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Prolog

 

 

"Nimm doch jetzt endlich diese verfluchte Tablette!" Meine Mum schrie wutentbrannt auf, die Tränen tropften ihr von Nase und Kinn. Großvater rührte sich nicht.
"Bitte", ihre Stimme klang so gepresst, so hoffnungslos, während sie seine leblosen Backen zusammendrückte, damit sich sein Mund öffnete. Seine Zunge versperrte den Weg.
Ich stand in der Tür und zuckte zusammen, als Meine Mutter die Tabletten an die Wand donnerte, aufschrie und zusammensackte.
Ich traute mich nichts zu sagen.
Sie wusste selbst, dass er tot war. Und zwar schon, als sie vor zehn Minuten in sein Zimmer gekommen war, um ihm seine ersten Tabletten am Tag zu geben. Um Punkt sieben Uhr früh.
Ich kam erst in das Zimmer gerannt, als ich hörte, wie sie anfing zu schreien. Wütend, verzweifelt: "Papa! Wach auf! PAPA!" Und ihre Stimme von den Tränen erstickt wurde.
Nun saß sie da am kalten Boden, hielt die Hand meines Großvaters und weinte. Sie wog sich hin und her und wimmerte immer wieder "Nein, nein, nein, nein, nein....."
"Mama", versuchte ich es leise, doch sie reagierte nicht.
Ich war wie angewurzelt. Mein Körper wollte sich partout nicht in ihrer Richtung bewegen, als wäre er am Türrahmen festgeklebt.
Erst nach wenigen Minuten schweigsamen Starren wurde mir bewusst, dass auch ich weinte. Leise. Still. Unauffällig.
Es war Papa, der schließlich in die Tür geschwenkt kam. Er packte mich an den Schultern, zog mich zur Seite und küsste mich wehleidig auf die Stirn. Er hatte noch Tränensäcke vor Müdigkeit, kleine Augen. Seine Haare standen wirr in alle Himmelsrichtungen ab. Ich schielte am Türrahmen vorbei. Beobachtete, wie Papa Opas Handgelenke und seinen Hals abtastete und letztendlich noch sein Ohr an Opas Lippen legte. Über sein Gesicht legte sich ein Schatten, als er Mama an den Schultern packte und sie nach oben zog, um sie in den Armen zu wiegen. In dem Moment schluchzte ich endlich auf, kehrte um, zog mir eine Strickjacke über mein T-Shirt und lief aus dem Haus. Ich brauchte frische Luft. Ich brauchte einen freien Kopf. Und ich brauchte die wärmenden Strahlen der Morgensonne auf meiner Haut. Es war Frühling. Wenn ich aus dem Haus trat konnte ich die Berge von unserem Haus aus glasklar erkennen. Opa war tot. Er würde diesen Anblick nie mehr genießen können. Er würde nicht mehr, wie gestern noch, mit mir auf seinem Schaukelstuhl auf der Terrasse sitzen, seinen Tee trinken, während ich meinen Kaffee trinke. Er würde mir nicht mehr seine abenteuerlichen Geschichten erzählen, nicht jeden Tag eine neue Kleinigkeit an mir finden, über die er mir ein weiteres Kompliment macht und mir damit das Gefühl gibt, ich sei das schönste Mädchen in seiner Welt. Nein. Frau. Mein Geburtstag war vor einer Woche, weshalb ich in den Ferien vom Internat nach Hause gegangen bin. Achtzehn Jahre. Er hatte sich so gefreut. Seine blassgrauen Augen haben geglitzert wie die eines Kindes, als er mein Gesicht in seinen Händen hielt und mir immer wieder auf die Wange küsste und er herunterleierte, dass er nicht glauben konnte, dass noch miterleben zu können.
Das noch miterleben… Ich schluchzte wieder auf und brach nun endgültig in Tränen aus. Das durfte nicht wahr sein. Er konnte nicht tot sein. Mir fiel die volle Tasse Tee ein, die ich ihm schon hergerichtet hatte, und hatte auf einmal das Verlangen danach, diese scheiß Tasse gegen die Wand zu donnern, so wie Mama die Tabletten vorhin in die Ecke gedonnert hatte. Weiter weg von unserem Haus, nachdem ich auf der Straße lange an der weiten Wiese entlang gelaufen war, setzte ich mich an eine Feuerstelle, die mit hellgrauen Steinen umgebaut war. Zum Grillen. Legal. Das erste Mal in meinem Leben, dass ich heilfroh war auf dem Land zu leben. Keine Menschen, keine Autos, keine Metropole. Es war einfach nur ruhig, friedlich. Irgendwie schön, wie die Sonne die Grashalme zum Glitzern brachte… der Morgentau. Opa hatte diesen Anblick so geliebt.
Ich setzte mich an die Feuerstelle, zog meine Beine an und vergrub mein Gesicht darin, um ausgiebig zu weinen. Ich hatte mal irgendwo gehört, dass Weinen gut sei. Es hätte einen erlösenden Effekt. Von dem verspürte ich aber gerade … nichts! Im Gegenteil. Ich fühlte mich, als würde ich mir einen eigenen Sumpf weinen. Immer größer, immer tiefer, in dem ich irgendwann selbst ertrinken würde.
Das letzte Mal, dass ich so geweint hatte, waren die paar Tage nach meiner Abreise von der Salem Academy. Die Academy auf dem Berg Salem. Es hatte sich für mich wie ein Rauswurf angefühlt, nicht wie eine einfache Abreise. Ich hatte bittere Tränen geweint, weil ich gewusst hatte, dass ich nie wieder etwas von Salem hören würde. Weder von Salem, noch von Kiara Moe, Josi, Teela, Alvin oder Lucas. Sie waren wie aus meinem Leben gelöscht, Als hätte es sie nie gegeben. Die Academy ließ mir nicht die geringste Chance, Kontakt aufzunehmen.
Aber im Gegensatz zu heute, wurde es durch das Weinen damals wirklich besser.
Ich hatte mich schnell damit abgefunden, wieder im Internat zu sein. Helena hatte mir viel Trost gespendet in der Zeit. Sie hatte mir ihre Zimmernachbarin vorgestellt. Mae. Eine kleine Japanerin. Zierlich, ruhig und eine sehr treue Freundin. Sie hatte große, braune Augen, kleine zärtliche Lippen. Mae hatte irgendwas an sich, was in mir einen Beschützerinstinkt weckte. Ja, auch Mae hatte mir durch diese Zeit geholfen. Und Erik? … Er kam mit einer blonden Tussi angetanzt. Es war einfach nur ätzend. Es war dieses typische Jungenverhalten. Er hatte sich wieder komplett zu einem ignoranten Arschloch entwickelt. Aber immerhin, dachte ich, war seine Neue nicht Cassidy.
Ich hatte nun eine Zimmernachbarin, die erst zwei Wochen vor mir gekommen war. Und sie war einfach nur … naja. Komisch. Salina. Salina Hawkins. Ich habe kaum eine Beziehung zu ihr herstellen können. Es war mehr eine Koexistenz, als ein wirkliches, typisches Miteinander.
Von hinten hörte ich mir Schritte nähern. Aus irgendeinem Grund wusste ich, dass es Vater war. Er legte eine Hand auf meine Schulter und setzte sich. Er sagte nichts. Ich weinte nicht mehr.
Auf einmal wünschte ich mir, dass jetzt jemand kam, um mich in die Salem Academy zu entführen.
Aber es geschah nicht.
Wir saßen da, in der fröhlichen Morgensonne, die langsam wärmer wurde und schwiegen.
Opa war tot.
Und ich fühlte mich plötzlich sehr allein.

Kapitel 1

 

 

 

„Oh, das ist ja grauenvoll, Kate!“ Helena fiel mir um den Hals, nachdem ich ihr unter Tränen erzählt hatte, was in der letzten Ferienwoche passiert war. Sie streichelte mir über den Kopf und fing meinen glasigen Blick auf „Opa wird es bestimmt gut gehen da oben“, sie deutete in den Himmel, auch sie kämpfte mit den Tränen, „Er beobachtet dich bestimmt und ist stolz, wie stark du bist und deinen Einserdurchschnitt wird er auch beobachten.“ Sie wischte sich eine Träne weg und lachte dezent, während sie mir in den Arm boxte und flüsterte, als würde er uns hören: „Und ganz unter uns: jetzt kann er nicht mehr jeden Typen so in die Mangel nehmen und dich blamieren, wenn du mit ihnen Heim kommst.“
Ich musste leise lachen und umarmte Helena wieder ganz fest. „Ja, dafür hatte er wirklich Talent“, flüsterte ich.
„Weißt du was du jetzt brauchst?“ Helenas Augen funkelten.
Ich schüttelte den Kopf.
„Unsere Freunde, Alkohol und eine Runde Neo-Cricket.“
„Bist du verrückt? Es ist nach zwölf.“
„Ja und? Du brauchst Spaß, abschalten, und eine gute Portion Alk.“ Helena zog schon ihr Handy, um die Leute zusammen zu trommeln. Sie tippte fleißig.
„Helena...“
„Nein. Sag nichts! Hab doch einfach Spaß.“
„Ich soll Party machen, nachdem mein Opa vor ner Woche gestorben ist?“
Helena steckte ihr Handy in die knallenge, zerrissene Jeans. „Denkst du, dein Opa sieht lieber zu, wie du elendig in deinem Zimmer verkümmerst?“
Ich schwieg. Sie hatte Recht.
„Und wo kriegen wir den Alk her?“
Helena lachte auf „Yeah! Ich wusste ja, dass du keine Spaßbremse bist.“ Sie tippte sich nachdenklich an die Stirn
„Ich müsste noch was in meinem Schrank haben.“
„Mae nehmen wir mit?“
„Mae nehmen wir mit.“
„Mae wird ausrasten“, grinste ich.
„Mae wir ausrasten“, bestätigte Helena und wir kicherten, bevor wir leise in ihr Zimmer zurück schlichen.

 
Auf dem Cricket Platz hatten sich tatsächlich um die fünfzehn Leute versammelt. Unter anderem welche, die ich gar nicht wirklich kannte. Lediglich vom Sehen. Laurent, ein Afrikaner aus meiner Parallelklasse hatte einige seiner Jungs angeheuert an der Tanke noch Alkohol zu besorgen. Es waren alle schon gut angeheitert, Mae und ein paar andere schon sackvoll. Die Schläger und Bälle und alles andere leuchteten in Neonfarben. Aber treffen tat sowieso keiner mehr. Christoph, Laurents bester Freund, hatte für Musik gesorgt und aus dem harmlosen Cricket Spiel wurde schnell eine kleine Party in der Mitte des Cricket-beleuchteten Waldes.
Ich hatte nicht viel getrunken, spürte den Alk aber schon im Kopf hämmern. Helena hatte wahnsinnig viel Spaß mit Phil, einem guten Freund von uns. Ich weiß zwar nicht, worüber sie sprachen, aber Helena weinte schon vor Lachen.
„Na?“
Ich drehte mich um und Tyler hob eine Flasche Hugo um mit meinem Wodka-Bull anzustoßen. Er ging mit Laurent in eine Klasse. Er war groß, Footballer eben, und sah gut aus. Er wirkte nüchtern. „Geburtstags- und Todesfeier, hm?“ Er setzte sich neben mich auf den fetten Baumstamm. Ich schwieg. Er trank einen Schluck aus der Flasche und schaute sich um. Dann schwenkte er den Hugo in eine Richtung „Bei jedem Schlag der daneben geht, und sie sich totlacht“, forderte er. Ich musste grinsen. Mae würde morgen einen deftigen Kater haben. Sie holte aus, schwankte, schlug daneben und lachte.
Wir stießen an und nahmen jeweils einen Schluck. „Du weißt schon, wenn sie uns erwischen, sind wir tot.“
Ich zuckte die Schultern, wir stießen wieder an. Noch ein Schluck.
„Du bist mir noch viel zu nüchtern“, murmelte er und beäugte mich kritisch. Ich sah ihn an „Du wirst weder so, noch so mit mir Sex haben.“
„Du verletzt meine Gefühle“, seufzte er.
Wir stießen wieder an. Mae würde mich noch betrunken machen.
„Tu ich nicht.“
„Stimmt“, er grinste schelmisch, „gut, dann trinken wir den Alk und führen tiefsinnige Gespräche.“
„Ich bin keine Melodramatikerin.“
„Wer spricht von melodramatischem Zeug? Wir waren bei Sex.“
Noch ein Schluck.
Ich zog eine Braue in die Höhe „Eine tiefsinnige Unterhaltung über Sex?“
„Und Alkohol.“ Er grinste und stoß wieder an.
„Sie lacht nicht“, bemerkte ich.
„Aber sie grinst.“
Ich schüttelte den Kopf.
Er nahm trotzdem einen Schluck.
„Und, wie sieht´s jetzt aus?“ Er schaute auf meinen fast leeren halben Liter Becher.
„Ich bin angetrunken, aber nicht blöd.“
„Schade.“
Ich sah ihn verständnislos an.
„Dumm fickt gut.“
„Tja“, seufzte ich, und nahm noch einen Schluck, „Noch ein Grund, mich besser nicht zu vögeln.“
Er musterte mich von oben bis unten und schmunzelte.
„Kein. Sex.“ Ich sah ihn vielsagend an.
„Ich glaube, du bist viel versauter als du zugibst.“
Ich grinste in mich hinein. Wir stoßen wieder an und ich trank den Becher leer. „Ich mag Sex.“
„Ich auch. Siehst du.“
„Ich werde nicht mit dir schlafen“, betonte ich.
Er trank wieder einen Schluck und reichte mir seine Flasche, damit ich auch einen nehmen konnte. Mae blieb nun auf dem Gras sitzen. Sie schwankte selbst im Sitzen.
„Unser Spiel scheint vorbei zu sein“, sagte ich.
„Schade. Also doch kein Sex.“
„Ich. Habe. Kein. Sex. Mit. Dir. Weder betrunken, noch nüchtern.“
„Weil du zu stolz bist?“
„Weil ich nicht will.“
„Du findest mich aber körperlich attraktiv.“
„Das eine schließt das andere nicht ein“, entgegnete ich. „Hey, Kate!“ Helena kam auf mich zugelaufen. Sie war auch angetrunken. Als sie Tyler sah, hielt sie an, sah ihn kurz verwirrt an und drängte sich dann in den schmalen Spalt zwischen uns. „Wir sollten Mae ins Bett bringen.“ Mae lag mit dem Rücken auf dem Boden und lachte.
Tyler hatte sich von uns abgewandt. Starrte auf das Cricket-Feld, wo alle tanzten, und trank seinen Hugo.
„Wie kriegen wir die anderen alle weg?“, fragte ich.
„Ich kümmer mich drum“, sagte Tyler und stand auf.
„Danke“, sagte Helena und stand ebenfalls auf.
„Meine Belohnung?“, fragte Tyler und grinste spitzbübisch.
„Ich steh auf Peitschen und heißen Wachs, der langsam erregte Körperteile herunter läuft.“ Auch ich stand auf und lächelte fies. Helena sah mich schockiert an. Tyler grinste böse „Darüber reden wir noch.“ Er zwinkerte mir zu und ging.
„Also DAS“, holte Helena aus, „Musst du mir wirklich nochmal genauer erklären.“

 

„Scheiße man. Hoffentlich checken das die Lehrer morgen nicht“, stöhnte Helena, nachdem wir Mae ins Bett gehievt hatten. Ich hielt mit meiner Hand noch ihren Mund zu. Anders hätte sie uns schon längst durch ihr aufkeimendes Gelächter verraten. Ich seufzte und strich mir mit der freien Hand eine Strähne aus dem Gesicht. Mae wand sich aus meiner Hand und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand. „In zwei Sekunden ist sie eingeschlafen“, meinte ich.
Helena beobachtete Maes Atembewegungen.
Sie war eingeschlafen.
„Puh. Wie Tyler jetzt die anderen alle wieder auf ihre Zimmer bekommt, ist die andere Frage.“ Helena ließ sich auf ihr Bett fallen. Ich lehnte mich an ihren Schreibtisch.
„Apropos Tyler“, sie grinste und klopfte auf den Platz neben sich, „Was genau hatte deine perverse Aussage zu bedeuten?“
Ich fuhr mir ermüdet mit einer Hand über das Gesicht und setzte mich neben sie.
„Der lässt einfach nicht locker.“
„Inwiefern?“
„Er will mich unbedingt ins Bett kriegen.“
„Ja, dann geh doch!“
Ich sah sie entgeistert an „Bist du des Wahnsinns? Ich geh doch nicht mit so einem Muskelpaket ins Bett.“
„Du findest ihn doch heiß. Gib es zu“, sie verdrehte die Augen, „Welcher Idiot schlägt denn so ein Angebot ab?“
Ich hob die Hand.
Sie kicherte und piekte mir in den Bauch.
„Ich hatte noch nie Sex“, sagte sie.
Ich hob die Brauen „Du verarschst mich.“
Sie zuckte die Schultern „Nö. Hat sich nie ergeben. Irgendwie habe ich keinen Bock auf Schwänze.“
Ich hörte die unausgesprochene Andeutung heraus, sah sie aber nur erwartungsvoll an.
„Naja“, sie grinste und warf einen Blick auf ihre Poster.
Kate Beckinsale.
„Du bist vernarrt in sie“, bestätigte ich. Aus irgendeinem Grund musste ich an Teela und Desdemona denken.
Helena biss sich auf die Unterlippe und sah mich aus großen Augen an. In ihrem Gesicht ein Grinsen.
„Herrje“, stieß ich aus, „Dass ich so blind war!“
Helena kicherte und fing an ihr weißes Hemd aufzuknöpfen. Ich reichte Helena ihr Schlafhemd, das über dem Drehstuhl hing. „Das hättest du mir auch eher sagen können“, sagte ich.
Sie trug einen gelben Spitzen BH. Ich musterte ihren Körper. Meine kleine Helena. So zerbrechlich und schlank. Ich könnte sie mir nie in Frauenarmen vorstellen. Im Gegenteil. Sie war das perfekte Prinzessinnen-Klischee Mädchen. Welches, dessen schmalen Taille von starken Männerhänden umfasst werden müsste.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du wirklich keine Ahnung hast“, nuschelte sie, während sie sich das Schlafhemd überzog und den BH darunter öffnete, um ihn dann umständlich unter dem Hemd auszuziehen und ihn in eine Ecke zu werfen.
Plötzlich kam mir eine Frage auf: „Weißt du von Teela?“
In Helenas Gesicht bildete sich ein Fragezeichen. Sie dachte nach.
„Salem Academy…“
„Oohhh, natürlich!“ Sie klatschte sich an den Kopf „Klar. Ich mein… um das zu übersehen, müsste man schon blind sein.“
„Echt? Ich hatte nicht sofort gewusst, dass sie lesbisch ist.“
Helena zuckte die Schultern „Ist wohl mein Gaydar.“
„Dein Gay-was?“ Ich nahm ihr die Jeanshose ab und faltete sie, bevor ich sie auf den Drehstuhl legte. Das Hemd hing ich über die Lehne.
„Gaydar eben“, sagte sie und schlüpfte hinter mir unter ihre Decke. Ich zog meine Beine hoch und setzte mich in Schneidersitz.
„Keine Ahnung“, gähnte sie, „Ich hab einfach ein Gespür für Leute die auf Frauen stehen.“
„Na, bei Tyler ist das ja nicht ganz so schwer zu erkennen“, witzelte ich. Helena kicherte. Dann wurden ihren Augen schmal und sie sah mir fest in die Augen „Du könntest auch etwas mit ner Frau haben“, stellte sie fest.
Ich war so überrascht von ihrer Behauptung, dass ich fast rückwärts vom Bett fiel.
„Sei nicht albern. Ich steh auf Männer. Schon immer.“
„Sicher?“ Sie lächelte. Und dieses Lächeln nahm irgendwie etwas Ähnliches an, wie Tyler es immer zum Ausdruck brachte.
Sie fing an mit mir zu flirten.
Oh nein. Das durfte nicht sein.
Ich stand auf „Wir sollten jetzt beide schlafen“, sagte ich, um meinen beschleunigten Puls zu beruhigen.
„Sollten wir“, gähnte Helena wieder, „Wir müssen morgen früh raus und außerdem müssen wir noch überlegen, wie wir Maes Kater morgen am besten vertuschen.“
Ich nickte und warf einen Blick auf das zierliche, kleine Ding im Bett hinter mir. Ihre langen, pechschwarzen Haare bedeckten beinahe ihren ganzen Körper.
„Bist du schon ausgenüchtert?“, fragte ich, nachdem ich mich wieder umdrehte.
Aber Helena war schon eingeschlafen.
Ich seufzte, lächelte und hob noch den BH von der Ecke, bevor ich das Zimmer verließ. Während ich ihren gelben Spitzen BH zu den anderen Klamotten hing, fiel mir auf, dass ich tatsächlich noch nie darüber nachgedacht hatte, ob ich für lesbische Experimente offen wäre.
Vielleicht schon.
Aber nicht mit Helena.
Nicht mit meiner besten Freundin.
Ich sah sie nochmal an, wie sie friedlich schlief, und verließ leise das Zimmer um schließlich wieder in meines zu schleichen.

 

Kapitel 2

 

 

Als ich mein Zimmer betrat, dachte ich einen Herzinfarkt zu bekommen. Anstatt dass ich Salina in ihrem Bett widerfand, saß dort Tyler. Im Schneidersitz. Ich hatte schon sarkastisch antworten wollen, aber als ich den Ausdruck auf seinem Gesicht deuten konnte, wurde ich unruhig.
Ich schloss die Tür leise hinter mir und zischte dann: „Was machst du hier? Und wo ist Salina?“
Er winkte mit der Hand ab, sprang förmlich vom Bett auf und kam zu mir, griff nach meinem Handgelenk. Seine dunklen Augen durchbohrten mich „Du musst sofort hier weg, Kate.“ Seine Stimme klang bedrohlich und ich riss mich aus seinem Griff „Du spinnst ja wohl! Wo ist Salina?“
„Das ist unwichtig! Hör mir zu, Kate. Da draußen stehen Männer, die dich mitnehmen wollen! Sie haben gerade mit Mrs. Perkin gesprochen.“
In meinem Kopf ergab das alles keinen Zusammenhang. Wollte er mich gerade verarschen? Das musste ja wohl ein Witz sein. Ich verschränkte die Arme vor der Brust „Es ist kurz nach drei Uhr nachts, Ty. Denkst du eigentlich, ich sei komplett bescheuert?“
„Nein, du bist wunderschön. Aber du musst mir einmal in den gottverdammten sechs Jahren vertrauen. Du musst sofort hier weg.“
Ich war kurz perplex von seiner Aussage, dann holte ich Luft und fuhr mir durch die offenen Haare. Als ich mich gesammelt hatte – was relativ schnell geschehen musste, nach seinem stechenden Blick zu urteilen – seufzte ich „Also gut. Wer sind diese Männer? Und warum in Gottes Namen wollen sie mich ‚holen‘?“
Ty blickte sich um, als könnte man uns beobachten. Dann kam er mir ganz nah. Ich konnte seine Lippen an meinem Ohr spüren, als er sagte: „Sie sind von Salem.“
Mein Herz rutschte in die Hose und für eine Sekunde entfiel mir das Atmen.
Salem … Sie waren hier. Sie waren wieder gekommen, um mich zu holen. Ich wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte. Ich hatte abgeschlossen, hatte endlich geschafft diese schreckliche Trennung von Kiara und den anderen zu verarbeiten. Nach zwei Jahren. Nach zwei verfluchten Jahren.
Auf einmal lief mein Gehirn auf Hochtouren. Ich sah mich um und schnappte meine Jacke vom Drehstuhl. Tyler sah mich fassungslos an „Bist du verrückt? Was machst du?“
„Ich muss zu Helena. Mich verabschieden.“ Gerade als ich zur Tür greifen wollte, stellte er sich mir in den Weg. „Du hast doch wohl nen Schaden!“ Seine Stimme überschlug sich beinahe. Ich kämpfte mit den Tränen. Nicht wegen ihm, sondern wegen dieser Situation. Wegen diesen wenigen Minuten, vor denen ich Angst hatte, mich nicht mehr von Helena verabschieden zu können. Deshalb klang ich viel wütender als gewollt, als ich sagte: „Geh mir aus dem Weg, Ty!“
Er überhörte mich, packte mich an den Schultern und schüttelte mich: „Du kannst nicht zurück nach Salem! Es hat sich verändert, Kate! Es ist nicht mehr dieser coole Hype, um den sich jeder wirbt. Es ist gefährlich geworden! Jungvampire wurden geschmissen. Vampire sind gestorben. Du wärst verrückt, wenn du da zurückgehst, hörst du?“
Verwundert stellte ich fest, dass er sich wirklich Sorgen machte.
„Ich bin dir wohl doch nicht so egal, wie du immer tust“, murmelte ich nachdenklich.
Er sah mir in die Augen.
Als ich Schritte und Stimmen im Gang hörte, riss ich mich von ihm los „Du musst mich gehen lassen, Ty.“ Es klang ruhig und bestimmt.
Er schüttelte den Kopf „Wenn du gehst, gehe ich mit dir.“
Ich lachte auf „Du bist ein Narr. Du denkst doch nicht ernsthaft, dass sie dich so mir nichts, dir nichts, mitnehmen!“
„Wenn du dich weigerst ohne mich zu gehen, tun sie es.“
Ich schüttelte seine Hände ab, als er wieder nach mir greifen wollte. Ich war überfordert. Die Schritte näherten sich. Von Helena konnte ich mich eh nicht mehr verabschieden.
Schließlich brummte ich: „Es ist mir herzlich egal, was DU tust. Ich jedenfalls werde mitgehen.“
Als ich die Tür aufriss, standen Mrs. Perkin und zwei Männer in braunen Anzügen vor mir. Auf ihren Handgelenken eine schwarze Feder. Spione.
In Mrs. Perkins Augen lag eine tiefe Entschuldigung, als einer der Männer zu mir sagte: „Kate Sayers? Wir kommen im Auftrag von Malloren.“
Mir wich die Farbe aus dem Gesicht.
Malloren?
Nein, das konnte nicht richtig sein.
Das ist falsch. Das ist nicht richtig.
Malloren war für Salem North zuständig.
Ich musste nach West. Zu Aristhea, zu Desdemona. Zu Kiara, Teela, Josi.
Jetzt spürte ich Panik in mir aufkeimen und als ich mich zu Tyler umdrehte, sah er mir in die Augen.
„Ich gehe nicht mit“, sagte ich schließlich fest, als ich mich wieder umdrehte.
„Es steht dir keine Entscheidung zur Verfügung. Es ist ein Befehl.“ Es war der andere, der sprach. Er klang viel unfreundlicher.
„Ich gehe mit“, sagte Tyler steif hinter meinem Rücken.
Die Spione wechselten einen Blick.
„Ich gehe nicht, wenn er nicht geht.“ Ich wusste, es konnte komplett nach hinten losgehen. Wenn sie mich mitnehmen wollten, würden sie es tun. So oder so. Aber sie taten nichts. Sie standen nur da und sahen abwechselnd Tyler und mich an.
Nach längerem Schweigen sagte einer der beiden: „Folgt uns.“
Ich drehte mich zu Tyler um. In meinem Blick völlige Fassungslosigkeit. Er hatte Recht gehabt. Aber wieso? So hatte ich Salem nicht eingeschätzt.
Zögerlich trat ich mit Tyler zusammen aus der Tür zu einem der Männer, der sich nochmal an unsere Leiterin wandte: „Mrs. Perkin.“ Er verbeugte sich sacht.
Als ich aus der Türschwelle trat, sah ich an die Wand gelehnt Mae stehen. Sie war leichenblass. Und noch sackvoll. Sie wankte.
Ich wollte gerade zu ihr laufen, doch einer der Spione griff nach meinem Arm. Seine starken Hände waren erstaunlich sanft.
Als ich ihn giftig ansah, bemerkte ich Mrs. Perkins tadelnden Blick „Ich hätte euch liebend gerne eine Strafe aufgedonnert“, schimpfte sie, „Ihr denkt wohl, wir bekämen gar nichts mit. Für eure Freunde wird es Konsequenzen geben.“ Ihr Blick wanderte von mir zu Tyler.
Oh nein, Helena.
„Was wollen Sie mit Mae?“ Ich wandte mich an den Spion, der mich festhielt, ohne auf Mrs. Perkin zu reagieren.
„Sie kommt mit.“
Ich sah ihn entsetzt an: „Wieso sie? Sie ist schwach! Klein. Sie wird es nicht überleben!“ Ich erinnerte mich an die Verwandlung und mir wurde schlecht bei dem Gedanken, dass Salem so ein kleines Wesen auslieferte.
Tyler hatte Recht. Es hatte sich verändert.
Ich sah zu Mae. Sie wird sich nicht mehr erinnern, wie sie nach Salem kam. Hoffentlich konnte ich sie dort schnell ausfindig machen. Sie würde dort verloren gehen.
„Es wird Zeit. Malloren wartet.“
Es hatte keinen Sinn, eine weitere Diskussion anzufangen.
Die Spione liefen vor uns. Einer der beiden nahm Mae an der Schulter, um sie zu führen.
Tyler und ich gingen schweigend nebeneinander hinter ihnen her.
Nach zwei Jahren.
Zurück nach Salem.

 

Hier sah es ganz anders aus, als in West. Das Gebäude war offener, heller, größer und sah nicht aus wie eine Gruft. Eher wie das Schloss von Kaiserin Sissi in Wien. Es gefiel mir. Es wirkte irgendwie sympathisch. Der Flug von Seattle bis zur Salem Academy North dauerte ungefähr drei Stunden. Mit dem Auto hätten wir bis zu zwölf Stunden sitzen müssen. Mae hatte den ganzen Flug über geschlafen. Ty und ich saßen nebeneinander und schwiegen. Als ich aus dem Fenster sah und die Welt von oben beobachtete, weinte ich um Helena, um meine Eltern. Aber vor allem um meine Mama. Da hatte mir Tyler über mein Bein gestreichelt und ich hatte ihn warnend angefunkelt. Das war die einzige zwischenmenschliche Aktivität, die zwischen uns zustande kam. Umso überraschter war ich, als er mich auf dem Weg in den Kreissaal ansprach. Ein Spion zwei Meter vor Mae und einer zwei Meter hinter uns. „Sieht aus wie ein Schloss“, flüsterte er.
„Das habe ich vorhin auch gedacht“, sagte ich.
„Helena hat es viel düsterer beschrieben.“
Ich antwortete darauf nichts mehr, da wir nun den Kreissaal betraten. Vor uns stand eine große, schlanke Frau. Von der Statur her hätte sie ein Abklatsch von Aristhea sein können. Es überraschte mich, wie sehr sie mir fehlte.
Wenn mich nicht alles täuschte, musste sie Malloren sein. Ihr Haar war von einem dunklen Haselnussbraun, ihre Haut war von olivfarbenem Teint. Sie trug außerdem das Kleid, welches Aristhea trug – identisch mit dem Tattoo, aber… die zwei Flügel waren weiß.
„Pablo, Rhaúl“, sie nickte den Spionen zu, die sich sanft verbeugten und den Kreissaal verließen.
Wir standen nun zu dritt in dem großen Raum, der mich ebenfalls an den aus der West Academy erinnerte. Malloren vor uns und weiter hinten zwei Männer, wie die von Aristhea. Smoking und Sonnenbrille.
Mallorem trat geräuschlos auf uns zu. Auf ihren sinnlichen Lippen zeichnete sich ein Hauch von einem Lächeln ab. Ihre Augen waren von einem so hellen Braun, dass es beinahe schon wie flüssiges Gold aussah. Sie war bildschön. Wie ein Gemälde.
„Kate Sayers.“ Sie sprach meinen Namen langsam und mit einem Hauch von Bewunderung aus, „Zwei Jahre ist es her. Als sei es gestern gewesen, dass ich deinen Namen gehört habe.“ Sie schenkte mir einen warmen Blick, der mir sofort wieder in Erinnerungen rief, wo ich war. Der Blick der Priesterinnen. Wir waren ihre Kinder, ihre Gefährten, ihre Kämpfer.
Sie sah zu Tyler „Und du bist der ungestüme Tyler Ward, wenn mich nicht alles täuscht. Ein heldenhafter Freund. Wahrhaftig tapfer, die Mädchen vor etwas beschützen zu wollen, was nicht zu besiegen ist.“ Auf ihrem Gesicht lag unfassbare Ausgelassenheit. War sie verärgert, dass er mit gekommen war, so ließ sie es sich nicht anmerken.
Bei Mae blieb sie erst eine Weile schweigend stehen, bevor sie zum Sprechen ansetzte, denn Mae schaffte es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Ich verstand sie. Dieser Ehrfurcht war ich an meinem ersten Tag an der Academy in West auch ausgesetzt.
„Kleine Mae“, flüsterte sie und fing ihren Blick auf, „Mae Kato. Geboren in Tokio. Habe ich Recht?“
Mae nickte mit großen, unsicheren Augen.
„Zogst mit drei Jahren nach Mexiko und wuchst dort bis zu deinem neunten Lebensjahr auf.“
Wieder nickte sie.
Ich war fasziniert, dass sie tatsächlich alles wusste.
Malloren legte den Kopf schief, wobei ihr der Zopf aus diesen langen, dicken Haaren hinter ihrem Rücken mitschwang. Dann hob sie Maes zartes Gesicht mit einem Finger „Ein Gesicht wie Porzellan. Mao Si.“ In ihrer Stimme lag tiefe Zuneigung. Dann lachte sie dezent und ließ ihr Kinn wieder los „Weiße Puppe. Mao Si“, erklärte sie. Ah, jetzt ergab es Sinn. Mae sah wirklich aus wie eine Mao Si.
Ein weißes Püppchen aus Porzellan.
„Nun gut“, holte sie nun etwas lauter aus, aber es hallte in diesem leeren Raum unnatürlich laut wider, „In jedem Moment müssten eure Paten kommen und euch abholen, um euch das Gebäude zu zeigen.“ Sie blickte auf die große Holztür mit Goldriegeln und bedeutete uns, zur Seite zu treten.

Als hätte sie durch die Wand gesehen, öffnete sie sich und drei Schüler aus der vierten Stufe traten herein.

 

 

 

Kapitel 3

 

 

Dass sie in der vierten Stufe waren, erkannte ich an den vier Federn am Knöchel. Details, die ich nicht vergessen hatte.
„Sena, Milan“, Malloren nickte dem jungen Mann und der jungen Frau zu. Sena war also meine Patin. Milan wohl Tylers Pate. Sena sah Joceline zum Verwechseln ähnlich und ich musste an das Poster über Helenas Bett denken. Kate Beckinsale in jung. Ja, das traf völlig zu.
Sena, Milan und die junge Frau mit den goldblonden Haaren nickten Malloren mit einer eisernen Ruhe zu.
„Mao Si, meine Kleine“, Malloren deutete auf die blonde Patin, „Siva ist deine Patin für die ersten Monate, die du hier auf Salem bist.“
Mae nickte, traute sich aber nicht Siva anzusehen.
„Kate, Tyler“, sie sah uns an, „Euch sind Sena und Milan zugeteilt.“
Wir nickten beide.
„Kate, meine Schöne“, sie hob mein Kinn an, so wie sie es vorher bei Mae gemacht hatte und sah mir fest in die Augen, „Du kennst dich aus, in den Akademien. Wenn eure Paten euch in eure Zimmer gebracht haben, versammelt euch doch zu dritt im Speisesaal. Dort kannst du deinen Freunden ein wenig über uns erzählen.“
Ich hatte Mühe, ihrem Blick nicht auszuweichen. Sie duftete himmlisch. Nach einer Mischung aus Pfirsich und Cocos.
Ich nickte. Sie ließ mich los.
Sie nickte den Paten lächelnd zu „Begleitet sie zu ihren Zimmern“, dann wandte sie sich an uns, „Ich freue mich, euch auf Salem begrüßen zu dürfen.“

 
Mein Zimmer war schön. Klein, aber schön. Insgesamt die ganze Academy sah nicht nur von außen einladend aus, sondern sie war es auch von innen.
Meine Zimmernachbarin schlief noch. Also konnte ich nicht viel von ihr erkennen.
Ein Blick auf das Display meines Handys ließ mich aufschrecken. Es war schon kurz vor halb 5. Morgens. Ich würde morgen/heute niemals pünktlich aus dem Bett kommen.
Jetzt musste ich aber zuerst nach unten in die Mensa, die mir Sena gezeigt hatte. Ich mochte Sena. Sie war freundlich und aufgeschlossen und insgeheim war ich erleichtert, nicht wieder so jemand distanzierten als Paten erwischt zu haben. Gedankenverloren stieg ich die Treppen hinab.
Prinzipiell herrschten hier exakt dieselben Regeln. Die Jungvampire belegten dieselben Kurse wie in West, die Tattoo-Entwicklung schritt auf demselben Weg fort. Selbst die Eingangsgruppe die ersten zwei Wochen verlief nach demselben Schema.
Das einzige, was hier einen kleinen Unterschied machte, waren die Uniformen, die mich sehr klischeehaft an die in Tokio erinnerte. Eine raffinierte Abänderung waren die Krawatten, die statt rot, schwarz waren und zu den weißen Blusen gab es dunkelblaue Strickjacken – farblich passend zu den knielangen Röcken.
Es waren nicht alle Uniformen identisch, da jeder seinen eigenen Geschmack beitragen konnte, hatte mir Sena erzählt.
Was heißt, dass jedes kreative Köpfchen seine Uniform etwas mitgestalten konnte, solange es nicht komplett vom Schema abfiel.
Ein kleines Logo über der Brust deutete den Zusammenhalt der Academy. Das (für mich sieht es so aus!) Sissi-Schloss geborgen umhüllt von starken Flügeln.
Als ich unten im Speisesaal ankam, saßen Mae und Tyler schon an den Tischen und schwiegen sich an.
„Es ist wie bei uns im Internat.“ Es war Maes leise Stimme, die in meine Richtung drang.
„Ja. Nur dass unser Internat in Seattle im Vergleich hierzu wie ein billiges Ferienlager aussieht“, fügte Tyler hinzu.
Ich setzte mich neben Mae, ohne etwas zu sagen.
„Kennst du dich hier aus?“ Tyler unterbrach nach längerem Schweigen die Stille.
Ich schüttelte den Kopf.
„Du warst hier schon einmal.“
Wieder schüttelte ich den Kopf.
Auch Mae sah mich endlich an „Helena hat doch erzählt…“
„Nicht hier“, schnitt ich ihr das Wort ab, „Ich war nicht hier. Ich wurde damals in der Academy in West untergebracht.“
„Sieht die anders aus?“, fragte Mae.
Ich zuckte die Schultern. Mein Blick die ganze Zeit auf den leeren Glastisch geheftet „Sie sind umgezogen.“
„Wie, umgezogen?“, fragte Tyler.
„Es gab viele Angriffe.“
„Was für Angriffe?“ Ich hörte Maes Entsetzen aus ihrer Kätzchen-Stimme.
„Ihr wisst nicht, warum es die Academys gibt, oder?“
„Doch“, Tyler nickte, „Ich habe davon gehört. Und mich informiert.“
„Ich weiß es aber nicht“, wisperte Mae und legte eine Flache Hand auf das kalte Glas und ich sah sie an. Dann sah ich zu Tyler.
„Ursprünglich war es ja die Harras Academy. North, Ost, South, West“, fing ich schließlich an.
Beide nickten.
„Aristhea hatte einen Partner. Ich weiß nicht mehr, wie er hieß. Jedenfalls war er Magier“, ich sah eher Mae an, als Ty, während ich erzählte, „Es ist eher ungewöhnlich, Hybriden-Paare anzutreffen.“
„Hybriden-Paare?“, fragte sie.
„Paare verschiedener Rassen. Magier, Vampire, Hexen, Werwölfe, Elben.“
„Okay“, Mae nickte verständlich.
„Nun… Jedenfalls waren sie eben ein Paar und sie leiteten in der Harras Academy West damals sowas wie ne Jugendherberge für Jungvampire, da es immer mehr wurden und sie sich irgendwann unter den Menschen nicht mehr aufhalten konnten. Unter ihnen gab es einen Jungvampir, Tarek.“
„Ist dieser Tarek nicht der schwarze Schwan, von dem alle sprechen?“, unterbrach mich Tyler.
Ich sah ihn an und schüttelte den Kopf „Den schwarzen Schwan, wie ihn alle kennen, gibt es so nicht. Es ist ein … eine Gestalt…“ Meine Stimme verfiel in einen unheimlichen Ton, als ich mich an die Situation in der Bibliothek damals erinnerte.
Und das Lied…

 
Lollipop, lollipop
Oh Lolli, lolli, lolli
Lollipop…

 
Mir lief ein Kalter Schauer über den Rücken und ich bekam Gänsehaut. Auf einmal wurde es mir hier unheimlich und ich wünschte, es wäre nicht noch dunkel.
Ich spürte wieder den Griff von damals an meinen Armen. Diese Schmerzen, als ich gedacht hatte, es würde mir die Knochen brechen.
„Kate?“ Tylers Stimme riss mich aus den Erinnerungen.
Ich schüttelte den Kopf, um die Bilder aus meinem Kopf zu bekommen.
„Also… ja, eine Gestalt. Sie trägt eine Maske. Eine Schwanenmaske.“
„Wie unheimlich“, zitterte Mae und ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie näher an mich heran gerückt war.
„Nun…“, ich seufzte, „Jedenfalls wurde Tarek von dem Magier aufgenommen. Er war ein Waise und der Magier für ihn wie ein Ersatzvater. Nach einer Zeit wurde Aristhea schwanger. Sie hatte sich gefreut, hatte sich schon immer Kinder gewünscht, aber als sie zu einem Vampir wurde, hatte sie jede Hoffnung verloren. Physisch gesehen können Vampire keine Kinder kriegen. Es war einfach unmöglich, und doch … Als der Magier allerdings davon erfuhr, rastete er komplett aus. Er wollte kein Kind. Er hatte Tarek und er wollte Aristhea komplett für sich allein.“
Mae griff nach meinem Arm, was mich kurz aus der Fassung brachte und mich wieder sammeln musste.
„Er hätte es allerdings nicht übers Herz gebracht, Aristheas Fötus zu ermorden. Dafür liebte er sie zu sehr. Also wandte er, während sie schlief, einen Zauber an. Er lautete, dass das Kind, welches in Aristhea wuchs, in vielen, vielen Jahren bei einer anderen Familie in der Menschenwelt gebären sollte. Es würde immer noch Aristheas Kind sein, aber ein Mensch würde es austragen. Irgendwann.“
„Oh.“ Mae zitterte neben mir. Ich legte einen Arm um ihre kleinen Schultern und fuhr fort: „Als Aristhea davon erfuhr, empfand sie für den Magier nicht mehr als Hass und Verleugnung. Sie brachte ihn noch in derselben Nacht um.“
„Und der Krieg begann“, beendete Tyler meinen Satz.
„Welcher Krieg?“ Mae sah mich aus ihren großen Augen an.
„Tarek wollte sich für seinen Ersatzvater rächen, wollte Aristhea töten. Er war immerhin alles gewesen, was ihm geblieben war. Damit, dass er sich von den Jungvampiren und Vampiren abgewandt hatte, löste er quasi eine Verschwörung aus. Er wollte Aristheas Kind finden und es auf seine Seite ziehen. Er wusste, dass er sie damit brechen konnte. Wenn Aristheas eigenes Fleisch und Blut sie umbringen wollte, würde sie kampflos aufgeben.“
„Und deshalb lässt Aristhea Spione Kinder seit der Geburt bewachen, um sie zu ihrem 16. Lebensjahr zu einem Jungvampir zu erwählen“, erklärte Ty.
„Weil sie immer noch die Hoffnung hat, ihr Kind zu finden?“, fragte Mae.
Wir nickten.
„Theoretisch könnte ihr Kind alles. Sein. Ein Junge, ein Mädchen, ein Mann, eine Frau, ein Senior oder eine Seniorin. Vielleicht sogar schon Großvater oder Großmutter.“
„Sie tut mir so schrecklich leid.“ In Maes Stimme lag tiefes Mitgefühl.
„Aber warum hat die Academy ihren Namen geändert?“, fragte Ty.
Ich sah ihn an „Um ehrlich zu sein weiß ich das auch nicht so genau. Ich weiß nur so viel, dass die Angriffe von Tarek immer schlimmer und häufiger wurden. Außerdem…“, ich stockte, sammelte mich und redete weiter, „Außerdem geschahen, seit ich dort angekommen bin, sehr seltsame Dinge. Im Nachhinein glaube ich, dass es alles Illusionen von Tarek waren, um die Jungvampire psychisch zu brechen.“ Und vor allem um mich psychisch zu brechen, fügte ich in Gedanken noch hinzu.
„Was für seltsame Dinge?“, hakte Mae nach.
Ich zögerte.
Beide sahen mich ungeduldig, neugierig an.
„Ich fing an zu Träumen… aber diese Träume waren so realistisch. Ich hörte Stimmen, die mich warnten. Die mich beschuldigten.“ Bei den Erinnerungen wurde mir ganz flau im Magen. „Es war eine Männerstimme. Sie sagte immer wieder, ohne mich würde es ihn nicht geben und dass wir zusammen gehören. Kurz darauf träumte ich … von mir. Wir ich auf die Welt kam. Und als sie mich aus dem Bauch meiner Mutter hoben, sagte einer der Hebammen: ‚Herzlichen Glückwunsch, Mrs. Taylor. Es sind Zwillinge.‘ Und es wurde immer schlimmer. Ich fing an Geister zu sehen. Aber nicht irgendwelche… das war ich. Mit sechs Jahren. Das erste Mal auf der Toilette in einer Kabine. Das zweite Mal mitten im Flur. Selbst Kiara hatte es gesehen. Was mich am allermeisten beunruhigte war, dass Kiara diesem Ding einen Namen gab, nämlich: Klein-Katie. Und ich hatte das Gefühl, dadurch würde es nur schlimmer werden.“ Ich machte eine kurze Pause, da ich merkte, dass mich das Ganze enorm aufwühlte und erschöpfte.
„Nun… dieses Etwas… dieses Mädchen führte uns einmal zum Leichenkeller.“
„Zum WAS?“ Riefen beide synchron.
Ich zischte sie sofort an, dass sie leise sein sollten.
„Ja… Aristhea liebte jeden dieser Jungvampire wie ihre eigenen Kinder. Wenn einer von ihnen die Verwandlung nicht überlebte, legte sie die toten Körper in eine Kühlkammer, damit sie nicht verwesten.“
„Das ist doch geisteskrank“, keifte Tyler.
Ich ließ mich nicht anmerken, dass es mich ärgerte, dass er so über Aristhea sprach.
„Nun… dort jedenfalls… sah ich durch eine Scheibe in diese Leichenkammer, die eigentlich völlig harmlos aussah. Wie ein großer Baderaum mit gestapelten Kühlräumen. Und dann… sah ich sie dort… meine Eltern. Sie hingen von der Mitte des Raumes an einem Galgen. Ihre Körper kalkweiß. Unter ihnen ein Meer aus Blut. Ihre Hälse waren aufgeschnitten…“, meine Stimme brach. Ich konnte nicht weiter reden.
Beide schwiegen benommen.
„Wieso bist du wieder nach Hause geschickt worden?“
Ich seufzte meine Anspannung aus und sah Mae an „Mein Körper verweigerte das Blut. Ich kotzte es einfach wieder aus… Mein Herz fing wieder an zu schlagen, mein Puls…“
„Du wurdest einfach wieder zu einem Menschen?“ Tyler sah mich fassungslos an.
„Ich dachte, wenn sich der Körper gegen die Verwandlung wehrt, stirbt man“, sagte Mae.
„Dachte ich auch“, gab ich zu, „Ich weiß nicht, was das war. Aber auf jeden Fall… scheint sich Salem nach zwei Jahren dafür entschieden zu haben, mich nochmal zurück zu holen.“
„Und warum nun, heißt es Salem?“
„Aristhea ließ die Akademien, nachdem sie umgezogen waren, den Namen ändern. Sie dachte, so würde Tarek sie nicht wieder so schnell ausfindig machen und das alles hätte ein Ende.“
„Aber das war ein Irrtum“, schlussfolgerte Tyler.
„Ja“, sagte ich, „Das war ein Irrtum.“
Beide sahen mich an.
„Es hat alles nur schlimmer gemacht.“

 

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Tag der Veröffentlichung: 15.04.2015

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