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Ich will dich

 

 

Ich will dich

 

„Kein Bier? Kein Sekt? Gar nichts?" Der Typ hinter der Bar sah Dana fassungslos an. Sie musste sich sehr am Riemen reißen, um nicht über seinen dümmlichen Ausdruck zu grinsen. „Wirklich nicht, tut mir leid."
Er zuckte nur kurz mit den Schultern und stellte das Glas zurück, dass er für Dana schon hervor geholt hatte
,,Du bist die erste 17-Jährige die ich kennenlerne und non-Alkohol lebt."
„Non-Alkohol?"
„Na, kein Alkohol trinkt. Warst du noch nie lustig?"
„Ich bin immer lustig." Dana zwinkerte über ihre Schulter hinweg und widmete sich dann wieder der vollen Tanzfläche, über die blaue und rote Lichter sprangen und die ganzen verschwitzten Köpfe in ein seltsames Durcheinander brachten. Wo war denn Melanie jetzt schon wieder hin? Kaum war sie mal zwei Minuten abgelenkt, war dieses Mädchen nirgendwo mehr zu sehen und inzwischen hatte sie dieses laute Gejaule aus den Lautsprechern, den Gestank von Parfüm, After-Shave und Schweiß richtig satt. Sie wollte einfach nur nach Hause. In ihr gemütliches Bett.
Noch ein letztes Mal suchte sie mit ihren Augen die Tanzfläche ab, dann zog sie einen Geldschein heraus und legte ihn dem Barkeeper auf die Theke „Das passt so. Falls Du meine Freundin siehst, die mit mir gekommen ist, dann sag ihr bitte, dass ich die Fliege gemacht habe."
„Du gehst schon?" Der Junge, der kaum älter als Dana war, warf einen Blick auf ihr halbvolles Glas „Du hast ja nicht einmal deine Cola ausgetrunken."
„Kann ich bei so einer Atmosphäre nicht genießen", sagte sie nur beiläufig und war schon dabei zu gehen, als der Barkeeper nach ihr rief. Innerlich stöhnend ging sie noch einmal zurück.
Er schob ihr den Zehner zu und lächelte „Geht aufs Haus."
„Einfach so?", fragte Dana und steckte das Geld wieder weg.
„Na, wer gibt so einer hübschen Dame keinen Drink aus?"
Dana lächelte ihn dankbar an und dann war sie verschwunden.

Während sie die alten Stufen des Gebäudes nach oben lief und dem lauten, grässlichen Zeug, welches der DJ fabrizierte, entfloh, schrieb sie ihrem Vater noch eine SMS:

Bin auf dem Weg Heim.
Kuss
D.

Dann steckte sie ihr Handy weg und hielt am Straßenrand ein Taxi an.
„Zum Pferdesportzentrum", bat sie. Von dort aus konnte sie dann zu Fuß gehen.
„Das sind dann 52€", gab der Fahrer zur Antwort. Für ihn war es heute ein glücklicher Tag. Dana ließ sich in den Rücksitz fallen, schlug die Tür zu, und das Taxi entführte sie aus der Katastrophe, die noch vor vier Stunden unausweichlich erschienen war.
Dana hatte sich nichts vorzuwerfen, doch die Laune war dahin. Ihr Geld reichte auch nicht mehr für den Rest des Monates aus. Die fünfzig Euro weg - das Geld ging ihr zur Neige. Ein Bekannter von ihr meinte einmal, das Böse lasse sich heutzutage nur mit Geld besiegen. Eine interessante Beobachtung, wenn auch aus metaphysischer Sicht nicht ganz korrekt: Nicht von einem Sieg über das Böse kann die Rede sein, sondern von der Möglichkeit, sich vorübergehend davon loszukaufen. Ohne Geld aber hat das Böse dich binnen zwei, drei Tagen fest im Griff, das ist eine verbürgte Tatsache. Mit Spiegelfechtereien hätte sie es leicht zu einem Vermögen bringen können. Aber das war ein abstruser Gedanke.
Dem Chauffeur blieb Danas düstere Stimmung nicht verborgen.
„Was ist?", fragte er, „hat dich wer beleidigt, Herzchen?"
„Ach ja", sagte sie.
Der Letzte in der Reihe war er selber gewesen, als er den Preis für die Fahrt festgesetzt hatte. Zweiundfünfzig!
„Vergiss es", meinte der Chauffeur, „Wenn du wüsstest, wie oft ich am Tag beleidigt werde! Nähme ich mir das alles zu Herzen, dann hätte ich bald einen Sack voll Scheiße in der Brust. Schwamm drüber, das rat ich dir. Morgen ist es vergessen. Und das Leben ist lang, weißt du."
„Das weiß ich", sagte sie. „Aber Schwamm drüber, wie soll das gehen?"
„Einfach so. Denk an was anderes. Irgendwas Schönes."
„Woher nehmen?"
Der Taxifahrer äugte im Spiegel nach ihr.
„Gibt´s denn gar nichts Schönes in deinem Leben?"
„Vielleicht", entgegnete sie.
„Wie kann das sein?"
„Hat sich so ergeben."
„Ein einziges Jammertal?"
„Ist doch bei Ihnen nicht anders."
„Mach halblang, Mädel", lachte der Taxifahrer, „Das kannst du gar nicht wissen."
„Doch", sagte Dana, „Sonst säßen Sie ja nicht hier drinnen."
„Wieso?"
„Ach, das könnte ich Ihnen erklären, aber ... ich weiß nicht, ob Sie es verstehen."
„Pfffffh", machte der Fahrer. „Glaubst du, ich bin doofer als du? Wenn du es verstanden hast, dann werd  ich’s wohl auch noch raffen."
„Na schön. Ist Ihnen klar, dass das Leiden die Materie ist, aus der die Welt besteht?"
„Wie kommst du darauf?"
„Das könnte ich nur an einem Beispiel erklären."
„Dann tu’s."
„Kennen Sie die Geschichte vom Baron Münchhausen, der sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zieht?"
„Kenn ich", sagte der Chauffeur, „Hab ich sogar mal im Kino gesehen."
„Die Realität ist nicht ganz anders. Stellen Sie sich vor, Münchhausen schwebe in einem leeren Raum und zieht sich am eigenen Schwanz, was höllisch wehtut. Einerseits bedauerlich. Andererseits ist seine Situation besonders heikel, da er, wenn er seinen Schwanz losließe, sich sofort in Luft auflösen würde. Seiner Natur nach ist er nur ein Gefäß für den Schmerz mit grauem Zopf. Sobald der Schmerz weg ist, verschwindet auch er."
„Haben sie dir das in der Schule beigebracht, oder zu Hause?", fragte der Chauffeur.
„Weder noch", sagte Dana, „Wenn man unterwegs ist, da hört und sieht man so manches. Haben Sie mein Beispiel verstanden?"
„Klar", antwortete er, „Ich bin ja nicht blöd. Und jetzt hat dein Münchhausen also Schiss, seine Eier loszulassen, oder wie?"
„Ist doch logisch. Er wäre sofort nicht mehr da, wie gesagt."
„Aber vielleicht wäre das ja besser so? Was ist das denn für ein Leben?"
„Stimmt. Und deswegen existiert der Gesellschaftsvertrag."
„Gesellschaftsvertrag? Was ist das nun wieder?"
„Nun, jeder Münchhausen könnte natürlich beschließen, seinen Schwanz loszulassen, aber ..."
„Was, aber?", fragte der Chauffeur nach.
„Aber wenn sieben Milliarden Münchhausens einander an den Schwänzen ziehen, hat die Welt nichts zu befürchten."
„Wieso?"
„Ganz einfach. Sich selber könnte ein Münchhausen leicht loslassen. Aber je kräftiger irgendein anderer bei ihm zudrückt, desto härter fasst er den an, den er im Griff hat. Und so geschieht das sieben Milliarden Mal. Verstehen Sie?"
„Pah! So was kann sich auch bloß eine Frau ausdenken."
„Im Gegenteil. Es ist doch ein extrem männliches Weltbild. Ein chauvinistisches, würde ich sagen. Die Frau kommt darin überhaupt nicht vor."
„Wieso nicht?"
„Na. Die Frau hat nun mal keinen Schwanz."
Den Rest des Weges fuhren sie schweigend.

Zu Hause angekommen merkte Dana erst die wahnsinnige Erschöpfung ihres Geistes. Das alles heute war eindeutig zu viel gewesen. Erst diese Anfeindungen der Klassenkammeraden, dann Melanies unglaublich intelligenter Plan sich mit einer Party abzulenken und dann dieses Gespräch mit dem Taxifahrer.
Als sie die Schuhe von ihren Füßen gestreift hatte, wollte sie gerade auf die Küche zusteuern, um sich ein großes, feines Glas mit eiskaltem Wasser zu gönnen, doch dann hielt sie auf halben Wege Inne.
Oh mein Gott.
Ihr Blick fiel an die Decke. Ein Wunder, dass sie nicht bebte.
Oh mein Gott.
Jetzt wunderte sich Dana auch nicht mehr, warum ihr Vater auf die SMS nicht mehr geantwortet hatte. Ein unbehagliches Gefühl beschlich sie und ohne weiter darüber nach zu denken, sprintete sie leise die Treppen nach oben. Vor Vaters Schlafzimmer blieb sie stehen. Den eigenen Vater so zu hören war wirklich widerlich. Klar, kindischer Gedanke. Sex war das Natürlichste auf der Welt. Trotzdem konnte sie den Gedanken mit den lieben Worten ihres Vaters „Schatz, ich liebe dich", „Mein kleiner Engel", „Du bleibst mein Mädchen", und diesem Kontrast: „Gibs mir", „Härter" (den Rest ignorierte Dana lieber gleich), nicht verbinden. Also, ein Romantiker war Til wirklich nicht, wie Dana jetzt bemerkte.
Doch genau das schien diese Fremde erst richtig anzuheizen.
Ihr Stöhnen war bestimmt bis auf die Straße zu hören. Aber das fand Dana gar nicht schlimm - im Gegenteil. Sie fühlte, wie sich Hitze zwischen ihren Beinen sammelte und wurde von einer unbändigen Neugier gefasst.
Wer war diese Frau?
Oh ja ... Dana hatte schon immer diese Macke gehabt.
Wenn sie eine Frau stöhnen hörte, wurde sie weich - überall.
Mit einem warmen Gefühl im Bauch lief sie weiter auf ihr Zimmer, zog sich aus und kuschelte sich in ihr Bett.
Das Stöhnen verfolgte sie noch bis in den Schlaf.

Am frühen Morgen - früher Morgen! Dana konnte es nicht fassen! - blinzelte Dana in die Strahlen der Sonne und strampelte die Decke von ihrem verschwitzten Körper. Stöhnend drehte sie sich zur Wand und rieb sich das Gesicht. Warum, in Gottes Namen, war sie am Wochenende so früh wach?
„Liebling?"
Erschrocken riss Dana die Decke wieder über ihren halbnackten Körper und drehte sich zur offenen Tür, in der ihr (viel zu zufrieden aussehender) Vater stand. „Gott, Papa! Kannst du nicht anklopfen?"
„Entschuldige. Die Tür war offen."
Jaja. Natürlich war sie das. Ist sie immer.
Dana seufzte innerlich „Was gibt’s?"
„Möchtest du mit uns frühstücken?"
„Mit uns?", Dana versuchte so überrascht wie möglich zu klingen, doch sie befürchtete, dass ihr das nicht so wirklich gelang.
Auf Tils Gesicht bildete sich ein Grinsen „Komm mit." Er hielt ihr die Hand hin.
„Papa?!" Dana schaute ihn vielsagend an und warf einen Blick auf die Decke, die ihren Körper bedeckte.
„Oh, verstehe. Ja, dann komm einfach, wenn du soweit bist." Er zwinkerte seiner Tochter zu und schloss die Tür hinter sich.
„Wahnsinn", murmelte Dana und hüpfte aus dem Bett. Mit dem einen Gedanken: Sie bleibt zum Frühstück?
Dana kannte ihren Vater. Er war kein Mensch für lange Beziehungen. Er schnappte sich die nächstbeste Frau, legte sie flach und ließ sie ohne irgendwelche Informationen gehen. Die meisten kannte Dana nicht einmal. Aber das war ihr eigentlich auch ganz Recht gewesen. Sollte Til seine Bedürfnisse ausleben. Solange keine Barbie kam, die ihre Mutter ersetzen wollte, war ihr alles Recht.
Hektisch schlüpfte sie in eine Jogginghose, zog sich ein Tank-Top an und fuhr sich beiläufig durch die dunklen Haare. Dann flitzte sie die Treppen runter. Mit jeder Stufe hämmerte ihr Herz stärker. Mit jeder Stufe kam das Stöhnen der gestrigen Nacht immer mehr in ihr Gedächtnis. Ihr Tempo wurde langsamer. Und auf einmal war sie sich gar nicht mehr so sicher, ob sie mit ihrem Vater und seiner One-Night-Stand Dame frühstücken wollte. Aber was blieb ihr anderes übrig? Außerdem war das doch lächerlich. Sonst reagierte Dana in solchen Situationen auch nicht so sensibel.
Also atmete sie einmal tief durch und betrat entschlossen die Küche.
Das war ein Fehler.
Oh mein Gott.
Die One-Night-Stand Dame drehte sich zu ihr um.
Oh mein Gott!
Sie war womöglich die schönste Frau, die Dana je zu Augen bekommen hatte.
„Guten Morgen", lächelte der Engel.
Dana erwiderte das Lächeln selbstbewusst. Sie fühlte, wie diese Fremde die ganze Küche mit ihrer Aura in Anspruch nahm. Um Danas Körper kribbelte es vor Sympathie und Wärme. Diese Frau hat nie im Leben mit meinem Vater geschlafen. Nie. Im. Leben. Gezielt setzte sie sich neben ihren Vater, der Frau gegenüber. „Dana, das ist Lejla. Sie wird ein wenig auf die Ordnung in unserem Haus achten. Du weißt ja, dass ich viel arbeite und da dachte ich, dass so eine Putzkraft in unserem Haus nicht schaden würde."
Diese harte Arbeit lässt du dir aber gründlich belohnen, dachte Dana, und von wegen Putzkraft. Vermutlich weiße Flecken verschwinden lassen. Klar. Meister Propper macht es ja nicht anders. Lächelt auf diesem Plastikbehälter, zeigt seine geraden, weißen Zähne und stellt sich zur Verfügung.
Dana lächelte beherrscht und reichte Lejla die Hand. Diese nahm ihre zur Begrüßung entgegen und schüttelte sie kurz aber fest „Dein Vater hat viel von dir erzählt." Lejla warf Til einen kurzen Blick zu, der bestätigend nickte und Dana einmal über die dunkle Mähne wuschelte „Mein Augenstern."
Dana lächelte.
„Du hast keine Kinder", stellte Dana sofort fest. Sie weiß nicht woher sie das wusste, aber diese Frau strahlte einen gewissen Freigeist aus. Keine Verpflichtungen, kein Muss und vor allem war sie niemand, der sich von irgendjemandem abhängig machte.
„Exakt."
„Wie alt bist du?", fragte Dana.
„Dreißig. Du bist Siebzehn. Ein paar Jährchen jünger, und Du könntest meine Tochter sein."
„Bin ich aber nicht", murmelte Dana und suchte den gedeckten Tisch nach ihrer Lieblingswurst ab. Und Dreißig? Mit so einer jungen Frau hatte ihr Vater noch nie etwas am Laufen gehabt. Ob das wirklich die One-Night-Stand Dame von letzter Nacht war? Oder war die schon längst wieder über alle Berge und Lejla war wirklich nur eine Putzkraft?
Dana schnitt ihre Semmel auf und begutachtete Lejla unauffällig. Ihr Blick schweifte von den hohen, weiblichen Wangenknochen, zu ihrem schlanken Hals. Weiter auf ihre Schlüsselbeine, die zarten Schultern und ... bevor sie in die Falle tappte, sah sie Lejla wieder in die Augen. In diese tiefen, dunklen Augen.
Sie trieften nur so vor Lust und Erotik. Begehren und Verlangen.
Sie war es.
Eindeutig.
Sie war die Frau, die Dana gestern nach so einem langen Abend auf andere Gedanken gebracht hatte. Kein Zweifel. Und irgendwie war sie sogar froh darüber.
Lejla biss von einem belegten Brot ab. Dana beobachtete die Bewegungen ihrer zarten Lippen. Musterte ihre langen, schlanken Finger, die sie um das Brot gelegt hatte. Wie sie es berührte! Das war kein "Anfassen". Das war eine wahrhaftig, unglaublich sinnliche Berührung. Überhaupt alles an Lejla wirkte unglaublich sinnlich. Ihre Blicke, ihre Atmung, wie sich ihre Brust kaum merkbar hob und wieder senkte. Wie ihre Zunge über die Lippen fuhr. Um Dana war es geschehen.
Punkt.
Aus.
Der Rest des Frühstückes war für Dana mehr Qual als angenehm. Normalerweise genoss sie es, wenn sie mit ihrem Vater mal frühstücken konnte, doch bei Lejlas Anwesenheit war das eine Sache der Unmöglichkeit.
„So", Til trank den letzten Schluck seines Kaffees, „Ich werde dann mal abhauen. Die Arbeit ruft. Lejla wird auf das Haus aufpassen. Du kannst also tun und lassen was du möchtest."
Du findest aber schnell Vertrauen, Papa, dachte Dana, hielt aber die Klappe und nickte nur. Lejla trank schweigend ihren Kaffee und sah Dana in die Augen. Sie gingen beide ihren eigenen Gedanken nach. Erst als die Haustür zufiel und damit klar war, dass sie nun alleine waren, stand Lejla auf und fing an den Tisch abzudecken.
Dana war schon am Überlegen, Lejla zu helfen, ließ es dann aber doch. Sie beobachtete lieber. Und das tat sie zu gerne. Ihr fiel im Moment nicht ein, wem oder was sie lieber zusehen würde, als Lejla. Sie wirkte so normal. Und doch wie ein wildes Tier. Bewegte sich so gleichmäßig und geschmeidig, dass Dana am ganzen Körper eine Gänsehaut bekam. Sie war heilfroh darüber, dass sie eines der wenigen Mädchen war, die in so einer Situation gelassen wirken konnte. Ob Lejla auch an Frauen Interesse hatte?
Dana schlug die Beine über Kreuz und wartete, bis Lejla fertig war.
Das würde sie gleich herausfinden.
So testete sie die meisten Frauen, bei denen ihr "Gaydar" nicht sofort funktionierte. Danach war sie sich entweder zu sechzig, oder zu hundert Prozent sicher. Klar, lag sie ab und zu falsch, aber überwiegend traf sie ins Schwarze. Was ihr bei Lejla allerdings ein wenig Bauchmurren verursachte. Immerhin wirkte sie so selbstsicher und undurchdringlich. Aber wer konnte es schon wissen?
Dana strich sich eine Strähne hinter das Ohr, stützte ihren Kopf auf die Hand und gähnte noch einmal ausgiebig. Ausgeschlafen war sie auf keinen Fall, aber sich jetzt noch einmal in das Bett zu legen? Wo so ein Engel durch ihr Haus spazierte? Das kam ja wohl nicht in Frage.
Lejla stellte die Spülmaschine an und lehnte sich dann an die Anrichte. Schweigend musterte sie Dana eine Weile, dann fuhr sie sich über das Gesicht „Dein Vater hat mir erzählt, dass deine Mutter gestorben ist. Das tut mir leid."
Na toll. Das war’s dann wohl mit der "Ich-teste-Lejla-Aktion".
Unbeeindruckt entgegnete Dana Lejlas Blick.
„Hör zu", setzte sie an und nahm neben Dana Platz, „Dein Vater mag es nicht gemerkt haben", über ihr schönes Gesicht wich ein dezentes Lächeln, „So wie er gebrüllt hat. Aber ich habe gehört, wie du gestern Nacht angekommen bist."
„Na dann scheint er aber nicht besonders gut zu sein", war das Einzige, was Dana darauf einfiel. Lejla sah Dana eine unbedeutende Sekunde lang an, dann warf sie den Kopf hinter und lachte aus tiefster Seele. Dana genoss die Melodie ihrer seidigen Stimme und bemühte sich, nicht von ihrem Lachen anstecken zu lassen. Dann sah Lejla Dana an und strich sich die dunklen Strähnen aus dem Gesicht „Du gehst ja ganz anders damit um, als ich erwartet habe."
„Soll ich schreiend wegrennen?"
Dieses komische Gefühl in der prickelnden Atmosphäre löste sich auf und Dana fühlte sich gleich viel wohler. Lejla war sympathisch. Sie war gar nicht so verschlossen und leise, wie sie wirkte, als ihr Vater noch in der Nähe war. Das beruhigte Dana ein wenig. So wirkte Lejla nicht mehr so einschüchternd.
„Ich hätte eher damit gerechnet, dass du mit Gegenständen nach mir wirfst, sobald dein Vater weg ist."
Dana schüttelte kurz gedankenlos den Kopf „Und lass mich raten: diese Aktion von gestern Nacht ist dein täglicher Verdienst?"
Lejla zog die schön geschwungenen Brauen in die Höhe „Sowas denkst du von mir?"
Dana nickte.
„Nein. Das war einmalig. Keine Sorge. Ich werde dir deinen Vater nicht wegnehmen."
Wie aus dem Nichts breitete sich wieder dieses bedrückende Prickeln im Raum aus. Dieses Geheimnisvolle, Düstere, Unantastbare.
Wow.
Lejla war eine Wucht.
„Warum nicht?", fragte Dana und versuchte gelassen zu klingen, „Gefällt er dir nicht?" Das könnte auch eine Fangfrage sein.
Lejla grinste kurz. Für einen Moment lang dachte Dana, sie würde sagen: „Mir gefallen keine Männer." Doch dann nickte Lejla „Dein Vater ist ein sehr hübscher Kerl. Aber ich lebe lieber frei."
„Keine festen Bindungen?"
„Ganz frei", bestätigte Lejla.
„Schon immer?"
„Warum soll ich mich auf irgendeine Liebesbeziehung einlassen? Das sind doch bloß wieder Verpflichtungen und Verantwortung. Und ich hasse sowohl als auch."
Dana gefiel Lejlas Sichtweise, aber trotzdem war sie noch der festen Überzeugung, die große Liebe irgendwann zu finden. Und dann würde sie sich liebend gern auf Verpflichtungen und Verantwortungen einlassen.
„Worüber denkst du nach?"
Dana sah Lejla überrascht an.
„Über Gott und die Welt. Du bist der erste Mensch der merkt, wenn ich nachdenke."
„Aber das ist doch bei dir gar nicht zu übersehen!" Lejla lachte und seufzte dann herzlich „Vielleicht sollte ich auch die Erste sein, die deinen Vater für seine Tochter lobt."
„Da bist du zu spät", murmelte Dana.
Lejla hob fragend die Brauen.
Jetzt bereute es Dana.
„Spuck’s aus“, forderte Lejla und fing Danas Blick auf.
„Du weißt sicher nicht, dass du nur Eine von Vielen bist, oder?"
„ Du meinst, dass dein Vater immer neue Belustigungen hat? Natürlich weiß ich das."
„Du weißt das", wiederholte Dana fassungslos. Lejla war wirklich nicht dumm.
„Natürlich weiß ich das."
„Woher?"
„Ich spüre das. Warum denkst du darüber nach?"
Jetzt fühlte sich Dana ertappt. Eine Situation, die sie nicht leiden konnte. Seufzend stand sie von ihrem Stuhl auf und schob ihn an den Tisch „Ich treffe mich heute noch mit Freunden", sagte sie beiläufig und verschwand auf ihrem Zimmer.
Lejla sah ihr grinsend hinterher.

„Komm schon", zischte Dana, als nach dem dreizehnten Düten immer noch niemand am Hörer war, „Melli, lass mich nicht im Stich. Nicht jetzt, wo-"
„Spinnst du?", grummelte eine verschlafene Stimme in Danas Ohr.
Erleichterung überfiel sie „Ein Glück, bist du wach!"
„Jetzt schon", schnaubte Melanie und setzte sich in ihrem warmen Bett aufrecht.
Dana sah auf die Uhr „Es ist kurz vor Mittag! Also bedank dich lieber, sonst hättest du den halben Tag verschlafen."
„Es ist zehn Uhr!"
„Sag ich doch", bekräftigte Dana.
„Egal jetzt. Was ist so wichtig, dass du mich so früh weckst? Du weißt, ich kann ein Monster sein-"
„Blabla. Ja ja, ich weiß doch, Mel. Tut mir leid. Ich hätte ja auch nicht angerufen, wenn es nicht wirklich dringend wäre."
„Du bist gestern einfach abgehauen", fiel Melanie ein.
„Können wir das wann anders bereden?"
Melanie seufzte.
„Also. Hättest du Zeit?"
„Wann?", fragte Melanie missbilligend.
„Jetzt."
„Du hast doch nen Knall!" Melanie tippte sich an die Stirn, obwohl Dana sie nicht sehen konnte.
„Ich warte in einer Stunde in der Stadt am Brunnen auf dich."
Die Leitung wurde unterbrochen.
„Dieses Kind", knurrte Melanie und ließ sich in ihr Bett zurück fallen.

„Dafür bist du mir aber mehr schuldig, als so einen billigen Kaffee", begrüßte Melanie Dana, als sie sich zu ihr an den Brunnen setzte und nach dem kleinen Pappbecher griff.
„Der war ja eigentlich auch für mich gedacht", sagte Dana.
Melanie zuckte die Schultern und fuhr sich durch die kurzen, blonden Haare, die heute ausnahmsweise mal nicht perfekt saßen.
„Ich brauche deinen Rat."
„Das dachte ich mir. Schieß los."
„Es geht um Papas neue Flamme."
Melanie zog verständnislos eine Braue in die Höhe.
„Egal", seufzte Dana, „Jedenfalls. Du kennst dich doch mit Frauen aus."
„Aber hallo!" Melanie grinste.
Dana schüttelte kurz hoffnungslos den Kopf, dann sah sie Melanie fest in die Augen „Ich glaube, mich hat es total erwischt."
„Sag bloß! Und jetzt lass mich raten. Es ist die neue Flamme?"
„Zehn Punkte."
Melanie nippte gerade grinsend an dem Kaffee, als sie auf einmal Inne hielt und ihr Grinsen verblasste „Moment mal. Du sagtest, es geht um die neue Flamme deines Vaters!?"
Dana nickte.
„Scheiße. Wie alt is`n die? Könnte die nicht deine Mutter sein?"
„Sie ist Dreißig."
„Awoo das geht ja noch", Melanie nahm einen kräftigen Schluck und fing dann an mit ihrem Lippenpiercing herum zu spielen, „Und weiter?"
„Wie, und weiter?"
„Ja, dass du auf Frauen stehst, dass weißt du ja wohl schon seit du denken kannst", Melanie grinste neckend, „Also seit vier Jahren."
„Haha. Da haben wir mal alle wieder gelacht."
„Nein, im Ernst jetzt. Was ist das Problem?"
„Ich weiß nicht, ob sie auf Frauen steht."
Melanie schlug die Augen weit auf und zog ihren Kopf ein ganzes Stück von Dana zurück „Du willst es nicht ernsthaft bei der probieren?"
„Warum nicht?"
„Du hast nen Knall. Die ist Dreißig. Denkst du echt, eine bodenständige Frau, die mit beiden Beinen mitten im Leben steht, würde sich auf eine Siebzehnjährige einlassen?"
„Wow. Du machst mir ja wirklich Mut", sagte Dana sarkastisch und ließ ihre Hand in das Wasser des Springbrunnens hängen.
Beide schwiegen eine Weile.
„Hast du schon den Blick probiert?" Melanie sah ihre Freundin fragend an.
„Kam nicht dazu."
„Inwiefern?"
„Sie hat mich sofort auf die Nacht mit Papa angesprochen. Und dass sie ihn mir nicht wegnehmen wolle."
„Sag ich doch. Bodenständig. Mitten im Leben. Du hast keine Chance. Sie sieht dich als Kind und hat schon nach weniger Zeit das Gefühl, sich bei dir rechtfertigen zu müssen, um dich zu beruhigen."
Dana schüttelte den Kopf „Sie ist anders."
„Sie hat mit deinem Vater geschlafen", betonte Melanie.
Dana stöhnte „So meinte ich das doch nicht. Bleib mal ernst. Ich bin echt verzweifelt."
„Sorry!" Melanie knuffte Dana versöhnlich in die Seite, „Also mal abgesehen von der Tatsache, dass du dich in die Freundin deines Papas verguckt hast ... Und sie eine erwachsene Frau ist ... Hm! Hast du ihre Fingernägel betrachtet?"
„Warum?"
„Hast du?"
„Du stellst vielleicht blöde Fragen."
„Hast du?"
„Ja. Warum?"
„Lang, kurz?"
Dana stöhnte „Ach deshalb. Das ist doch so ein blödes Klischee!"
Melanie hob ihre und Danas Hand und sah sie vielsagend an.
„Zufall."
„Ja klar. Du bist ja auch nur zufrieden, wenn du was zu meckern hast."
„Hör mal, wenn diese Lesbenwelt aus diesen Lesbenklischees bestehen würde, dann würde ich rumlaufen wie du!"
„Wie laufe ich denn rum?" Melanie grinste.
„Du Junge!"
Das stimmte natürlich nicht. Melanie war eine sehr feminine Frau mit einem sportlichen Stil und kurzen Haaren.
Melanie lachte laut los und bespritzte Dana mit Wasser, die sich ordentlich an Melanie rächte, bis die beiden pitschnass um den Brunnen herum liefen.
„Halt!", rief Melanie außer Atem und glucksend, „Ich gebe auf!" Sie warf sich Dana vor die Füße.
„Spinn nicht rum", grinste Dana, „Die Leute gucken schon."
„Ja und? Sollen sie doch!" Melanie stellte sich wieder auf und setzte sich mit Dana zurück an den Brunnen. Beide damit beschäftigt, das Wasser aus ihren Klamotten zu wringen.
„Du wirst aber schnell feucht."
„Das Niveau sinkt." Dana rückte demonstrativ von Melanie weg.
„Welches Niveau?" Die beiden lachten, dann wischte sich Melanie einmal über das nasse Gesicht und seufzte  tief „Jetzt bin ich endgültig wach."
„Gut so. Und meinen Kaffee hast du umsonst verschlungen."
„Du bist mir sowieso noch was schuldig", erinnerte sie Melanie.
Dana schüttelte grinsend den Kopf, dann schwiegen beide wieder eine ganze Weile.
„Und ich bin immer noch keinen Schritt weiter."
Melanie überlegte angestrengt, während sie gewohnheitsgemäß mit ihrem Lippenpiercing spielte. Dann sah sie Dana an „Wie wär’s, wenn du sie mir einfach vorstellst?"
„Wie meinst du?"
„Also, ich habe heute nichts Besonderes mehr vor. Lade mich einfach zu dir nach Hause ein. Dann kannst du mich mit euren tollen Süßigkeiten durchfüttern und wir wären quitt, was das frühe Wecken angeht."
„Wenn’s sonst nichts ist", erklärte sich Dana einverstanden.
„Na dann. Mission Possible kann beginnen."
„Und du sagst ich habe einen Knall", murmelte Dana noch, als sich die beiden Freundinnen auf den Weg machten.

Dana begleitete Melanie in das Wohnzimmer, nachdem sie Schokokekse und Gummibärchen aus der Küche geholt hatte. Lejla waren sie bisher noch nicht über den Weg gelaufen. Dana merkte schon, wie Melanie sich die ganze Zeit neugierig umsah.
„Krieg dich wieder ein“, sagte Dana und setzte sich neben sie auf die Couch, „Sie ist bestimmt gerade oben und räumt die Zimmer auf.“
Dana fand den Gedanken ein wenig lächerlich. Lejla und eine Putzkraft.
„Wenn die wirklich so schön ist, wie du mir den ganzen Weg über vorgeschwärmt hast, dann spannst du mich gerade richtig auf die Folter.“
„Sie ist nicht dein Typ“, beschwichtige Dana.
„Woher willst du denn das wissen?“
„Ich kenne dich seit vierzehn Jahren!“
„Ja und?“
„Und du hast schon auf Maskuline gestanden, seit du das letzte Mal ein Kleid getragen hast.“
„Sei leise“, grinste Melanie, „Diese Zeit hat es nie gegeben. Hast du mir versprochen.“
„Süß sahst du darin trotzdem aus“, entgegnete Dana strahlend, „Damals hätte ich dich sofort genommen.“
„Und warum nicht jetzt?“, Melanie grinste neckend.
„Weil du nicht mein Typ bist und ich meine beste Freundin bestimmt nicht angraben werde!“ Dana lachte und in dem Moment erblickten sie Lejla, die mit verschränkten Armen im Türrahmen stand.
„Darf ich mitlachen?“
Dana sah Melanie an, erwartete irgendeine bestimmte Reaktion, doch da kam nichts dergleichen. Sie lächelte Lejla an, wie sie jeden anderen auch anlächelte, sprang von der Couch auf und steuerte auf sie zu „Ich bin Mel. Danas Freundin.“
Lejla schüttelte Melanies Hand „Ich bin Lejla.“
„Ich weiß“, grinste Melanie und sprang wieder zu der versteiften Dana auf die Couch. Lejla hob überrascht eine Braue und sah flüchtig zu Dana. Melanie nickte „Ja ja. Mein Schatz redet viel, wenn der Tag lang ist, habe ich Recht, Maus?“ Melanie küsste sie flüchtig auf die Wange. Jetzt war Dana vollkommen verspannt. Was in Gottes Namen tat sie da? Ohne zu wissen warum, spielte sie das Theater einfach mit und lächelte herzlich. „Dein Schatz?“, fragte Lejla interessiert.
„Na, Dana und ich sind seit acht Monaten zusammen. Hat sie Ihnen das noch nicht erzählt?“
Dafür bringe ich dich um, dachte Dana, dafür bringe ich dich sowas von um!
Dana lächelte steif. Das Lächeln erreichte aber ihre Augen nicht. Eigentlich hätte sie wissen sollen, dass Melanie wieder nur irgendeinen Mist redete. Das hätte ihr sowas von klar sein sollen!
„Dann wünsche ich euch alles Gute, ihr Zwei.“ Lejla zwinkerte und ging durch das Wohnzimmer in die Küche „Darf ich mir ein Glas Wasser nehmen?“
„Bedien‘ dich“, rief Dana ihr zu und war erschrocken, wie unsicher und kleinlich sie auf einmal klang. Melanie stieß ihr unauffällig in die Seite und grinste sie an. Dana konnte das nicht erwidern. Im Gegenteil. Sie warf ihrer Freundin einen bösen Blick zu „Was sollte das denn gerade?“, zischte sie so, dass Lejla es nicht hörte.
„Du wolltest doch Hilfe!“
„Aber doch nicht so! Bist du bescheuert? Was denkt die denn jetzt bitte von mir?“
„Dass du lesbisch bist und mich liebst?“, entgegnete Melanie ironisch. Gerade als Dana wieder anfangen wollte zu meckern, kam Lejla aus der Küche „Ich mache dann mit dem Bad weiter.“ Ihr Blick schweifte ausdruckslos von Melanie zu Dana, „Falls irgendwas sein sollte.“ Dann war sie aus dem Wohnzimmer verschwunden. Dana drehte ihren Kopf zu Melanie und sah sie fassungslos an „Hast du das gesehen?“
Melanie zuckte unbekümmert die Schultern „Sie war nicht überrascht. Kommen wir zu Plan B.“
„Plan B? Was für ein Plan B?“
„Spiel einfach mit.“
Melanie griff nach Danas Hand, doch die entriss sie ihr wieder „Mach mal halblang, Mel!“ Seufzend strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht, „Ich glaube, das war keine gute Idee. Lassen wir es lieber. Ich habe sowieso keine Chance bei ihr.“ Melanie betrachtete ihre Freundin eine Weile mitleidig, dann rieb sie ihr die Schulter „Gib doch nicht gleich so schnell auf. Du hast es doch noch gar nicht wirklich versucht.“
„Was soll ich denn noch groß probieren? Es bringt nichts. Außerdem hält sie nichts von festen Beziehungen. Das war eine blöde Idee. Ich habe nicht genau darüber nachgedacht.“ Obwohl Melanie jemand war, der immer Rat wusste, war sie gerade ziemlich unsicher, was sie sagen sollte. Zum ersten Mal fühlte sie, wie verzweifelt Dana wirklich war. „Mist. Dich hat es ja echt erwischt, mh?“ Melanie legte eine Hand auf Danas Wange und fing ihren Blick auf. Dana genoss den Trost ihrer Freundin, dann schaute sie auf die Kekse und die Gummibärchen „Möchtest du heute bei uns schlafen? Dann machen wir einen gemütlichen Filmabend mit Chips und Cola und allem drumher-!“ Dana stockte der Atem, als Melanie ohne jegliche Vorwarnung die Lippen auf ihre presste. Es schien, als seien ihre Gedanken auf Pause gestellt worden. Alles was sie realisierte, waren diese überstürzenden Gefühle von Scham, Unsicherheit und einer seltsamen Mischung aus Grauen und Verlangen. Erst als sie aus ihrer Sekundenstarre erwachte und Lejla im Augenwinkel erblickte, wusste sie, was Melanie mit Plan B meinte. Ohne zu zögern öffnete sie ihre Lippen, ließ Melanies Zunge freie Bahn.
Zum Glück dauerte es nicht lange, da war Lejla wieder verschwunden und Melanie löste sich von Dana. Erst jetzt fühlte sie das Adrenalin in ihrem Körper prickeln, welches sich in Wut verwandelte und ohne darüber nachzudenken holte sie mit einer Hand aus und verpasste Melanie eine ordentliche Schelle.
Diese realisierte erst den lauten Knall, bevor sie den brennenden Schmerz verspürte und sich die Wange hielt. Trotz allem lachte sie laut los. Dana konnte nicht fassen, was gerade passiert war.
Es ging einfach alles zu schnell.
„Hast du das gesehen?“ Melanie sprach so leise sie konnte, aber Dana wusste, sie hätte laut jubeln können, wenn Lejla nicht im Haus gewesen wäre.
„Nein, tut mir leid, ich habe gar nichts gesehen“, spie Dana vor Wut, „Ich war zu sehr damit beschäftigt zu überlegen, ob ich dich jetzt umbringen soll oder nicht! Was zur gottverdammten Hölle sollte das?“
„Dana, reg dich ab!“ Melanie war nicht aus der Ruhe zu bringen. Sie griff nach Danas Arm „Wie sie geguckt hat! Wahnsinn.“ Auf Melanies Wange bildete sich ein knallroter Fleck und Dana überkamen sofort Schuldgefühle. Sie konnte noch nicht begreifen, was Melanie ihr da gerade gesagt hatte.
„Habe ich dir sehr weh getan?“, fragte sie reuevoll.
„Ach, das habe ich verdient. Passt schon“, grinste Melanie, „Aber hast du gehört?“
„Es hat ihr gefallen?“ Langsam wirkten Melanies Worte auf Dana. Sie fühlte, wie sich die Wut von vor wenigen Minuten in unbändiges Herzflattern und in einen viel zu großen Funken Hoffnung verwandelten. „Es hat ihr gefallen!“ Dana konnte den Worten keinen Glauben schenken.
„Und wie sie geguckt hat“, Melanie lachte laut auf, „Das erste Problem wäre also gelöst. Sie ist definitiv NICHT abgeneigt von Frauen. Bin ich gut oder bin ich gut?“
Dana grinste breit, dann sah sie Melanie aber ernst an „Mach das aber ja nie wieder. Sonst entscheide ich mich wirklich fürs Umbringen.“
„Du küsst irre!“
„Hast du mich gehört?“, rief Dana entsetzt und versuchte Melanies Worte zu ignorieren.
Melanie zwinkerte und biss sich auf die Lippen „Wäre ich dein Typ, würde ich sofort mit dir schlafen.“
„MEL!" Sie sah Melanie entrüstet an.
Diese grinste nur und zuckte die Schultern „Sorry, kommt nicht wieder vor."
Dana lächelte versöhnlich, stand dann allerdings auf und ging an das Fenster, um nach draußen zu sehen. Irgendwas hatte sie an ihre Outing-Zeit erinnert. Sie wusste nicht genau, woher die Erinnerung auf einmal kam, aber sie war da.

Sie lachen mich aus. Ich sitze in der Toilettenkabine und weine. Eine Zeitschrift schlittert unter der Kabine zu meinen Füßen. Ein Bild von einer nackten Frau. „Hier, vielleicht geht’s damit besser“, lacht ein Mädchen.
Ich weine nicht.
Ich will stark bleiben.
Ich kicke die Zeitschrift mit einem Fuß wieder zurück.
„Gefällt sie dir nicht? Ach so. Stimmt. Du stehst ja auf alte Säcke!“
Wieder lachen sie.
„Was ist mit deiner Mami? Hast du sie schon mal gefickt?“
Jetzt kann ich nicht mehr stark sein.
Alles bricht aus mir heraus.
Ich schreie, stoße die Tür auf, verletze dabei einige Mädchen und renne weg.
Ich verstecke mich im Fahrradkeller. Hier ist es schön ruhig.

Dana lehnte ihren Kopf an die kühle Scheibe und schloss die Augen.

Ich weine.
Ich vermisse Mami so sehr.
Warum ist sie ausgerechnet jetzt gegangen? Sie hat versprochen, immer für mich da zu sein. Sie hat mich im Arm gehalten, als Leah und Janine eine Attacke im Internet auf mich ausgeübt haben, sie hat mich im Arm gehalten, als ich das erste Mal Papa mit einer anderen Frau schlafen gesehen habe. Sie sagte, alles wird gut.
Nichts ist gut geworden.
Alles ist schlimmer geworden.

Dana fühlte eine vertraute Hand auf ihrer Schulter ruhen. Melanies anderer Arm schlang sich um ihre Hüfte und zog sie an sich heran „Tut mir leid“, flüsterte sie Dana ins Ohr, „Ich wusste nicht, dass dir das wirklich so nah geht.“
Dana schwieg, drehte sich zu Melanie um und vergrub das Gesicht in ihrer Schulter. Der Duft von ihrem fein-herben Parfüm, schlich sich in ihre Nase. „Schon in Ordnung. Ich... es liegt nicht an dir."

„Ich kenn dich doch“, Melanie schaut mir in die Augen, „Du lügst mich immer an. Denkst du, ich bin blöd?“
Ich senke den Kopf und versuche den Schmerz in mir zu ignorieren, den sie in mir auslöst.
Sie schnappt sich ihre Jacke und verlässt unser Haus.
Sie geht zu Ronja, dem Mädchen, das neu in unsere Nachbarschaft gezogen ist.
Die beiden verstehen sich zurzeit sowieso viel besser.

Dana versuchte auf andere Gedanken zu kommen. Melanies Nähe konnte sie gerade auch nicht beruhigen.

„Wartest du auf Melanie?“ Ronja kommt die Treppen hochgerannt und bleibt vor mir stehen. Ich warte vor Melanies Tür, dass sie in den Hof kommt.
„Ja“, sage ich. Gerade verstehen Ronja, Melanie und ich uns gut.
Eigentlich verstehe ich mich mit Ronja und Melanie immer gut.
Aber nur wenn wir alleine sind.
Ronja und ich reiben uns manchmal aneinander.
Wir haben uns diese Heftchen angesehen, die Papa im Schlafzimmer versteckt hat. Mit diesen vielen Bildern wo die Männer und Frauen sich anfassen. Das gefällt uns. Als Geheimwort, haben wir gesagt, wir sind rollig. Dann sind wir auf die Toilette gegangen, und haben uns aneinander gerieben.
Mit Melanie habe ich das auch oft gemacht.
Aber mit Melanie war es besser.
Wenn wir zusammen übernachtet haben, haben wir zusammen gebadet.
Dann haben wir uns gestreichelt und uns geküsst, wie es die Erwachsenen in diesen Filmen immer machen.
Da war ich Acht oder Neun.
Als Melanie und ich das nicht mehr gemacht haben, kam Ronja.
Und ich habe es mit ihr gemacht, fast wie Papa...................

Dana schaute Melanie nachdenklich in die Augen.

Jetzt, mit Elf, machen wir es gar nicht mehr.
Melanie ist drei Jahre älter als ich. Vielleicht findet sie, ich bin ein Kind und will es deshalb nicht mehr. Mama hat sowieso immer gesagt, sie wäre irgendwann zu erwachsen für mich.
„Glaubst du, Melanie mag dich?“, fragt mich Ronja, während sie am Treppengeländer herumturnt.
„Weiß ich nicht“, antworte ich.
„Sie hat zu mir gesagt, du bist eine dicke Kuh.“
„Aha“, sage ich, und tu so, als würde es mich nicht interessieren. Aber am liebsten würde ich nach Hause laufen und weinen.
Trotzdem verbringe ich den Tag mit Ronja und Melanie.
Obwohl sie mich gar nicht beachten.

Dana machte einen Schritt zurück und löste sich aus Melanies Berührungen. Die Zeit damals war beinahe unerträglich. Drei waren nun mal Einer zu viel. Heute, nach sieben Jahren, hatte sich alles geändert. Melanie und Dana waren unzertrennliche Freunde geworden. Sie hatten nie wieder ein Wort über die Zeit verloren und zu Ronja gab es keinen Kontakt mehr. Dana mochte Melanie.
Nein, das war untertrieben. Sie liebte Melanie. Sie war sowas wie die Schwester, die sie niemals hatte. Es war nicht gut gewesen, sie zu küssen. 
Melanie hatte sich sehr verändert - sowohl wesentlich, als auch optisch - und Dana merkte, dass Mel eigentlich verdammt gut, sogar anziehend aussah, wenn man sie nicht als beste Freundin betrachtete. Das durfte aber nicht sein. Sie fühlte sich überfordert. „Ich glaube, es ist besser, wenn du jetzt gehst“, murmelte sie leise, ohne ihr dabei ins Gesicht zu sehen.
„Willst du nicht lieber reden?“
„Nein. Geh bitte. Ich brauche meine Ruhe.“
Melanie sagte nichts mehr. Sie sah Dana nur traurig an. Sie konnte doch nicht wissen, dass Dana wegen dem Kuss so ausrasten würde. Sie bereute es.
Zögernd ging sie in den Flur und fing an, sich anzuziehen.
Dana sah auf den Boden und ignorierte das Brennen der ansteigenden Tränen.
Melanie legte die Hand auf die Türklinke und drückte sie runter. Noch einmal schaute sie zurück zu Dana, doch als sie sich sicher war, das nichts mehr kommen würde, verließ sie das Haus.
Dana sackte in die Knie, vergrub ihr Gesicht in den Händen und fing an zu weinen.

„Ich habe nie gesagt, dass du fett bist. Das war Ronja!“
„Du Pickelpinocchio!“
„Urwald-Pussy!“
„Scheiß Lesbe!“
„Hässlichkeit!“
„Fette Kuh!“
„Schweißtitte!“

Dana schluchzte und schniefte und schaffte es gerade einfach nicht, diesem Kummer zu entkommen. Diesen Erinnerungen. Das Loch unter ihr breitete sich immer mehr aus, sie fand keinen Halt. Sie konnte gar nicht verstehen, warum das jetzt passierte. Sie war keine Person, die nah am Wasser gebaut war. Schon gar nicht hing sie der Vergangenheit hinterher. Obwohl sie wusste, dass die Tränen lächerlich waren, konnte sie diese nicht bändigen.
Sie hörte nicht einmal, als Lejla in das Wohnzimmer kam.
Sie erstarrte mitten im Türrahmen mit dem Wäschekorb unter ihrem Arm und sah erschrocken zu Dana herab. Ohne langes Fackeln stellte sie die Wäsche ab und eilte zu Dana auf den Boden. Sie kniete sich neben sie und legte einen Arm um den sich vor Trauer schüttelnden Körper. Als hätte man mit einer Peitsche ausgeholt, riss Dana ihren Kopf hoch und sah Lejla erschrocken in das Gesicht. Das war nicht gut. Gar nicht gut. „Nein“, schluchzte Dana, sprang vom Boden auf und stolperte mit einigen Sätzen auf ihr Zimmer. Das war der Moment, in dem sie am liebsten ihren Kopf an die Wand geschlagen hätte.
Lejla hat mich weinen sehen, dachte sie hilflos. Das war alles andere als gut. Reicht es nicht schon, dass Lejla sie sowieso schon als Tochter sieht? Musste sie sich dann auch noch wie ein Baby aufführen?
Alles gut, schalt sich Dana, lief in ihrem Zimmer auf und ab und achtete darauf, wieder regelmäßig zu atmen, das alles ist Vergangenheit. Denk einfach nicht mehr daran. Du kannst es sowieso nicht mehr rückgängig machen. Ihre Fußballen traten vor Aufregung fest in den Boden. Es fühlte sich an, als würde ihr ganzes Zimmer vibrieren.
Elf, Zwölf, Dreizehn …
Sie zählte ihre Herzschläge und langsam merkte sie, wie sie zur Ruhe kam.
„So ist es gut“, sagte sie zu sich selber, blieb endlich stehen und atmete einmal tief durch.
Im Spiegel, der ihr gegenüber stand, sah sie, wie sich der Mascara über ihr Gesicht verteilt hatte.
Sie zog Grimassen.
„Du bist bescheuert, Dana. Die beste Freundin so kalt abblitzen zu lassen.“ Dana schüttelte den Kopf über sich selbst und setzte sich vor ihrem Spiegelbild in den Schneidersitz. „Dabei wollte sie dir doch nur helfen!“
Sie legte ihre flache Hand an den Spiegel. Die Kälte des Glases zog durch ihren ganzen Körper. Lange saß sie einfach nur da, sah dem Mädchen in die Augen, das ihr gegenübersaß und dachte immer an das, was sie sich beigebracht hatte: „Lerne, dich selbst zu lieben. Du bist nicht fett, du bist nicht hässlich. Du hast auch keine Schweißtitten. Du bist ein hübsches, schlankes Mädchen. Einzigartig. Nicht perfekt, nicht vollkommen, aber einzigartig.“
Dana mochte ihre Augen zum Beispiel sehr gerne.
Für ihr Lächeln hatte sie auch schon sehr oft Komplimente bekommen.
Sie seufzte.
Ihre Hand wanderte zu ihrem Gesicht.
Ihre Haut war weich.
Die Lippen leicht gerötet.
Melanie nannte sie manchmal Schneewittchen.
Von Erwachsenen hörte sie das auch oft.
„Siehst du“, sagte sie leise, „So hässlich bist du doch gar nicht.“
Sie streifte sanft mit den Fingern über ihre Lippen.
Dana schloss die Augen und stellte sich vor, dass es Lejlas Hände wären, die jetzt von ihrem Hals, hinab an ihr Dekolletee streichelten.
Es klopfte an der Tür und Dana riss sofort die Augen auf. Ihr Herz schlug in schnellem Tempo weiter und sie strich sich hektisch ein paar Strähnen aus dem Gesicht, bevor sie „herein“ rief und Lejla in ihrem Zimmer stand.
Sie schloss die Tür hinter sich.
Dana stand auf.
Sie sahen sich an.
„Es tut mir leid.“
Lejla legte die Stirn in Falten „Dir tut es leid? Nein, Dana. Mir tut es leid.“
„Du wolltest mich bloß trösten“, sagte Dana ruhig und fuhr sich müde über das Gesicht, „Hör zu, es war ein dummes Missverständnis. Ich bin eben niemand, der sich gerne trösten lässt. Das hat gar nichts damit zu tun, dass ich dich nicht mag, oder dass ich Angst habe, dass du meine Mutter ersetzen...“
„Ich weiß“, unterbrach Lejla sie sanft und ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel.
Dana hielt den Atem an.
Sie senkte den Blick und starrte auf einen Fleck am Fußboden.
„Sprich dich aus“, sagte Lejla und lehnte sich an die Wand.
„Melanie und ich sind kein Paar.“
„Ich weiß.“
Dana seufzte und sah Lejla in das Gesicht „Gibt es eigentlich etwas, was du nicht weißt?“
„Ganz viel“, entgegnete Lejla ruhig und lächelte Dana ehrlich an, „Zum Beispiel, warum die Erde rund ist oder Adam und Eva einen Bauchnabel hatten, wenn sie doch die ersten Menschen auf der Welt waren.“
Dana entwich ein Lächeln „Darüber denkst du wirklich nach?“
„Nein“, sagte Lejla, „Was ich nicht weiß, interessiert mich nicht. Fertig. Ich muss nicht alles wissen. Und den Dingen, von denen ich weiß, gebe ich keine große Bedeutung.“
„Nicht?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Würde ich allem eine Bedeutung geben, würde ich mich nur stressen. Und ich hasse Stress.“
Dana lächelte. Lejla war so …
Lejla.
Es gab keine Definition für sie.
„Aber ich bin froh, dass du dich beruhigt hast“, sagte Lejla nach einer längeren Schweigeminute, „Ich wollte nicht gehen, bevor ich mir nicht sicher war, dass es dir besser geht.“
„Du musst gehen?“
„Ja natürlich“, lachte sie, „Denkst du, ich habe kein Dach über dem Kopf?“
„Wo wohnst du?“
Wieder lachte Lejla ihr Engelslachen.
Dana wartete.
„Das sage ich dir, wenn die Zeit gekommen ist.“
Dana konnte mit dem Lächeln gar nicht mehr aufhören. Am liebsten hätte sie sich einfach um Lejlas Hals geschmissen, hätte ihre Lippen auf Lejlas gedrückt und sie wild und hemmungslos geküsst. Hätte ihren Körper fest an sie gedrückt. Sie wollte jeden Winkel fühlen und erkunden…
„Also, ich gehe. Morgen ist ein neuer Tag.“
Gerade wollte Lejla aus der Tür, da drehte sie sich noch einmal zu Dana um „Übrigens: Ich weiß, dass dir etwas auf dem Herzen liegt. Ich warte nur, bis du von dir aus kommst, und mit mir sprichst.“ Sie zwinkerte noch einmal und verließ Danas Zimmer.

Diese Nacht konnte Dana nicht ruhig schlafen. Ihre Gedanken kreisten ununterbrochen um Lejla.
Lejla, Lejla, Lejla.
Und Melanie.
Wie sollte sie das bloß wieder gut machen? Die eigene beste Freundin so abblitzen zu lassen, war wirklich nicht gerade die feine Englische Art. Und ob Melanie ihr das je verzeihen würde? Am liebsten hätte sie sofort bei ihr angerufen und sich entschuldigt, aber es war mitten in der Nacht und Melanie würde einen Wutanfall bekommen, wenn sie aus ihrem Tiefschlaf gerissen wird.
Also doch bis morgen warten.
Dana drehte sich auf ihre andere Seite und ihr Blick fiel auf die Uhr.
Schon nach Mitternacht und Papa ist immer noch nicht da, dachte sie, was soll’s. Vermutlich ist er sowieso nur wieder bei einer neuen Frau.
Seufzend drehte sie sich auf den Rücken und starrte an die Decke.
Sie dachte an dieses dumme Klischee mit den kurzen Fingernägeln.
Es gab gerade alles Mögliche, worüber sie sonst hätte nachdenken können, aber nein. Es war ausgerechnet das Thema, welches sie am meisten aufregte.
Was, du bist lesbisch?
So siehst du gar nicht aus!
Oder:
Bist du der Mann oder die Frau in der Beziehung?
Oder:
Du hast einfach noch nicht den Richtigen gefunden.
Dana schüttelte verärgert den Kopf und hob ihre Hände in die Höhe. Sie betrachtete ihre kurzen Nägel. „Ein verdammtes Gerücht“, murmelte sie und dachte an Melanie. Klar, wer an diese Klischees glaubte, war Melanie natürlich ein perfektes Beispiel dafür. Kurze Haare, ungeschminkt (oder wenn, dann nur sehr dezent), Piercings, sportlicher Stil.
Aber was war dann mit Dana?
Sie war durch und durch ein Mädchen.
Mit allem drum und dran.
Sie liebte Kleider, sie liebte Schminke (wenn auch nicht unbedingt 5 Kilo), sie liebte Pferde, Blumen und alles was sonst noch in die rosarote, Schmetterling pupsende und Regenbogen fressende Einhorn-Welt passte.
Das war allerdings nicht unbedingt immer ein Vorteil.
Es wurde bisher noch nie wirklich ein Mädchen auf sie aufmerksam. Geschweigedenn eine Frau. Denn alle gehen ja davon aus, sie sei hetero. Dauernd wurde sie von Jungs beturtelt. Bekam Komplimente, Blumen, Pralinen und sonstige Geschenke. Und obwohl sie jedes Mal sagte, dass sie nichts von Jungs will, weil sie auf Frauen steht, kriegen diese seltsamen Wesen das nicht in ihre Erbsenhirne!
Gut, zugegeben.
Es war einmal ein Junge dabei, dem sie zu Füßen gefallen wäre. Er war in ihrem Alter, sah allerdings aus wie Vierzehn. Er war süß. Ein typischer Beschützerinstinkt, den Dana, seit sie denken konnte, hatte, breitete sich immer in ihr aus, wenn er in ihrer Nähe war.
Bis er ihr gestand, dass er sich in sie verliebt hatte.
Sie hatte ihm sofort klipp und klar gesagt, dass sie kein Interesse an Männern hatte.
Er war der Einzige, der nicht zwanghaft versucht hatte, sie umzustimmen. Sie erinnerte sich nur an eine Konversation mit ihm im Internet:
Ich habe mich total in dich verliebt.
Es tut mir leid, ich habe dir gesagt, wie die Sache ist …
Ja… aber können wir es nicht versuchen?
Was versuchen?
Na, uns lieb haben…
Dana lächelte heute noch darüber. Und hätte er sich nicht Hals über Kopf in sie verliebt, wären sie heute vielleicht sogar richtig gute Freunde.
Die Haustür fiel ins Schloss.
Dana richtete sich auf.
Ihr Vater war endlich zu Hause.
Dana sprang aus ihrem Bett, zog sich ein Sweatshirt über und lief die Treppen runter zu ihrem Papa. Bevor sie ihm um den Hals fiel, erkannte sie sofort, dass er nicht bei einer neuen Frau gewesen war. Dafür sah er viel zu gestresst aus. Die Falten auf seiner Stirn warfen tiefe Schatten und seine Augen waren ganz klein vor Müdigkeit.
„Was ist los?“, fragte Dana, nachdem sie sich von ihm gelöst hatte.
Til zog erschöpft seine Schuhe aus und wuschelte seiner Tochter durch die Haare, wie er es immer tat. „Die Arbeit“, erklärte er und steuert ins Wohnzimmer. Dana folgte ihm. Irgendwas war da noch „Und sonst?“
Til zögerte, dann setzte er sich auf die Couch „Lejla hat angerufen.“
„Oh“, machte Dana geistreich und hatte schlagartig ein mulmiges Gefühl im Bauch. Hatte sie ihm irgendwas von Danas kleinem Zusammenbruch erzählt? Bitte nicht…
„Sie hat gekündigt.“
„Was?“ Dana klang viel entsetzter, als sie es gewollt hatte. Jetzt erschien ihr die Befürchtung, dass Lejla sie an ihren Vater verraten hatte können, viel angenehmer.
„Aber sie war doch nur einen Tag da!“ Sie machte sich nicht die Mühe ihrem Vater zu verbergen, dass sie Lejla mochte.
Dana ging um den Wohnzimmertisch herum und setzte sich neben ihren Vater.
„Sie hat keinen Grund angegeben. Sie wollte einfach nicht mehr kommen.“ Aus seinen betrübten Gesichtszügen befreite sich ein scherzendes Grinsen „Vermutlich sind wir ihr zu schmutzig.“
Dana konnte sein Lächeln nicht erwidern. Lejla war weg. Sie war doch bloß einen Tag da!
Ich weiß, dass dir etwas auf dem Herzen liegt. Ich warte nur, bis du von dir aus zu mir kommst.
„Hast du ihre Handynummer?“
„Nein.“
„Wie, nein?“
„Sie ruft mich immer unterdrückt an.“
„Und was ist, wenn du sie mal brauchst?“
„Tja“, antwortete Til.
Dana verdrehte innerlich über Lejla die Augen.
„Dann hast du vermutlich auch keine E-Mail Adresse von ihr?“
Til sah Dana endlich direkt in die Augen. Die Fragezeichen waren ihm sichtlich ins Gesicht geschrieben „Sag mal, ist irgendwas zwischen euch gelaufen, seit ich weg war?“
Obwohl er das ironisch meinte, nahm Dana diese Frage sehr zu Herzen „Nein. Ich meine, wir verstehen uns. Ich mag sie. Also. Hast du?“
„Na, eine E-Mail Adresse …“, er dachte kurz nach, „Warte mal.“ Til stand von der Couch auf und ging zurück in den Flur. Er durchwühlte seinen Mantel und zog einen kleinen Zettel heraus. Dann ging er zurück zu Dana und reichte ihr den Zettel „Sie hat mir allerdings gesagt, ich soll sie niemandem weitergeben.“
Dana las die E-Mail Adresse … „Sünderin“, murmelte sie leise und sah dann ihren Vater an, „Warum nennt sie sich Sünderin?“
Til lächelte „Lejla halt.“
„So was von typisch“, bestätigte Dana, dann steckte sie den Zettel weg. Sie bemerkte Tils skeptischen Blick „Keine Sorge. Ich habe ihn gefunden. Und du warst natürlich stinksauer, dass ich in deinen Sachen gewühlt habe.“
Til lächelte und fuhr Dana wieder über den Kopf „Du bist ein Engel. Und vielleicht schaffst du es ja auch, sie zurück zu holen.“ Er zwinkerte. Dana seufzte, wagte aber nicht zu sagen, dass er sich keine zu großen Hoffnungen machen solle. „Ich werde mich dann aufs Ohr hauen. Morgen ist wieder ein langer Tag und ich bin todmüde.“
„Ist klar. Ich gehe auch schlafen“, sagte sie und gab ihrem Vater einen flüchtigen Kuss auf seine piksende Wange. Dann rieb sie sich die Lippen und sah ihn vorwurfsvoll an „Also, Dreitagebärte stehen dir, aber auf die Bussis musst du dann wohl oder übel verzichten.“ Til lachte und gemeinsam gingen sie nach oben. Dana in ihr Zimmer, Til in sein Zimmer.

Am Sonntag wachte sie diesmal zu gewohnten Wochenendzeiten auf. Es war elf Uhr vormittags und ihr Bett erschien Dana so gemütlich, dass sie beinahe der Versuchung verfiel, einen faulen Tag zu machen, bis ihr einfiel, dass sie noch einige Sachen zu erledigen hatte. Und als aller erstes war Melanie dran.
Also stieg sie aus dem Bett, zog sich an und lief in die Küche. Til hatte ihr zwei Spiegeleier in den Kühlschrank getan. Aber sie hatte keinen Hunger. Und alleine frühstücken wollte sie schon gar nicht.
Papa hat echt beschissene Arbeitszeiten, dachte sie, Montag und Dienstag ist er frei. Aber davon konnte sie sich auch nichts kaufen. Da war sie in der Schule.
Ein wenig betrübt zog sie sich eine beige Jacke über den schwarzen Pullover, dann schlüpfte sie in passende Schuhe und verließ fluchtartig das Haus. Nur wenige Sekunden später hielt sie an und klatschte sich an die Stirn „Scheiße! Der Schlüssel!“ Jetzt war es zu spät – sie hatte sich ausgesperrt. „Du bist so ein Trottel, Dana“, schimpfte sie mit sich selber und ging eilig weiter. Melanie müsste inzwischen schon wach sein – sofern sie nicht wieder feiern war. Dana hatte das Glück, dass Melanie nur zwei Blocks weiter wohnte und deshalb musste sie keine allzu lange Strecke auf sich nehmen. Mit Herzdonnern klingelte sie bei Familie Brooke - ja, Mel's Familie kam aus Amerika.
„Hallo?“ Melanies Mutter war am Hörer. Im Hintergrund hörte sie Melanies kleinen Geschwister schreien, lachen und den kleinsten von ihnen weinen.
„Hier ist Dana.“
„Aaah, hallo!“ Die Tür wurde aufgesperrt.
Danielle, Melanies Mutter, hieß Dana immer herzlich willkommen.
Dana nahm gleich zwei Stufen auf einmal und kam schnell im obersten Stockwerk an.
Warum wohnte eigentlich jeder, den sie kannte, im obersten Stock? Und keiner von denen hatte einen Aufzug. Zum Kotzen.
„Hallo“, lächelte Danielle und öffnete die Tür sperrangelweit für Dana. In ihren Armen hielt sie den kleinen Damian, dessen Gesicht ganz rot angelaufen war, vom vielen Weinen. „Hallo“, lächelte Dana und stolperte beinahe über Mikeyla und Lilly, die lachend und schreiend in der Wohnung fangen spielten.
Danielle schloss die Tür hinter sich „Lilly, Kiki! Im Haus wird nicht gerannt!“ Schrie die Mutter und der Zweijährige auf ihren Armen fing wieder das Weinen an.
Was für ein Chaos!
Stöhnend sah sie Dana an „Tut mir leid. Der übliche Sonntagsstress. Melanie ist in ihrem Zimmer, falls du sie suchst.“
„Danke“, sagte Dana und wollte gerade den schmalen Gang entlang gehen, als Kiki vor ihr zum stehen kam „Kommst du zu uns spielen?“, fragte sie und strahlte Dana aus ihren großen, blauen Kulleraugen an. Lilly hatte sich hinter Kiki gestellt und betrachtete Dana schüchtern. So war sie immer. Anfangs unscheinbar und ruhig. Ängstlich und schüchtern. Aber wenn sie dann aufdrehte, dann war sie ein Monster.
Dana mochte Kiki lieber. Sie war zwar etwas aufgedrehter, aber dafür wusste sie, wo die Grenzen waren. „Tut mir leid, ich bin eigentlich gekommen, um mit Melanie zu reden.“
„Melanie hat aber gesagt, dass ihr euch gestritten habt“, sagte Kiki, während Lilly an ihren goldenen Löckchen herumspielte. „Lass das“, maulte Kiki und zog ihre Haare aus Lillys schokoladigen Händen.
„Habt ihr euch wieder vertragen? Seid ihr wieder Freunde?“
„Sei nicht so neugierig“, grinste Dana und wuschelte der Sechsjährigen durch die Haare, so wie es ihr Vater auch immer tat. Dann ging sie an Kiki vorbei und steuerte auf Melanies Zimmer zu.

Das Klopfen fiel Dana mehrfach schwerer, als das Zimmer zu betreten und Melanie dort auf ihrem Bett am Laptop sitzen zu sehen. Sie hob nicht einmal den Kopf, als Dana die Tür hinter sich schloss. Sie schien total in das Internet vertieft zu sein. Sollte sie vielleicht doch einfach umkehren und es sacken lassen? Sie fühlte sich seltsam fremd hier, in diesem Moment. Vielleicht sollte sie … „Komm mal her. Das musst du dir ansehen.“ Dana war so überrascht, dass sie erst einmal dachte, sie hätte die Sprache verlernt. Angewurzelt blieb sie stehen und musterte Melanie. Suchte nach irgendeinem Scherz oder Verrat, doch Melanie sah weiterhin konzentriert auf den Bildschirm. Langsam steuerte Dana auf Melanies Bett zu und setzte sich. Sie musterte Melanies Profil. „Sieh mal“, sie drehte ihren Laptop zu Dana und sah sie erwartungsvoll an, „Habe ich heute die ganze Zeit recherchiert…“ Dana beugte sich vor und überflog den Text. Im ersten Moment verstand sie nicht ganz. „Es gibt viele Beziehungen, bei denen sogar über dreißig Jahre Altersunterschied sind. Schau mal, die hier…“, Melanie klickte auf einen anderen Tab, „Die ist zweiundvierzig und ist mit einem Fünfzehnjährigen zusammen.“ Melanie seufzte laut „Die wahre Liebe gibt es eben doch noch.“
„Und was willst du mir nun damit sagen?“, fragte Dana und sah Melanie an.
„Na … vielleicht habt du und Lejla ja doch eine Chance.“
Dana stand stöhnend wieder von dem Bett auf „Ach, hör bitte damit auf … Lejla hat gekündigt.“ Melanie sah Dana fassungslos an und klappte ihr Laptop zu „Sie hat was? Warum?“ „Keine Ahnung. Papa sagt, sie hat keinen Grund angegeben.“
„Ganz toll. Und jetzt?“
Dana zuckte hilflos die Schultern und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden „Papa hat mir ihre E-Mail Adresse gegeben.“
„Und? Hast du ihr schon geschrieben?“
„Nein, noch nicht.“
„Worauf wartest du?“ Melanie grinste, klappte ihren Laptop auf und reichte ihn Dana, die ihn schweigend entgegennahm. Während die Seite lud, sah sie Melanie bedrückt an „Bist du… eigentlich nicht böse?“
„Böse? Warum sollte ich böse sein“
Dana sah Melanie an, klappte den Laptop zu und beschloss, die E-Mail später alleine und in Ruhe zu schreiben „Na ja, wegen gestern? Ich habe dich total… abblitzen lassen.“
„Ach, du spinnst doch. Ich habe mir nur Sorgen gemacht. Aber weißt du, ich kenne dich. Ich weiß, dass du deine Ruhe brauchst, wenn’s dir nicht gut geht.“
Dana fiel ein Stein vom Herzen. Sie legte den Laptop beiseite, stand vom Boden auf und fiel Melanie um den Hals „Du bist eine so gute Freundin. Was wäre ich bloß ohne dich?“
„Ein jungfräuliches Mädchen?“ Melanie  lachte.
Dana löste sich und schenkte ihr einen theatralisch, bösen Blick „Ich bin jungfräulich!“
Melanie tätschelte ihre Wange und lächelte entschuldigend „Du hast doch gestern darüber nachgedacht, stimmts?“
„Worüber?“ Dana wusste die Antwort, wollte sie aber trotzdem hören.
„Über früher. Ich meine, nach dem Kuss und dann wie du auf einmal so in Gedanken warst … das hätte selbst ein Blinder mit Krückstock gemerkt. Aber du wolltest ja dann nicht einmal mehr von mir in den Arm genommen werden.“ Der letzte Satz klang ein wenig verbittert und Dana hatte sofort ein schlechtes Gewissen. „Hey … nimm das nicht persönlich. Das war nicht … das war nicht …“, Dana suchte die richtigen Worte, „Nicht böse gemeint. Es war nur alles so … es hat mich total überstürzt.“
„Bereust du die Dinge, die passiert sind, von damals?“
Melanies Frage war ein Schlag ins Gesicht. Was sollte sie darauf antworten? Ja, ich bereue es, ja, ich würde alles anders machen. Ja, es war ein Fehler. Ja, ja ,ja, ja, ja! „Nein“, sagte Dana. Sie konnte Melanie nicht die Wahrheit sagen. Sie wollte sie nicht verletzen. Außerdem: was hätte das an ihrer Situation geändert? Nichts! Es war Vergangenheit und daran konnte man bekanntlich nicht mehr rütteln.
Beide schwiegen eine kurze Zeit lang, bis Kiki oder Lilly schreiend an Melanies Tür vorbeiliefen. Melanie stöhnte und verdrehte die Augen „Diese Zwombies nerven!“
Dana verzog das Gesicht und sah Melanie mitleidig an. Mit jüngeren Geschwistern könnte Dana auch niemals umgehen. Sie mochte Kinder zwar, aber nur, solange sie nicht zu ihrer engeren Familie gehörten. Und dann auch noch sechsjährige Zwillinge. Dana hatte größtes Mitgefühl.
„Wollen wir zu dir? Da haben wir wenigstens unsere Ruhe.“
Dana zog entschuldigend eine Grimasse „Habe mich ausgesperrt.“
„Oh nein. Das ist wieder so typisch. Und nun?“
„Kann ich heute bei dir übernachten?“
„Mit diesen Zwombies und dem kleinen Schreihals? Gehen wir doch lieber zu dir, wenn dein Papa da ist.“
„Frage ist nur, wann er kommt.“
„Dann gehen wir ins Kino!“ Melanie grinste.
„Hast du mir überhaupt zugehört? Ich habe mich ausgesperrt. Ich habe kein Geld, nichts!“
„Ich lade dich ein. Als Wiedergutmachung. Was sagst du?“
Dana überlegte eine Weile und spielte mit dem Ladekabel des Laptops. Melanie stupste mit einer Zehe an Danas Knie „Na komm schon.“
Seufzend hob Dana den Kopf „Meinetwegen. Gehen wir ins Kino.“

 
Der Kinoabend verging langsam und schleichend. Dana hatte nichts anderes im Kopf als Lejla. Allein schon diese schreckliche Tatsache, dass sie alles Mögliche mit ihr in Verbindung brachte. Wenn Melanie mit ihr sprach, bekam sie das nur nebenbei mit, weil sie so sehr in Gedanken war. Jetzt, nach dem Film, fühlte sich Dana seltsam müde und erschöpft.  Sie hoffte inständig, dass ihr Vater schon zu Hause war, aber leider wäre das ein Weltwunder gewesen. Immerhin kam er meistens nicht vor neun Uhr aus der Arbeit und wenn er dann auch einer hübschen Frau über den Weg lief, konnte Dana bis morgen Früh warten. Jetzt gerade bogen Melanie und sie in ihre Straße ein. Melanie quatschte Dana schon wieder voll. So viel, wie sie mitbekam, vermutlich über den Kinofilm. Dana trat die ganze Zeit einen kleinen Stein vor sich her, bis sie den Kopf hob und sah, dass das Licht im Haus brannte. „Papa ist schon da!“ Unterbrach sie Melanies Redeschwall und lief das letzte Stück bis zur Haustüre.  Melanie folgte ihr und sah sie fragend an, als sie sahen, dass die Tür einen kleinen Spalt offen stand. Das war aber wirklich ungewöhnlich für Danas Vater. Er achtete doch normalerweise immer so auf Sicherheit. Dana zog unschlüssig die Schultern in die Höhe und betrat mit einem dumpfen Gefühl das Haus. Licht brannte im Wohnzimmer. „Dana warte mal“, flüsterte Melanie und hielt sie am Handgelenk zurück, „Was ist, wenn das ein Einbrecher ist?“
„Spinn nicht rum.“ Dana löste sich aus Melanies Berührung und schlich langsam bis zum Ende des Flures. Das Wohnzimmer war leer, aber sie hörte in der Küche Schritte.
Klack, klack, klack
Klack, klack, klack
Danas Herz setzte für eine Sekunde aus und raste dann so schnell weiter, als müsste sie diese eine Sekunde millionenfach nachholen. Lejla!
„Dana?“ Melanie bemerkte Danas entsetzten Gesichtsausdruck und rüttelte vorsichtig an ihrer Schulter.
Dana drehte sich mit gemischten Gefühlen zu Melanie um. Sie hätte am liebsten losgeheult. Vor Freude? Vor Erleichterung?  Wusste der Geier warum.
Dana schüttelte fassungslos den Kopf und stolperte mit einem Bauchrumoren in die Küche.
Lejla drehte sich um und sah sie an.
„Was machst du hier?“, fragte Dana in einem Atemzug und musste sich in ihrem Gefühls-Wirr-Warr erst wieder selber finden. Melanie gesellte sich zu den beiden und hob zur Begrüßung kurz die Hand. Lejla sah flüchtig zu Melanie, dann blieb ihr Blick aber wieder an Dana heften „Ich hatte euren Schlüssel noch. Den wollte ich abgeben. Als keiner zu Hause war und ich gesehen habe, dass das Licht brennt, bin ich rein.“
„Einfach so? Du hast gekündigt!“ Dana sah sie vorwurfsvoll an und musterte die sauberen Teller, die Lejla ordentlich im Schrank gestapelt hatte.
„Ich dachte, ich warte, bis einer von euch kommt. Um euch den Schlüssel persönlich zu geben.“
Danas Hoffnung, dass Lejla ihre Kündigung vielleicht zurück nahm, zerplatzte wie eine Seifenblase. Schnell aber schmerzvoll. Als Dana darauf eine längere, zerreißend lange Minute schwieg, räusperte sich Melanie „Ich warte oben auf deinem Zimmer.“
Lejla und Dana standen sich noch eine kurze weitere Schweigeminute gegenüber, dann zog Lejla den Hausschlüssel aus ihrer engen Jeans und reichte ihn Dana. Sie zog die Hand weg.
Der Schlüssel fiel zu Boden.
Dana und Lejla sahen sich weiter starr in die Augen. Keiner sagte etwas. Danas Herz schlug so wild gegen ihr Brustkorb, dass es schon schmerzte.
Der Duft von J‘adore Dior schlich sich in ihre Nase.
Ihre Eingeweide verkrampften.
„Wir brauchen dich“, brachte sie mühsam heraus.
Lejla schwieg.
Dana hielt dieses Schweigen kaum aus. Es stellte ihre Nerven auf die Zerreißprobe und beinahe hätte sie geschrien: „Warum tust du das? Warum verdrehst du mir erst den Kopf und verschwindest dann ohne irgendeinen Grund?“ Aber sie schwieg. Schluckte ihre Angst.
„Du brauchst mich nicht“, verdrehte Lejla Dana die Wörter im Mund, „Du willst mich.“
Danas Herz verkrampfte.
Am liebsten  hätte sie vor Lejla auf den Boden gekotzt.
„Bitteschön, dann geh. Hau doch ab.“  Sie wollte schreien, doch stattdessen brachte sie kaum ein Flüstern heraus. Sie drehte sich um, ließ den Schlüssel auf dem Boden liegen und lief hoch in ihr Zimmer, wo Melanie schon ungeduldig wartete.
In der Tür brach Dana in Tränen aus.
Sofort sprang Melanie auf und hielt Dana fest in ihren Armen „Süße, was ist los?“
„Lejla ist los. Weißt du? Ich habe gar keine Lust auf diese Scheiße. Soll sie doch gehen. Ich will sie vergessen…“
Melanie strich ihrer Freundin die Haare aus dem Gesicht und fing ihren Blick auf „Hör auf damit. Sonst gibst du doch auch nicht einfach so auf.“
Dana schüttelte den Kopf und befreite sich aus Melanies Umarmung. Sie warf sich aufs Bett und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht „Bei Lejla habe ich sowieso keine Chance. Es macht keinen Sinn. Außerdem ist das doch total lächerlich. Ich meine, ich kenne sie doch gar nicht wirklich!“
„Man, du bist echt unglaublich optimistisch“, sagte Melanie sarkastisch und setzte sich neben Dana auf das Bett.
„Willst du mich verarschen, Mel? Ich bin siebzehn! Sei mal ehrlich, du kennst mich doch gut genug. Zähle mir ein Liebesdrama in meinem Leben auf, das nicht beschissen ausgegangen ist.“
Melanie schwieg.
„Vergiss es“, seufzte Dana und kugelte sich zu einem Embryo zusammen, „Ich sterbe allein.“
„Jetzt steigerst du dich aber wirklich.“
„Ach ja? Du weißt genau, dass ich Recht habe.“
„Aber warum gibst du dann nicht auch mal anderen eine Chance?“
Dana lachte emotionslos auf.
„Ich meine, was ist mit dieser Jennifer? War die nicht total in dich verknallt?“
„Sie ist sechzehn!“
Melanie schüttelte fassungslos den Kopf und zog die Beine an sich ran, um ihren Kinn darauf abzulegen.
„Und Pia? Die war achtzehn und war hin und weg von dir. Sie hat mich erst vor einer Woche nach dir gefragt.“
Dana stöhnte genervt auf „Hör auf damit, Mel. Du weißt es besser als ich. Die sind alle gleich.“
„Du hast nen Schaden“, seufzte Melanie, „Ich kenne echt keinen Menschen, der auf Leute steht, die ihre Mütter sein könnten.“
„Lejla könnte nicht meine Mutter sein!“ Dana spürte, wie die Wut immer mehr in ihr aufbrodelte und wäre sie weiter liegen geblieben, wäre sie vor Adrenalin erstickt. Sie richtete sich auf und funkelte Melanie an „Ich hasse Jugendliche . Das weißt du genau.“
„Warum?“, Melanie war sichtlich überrascht. Klar, war Dana anzusehen, dass sie wirklich anders als andere in ihrem Alter war und dass sie viel mehr Kontakt mit wesentlich älteren Leuten hatte, aber so direkt hatte Dana ihr das noch nie gesagt.
„Sie sind alle gleich. Eine Horde Hyänen. Sie wissen nicht was sie wollen, denken nur an Jungs, Schminke und Klamotten. Ich meine, schau sie dir doch mal an. Die laufen alle gleich rum. Wie so künstliche Puppen-Klone. Einfach nur total gruslig und widerlich unreif“, brauste Dana auf.
„Ach, und du bist besser?“, forderte Melanie sie heraus. Sie wusste genau, dass Dana so etwas hasste.
„Das sage ich doch gar nicht“, knurrte sie voll in ihrem Element und jetzt war sie gar nicht mehr zu halten, „Mit diesen gehirnamputierten Weibern kann man nicht reden. Sie haben kein Verständnis, sie sind strohdumm. Es geht nur um Party, kiffen, saufen, ficken und so wenig wie möglich anhaben um zu zeigen, wie geil und jung sie doch noch sind. Los, holt mich. Ich bin für jeden zu haben“,  äffte Dana, „Alle gleich. Kindisch. Sie regen mich einfach total auf.“
Melanie war sprachlos.
Sie hätte nie damit gerechnet, dass Dana so einen Hass auf andere ausüben kann.
Ausgerechnet Dana, die normalerweise für jeden Regenwurm zurücklaufen würde, um ihn von der gefährlichen Straße zu nehmen und sich über jede Kleinigkeit begeistern konnte.
„Und was ist mit mir?“, fragte Melanie vorsichtig, „Hältst du mich dann nicht auch für eine Hyäne? Oder gehört die Zwanzig nicht mehr zu deinem Hyänen-Alter?“
Dana nestelte an ihrer Bettdecke „Bei dir ist es anders, Mel. Dich kenne ich doch schon so lange, und du … wirkst auch viel reifer. Aber Kiara ist für mich eine Hyäne.“
„Kiara? Ich dachte, ihr mögt euch?!“
Dana zuckte die Schultern „Wir kennen uns seit der sechsten Klasse und… ja, ich mag sie schon irgendwo. Aber sie ist genauso wie alle anderen. Sie kann auch kein Single-Leben führen. Das merkst ja ausgerechnet du. Dann die ganze Zeit dieses Yolo-Hipster-Swag Gelaber… das hängt mir zum Hals raus. Außerdem hängt sie immer am Handy, wenn wir uns treffen. Darauf habe ich schon gar keine Lust mehr.“
„Du hast wirklich Ansprüche“, seufzte Melanie und rieb Danas Knie. Sie merkte, dass ihre Freundin jetzt dringend Ablenkung brauchte. Nur wie? Selbst im Kino war sie nie wirklich da. Und auch jetzt schienen Danas Gedanken sich nur um Lejla zu drehen.
„Ich will nicht dass sie geht“, murmelte Dana bestätigend in Melanies Gedanken, „Nicht einfach so. Ohne mir irgendeinen Grund zu nennen.“
„Ist sie noch da?“
Dana schüttelte den Kopf. Insgeheim hoffte sie, sie stünde noch unten in der Küche. Hoffte, sie hätte den Schlüssel wieder aufgehoben und weg gesteckt.
Aber sie wusste es besser.
Lejla war weg.

Und jetzt stand sie wieder dort. Vor demselben Eingang, vor dem sie bis vor zwei Tagen noch geflüchtet war. Aufgetakelt und in einem sehr knappen Kleid, welches Melanie ihr ausgesucht hatte. Dana blieb stur vor der Tür stehen. Melanie zerrte an ihrem Handgelenk „Nun komm schon! Du siehst klasse aus!“
„Darum geht’s doch gar nicht“, erklärte Dana und hielt dem Zug stand, den Melanie mit ihrem Zerren verursachte.
„Worum denn dann?“
„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Ich meine…“
„Vertraue mir. Diesmal wirst du mit mir tanzen. Und wenn du noch so stur bist.“
Dana riss sich los, weil sie dieses Zerren nervte. Melanie stellte sich hinter sie und schob sie an „Jetzt komm. Es wird dir gut tun. Vertrau mir!“
Okay, bis vor einer Stunde dachte Dana, es wäre gar keine so schlechte Idee. Sie war mit etwas beschäftigt, was sie hasste: Partys. Und konnte nebenbei Lejla und den ganzen Scheiß vergessen. Lieber quälte sie sich mit dieser Party, als mit Gedanken an diese Frau. Und außerdem hatten Melanie und sie echt viel Zeit investiert, um Dana so in Schale zu werfen. Melanie hob eine Braue.
„Na schön“, seufzte Dana und stolperte schließlich mit Melanie in ihre eigene Verdammnis.
Lautes Gejaule, Gestank und Hitze.
Genau das, wovor sie geflohen war.
Oh man, ich muss einen Totalschaden haben, dachte Dana, während Melanie sie durch das ganze Gedränge und die halbnackten Körper auf der Tanzfläche zog. Es war so eng und stickig, Dana hatte das Gefühl an Kohlenstoffdioxid Mangel zu sterben.
Kurz bevor sie an der Bar ankamen, lief Dana versehentlich voller Karacho in eine junge Frau. Ihr Körper war verschwitzt, trotzdem duftete sie gut. Dana sah ihr in das Gesicht und lächelte sie entschuldigend an. Das Mädchen, das ca. so alt sein musste wie Melanie, erwiderte das Lächeln und verschwand wieder in der Menge.
Kopfschüttelnd und ein wenig irritiert ging sie weiter zu Melanie an die Bar.
Warum hat die mich so angesehen?
Melanie schob ihr ein Glas zu. Cola.
„Danke“, rief Dana über die Musik hinweg und trank einen kräftigen Schluck.
„Na so ein Zufall!“
Dana sah in das Gesicht des Barkeepers vom letzten Mal und musste lächeln. Er war ihr sympathisch gewesen. Und sie war froh, dass er wieder da war.
„Ich hätte nicht damit gerechnet, dass du wieder kommst. So fluchtartig, wie du die Disco letztens verlassen hast.“ Er trocknete gerade ein Glas ab und stellte es weg. Dann stützte er sich auf die Theke und sah Dana an.
„Hatte ich eigentlich auch nicht vor“, erklärte sie und warf Melanie einen vielsagenden Blick zu, den der Junge sofort verstand und lachte.
„Dafür hast du was gut bei mir“, zwinkerte er Melanie zu.
Wie meint der das jetzt? Dana hatte ein ungutes Gefühl.
Melanie deutete Danas Blick ganz richtig und zwinkerte zurück „Du kannst ihr eine hübsche Dame besorgen und sie damit glücklich machen.“
Dem Jungen entfielen alle Gesichtszüge. Er sah Dana an und man merkte, wie er irgendwie unruhig wurde „Du stehst auf Frauen?“
Dana nickte einmal knapp und war froh, dass Melanie den groben Teil übernommen hatte. Kurz und knapp.
„Sorry… aber so siehst du gar nicht aus.“
Du Idiot! Ich wünsche dir die Krätze an den Hals! Dana wäre ihm beinahe an die Gurgel gegangen. Konnten sich Männer diesen beschissenen Satz nicht einmal verkneifen?
„Gehen wir tanzen“, forderte Dana Melanie auf, bevor sie auf den Barkeeper losging. Ihre Sympathie für ihn war verflogen.
Alle gleich.
„Aber klar doch“, grinste Melanie und zog Dana an der Hand auf die Tanzfläche.
Kaum zu glauben, aber sie hatte wirklich Spaß dabei, mit Melanie zu tanzen. Klar, die Musik war furchtbar, und anfangs hatte sie Probleme locker zu werden, doch nach und nach tanzten sie immer wilder, immer enger und die Zeit verflog. Es war bereits nach drei Uhr und Dana wusste, ihr Vater würde ihr den Kopf dafür abreißen. Allein schon wegen der Tatsache, dass morgen die Schule weiterging. Aber ehrlich gesagt kümmerte sie das in dem Moment nicht. Sie hatte Lejla tatsächlich vergessen. Und es ging ihr wunderbar.
„Du kannst ja richtig deine Hüften schwingen“, lachte Melanie und hörte auf zu tanzen, „Ich trinke kurz einen Schluck. Warte hier.“
Dana wollte schon widersprechen, dass sie sie nicht so einfach alleine hier stehen lassen konnte, doch da war sie schon unter den ganzen Köpfen verschwunden.
Na super…
Dana hörte auf zu tanzen. Alleine fühlte sie sich gar nicht mehr so wohl auf der Tanzfläche.
Irgendwie verloren und fremd. Mit Melanie hatte sie noch gar nicht darauf geachtet, wer alles um sie herum getanzt hatte. Jetzt nahm sie jeden einzelnen wahr. Das Mädel, dass sich genüsslich an einem Jungen rieb, die beide vermutlich schon extrem dicht waren, zwei Typen, die einer anderen das Alkohol von dem Dekolletee leckten … hier ging es echt zu.
Eine Hand streifte zärtlich Danas Arm entlang und verschränkte die Finger mit ihren. Erst dachte sie, es sei Melanie, doch als sie sich umdrehte, stand vor ihr das Mädchen, dass sie am Anfang versehentlich angerempelt hatte. Sie lächelte sie an „Willst du tanzen?“
Dana wollte schon wie so eine strunzdumme Statistenblondine fragen: Meinst du mich? Und auf sich deuten. Aber da die Frage ja offensichtlich war, zögerte sie nur.
„Wir können uns auch an die Bar setzen und etwas trinken, wenn du magst“, bot die Fremde an. Sie wartete.
Dann lächelte sie Dana wieder an.
„Na komm.“ Das Mädchen zog Dana aus der Menschenmenge und führte sie an die Bar. Ausgerechnet zu ihrem „Lieblings“-Barkeeper. Insgeheim freute sich Dana darüber, ihm eine mit der schönen Fremden reinzuwürgen.
„Was möchtest du? Ich gebe etwas für dich aus.“
Dana zögerte kurz. Eigentlich trank sie wirklich nur Cola. Aber würde sie nicht ausgelacht werden, wenn sie das sagte? „Ich nehme dasselbe wie du“, sagte Dana und hoffte inständig, dass es kein Alkohol war. Sie hasste Alkohol. Es schmeckte ihr einfach nicht.
Aber das Glück war heute Abend irgendwie nicht auf ihrer Seite.
Die Fremde bestellte zwei Cocktails und schob Dana eines zu.
Dana konnte die Gedanken des Barkeepers förmlich hören „Von wegen, Non-Alkohol.“ Aber bisher war es ja auch keine Lüge gewesen.
„Dankeschön“, sagte Dana und nippte einmal an dem Getränk. Sie musste sich beherrschen, nicht das Gesicht zu verziehen. Bah!
„Ich heiße übrigens Tamara. Wer bist du?“
„Dana.“
„Schöner Name“, lächelte Tamara und nippte ebenfalls an ihrem Getränk. Sie stellte es ab und schlug die nackten Beine über Kreuz. Dana merkte, dass sie ihr näher kam, aber das störte sie überhaupt nicht. Ihr gefiel, wie Tamara sie ansah.
„Was machst du hier alleine in der Disco?“
„Ähm“, machte Dana geistreich und sah sich flüchtig in der Menge um, „Eigentlich bin ich ja mit meiner Freundin gekommen.“
„Mit deiner Freundin?“ Tamara hob eine Braue. Dana grinste. Sie hatte es gewusst. Tamara war lesbisch. Das Interesse war ja kaum zu übersehen.
„Meine beste Freundin“, erklärte Dana, „Und du? Warum bist du alleine hier?“
„Man lernt mehr Leute kennen, wenn man alleine unterwegs ist“, lächelte Tamara und trank einen Schluck. Dana tat es ihr zwanghaft nach.
„Und wie alt bist du?“
„Vierundzwanzig.“
Dana nickte. Wusste sie doch. Nur drei Jahre älter als Melanie. Wo war die überhaupt? Dana könnte sich schon wieder furchtbar über sie aufregen.
„Und du?“
„Siebzehn.“
„So jung?“, fragte Tamara verblüfft, „Wann wirst du achtzehn?“
„In einem halben Jahr.“
„Du bist im Dezember Siebzehn geworden?“
Dana nickte und wunderte sich, dass Tamara so überrascht war. Normalerweise wird sie manchmal sogar für noch jünger gehalten.
„Du wirkst älter“, sagte Tamara und trank wieder einen Schluck.
„Vermutlich weil Mel mich so aufgetakelt hat“, sagte Dana, „Und diese Schuhe? Uff.“ Sie streifte sich die High Heels von den Füßen und seufzte erleichtert. Folter pur. Melanie hatte sie ja nicht mehr alle. Sie selber lief in bequemen Schuhen herum aber nur weil Dana „so feminin“ war, sollte sie Stöckel tragen. Sicher!
Tamara lachte und sah auf die Tanzfläche „Würdest du jetzt tanzen wollen? Immerhin kennen wir uns ja nun ein wenig.“
Dana zuckte die Schultern „Warum nicht?“ Dann muss ich wenigstens diesen furchtbaren Cocktail nicht trinken, dachte sie und stand auf. Ohne Stöckel war Dana um beinahe einen Kopf kleiner als Tamara. Sie zog Dana an der Hand mitten auf die Tanzfläche. Ein wenig abseits von dem Gedrängel und fing an zu tanzen.
Sie kann sich gut bewegen, dachte Dana, und wie gut!
Es dauerte nicht lange, dass sie zusammen tanzten und Tamara ihr immer näher kam. Aber zugegeben: Dana fühlte sich immer mehr von ihr hingezogen. Sie sah gut aus, duftete gut und hatte einen wirklich sexy Körper, den Dana nur zu gerne berührt hätte.
Melanie hatte sie schon ganz vergessen.
Als das nächste Lied aufgelegt wurde, war Tamara nun wirklich in ihrer unmittelbaren Nähe. Ihre Körper rieben aneinander, während sie sich zur Musik bewegten und Dana fühlte es heiß zwischen ihnen prickeln. Und dann passierte es.
Tamara beugte sich ein wenig vor und legte ihre Lippen an Danas Hals. Ganz zart liebkoste sie ihn. Danas Herz schlug um mehrere Grade höher, zwischen ihren Beinen sammelte sich Hitze und sie schloss genussvoll die Augen. Als Tamara mit ihrer Zunge bis zu ihren Ohrläppchen fuhr und dann vorsichtig an ihnen knabberte, griff Dana in Tamaras Hüfte und zog sie an sich ran. Tamara löste sich von Dana und lächelte sie an. Ihre Gesichter waren so nah, dass Dana ihren Atem fühlen konnte. Dana war ganz hin und weg von dem Kuss und wusste nicht, wie sie reagieren sollte.
Sie wollte das noch mal fühlen.
Und dann noch mal.
Vielleicht ein bisschen mehr.
Sie bewegten sich beide weiter im Takt der Musik. Dana spürte Tamaras weichen Beine an ihren. Ihre Hand glitt immer weiter nach unten, bis sie Tamaras Po umfassten und näher an sich heran zog. Tamara kraulte Danas Nacken und fuhr mit der anderen Hand  über ihren Rücken. Dana hatte die Augen geschlossen. Genoss jede einzelne Berührung von dem ihr eigentlich völlig fremden Mädchen. Dana wusste, dass sie inzwischen das Tanzen nur noch als Aufwand benutzten, damit die anderen nicht auf sie aufmerksam wurden.
Tamaras Hand streichelte über Danas Beine und zog ihr enges Kleid ein wenig hoch. Dana hätte vor Lust zerplatzen können. Tamara spielte an der Innenseite ihrer Schenkel rum, und Dana konnte kaum erwarten, dass sie noch ein kleines Stückchen weiter oben nach ihr tastete. Sie war so erregt, dass es ihr beinahe schon unangenehm war.
Tamara legte den Kopf in Danas Nacken und wieder fühlte sie diesen einen Kuss, der sie so verführt hatte. Nur diesmal war er inniger, wilder. Tamara biss sanft in Danas Hals und wanderte mit der Hand weiter hoch. Ihr Daumen streifte Danas magischen Knopf  (wie sie ihn persönlich oft nannte) und dann war es um sie geschehen. Ihr Atem ging flach, schnell. Tamaras Berührungen wurden intensiver. Sie fühlte, wie sehr sie Dana erregte und das gefiel ihr. Sie hörte Dana in ihr Ohr stöhnen. Leise, genussvoll …
Mehr, bat Dana gedanklich, ich will mehr …
„Dana!“
Dana riss ihren Kopf hoch und Tamara und sie waren so schnell auseinander, wie sie innig geworden waren.
Melanie!
Klar, du Superhirn, dachte Dana in purem Zorn, jetzt auf einmal tauchst du auf. Ausgerechnet jetzt!
Ein enttäuschtes Seufzen entwich ihr und sie zupfte ihr Kleid zurecht. Kurz bevor Melanie bei den beiden ankam, drückte Tamara Dana einen Zettel in die Hand und verschwand.
So ein verdammtes Pech!
Melanie war knallrot im Gesicht vom Tanzen „Wir müssen Heim. Es ist vier Uhr! Dein Vater bringt uns um.“
„Fällt dir aber früh ein“, schnaubte Dana und steckte den Zettel in ihren BH.
„Sorry. War so abgelenkt“, um Melanies Mundwinkel spielte sich ein Grinsen, „Und du ja scheinbar auch.“

Ziemlich geschafft von dem Abend trat Dana in die Haustür und schloss sie so leise wie möglich wieder hinter sich. Ihr Vater schlief schon. Überall war das Licht aus und außerdem war es ungewöhnlich still.  Eigentlich wollte Dana erst noch unter die Dusche, bevor sie schlafen ging, aber das war jetzt ausgeschlossen. Ihr Vater würde aufwachen und ihr eine Predigt halten, von wegen „Kind, du bist doch vor wenigen Wochen noch sechzehn gewesen. Wie kannst du mir sowas antun? Weißt du, welche Sorgen ich mir gemacht habe?“ – Blablabla. Dana seufzte, tappte barfuß die Treppen hoch und machte das Licht in ihrem Zimmer an. Hach, war das schön! Der vertraute Duft von zu Hause und diese Stille! Keine schwitzenden Menschen, keine furchtbare Musik.
Schnell streifte sich Dana das Kleid von ihrem Körper und schlich in das Bad gegenüber.
„Himmel“, keuchte sie, als sie in den Spiegel sah. Unter ihren Augen lagen tiefe Augenringe, ihre Wangen waren gerötet und ihr Haar war vom ganzen Schwitzen fettig. „Ich muss unbedingt duschen. So kann ich doch nicht schlafen gehen“, murmelte sie vor sich hin und machte sich dran, die Farbe aus ihrem Gesicht zu waschen. Während sie sich im Spiegel betrachtete, wanderte ihr Blick zu ihrem Hals. Kein Knutschfleck. Sie tastete nach der Stelle, an der sie noch Tamaras Berührung fühlte und verlor sich in diesem zauberhaften Gedanken.
Ist das wirklich passiert? Sie fühlte die nässe in ihrem Höschen und bestätigte sich damit. Unglaublich. Nachdem sie das Make-up grob weg bekommen hatte, wusch sie noch einmal mit klarem Wasser ihr Gesicht und trocknete es ab. So fühlte sie sich schon viel besser. Dann sah sie wieder in den Spiegel und fuhr sich durch die glänzenden Haare. Seufzend stellte sie fest, dass da nichts mehr zu  machen war. Haare musste sie wohl oder übel morgen (oder heute) Früh waschen. Ihr Blick fiel auf die Uhr. Ihr entwich ein Stöhnen. Vier Uhr morgens. Machte das überhaupt noch Sinn, sich schlafen zu legen? Sie überlegte und rechnete die Zeit, bis zum Aufstehen.
Gut. Wenn sie Haare waschen wollte, musste sie spätestens um sechs Uhr aufstehen, um rechtzeitig in der Schule zu sein. Und ja, diese zwei Stunden würde sie definitiv noch schlafen. Also band sie sich die Haare zu einem unordentlichen Zopf und zog ihre Unterwäsche aus, als auf einmal ein Zettel aus ihrem BH fiel. Im ersten Moment war sie verwirrt, bis sie sich erinnerte, dass Tamara ihr ja diesen Zettel zugesteckt hatte. Neugierig faltete sie den Zettel auf und las Tamaras Namen und darunter ihre Handy-Nummer. Ein Lächeln huschte über Danas Gesicht, bevor sie sich einen Bademantel überzog, in ihr Zimmer lief und sich in ihr Bett warf. Hastig zog sie ihr Handy hervor und speicherte sofort die Nummer in ihren Kontakten ab. Morgen würde sie sich bei ihr melden.
Aber jetzt wollte sie einfach nur schlafen.
Sie zog den Bademantel aus, ein Schlafhemd und ein frisches Höschen an und schlüpfte zurück in das Bett. Draußen dämmerte es bereits, aber das war Dana egal. Mindestens diese zwei Stunden noch schlafen, sonst würde sie den morgigen Tag nicht überleben.
 
Dana schwor sich, nie wieder vor einem Schultag so lange wach zu bleiben. Sie hatte die größte Mühe, nicht während dem Unterricht einzunicken. Als es zur ersten Pause klingelte fand sie sich im Bad wider und klatschte sich eiskaltes Wasser in das Gesicht. Voller Hoffnung, so würde sie wenigstens wieder ein wenig zu sich kommen, doch da hatte sie sich getäuscht. Sie betrachtete sich im Spiegel. Ihre Tagescreme hatte die dunklen Schatten unter ihren Augen gut retuschiert, aber es war trotzdem nicht zu übersehen, dass sie letzte Nacht kaum geschlafen hatte. Ihre Haare, die sie zu einem Dutt gebunden hatte, waren immer noch nass, vom morgendlichen Waschen, deshalb öffnete sie die  dunkle Mähne und kämmte sie mit der Hand durch. Es sah nicht besser aus, aber es fühlte sich angenehmer an.  Allerdings konnte sie mit diesen nassen Haaren nun auch nicht in den Pausenhof. Also beschloss sie, ihre erste Pause im Klassenzimmer zu verbringen. Erst wusste sie nicht recht, was sie mit der Zeit anfangen sollte, doch dann nahm sie ihr Handy und schrieb Tamara eine SMS. Seltsamerweise, wie ein schlechtes Omen, sprang ihr die E-Mail Adresse von Lejla ins Gesicht, die sie zur Sicherheit abgespeicherte hatte und sofort verkrampfte sich ihr Magen. Nein, bitte nicht, dachte sie, nicht jetzt. Nicht hier…
Tamaras SMS vibrierte in Danas Händen. Dankbar öffnete sie die Nachricht.

Wenn du magst,
treffen wir uns heute um 18:00 Uhr
am Bahnhof.

Sofort erklärte sich Dana einverstanden und schickte ihre SMS an Tamara ab. Das würde ja interessant sein. Dana war gespannt, wie Tamara aussah, wenn sie kein sexy Kleid anhatte und nicht so aufgetakelt war. Ihre Natürlichkeit wollte Dana kennenlernen.

Als sie auf die Uhr sah, war immer noch keine Minute vergangen, also öffnete sie ihre E-Mail. Sie atmete tief durch und tippte mit zittrigen Fingern Lejlas Adresse ein. Dabei schrumpfte ihr Herz um jeden Buchstaben und sie wünschte für eine Sekunde, sie hätte diese Frau nie kennen gelernt.

Hallo,
ich weiß, du hast Papa deine e-mail adresse gegeben..
ich habe sie in seiner jackentasche gefunden und wollte dir schreiben.
wie geht es dir? kommst du wieder zurück?
Dana

Dana überflog die knappe E-Mail noch einmal. „Kommst du zurück?“, äffte sie, „Das hört sich doch bescheuert an.“ Also löschte sie den letzten Satz wieder und sendete ihn so weiter. Dann atmete sie aus. Hoffentlich würde sie sich bald melden. Kaum hatte sie ihr Handy wieder in ihrer Jackentasche verschwinden lassen, vibrierte es wieder. Ihr Herz setzte kurz aus. Lejla, Lejla, Lejla!
Sie sah die SMS und seufzte. Allerdings war sie auch über Tamara froh. Immerhin war sie nicht von schlechten Eltern. Sie hatte langes, dunkles Haar und total liebliche Gesichtszüge. Vor allem mochte Dana das Lächeln an ihr. Dieses süße, verschmitzte Lächeln.

Super.
Ich freue mich.
Wo bist du gerade?

Dana schrieb zurück:

Sitze in der schule im klassenzimmer.
Haben Pause.
Und du?

Tamara:
Bin zu Hause.
Bist du alleine?

Dana:

Ja. Noch ganze 15 Minuten. Es ist langweilig!

Eine längere Zeit folgte keine SMS, und Dana wollte schon ihr Handy wegstecken, da vibrierte es wieder.

Tamara:
Gut 
Ich küsse deinen Hals

Dana war erst perplex. Durcheinander und ein wenig hin und hergerissen. Was sollte sie jetzt darauf schreiben? Die Vorstellung daran, machte sie wieder ganz wild und sehnsüchtig.

Das hört sich schön an

Sie atmete aus und starrte auf ihr Handy. Wartete auf die nächste SMS.'

Meine Zunge wandert deinen Hals entlang zu deinen Ohrläppchen und knabbern an ihnen.
Gefällt dir das?

Dana fühlte schon wieder die Hitze zwischen ihren Beinen, aber das war im Moment nicht gut. Überall anders wäre sie darauf eingegangen, aber nicht in der Schule. Sie konnte sich sowieso schon kaum konzentrieren, und wenn Tamara ihr dann noch so heiße Gedanken machte, war es eine Sache der Unmöglichkeit, dem Unterricht noch zu folgen.
Sie schrieb nicht zurück und steckte ihr Handy weg.
Genau in dem Moment gongte es und nur wenige Sekunden darauf betraten die ersten Schüler das Klassenzimmer. Aber den Satz von Tamara bekam Dana den ganzen restlichen Tag nicht mehr aus dem Kopf und so wurden die übrigen Stunden zu einem unerträglichen Leiden.

Dana überquerte gerade die letzte Straße kurz vor ihrem rettenden zu Hause, da rief eine ihr allzu bekannte Stimme hinterher. Erst lief sie weiter, als hätte sie nichts gehört, doch als er das zweite Mal ihren Namen schrie, blieb sie doch widerwillig stehen und drehte sich um.
Der Barkeeper kam auf sie zugelaufen.
„Hey“, keuchte er außer Atem und stützte sich an den Knien ab.
„Du tust ja so, als hättest du einen Marathonlauf hinter dir“, bemerkte Dana beiläufig und sah sich um, ob auch wirklich niemand diese peinliche Szene mitbekam.
Der Barkeeper richtete sich auf und lächelte Dana spitzbübisch an „Selbst den hätte ich für dich hinter mich gelegt.“
„Ach, was du nicht sagst“, murmelte sie und verschränkte ungeduldig die Arme vor der Brust. Sie hatte vor ungefähr einer halben Stunde Schule aus gehabt und sich eigentlich darauf gefreut, zu Hause schnell etwas essen, und dann noch einmal duschen gehen zu können, bevor sie zum Bahnhof musste.
„Was  gibt’s?“, fragte sie, um ihm auf die Sprünge zu helfen.
Über sein Gesicht fiel ein düsterer Schatten und Dana tat es beinahe leid, ihn so zu sehen. Er sah sich kurz um, als würde er etwas suchen „Wohnst du hier irgendwo?“
Innerlich seufzte Dana, aber ihn jetzt anzulügen, war auch keine Lösung „Zwei Blocks weiter.“
„Darf ich dich begleiten?“
Dana zögerte einen Moment, schließlich seufzte sie „Meinetwegen.“
Gemeinsam schlenderten sie schweigend die Straße entlang.
Und ich weiß immer noch nicht, warum er mir hinterher gelaufen ist, dachte Dana entnervt und musterte den Barkeeper von der Seite. Er war ein sehr hübscher junger Kerl, stellte Dana fest. Ein Mischling, auf jeden Fall. Seine Haare waren kurz, aber voll und üppig, wie es bei Mischlingen nun einmal bekannt ist. Er hatte eine milchkaffebraune Haut – etwas dunkler. Nun gut, eher wie Cappuccino, dachte Dana, und große, mandelförmige Augen. Sie waren braun und wirkten fast wie flüssige Vollmilchschokolade.

Warum vergleiche ich eigentlich alles mit Nahrungsmitteln? Sie grinste in sich hinein.
„Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt“, brach er dann endlich das Schweigen, „Ich heiße Samuel.“ Er reichte ihr die Hand und Dana schüttelte sie.
„Schön dich kennen zu lernen, Namenloser.“
Samuel lächelte ein wenig, doch das Lächeln erreichte seine blauen Augen nicht und Dana hätte ihn am liebsten in den Arm genommen. Gut, scheinbar hatte es ihn wirklich erwischt und Dana klingelte es langsam, warum er ihr hinterher gelaufen war. Er kam nicht mit der Tatsache klar, dass Dana auf Frauen stand.
„Hör zu, es tut mir leid“, sagte sie schließlich, als sie um die nächste Ecke bogen, „Ich meine, Mel hätte es auch mir überlassen können.“
„Wovon redest du?“ Samuel legte die Stirn in Falten und Dana musterte ihn einen Moment purer Irritation.
„Bist du nicht deshalb gekommen, um nach einer Chance zu bitten?“
Samuels Gesicht erhellte sich und er verfiel in schallendes Gelächter. Erst wusste Dana nicht, darauf zu reagieren, aber schließlich ließ sie sich doch von seinem Lachen anstecken und kratzte sich unsicher am Nasenflügel.
„Du bist aber ganz schon selbstsicher“, grinste er sie an, „Aber das kannst du ja auch sein.“
Dana zog unsicher eine Braue in die Höhe und schluckte ihr Lächeln.
„Na, du siehst gut aus und ja, es stimmt, ich habe bis zu dem Zeitpunkt gehofft, eine Chance bei dir zu haben, aber … na ja, ich habe nachgedacht.“
„Wunder lass nach.“
Samuel lachte „Ja, Männer können auch denken!“
„Männer?“, neckte Dana und musterte Samuel von Kopf bis Fuß.
Samuel schenkte ihr einen spielerischen, bösen Blick „Ich bin mindestens so alt wie du. Kann ich dich dann schon eine Frau nennen?“
„Na, Jungs sind ja immerhin zwei Jahre unterentwickelt.“
„So ein Schmarrn. Wo hast du das denn her?“
„Schau dich doch mal um!“
Wieder lachten beide und irgendwie war Samuel Dana doch gar nicht so unsympathisch.
„Aber ja …“, Samuel seufzte, „Denke jetzt nicht, ich würde dich stalken. Ich habe dich nur zufällig an der Bushaltestelle gesehen und bin dir gefolgt, weil ich mit dir reden wollte.“
„Die Mission war erfolgreich.“
„Allerdings.“ Er lächelte „Aber nun ernsthaft… ich wollte dir nicht das Gefühl geben, dich zu bedrängen.“
Dana sah ihn an, wusste nicht, was sie sagen sollte.
„Aber ich wollte dich auch nicht so einfach gehen lassen“, er sprach leiser und sah auf den Boden, „Ich weiß, es klingt seltsam. Aber können wir nicht doch im Kontakt bleiben?“
Dana blieb stehen und sah ihn an „Und worauf willst du wirklich hinaus?“
„Auf gar nichts“, versprach er, „Ehrenwort. Aber wenn ich dich schon nicht lieben darf, dann hätte ich dich gerne als gute Freundin.“
Ein wenig überrumpelt von dem Geständnis, fühlte Dana das Blut in ihre Wangen steigen. Andererseits ärgerte sie sich auch wieder furchtbar darüber. Immer die Männer. Immer die Männer! Warum können nicht auch einmal die Frauen das in mir sehen, was zum Beispiel er in mir sieht? Enttäuschung und gleichermaßen Verzweiflung überfielen sie und sie musste sich zusammen reißen, es sich nicht anmerken zu lassen. Sie versuchte bei der Sache zu bleiben „Wer sagt denn, dass du mich nicht lieben darfst? Alles, was ich dazu sagen kann ist nur, dass ich das eben nicht erwidern kann. Und ob dir das so gut tut, weiterhin mit mir in Kontakt zu bleiben, das ist fraglich …“
Samuel seufzte und sah sie aufmunternd an „Hör zu. Ich bin nicht einer von diesen Typen, dem nichts zu schade ist, eine Frau ins Bett zu kriegen. Ich kann auch ein sehr guter Freund sein und ja, es würde mir schwer fallen, aber ich habe darüber nachgedacht und lieber habe ich dich als gute Freundin und quäle mich so eine Weile damit, als dich ganz zu verlieren.“
„Wow“, war alles, was Dana herausbrachte und sie fühlte sich wahnsinnig geschmeichelt. Bisher musste sie sich immer mit hartnäckigen, verliebten Jungs herumschlagen, aber Samuel schien es ernst zu meinen und wenn sie so darüber nachdachte, hätte sie ihn auch gerne als guten Freund. Nur die Tatsache, dass es ihn quälen würde, ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie seufzte „Ich weiß nicht recht, Samuel.“
„Bitte. Ich weiß, wie ich damit umgehen werde, vertrau mir.“
„Ich kenne dich doch gar nicht wirklich.“
Samuel trat einen kleinen Stein aus dem Weg und wusste nicht, was er sagen sollte. Die beiden gingen langsam weiter und kurz vor der nächsten Abbiegung blieb Dana stehen „Hier wohne ich …“
Samuel sah sich interessiert um und fing dann ihren Blick auf „Also gut. Dann überlege dir das bitte noch einmal. Hier ist meine Nummer.“ Er reichte ihr einen kleinen Zettel.
„Danke, Samuel. Ich werde eine Nacht drüber schlafen.“
Er lächelte sie dankbar an. Eine ziervolle Minute verstrich, in der beide nicht wussten, wie sie sich verabschieden sollten.
Schließlich hob Dana lächelnd die Hand und kehrte ihm den Rücken. Es tat ihr leid, was er da jetzt durchmachen musste. Er war doch nicht so ein schräger „ich-werde-alles-dafür-tun-dass-sie-auf-mich-steht“-Typ.

„Dana, Liebling!“ Kaum hatte Dana die Tür betreten, kam ihr Vater auf sie zu gerannt und umarmte sie „Wie war die Schule? Tut mir leid. Ich hätte heute aufstehen können und mit dir frühstücken sollen, aber…“
„Ach Papa, mach dir keine Gedanken“, beschwichtigte sie, „Du hast frei. Da kannst du ruhig ausschlafen.“ Sie war kaum überrascht, dass ihr Papa nicht mitbekommen hatte, dass sie die Nacht über weg gewesen war. Vermutlich hatte er gedacht, sie würde schon schlafen, als er nach Hause gekommen war und gar nicht erst nach ihr gesehen.
„Möchtest du etwas zu Abend essen? Ich habe schon gedeckt.“
Dana sah auf die Uhr im Gang. „Es ist schon halb sechs?“
Til nickte „Ich habe mich sowieso gewundert, weshalb du so lange von der Schule nach Hause brauchst.“
„Ich wurde aufgehalten“, sagte sie.
„Ach so? Ich habe extra auf dich gewartet.“ Er lächelte sie an.
Dana zuckte die Schultern „Warum nicht? Ich habe Kohldampf bis zum geht nicht mehr.“
Til wuschelte ihr lachend durchs Haar und ging mit ihr in die Küche.
„Mhh, hier riechts aber gut“, lächelte Dana, sobald Til den Ofen geöffnet hatte. Er stellte ein Tablett mit knusprigen, goldenen Hähnchen auf den Tisch.
„Dafür vergöttere ich dich, Papa“, strahlte Dana und legte sich gleich zwei auf den Teller. Til setzte sich ihr gegenüber und Dana fiel ein, wie Lejla das erste Mal genau auf demselben Platz gesessen war. Ihr Magen zog sich zusammen und auf einmal hatte sie gar keinen so großen Appetit mehr.
Sie stocherte mit der Gabel im Hähnchen herum und war völlig in Gedanken versunken.
„Was ist?“, fragte Til, dem Danas Verhalten nicht entging.
„Ach“, seufzte sie und steckte sich ein Stück Hähnchen in den Mund, „Viel Stress in der Schule zurzeit. Wir schreiben schon wieder eine Ex.“
„Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?“, fragte Til mit vollem Mund.
„Nein, Papa. Aber danke. Das kriege ich schon selbst irgendwie gebacken.“
Der Rest des gemeinsamen Abendessens bestand überwiegend nur noch aus Lügen und das alles nur, damit Til nicht erfuhr, um was sich Danas Gedanken wirklich kreisten. Es war nicht leicht für sie, ihren Vater anzulügen, aber was blieb ihr anderes übrig? Sie wusste genau, wie er reagieren würde, wenn sie ihm sagen würde, in was für einem Liebesdrama sie gerade steckte. Und dann auch noch mit Lejla!
Nein, das war ausgeschlossen.
Und deshalb war Dana auch mehr als nur heilfroh, als sie endlich mit dem Essen fertig waren. Danach war sie ohne große Erklärungen in das Bad gegangen, um sich zu duschen und frische Sachen anzuziehen. Til hatte sie gesagt, sie wäre mit Melanie verabredet.
Wenn Melanie jetzt bei ihr anrufen würde, während sie mit Tamara unterwegs war, würde sie was zu hören bekommen. Aber was solls.

Jetzt stand sie inzwischen seit zwanzig Minuten am Bahnhof und von Tamara war keine Spur. War es vielleicht ein Fehler gewesen, hier aufzutauchen? Vielleicht war das alles bloß ein blöder Scherz und Dana war natürlich total drauf reingefallen. Oder sie war gerade einfach nur strunzdumm und blind, denn nach dem zweiten Mal umsehen entdeckte sie diese langen Haare von gestern Abend, den Körper, das liebliche Gesicht.
Tamara stand neben einer Rolltreppe und sah genau in eine andere Richtung. Klar, dass sie Dana nicht entdeckte. Und überhaupt … würde sie Dana so, in Bluejeans, weißem Pulli und kaum geschminkt überhaupt widererkennen? Vielleicht gefiel Tamara Dana ja gar nicht mehr, wenn sie sich in ihrem persönlichen Stil zeigte.
Und wenn schon, dachte Dana, dann hat sie mich nicht verdient.
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch steuerte sie auf Tamara zu, die sich in ihre Richtung drehte, bevor Dana bei ihr angekommen war. Ein Lächeln huschte über ihr schönes Gesicht und die beiden umarmten sich. Die Umarmung ging eher von Tamara aus, als von Dana, denn die war noch ganz unsicher, wie sie sich verhalten sollte. Immerhin hing die Gewissheit, was gestern zwischen ihnen war, prickelnd in der Luft.
„Du siehst gut aus“, lächelte Tamara und warf Dana einen feurigen Blick zu. Dana erwiderte das Lächeln „Kann ich zurück geben.“
Beide sahen sich eine Weile in die Augen. Dana wusste nicht, woran Tamara in dem Moment dachte, aber ihr gingen die Bilder von der Disconacht nicht aus dem Kopf und sie wand sich innerlich gegen die Versuchung, Tamara noch einmal in die Arme zu nehmen und sie nicht mehr los zu lassen.
„Ich habe gedacht, wir fahren ein wenig in die Stadtmitte und suchen uns einen Ort, wo wir uns in Ruhe kennen lernen können.“
„Ich habe keine Fahrkarte“, sagte Dana.
Tamara grinste ein wenig und nahm Dana an der Hand „Ich nehme dich mit. Nun komm. Mach dich locker.“
Dana ließ sich von Tamara an der Hand zu den Bahnstationen führen. Sie wiedersprach Tamara nicht. Immerhin war es Tamaras Idee gewesen sich hier zu treffen und dann hatte sie  sicher schon mit eingerechnet, Dana in die Stadt zu entführen.
„Setzen wir uns hinter“, forderte Tamara, sobald die erste Bahn hielt. Dana folgte Tamara wortlos und gemeinsam setzten sie sich in die hinterste Kabine auf zwei freie Plätze. „Ganz schön leer, dafür, dass wir mitten unter der Woche haben“, bemerkte Dana und sah sich um. Tatsächlich waren in ihrer Kabine gerade mal so viele Leute, dass sie sie auf einer Hand abzählen konnte.
„Stimmt, das ist ungewöhnlich“, bestätigte Tamara, „Oder sie wollen uns ein wenig Ruhe lassen.“ Tamara zwinkerte Dana zu und streifte sich die dünne Weste von den Armen. Hier war es immerhin schon um mehrere Grade wärmer als draußen und nein, das lag nicht nur an der Tatsache, dass die Bilder von dieser Nacht nicht aus dem Kopf bekam.
Tamara legte die Weste auf ihren Schoß und lehnte sich in den Sitz.
„Wohnst du in der Stadtmitte?“, fragte Dana.
„Nein. Ein wenig abseits. Aber ich brauche zu Fuß nur zehn Minuten aus der Stadt bis nach Hause.“ 
„Ich würde nie gerne in der Nähe einer Stadt wohnen.“
„Du bist also nicht so der Stadtmensch.“ Tamara sah Dana an.
„Bin ich nicht. Ich mag es viel lieber ruhig. Und … ein Partymensch bin ich auch nicht unbedingt.“
„Nicht?“ Tamara musste lachen, „Dann war das ja gestern ein Zufall, dass wir uns kennen gelernt haben.“
Beide wussten, was Tamara unter „kennen gelernt“ meinte. Sie sahen sich eine endlose Minute an und Dana hatte das Gefühl, Tamara würde sie magnetisch anziehen. Es war nicht ihre Absicht, und trotzdem saßen sie auf einmal ganz dicht beieinander. Dana fühlte ihr Herz anschwellen, wie ein nasser Schwamm, als Tamaras Hand zärtlich eine Strähne hinter Danas Ohr strich und die Hand an ihrer Wange haften blieb.
„Du bist wunderschön“, flüsterte Tamara und näherte sich Danas Gesicht. Erst dachte sie, gleich würde sie ihren ersten Kuss erleben, doch stattdessen wanderten Tamaras Lippen an Danas Wange und von dort aus wieder weiter runter zu ihrem Hals.
Nicht schon wieder, dachte Dana, als der nasse Schwamm in ihrem Brustkorb zerplatzte und ihr Herz im ganzen Körper zu beben schien.
Tamara löste sich (nach Danas Geschmack viel zu früh) wieder von ihr und lächelte sie an. Dann zog sie die Weste über Danas Beine, so dass sie nun halb ihren Bauch bedeckte und Tamaras Hand wanderte unter das „Versteck“.
„Was tust du da?“, fragte Dana leise. In ihrer Stimme schwang mindestens genauso viel Unsicherheit wie Hoffnung mit. Sie wird es doch jetzt nicht hier in der Öffentlichkeit tun! Ich kann mich doch so schon kaum beherrschen! Ist das ihr Ernst?
Tamara legte ihre Lippen an Danas Ohr, während ihre Hand Danas Bauch sanft streichelte „Ich küsse dich.“
Dana wurde heiß ums Herz und sie sah Tamara direkt in die Augen. Nur solange, bis sie wieder diesen unglaublich intensiven Kuss an ihrem Hals fühlte. Diese Liebkosung, der Dana aus unerfindlichen Gründen einfach nicht widerstehen konnte. Tamaras freie Hand griff nach Danas Kopf und zog sie näher an sich heran, während sie mit der anderen Danas Gürtel öffnete. Die Bahn hielt an der nächsten Station. Es stiegen neue Passanten ein und setzten sich in die Nähe von den beiden.
Tamara löste sich von Danas Hals, doch ihre Hand wanderte unter Danas Hose. Dana wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Irgendwie fühlte sie sich ein wenig befangen und trotzdem wollte sie sich einfach fallen lassen. Jetzt, wo sie die zarten Berührungen von Tamaras Hand unter ihrer Hose fühlte. Keiner der neu zugestiegenen Passanten schien zu merken, was zwischen den beiden gerade abging. Waren die Menschen denn wirklich so blind? Aber Dana war es ganz recht. Sie lehnte den Kopf an den Sitz und schloss die Augen. Genoss es, wie Tamaras Finger ihre intime Gegend erkundeten und beherrschte sich, gleichmäßig zu atmen.
Sie hatte das Verlangen, Tamara aufzufordern, sie nicht so zu quälen, aber es war nicht nötig, diese Bitte auszusprechen, denn endlich schummelten sich ihre Finger unter Danas Höschen und sie fühlte die nackten, warmen Finger von Tamara über ihren magischen Knopf streicheln. Dana lehnte sich an Tamaras Schulter, die zärtlich ihre Schläfe küsste und mit den Fingern tiefer wanderte. Als Tamara fühlte, wie nass Dana war, musste sie lächeln und legte die Lippen erneut an ihr Ohr „Möchtest du mehr?“
Dana hätte am liebsten vor Frustration aufgeknurrt. Was sollte diese Frage? Natürlich wollte sie mehr. Sie wollte alles, was sie bekommen konnte. Und zwar von Tamara. Und jetzt war es ihr auch egal, ob ihr noch zwanzig Leute dabei zusahen. Dana nickte ungeduldig und dann fühlte sie, wie ein Finger in sie hineinglitt. Sie drückte das Gesicht in Tamaras Nacken und biss sich zwanghaft auf die Lippen. Nicht stöhnen, nicht stöhnen, zwang sie sich. Doch als Tamara ihren Finger immer tiefer schob und anfing sie vorsichtig zu stoßen, konnte Dana sich nicht mehr beherrschen. Sie krallte sich in Tamaras Bein und stöhnte leise und erlösend in Tamaras Ohr. Immer und immer wieder.
Einige Passanten wurden schon aufmerksam, trotzdem ohne irgendeine Ahnung zu haben.
Langsam fing es an Dana zu quälen. Am liebsten hätte sie laut aufgestöhnt, sich auf Tamaras Schoß gesetzt und sie geküsst. Sie hätte sich an ihr gerieben und ihr das Oberteil ausgezogen, doch stattdessen blieb sie angestrengt an Tamaras Schulter gekuschelt, stöhnte leise und beherrscht und fühlte, wie Tamara ihr Fingerspieles beschleunigte.
Die Bahn hielt.
Tamara zog die Hand aus Danas Hose und küsste sie auf die Stirn „Wir sind da.“
Dana öffnete die Augen und atmete tief, enttäuscht aus.
„Du bist der Teufel“, flüsterte sie, nur für Tamaras Ohren bestimmt, die schelmisch lächelte und Dana an der Hand nach oben zog. Dana hielt ihre Weste fest vor den Bauch, damit es nicht auffiel, dass ihr Gürtel offen war und  eilte Tamara hinterher. Es fühlte sich unangenehm an, die Nässe zwischen ihren Beinen. Aber was sollte sie groß tun? Die Unterhose in der Öffentlichkeit einfach ausziehen? Das ging definitiv über ihre Schamgrenze hinaus. 

Tamara zog Dana außerhalb des Bahnhofes, quer über eine Straße und entführte sie in einen kleinen Stadtpark. Dana ließ sich wortlos ins Nirgendwo leiten, bis es ihr doch zu einsam wurde und sie stehen blieb „Wo sind wir?" Dana sah sich um. Weit und breit nur Bäume und Büsche. Keine Menschenseele. 
„Im Stadtpark. Es ist schön hier, vertraue mir." Tamara griff wieder nach Danas Hand und sah sie auffordernd an. Dana verstand ihren Blick und zog sich an Tamaras warmen Körper. Sie lächelten sich, das Gesicht nah aneinander, an und fingen an sich zärtlich zu streicheln. Dana fühlte Tamaras sanften Berührungen unter ihrem Pulli auf ihrem Rücken, ihrer Taille ...
„Ich bin feucht", flüsterte Tamara in Danas Ohr und Danas Herz spielte verrückt. Ihre Hand wanderte langsam zu Tamaras Po und zog sie enger an sich heran. Jetzt wollte sie alles, was sie haben konnte. 
„ Willst du mich fühlen?" Das Hauchen von Tamaras Atem jagte Dana eine Gänsehaut über den Rücken und sie schloss genüsslich die Augen, legte den Kopf auf Tamaras Schulter ab und streichelte mit ihrer Hand von Tamaras Po bis zu ihrem Bauch. Er war weich ... und warm ... sehr warm. Dana wusste, von wo die Hitze kam.
Tamara lächelte an Danas Ohr und legte ihre Lippen an die roten Ohrläppchen.
Dana hörte das leise Schmatzen der gierigen Küsse und öffnete Tamaras Jeans. Der Knopf flog auf und ihre Hand wanderte in Tamaras Hose. Sie fühlte ihren Slip. Er war warm.
Und feucht.
Ihr Finger streifte einmal über die Hitze und dann hörte sie das leise Stöhnen ganz dicht an ihrem Ohr. 
Oh mein Gott ...
Sie fühlte die Innenseite ihrer Schenkel. Die nackte Haut. Am liebsten hätte sie sofort den Slip zur Seite geschoben und die sensible Stelle erkundet, doch das wäre zu einfach gewesen. Sie musste Tamara ein wenig zappeln lassen.
Also streichelte sie über ihre Schenkel, kniff sachte in sie rein und wanderte wieder weiter nach oben, der Hitze entgegen. Das Stöhnen von Tamara wurde intensiver, als Dana über Tamars Slip am magischen Knopf entlang streifte. 
„Oh mein Gott, Dana?!"
Dana riss in Lichtgeschwindigkeit ihre Hand aus Tamaras Hose und löste sich aus der innigen Zärtlichkeit. Ihr Blick traf geradewegs Nikkis. Einem Mädchen aus ihrer Klasse. Ausgerechnet dem Mädchen! Tamara richtete eilig ihre Hose und fuhr sich durch die Haare. Sie legte einen Arm um Danas Taille, als wollte sie damit ausdrücken, dass sie zu ihr gehörte.
„Nikki", sagte Dana, mehr zu sich selbst, als zu den anderen. Sie befreite sich aus Tamaras Griff und versuchte dem Chaos in ihrem Kopf zu entfliehen. 
Oh nein!
Oh nein!

Oh nein!
Spätestens morgen weiß es die ganze Schule.
Die ganze, verdammte Schule.
„Ist das deine Freundin?", grinste Nikki und schritt selbstsicher auf die beiden zu. Vor Dana blieb sie stehen und fuhr sich einmal durch die blonde Mähne.
Gott, wie ich dieses Weib hasse, würgte Dana innerlich.
Nikki war eines dieser Hyänen, die Dana überhaupt nicht leiden konnte. Eine eingebildete, selbstverliebte, egoistische Scheißkuh. Blond, schlank und die Klamotten des Gruppenzwangs. Dieses Kleidung die man an allen Hyänen in ihrem Alter sah. 
Dana sah zu Tamara, die den Blick ausdruckslos erwiderte.
Vermutlich war die Hitze zwischen ihren Beinen genauso schnell verschwunden wie bei Dana. Sie hätte jetzt ununterbrochen kotzen können. In Nikkis hübsches Gesicht.
„Ja", sagte sie bestimmt, „Eine Freundin."
„Aha." Das höhnische Grinsen wich nicht von Nikkis Gesicht.
„Aber wir wollten sowieso gerade gehen", endete Dana. Sie wusste, wenn sie jetzt nicht ging, würde sie Nikki an die Gurgel gehen. Und das hatte sie vor Tamara sicherlich nicht vor. 
„Schön. Wir sehen uns ja in der Schule." Immer noch mit diesem übertriebenen Grinsen drehte sich Nikki um und ging. Die glatten Haare, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, tanzten hinter ihrem Rücken im Rhythmus Nikkis' Schritte. Dana musterte sie von Kopf bis Fuß. Warum war die Welt so ungerecht? Wie konnte jemand wie Nikki, so einen schönen, schlanken Körper haben, so eine makellose Haut, so ein süßes Gesicht? Einfach nur unfair. 
„Alles okay?", fragte Tamara, nachdem Nikki endgültig verschwunden war und fuhr Dana zärtlich durch die Haare. Dana steckte die Hände in ihre Westentasche und trat einen Stein aus dem Weg „Ich glaube, ich gehe jetzt besser wieder Heim." Tamara musterte Danas Profil und ging dann langsam mit ihr los. Schweigend. Erst kurz vor dem Bahnhof kam Tamara zu Wort „Schade."
Dana hob den Kopf und sah sie an.
Tamara zwang sich zu einem Lächeln „Ich hätte dich heute gerne zu Hause in meinem Bett gehabt." 
Dana erwiderte verlegen das Lächeln und senkte den Kopf. Seltsamerweise war sie sich in der ganzen Sache gar nicht mehr so sicher. War es wirklich Tamara, die sie wollte? Oder war es der Sex? 
Tief im Inneren wusste sie es.
„Von hier schaffe ich es alleine", sagte Dana nur, als sie Tamara wieder ansah. 
„Okay", entgegnete Tamara und strich Dana eine Strähne hinter das Ohr, „Bleiben wir in Kontakt?"
„Ja", bestätigte Dana sicher und umarmte Tamara einmal innig. 
Ja, sie wusste es.
Es war der Sex.
Es war der Sex, was sie wollte.
Und Lejla, wen sie wollte.
Zu bedauerlich.
Dana löste sich aus der Umarmung, lächelte Tamara noch einmal zu und machte sich dann auf den Weg nach Hause.

„Dana?" Til streckte den Kopf aus der Küche. 
„Papa?", Dana streifte sich die Schuhe von den Füßen und ging zu ihrem Vater in die Küche. Sie sah ihm zu, wie er irgendwas an der Spülmaschine schraubte. 
„Scheißteil", brummte er, „Für den Müll."
„Warum rufst du keinen Handwerker?"
Til richtete sich auf, wischte sich Schweiß von der Stirn und lehnte sich an die Anrichte. Gerade als er antworten wollte, streckte er die Nase in die Luft und schnupperte in Danas Richtung „Benutzt du ein neues Parfüm?"
Dana zog verwundert die Brauen in die Höhe.
Erst, weil sie nicht wusste, wie er darauf kaum und dann, weil sie nicht glauben konnte, dass er tatsächlich auf so etwas achtete. Dann schnupperte sie demonstrativ an ihren Haaren und sah ihn achselzuckend an „Weiß nicht. Vielleicht das neue Shampoo." Sie hoffte, dass er die Lüge nicht heraushörte.
„Das Andere war besser", murmelte er beiläufig und machte sich wieder an die Arbeit.
Dana entfuhr ein Lächeln „Viel Erfolg, Papa." 

In ihrem Zimmer hatte sich Dana sofort ausgezogen und in ihr Bett gekuschelt. Wundersamerweise hatte sie heute überhaupt keine Lust auf Internet oder irgendeine andere Beschäftigung. Ihre Gedanken kreisten nur um den heutigen Tag. Und zwar quälend. 
Sie kam nicht damit klar, sich alleine die schrecklichsten Dinge auszumalen, also nahm sie ihr Handy um Melanies Nummer zu wählen. Klar. Der erste Gedanke war, wenn sie auf das Display sah, ob Lejla nicht geantwortet hatte, aber nein. Es kam nichts. Und vermutlich würde auch nichts kommen. Vielleicht sollte sie diese Frau einfach vergessen.
„Melanie?"
„Gebieterin, wenn ich bitten darf."
Dana stöhnte in das Telefon, zog sich die Decke bis ans Kinn und schaltete den Lautsprecher an „Mir ist grad echt nicht zum Spaßen zumute."
„Oh oh."
„Aber wehe du kommst mir jetzt mit irgendeiner Party, dann lege ich sofort-"
Melanie lachte „Keine Sorge. Schieß los. Was gibts?"
Dana zögerte einen Moment „Tamara ist los. Und Nikki. Und Lejla. Und ... die ganze Welt ist los."
„Öh", stutzte Melanie, „Also wer Lejla ist, weiß ich noch. Und wer sind auf einmal die ganzen anderen Weiber? Das geht aber ganz schön schnell bei dir ..."
„Me-heeel!" Dana knurrte in ihr Handy und legte es vor ihr auf das Kissen ab.
„Sorry. Okay, ich bin jetzt ernst."
„Tamara ist das Mädchen aus der Disco."
„Diese Sahneschnitte? Mhh...", Dana hörte das Grinsen aus Melanies Stimme, ignorierte es aber.
„Ja, diese Sahneschnitte." 
„Okay, und weiter."
„Ich habe ... wir haben ..."
„Ihr hattet Sex?!"
Dana presste sofort die Hand auf das Handy und sah sich ertappt um, ob ihr Vater etwas gehört hatte.
„Spinnst du? Schrei doch nicht so, man!"
„Sorry wieder. Okay. Also ihr hattet Sex?", wiederholte sie im Flüsterton.
„Nein", sagte Dana entnervt, „Aber ... wir-"
„Ihr habt gefummelt?"
„Würdest du mich mal ausreden lassen? Ich hätte es vielleicht etwas niveauvoller mit intim werden, beschrieben."
„Erzähl mir nichts von deinem Niveau", lachte Melanie.
Dana grinste.
„Okay, im Ernst. Wie wars?"
„Unglaublich", seufzte Dana, versuchte sich aber nicht gehen zu lassen, „Aber das ist eher das Unwichtige."
„Unwichtig?! Oh man. Na gut. Wenn du das sagst."
„Hör doch einfach mal zu!"
„Sorry."
„Hör auf, dich dauernd zu entschuldigen!"
„Was soll ich denn dann sagen?"
„Sei einfach leise und hör zu. Dann kannst du reden was das Zeug hält."
„Okidooo", sang Melanie.
Dana seufzte erleichtert.
„Also. Wir haben gefummelt-"
„Ha, soviel zu Dana-Niveau!"
„MEL!"
Schweigen.
Dana setzte entnervt fort: „Also, es war echt alles klasse. Bis sie mich in den Stadtpark gebracht hat, mich dort verführt hat und uns Nikki erwischt hat."
Schweigen.
„Mel?"
„Bist du fertig?"
„Ja ..."
„Oh mein Gott. Isdaskrass!"
„Du sagst es."
„Und wer ist Nikki?"
„Diese Zicke in meiner Klasse."
„Ach diese Statistenblondine?"
„Jep."
„Klasse. Und nun?"
„Wird es morgen vermutlich die ganze Schule wissen und ich habe scheißangst, wenn ich ehrlich bin, Mel." Dana nestelte an ihrer Bettdecke herum und versuchte sich nicht wahnsinnig zu machen.
„Warum? Weil sie in deiner alten Schule so reagiert haben, heißt das nicht, dass sie das in der neuen Schule auch so werden." 
„Du kennst Nikki nicht. Die wird diese Story noch schön verpacken." 
„Soll ich dich morgen zur Schule fahren?", bot Melanie an.
Dana zögerte. 
„Als Verstärkung. Und sollte dir jemand blöd kommen, stelle ich ihm meine beiden Freunde vor."
„Deine beiden Freunde?"
„Faust Rechts und Faust Links." Melanie grinste.
Dana verdrehte die Augen „Ach Mel ..."
„Hm?"
„Ja, gut. Hol mich morgen um halb Acht ab. Ich warte."
„Okido."
Die Freundinnen lächelten, während Dana den Lautsprecher wieder ausstellte und das Handy an ihr Ohr hielt „Dann sehen wir uns morgen?"
„Um halb Acht."
„Ich freue mich", sagte Dana.
„Ich mich auch. Bis dahin. Penn fein."
„Schlaf schön."

Dana legte ihr Handy unter ihr Kissen, kugelte sich auf die Seite und machte das Nachtlicht aus. 
Obwohl sie dachte, sie würde die halbe Nacht aus Angst und Unsicherheit nicht schlafen können, schalteten sich ihre Gedanken um, wie ein Schalter. Von Nikki auf Tamara und von Tamara auf Lejla.
Sie schloss die Augen und rief sich die wahnsinnig heißen Szenen von Tamara und sich ins Gedächtnis. Ihre Hand wanderte unter die Decke, während sie die Szene in der Bahn erneut fühlte und sich die Lust mit dem Stöhnen von Lejla in ihrem Kopf und ihrem eigenen vermischte. 
So lange, bis sie irgendwann einschlief und anfing zu träumen.


„Wow, Baby. Heute hast du dich aber besonders schick gemacht", trällerte Melanie, sobald Dana in ihr Auto gestiegen war. Sie fuhr sich durch die offenen Haare und seufzte kommentarlos. Melanie startete den Motor und rieb Dana die Schulter „Ist doch alles okay. Glaub mir. Nimm es dir nicht zu Herzen." 
„Wenn es eskaliert, wie damals ... dann-"
„Nixda", Melanie trat aufs Gas, „Es wird nicht eskalieren. Lesben sind heutzutage beliebt." 
Dana schüttelte hoffnungslos den Kopf „Deinen Optimismus möcht' ich haben."
Melanie lachte „Nur, wenn du deinen Pessimismus behältst. Das ist ja kaum zum Aushalten."
Dana funkelte Melanie böse an „Jetzt übertreibst du wieder."
„Die Wörter: ich und Übertreiben, findest du in jedem zweiten Wörterbuch in einem Satz stehen." 
Dana stöhnte und sah aus dem Fenster „Ich bin gerade zu müde, für solche Diskussionen."
„Diskussion? Ich habe dir Recht gegeben, Schätzchen."
Dana reagierte gar nicht mehr darauf. Ihr war gerade nicht nach reden. In ihrem Kopf schwirrten lauter Fragen: 
Hat Nikki bereits getratscht?
Weiß inzwischen die ganze Schule, dass sie lesbisch ist?
Hat sie eventuell sogar noch etwas dazu erfunden, um der ganzen Sache noch etwas Schmackes zu verleihen?
Umso näher Melanie und Dana der Schule kamen, desto mehr stieg in Dana die Übelkeit an und am liebsten hätte sie jede Sekunde geschrien, dass Melanie anhalten soll, damit sie aussteigen und wieder nach Hause laufen kann. Aber das hätte Melanie niemals zugelassen. 
„So", Melanie parkte vor dem Schultor, „Lass mich wissen, was ist." 
Dana nahm ihre Tasche, stieg aus und nickte Melanie zu „Dankeschön. Ich melde mich."
Melanie lächelte „Nichts zu danken. Das machen lesbische Freundinnen nunmal."
„Ja ... Bis heute Abend vielleicht." 
„Adé Prinzessin." 
„Tschüss." Dana schlug die Autotür zu. Melanie winkte ihr und fuhr davon. Es dauerte eine Weile, bis Dana sich überwand den Schulhof zu betreten, wo die ersten paar Grüppchen von Schülern standen und ihre Morgenzigarette rauchten. 
Niemand beachtete sie. 
Das war schon einmal ein gutes Zeichen. 
Sie betrat das alte Gebäude und ging an den Schließfächern vorbei. Alle Schüler damit beschäftigt ihre Schulbücher der kommenden Stunden hervorzusuchen. 
Dana war unwichtig.
Nur Dana.
Das stille, graue Mäuschen. 
Mit tiefen Atemzügen schritt sie den langen Gang entlang und betrat schließlich ihr Klassenzimmer. Der vertraute Geruch von Kreide und altem Wasser, welches aus dem schmutzigen Schwamm nicht ausgewrungen wurde, stieg ihr in die Nase. Sie war die Erste. Das Licht war noch aus, das Klassenzimmer war belichtet mit einem düsteren Grau eines kühlen Morgens. Die Stühle waren ordentlich auf den Tischen gestapelt und es war ruhig. 
Dana mochte Stille. 
Sie steuerte auf ihren Platz zu, hob den Stuhl vom Tisch und kippte das Fenster. Frische Luft strömte in das stinkende, stickige Klassenzimmer. Dana setzte sich. Sie fühlte ihr Herz pochen. Stark und kraftvoll. Es kam nicht selten vor, dass sie die erste Schülerin in ihrem Klassenzimmer war. Aber gerade fühlte sie sich seltsam unwohl. Sie fühlte etwas in ihrem Inneren. Eine Erinnerung... 
Nervös zog sie die Beine an und legte ihren Kopf auf die Knie. Der Stuhl unter ihr war kalt und hart. 

„Ach, Dana. Warum überrascht mich das nicht, dass du schon wieder so früh hier bist?"
Der Hausmeister unserer Schule sieht zu mir herab. Ich sitze, wie jeden Morgen, im Hintereingang auf dem kalten Marmorboden und warte auf den Schulgong. Wir dürfen nicht vor 7:45 Uhr das Schulgebäude betreten. Deshalb bin ich im Hintereingang. 
Theoretisch könnte ich auch später losgehen, aber ich traue mich nicht. Wenn ich früher losgehe, laufe ich weniger Jugendlichen über den Weg. So sehen sie mich nicht, und können mir nichts tun.
Der Hausmeister sperrt eine Tür auf, die gegenüber von mir steht. Die einzige Tür hier in dem kühlen Eingang, neben dem Fahrradkeller. Er holt einen Putzwagen heraus. Dann sperrt er die Tür wieder ab, geht durch die Glastür, die in das Schulgebäude führt und lässt mich im Vorraum sitzen. Die Glastür fällt zu, ich sehe ihm noch ein paar Sekunden hinterher, dann lehne ich meinen Kopf an die Wand und schließe die Augen. Ich bin noch so müde. Vielleicht schlafe ich noch eine Stunde. Soviel Zeit habe ich locker noch.

Dana hob den Kopf und sah auf die Uhr. Es war erst halb Acht. Langsam müssten sich die Schüler im Gebäude sammeln. Und in wenigen Minuten würden die ersten Schüler das Klassenzimmer betreten. 
Sie seufzte tief und vergrub das Gesicht wieder in ihren Knien. 

Die Glastür geht auf. Der Hausmeister steht mit einem Fußabtreter vor mir.
„Hier. Setz dich da drauf. Es ist doch kalt." 
Er reicht mir den Fußabtreter und ich lege ihn unter meinen Po. 
Jennifer hat mir mal gesagt, der Hausmeister hätte auch eine Tochter, die so alt ist wie wir. 
Manchmal kann ich mir das nicht vorstellen. 
Er sieht so komisch aus. 

Dana fühlte, wie sie innerilch das Zittern anfing. Das war eindeutig kein gutes Zeichen. Sie zählte ihre Herzschläge und stellte fest, dass es zu schnell hämmerte. Sie atmete tief ein und aus. Sie musste sich beruhigen. 

In fünf Monaten bin ich in der siebten Klasse. Alle sagen, dass wir dann einen neuen Hausmeister kriegen. Irgendwie bin ich froh darüber. 
Er lehnt sich an die Glastür und sieht mich an „Warum bist du eigentlich immer so früh da?"
„Mein Papa nimmt mich immer mit zur Schule, wenn er zur Arbeit fährt", lüge ich gekonnt und halte seinem eisigen Blick stand. Er kratzt sich am Dreitagebart und denkt nach „Ich habe eine kleine Kammer hier um die Ecke. Da habe ich einen Fernseher und eine Couch. Wenn du magst, kannst du solange dort drinnen warten. Da ist es wenigstens warm."
Ich bin ein wenig verunsichert. Er ist mir nicht geheuer, aber diese Vorstellung an die Wärme klingt so verlockend. Ich schweige. Unschlüssig, was ich sagen soll.
„Na komm." Er reicht mir seine große, haarige Hand. 
Ich zögere nur kurz und lasse mir aufhelfen. 
Er geleitet mich zu seiner Kammer.

Dana schluckte einen schweren Kloß aus ihrem Hals und hob den Kopf. Ihr Blick fiel direkt in den Spiegel an der Wand, der über dem Waschbecken neben der Tafel hängt. Ihre Lippen waren blutunterlaufen. Sie kalkweiß. Sie musste sich ablenken, aber es war zu spät. Ihre Gedanken und Erinnerungen sprudelten vor ihren Augen.

Ich setze mich auf die braune Couch. Hier riecht es nach Kaffee und Schweiß. Ich will wieder raus, aber er schließt die Tür hinter mir. Ich merke noch, wie er absperrt und den Schlüssel in seine Hosentasche steckt. „Nur zur Sicherheit. Ich glaube, du darfst von den Lehrern aus nicht hier sein."
Ich nicke artig und schaue mich um. Es ist wirklich warm. Die Heizung hinter mir ist bis zum Anschlag aufgedreht. Über mir, weit über mir, ist ein kleines Fenster. Nur wenig Licht fällt in dieses kleine Zimmer, aber der Hausmeister hat das Licht angemacht. Er stellt sich an den Waschbecken und nimmt ein Glas aus einem Regal „Möchtest du Wasser?" 
Ich nicke.
Er dreht den Hahn auf und lässt frisches Wasser in das leere Glas laufen.  
Er reicht es mir. 
Ich trinke einen kleinen Schluck und halte das Glas in meinen Händen. 
Der Hausmeister setzt sich neben mich. Er starrt mich an, das fühle ich. Aber ich beobachte weiterhin das Wasser in meinem Glas, das zittert ... oder... nein. Ich zittere. Mir ist immer noch kalt. Oder? Nein... ich fühle mich unwohl. Er nimmt mir das Glas aus der Hand und stellt es am Boden ab. Ich fühle mein Herz bis zum Hals schlagen, als er mit seiner rauen Hand über mein Gesicht fährt. „Du bist ja ganz kalt", bemerkt er. Das stimmt nicht. Mir ist warm. Ich könnte meine Jacke ausziehen, aber das möchte ich nicht. Er legt seine Hände auf meine Beine, auf denen sie überdimensional groß wirken und fängt an sie zu reiben. Schnell und kräftig. Ich fühle, wie heiß meine Beine werden. Ich möchte das nicht, aber ich widerspreche nicht. Er will nur nicht, dass mir kalt ist. 

Ihr Blick fiel auf die Uhr. Noch fünf Minuten. Wo bleiben die anderen? Sie brauchte Ablenkung. Dringend. Ihr ganzer Körper schlotterte. Ihr war schlecht. Ihr Handy lag auf dem Tisch vor ihr und schien förmlich zu schreien, doch sie schaffte es nicht, nach ihm zu greifen. Sie fühlte sich wie versteinert. Die Erinnerungen fesselten sie und um sie herum waberte eine düstere, schlechte Luft. Sie wollte weinen. Aber das ging jetzt nicht.

Er nimmt meine Hände in seine, und fängt auch die an zu reiben. Es tut weh. Seine Hände sind so rau. Schließlich lässt er ab und fängt meinen Blick auf „Du zitterst ja immer noch, Süße." 
Mir gefällt das Wort nicht, wie er es ausspricht. Es hört sich eklig an.
Mir wird schlecht. 
Seine eine Hand legt er wieder auf mein Knie. Er streichelt es mit seinem Daumen. Ich starre auf das Glas am Boden. 
„Sag mal, gibt es hier eigentlich einen Jungen, den du süß findest?", fragt er, nachdem er mich endlos angestarrt hat. Ich schaue ihn an. Ja. Joell. Ich finde Joell schon so lange total süß. Am liebsten mag ich seine himmelblauen Augen. Ich nicke und muss lächeln. 
„Ja? Wer ist denn der Glückliche?"
„Joell", antworte ich kleinlaut. 
„Mag er dich auch?" 
Ich schaue von seinem einen Auge, in das andere. Ich weiß nicht, was ich antworten soll, weil ich die Wahrheit nicht kenne. Er hat mich glaube ich noch nie wirklich bemerkt. 
„So ein hübsches Mädchen muss man doch mögen." Er zwinkert. Ich fühle, dass seine Hand auf einmal weiter nach oben gewandert ist. Ich lächle verlegen und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass ich mich nicht gut fühle. 
„Denkst du oft an ihn?" 
Mein Herz schlägt so laut, dass ich das Gefühl habe, man müsste es bis ins Lehrerzimmer hören, das zwei Stockwerke über mir ist. 
Ich antworte nicht, aber er vergisst seine Frage „Streichelst du dich denn auch manchmal?" 
Ich will hier raus. 
Wann gongt es endlich?
Seine große Hand liegt auf einmal zwischen meinen Beinen. Ich drücke sie zusammen, aber er zieht sie nicht weg. Ich will wieder nach Hause. 
Wäre ich bloß nie mit hier rein gekommen.

Das kreischende Lachen riss Dana aus ihren Gedanken und vor Schreck wäre sie beinahe vom Stuhl gefallen. Marie, eine hübsche Afro-Amerikanerin lief vor Manuel, einem großen, blonden Jungen weg. Sie lachte ihr lautes, ansteckendes Lachen und lief auf Dana zu. Sie packte sie an den Schultern und versteckte sich hinter ihr „Rette mich", lachte sie außer Atem und duckte sich, „Rette mich, Dana!" Dana beobachtete Marie die sich vor Lachen kaum noch halten konnte. Manuel grinste und ließ von ihr ab „Egal. Behalts." Marie kam vor Dana hervor. Immer noch kichernd und warf die Colaflasche Manuel zu. Sie scheint sie ihm geklaut zu haben. Wie jeden Morgen. Dana fühlte sich wieder besser. 
Langsam trafen auch die anderen in die Klasse ein.
Keiner verhielt sich anders als sonst. 
Dana war schon beinahe erleichtert, doch als der Lehrer das Klassenzimmer betrat, war Nikki noch nicht aufgetaucht.
Zu früh gefreut, dachte sie und schlug ihren Ordner auf. 


Es klingelte zur Pause. Dana hatte die ersten Stunden gut überstanden. Trotz dass der erste Stoff Mathe war. Und wie sie feststellen musste, würde sie die nächste Prüfung absolut nicht bestehen. Aber in Mathematik war sie noch nie die Beste. Zögerlich zog sie sich ihre Weste an und ging raus in den Pausenhof. Alleine. Wie immer. Nicht, dass sie keine Freunde finden würde. Sie wurde schon in viele kleinere Cliquen mit einbezogen, aber sie war nie wirklich gesprächig, immer eher ihren eigenen Gedanken nachgehend. Irgendwann war sie einfach nicht mehr interessant. Sie war eben niemand, der über die neuesten Magazine, Stars, Klamotten oder geschweige denn Jungs sprach. 
Sie stieg die steinerne Wendeltreppe herab und suchte sich im Pausenhof einen ruhigen Platz an einem abgelegenen Bäumchen. Der stand genauso außerhalb der anderen Bäume, wie Dana den vielen Schülern. Er war ihr sofort sympathisch. Mit den Händen in der Hosentasche schritt sie langsam an den Schülern vorbei auf den Baum zu. Die Wiese sah trocken aus, schmutzig, aber sie setzte sich und lehnte sich an die Zitterpappel. Sie betrachtete die alte Schulmauer vor ihr und überlegte, wie lange dieses Gebäude schon stand und ob es schon immer als Schule diente. Eigentlich viel zu groß. Ob es vielleicht mal ein Internat war? Oder ein Krankenhaus? Ein Hotel? Vielleicht eine Irrenanstalt - okay, jetzt spielten ihre Gedanken verrückt. 
„Dana. Hey!" 
Dana drehte sich nach links und rechts. Woher kam diese bekannte Stimme?
„Hier oben!" 
„Oh mein Gott! Was zur Hölle hast du da verloren?!" 
Samuel grinste und seine weißen, geraden Zähne traten zum Vorschein. Er hing halb über der Schulmauer. 
„Komm da sofort runter. Du hast doch echt einen an der Waffel!"
„Beruhig dich. Ist alles okay."
Dana sah ihn skeptisch an, bis sie tief Luft holte und ihm Vertrauen schenkte. 
„Woher weißt du, dass ich hier bin?"
„Hat mir deine Freundin gesagt."
„Meine Freundin?"
„Melinda... oder wie die hieß."
„Melanie" - Melanie!
Samuel lächelte, zog sich vollständig auf die Mauer und ließ seine Beine in Danas Richtung baumeln „Sitzt du immer so alleine an irgendeinem Baum in der schmutzigen Wiese?"
Dana setzte schon an, um etwas zu antworten, doch ihr fiel nichts Geistreiches ein. 
„Die Wiese ist nicht so schmutzig."
Samuel lachte. 
Dana lächelte ihn an.
Sein Lachen erstarb „Nein, bleibe ernst. Warum?"
Dana zuckte die Schultern „Ich mag die Ruhe."
„Und die Natur?"
„Sie gibt mir viel", meinte sie nur bestätigend und stand auf, „wenn ich weiter zu dir hoch sehe, dann kriege ich noch eine Nackenstarre."
„Soll ich runter kommen?"
„Vergiss es. Wenn dich die Lehrer hier sehen, hast du wirklich Ärger am Hals."
„Dann wirst du wohl mit einer Nackenstarre rechnen müssen." 
Dana seufzte und sah sich um. Keiner kümmerte sich um sie und Samuel. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie wäre in dieser Schule schon seit langer Zeit unsichtbar geworden. Die Frage ist nur, wie lange sich das noch hält, wenn Nikki die Klappe aufreißt. 
„Möchtest du heute nach der Schule etwas unternehmen?"
Dana stutzte.
„Nur wenn du wirklich möchtest. Sonst haben wir ja nichts davon."
„Meinetwegen. Habe sowieso noch nichts vor."
„Das finde ich gut", Samuel lächelte und fuhr sich durch die blonden Haare. 
„Warum bist du eigentlich nicht in der Schule?" Dana musterte ihn mit kritischem Blick.
Samuel hob die Hände und sah sie vielsagend an „Wo haben wir uns denn kennen gelernt?"
„Sag bloß, du arbeitest dort Vollzeit?"
Samuel zögerte eine ganze Weile und Dana merkte, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. 
In seinem Gesicht spiegelte sich viel Unsicherheit. Als würde er gerade ganz wo anders sein. 
Dana wurde neugierig.
Doch die Schulglocke riss sie aus den Gedanken und Samuel sah ihr wieder direkt in die Augen „Du musst zum Unterricht."
„Du verheimlichst mir was, Sam. Darüber reden wir noch."
Samuel erwiderte nichts. Sprang von der Mauer und verschwand. 
Noch einige Sekunden ihren Gedanken nachgehend, sah Dana ihm hinterher, bis sie sich entschloss, sich nicht weiter den Kopf darüber zu zerbrechen. Er würde es ihr schon noch sagen. Früher oder später.

,,Habt ihr euch schon Gedanken um ein Praktikum gemacht?" Frau Pells sah jedem einzelnen ihrer Schüler in die Augen. Insbesondere Dana, „Dana, ich hoffe, Du wirst dich dieses Jahr um eine andere Stelle bemühen, als bei einem Getränkeverkäufer." Sie hob vielsagend eine perfekt gezupfte Braue. 
Die Klasse lachte.
Dana zuckte genervt die Schultern und stützte ihren Kopf auf die Hände, um in ihrem Block weiter zu kritzeln. 
„Was gibt es da zu lachen? Die Mehrheit von euch, hat nicht einmal eine Stelle gefunden."
Das Lachen und Gekicher erstarb. 
„Dieses Jahr haben wir Lehrer entschieden, dass die Praktikas anders benotet, beziehungsweise, bewertet werden."
Frau Pells war vielen neugierigen Blicken der Schüler ausgesetzt.
Die schlanke Lehrerin spazierte im Klassenzimmer auf und ab „Dieses Jahr wird jeder Schüler, der keine Stelle findet, mit einer Note Sechs bestraft."
„Besser als wie letztes Jahr, stattdessen in die Schule zu gehen", rief ein Oberklugscheißer aus Danas Klasse und in dem Moment schaltete sie ab. Jetzt fing wieder die Diskussion mit "Wie wichtig ist euch eure Zukunft" an. 
Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche, machte es heimlich unter dem Tisch an und sah mit Entsetzen, dass auf ihrem Display mehrere Nachrichten und vor allem eine E-Mail angezeigt war. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Bitte lass die Mail von Lejla sein!
Hastig öffnete sie die Mail und als sie den Nick von ihr las, dachte sie, ihr Herz bleibt stehen. Lejla hatte ihr geschrieben. Tatsächlich!

Hi.
Ich frage mich, was Du an den Sachen Deines Vaters zu suchen
hast
Konzentriere Dich - auf Dich. 
ICH bin in guten Händen - meinen. 

Lejla

Wie in einem Marathon flogen Danas Finger über die Tasten und spürte dabei ihren Herzschlag in den Fingerkuppeln. Lejla hat sich gemeldet. Ich bin ihr NICHT egal!
Schreibe einfach irgendwas. Lass dir was einfallen. Sie wird dir wieder antworten.

Wo bist du jetzt? 
Ich sitze in der schule. wir haben mal wieder eine riesen diskussion gestartet. 
die bestimmt nicht gut ausgehen wird. 
heute abend treffe ich mich mit....
Dana dachte einen Moment lang nach, ...einem Freund.
ich denke oft an dich. 
lg
Dana

Sie schloss ihre E-Mail und öffnete ihre SMS. Melanie. Und Papa. 

hi baby :*
ich habe eine gute neuigkeit
treff dich mit mir heute um 17 Uhr am Café
hab ausnahmsweise mal früher aus -.-
mel

 Die Nachricht von ihrem Papa las sie noch nicht. Interessierte sie nicht. Vermutlich hatte er nur geschrieben, dass es mal wieder spät werden würde und er hofft, dass noch genug Essen im Kühlschrank ist. Das war seine Standart-SMS. Also steckte Dana ihr Handy wieder weg und hatte - ohne es selber zu merken - ein riesiges Grinsen im Gesicht. Lejla hat sich gemeldet. Sie hat sich gemeldet. Sie hat sich WIRKLICH gemeldet!

Nach diesem Moment schien es für Dana, als würden die Stunden wie im Flug vergehen. Kaum hatte sie die Schule verlassen, wusste sie nicht einmal mehr, worum es heute gegangen war. Hm ... immerhin hat Lejla geschrieben. 
Als sie die gewohnte Straße nach Hause spazierte, hielt sie abrupt an. Samuel wollte sich doch mit ihr treffen. Wo? Ihre Gedanken ratterten. Hatte er überhaupt einen Treffpunkt ausgemacht? Sie sah sich um. Dann verdüsterte sich ihr Gesicht. So ein intelligenter Arsch. Er hatte absichtlich kein Treffpunkt ausgemacht, in der Hoffnung, Dana würde ihm eine SMS schreiben. So hätte er ihre Nummer. 
Aber das ließ sie nicht mit sich machen. Sie unterdrückte ihre eigene Nummer und rief bei ihm an. 
„Hallo?"
„Samuel? Ich bin es, Dana."
„Oh", aus seiner Stimme war die Verwunderung heraus zu hören.
Dana unterdrückte sich ein Grinsen „Du wolltest dich mit mir treffen. Wo bist du?"
„Hm", er dachte nach, „Bin im Park an der Statue mit dem Engel."
„Gut. Warte dort. Ich bin gleich da." Sie legte auf und drehte um. Sie eilte den leeren, Blätter bedeckten Weg an der Schule vorbei und rein in den kleinen Park abseits der unbefahrenen Straße. Sie kannte den Weg zur Engelsstatue. Dort war sie oft hin geflüchtet, nachdem ihre Mutter gestorben war. Sie hatte mit diesem Stück Stein gesprochen und geweint, als sei es lebendig. Hoffte so, Gott würde sie hören. 
Doch jetzt glaubte sie nicht mehr an ihn. Er hatte sie zu oft im Stich gelassen. 
Beziehungsweise hatte sie noch nie wirklich an ihn geglaubt. Sie hat sich nur gewünscht, etwas zu haben, woran sie glauben kann. Und versuchte es dann eben mit Gott. Aber das hatte sie nie wirklich glücklich gemacht. Inzwischen schrieb sie Tagebuch. Das gab ihr viel mehr Kraft, als der Glaube an irgendwas. 
Sie hörte die Kieselsteine unter ihren Füßen knirschen, den warmen Sommerwind in den Bäumen heulen, während sie auf den Treffpunkt zusteuerte. Samuel saß, mit einer Mütze in das Gesicht gezogen, vor dem leblosen Engel und war in seine Gedanken vertieft. Dana setzte sich wortlos neben ihn und er hob den Kopf, lächelte sie an „Hi."
„Hi." 
„Schön, dass du da bist." 
Dana nickte und fuhr sich durch die Haare. Sie betrachtete sein Profil. Er sah so ... anders aus. 
Bekümmert.
Nicht mehr so fröhlich wie das letzte Mal, als sie ihn gesehen, und er sie begleitet hatte. 
„Was ist los?", fragte sie ihn direkt. 
Sie hielt dieses trostlose Schweigen nicht länger aus.
„Meine Mum hatte eine Fehlgeburt", sagte er in einem Atemzug, ohne sie dabei anzusehen. 
Danas Herz schmerzte „Das tut mir furchtbar leid, Sam." Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und versuchte seinen Blick einzufangen, doch er ließ es nicht zu. Würde er weinen? Das konnte sich Dana nicht vorstellen bei ihm. Sie schwieg. Und ließ ihm seine Zeit.
„Es hätte gar nicht mehr lange gedauert. Aber heute Morgen ... ging sie in das Bad. Dann hat sie geschrien. Papa und ich sind sofort zu ihr gerannt", seine Stimme brach ab. Tatsächlich. Er wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. Dana fühlte sich befangen. 
„Sie saß dort... überall war Blut ... und das Baby ... lag in der Toilette", er schniefte, versuchte sich zu beherrschen, doch seine Stimme zitterte, „Sie hat es in die Arme genommen ... Du hättest sie sehen müssen!" Samuel sah Dana an. Seine Augen waren rot und nass. „Im Leben habe ich sie noch nie so weinen sehen. Sie hat geschrien. Sie wollte uns nicht ran lassen. Sie wollte nicht wahrhaben, dass die Kleine wirklich tot ist. Sie saß stundenlang dort im Bad, mit dem toten Baby in der Hand und hat mit ihr gesprochen. Hat für sie gesungen", wieder erstarb seine Stimme und er brach verzweifelt in Tränen aus. Dana hatte gar nicht bemerkt, wie ihr selbst die Tränen in die Augen gestiegen waren. Sie zog ihn an sich ran und hielt ihn. Lange. Sehr lange dauerte es, bis Samuel sich wieder fangen konnte. 
Dana wusste nicht, was sie sagen sollte. 
„Ich will gar nicht nach Hause", gestand Samuel und sah Dana wieder an, „ Ich habe Angst, was mich erwartet."
Dana seufzte tief und wischte sich die einzelnen Tränen von der Wange. 
Ihr Herz schmerzte und sie hatte schreckliche Bilder im Kopf. Von dem toten Baby, von der verzweifelten Mutter, von dem hilflosen Vater und von dem hilflosen Samuel. 
„Sam", setzte sie leise an und wartete, bis er mit seiner Aufmerksamkeit bei ihr war, „Ich weiß, das wird dich nicht trösten. Aber du bist stark. Ich kenne weder deine Mum, noch deinen Papa. Aber sie haben dich. Und sie lieben dich. Sei stark für sie, das bist du."
„Was bin ich für sie, wenn sie gerade etwas verloren haben, was sie so tief geliebt haben?"
„Das kann man nicht vergleichen! Du bist trotzdem ihr Kind. Sie braucht dich jetzt. Beziehungsweise ... ihr braucht euch gegenseitig. Deine kleine Schwester hätte das nicht anders gewollt."
Samuel kämpfte wieder mit den Tränen.
„Äääh tut mir leid!!! So habe ich das nicht gemeint, ich meine ..." - Gott, Dana. Halt einfach die Klappe! Sie schwieg und sah bekümmert auf den Boden. Was sollte sie denn machen? Was täte ihr in so einer Situation gut? Sie wusste von sich, dass es ihr besser ging, wenn sie die Sorgen von anderen anhörte. Das lenkte sie ab. Aber ob sie sich für ihn sowas antun würde? Ihre Erinnerungen hervorrufen?
Sie musterte ihn eine ganze Weile.
Sein gebrochenes Herz war in seinen Augen wider zu erkennen.
„Ich habe vor wenigen Jahren meine Mum verloren", setzte sie leise an, und fühlte sofort, wie sich ihr das Herz verkrampfte.
Samuel sah sie aus großen Augen an. Seine Aufmerksamkeit war ihr geschenkt. 
„Ich hatte damals eine richtig beschissene Beziehung zu ihr. Wir haben uns oft gestritten. Auch kurz bevor sie starb", Dana schluckte schwer und fühlte den beißenden Schmerz in ihrer Seele, „Ich habe ihr ins Gesicht geschrien, dass ich sie hasse und bin aus dem Haus gestürmt. Als ich wieder nach Hause kam ... fand ich ein Haus wider, mit einem weinenden Papa auf der Couch und der Polizei im Wohnzimmer." Sie hielt Inne. Musste ihre Tränen schlucken „Ich wünschte, ich hätte ihr noch sagen können, wie sehr ich sie liebe, Samuel. Ich bereue es so." 
„Das tut mir wahnsinnig leid, Dana!" Seine Worte klangen so ehrlich und warm, dass es Dana das Herz brach und sie nun doch ihren Tränen freien Lauf ließ. Er nahm sie in die Arme. „Das Schlimmste daran ist - sie hat sich nie geliebt gefühlt. Papa und Mum waren schon so lange getrennt und Papa hatte immer wieder neue Frauen. Er hat sie gefickt, als gäbe es kein Morgen mehr", sie schluchzte, „Und Mum brach es das Herz. Sie wollte nie wieder einen Mann. Sie wollte nur mit mir glücklich werden, aber ich habe ihr das Leben nur schwerer gemacht." Ihr Körper zitterte vor Schmerz und sie wollte am liebsten schreien. 
Doch das war nicht nötig. Samuel hatte seine starken Arme um sie gelegt und weinte mit ihr. 
Zusammengekauert unter der trostlosen Engelsstatue, inmitten der vielen bunten Farben des Sommers und der Stille des Windes weinten sie sich ihre Sorgen wieder heil.


Samuels Handy hatte geklingelt, kurz nachdem sie sich beide beruhigt hatten. Dana hatte hören können, wie sein Vater ihn gebeten hatte, nach Hause zu kommen und seiner Mutter viel Beruhigungstee und etwas vom Bäcker mitzunehmen. 
Daraufhin war Dana so schnell sie konnte zur Bushaltestelle gestolpert. Sie musste sich beeilen, wenn sie noch rechtzeitig bei Melanie im Café auftauchen wollte. 
Eine halbe Stunde später, relativ aus der Puste, weil sie sich so beeilt hatte, betrat sie das kleine, gemütliche Café am Rande der Stadt und sah, wie Melanie gerade ihre weiße Schürze mit dem Logo ablegte. 
„Bonjour Prinzessin“, grinste sie, als sie hinter der Bar hervorkam und sie in die Arme schloss. Dana winkte über Melanies Schulter ihrem Chef zu, der ihr schon altbekannt war. 
„Ich habe gedacht, du übernachtest heute mal bei mir und ich fahre dich morgen Früh wieder zur Schule. Was hältst du davon?“ Ein Grinsen streckte sich über ihr schmales Gesicht, während sie mit Dana unter dem Arm das Café verließ. 
„Ähm… okay.“ Dana ließ sich von Melanie zu ihrem Auto führen und die Beifahrertür öffnen. Sie setzte sich und schnallte sich an. 
Mit skeptischem Blick musterte sie Melanie, als sie losfuhr „Okay… was hast du angestellt?“
„Nichts habe ich angestellt“, grinste sie weiter. Dana hätte schwören können, dass Melanie gerade innerlich eine Party feierte. Irgendwas machte sie ganz stolz und glücklich. 
„Tu nicht so rum. Warum sollte ich herkommen?“
„Weil ich jemanden getroffen habe.“
„Du arbeitest als Kellnerin in einem Café. Dass du an einem Tag jemanden triffst, ist mir nicht neu.“ Dana zog eine Braue in die Höhe.
Melanie lachte und hupte eine Katze von der Landstraße. Das getigerte Etwas sprang einen halben Meter in die Höhe und fetzte von der Straße herunter. 
„Das arme Ding!“
„Ach was. Schau, wie fromm sie in die grüne, saftige Wiese gesprungen ist.“ Melanie beobachtete sie kurz im Rückspiegel. 
„Ja, sie ist geflohen. So fromm!“ Dana schüttelte grinsend den Kopf und boxte Melanie nun sacht in die Schulter „Also, jetzt spann mich nicht so auf die Folter. WEN hast du heute gesehen?“
„Kannst du’s dir nicht denken?“ In Melanies Augen lag pure Zufriedenheit.
„Naja… du grinst so selbstzufrieden, dass es mir beinahe Hoffnungen macht.“
„Tja, Schätzchen“, trällerte Melanie und legte demonstrativ eine Hand auf Danas Knie, „Und diese Hoffnung kann ich dir erfüllen.“
„Du weißt doch gar nicht, was ich hoffe“, forderte Dana sie heraus.
„Ich weiß immer, was du hoffst!“
„Ach ja?“
„Oh ja!“ 
„Okay, dann sag mir doch, was ich gerade hoffe!“ Dana zog die Brauen in die Höhe und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Du hoffst, dass Lejla heute Abend splitterfaßernackt unter deiner Decke im Bett wartet.“
„Du bist doch ein Arschgesicht!“ Dana musste sich ein Lachen verkneifen und dachte dann theatralisch nach. „Aber du hast recht, ja… das ist gar nicht so eine schlechte Vorstellung!“
Melanie wackelte mit den Augenbrauen und jetzt prusteten beide los. „Okay, nein. Im Ernst jetzt, Mel. Was ist los?“
„Ich habe sie gesehen.“ Sie lächelte Dana an, während sie sich nach hinten drehte, um rückwärts einzuparken. 
Dana blieb das Herz stehen. Obwohl sie es irgendwo vermutet hatte, konnte sie den ausgesprochenen Worten doch keinen Glauben schenken „Echt jetzt? Lejla? Wo?“
„Sie ist heute Mittag bei uns im Café aufgetaucht. Ich bin sofort in die Küche, damit sie mich nicht sieht.“
„Wieso? Verdammt. Warum hast du sie nicht angesprochen?“ Dana schnallte sich los und ließ ihren Rucksack im Auto liegen. 
Melanie warf die Autotür zu und ging mit Dana nach oben in ihre Wohnung.
„Hey, ich habe instinktiv gehandelt“, verteidigte sich Melanie und schloss die Wohnungstür auf. Es war ungewöhnlich ruhig. 
„Wo sind denn die Zwombies und deine Eltern?“, fragte Dana, als sie ihre Schuhe vor der Tür auszog und die Wohnung betrat, in der sie sich wie Zuhause fühlte. 
„Mum und Dad sind noch arbeiten. Die Zwombies sind noch auf irgendeinem Geburtstag und werden um Acht von irgendeiner Mutter gebracht, oder Mum holt sie ab.“
„Und Damian?“ 
„Beim Sitter.“ 
Melanie ging, wie gewöhnlich, als erstes in die Küche und machte sich einen Kaffee. Während das Wasser kochte, lehnte sie sich an die Theke und sah Dana an, die sich auf einen Stuhl gesetzt hatte „Willst du auch einen?“
„Ich trink doch keinen Kaffee“, seufzte Dana. Melanie versuchte es immer wieder.
„Kann ich einfach nicht verstehen. Es ist purer Genuss!“ Sie drehte sich zur Kaffeemaschine und betätigte einen Knopf.
„Es ist pures Gift….“
„…für den Körper“, beendete Melanie den Satz, „Ich weiß.“ Sie hatte den Satz ungefähr schon eine Millionen Male aus Danas Mund gehört. Sie gab einen Schuss Milch und einen Teelöffel Zucker hinzu und ging mit Dana ins Wohnzimmer, wo sie sich auf die Couch lümmelten. 
Dana sah Melanie dabei zu, wie sie an dem Dampf des frischen Kaffees schnupperte, einen Schluck nahm und ihn auf dem Wohnzimmertisch abstellte.
„Also, du hast also ganz spontan gedacht, du versteckst dich jetzt mal vor Lejla?“, griff Dana das Thema wieder auf. „Sehr erwachsen.“
„Nun, es gibt tatsächlich Leute, die darauf stehen, ihre Beute zu suchen und flach zu legen. Das löst bei ihnen eine ungemeine Menge von Testosteron aus“, erklärte Melanie mit ernster Miene. 
Dana legte sich eine Hand ans Ohr. „Hörst du das?“, flüsterte sie und sah sich um. 
Melanie runzelte die Stirn und sah Dana an, als sei sie von allen guten Geistern verlassen, als sie das Ohr an die Wand legte. 
„Was zur Hölle tust du da?“
„Ssshht. Hörst du das nicht?“
Melanie sah Dana an, als würde sie sagen “Willst du mich für blöd verkaufen?”.
„Da, ganz weit in der Ferne… da höre ich es lachen. Ich glaube, das sind meine fast vergessenen Eigenschaften, die Sinn für sehr schlechte Witze haben.“  Ein Grinsen umspielte Danas Mundwinkel, als sie Melanie ansah. 
Diese lachte und kniff ihr sanft in die Hüfte „Du bist so ein Vollidiot!“ 
Beide grinsten sich an, dann setzte sich Dana in den Schneidersitz „Und jetzt mal ernst. Wieso hast du sie nicht angesprochen? Hättest du sie nicht fragen können, warum sie nicht mehr kommen will?“ 
Melanie zuckte die Schulter und zog die Füße auf die Couch „Ich weiß es nicht. Stell dir mal vor, sie hätte mich gesehen, und geht euch – dir und deinem Vater – bewusst aus dem Weg. Denkst du, sie wäre dann nochmal im Café aufgetaucht?! Mit Sicherheit nicht.“
Dana dachte nach und erinnerte sich an Lejlas E-Mail von heute Vormittag, die sich nicht gerade las, als wolle sie zurück zu Dana und ihrem Vater.
„Okay, vielleicht hast du Recht.“
Melanie sah sie erstaunt an: „Was? DU gibst MIR Recht? Oh, das muss ich aber gleich mal im Kalender ankreuzen.“
Dana grinste, dann zog sie ihr Handy hervor und reichte es Melanie mit der geöffneten E-Mail, damit sie Lejlas Nachricht las. 
„Oh“, machte Melanie und reichte Dana das Handy wieder, „Gut, ganz erfreut klingt die Mail ja nicht. Aber, mal ehrlich, Dana: Wo bist du jetzt? Wirklich? Ist dir keine bessere Frage eingefallen?“
„Nein“, seufzte Dana und rieb sich an der Stirn, wie Aladin an seiner Wunderlampe. 
„Du siehst ja, sie hat darauf nicht geantwortet“, sagte Melanie und dachte kurz nach, „Du musst ihr sagen, dass du willst, dass sie zurückkommt. Schreib ihr, was wirklich in dir vorgeht.“
Dana sah sie fassungslos an „Bist du verrückt? Ich kann ihr doch nicht sagen, dass ich mich nach einem Tag in sie verknallt habe!“
„Und wieso nicht?“
„Weil sie dann gewiss nicht mehr zurückschreiben wird.“
„Gut, dann schreib ihr wenigstens, dass IHR sie braucht und dass DU sie vermisst.“
Dana starrte lange, unschlüssig auf ihr Handy. Schließlich, nach einem tiefen Seufzen, flogen ihre Finger über die Tasten. 
Sie drehte die Nachricht zu Melanie.


Komm bitte wieder zurück. Wir brauchen dich.
Du fehlst mir.
Dana.

„Aber das kann ich so auch nicht abschicken.“ Dana schüttelte den Kopf, löschte den letzten Satz und sendete die Nachricht.
„Was hast du jetzt gemacht?“, fragte Melanie, „Das war doch gut!“
„Nein, sie fehlt mir nicht. Sie kann mir nach einem Tag nicht fehlen. Wenn sie darauf nicht antwortet, dann… wird sie ihre Gründe haben.“
Melanie seufzte und schüttelte den Kopf, wiedersprach aber nicht. Mit mehreren, tiefen Schlucken leerte sie die Kaffeetasse. Dana sah sie amüsiert an „Sehr genüsslich sah das aus, Mel. Wirklich, sehr genüsslich.“
Melanie streckte ihr grinsend die Zunge raus und lehnte sich in das Kissen „Sag mal, willst du morgen nicht krank sein?“
„Wieso?“, fragte Dana und lehnte sich neben Melanie in das Kissen.
„Ich hab morgen frei und will mit dir in das Café. Vielleicht kommt sie wieder.“
„Aber du hast sie dort das erste Mal gesehen, oder?“, fragte Dana.
„Ja, schon“, gestand Melanie, „Aber man kann nie wissen. Das Leben besteht aus Schicksal und Karma.“
„Ohja. Karma. Danke für den weisen Ratschlag, Siddharta Gautama.“
Melanie lachte und nahm den Sitz des Buddhas ein „Erhöre mich, mein Untertan, gehorche meinem Befehl und gehe zum Arzt, um dich krank zu schreiben, ooommmmm…..“
Dana musste laut loslachen und schubste Melanie aus der Position „Du hast so eine unglaublich heftige Krankheit!“
Melanie musste auch lachen und fuhr sich durch die Haare.
„Außerdem hatte Buddha weder Untertanen, noch befahl er irgendjemandem irgendwas.“
„Klugscheißer.“
„Das ist Grundwissen.“
„Ja, bestimmt“, grinste Melanie.
Dana seufzte und starrte auf den schwarzen Fernsehbildschirm „Ich kann nicht. Ich bin sowieso schon schlecht in der Schule. Ich kann meine Prüfungen nicht riskieren.“
„Ach was! Das schaffst du. Ich prügele dich da durch mit einer glatten 1,0!“
„Ach ja, bestimmt. DU!“
„Was soll das denn heißen?“, grinste Melanie.
„Du bist blond!“
„Ohh, wow! Wenn wir schon bei Vorurteilen sind….“  Melanie holte aus und piekte Dana in die Hüfte. Das war eines ihrer empfindlichsten Stellen und sie musste ungewollt loslachen, als Melanie über sie herfiel und anfing, sie zu kitzeln.
„Okay“, quiekte Dana, „Okay, okay! Hör auf, Stopp!“ Melanie ließ von ihr ab und Dana wischte sie die Tränen aus dem Augenwinkel „Okay. Ich mach blau.“
Melanie lächelte sie an und richtete Danas schwarze Mähne „Dann machen wir uns heute einen schönen, langen Abend.“
Dana lächelte sie an und war froh, jemanden wie Melanie zu haben.

 
Als Kiki und Lilly vom Geburtstag gekommen waren, hatten sich Dana und Melanie im Zimmer verzogen, um ihre Ruhe zu haben. Sie hatten sich bettfertig gemacht und noch ein Kissen für Dana aus dem Schlafzimmer geholt.
„Kiki und Lilly sind so unfassbar nervig“, stöhnte Melanie, als die Zwillinge in der Wohnung rauf und runter liefen. 
„Du hast wirklich mein herzlichstes Beileid.“
„Oh, ja. Ich danke dir, Schätzchen.“ Melanie schüttelte die Kissen auf und richtete Chips, Kekse und Cola auf dem Nachttisch her, während Dana damit beschäftigt war, sich im Menü von Netflix zurechtzufinden.
„Was genau willst du eigentlich schauen? Drama, Psycho, Horror…“
„Muss es ein Film sein?“, fragte Melanie.
„Was? Willst du jetzt The Vampire Diaries schauen, oder was?“
„Ja, bestimmt!“ Melanie warf mit einem kleinen Kissen nach Dana und lachte. „Ich habe letztens so eine neue Serie gesehen. Die hört sich ganz gut an.“
„Okay.“ Dana reichte Melanie die Fernbedienung und setzte sich zu ihr auf das Bett.
„Kannst du dich auf einen Film konzentrieren? Du wirkst ein bisschen nachdenklich.“ Melanie musterte Danas Profil, als sie sich in das große Daunenkissen gelehnt hatte. Dana seufzte und zuckte die Schultern „Viel los. Und nein, gerade ist sogar nicht Lejla in meinem Kopf.“
„Sondern?“
„Ich habe mich mit Samuel getroffen.“
„Wer ist denn das jetzt schon wieder? Führst du ein Doppelleben oder so?“ Melanie legte die Fernbedienung weg und widmete sich vollkommen ihrer Freundin.
„Nein. Idiot. Das ist der Barkeeper aus dem Club.“
„Ach, echt?“ Melanie sah sie erstaunt an „Läuft da jetzt was zwischen euch?“
„So ein Bullshit. Er hat mich letztens mal nach Hause begleitet. Er ist ganz nett. Und heute nach der Schule haben wir uns für ungefähr eine Stunde im Park getroffen.“
„Okay. Und deshalb bist du jetzt so nachdenklich?“
„Nun“, Dana seufzte und nestelte an der Bettdecke herum, „Er hat mir was ganz Schreckliches erzählt. Seine Mutter hatte heute früh eine Fehlgeburt.“
Ihre Blicke trafen sich.
„Er ist völlig am Ende mit den Nerven, genau wie sie. Er hat total geweint.“
„Sowas erzählt er dir, obwohl ihr euch gar nicht wirklich kennt?“
„Ach, Mel. Du bist immer so misstrauisch. Vielleicht hat er einfach jemanden zum Reden gebraucht“, verteidigte Dana ihn.
„Ja, vielleicht“, dachte Melanie nach, „Vielleicht hat er sich das aber auch nur ausgedacht, um deine Aufmerksamkeit zu bekommen. Hast du daran schon einmal gedacht?“
„Ach was“, schnaubte Dana verärgert, „Lern ihn doch erst einmal kennen, bevor du so etwas über ihn behauptest.“
„Wow“, Melanie hob entwaffnend die Hände, „Sorry. Ich wollte dich nicht angreifen.“
Dana schüttelte den Kopf „Schon okay. Lass uns einfach deine Serie schauen. Ich komm schon noch auf andere Gedanken.“ Sie lächelte Melanie verzwickt an, doch diese beobachtete Dana nur nachdenklich und legte die Fernbedienung weg.
„Aber das ist nicht alles, was dich so nachdenklich macht. Ich kenn dich schon fast mein ganzes Leben, ich sehe dir das doch an!“
Dana senkte den Kopf und rieb sich den Arm „Naja… ich habe ihm von meiner Mutter erzählt. Das… hat mich ein bisschen mitgenommen.“
„Nur ein bisschen?“ Melanie lachte emotionslos auf.
„Es ist wirklich alles okay, Mel“, beschwichtigte Dana und rang sich wieder ein Lächeln ab, „Ich kann es nicht leugnen, dass sie mir fehlt. Also was soll ich es dann auch verheimlichen? Und jetzt starte endlich mit dieser blöden Serie.“ Dana riss ihr scherzhaft die Fernbedienung aus der Hand und startete die erste Folge von The Fosters.

 
„Ich bin mir nicht ganz so sicher, ob das eine gute Idee ist“, murmelte Dana, als sie ihre dünne Strickjacke auf die gepolsterte Bank legte und sich an den Holztisch setzte. Sie zog eine kleine Karte aus dem Ständer in der Mitte des Tisches und klappte sie auf. Ihre Augen wanderten über die Buchstaben, aber sie nahm keinen davon wirklich auf.
„Ach was. Gestern warst du noch ganz begeistert. Hey, schau, Jean lädt uns auf ein Mittagessen ein. Wir kriegen am Abend ein Cocktail auf’s Haus und außerdem gibt es heute eine kleine Karaoke-Party.“
Jean war Melanies Chef. Er war damals, vor ein paar Jahrzehnten, aus Paris nach Deutschland gezogen. Anfangs hatte er in Berlin gelebt und zog vor fast zehn Jahren hierher in das Dorf, welches aussah, als wäre es einige Jahrzehnte zurückgeblieben. Es wirkte arm, aber sehr friedlich. Nur zwei Dörfer von der Provinz entfernt, wo Dana lebte. Dana mochte Jean unglaublich gerne. Er war aufgeschlossen, freundlich, humorvoll. Sie mochte es, wenn er mit diesem großen Grinsen an ihnen vorbeilief oder sie anzwinkerte. Wenn er sich sacht verbeugte, wenn Dana das Café betrat, sich bei seinem Lächeln der Künstler-Schnurbart hob und er sagte „Bonsoir Madmoiselle!“
„Ist doch alles halb so wild. Wenn Lejla auftaucht, taucht sie auf. Wenn nicht, dann nicht, und wir haben trotzdem einen guten Abend hinter uns!“ Melanie nahm Dana die Karte aus der Hand und legte sie auf den Tisch. Sie fing ihren Blick auf „Hast du gehört? Hör auf, jetzt dein ganzes Leben auf diese Frau zu beschränken. Was ist eigentlich mit Tamara?“
„Ach.“ Dana schnalzte mit der Zunge und machte eine wegwerfende Handbewegung.
Ach, was?“ Melanie winkte einen Kellner zu sich an den Tisch „Hi Toni. Kannst du uns zwei Colas bringen?“ Toni nickte Melanie zu und verschwand.
„Ich bin mir nicht so sicher.“
„Nicht so sicher? Sex ist Sex. Und Sex ist gut. Was ist schon dabei?“
Dana seufzte und lehnte sich in die gepolsterte Bank. Sie blickte aus der Fensterwand neben ihnen und beobachtete zwei kleine Kinder, die aussahen wie Zigeuner. Barfuß, Hand in Hand, liefen sie die bestaubten Straßen entlang. Dem kleinen Jungen, kaum älter als vier Jahre, diente ein weißer Lumpen als Hemd. Es war voller Dreck. Dem Mädchen hingen die schwarzen Haare in das sonnengebräunte Gesicht. Sie trug ein schlichtes, pinkes T-Shirt und eine kurze Hose. Genauso verschmutzt wie der Kleine. Wenn Dana es nicht besser wüsste, würde sie denken, sie säße irgendwo in einem sehr, sehr alten, armen und traurigen Dorf in einem kleinen, schmuddeligen Schuppen. Aber diese Kinder waren nicht arm. Weder das, noch waren sie traurig.
„Dana?“
„Oh. Ja. Sex.“ Sie riss den Blick von dem Geschwisterpaar und sah Melanie in die kristallblauen Augen. „Nein. Kein Sex. Ich weiß nicht. Ich finde Tamara unglaublich anziehend. Aber… ich kann nur an Lejla denken, wenn ich sie berühre. Oder wenn sie mich berührt. Genauso schlimm. Nein, kein Sex. Entweder, ich konzentriere mich jetzt darauf, Lejla zu finden – und dann meine ich wirklich nur Lejla, keine andere Frau – oder ich schließe sie ab und bumse mich durch die halbe Provinz, bis es mir zum Hals raushängt. Nein. Wenn ich es mir recht überlege, dann bleibe ich doch lieber bei Lejla.“
„Oh Gott. Du bist so furchtbar altmodisch.“ Melanie seufzte, als Toni die zwei Cola auf den Tisch stellte. Sie bedankte sich und nahm einen kräftigen Schluck.
„Wie kommt’s? Kein Kaffee?“ Dana mustert Melanies Cola.
„Nope. Nicht, kurz nach dem Aufstehen.“
„Wir sind seit einer Stunde wach.“
„Ja. Und für meine Verhältnisse viel zu früh. Neun Uhr. Pah!“
„Aber Hauptsache sich abends noch einen Kaffee herunterwürgen.“ Dana schüttelte grinsend den Kopf. Melanie erwiderte das Grinsen.
„Außerdem kann ich dann nicht frühstücken.“
„Wieso nicht?“, fragte Dana ernsthaft verwundert.
„Komischerweise behaupten fast alle, dass man Durchfall kriegt, wenn man morgens auf nüchternem Magen Kaffee trinkt. Bei mir ist das genau andersrum. Ich krieg nur Bauchschmerzen, wenn ich parallel etwas dazu esse.“
„Sehr lecker. Aber ich kenne eine Menge Leute, die morgens Kaffee trinken, um sich dann entleeren zu können.“
„Du kennst aber komische Leute“, sagte Melanie, „Warum macht man das? Also ich würde nicht schon in der Früh mein leises Geschäft erledigen wollen.“
„Dein leises Geschäft.“ Dana lachte „Seit wann drückst du dich denn so gewählt aus?“
Melanie lachte leise, dann zuckte sie die Schultern „Naja, vielleicht kacken sie in den Montag rein. Das ist gar nicht so abwegig, sinnbildlich gesehen.“
Beide lachten.
„Bonjour, bonjour“, trällerte Jean, als er sich neben Dana auf die Bank fallen ließ. Er legte ihr einen Arm um die Schulter und lächelte Melanie an „Soweit beide zufrieden?“ Dana schmunzelte immer wieder über seinen Akzent und die Anstrengung, sich richtig auszudrücken.
„Bonjour“, grinste Melanie und hob ihr Glas, „Wir sind bestens versorgt.“
„Und? War Madmoiselle bereits hier?“
„Lejla? Nein. So früh wird sie sicher nicht auftauchen“, antwortete Melanie, „Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob sie wirklich kommt.“
Dana sah sie boshaft an. Hatte sie etwa schon dem halben Dorf von ihr erzählt? Sie war einfach unglaublich.
„Oh, sacrebleu“, murmelte er kopfschüttelnd und tätschelte Danas Hand „Sie wird bestimmt hierherkommen. Mein kleiner Laden ist ein Augenschmaus für Stadtleute oder Provinzler.“
„Ein Augenschmaus, also“, Dana lächelte ihn an und sah sich in dem kleinen, urigen Café um, dann zuckte sie die Schultern, „Es ist auf jeden Fall ansehnlich.“
„Oh. Merci!“ Jean lachte und stand auf, er zog seine alte Stoffmütze vor Dana und machte sich wieder an die Arbeit. Es waren schon einige Gäste zu sehen.
Jeans Café war tatsächlich eines der Beliebtesten in dieser Gegend. Die Leute kamen sogar von den Nebendörfern, um sich hier zu amüsieren oder um zu Abend zu essen.
Allerdings, so fing Dana jedenfalls an zu glauben, zählte Lejla wohl nicht unter diese Menschen, die gerne im Café Jean waren. Sie ließ sich einfach nicht blicken. Sie hatte zwar von Anfang an gewusst, es wäre eine Chance von vielleicht Eins zu Hundert, aber sie hatte gehofft. Diese Hoffnung gab sie letztendlich komplett auf, als sich am späten Nachmittag das Café immer weiter füllte und das Gelächter und Gerede immer lauter wurde. Eine Clique alter Leute hatten sich an der Bar gesammelt und tranken prostend und scherzend ihr Bier – das Vierte oder Fünfte.  Einer von ihnen war schon fast so dicht, dass er sich gerade noch so aufrecht halten konnte. Ein Grüppchen Frauen – relativ attraktiv, wie Dana feststellte – saß in einer Ecke des Cafés, trank ihre Caipirinhas und redete und lachte. Eine der Frauen, eine mit knallroten Lippen, dunklen, lockigen Haaren und einem langem, ausgelassenen Kleid flirtete immer wieder heftig mit Toni. Er schien die Blicke der Frau, die nur wenige Jahre älter sein durfte, sehr zu genießen. Zwinkerte ihr zu, schob ihr ab und an mal ein Glas Prosecco zu und flüsterte: „Das geht auf mich.“
Dana konnte es nicht hören, aber sie war sich sicher. Seine Geste und ihre Blicke verrieten es.
Gegen sechs wurde es so voll, dass sich die Leute schon fast bis vor die Tür tummelten. Einige standen in den schmalen Gängen, die zu den Toiletten führten, andere saßen zu acht auf den Bänken, auf die unter normalen Umständen bloß vier Leute passten.
Schließlich, als Jean mit einer fröhlichen Ansage den Karaoke-Abend ankündigte und schon der erste, relativ angeheiterte Mann an die Bar trat, um zu singen, ließ Dana ihr Gesicht in die Hände sinken und seufzte: „Ich hab keinen Bock mehr.“
„Jetzt wird’s doch erst lustig!“ Melanie nahm Danas Hand und tätschelte sie, doch sie ließ sich nichts mehr einreden.
„Sorry, Mel. Ich pack das einfach nicht mehr. Es stinkt schon aus allen Ecken nach Alkohol, die Männer brüllen mir ins Ohr und mein Arsch ist platt wie ein Pfannkuchen. Ich will nach Hause.“ Dana griff nach ihrer Jacke und stand von der Bank auf.
Melanie erwischte sie am Handgelenk und zog sie neben sich „Hör auf. Sei nicht so ein Trauerklos. Das ist ja kaum zum Aushalten. Ich bestell dir jetzt was.“
„Was?“
„Einen Cocktail.“ Mel pfiff Toni zu, der neben der attraktiven Brünette saß und flirtete.
„Was? Nein! Ich will keinen Cocktail. Mel, du weißt, ich hasse Alkohol!“
„Du hast noch nie einen Cocktail getrunken. Also sei jetzt leise und probiere wenigstens.“ 
Dana hatte sehr wohl einen Cocktail getrunken. An dem Abend, an dem Tamara ihr eins bestellt hatte. Es hatte widerlich geschmeckt, aber sie sagte dazu nichts.
Melanie pfiff nochmal laut in die Finger, als Toni nicht reagierte. Schließlich entschuldigte er sich bei der Frau und kam zu Mel geeilt.
„Bring uns beiden bitte einen Pina Colada.“
„Einen?“
„Nein, für Dana und mich.“
Dana schüttelte verzweifelt den Kopf, als Melanie nicht hinsah. Toni deutet auf Dana und hob eine Braue „Aber sie trinkt doch keinen Alkohol.“
„Heute schon“, bekräftigte Mel und legte einen Arm um Dana, dann zwinkerte sie Toni zu. Er hob entschuldigend die Schultern und Dana schlug die Hand an die Stirn. Sie wollte im Erdboden versinken. Sie fand Alkohol in Kombination mit Frauen einfach furchtbar unsexy.
„Stell dich nicht so an“, sagte Mel und stieß ihr sanft in die Seite.
„Ja. Stell du dich nicht so an!“
„Hör auf Dana, wirklich. Du trinkst mit mir den Cocktail. Er wird dir schmecken. Ich kenne deinen Geschmack.“
„Okay. Ist okay.“ Dana hob kapitulierend die Hände und legte die Jacke wieder weg. Sie würde wohl doch nicht hier rauskommen.

 
Nach ihrem zweiten Cocktail merkte Dana schon, dass ihr der Abend auf einmal Spaß machte. Nach dem Dritten fing jede Kleinigkeit an, sie zu amüsieren. Sie lachte darüber, wie Melanie ihr die Karte aus der Hand zog und sie tadelte. Sie lachte auch, als sie anfing wütend zu werden.
Es war ihr egal. Sie fand alles einfach nur furchtbar lustig. Ihre Augen konnten keinen Punkt mehr fixieren. Sie wanderten im Café umher und wenn sie irgendwo hängen blieben, wurde ihr schwindelig. Auch darüber musste sie lachen.
„Oh, Mel. Ich will jetzt tanzen. Ich will tanzen!“ Sie stand auf und drehte sich einmal um ihre eigene Achse, wobei sie beinahe das Gleichgewicht verlor und umkippte, hätte nicht eine starke Hand nach ihrem Arm gegriffen.
Es war Jean, der Melanie ernst ansah und Dana stützte, die hin und her schwankte „Du solltest sie nach Hause bringen.“
„Ja. Oh Gott“, Melanie stöhnte, nahm Danas Jacke und stand auf, „Ich konnte ja nicht wissen, dass sie so wenig verträgt.“
„Sie sollte gar nichts vertragen, oder?“ Jean warf Mel einen vielsagenden Blick zu.
„Ach komm. In weniger als einem halben Jahr wird sie achtzehn. Und tu nicht so, als würden hier jemals irgendwelche Bullen aufkreuzen.“
Jean seufzte nur und winkte ab „Pass auf, dass du sie gut nach Hause bringst.“
Mel nickte, als sie ihm Dana abnahm und ihr half die Jacke anzuziehen „Heil“, rief sie noch zurück.
„Hm?“ Jean drehte sich zu ihr um.
„Das heißt: dass du sie HEIL nach Hause bringst.“ Sie zwinkerte.
„Pffffh“, machte Jean, lachte aber, und winkte ihr zu, als sie das überfüllte, gut gelaunte Café verließ. Als sie sich mit Dana durch die Menge drängelte und ein Gesicht erkannte, wechselte sie schlagartig die Richtung und stolperte so schnell sie konnte aus der Tür an die frische Luft.

 
Mel hatte Dana nach Hause gefahren und half ihr gerade dabei, die Schuhe auszuziehen. Wenn sie schon nicht geschaffte hatte, den Schlüssel in das Schlüsselloch zu schieben, geschweige denn, es zu finden, würde sie sicher beim Versuch, ihre Schuhe aufzubinden, kopfüber auf dem Boden landen.
„Sehr sexy, Dana. Wirklich.“ Mel steuerte sie an den Schultern nach oben durch das leere Haus und stieß mit einem Fuß die Tür zu Danas Zimmer auf.
Dana kicherte, wand sich aus Melanies Griff und stürzte.
„Ach, fuck!“ Mel bückte sich fluchend zu Dana und wollte unter ihre Arme greifen, doch sie wehrte sich – so gut sie es in dem Zustand eben konnte – und machte sich schwer wie ein Fels. Dana schüttelte verzweifelt den Kopf und legte sich auf den Boden. Die Hände rechts und links neben ihrem Gesicht liegend.
„Dana, steh auf. Bitte.“ Mel ging in die Hocke und strich Dana die dunkle Mähne aus dem Gesicht. Sie hatte blutrote Lippen und rot angelaufen Wangen. Mel fand, dass Dana relativ sexy aussah, als sie angetrunken war. Dieser verschlafene, prüde Blick, das dezente, dauerhafte Lächeln auf ihren knallroten Lippen. Aber der Cocktail danach war doch zu viel gewesen.
„Mir ist so schlecht“, krächzte Dana und Mel erkannte die tränenerstickte Stimme.
„Oh nein“, seufzte sie und sah sich im Zimmer um, in der Hoffnung, ein Haargummi zu finden.
Tränen fingen an über Danas Gesicht zu laufen „Ich bin so schrecklich“, schluchzte sie und eine Pfütze bildete sich unter ihrer Wange auf dem hellen Parkett.
„Nein, das bist du nicht.“
„Doch, das bin ich. Ich bin so schrecklich und mir ist so schlecht und ich will Lejla wieder sehen.“
„Du bist nicht schrecklich. Steh auf.“
„Nein ich kann nicht!“ Sie weinte los, wie ein kleines Kind, als hätte Mel etwas Unmögliches von ihr verlangt und sie gedemütigt.
„Doch, du kannst. Komm.“ Mel stand auf und packte sie am Arm.
Dana entfuhr ein entsetzliches Wimmern und Schluchzen, als Mel ihr auf das Bett half.
„Ich hole dir Wasser.“
„ich will nichts trinken. Ich will kein Wasser.“
Mel ignorierte sie, flitzte aus dem Zimmer nach unten in die Küche und ließ eiskaltes Wasser in ein großes Glas.
„Hier. Trink das.“
Dana schüttelte den Kopf. Tränen flogen aus ihren Augenwinkeln „Nein. Nein, ich will kein Wasser. Ich will dass es mir gut geht.“
„Danach geht’s dir gut, glaub mir. Trink jetzt, das Wasser!“ Mel drückte Dana das Glas in die Hand. Sie setzte es wie in Zeitlupe an ihre Lippen, hielt inne, als müsse sie nachdenken, ob sie wirklich trinken sollte.
„Na los.“
Dana nahm einen sehr bescheidenen Schluck und gurgelte ihr Wimmern in das Glas hinein. Dann fuhr sie sich über das Gesicht „Ich will nicht, dass es mir schlecht geht. Oh Gott!“ Wieder brach ein Schwall Tränen aus ihr heraus „Ich sehe so unsexy aus. Oder? Schau mich nicht an.“ Sie versteckte ihr Gesicht in der freien Hand und hielt Mel das Glas entgegen.
„Ach“, Mel musste ein wenig lachen, „Hör auf, Dana. Du siehst wunderschön aus.“
„Oh Gott. Mir ist so schlecht. Ich glaub ich muss kotzen!“
Dana versuchte aufzustehen, wankte aber und fiel in das Bett zurück.
Mel hielt Dana am Arm fest und strich ihr eine nasse Strähne aus dem Gesicht.
„Ich muss aufs Klo! Mir ist so schlecht!“
„Okay. Okay.“ Mel stand auf, packte Dana am Arm und führte sie ins Bad, wo sie Mel wieder abschüttelte und sich am Türrahmen festhielt.
„Bleib draußen. Ich will nicht, dass du das siehst.“
„Ich komme mit. Ich halte dir die Haare, Prinzessin. Komm.“
Dana war zu schwach, um zu widersprechen und kapitulierte.
Als das Gift, Mel war sich sicher, dass das lange noch nicht alles war, aus ihrem Körper draußen war, wankte Dana wieder mit Mel an der Seite ins Zimmer und trank das ganze Glas leer. „Jetzt geht es mir schon etwas besser. Oder? Wenn es draußen ist, wird es doch besser?“
„Ja, ja Schätzchen. Jetzt wird’s besser. Ich hol dir noch ein Glas Wasser, okay?“
Dana nickte schmollend und ließ den Kopf hängen. Sie war so dankbar, eine Freundin wie Mel zu haben. Sie hätte sie am liebsten geküsst, so sehr liebte sie sie.
„Danke. Danke. Danke“, schluchzte Dana, als Mel mit einem vollen Glas Wasser wieder hoch kam. Ihr liefen schon wieder Tränen über das Gesicht und Melanie suchte Taschentücher in Danas Schubladen. Sie wusste, dass da irgendwelche sein mussten. Dann tupfte sie sanft die Tränenspuren von Danas Gesicht, putzte das verschmierte Mascara aus ihren Augenwinkeln.
Jetzt weinte Dana nur noch. Sie schluchzte, und jammerte. Mel hatte das Gefühl, dass sie die ganze Nacht wachbleiben müsste.
Irgendwann, Mel hatte schon gar nicht mehr damit gerechnet, fing Dana an sich zu beruhigen und schniefte. Ihr Blick fiel auf den Wecker auf dem Nachtisch und ihre müden, tränennassen Augen weiteten sich, als wäre ihr gerade etwas bewusst geworden. Sie sah Mel an und Fragezeichen standen ihr im Gesicht. „Ich habe zwanzig Minuten geweint. Zehn Minuten vor Mitternacht habe ich angefangen, dann habe ich kurz aufgehört und um zehn nach wieder angefangen, und jetzt ist es zwanzig nach Zwölf.“
Mel lachte los und schüttelte den Kopf „Nein, Schätzchen. Du hast keine zwanzig Minuten geweint.“
Dana sah vollkommen verwirrt und überrascht aus „Nicht? Aber es war doch zehn Minuten vor Mitternacht, als ich angefangen habe.“
„Nein. Komm, Prinzessin. Zieh dich aus und leg dich hin.“
Dana schniefte, wischte sich noch einmal über das Gesicht und legte sich auf das Bett. Mel half ihr, die Hose und das Oberteil auszuziehen.
Es dauerte noch eine geschlagene Stunde, bis Dana einschlief. Sie seufzte, drehte sich, jammerte und war schon wieder nahe am Weinen, weil sie so müde war, aber die Übelkeit es ihr nicht zuließ, einzuschlafen.
Mel dachte, es wäre besser, Dana nicht wissen zu lassen, dass sie beim Gehen Lejla in der Menge entdeckt hatte.

 
Der nächste Tag war, so hatte es Dana beschrieben, der schlimmste, den sie je erlebt hatte, gleich nach dem Tod ihrer Mutter. In der Nacht war sie, nur wenige Minuten, nachdem sie eingeschlafen war, wieder auf die Toilette gerannt. In der Früh noch drei Mal und beim vierten Mal steckte sie sich selbst den Finger in den Hals, in der Hoffnung, wirklich alles aus dem Körper zu bekommen. Mel hatte sie daraufhin krankgeschrieben und Toni angerufen, ob er mit ihr die Schicht wechseln könnte.
Irgendwann hatte Dana ein kleines Stück von einer Brezel abgebissen, musste aber auch gleich danach wieder aufs Klo, um sich zu übergeben. Sie weinte ein paarmal, weil ihr diese unbeschreibliche Übelkeit noch so neu war. Mel hatte sie immer wieder versucht zu überreden, etwas Süßes zu trinken oder Salziges zu essen, aber Dana lehnte alles ab, nahm nur schlückchenweise eiskaltes Wasser zu sich. Am Abend ging es ihr immer noch nicht gut, und Mel fragte sich, wie man von drei Cocktails so einen Kater haben konnte. Dana antwortete darauf nur, dass sie eben nicht so geübt darin war, ihren Körper zu vergiften.
„Haha. Deine Witze sind der Brüller, Miss“, antwortete Mel sarkastisch und machte sich einen Kaffee. Dana saß auf dem Barhocker in der Küche und sah Mel dabei zu, wie sie versuchte die High-Tech Kaffeemaschine zu bedienen.
„Ach“, seufzte sie genervt, „Reich zu sein, fördert wohl auch die Gehirnzellen. Diese vielen Knöpfe! Wozu ist der da gut?“ Sie deutet auf einen unbeschrifteten Knopf.
„Erstens: ich bin nicht reich! Mein Vater verdient nur gut Geld und wir haben ein wenig von meiner Großmutter geerbt. Und Zweitens: keine Ahnung. Ich trink doch keinen Kaffee. Du hast auch ein Hirn wie ein Sieb.“
Mel krauste die Nase und kratzte sich nachdenklich am Kopf, während sie die Kaffeemaschine musterte.
Dana beobachtete sie noch eine Weile, wie sie die Tasse aus einem der vielen Schränke unter die Maschine stellte, Milch aus dem Kühlschrank holte und den Zucker herrichtete.
„Mel?“
„Hm?“
„Danke.“
Mel drückte einen Knopf, woraufhin die Kaffeemaschine leise surrend schwarzen Kaffee in die Tasse ließ und drehte sich zu ihr um „Danke, wofür?“
„Für gestern. Und heute. Dass du nicht einfach gegangen bist. Und … mich so unterstützt. Das hätte kein anderer für mich getan.“
„Stimmt“, witzelte Mel, „Gestern Nacht warst du beinahe unerträglich. Und von wegen, zwanzig Minuten geweint. HA!“ Sie musste wieder in sich hinein lachen, kam dann zu Dana rüber und küsste sie auf die Wange „Ach, ist doch alles kein Thema, Prinzessin. Sowas tun Freunde füreinander.“
„Gute Freunde schon.“ Dana lächelte sie schwach an.
„Mann. Ich habe keine Lust Spätschicht zu machen.“ Mel warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und trank zügig ihren Kaffee.
„Soll ich mitkommen?“, fragte Dana und beobachtete, wie Mel hektisch die Milch und den Zucker wieder zurück stellte.
„Nein. Bleib Zuhause. Dir geht es noch nicht besonders gut. Außerdem hätte ich eh keine Zeit für dich.“
„Egal“, bekräftigte Dana, „Ich will bei dir sein.“
„Und dein Dad?“
„Ach, der. Mein Papa kommt bestimmt erst um elf nach Hause oder so.“
Mel musterte Dana nachdenklich, kippte den restlichen Kaffee runter und seufzte „Okay. Aber dann beeil dich. Ich muss in einer halben Stunde dort sein.“
„Sir, ja Sir!“ Dana sprang grinsend vom Barhocker und eilte die Treppe hinauf. Ihr war noch ein wenig schwindelig, aber das war nichts mehr im Vergleich von heute früh. Außerdem war es ihr egal. Sie wollte Mel begleiten. 
Insgeheim lag es gar nicht daran, dass sie bei ihr sein wollte. Sondern um die Tatsache, dass sie hoffte, Lejla doch noch anzutreffen.

 
Die Bar war voll, leise Musik spielte im Hintergrund und Toni warf Mel gerade die Schürze zu, als sie zur Tür herein kam.
„Endlich! Ich hab auch noch ein Privatleben!“
„Sorry!“ Mel band sich die Schürze um und bot Dana einen Platz an der Bar an.
„Ich hol dir eine Cola“, sagte sie, bevor sie hinten in der Küche bei Jean verschwand.
Dana wollte noch wiederreden und sagen, dass sie nichts trinken wollte – sie hatte Angst, dass ihr der Magen rebellierte –, aber dazu war sie gar nicht erst gekommen.
Ihr Handy vibrierte. 
Sie zog es heraus, es war Tamara. 


Hi Süße,
du hast länger nichts von dir hören lassen. Ist alles in Ordnung?
Kuss, Tam

 
Dana fühlte, wie sich ihr Magen verknotete. Sie hatte irgendwie befürchtet, dass es Tamara war. Sie hatte sich bewusst nicht mehr bei ihr gemeldet. Ihr kam die Situation nicht geheuer vor. Sie hatte das Gefühl, etwas Falsches zu machen. Sie hätte allerdings wissen müssen, dass sie nicht einfach fliehen konnte.
Zögerliche tippte sie auf die Buchstaben in ihrem Handy, musste mehrmals die Sätze löschen, die sie schrieb, und wieder neu anfangen.

 
Hey
Ich weiß. Tut mir leid, ich hätte mich melden sollen.
Es ist so: ich bin momentan irgendwie im Stress. Nicht in der Schule, oder so, aber … privat. Ich muss mir endlich mal darüber klarwerden, was ich will.
Ich will dich nicht benutzen.
Es wäre besser, wir sehen uns erst einmal nicht mehr.
Leb wohl.
D.

 
Mel kam mit einem großen Glas Cola an die Bar geeilt und stellte es vor Dana ab „Geht aufs Haus. So. Ich muss mich jetzt um die Gäste kümmern.“ Mit dem Satz rannte sie schon fast zu einem Tisch, wo eine Frau nach ihr rief, und nahm die Bestellung an.

 
Das ist schade. Wirklich.
Ich hätte dich gerne „näher“ kennen gelernt.
Tam.

 
Dana seufzte, als sie die Nachricht las und fragte sich, warum es sich für sie so unfreundlich anhörte. Bildete sie sich das ein, oder war Tamara jetzt tatsächlich beleidigt? 
Insgeheim wusste sie, sie würde sich nicht mehr bei ihr melden.
Sie hätte gerne mit ihr geschlafen, klar. Tamara hatte sie sehr angemacht, sie fand sie anziehend und sexy, aber … die Gefühle, die sie nebenbei für Lejla hatte, mit der Tatsache gemischt, dass sie eigentlich mit niemandem lieber Sex haben wollte, als
mit ihr, das ließ es ihr einfach nicht zu, irgendeiner anderen Frau näher zu kommen. So war sie einfach nicht.
„Hey!“
Dana erschrak, als sich Samuel neben sie an die Bar stellte und sie aus seinen warmen Augen anlächelte.
„Was machst du denn hier?“, fragte sie sichtlich überrascht.
„Das könnte ich dich auch fragen. Gehst du unserem Club fremd? Bin ich kein guter Barkeeper?“
„Ach was. Ich bin mit meiner Freundin hier.“ Dana deutete auf Mel, die mit einem Tablett in der Hand zu einem Tisch ging.
Samuel sah Dana fragend an „Freundin?“
„Beste Freundin“, erklärte Dana und war genervt, dass man sowas als Lesbe immer betonen musste.
„Und was machst du hier?“
„Ich bin verabredet.“
„Aha“, Dana grinste vielsagend.
„Nein, kein Mädel. Mit ein paar guten Freunden.“
Dana nickte verständlich und traute sich, einen Schluck von ihrer Cola zu nehmen. Sie war erleichtert als sie merkte, dass diese Süße in ihrem Mund sehr gut tat. Dann sah sie ihm direkt in die Augen.
„Wie geht es deiner Mutter?“
Dana nahm ein kurzes Flimmern in Samuels Augen wahr, dann senkte er den Blick „Naja. Sie hat vor zwei Tagen ihr Kind verloren.“ Er zuckte die Schultern und Dana merkte wie, dämlich ihre Frage gewesen war.
„Und dir? Wie geht es dir?“
Samuel sah sie wieder an und setzte ein Lächeln auf „Das Leben geht weiter, nicht?“ Dana erkannte die Lüge in seinen Augen. Warum mussten Männer nur so unglaublich stur und hart sein?
„Aber…“, sie runzelte die Stirn, „Nein, nein, Sam, das kaufe ich dir nicht ab. Vor zwei Tagen hast du noch geweint…“
„Können wir einfach über etwas anderes reden?“ In seine Augen legte sich ein Hauch von Verachtung und Wut und Dana wich instinktiv ein Stück mit dem Kopf zurück.
„Hallo! Wen haben wir denn da?“ Mel kam kurz an die Bar und begrüßte Samuel freundlich, doch er hatte kein Lächeln mehr für sie übrig „Weißt du was? Du kannst dir neue Gäste suchen.“
Er stand wütend auf und verließ die Bar.
Mel drehte sich zu Dana und sah sie verwirrt an „Was ist dem denn für eine Laus über die Leber gelaufen? Und vor allem: hat er ne multiple Persönlichkeitsstörung?“
Dana schüttelte zornig den Kopf „Es ist einfach so typisch. Männer können einfach nicht über Gefühle reden!“ Sie fuhr sich durch die Haare und trank einen kräftigen Schluck von ihrer Cola „Und nein. Er wollte sich hier mit Freunden treffen. Sorry, ich glaub, ich hab euch ein paar Gäste vergraut.“
„Ach“, Mel winkte ab, „Solche arroganten Arschlöcher hätte ich eh nicht bedient.“
„Nein, Mel. Rede nicht so über ihn. Er ist eigentlich ganz nett…“
„Ach so! Dann will ich aber nicht wissen, wie er mit dir redet, wenn er schlecht drauf ist, wenn das gerade nett war!“ Sie stemmte die Hände in die Hüfte.
„Hör doch auf. Er hat vor zwei Tagen in meinen Armen geweint.“
„Was?! Hattet ihr ein Date, und ich weiß nichts davon?“
„Nein!“ Dana funkelte sie an.
„Sondern?“
„Er wollte einfach mit mir reden. Aus gutem Grund. Seine Mutter hat ein Baby verloren und ihn hat es genauso mitgenommen wie sie, vermutlich. Jetzt tut er so, als wäre alles in Ordnung.“
„Oh, fuck“, Mel zog die Brauen in die Höhe und sah zur Tür, als würde Samuel noch da stehen.
„Egal. Mel?“ Dana sah sie aus großen Augen an.
„Was?“
„Denkst du, du könntest mir einen Cocktail ausgeben?“
Mel zog eine Braue in die Höhe und sah sie entgeistert an „Ist das dein Ernst? Vor vier Stunden hast du dir noch die Seele aus dem Leib gekotzt! Außerdem bist du minderjährig.“
„Ja und? Das war dir gestern doch auch egal.“
Mel verdrehte die Augen und fasste sich nachdenklich an die Stirn. Ihr Blick wanderte in die Küche. Jean war damit beschäftigt, einem seiner Köche etwas zu erklären.
„Okay. Ein einziges! Was willst du haben?“
Dana strahlte über das ganze Gesicht „Zombie!“
„Hey! Träum weiter. Ich hol dir nen Pina Colada.“
Dana griff nach Melanies Handgelenk und hielt sie davon ab, einfach zu gehen „Bitte! Nur ein einziges. Ich vertrage es.“
„Ja, sicher.“ Mel sah sie unbeeindruckt an.
„Ich kann auch einfach nach Hause gehen und mir den halben Rotwein von Papa herunterkippen!“
„Warum zum Teufel willst du dich denn jetzt betrinken?“ Mel sah sie wütend an, verstand nicht, warum Dana jetzt unbedingt darauf aus war, Alkohol zu trinken.
„Ich … keine Ahnung.“ Dana senkte den Blick.
Mel sah sie eine kurze Zeit lang nachdenklich an. Sie sah irgendwie traurig aus, Mel verstand aber nicht, warum.
„Stimmt irgendwas nicht, Dana?“ Mel nahm Danas Gesicht in die Hände und fing ihren Blick auf. 
„Doch“, murmelte sie, „Es ist alles in Ordnung, aber…“
Im Café ging die Tür auf.
Es hätte jeder sein können. Die Gäste liefen ein und aus, aber als hätte Dana es gespürt, verschluckte sie sich am nächsten Wort und drehte sich zur Eingangstür. 
Ihr Herz machte einen Satz und sie schnappte nach Luft.
Mel folgte ihrem Blick und erstarrte.
„Lejla!“ Dana sprang vom Hocker auf und ihr wurde kurz schwarz vor Augen, weshalb sie sich an der Bar festhalten musste. 
Mel fing sie auf und einige Blicke richteten sich auf sie.
Lejla stand in der Eingangstür. Um ihre Schulter eine kleine Tasche. Sie stand einfach da und starrte Dana ausdruckslos an. 
„Warte“, warnte Mel leise und hielt Dana fest, als sie auf Lejla zustürmen wollte. 
„Denk dran, dass du diese Frau eigentlich gar nicht kennst! Verhalte dich anständig!“ Dann ließ Mel sie los. 
Dana straffte ihre Schultern, hob ihr Kinn an und schritt auf Lejla zu, die sich keinen Millimeter bewegte. 
„Hi“, sagte sie.
Dana blinzelte sie an, als hätte Lejla irgendwas auf Arabisch gesagt, schließlich nickte sie nur zur Begrüßung, da ihr die Worte im Hals stecken blieben. Unsicher sah sie zurück zu Mel, die gerade von einem Gast gebeten wurde, mehr Eiswürfel in die Spezi zu tun.
„Ziehst du dir etwas an, und kommst bitte mit nach draußen?“ Es klang eher wie ein Befehl, als eine Bitte und Dana gehorchte, wie ein Hund. Sie griff nach ihrer Jacke, die sie aufgehängt hatte und trat aus der Tür, die Lejla ihr aufhielt. 
Sie spazierten den staubigen Weg entlang. Dana fühlte sich unbehaglich. Sie wäre Lejla leidenschaftlich gerne um den Hals gefallen und hätte sie einfach darum gebeten, wieder zurück zu kommen, doch sie brachte keinen Ton heraus. 
„Ich höre.“
Lejlas Stimme klang unnatürlich laut in dieser Stille. Dana sah sie aus großen, fragenden Augen an „Was?“
„Rede mit mir. Warum brauchst du mich?“
Dana entging nicht, dass Lejla nur sie ansprach. Sie hatte gefragt: Warum brauchst du mich. 
Die Frage war richtig, aber Dana weiß ganz sicher, dass sie in ihrer Mail geschrieben hatte: WIR brauchen dich.
„Also. Ich höre.“ Lejla schielte zu Dana herab. Sie war eigentlich nicht viel größer als Dana, vielleicht ein, zwei Zentimeter, aber sie trug hohe Schuhe, weshalb sich Dana auf die Zehenspitzen stellen und ihren Hals strecken müsste, um sie zu küssen.
„Ich…“, sie dachte nach, ihr fiel aber keine sinnvolle Antwort ein. Es gab keine.
„Okay.“ Lejla blieb stehen, versperrte Dana den Weg und fing ihren Blick auf. In ihren Augen, das bildete sich Dana jedenfalls ein, lag etwas, das sagte: „Egal, was du sagst, ich weiß sowieso, dass du mich anschwindeln wirst.“
„Ich bin nicht eure Putzfrau, das weißt du. Du bist nicht blöd! Erstens. Und Zweitens: hör auf mir etwas vorzuspielen. Ich bin genauswenig auf den Kopf gefallen, wie du. Und jetzt: Ich höre. Was willst du mir mitteilen, warum sollte ich zu dir zurück?“
Dana schluckte und hoffte, dass Lejla es nicht hörte. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Sie fühlte sich ertappt, irgendwie. Als hätte sie etwas Verbotenes getan. Warum fühlte sie sich in Lejlas Nähe wie ein Kind? Wieso verlor sie ihr Selbstbewusstsein, wieso fand sie keine Worte, wo sie doch so wortgewandt war?
„Ich weiß es nicht“, versuchte sie es mit der Wahrheit, „Ich weiß nicht, warum ich dich zurück will…“
„Nicht zurück“, unterbrach Lejla.
„Ich… was?“ Dana wich einen Schritt zurück. Nein, nein! Sie drehte ihr die Worte im Mund herum. Sie dachte über den Satz nach.
Ich weiß nicht, warum ich dich zurück…. Ich weiß nicht, warum ich dich will.
Es fühlte sich ehrlicher an.
„Nein. Ich meine“, langsam schlich Dana die Sprache zurück, „Ich kenne dich nicht. Ich habe keinen blassen Schimmer, wer du bist, aber… bitte. Gib mir eine Chance.“
Lejlas Gesicht erhellte sich kurz und sie musste schmunzeln „Eine Chance?“
„Ich will dich kennenlernen.“
„Das tun wir doch gerade.“
Dana erkannte in Lejlas Augen, dass sie amüsiert war.
„Ach ja?“
„Ja.“ 
Dana sah sich um und erblickte eine Bank, ein paar Schritte weiter vor einer großen Wiese „Können wir uns hinsetzen?“
„Das wird überbewertet. Wir laufen ein paar Schritte, dann bringe ich dich nach Hause.“
Dana sah zurück zum Café Jean und dachte an Mel.
„Sie wird dich nicht vermissen“, versicherte Lejla.

 
Sie waren einige Schritte weiter gelaufen und es wurde langsam dunkel. Die Straßenlichter waren angesprungen und ein kühler Wind wehte ihnen um die Nase.
Lejla hatte unerwartet einen Smalltalk mit Dana angefangen, sie über die Schule und Hobbys ausgefragt und sogar, wie Mel und sie sich kennen gelernt hatten. Irgendwann, als Lejla eine längere Zeit lang schwieg, fragte Dana zögerlich: „Warum bist du eigentlich zurück gekommen?“
Lejla sah sie an, während sie zurück zum Café gingen, wo Lejla geparkt hatte.
„Beantworte mir eine Frage, und ich gebe dir eine Antwort auf deine.“
Dana sah sie einverstanden an „Die wäre?“
„Wie bist du an meine E-Mail Adresse gekommen?“
Sie überquerten eine kleine Straße. 
Dana hatte nicht mit dieser Frage gerechnet. Obwohl sie inhaltlich so harmlos war, fühlte sie sich an wie eine Fangfrage.
Vielleicht bildete sie sich das aber auch ein, weil sie nun nicht wusste, was sie antworten sollte. Sie hatte ihrem Vater versprochen, ihn nicht zu verraten, aber die Angst Lejla zu belügen war größer.
„Also?“
Dana bräuchte einige Anläufe. Sie wollte ihren Vater nicht verraten, aber… „Mein Papa hat sie mir gegeben.“
Lejla holte gerade Luft, um etwas zu sagen, aber Dana ließ sie gar nicht erst dazu kommen „Bitte wirf ihm nichts vor! Ich habe eigentlich versprochen, ihn nicht zu verraten und zu behaupten, ich hätte sie gefunden!“
„Aha.“
Gottverdammt, bist du dumm!
„Du wolltest mich also belügen?“ Lejlas Stimme war komplett tonlos, weshalb Dana nicht einschätzen konnte, ob die Frage ein Vorwurf oder tatsächlich nur eine neutrale Frage war. Sie konnte nicht antworten.
„Eine Frage, hast du gesagt“, versuchte Dana abzulenken, „Jetzt bist du dran. Deine Antwort.“
Lejla warf den Kopf zurück und lachte. 
Dana war so überrascht, dass sie anhielt und sie anstarrte.
Ihr Lachen war ein einziges Glockenspiel. Danas Herz flatterte wie ein Schmetterling und sie musste automatisch mitlächeln. Dieses Lachen war genauso warm und voll, wie ihre Stimme selbst war.
Es fühlte sich ein wenig an, als würde Lejla sie auslachen, aber das war ihr egal. Solange sie dieses Lachen hörte, war es ihr ganz gleich, was der Grund war, Hauptsache, es hörte nie wieder auf.
Lejla seufzte: „Hach ja…“
Ein steifer Wind zog vorbei und ein paar Strähnen lösten sich aus Lejlas hochgesteckten Haaren.
„Menschen, die mich anlügen wollen, gebe ich keine Antworten auf Wunsch-Fragen.“
Dana kaute auf ihrer Unterlippe herum und ihr Blick schweifte über die vielen parkenden Autos vor dem Café. Ihr erster Instinkt war, einfach wieder zu Melanie zu gehen und sich bei Lejla zu entschuldigen. 
Ihr war irgendwie unwohl in ihrer Nähe.
Sie war so verknallt in diese Frau, aber sie wirkte unnahbar, total verschlossen und geheimnisvoll. Lejla machte nicht den Eindruck, dass sie Dana bei sich haben wollte, aber warum sonst war sie im Café aufgetaucht?
Bei jeder anderen Person hätte sich Dana getraut zu verabschieden und wieder zu Mel zurück zu gehen, aber nicht bei Lejla. 
Bei jedem, aber nicht bei Lejla. Zu groß war die Angst, sie wieder aus den Augen zu verlieren und nichts von ihr zu hören.
Auch, wenn Lejla sie einschüchterte und sie sich total kleinlich neben ihr fühlte, auch, obwohl sie spürte, dass Lejla sie als Kind sah und sie sich bewusst war, dass sie niemals eine Chance haben würde, sie konnte nicht gehen. Sie wollte bei ihr bleiben. Bei Lejla. Die ganze restliche Nacht.
Und wenn sie ihr jeden Satz im Mund verdrehte, mit ihr spielte oder über sie lachte. Das war ihr egal. Alles was zählte, war Lejlas Nähe.
„Welches ist dein Auto?“, fragte Dana nach längerem Schweigen in die Stille. 
„Ein weißer Peugeot“.
„Ich kenne mich mit Automarken nicht aus.“
„Das ist keine Automarke.“
„Hmpf“, machte Dana und trat einen Stein aus dem Weg. 
Wieder dieses unerwartete Lachen, das aus Lejlas Kehle drang.
Dana konnte sich nicht erinnern, je etwas so Schönes gehört zu haben und als sie endlich in Lejlas Auto saßen, verriegelte Lejla die Türen und trat wortlos auf das Gaspedal.

 
Sie kamen wenige Minuten später bei Dana an und betraten das Haus. 
„Dein Vater?“, fragte Lejla, als Dana die Tür öffnete und die Schuhe am Schmutzfangteppich abstreifte.
„Arbeiten. Wie immer. Oder vögeln.“
„Natürlich.“
Dana ließ die Tür ins Schloss fallen und machte das Licht an. Sie sagte nichts, als Lejla wortlos geradeaus in das Wohnzimmer stöckelte und mitten im Raum stehen blieb. 
Dana betrachtete ihren Hinterkopf, den schlanken Hals, der aus dem Jackenkragen ragte und betrachtete ihren schlanken Körper. 
Wie umwerfend schön sie ist!
„Es wirkt seltsam leer hier, in diesem Haus“, sagte sie irgendwann, nachdem sie sich ganz genau umgesehen hatte, als wäre sie das erste Mal hier.
Dana hing ihre Jacke auf und legte den Hausschlüssel auf eine Kommode, bevor sie sich neben Lejla ins Zimmer stellte.
Sie hatte Recht. Es wirkte nicht nur leer, es war leer. Und einsam.
Seit Danas Mutter gestorben war, hatte sich alles verändert. Das Zuhause, was viele Menschen mit Geborgenheit, Heimeligkeit und Zuflucht verbinden, wurde einfach nur zu einer leeren, bedeutungslosen Hülle. Es war einfach nur noch ein Haus. Ohne irgendeinem Hauch von Leben. 
„Ja.“ Dana stellte sich das sonnige Gesicht ihrer Mutter vor, wie sie aus der Küche herauslugte und über beide Augen strahlte.
„Liebes! Hast du Hunger? Ich habe China Curry gemacht.“
„Du kochst chinesisch?“
„Ach“, sie zuckte die Schultern und küsste Dana auf den Kopf, als sie die Küche betrat, „Ein Experiment. Aber ich glaube, es ist ganz gut. Komm, probiere mal einen Löffel.“ 
Dana stellte sich neben sie an den Herd und starrte in die Pfanne. Es roch köstlich. Sie tauchte einen Zeigefinger in die Soße, die voll war mit Gemüse.
„Hey!“ Ein kleiner Klaps auf ihrer Hand, „Du sollst nicht mit deinen dreckigen Fingern ins Essen langen.“
Dana streckte ihr grinsend die Zunge heraus.
„Und die Zunge wirst du auch verlieren, wenn du so frech bist. Dann hast du keine Chance, einen Liebeskuss von deinem Prinzen abzuholen.“
„Von meiner Prinzessin“, korrigierte Dana ganz nebenbei. Sie war erst elf. 
Ihre Mutter blinzelte sie ganz kurz überrascht an, dann zuckte sie die Schultern und fuhr Dana durchs weiche Kinderhaar „Oder eben deiner Prinzessin. Ganz gleich, solange es dich glücklich macht.“
Dana spürte eine Hand auf ihrer Schulter und sie zuckte vor Schreck zusammen. 
„Wo warst du?“, fragte Lejla und fixierte Danas Blick, die kurz die Stirn runzelte und von Lejlas Berührung völlig nervös war. 
„Äh… wie? Hier.“
„Nein. Du warst nicht hier.“
„Achso…“, Dana verstand.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.09.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Ich widme dieses Buch der "geheimnisvollen Fremden" die mich auf Lejla's schwer zu beschreibenden Charakter gebracht hat. -So eine unglaubliche Frau!

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