Deichgeschichte
Eine Rahmenerzählung
25.Juli 2012, 21:05 Uhr
Sie waren fast den ganzen Tag gefahren und hatten ausreichend Zeit gehabt, ihren Gedanken nachzuhängen: Die Frau hatte an die Bilder des Ferienhauses in Dänemark gedacht, das sie für die nächsten 14 Tage gemietet hatten. Ob das Geld wohl reichen würde? Sie und ihr Mann kannten beide ihre Neigungen zu spontanen Anschaffungen, die sogar bereits beschlossene Pläne zunichte gemacht hatten. Auch die Kinder wollten etwas erleben und stellten ihre Forderungen. Sie dachte auch flüchtig an Manfred, den sie am Vortage noch einmal in seiner Kanzlei hatte sehen und sprechen können. Der Mann dachte an die Besprechungen in seinem Elektro-Betrieb über den geplanten Kaufhaus-Umbau. Da war noch vieles unausgegoren, unausgesprochen, unfertig. Er hasste diese Zeit des Gärens und Wartens, liebte entschlussfreudige Geschäftspartner und war im Grunde nur mit halbem Herzen in diesen Urlaub gefahren, den er der Familie schon lange versprochen hatte. Die Besprechung am Vorabend der Abreise war zwar schon früh zu Ende gewesen, aber dann hatte er mit seinem Geschäftsführer noch die anstehenden Arbeiten während der Zeit seiner Abwesenheit in den folgenden zwei Wochen festgeklopft. Stephanie hatte sich nur einmal kurz am Vormittag gemeldet; er hatte sich am Vortage von ihr verabschiedet. Um Mitternacht lag er im Bett; seine Frau hatte seine Sachen gepackt; darum brauchte er sich zum Glück nun nicht kümmern. Die beiden Kinder hatten schon geschlafen. Die Tochter hatte eigentlich überhaupt nicht mitfahren wollen. Vielleicht hatte sie doch schon einen Freund? Erst als die Eltern ihre Teilnahme am Familienurlaub mit ihrer Genehmigung der Klassenfahrt nach Frankreich verknüpft hatten, hatte sie gerade noch rechtzeitig ihren Koffer gepackt und zu den anderen Gepäckstücken gestellt, die anschließend gesondert mit der Bahn vorab an den Ort ihres dänischen Ferienhauses transportiert wurden. Der Sohn hatte die etwas angespannte Stimmung seiner Eltern in der letzten Zeit genau beobachtet und kalkuliert, dass sich daraus der eine oder andere kleine Vorteil schlagen ließ. Geld hatte er immer nötig.
Aufgrund des „sehr lebhaften Reiseverkehrs, mitunter mit Stockungen“ sowie der „gelegentlichen Regenschauer“, wie es im Radio angekündigt worden war, lagen sie mehrere Stunden hinter ihrem ursprünglichen Zeitplan zurück. Nun waren sie abgespannt und blickten der letzten Etappe in den hereinbrechenden Abendstunden müde entgegen.
- „Bis zur dänischen Grenze ist es nicht mehr weit und den Rest bis zum Haus in den Dünen schaffen wir auf einer Backe, nicht wahr! Und wir haben ja schon die Hausschlüssel,“ hatte der Mann gerade ein wenig zu laut gesagt, während die Frau, seit der letzten Pause am Steuer, dagegen vorschlug, vor Erreichen der Grenze noch eine größere Rast zu machen, eine Bewegungspause, keine bloße Pinkelpause, auch wenn es dann ein wenig später würde:
- „Jetzt regnet es gerade nicht, wir haben vielleicht später ein wenig Abendsonne; das sollten wir nutzen.“ Der Mann zögerte mit seiner Zustimmung, er wollte die Fahrt auf seine Weise fortsetzen:
- „Wenn wir jetzt gar noch eine Übernachtung in Deutschland einlegen sollten, müssen wir das eine oder andere Geplante streichen. Darüber müsst ihr euch im Klaren sein.“ Aber die beiden Teens schlugen sich sofort auf die Seite der Frau, die über seine Argumentation nur stumm den Kopf schüttelte. Da gab er nach. Der Karte entnahm er, dass es eine mögliche Abkürzung gab, die sie auch nicht zu weit von der Bundesstraße direkt ans Meer führen würde.
Als sie schließlich an einem leeren Parkplatz ausstiegen, hinter dem sich der hohe Deich erhob, auf dem Schafe beim Wiederkäuen waren, war die Sonne inmitten von Wolken schon untergegangen. Die Luft war kühl und es wehte ein leichter Wind vom Meer her. Mit dem Wind kamen auch weitere Wolken auf.
- „So ist das in Nordfriesland“, klärte der Mann seine Familie auf, „und nun tief einatmen und ordentlich die Beine bewegen!“ Dann öffnete er die Kofferraumklappe und ließ den Hund heraus springen.
- „Los, lauf, Jacko! Du brauchst jetzt auch Bewegung. Und ihr,“ damit wandte er sich an seine beiden Kinder, „steht nicht so faul herum!“ Während der Junge und das Mädchen auf das nächstgelegene Gattertor zuliefen und es öffneten, das hinter ihnen wieder zufiel, rannte der große gefleckte Hund in großen Sprüngen auf der Deichstraße am Zaun und dem davorliegenden Wassergraben entlang.
- „Von 0 auf 60 in 3 Sekunden. Das macht ihm so schnell keiner nach.“ Der Mann lachte und lief ihm hinterher, wobei er mit den Armen und Beinen schlenkerte.
- „Pass auf den Hund auf! Die Schafe haben Angst vor ihm.“ Die Frau wies mit ausgestrecktem Arm auf den Hund, der inzwischen in vollem Lauf zu den Schafen hinauf bellte, die erschreckt aufsprangen und blökend den Deich hoch liefen. Erst waren es nur die vorne stehenden oder liegenden Tiere, dann kamen die Tiere dahinter, dann die nächsten usw. Der Mann lachte:
- „Das ist ja wie eine La Ola im Stadion, nur dieses Mal von blökenden Vierbeinern!“
- „Franz, hol den Hund zurück! Bitte!“
- „Lass doch den Hund! Weißt du, wie viele Stunden das arme Tier jetzt im Kofferraum zugebracht hat?! Den Schafen passiert schon nichts. Die rennen einfach hinter den Deich und schon sehen sie ihn nicht mehr.“ Dann rief er den Hund zu sich, kraulte ihm den Kopf, klopfte ihm auf die Flanke, sagte: „Platz, Jacko!“ und eilte eine kleine Strecke voraus. Auf sein Zeichen folgte ihm der Hund in schnellem Lauf. Wieder ließ er ihn „Platz“ machen, wieder lief er alleine ein Stück weiter und wieder rief er den Hund zu sich.
Dann holte er den Hund nicht zu sich, ließ ihn mit einer großzügigen Armbewegung an sich vorbei laufen. Er lachte laut: „Seht ihr die vierbeinige La Ola?“ Der Hund sprang mit einem Satz über den Wassergraben, dann über den Zaun, trieb die Schafe vor sich her, hetzte ihnen nach, sprang hierhin und dorthin und bellte fortlaufend und verschwand über den Deich. „Jacko, hierher! Zurück!“ Der Mann brüllte jetzt und überstieg nun seinerseits Wassergraben und Zaun. Die Frau stand währenddessen neben dem Auto, sah, wie zuerst einzelne Schafe, dann immer größer werdende Gruppen von Schafen in Panik blökend sich über die Deichkrone in ihre Richtung ergossen und auf ihren Mann zuströmten
- „Franz! Oh Gott!“
und sich teilten. Da tauchte auch endlich wieder der Hund, der noch immer bellend Schafen hinterher sprang, über der Deichkrone auf.
- „Jacko, hierher! HIERHER!“ Dieses Mal blieb der Hund mit tropfender Zunge nach Luft hechelnd neben dem Mann stehen.
- „Hast du die Kinder gesehen?“, rief die Frau, die ihm etwas gefolgt war.
- „Nein,“ rief er zurück, schüttelte den Kopf und ging weiter in Richtung der Deichkrone. Dabei rief er ihre Namen, erst den des Jungen, dann den des Mädchens, in immer kürzer werden Abständen und jedes Mal lauter, bis er schließlich brüllte. Da sah er ihre Köpfe über der Deichkrone und schließlich beide auf sich zukommen. Seine Tochter hielt beide Hände vor das Gesicht, sein Sohn presste sie an die Ohren. Der Mann blieb abrupt stehen, atmete tief ein und eilte ihnen dann entgegen.
- „Um Gottes willen. Ist euch etwas passiert? Nun sprecht schon!“ Das Mädchen sah den Vater an, schüttelte den Kopf. Der Junge keuchte:
- „Die armen Tiere. Viele schreien nicht einmal. Was hast du nur gemacht?!“
- „Ich verstehe gar nichts. Was soll ich denn gemacht haben?“
- „Sieh es dir an – aber ohne uns. Wir gehen runter zur Mutter.“
Der Mann sah seine Kinder an, betrachtete seine Hände, sah sich um in der fortgeschrittenen Dämmerung, konnte das Auto nur an der eingeschalteten Parkleuchte erkennen, sah noch einen Moment den Kindern hinterher, nahm den Hund am Halsband, schritt die letzten Meter bis zur Deichkrone und dann darüber ein wenig schneller und hielt an, als er die abfallende Böschung überblickte.
- „Oh, Gott! Jacko, was hast du nur gemacht?!“ Er ging einige zögerliche Schritte in diese und jene Richtung, blieb wieder stehen, fuhr sich mit der freien Hand über die Augen, atmete auf einmal ganz flach, räusperte sich, schluckte, räusperte sich ganz heftig, bekam schließlich einen Hustenanfall und ließ das Hundehalsband los.
- „Platz, Jacko! Und bleib!“ Er ging mit steifen Beinen weiter auf die vielen hellen Körper zu, die vor bzw. in dem Bereich der großen Steine verstreut lagen oder dahinter von den Flutwellen hin und her bewegt wurden.
- „Oh, Gott! Was ist das?“ Nun war er nahe genug, um alles zu sehen: Die Tiere waren nicht tot, sondern bewegten sich gruppenweise in seltsamen, immer gleichen Bewegungen. Direkt vor ihm lagen ein paar Tiere. Sie rutschten auf dem Bauch vorwärts, indem sie sich mit abge-spreizten oder vom eigenen Körper bedeckten Hinterläufen vom Boden abstießen. Andere wollten nach gewohnter Weise mit den Hinterläufen zuerst aufstehen, brachen aber wieder zusammen. Plötzlich wurde ihm die Ursache klar: Wenn bei einem Tier ein oder beide Hinterläufe gebrochen waren, konnte es sich nur auf die Knie erheben; bei dem anschließenden Streckversuch gab der gebrochene Hinterlauf nach und der Körper sank wieder zusammen. Wenn ein oder beide Vorderläufe gebrochen waren, konnten das Tier nur das Hinterteil anheben und den Körper bei vorgestrecktem Kopf mit den Hinterläufen vorwärts schieben. Ganz anders die Bewegungen der Tiere, die mit mehreren Beinen zugleich in den Spalten der Steinbrocken fest steckten und durch ruckartige Bewegungen aus der Klammer herauszukommen versuchten. Ganz unten und nur undeutlich zu erkennen gab es auch einige Tiere, die im dunklen Meerwasser schwammen bzw. auf das Land zu entkommen versuchten. Der Mann hatte inzwischen mit den Händen die Ohren bedeckt und bewegte den Kopf abwechselnd nach rechts und nach links. Dann sank er in die Hocke und vergrub seinen Kopf und seine Hände zwischen den Knien. Als er die Hundeschnauze spürte, stand er auf und öffnete die Augen.
- „Jacko, da ist etwas Schreckliches passiert.“ Der Hund wedelte mit dem Schwanz und sah den Mann an. Der packte den Hund am Halsband und drehte, bis das Tier winselte.
- „Gehen wir runter zu den anderen.“
Die drei Menschen standen dicht bei einander und sahen ihm schweigend entgegen. Er ging an ihnen vorbei zum Kofferraum und ließ den Hund hineinspringen. Dann kam er auf ihre Seite, blieb einen Augenblick stehen, ging an ihnen vorbei um das Auto herum, öffnete die Fahrertüre und setzte sich hinter das Steuer. Der Wind hatte etwas zugelegt und die Luft war deutlich kühler geworden. Das Mädchen zitterte. Der Junge griff in seine Tasche und zündete sich eine Zigarette an. Seine Mutter sah ihn im Aufleuchten der Flamme kurz an, nahm das Mädchen in den Arm und führte es einige Schritte vom Auto weg. Der Junge sah, wie sein Vater mit beiden Händen das Steuer umklammerte und den Kopf gerade hielt. Da trat der Junge gegen das Blech. Der Kopf seines Vaters ruckte herum. Der Mann schrie. Der Junge trat noch einmal gegen das Blech und hieb mit der flachen Hand auf das Dach. Der Mann zündete den Motor – und fuhr los. Durch den Anfahrtsruck schlug die Fahrertüre zu und bald danach ging die Innenbeleuchtung aus. Der Junge schrie. Die beiden Frauen standen in einander verklammert. Nach einigen Sekunden Fahrt beschrieben die Schlussleuchten einen Bogen nach dem Deich zu. Anschließend erstarb der Motor. Der Junge rannte zu dem Auto, öffnete die Fahrertüre und zerrte den Mann hinter dem Steuer hervor zurück auf den Deichweg.
In dieser Gegend - 650 Jahre vor diesem Ereignis
Die große Sturmflut, eine sog. Jahrhundertflut, die im Januar 1362 die Nordseeküste von Schleswig-Holstein traf und drei Tage lang wütete, verursachte riesige Landverluste und war die bis heute folgenschwerste Sturmflut an der deutschen Küste: Altes kultiviertes Marschland wurde mitsamt den Deichen weggespült und nur die höher liegenden Teile blieben übrig. Einige Gebiete der nordfriesischen Küste, die bisher lose miteinander und mit dem Festland verbunden waren, wurden auseinander gerissen – es entstanden die Inseln Sylt, Amrum und Föhr. Der Hauptort Nordfrieslands mit einem Hafen, Rungholt, versank im Meer. Die Flut kostete vielen tausend Menschen das Leben, weshalb spätere Generationen sie auch die „große Mandränke“ oder – nach dem Kalenderheiligen vom 16. Januar – die 2. Marcellusflut nannten, und sie löschte große Teile des gesamten Großviehbestandes aus, aber auch Schafe und Ziegen, die „Kühe der kleinen Leute“. Hauptursachen für diese Sturmflut mit einer Scheitelhöhe von mehr als 3 Metern über dem normalen Gezeitenhochwasser waren tagelange schwere Nordweststürme und die Achsenkonstellation der Erde mit Sonne und Mond.
Dennoch war diese Sturmflut über ihre katastrophale Wirkung hinaus von herausragender Bedeutung für die Geschichte der Menschen in Nordfriesland: Sie markiert für die nachfolgenden Generationen nicht nur den Höhepunkt im Vordringens des Meeres, sondern auch einen Wendepunkt im Kampf gegen dieses Meer, da in den folgenden Jahrzehnten überall entlang der Nordsee-Küste wieder Deiche errichtet und Land zurückerobert wurde.
Diese Arbeiten wiederum entsprangen einem neuen Denken, das gleichsam als Lehre aus der Sturmflut gezogen wurde und das verschiedene Quellen hatte:
Nachbarschaftliche Hilfe bei Deichbrüchen erschien angesichts dieser Sturmflut nicht mehr wirksam genug. Die Planung zum Bau eines Deiches, seine Errichtung sowie ständige Überwachung und Reparaturen konnten nur in gemeinschaftlicher Arbeit bewältigt werden. Waren es also anfangs nur benachbarte Köge, die zusammenwirkten, so wurden daraus in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten Deichverbände mit kommunaler und landesweiter Regelung der Rechte und Pflichten der Bauern in sog. Deichordnungen.
Da große Sturmfluten nicht berechenbar sind, wurden sie unterschiedlich gedeutet: Man sah – sowohl vor als auch nach der Christianisierung – in diesen Katastrophen übernatürliche, göttliche Kräfte am Werk. Statt als großes Unglück oder schreckliches Naturereignis deutete man die Flut als Strafe Gottes für ein sündiges Leben bzw. als Zorn der Götter. So gehört zum Mythos der mittelalterlichen Hafenstadt Rungholt in Nordfriesland die Vorstellung der „sündigen Stadt“, deren Untergang in der Sturmflut von 1362 als gerechte Strafe Gottes interpretiert wurde. Die Marschbauern und Konstrukteure der Seedeiche mussten folglich lange und hartnäckige Überzeugungsarbeit leisten, bis religiös motivierter Widerstand überwunden war und Menschen in größerer Zahl den Deichbau nicht als Abkehr vom christlichen Gott sahen. Dies war eine wichtige Voraussetzung für die vorgenannte Entwicklung gemeinschaftlich organisierter Verantwortung beim Schutz vor der Naturgewalt des Meeres.
Im Rückblick späterer Generationen erscheint der Kampf der Menschen um ihr Land nach dieser Katastrophe als eine Offensive gegenüber dem Landraub durch die Meeresfluten. Das fast vollständige Verschwinden des Marschlandes in der 2. Marcellusflut von 1362 bewirkte langfristig eine neue Strategie im Deichbau – die Landgewinnung zwischen Deich und Meer: Man brauchte lediglich mit geeigneten Reisigsperren die großen Mengen von Schlamm aufzufangen, die täglich im auf- und ablaufenden Wasser bei Flut und Ebbe transportiert wurden. Unterstützt wurde dieser Vorgang durch Anlage von Entwässerungsgräben. Über einen Zeitraum von Jahrzehnten und Jahrhunderten festigte sich der Untergrund und erste Salzwiesenpflanzen konnten wachsen, die später von anderen Pflanzen abgelöst wurden und dem Vieh als Nahrung dienten. Auch in anderer Hinsicht war diese Entwicklung für den Deichbau von Nutzen: Konnte doch später dieses neu gewonnene Land durch einen vorangesetzten neuen Deich geschützt werden – aus dem ursprünglichen Seedeich war nun ein Mittel- oder gar Schlafdeich geworden. Zu den Methoden, die Meereswellen gleichsam „auszubremsen“, gehörte die Bedeckung der meeresseitigen Böschung mit Grassoden und Stroh. Spätere Jahrhunderte begannen diese Böschung abzuflachen und zusätzlich den Deichfuß mit sog. Deckwerk aus großen Natursteinen zu schützen, in deren Spalten Beton oder Bitumen zur Befestigung gegossen wurde. Zur Beweidung werden seit dem 19. Jahrhundert Schafe eingesetzt, weil sie beim Abbeißen der Gräser nicht nur die Grasnarbe schonen, sondern sowohl sie als auch die oberen Bodenschichten durch ihren leichten Tritt festigen.
25. Juli 2012, 22:15 Uhr
Der Junge betrachtete keuchend den am Boden Liegenden, bis seine Mutter mit ihrer Tochter ankam.
– „Hast du dich verletzt? Was war los? Was ist los mit dir?“ Sie bückte sich, winkte ihrem Sohn, und gemeinsam halfen sie dem schwer atmenden Mann auf die Füße.
- „Sag doch endlich was!“ Der Mann lehnte sich gegen das Heck des Autos, das mit den Vorderreifen in dem Wassergraben stecke. Bei geschlossenen Augen schlug er mit den Händen der herabhängenden Arme gegen das Blech, wieder und wieder. Der Hund im Auto bellte wie verrückt.
– „Wiederhol du noch mal, was du vorhin berichtet hast.“ Die Frau sah den Jungen an.
– „Ich weiß auch nicht, wie es kam. Jacko ist über den Graben und den Zaun gesprungen und hat die Schafe vor sich hergetrieben. Die haben wohl Todesangst bekommen und sind blindlings über den Deich auf die Meeresseite geflüchtet und dort in die aufgeschütteten großen spitzen Steine geraten. Dabei haben sich dann viele die Beine gebrochen. Beim Versuch herauszukommen, haben sich dann viele noch mehr verletzt. Einige sind auch im Meerwasser gelandet. Es sieht alles ganz furchtbar aus.“
- „War es so, wie der Junge sagt? Stimmt das?“
Der Mann nickte mit geschlossenen Augen.
- „Was machen wir jetzt?“ Das Mädchen blickte ihre Mutter an.
– „Erstmal muss das Auto aus dem Graben gezogen werden. Hoffentlich ist keine Achse gebrochen,“ sagte hier unvermittelt der Mann. Der Junge bückte sich nach den Vorderreifen, gab es aber in der Dunkelheit wieder auf. Als der Mann sein Handy aus der Tasche holte und sagte:
- „Ich hol mir jetzt die Telefonnummer des nächstgelegenen Abschleppdienstes.“, schaute die Frau ihn entsetzt an.
– „Was ist?“
- „Was ist mit den Tieren?“
- „Wieso?“
- „Willst du sie sich selbst überlassen? Sollen sie verbluten?“
- „Ich – äh. Aber wir müssen doch nach Dänemark. Da ist unser Urlaub. Wir sind ohnehin schon spät dran.“
- „Moment mal,“ schaltete sich das Mädchen ein, „das kannst du doch nicht machen. Du kannst doch jetzt nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.
- „Was ist denn schon Großes geschehen? Unser Jacko hatte ein wenig Spaß haben wollen und dabei haben sich ein paar Schafe verletzt, vielleicht das Bein gebrochen. Soll er nun deswegen eingeschläfert werden? Hat irgendjemand beobachtet, dass er einem Schaf zu nahe gekommen ist, es gar gebissen hat? Ich nicht. Na – habt ihr? Na? Na? – Nein? Also. Jacko ist nicht verantwortlich für die Reaktion der Schafe.“ Er wich den Blicken seiner Familie aus. „Ist doch egal, was die Panik verursacht hat. Hätte ja auch irgendein freilaufender Hund oder Fuchs sein können. Der Tierarzt wird sich um die gebrochenen Beine kümmern und dann können die Kerle bald wieder auf der Weide Gras fressen. Und überhaupt: Jetzt kann sowieso niemand etwas machen bei der Dunkelheit.“ - „Das kann doch nicht dein Ernst sein. Ein gebrochenes Schafsbein lässt sich möglicherweise schienen, aber noch gibt es keine Bettruhe für Schafe.“
- „ Was willst du mit deiner humoristischen Einlage andeuten?“
- „Dass die Tiere alle erschossen werden müssen.“
- „Nun ja, immerhin ist dann noch die Wolle und das Fleisch übrig.“
- „Lebend sind die Tiere wertvoller als nach einer Notschlachtung wegen gebrochener Beine. Sag mal, hast du keine Ahnung von diesen Dingen oder stellst du dich nur so – einfältig, wie du immer zu uns sagst?“
- „Und du hast die erforderlichen Fachkenntnisse, nicht wahr?“
- „Nein, aber deswegen muss sich ja ein Arzt darum kümmern bzw. der Besitzer, der den Arzt ruft.“
- „Was soll das denn nun wieder heißen?“
- „Du musst den Besitzer ausfindig machen und ihm Bescheid sagen.“
- „Was muss ich? Ich muss gar nichts, außer den Abschleppdienst herbei-rufen. Die paar Tiere, die da verletzt sind, bringen euch ja richtig aus dem Häuschen.“
- „Von wegen ‚ein paar Tiere‘! Die Kinder haben sie gesehen und du hast sie gesehen. Wie viele hast du gesehen?“, fragte die Frau und wandte sich an ihre Tochter.
– „Zwischen 20 und 30 Tiere lagen am Boden.“
- „Also jetzt mal langsam.“ Der Mann war sehr laut geworden; er wollte unbedingt den Faden wieder aufnehmen. „Wenn wir jetzt noch den Besitzer der blöden Schafe ausfindig machen wollen - und der würde dann sofort hier her kommen und sich den Schaden betrachten – und dann die Sache mit dem Abschleppdienst und der Werkstatt, die den möglichen Schaden am Auto untersucht und repariert, dann vergeht darüber nicht nur die Nacht, sondern auch der ganze nächste Tag. Wo wollt ihr schlafen? – Dann wird es wohl nichts mit dem Ferienhäuschen in Dänemark!“
- „Überleg doch mal; wenn der Abschleppdienst kommt, wollen die doch wissen, was hier vorgefallen ist.“
- „Klar doch, hab ich mir auch überlegt. Ich sage denen, dass ich – äh – dass wir im Auto gealbert hätten und dabei hätte ich vor Lachen das Steuer verrissen und wäre im Graben gelandet.“
- „Du willst also gar nichts über die Schafe sagen?“
- „Nein.“ Das Schweigen lastete auf allen. Da drehte sich die Frau um und ging in die Dunkelheit hinein.
– „Inge, was soll das!? Komm sofort wieder! Das hat doch keinen Sinn.“
- „Das ist unmöglich hier! Das halte ich nicht aus!“ Das Mädchen fing an zu weinen und ging der Mutter nach. Der Junge steckte sich eine neue Zigarette an der anderen an.
– „Musst du so viel rauchen?!“, fragte der Mann heftig und fügte nach einer Pause leiser hinzu: „Warum sieht denn niemand, was da auf uns zukommt? Sehen wir einmal von den Kosten für das Abschleppen und die Reparatur ab. Der Besitzer der Schafe wird Schadenersatz haben wollen und das beläuft sich auf einige Tausend. Was die Arztkosten und die Kosten für das Töten der Tiere und deren Abtransport und Verwertung betrifft – ich hab da keine Ahnung. Und dann die ganze Schererei drum-herum! Meinst du, das geht ohne Anzeige wegen Fahrlässigkeit ab, also ohne Polizei usw. oder gar Gerichtsverhandlung? Und in Dänemark wartet ein Ferienhäuschen in den nächsten zwei Wochen auf uns, das ich bereits bezahlt habe. Überleg doch mal, was da auf dem Spiel steht! Du bist noch jung, gehst ja noch zur Schule. Dein Berufsleben beginnt erst in einigen Jahren. Weißt du, was das für einen Mann in meiner Position heißt, wegen einer Unachtsamkeit, wegen einer plötzlich unterbrochenen Selbstkontrolle, wegen einer Katastrophe, die als Spaß begann, wegen einer Anzeige im Urlaubsgebiet zur Rückkehr nach Hause gezwungen sein? Verstehst du überhaupt, was ich meine?“
Der Sohn warf die Zigarette weg. „Es ist so, Vater. – Da ist etwas Schlimmes passiert und wir müssen nun das Richtige tun – wir zusammen.“
- „Das sagst du, der du immer nur die Hand aufhältst und deinen Vorteil suchst!“
- „Also, weißt du! – Dies ist halt mein Weg in dieser …. Familie.“ Er hüstelte. „Sonst geht ja nichts.“ Dann setzte er etwas leiser hinzu: „Jeder in dieser Familie hat da so seinen eigenen Weg inzwischen gefunden.“
- „Was meinst du damit?“ Wieder war der Mann laut geworden. Der Junge hob etwas die Schultern an. „Es war nicht immer so bei uns.“
– „Was meinst du damit? Los sprich!“
- „Frag dich doch selber oder die Mama.“ Die Dunkelheit war inzwischen einer vollständigen Schwärze gewichen.
– „Wie soll das nur weitergehen – mit dem Auto – mit den Schafen– mit uns allen? – Bist du noch da?“
- „Hm, ja. – Ich muss erstmal mit eurer Mutter reden.“ Er schaltete das Fahrtlicht wieder ein. Die beiden Frauen standen in geringerer Entfernung zum Auto als er vermutet hatte und wandten die Köpfe dem Licht zu. Der Mann verharrte einen Augenblick, dann ging er um das Fahrzeug herum auf sie zu.
– „Lass uns bitte einen Augenblick alleine. Ich muss mit deiner Mutter reden.“ Das Mädchen löste sich und ging zu ihrem Bruder. Ihre Eltern gingen eine Strecke weiter in die Dunkelheit hinein.
– „Was ist los mit dir? Warum bist du weggegangen?“
- „So etwas hätte ich schon früher einmal machen sollen.“
- „Ach, ja, und direkt zu deinem Dr. Manfred.“
- „Hör doch auf damit, du bist doch selbst nicht sauber!“
- „Ach, so meinst du das? – Glaubst du, die Kinder ahnen etwas davon?“
- „Sie wissen es. Seit langem.“
- „Was sollen wir tun? – Was schlägst du vor? – Soll ich den Hund zurück lassen?“ Doch dann setzte er hastig hinzu: „Nein, der rennt uns doch hinter her.“
- „Wie du redest! Das ist doch nicht dein Ernst.“ Sie konnten einander nicht sehen in der Dunkelheit. Nach einer Pause setzte die Frau hinzu:
- „Wir haben gehört, was du zu dem Jungen gesagt hast. Alles. Du hast halt sehr laut gesprochen. Ich glaube, wir verstehen alle, was in dir vorgeht.“
– „Der Junge hat vorhin zu mir gesagt, bei uns würde jeder seinen eigenen Weg gefunden haben.“
- „Ich weiß. Seine Schwester sagte vorhin zu mir, jeder von uns würde sich nur um sich selbst kümmern. Fällt es dir auch auf, die Kinder sind anders als noch vor einigen Monaten?“
- „Mir kommt es auch so vor, insbesondere der Junge heute. Und ich habe mit ihm noch nie so gesprochen wie vorhin. Meinst du, wir müssten alle so weiter machen wie bisher?“
- „Willst du denn so weiter machen? Jeder von uns kann da nur bei sich selbst anfangen.“
- „Dräng mich nicht! Ich glaube, das Wichtigste ist diese Situation jetzt. Und das andere … Wir werden sehen, was daraus wird.“
- „Was wirst du als Erstes machen?“
- „Ich werde die 110 wählen, berichten, was geschehen ist und mich beraten lassen. Dann rufe ich einen Abschleppdienst an.“ Er atmete langsam und vollständig aus.
Die Frau suchte in der Dunkelheit seine Hand. „ Und dann suchen wir ein kleines Hotel für die Nacht. Und morgen werden wir mit einander reden müssen. Alle.“ Zusammen gingen sie zu ihren Kindern und dem Auto zurück, in dessen schwacher Beleuchtung sie kaum zu erkennen waren.
(c) Wolf Lange
Wyk/Föhr
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(Überarbeitete Fassung vom 02. Februar 2013)
Texte: Wolf Lange
Bildmaterialien: Bookrix
Lektorat: -.-
Übersetzung: -.-
Tag der Veröffentlichung: 05.02.2013
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