurückdachte, so mussten all ihre Probleme auf diesen falschen Kaiser,
diesen putzsüchtigen Nachtigall zurückzuführen sein. Er musste Uriel Septim Stelle eingenommen haben, kurz bevor die
überhöhten Forderungen an Gramfeste begonnen hatten. Das würde erklären, warum sich die Beziehungen (nach menschlichen
Maßstäben) so lange nach ihrer unerwünschten Liaison mit Tiber Septim verschlechtert hatten. Nachtigall wusste um die
berühmte Treue von Symmachus zum Kaiserhaus der Septim, und dessen Kenntnisse - und hatte vorbeugend zugeschlagen. Sollte
das wahr sein, so schwebten sie alle in höchster Gefahr. Sie war mit den Kindern hier in der kaiserlichen Stadt in seiner
Hand, und Symmachus stand alleine gegen den Aufruhr, den Nachtigall zu verantworten hatte, in Gramfeste.
Was sollte sie nur tun? Barenziah hatte jedem der Kinder eine Hand auf die Schulter gelegt, und schob sie, um Ruhe und
Fassung bemüht, vor sich her. Hinter ihr schritten ihre Hofdamen und ihre persönliche Eskorte. Endlich erreichten sie die
Kutsche, die bereits wartete. Obwohl ihre Räume nur wenige Straßen vom Palast entfernt war, geziemte es sich für eine
Königin nicht, selbst kurze Strecken zu Fuß zurückzulegen. Ausnahmsweise war Barenziah darüber froh. In diesem Augenblick
empfand sie die Kutsche wie eine Art Zuflucht, auch wenn sie sehr genau wusste, wie trügerisch dieses Gefühl war.
Ein Junge lief auf eine der Wachen zu und übergab der Wache eine Schriftrolle. Er zeigte auf die Kutsche. Die Wache brachte
ihr das Schreiben. Der Junge wartete mit weit geöffneten, leuchtenden Augen. Das Schreiben war kurz und höflich, und fragte
lediglich nach, ob König Eadwyre von Wegesruh aus der Provinz Hochfels um eine Audienz bei der berühmten Königin Barenziah
von Gramfeste nachsuchen dürfe, da er viel von ihr gehört habe und sie gerne kennen lernen wolle.
Barenziahs erster Impuls war, den Wunsch abzuschlagen. Sie wollte nur noch weg aus dieser Stadt! Und sie hatte keinerlei
Wunsch, ihre Zeit mit einem geblendeten Menschen zu verschwenden. Sie sah auf, die Stirn in Falten gelegt, und einer der
Wachen sagte, „Milady, der Junge sagt, sein Herr warte dort drüben auf Eure Antwort.” Sie blickte in die Richtung, in die
er wies, und sah einen gut aussehenden älteren Mann auf einem Pferd, umgeben von einem halben Dutzend Höflingen und
Rittern. Er sah ihren Blick und verneigte sich respektvoll, während er den mit einem Federbusch geschmückten Hut zog.
„Sehr wohl”, sagte Barenziah dem Jungen impulsiv. „Sagt Eurem Herrn, er mag mir heute Abend seine Aufwartung machen, nach
dem Abendessen.” König Eadwyre schaute höflich und ernst drein. Er wirkte eher besorgt, aber keineswegs verliebt. Immerhin
etwas, dachte sie bei sich.
Barenziah stand wartend im Trumfenster. Sie spürte die Nähe des Vogels. Doch obwohl der Nachthimmel für ihre Augen so hell
wie der Tag war, konnte sie ihn noch nicht sehen. Plötzlich war er da, ein dahinflitzender Punkt unter den kaum
wahrzunehmenden Wolken am klaren Nachthimmel. Einige Minuten später hatte der große Nachtfalke seinen Flug beendet und
landete mit gefalteten Flügeln auf dem dicken Lederband an ihrem Arm.
Sie trug den Vogel zu seiner Stange. Hier wartete das erschöpfte Tier, als ihre ungeduldigen Finger nach der Nachricht
fassten, die sich einer Kapsel an seinem Bein befand. Der Falke trank viel Wasser, bis sie fertig war, streckte dann das
Gefieder und begann, sich zu putzen - er fühlte sich in ihrer Gegenwart sicher. Ein winziger Teil ihres Bewusstseins teilte
die Zufriedenheit des Vogels angesichts der guten Arbeit, der erfolgreich erledigten Aufgabe, der wohlverdienten Ruhe ...
und doch herrschte unter alledem Unruhe. Sogar der Vogel spürte, dass etwas nicht stimmte.
Ihre Hände zitterten, als sie das dünne Pergament auffaltete und sich über die enge Schrift beugte. Das war nicht
Symmachus' kraftvolle, großzügige Schrift! Barenziah setzte sich langsam und glättete das Pergament, sich innerlich
stählend, die Meldung ruhig zu ertragen, auch wenn der Inhalt der Botschaft katastrophal sein sollte.
Die Befürchtung bestätigte sich.
Die kaiserliche Wache hatte desertiert und sich den Rebellen angeschlossen. Symmachus war tot. Die übrig gebliebenen treuen
Truppen waren vernichtend geschlagen worden. Symmachus war tot. Der Anführer der Rebellen war von kaiserlichen Gesandten
als König von Gramfeste anerkannt worden. Symmachus war tot. Barenziah und die Kinder waren zu Verrätern des Kaiserreichs
erklärt. Man hatte ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt.
Symmachus war tot.
Die Audienz beim Kaiser am Morgen war also nichts als eine Finte gewesen. Man hatte ihr etwas vorgespielt. Der Kaiser
musste es bereits gewusst haben. Man ließ sie nur warten, sagte ihr, sie solle vor Ort bleiben, es sich angenehm machen.
Macht es Euch angenehm hier, werte Königin, genießt die Freuden der Kaiserstadt, und verlängert Euren Aufenthalt, solange
Ihr möchtet. Ihr Aufenthalt? Ihre Haft. Ihre Gefangenschaft. Und mit großer Wahrscheinlichkeit ihre anstehende Festnahme.
Sie gab sich keinen Illusionen über ihre Lage hin. Sie wusste, dass der Kaiser und seine Diener niemals zulassen würden,
dass sie die kaiserliche Stadt verließ. Zumindest nicht lebend.
Symmachus war tot.
„Milady?”
Barenziah sprang auf, aufgeschreckt durch das Eintreten der Dienerin. „Was gibt es?”
„Der Bretone ist hier, Milady. König Eadwyre”, setzte sie hinzu, als sie bemerkte, dass Barenziah gar nicht verstand, was
sie sagte. Sie zögerte. „Gibt es Neuigkeiten, Milady?” sagte sie mit einem Nicken hin zum Nachtfalken.
„Nichts, das nicht warten könnte”, sagte Barenziah schnell. In ihrer Stimme schien die Leere zu hallen, die sich plötzlich
wie eine tiefe, entsetzliche Schlucht in ihr aufgetan hatte. „Kümmert Euch um den Vogel.” Mit diesen Worten stand sie auf,
glättete ihr Gewand, und machte sich bereit, den königlichen Besucher zu empfangen.
Sie fühlte sich völlig taub. Taub wie die steinernen Mauern, die sie umgaben, taub wie die unheimliche Stille der Nacht ...
wie eine Leiche.
Symmachus war tot!
König Eadwyre begrüßte sie ernst und mit ausgesuchter Höflichkeit, auch wenn seine Art ein wenig übertrieben wirkte. Er gab
sich als großer Bewunderer des Symmachus, der in den Legenden seiner Familie anscheinend eine große Rolle spielte.
Allmählich lenkte er zum Thema Ihrer Audienz beim Kaiser über. Er fragte nach den Einzelheiten, und wollte wissen, ob das
Ergebnis gut für Gramfeste sei. Sie gab nur wenig preis. Plötzlich konnte er es nicht länger ertragen und platzte heraus
„Hochverehrte Königin, Ihr müsst mir Glauben schenken! Der Mann, der sich als Kaiser ausgibt, ist ein Hochstapler! Ich
weiß, es hört sich verrückt an, aber -”
„Nein”, sagte Barenziah, plötzlich entschlossen. „Ihr habt Recht, hochverehrter König. Ich weiß.”
Eadwyre entspannte sich zum ersten Mal seit Beginn der Unterredung in seinem Sessel, und schaute plötzlich argwöhnisch
drein. „Ihr wisst es? Dann ertragt Ihr nicht einfach nur die wilden Gedanken einer Person, die Ihr womöglich für wahnsinnig
haltet?”
„Ich versichere Euch, Milord, das ist nicht der Fall.” Sie atmete tief ein. „Und wer ist Eurer Vermutung nach die Person,
die sich als Kaiser ausgibt?”
„Der kaiserliche Kampfmagier Jagar Tharn.”
„Ah. Milord, habt Ihr je von einer Person gehört, die sich Nachtigall nennt?”
„In der Tat, Milady. Meine Verbündeten und ich glauben, es handelt sich um ein und denselben Mann.”
„Ich wusste es!” Barenziah stand auf und versuchte, ihre Erregung zu verbergen. Jagar Tharn war Nachtigall! Der Mann war
ein Dämon! Teuflisch und heimtückisch. Und so gerissen! Er hatte ihren Niedergang perfekt geplant! Symmachus, o Symmachus
...!
Eadwyre hüstelte. „Milady, ich ... wir ... wir brauchen Eure Hilfe.”
Barenziah lächelte kalt angesichts dieser Ironie des Schicksals. „Mir kommt es vor, als hätte ich diese Worte zu Euch
sprechen sollen. Aber ich bitte Euch, fahrt fort. Wie kann ich Euch dienlich sein, Milord?”
Kurz beschrieb der Monarch seinen Plan. Magierin Ria Silmane, eine ehemalige Schülerin des bösen Jagar Tharn, war vom
falschen Kaiser als Verräterin getötet worden. Doch ein wenig ihrer Macht hatte sie auch im Tod beibehalten können, und
konnte noch mit einigen Kontakt aufnehmen, die sie im irdischen Leben gut gekannt hatte. Sie hatte einen Champion gewählt,
der versuchen würde, den Stab des Chaos zu finden, den der verräterische Zauberer an einem unbekannten Ort versteckt hielt.
Dieser Champion sollte die Macht des Stabes dann einsetzen, um Jagar Tharn zu vernichten, da dieser sonst unverwundbar war,
und den wahren Kaiser retten, der in einer anderen Dimension gefangen gehalten werde. Der Champion allerdings, obwohl er
noch am Leben war, saß derzeit im Verließ des Kaisers fest. Es war nötig, Tharns Aufmerksamkeit abzulenken, während der
Auserwählte mit Hilfe von Rias Geist die Freiheit erlangte. Barenziah hatte das Gehör und anscheinend auch die
Aufmerksamkeit des falschen Kaisers. Wäre sie bereit, die notwendige Ablenkung zu schaffen?
„Ich nehme an, ich könnte um eine weitere Audienz bei ihm nachsuchen”, sagte Barenziah vorsichtig. „Aber wäre das denn
genug? Ich muss Euch sagen, dass meine Kinder und ich selbst vor Kurzem zu Verrätern des Kaiserreichs erklärt wurden.”
„In Gramfeste vielleicht, und in Morrowind. In der Kaiserstadt und der kaiserlichen Provinz verhalten sich die Dinge
anders. Just der administrative Sumpf, der es fast unmöglich macht, eine Audienz beim Kaiser oder seinen Ministern zu
erhalten, sorgt gleichzeitig dafür, dass Ihr niemals Gefahr laufen würdet, rechtswidrig inhaftiert oder auf sonstige Weise
bestraft zu werden, ohne dass zuvor ein entsprechendes Verfahren eingeleitet würde. Was Euch und Eure Kinder anbelangt,
Milady, so wird die Situation durch Euren königlichen Rang noch verstärkt. Als Königin bzw. als Thronerben seid Ihr und die
Kinder unantastbar - geradezu heilig.” Der König grinste. „Die kaiserliche Bürokratie ist ein zweischneidiges Schwert,
Milady.”
Nun. Zumindest waren sie und die Kinder vorläufig in Sicherheit. Plötzlich fiel ihr etwas ein. „Verehrter König Eadwyre,
was meintet Ihr soeben, als Ihr sagtet, ich habe die Aufmerksamkeit des falschen Kaisers? Und anscheinend obendrein?”
Eadwyre schaute drein, als sei ihm das alles sehr unangenehm. „Unter den Dienstboten munkelte man, dass Jagar Tharn Euer
Ebenbild in einer Art Schrein in seinen Räumen verwahre.”
„Ich verstehe.” Kurz schweiften ihre Gedanken zu ihrer verrückten Affäre mit Nachtigall. Sie war sehr verliebt in ihn
gewesen. Wie außerordentlich dumm von ihr. Und der Mann, den sie einst geliebt hatte, war für den Tod des Mannes
verantwortlich, den sie wirklich geliebt hatte. Liebte. Geliebt hatte. Nun war er weg, war ... Sie konnte es einfach nicht
akzeptieren, dass Symmachus tot war. Aber auch wenn dem so sei, versprach sie sich, meine Liebe wird leben und bestehen
bleiben. Er würde immer bei ihr sein. Genau wie der Schmerz. Der Schmerz, den Rest ihres Lebens ohne ihn verbringen zu
müssen. Der Schmerz, versuchen zu müssen, jeden Tag und jede Nacht ohne seine Anwesenheit, seinen Trost, seine Liebe
überstehen zu müssen. Der Schmerz, zu wissen, dass er nie erleben würde, wie seine Kinder zu wunderbaren Erwachsenen
heranwuchsen, dass diese ihren Vater nie kennen würden, nie wissen würden, wie mutig, wie stark, wie wundervoll und wie
liebevoll er war ... besonders die kleine Morgiah.
Und dafür - für alles, was Ihr meiner Familie angetan habt - dafür müsst Ihr sterben, Nachtigall.
„Überrascht Euch das?”
Die Worte von Eadwyre unterbrachen ihre Gedanken. „Wie bitte? Was soll mich überraschen?”
„Euer Abbild. Bei Tharn.”
„Ach so.” Ihre Miene wurde undurchdringlich. „Ja. Und nein.”
Eadwyre erkannte, dass sie offenbar das Thema zu wechseln wünschte. Er wandte sich abermals der Frage nach ihren Plänen zu.
„Unser Auserwählter könnte ein paar Tage benötigen, bis er ausbrechen kann. Könnt Ihr ihm etwas mehr Zeit verschaffen?”
„Ihr vertraut mir in dieser Sache, König Eadwyre? Wie das?”
„Wir sind verzweifelt, Milady. Wir haben keine Wahl. Aber auch, wenn wir die Wahl hätten - ich würde Euch vertrauen. Ich
vertraue Euch. Euer Mann war stets gut zu meiner Familie. Fürst Symmachus -”
„Ist tot.”
„Wie bitte?”
Barenziah erläuterte kurz und ohne viel Gefühl, was geschehen war.
„Milady ... Königin ... wie schrecklich! Ich ... Es tut mir so Leid ...”
Zum ersten Mal bröckelte Barenziahs unerschütterliche Haltung. Angesichts solchen Mitgefühls begann ihre äußerliche Ruhe
sich aufzulösen. Es kostete sie große Willenskraft, ihre Fassung zu wahren.
„Unter diesen Umständen können wir kaum erwarten, Milady ...”
„Nein, Milord, Ihr irrt. Unter diesen Umständen muss ich tun, was ich kann, um mich am Mörder des Vaters meiner Kinder zu
rächen.” Eine einzige Träne schaffte es, ihre Beherrschung zu durchdringen. Ungeduldig wischte sie diese von der Wange. „Im
Gegenzug bitte ich nur darum, dass Ihr meine verwaisten Kinder schützt, wie es in Eurer Macht steht.”
Eadwyre stellte sich aufrecht hin. Seine Augen leuchteten. „Nur zu gerne will ich Euch dieses Versprechen geben, mutige,
edle Königin. Die Götter unseres geliebten Landes und ganz Tamriels sind meine Zeugen.”
So absurd ihr das Ganze vorkam, so tief berührt war sie doch von diese Worten. „Ich danke Euch aus tiefstem Herzen und
ganzer Seele, gütiger König Eadwyre. Die ewige Dankbarkeit meiner Person und meiner Kinder ist ... ist Euch ... ge ...gewi
...”
Dann brach sie zusammen.
In dieser Nacht schlief sie nciht, sondern wachte auf einem Stuhl neben dem Bett, die Hände im Schoß gefaltet, lange tief
nachdenkend, während die Dunkelheit kam und ging. Den Kindern wollte sie es nicht erzählen - noch nicht, erst, wenn es
unvermeidlich war.
Es sollte nicht notwendig sein, beim Kaiser um eine zweite Audienz nachzusuchen. Bei Tagesanbruch wurde sie direkt zu ihm
bestellt.
Sie sagte den Kindern, sie werde wohl einige Tage lang weg sein, wies sie an, den Bediensteten keinen Ärger zu bereiten,
und küsste sie zum Abschied. Morgiah wimmerte und weinte ein bisschen - ihr war es langweilig in der kaiserlichen Stadt und
einsam war sie obendrein. Helseth schaute unglücklich drein, sagte jedoch nichts. Er ähnelte seinem Vater sehr. Sein Vater
...
Im Palast wurde Barenziah nicht in die große Halle eskortiert, in der der Kaiser seinen Besuch in der Regel empfing,
sondern in ein kleines Nebenzimmer, in dem der Kaiser alleine sein Frühstück einnahm. Er nickte zur Begrüßung und wedelte
mit der Hand in Richtung des Fensters. „Eine herrliche Aussicht, nicht wahr?”
Barenziah starrte hinaus auf die Türme der großen Stadt. Sie erinnerte sich, dass es in diesem Zimmer gewesen war, wo sie
Tiber Septim vor so vielen Jahren zum ersten Mal getroffen hatte. Nicht vor Jahren - vor Jahrhunderten. Tiber Septim. Auch
diesen Mann hatte sie geliebt. Wen noch? Symmachus, Tiber Septim und ... Strenz. Plötzlich empfand sie ein tiefes Gefühl
der Zuneigung zu dem großen blonden Stalljungen. Bis zu diesem Augenblick war sie sich dessen nicht bewusst gewesen, doch
sie hatte Strenz wirklich geliebt. Nur hatte sie ihn das nie wissen lassen. Sie war noch so jung gewesen, hatte völlig
sorglos in den Tag hinein gelebt. Das war vor all dem hier ... lange vor ... ihm. Nicht Symmachus. Nachtigall. Dieser
Gedanke schockierte sie zutiefst. Dieser Mann konnte ihr immer noch nahe kommen. Sogar jetzt. Nach allem, was geschehen
war. Eine eigenartige Gefühlswelle übermannte sie.
Als sie sich schließlich wieder umdrehte, war Uriel Septim verschwunden und Nachtigall saß an seiner Stelle am Tisch.
„Ihr habt es gewusst”, sagte er ruhig, ihr Gesicht betrachtend. „Ihr habt es gewusst. Sofort. Ich wollte Euch überraschen.
Ihr hättet wenigstens so tun können.”
Barenziah breitete ihre Arme aus und versuchte den Aufruhr in ihrem Inneren zu besänftigen. „Ich fürchte, mein Talent zur
Täuschung ist mit dem Euren nicht zu vergleichen, mein Herrscher.”
Er seufzte. „Ihr seid verärgert.”
„Ein wenig, muss ich zugeben”, sagte sie eisig. „Ich weiß nicht, wie es Euch geht, aber ich finde Betrug ein wenig
abstoßend.”
„Wie menschlich von Euch.”
Sie nahm einen tiefen Atemzug. „Was wollt ihr von mir?”
„Jetzt verstellt Ihr Euch.” Er stand auf, um ihr direkt ins Gesicht zu blicken. „Ihr wisst, was ich von Euch will.”
„Ihr wollt mich quälen. Nur zu. Ich bin in Eurer Gewalt. Aber tut meinen Kindern nichts an.”
„Nein, nein, nein. Das ist nicht im Geringsten meine Absicht, Barenziah.” Er kam näher, leise mit der alten, zärtlichen
Stimme sprechend, die einst ein wohliges Schaudern durch ihren Körper gejagt hatte. Die gleiche Stimme, die nun das Gleiche
auslöste, hier und jetzt. „Siehst du es nicht? Es war der einzige Weg.” Seine Hände umfassten ihre Arme.
Sie spürte, wie ihr Widerstand schwächer wurde, ihr Abscheu ihm gegenüber nachließ. „Du hättest mich mitnehmen können.”
Ungebetene Tränen sammelten sich in ihren Augen.
Er schüttelte den Kopf. „Ich hatte nicht die Macht. Ah, aber jetzt, jetzt ... ! Jetzt habe ich alles. Jetzt gehört mir
alles, zu besitzen, zu teilen, zu geben - dir zu geben.” Er wies nochmals auf das Fenster und die Stadt darunter. „Ganz
Tamriel gehört mir, um es dir zu Füßen zu legen - und das ist erst der Anfang.”
„Es ist zu spät. Zu spät. Du hast mich ihm überlassen.”
„Er ist tot. Der Bauer ist tot. Ein paar lächerliche Jahre - was machen sie schon aus?”
„Die Kinder ...”
„Können von mir adoptiert werden. Und wir werden andere zusammen haben, Barenziah. Oh, und was für Kinder das sein werden!
Was wir an sie weitergeben werden! Deine Schönheit und meine Magie. Ich habe Kräfte, die du dir nicht vorstellen kannst,
nicht einmal in deinen wildesten Träumen!” Er beugte sich vor, um sie zu küssen.
Sie entwand sich seinem Griff und wandte sich ab. „Ich glaube dir nicht.”
„Das tust du, du weißt es. Du bist immer noch verärgert, das ist alles.” Er lächelte. Aber das Lächeln erreichte seine
Augen nicht. „Sag mir, was du willst, Barenziah. Meine geliebte Barenziah. Sag es mir. Es soll dir gehören.”
Ihr ganzes Leben lief vor ihren Augen ab. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, die noch vor ihr lag. Andere
Zeiten, andere Leben, andere Barenziahs. Welches war die Echte? Welches war die wahre Barenziah? Denn diese Entscheidung
würde die Gestalt ihres Schicksals bestimmen.
Sie traf sie. Sie wusste es. Sie wusste, wer die wahre Barenziah war, und was sie wollte.
„Ein Spaziergang im Garten, mein Herrscher”, sagte sie. „Ein Lied, oder zwei, vielleicht.”
Nachtigall lachte. „Du willst umworben werden.”
„Und warum nicht? Du machst das so gut. Außerdem ist es schon so lange her, dass ich das Vergnügen hatte.”
Er lächelte. „Wie Ihr wünscht, Milady Königin Barenziah. Euer Wunsch ist mein Befehl.” Er nahm ihre Hand und küsste sie.
„Jetzt, und für immer.”
Und so verbrachten sie ihre Tage damit, dass er ihr den Hof machte - sie spazierten, redeten, sangen und lachten zusammen,
während die Geschäfte des Kaisers seinen Untergebenen überlassen wurden.
„Ich würde gerne den Stab sehen”, sagte Barenziah eines Tages ganz nebenbei. „Ich habe ihn nur einmal ganz kurz gesehen,
wie du dich erinnern wirst.”
Er runzelte die Stirn. „Nichts würde mir mehr Freude bereiten, mein Liebling - aber das ist unmöglich.”
„Du traust mir nicht”, schmollte Barenziah, ließ aber ihre Lippen erweichen, als er sich für einen Kuss zu ihr
hinüberbeugte.
„Unsinn, meine Liebe. Natürlich tue ich das. Aber er ist nicht hier.” Er lachte leise. „Tatsächlich ist er nirgendwo.” Er
küsste sie noch einmal, diesmal mit mehr Leidenschaft.
„Du sprichst schon wieder in Rätseln. Ich möchte ihn sehen. Du kannst ihn nicht zerstört haben.”
„Ah. Du hast an Weisheit gewonnen, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben.”
„Du hast meinen Wissensdurst einigermaßen inspiriert.” Sie erhob sich. „Der Stab des Chaos kann nicht zerstört werden. Und
er kann nicht aus Tamriel entfernt werden, nicht ohne direkte Konsequenzen für das Land selbst.”
„Ahhh. Du beeindruckst mich, meine Liebe. Das ist alles richtig. Er ist nicht zerstört worden und wurde auch nicht aus
Tamriel entfernt. Und trotzdem, wie ich sagte, ist er nirgendwo. Kannst du das Rätsel lösen?” Er zog sie an sich und sie
schmiegte sich an ihn. „Hier ist ein noch größeres Rätsel”, flüsterte er. „Wie macht man eins aus zweien? Das kann ich, und
ich werde es dir zeigen.” Ihre Körper vereinigten sich.
Später, als sie sich voneinander gelöst hatten und er neben ihr döste, überlegte sie schlaftrunken: „Eins aus zweien, zwei
aus einem, drei aus zweien, zwei aus dreien ... was nicht vernichtet oder verbannt werden kann, mag vielleicht zerteilt
werden ...”
Sie erhob sich, mit leuchtenden Augen. Und begann zu lächeln.
Nachtigall führte ein Tagebuch. Er kritzelte jeden Tag etwas hinein, nachdem er kurze Berichte von seinen Untertanen
entgegengenommen hatte. Es war in einer Kommode eingeschlossen. Das Schloss war allerdings sehr einfach. Sie war immerhin
in einem früheren Leben Mitglied der Diebesgilde gewesen ... in einem anderen Leben ... eine andere Barenziah ...
Eines Morgens gelang es Barenziah, einen kurzen Blick auf das Tagebuch zu erhaschen, während Nachtigall mit seiner
Morgentoilette beschäftigt war. Sie fand heraus, dass der erste Teil des Stabes des Chaos in einer uralten Zwergenmine
namens Fang-Stollen verborgen lag - obwohl sein Aufenthaltsort nur vage angedeutet war. Das Tagebuch war vollgestopft mit
Notizen über die verschiedensten Ereignisse, die in einer merkwürdigen, nur schwer zu entziffernden Kurzschrift verfasst
waren.
Ganz Tamriel, dachte sie, in seinen und meinen Händen, und mehr vielleicht - und dennoch ...
Trotz all seines äußeren Charmes war da eine kalte Leere, wo sein Herz hätte sein sollen, ein Vakuum, das ihm gar nicht
bewusst war, dachte sie. Manchmal konnte man es flüchtig durchscheinen sehen, wenn seine Augen leer und hart wurden. Und
trotzdem, obwohl er ein anderes Verständnis davon hatte, strebte auch er nach Glück und Zufriedenheit. Träume eines Bauern,
dachte Barenziah, und Strenz erschien kurz vor ihrem inneren Auge, er blickte traurig und verloren. Und dann Therris mit
dem katzenhaften Lächeln eines Khajiit. Tiber Septim, mächtig und einsam. Symmachus, der solide und starrköpfige Symmachus,
der tat, was getan werden musste, ruhig und effizient. Nachtigall. Nachtigall, ein Rätsel und eine Gewissheit, beides,
Dunkelheit und Licht. Nachtigall, der alles beherrschen würde und noch mehr - und das Chaos im Namen der Ordnung
verbreiten.
Widerwillig ließ er Barenziah gehen, um ihre Kinder zu besuchen, die noch über den Tod ihres Vaters informiert werden
mussten - und von dem Angebot des Kaisers, sie zu beschützen. Sie tat es schließlich, und es war nicht einfach. Morgiah
hing für eine scheinbare Ewigkeit an ihr, elend schluchzend, während Helseth in den Garten davonrannte, um allein zu sein.
Später weigerte er sich, mit ihr über seinen Vater zu reden, und ließ auch nicht zu, dass sie ihn an ihren Busen drückte.
Eadwyre ließ nach ihr rufen, während sie dort war. Sie teilte ihm mit, was sie bis dahin herausgefunden hatte, und erklärte
ihm, dass sie noch eine Weile bleiben und so viel herausfinden musste, wie sie konnte.
Nachtigall neckte sie ob ihres ältlichen Verehrers. Er war sich Eadwyres Misstrauen wohl bewusst - aber er war nicht im
Geringsten beunruhigt, da niemand den alten Narren ernst nahm. Barenziah gelang es sogar, eine Art Aussöhnung zwischen den
beiden zu erreichen. Eadwyre nahm seine Bedenken öffentlich zurück und sein „alter Freund”, der Kaiser, vergab ihm. Er
wurde anschließend mindestens einmal pro Woche dazu eingeladen, mit ihnen zu Abend zu essen.
Die Kinder mochten Eadwyre, sogar Helseth, der die Beziehung seiner Mutter mit dem Kaiser missbilligte und ihn daher
verabscheute. Er war mit der Zeit bitter und aufbrausend geworden und stritt sich regelmäßig sowohl mit seiner Mutter, als
auch mit ihrem Liebhaber. Eadwyre war über die Beziehung auch nicht besonders glücklich, und Nachtigall machte es
gelegentlich eine große Freude, seine Zuneigung für Barenziah offen zu zeigen, nur um den alten Mann zu ärgern.
Sie konnten natürlich nicht heiraten, da Uriel Septim bereits verheiratet war. Zumindest noch nicht. Nachtigall hatte die
Kaiserin in die Verbannung geschickt, kurz nachdem er den Platz des Kaisers eingenommen hatte, aber er hatte es nicht
gewagt, ihr ein Leid zuzufügen. Der Tempel des Einen hatte ihr Schutz gewährt. Man hatte bekannt gegeben, dass sie an einer
schwachen Gesundheit leide und die Agenten Nachtigalls hatten Gerüchte über mentale Probleme der Kaiserin in Umlauf
gebracht. Die Kinder des Kaisers waren ebenfalls auf verschiedene Gefängnisse überall in Tamriel verteilt worden, die man
als 'Schulen' getarnt hatte.
„Es wird ihr mit der Zeit immer schlechter gehen”, sagte Nachtigall gleichgültig, und meinte damit die Kaiserin. Er
betrachtete Barenziahs geschwollene Brüste und ihren immer dicker werdenden Bauch voller Zufriedenheit. „Und was ihre
Kinder angeht ... Nun, das Leben ist voller Gefahren, nicht wahr? Wir werden heiraten. Dein Kind wird mein rechtmäßiger
Erbe.”
Er wollte das Kind. Da war sich Barenziah sicher. Weitaus weniger sicher war sie sich dagegen über seine Gefühle für sie.
Sie stritten sich jetzt fortwährend, häufig sehr heftig, meistens über Helseth, den er nach Summerset zur Schule schicken
wollte, der Provinz, die am weitesten von der Kaiserstadt entfernt lag. Barenziah versuchte nicht, diesen Streitigkeiten
aus dem Weg zu gehen. Nachtigall hatte schließlich kein Interesse an einem reibungslosen, ruhigen Leben; außerdem genoss er
es außerordentlich, sich hinterher wieder zu versöhnen ...
Gelegentlich nahm Barenziah die Kinder, zog in ihre alte Unterkunft und erklärte, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben
wollte. Aber er kam immer, um sie zurückzuholen und sie ließ sich auch jedes Mal wieder zur Rückkehr überreden. Es war
unvermeidlich, wie der Aufgang und Untergang von Tamriels Zwillingsmonden.
Sie war im sechsten Monat schwanger, als sie endlich entziffern konnte, wo sich der letzte Teil des Stabes befand - er
sollte leicht zu finden sein, denn jeder Dunkelelf wusste, wo sich der Berg Dagoth Urs befand.
Als sie sich das nächste Mal mit Nachtigall stritt, verließ sie einfach mit Eadwyre die Stadt und ritt auf schnellstem Wege
nach Hochfels und Wegesruh. Nachtigall war außer sich vor Zorn, aber konnte nur wenig tun. Seine Attentäter waren eher
unbedarft und er wagte es nicht, seinen Sitz der Macht zu verlassen, um sie persönlich zu verfolgen. Und er konnte Wegesruh
auch nicht offen den Krieg erklären. Er hatte keinen Rechtsanspruch auf sie oder ihr ungeborenes Kind. Wie nicht anders zu
erwarten, hatten die Adligen der Kaiserstadt seine Liaison mit Barenziah missbilligt - wie vor so vielen Jahren Tiber
Septims - und waren froh, als sie ging.
In Wegesruh traute man ihr ebenfalls nicht, aber Eadwyre wurde in seinem wohlhabenden kleinen Stadtstadt fanatisch geliebt
und man machte ihm gerne Zugeständnisse für seine ... Exzentrizitäten. Barenziah und Eadwyre wurden ein Jahr nach der
Geburt ihres von Nachtigall gezeugten Sohnes getraut. Trotz dieses unglücklichen Umstandes war Eadwyre in sie und ihre
Kinder vernarrt. Sie dagegen liebte ihn nicht - aber sie mochte ihn und das war auch etwas wert. Es war schön, jemanden zu
haben, und Wegesruh war ein sehr guter Ort, ein guter Ort für die Kinder aufzuwachsen, während sie warteten und für den
Erfolg des Kriegsfürsten bei seiner Mission beteten.
Barenziah konnte nur hoffen, dass er nicht zu lange brauchen würde, wer auch immer dieser namenlose Champion war. Sie war
eine Dunkelelfe und sie hatte alle Zeit der Welt. Alle Zeit. Aber sie hatte keine Liebe mehr zu geben und keinen Hass mehr
übrig, in ihr zu brennen. Ihr war nichts geblieben, nichts als Schmerz, und Erinnerungen ... und ihre Kinder. Sie wollte
nur noch ihre Kinder aufziehen und ihnen ein gutes Leben bieten, und den Rest ihres Lebens in Ruhe verbringen. Sie hatte
keinen Zweifel, dass es noch ein langes Leben sein würde. Und darin wollte sie Frieden und Ruhe und Ausgeglichenheit, in
ihrer Seele und auch in ihrem Herzen. Träume eines Bauern. Das war es, was sie wollte. Das war es, was die wahre Barenziah
wollte. Das war es, was die wahre Barenziah ausmachte. Träume eines Bauern.
Tag der Veröffentlichung: 13.12.2018
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