Cover

Prolog

 

 


„Klopf, Klopf.“
„Wer ist da?“
Sie klopfte drei Mal, dann zwei Mal und dann noch drei Mal.
„Komm rein, Kate“, grinste Helena und setzte sich in ihrem Bett in Schneidersitz auf, um das Nachtlicht anzuknipsen. Kate trat in das Zimmer, schloss leise die Tür hinter sich und lief dann kichernd zu Helena in das Bett. „Und, habt ihr euch geküsst?“ Helena rückte an die Wand und sah Kate erwartungsvoll in die rehbraunen Augen, für die sie sie so beneidete. Ihre Freundin strahlte nur über beide Ohren und warf den Kopf hinter um hysterisch zu lachen. „Kate, mach´s nicht so spannend! Was ist passiert?“
„Wir sind zusammen!“
„Kein Scherz?!“ Helenas Kinnlade klappte nach unten und ihre blauen Augen weiteten sich, „Ich glaube es nicht! Das ging aber wirklich schnell.“
Kate zuckte die Schultern und seufzte tief, um ihre Euphorie zu verkneifen. Am Ende würde sie noch das ganze Internat wecken. Kate konnte einfach nicht fassen, dass sie mit Erik, dem begehrtesten und begabtesten Jungen der ganzen Schule zusammen war. Er gehörte ihr. Ganz allein ihr. Niemand würde ihn ihr wegnehmen können. Schon gar nicht Cassidy, die sich seit dem Kindergarten gegen sie verschworen hatte. Erik liebte nur sie und das hatte er ihr in dieser Nacht oft genug gesagt, dass sie es ihm glaubte.
„Wie ist es denn passiert? Du musst es mir unbedingt erzählen, bevor Ms. Loria kommt und dich in dein Zimmer schickt. Denkst du, sie hat schon ihre erste Runde gemacht?“
Kate sah auf ihre Armbanduhr und schüttelte dann den Kopf „Sie wird erst gegen Mitternacht ihre nächste Runde machen.“ Ihr Strahlen war ihr nicht aus den Augen gewichen.
Helena boxte ihr scherzhaft in den Arm „Nun komm, erzähl!“
Kate rückte näher an Helena heran und spielte an ihrem roten Armband herum „Er wollte ja, dass ich heute runter zum Tigerweg komme, um ihn dort zu treffen.“
Helena nickte ungeduldig.
„Na ja … da hat er also gewartet. Und er hatte eine Rose dabei. Erst dachte ich, er will nur die Hausaufgaben von heute abschreiben, weil er sie nicht mehr geschafft hat. Weißt du wie überrascht ich war? Na ja, dann meinte er, das sei doch Quatsch, sich die ganze Zeit über die Schule zu unterhalten … Blablabla. Jedenfalls meinte er dann irgendwann, dass ich ihm schon am allerersten Tag hier auf dem Internat aufgefallen bin und … ach keine Ahnung … ich habe ihn dann geküsst, er hat erwidert und meinte, er wolle mich als Freundin haben. Süß, nicht?“
Helena nickte wild „Wow! Dass er sowas drauf hat.“
„Ich liebe ihn. Und ich bin glücklich. Cassy, dieser kleinen Schlange, habe ich es ein für alle mal gezeigt.“
Helena schüttelte den Kopf „Du spinnst. Mach dir das wegen ihr nicht kaputt.“
„Warum sollte ich?“
„Eifersucht kann so vieles zerstören und jetzt, wo Erik dir gehört, hat sie etwas womit sie dich angreifen kann.“
Kate seufzte und zog die Brauen in die Höhe „Du übertreibst. Cassidy kann mich nicht eifersüchtig machen. Er hat mir geschworen, dass ich das einzige Mädchen bin, das er liebt und je lieben wird.“
„Hoffen wir mal, dass das die Wahrheit ist.“
Kate nickte „Ich glaube ihm. Er hörte sich nicht so an, als würde er lügen.“
Ein dumpfer Knall am Fenster ließ die Freundinnen aufschrecken. Helena warf Kate einen entsetzten Blick zu und stieg mit ihr zusammen aus dem Bett, um zu dem Fenster zu gehen. „Was war das?“ Fragte Helena leise.
„Weiß nicht. Vielleicht war es ja nur ein Zweig oder so.“
Helena warf Kate einen Blick zu, als sei sie total bescheuert „Ein Zweig. Na sichi.“ Kate zuckte die Schultern und zog das Fenster nach oben, als sie auf einmal etwas am Hals packte und sie nach draußen in die kalte Nacht zog…

 

Harras Academy





Ich blinzelte in die Dunkelheit. Wo war ich? In meinem Kopf schlug eine Dampframme und Übelkeit schlich sich in meinen Magen. „Hallo?“ Ich war entsetzt, als ich hörte, wie schwach meine Stimme klang. Dadurch, dass ich weder meine Arme, noch meine Beine nach oben oder zur Seite bewegen konnte wusste ich, dass ich irgendwo eingesperrt war. Nur wo? Ein Kofferraum war es nicht. Ich hörte ein Quietschen, das von einer sehr alten, großen und schweren Tür stammen musste. Ich hörte das Klackern zweier Paar Stöckelschuhe. „Ich hoffe, es ist das richtige Mädchen.“ Die Stimme, die zu dem Klackern gehörte, war seidig und warm. Sehr erfahren und mächtig klang sie. „Öffnet es!“ Aus ihrer Stimme drang ein Befehl, das sich anhörte wie „Köpft sie!“ Mehrere dumpfe Schritte näherten sich meiner Dunkelheit. Dann hörte ich etwas ganz dicht an meinem Ohr Rattern und Klopfen. Als würde ein Schloss aufgesperrt werden. Plötzlich blendete mich unerbittliches Licht. Die Strahlen der Sonne warfen sich direkt auf mein Gesicht und ich musste meine Augen zukneifen. Nun lag es nicht mehr an der Dunkelheit, dass ich nichts sah. Die Schritte der Frau näherten sich mir, dann fühlte ich ein Kitzeln an meinem Hals und einen sehr warmen Atem, dessen Duft unverschämt gut war „Sie ist es!“
Langsam öffnete ich meine Augen und blickte direkt in das Gesicht einer mir völlig fremden Frau. Ihr Gesicht war näher als erwartet, trotzdem schreckte ich nicht zurück und hielt ihren smaragdgrünen Augen Stand. Ihre langen, gewellten, roten Haare fielen über ihre Schulter auf meine Brust und streichelten meinen Hals entlang, während sie mein Gesicht in ihre schlanken Finger nahm und es nach rechts und links wandte. Ein Lächeln bildete sich auf ihrem schönen Gesicht und ihre strahlend weißen Zähne traten zum Vorschein. Als sie von mir abließ, sah ich mich um und bemerkte, dass ich in einem Sarg lag. Ich weiß nicht, ob ich einfach nur zu erschöpft war, um Angst zu haben. Zwei Männer in Smoking und mit Sonnenbrille, die absolut identisch aussahen, standen direkt vor der Frau wie Statuen und starrten sie (glaube ich jedenfalls) an. Warteten auf ein Befehl. „Holt mir bitte Joceline. Sie soll ihrem neuen Schützling das Gelände zeigen und sie kennenlernen.“ Ein Nicken von den Zwillingen und schon war ich mit der Fremden allein. Die Männer verließen den Runden Saal, dessen Boden aus Mamor war und aussah wie ein Schachbrettspiel. Fünf weiße, gesprenkelte Säulen standen ein Meter von den Wänden entfernt und endeten über meinem Kopf. Ich richtete mich langsam auf und merkte, dass mein Sarg auf einer weißen Steinplatte lag, vor der drei riesige Sessel standen. In der Mitte ein goldener mit roten Polstern und daneben zwei weiße mit schwarzem Polster, die nur halb so groß waren, wie der in der Mitte. Wo zur Hölle war ich? „Und, wie gefällt es dir hier?“ Obwohl die Fremde zu der vielleicht fünf Meter hohen Holztür, die hinter den beiden Männern zugefallen war, sah, wusste ich, dass sie zu mir sprach. Es war, als hätte man mir die Zunge abgeschnitten, denn ich kam nicht zu Wort, traute mich nicht zu sprechen. Die Frau drehte sich zu mir um und hielt mir die Hand hin. Ich starrte sie an und wusste nichts mit ihr anzufangen. Wollte sie mich begrüßen? Sehr seltsame Gestik, wo sie mich erst in einem … Sarg einsperrte. Mein Blick wanderte von ihrer Hand zu ihrem Gesicht. Sie war umwerfend schön! Ihre Lippen waren voll, ohne dick zu sein, ihre Haut war so ebenmäßig und makellos wie der weiße Mamor am Boden selbst. Ihre Nase war klein und perfekt. Nicht zu lang, nicht zu kurz, nicht zu spitz, nicht zu rund. Und ihr Körper war ein Model für eine Modezeitschrift wert. Das elfenbeinfarbene Satinkleid fiel ihr locker in luftigen Rüschen von der Hüfte und endete an ihren Knöcheln. Sie trug weiße Peeptoes in die wunderschöne, kleine Diamanten eingenäht waren. „Möchtest du nicht raus dort?“ Sie wackelte mit den Fingern, um meine Aufmerksamkeit wieder auf ihre Hand zu lenken, die sie mir immer noch entgegen hielt. Ohne Antwort legte ich meine Hand in ihre und ließ mir dabei helfen, aus dem Sarg zu steigen. Erst jetzt merkte ich, dass ich auch etwas ganz Fremdes trug. Es war ein blaues, lockeres Kleid, das mir bis zu den Knien ging. Um meine Hüfte war eine Schleife in dem gleichen Blau gebunden, die meine Taille gewagt betonte. Meine schwarzen Haare fielen mir offen und seidig über meine freien Schultern und an meinen Füßen trug ich schwarze Ballerinas auf denen an der Spitze eine kleine, süße Schleife saß. Und dann bemerkte ich noch etwas. Etwas, was mich einerseits erschreckte und andererseits faszinierte. An meinem linken inneren Knöchel war ein schwarzes Tattoo. Es war … ich bückte mich wie ein ungeschicktest Kind, hielt mir die langen Haare hinter die Ohren und versuchte das Motiv zu erkennen.
„Eine Feder“, sagte die Frau zeitgleich zu meinem Gedanken. Es stimmte. Es war eine schwarze, hübsche Feder, die vielleicht so klein war, wie der Fingernagel meines kleinen Fingers. „Priesterin“, eine junge, weibliche Stimme räusperte sich hinter der Frau und die Priesterin drehte sich zu ihr um. Die Frau, die hinter ihr stand, musste so um die fünfundzwanzig sein. Sie hatte dunkelbraunes, schulterlanges Haar und ebenso dunkle Augen. Ihre Wangen waren zartrosa und ohne Zweifel – sie war beinahe genauso schön wie die Frau in dem Satinkleid. „Joceline. Sehr schön. Danke, dass du gekommen bist!“ Joceline machte einen eleganten, dezenten Knick vor der Priesterin und sah ihr direkt in die Augen. Die Männer im Smoking, die sie geholt hatten, standen neben ihr wie zwei Bodyguards. „Aristhea“, hörte ich Joceline tonlos sagen. Sie trug genau dasselbe Kleid wie ich, die gleichen schwarzen Ballerinas. Nur dass ihr Kleid rot war. Joceline trat zu Aristhea und schien auf etwas zu warten. Sie hatte mich noch keines Blickes gewürdigt. Aristhea machte eine Kopfbewegung in meine Richtung „Das ist die Neue. Ich möchte, dass du ihr die Harras Academy zeigst und sie mit den anderen Einsteigern bekannt machst. Du bist ihre Patin.“ Joceline nickte und endlich hatte sie einen Blick für mich übrig. Sie sah mich direkt an. In ihrem Blick lag keinerlei Ausdruck „Komm mit mir mit. Ich bin ab heute für dich zuständig.“ Zögerlich sah ich zu Aristhea, die mir lächelnd zunickte und zur Seite trat. Langsam ging ich auf Joceline zu und verließ mit ihr den großen Saal. Die große Holztür fiel leise hinter uns zu. Wir befanden uns nun in einer Art unterirdischem Gang. Hier war es feucht und schwül. Die Wände waren aus grauem Stein und jede unserer noch so leisen Schritte hallte von den Wänden wider. Allein die Fackeln, die in vier Metern Abstand voneinander an der Wand befestigt waren, machten es möglich etwas zu sehen. „Das hier sind die Korridore“, erklärte Joceline in die Stille, „Sie führen zum Mädchentrakt. Die andere Richtung zum Jungentrakt.“ Sie machte eine kleine Handbewegung hinter uns. Als wir den großen, hellen Saal verlassen hatten, führte links und rechts ein Weg geradeaus. Wir waren nach links gegangen. Das hieß, dass sich rechts der Jungentrakt befand. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis wir endlich an einer Metalltür ankamen, die Joceline mit Leichtigkeit öffnete und wir nun in einem neuen Zimmer standen. Gleich rechts von uns war sowas wie eine Rezeption. Eine Frau mittleren Alters nickte Joceline freundlich zu. Neben dieser Rezeption stand eine Tür zu einem Raum offen, das aussah wie ein großes Wohnzimmer. „Das ist der Aufenthaltsraum“, sagte Joceline und blieb vor der offenen Tür stehen, „Hier könnt ihr euch unter der Woche bis zehn Uhr aufhalten. Dann müsst ihr in eure Zimmer.“ Sie ging weiter an mehreren hellen Holztüren vorbei, die allesamt nummeriert waren. Hier war es gemütlich. Der Gang war so um die fünf Meter breit und zehn Meter lang. In der Mitte stand an der Wand ein Kicker und daneben war die Toilette und die Dusche. Ganz hinten führte eine Treppe nach oben „Wo sind wir hier?“ Fragte ich kleinlaut und starrte auf den blauen Boden unter uns. „Das ist der Mädchentrakt. Hier gibt es insgesamt fünf Stationen. Die Station Eins, wo wir gerade waren, besitzt den Aufenthaltsraum, in dem sich allerdings die Mädchen von allen Stationen aufhalten dürfen. Jede Station hat natürlich vier Toiletten und zwei Duschen. Außerdem auch ein Stationszimmer, in dem nächtlich verschiedene Mentoren schlafen. Dein Zimmer ist auf der Station Drei. Du wirst deine Zimmernachbarin noch heute Nachmittag kennenlernen, aber gerade sind alle in der Schule.“
„In der Schule?“, unterbrach ich sie unhöflich und sah sie an. Joceline nickte „Ihr habt regulär von Acht bis Dreizehn Uhr Schule. Jedenfalls solange du in der ersten und zweiten Stufe bist. Ab der dritten Stufe geht die Schule für euch bis Sechzehn Uhr nachmittags. Es gibt vier Stufen. In der ersten und zweiten Stufe sind es Themen von der neunten bis zur zehnten Klasse. Nichts Außergewöhnliches.“
„Also sind die dritte und vierte Stufe sozusagen die elfte und die zwölfte Klasse?“
Joceline nickte „Aber du bist erst einmal in der Eingangsgruppe. Die Eingangsgruppe dauert meistens nur drei Wochen. Sie ist extra für die Neulinge eingerichtet worden, da sie es am Anfang etwas schwerer haben. Die Umstellung, die Verwandlung.“
Mir entging das letzte Wort nicht. Die Verwandlung. Was meinte sie damit? Ich stutzte, traute mich aber nicht sie zu fragen, weil sie mir so distanziert vorkam.
„Die Eingangsgruppe leiten Professor Miron und Professorin Timea. Sie geht ausschließlich von Acht Uhr bis Zwölf Uhr mittags.“ Ich folgte Joceline die fünf Stationen nach oben, wo sie am Ende des Ganges wieder durch eine Tür trat und sie sagte: „Das hier ist der Mentorentrakt. Hier sind also die Zimmer aller Mentoren.“ Sie ging an den vielen Türen vorbei bis zur Mitte des Ganges und blieb stehen. Von dort aus deutete sie geradeaus bis zum Ende des Ganges, wo dieselbe Tür stand, durch die wir gekommen waren „Die Tür dort vorne führt zum Jungentrakt. Das sind auch fünf Stationen und genauso aufgebaut wie der Mädchentrakt. Und hier“, sie drückte die Glastür auf, vor der wir standen und ging mit mir eine Treppe nach unten in eine Art leeren Vorraum, „… ist die Mensa.“ Sie deutete auf die Glaswand, hinter der eine riesige Mensa war mit endlos langen Tischen und vielen Stühlen. Ich konnte auch die Küche von hier aus sehen, wo gerade einige Leute am Kochen waren. Joceline betrat mit mir die Mensa und blieb stehen „Ihr dürft euch hier selbst bedienen. Das Essen wird aufgestellt und ihr dürft euch nehmen, was ihr wollt. Ihr könnt auch in den Garten raus zum Essen wenn ihr wollt. Bevorzugt wird das eher im Sommer. Ich sah durch die Glaswand wo die Mensa endete, in einen wunderschönen, großen Garten. Er war abgesperrt von einer mindestens zehn Meter hohen Mauer. Die Wiese war bestimmt zehn Zentimeter hoch und in der Mitte des Gartens stand ein wunderschöner, großer Magnolienbaum um dem eine runde Bank stand. An den Wänden standen zwei Stehtische und noch einige Tische mit Plastikstühlen. „Total schön“, staunte ich mit großen Augen und sah Joceline an. Sie nickte einmal kurz und führte mich wieder aus der Mensa, an der Treppe vorbei, von der wir gekommen sind durch eine andere Glastür wo wieder ein fünf Meter langer Korridor war „Und hier sind die Lehrsääle.“ Das hatte ich schon an den vielen weiß-blauen Schließfächern erkannt. Joceline seufzte „So … und jetzt bringe ich dich in dein Zimmer. Dort kannst du deine Sachen auspacken und dich erst einmal ausruhen. Wenn irgendwas ist, brauchst du einfach am Stationszimmer klopfen. Dort ist Tag und Nacht jemand erreichbar.“ Mit den Worten ließ sie mich einfach stehen und verschwand. Wollte sie mich nicht in mein Zimmer begleiten?
Ich kniff die Augen zusammen und wartete darauf, aus dem Traum zu erwachen.

Die Geschichte





Als ich meine Augen öffnete, lag ich im Bett eingekuschelt. Aber allerdings nur, weil ich vorhin erschöpft in mein Zimmer gestapft war. Wie ich mein Zimmer erkannt habe? Vor einer Tür standen zwei schwarze Koffer und eine kleine Tasche mit dem Namen Kate Sayers. Zimmernummer 105.
„Hey.“
Ich drehte mich um und sah in das Gesicht eines Mädchens, das ungefähr in meinem Alter sein musste „Hallo“, erwiderte ich tonlos.
„Du bist die Neue, richtig? Als ich ins Zimmer gekommen bin, hast du geschlafen und ich wollte dich nicht wecken. Jetzt hast du leider das Mittagessen verpasst, aber ich hoffe das ist nicht so schlimm.“ Das Mädchen hatte kurze, lockige Haare, die bei jeder kleinen Bewegung auf und ab sprangen. Sie trug dasselbe wie ich. Ein schulterfreies, blaues Kleid mit einer Schleife und schwarzen Ballarinas. „Ich bin Kiara Moe.“ Sie lächelte ein zuckersüßes Lächeln, das ihre steingrauen Augen erreichte. Ihre Wimpern waren beneidenswert lang und ihre Zähne beneidenswert weiß. Waren sie hier alle so schön?
„Ich bin Kate Sayers.“
„Nicht doch. Moe ist nicht mein Nachname.“
Ich sah ihr in die Augen und stutzte während ich mich aufrichtete. „Mein voller Name ist Kiara Moe Baker. Du kannst mich aber gerne Kiara nennen.“ Ich musste über ihr offenes Wesen lächeln und setzte mich in Schneidersitz. Ihr Bett stand an der Wand gegenüber von mir. Zwischen unseren Betten standen zwei Schreibtische. Ihre Hälfte war vollgeräumt. Auf ihrem Tisch lagen viele Zeitschriften, Stifte und angefangene Briefe. Auf ihrem Bett in der Ecke saßen drei Plüschtiere. Ein Strauß, ein Affe und ein Schaf. Auf dem Regal über ihrem Bett waren mindestens zehn Bücher und kleine Figürchen. An der Wand hingen viele Bilder von Pferden und Obama. Sie hatte es sich schon richtig gemütlich gemacht. Meine Seite hingegen war … leer.
Sie starrte mich ununterbrochen an, dann warf sie sich aufs Bett „Ich weiß, für Neulinge ist es immer ziemlich schwer zu verstehen, was gerade los ist. Aber du wirst dich an alles gewöhnen und deine Familie darfst du auch alle zwei Wochen am Wochenende sehen. Vorausgesetzt dein Körper rebelliert nicht gegen die Verwandlung.“
Schon wieder dieses Wort.
„Ihr sagt die ganze Zeit, dass ich mich verwandel. Was meint ihr damit?“
Kiara setzte sich auf und sah mich mit großen Augen an „Quatsch mit Sose! Du willst mich auf den Arm nehmen!“
Ich schüttelte unschuldig den Kopf.
„Du weißt doch, wo du hier bist!“
Wieder schüttelte ich den Kopf.
Kiara schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund und starrte mich eine endlose Minute an, bis sie lachend in das Bett fiel und kaum noch aufhören konnte „Du bist vielleicht ´ne Marke“, lachte sie, „Du kommst in die Harras Academy, weißt aber nicht was das ist!“ Ungeduldig und etwas beleidigt ließ ich sie auslachen, dann seufzte sie tief, wischte sich ein paar Tränchen von der Wange, weil sie so lachen musste und grinste mich an „Haben dir deine Eltern nie davon erzählt?“
„Nein.“
„Eigentlich weiß jeder von der Harras Academy. Von klein auf wird den meisten von den Eltern erzählt und damit vertraut gemacht, dass man bis zu dem sechzehnten Lebensjahr von jeweils einem Mentor der Harras Academy beobachtet wird. Jedes Jahr werden dann einige Sechzehnjährige Jungen und Mädchen auserwählt, die auf die Harras Academy kommen um die Verwandlung in die Nachtgestalt zu vollbringen. In einen Vampir. Ich weiß nicht genau, was ihre Preferenzen sind, aber scheinbar bist du eine der Auserwählten.“
„Okay“, murmelte ich, „Und wozu soll die Verwandlung gut sein?“
„Die Vampire auf der Harras Academy werden immer mehr und stärker und erfahrener, was natürlich sehr praktisch ist, denn Aristhea, die Priesterin, weiß dass Tarek wieder zu uns kommen wird um sich zu rächen.“
„Um sich zu rächen? Wofür? Und wer ist Tarek?“
„Ojemine. Du bist wirklich nicht auf dem neusten Stand, was?“, Kiara holte tief Luft, „Also. Tarek ist der Sohn von Milan, dem ehemaligen Ehemann von Aristhea. Es ist echt kompliziert, also hör gut zu. Aristhea war schwanger von Milan. Sie haben sich wirklich geliebt. Obwohl Milan ein Magier und sie eine Vampirin war. Aber Milan wollte keine Kinder. Er wollte Aristhea für sich allein. Sie war die Verkörperung einer Göttin und eines Engels – ich weiß nicht. Hast du sie schon einmal gesehen? Wenn ja, dann weißt du, was ich meine. Ziemlich absurd, wenn man bedenkt, dass wir blutsaugende Monster sind“, sie lachte kurz auf und fand dann wieder den Faden, „Also … jedenfalls hatten die beiden eines Nachts im Winter einen riesigen Streit. Milan wollte Aristhea einsperren und das Kind in ihrem Leib gewaltsam abtreiben. Er wollte es umbringen und sollte sie sich wehren, sollte auch sie sterben. Aber da er Aristhea ja geliebt hat, tat es ihm im Herzen weh, wie sie weinte und qualvoll die Nächte durchschrie. Also erklärte er ihr sein Deal. Er würde sie am Leben lassen, ebenso das Kind. Aber das Kind sollte erst viele Jahr später auf die Welt kommen. Durch einen menschlichen Körper, in einer normalen Familie aufwachsen und nichts von der Existenz von Milan und Aristhea wissen. Er wollte dieses Kind nicht, aber er tat seiner Frau wenigstens den Gefallen, dass das Kind irgendwann glücklich leben konnte. Der Zauber geschah noch in der selben Winternacht, in der es Milan angekündigt hatte. Milan war Tareks Mentor und Tarek war unglaublich stolz auf ihn. Er sah ihn als Vorbild und Ersatzvater, da seine eigenen Eltern ihn verstoßen und verleugnet haben. Er war froh, jemanden wie Milan zu haben. Als Aristhea merkte, wie das Baby aus ihrem Leib verschwunden war, packte sie mächtiger Zorn. Zorn, Verzweiflung, Trauer, Schmerz, Hass … sie konnte nicht mehr in Frieden leben. Also tötete sie Milan nur wenige Tage darauf in der Nacht. Sie hatte nichts weiter mehr für ihn empfunden als Hass und Verachtung. Er hatte ihr Baby weggenommen. Und sie würde es nie wieder sehen.
Tarek hingegen entwickelte die doppelte Menge von Hass und Zorn auf die gesamte Harras Academy – die früher übrigens nur das Schloss von Aristhea und Milan war – so dass er aus dem Clan der Vampire ausstieg und sich weigerte, sich weiter zu entwickeln. Er schwor, sich eines Tages dafür zu rächen, dass Aristhea seinen Stiefvater umgebracht hat und er den gesamten Vampirclan auslöschen würde … nachdem er ihre Tochter gefunden und auf seine Seite gerissen hatte.“
„Wow“, raunte ich und musste erst einmal verdauen, „Das … klingt echt abgefahren. Also heißt das, dass Aristhea irgendwo da draußen auf der lieben weiten Welt ein Kind hat.“
Kiara nickte „Ja. Und keiner weiß, wer es ist. Es könnte erst ein Jahr als sein, vielleicht sogar noch ein Fötus. Könnte sogar sein, dass sie oder er schon eine Oma oder ein Opa ist“, Kiara zuckte die Schultern, „Wir wissen es nicht. Aber wir wissen, dass Aristhea und Tarek seit Jahrhunderten auf der Suche nach diesem Kind sind. Und alle paar Jahre versucht er auch diese Academy hier zu vernichten. Uns zu vernichten. Das ist der Grund, weshalb sie immer mehr Jugendliche in den Vampirclan aufnehmen. Tarek wird von Jahr zu Jahr stärker und mächtiger und wir brauchen alle Hilfe die wir haben.“
„Aber warum haben mir meine Eltern nie etwas davon erzählt?“
„Das machen nicht alle Eltern. Viele Eltern haben Angst um ihr Kind. Sie haben Angst, dass es in die Harras Academy muss, weil die Gefahr zu sterben sehr hoch ist. Nicht jeder verkraftet, geschweige denn überlebt die Verwandlung. Und die Eltern denken, dass wenn die Kinder nichts von dem Vampirclan wissen, die Chance geringer ist auserwählt zu werden. Was natürlich völlig absurd ist.“
„Wie meinst du das, dass nicht jeder die Verwandlung verkraftet?“, wollte ich wissen.
„Na ja, die ersten Schritte der Verwandlung sind am qualvollsten.“
„Die wären?“
„Der erste Schritt ist natürlich der Biss. Ein altes Vampirklischee. In den nächsten drei Tagen wird ein Mentor dich zu sich in das Zimmer beten. Er wird dich beten, deinen Hals frei zu machen, um dich beißen zu können. Das ist natürlich das Spannendste“, ein Strahlen huschte über Kiaras Gesicht, „Es gibt hier nämlich extrem scharfe Mentoren, wenn du verstehst, was ich meine. Meistens bekommt man einen Mentor des anderen Geschlechts zugeteilt, weil während dem Blut aussaugen so etwas wie ein Glücksgefühl entsteht. Fast so etwas, wie ein Orgasmus“, Kiara kicherte verlegen, „Es ist supertoll, glaube mir. Alles schön und gut. Wie gesagt, der Biss an sich ist etwas Wunderbares, aber die Vereisung der Blutgefäße, also, während das Gift durch deine Adern schießt … na ja, wie soll ich sagen. Dieser Prozess ist unglaublich qualvoll! Ich habe geschrien und geweint und gewünscht, ich würde sterben. Zwar dauert das nur wenige zehn Minuten, aber es kommt dir vor wie eine Ewigkeit.“
Ich schluckte einen Kloß aus meinem Hals und nickte, damit sie weitersprach.
„Der zweite Schritt ist das Essen. Du darfst kein Wasser oder andere Getränke trinken. Ab dem Zeitpunkt, wo dein Blut vergiftet und deine Adern vereist sind, musst du Blut trinken, sonst stirbst du! Und zwar auf keine sehr feine Art und Weise. Jedenfalls ist das echt hart. Du musst zu jeder Mahlzeit ein Glas Blut trinken. Und täglich drei bis vier Liter. Keine Sorge. Alles nur Tierblut. Aber es schmeckt scheußlich! Irgendwann gewöhnst du dich natürlich daran und nach einer Zeit liebst du es sogar. Aber ich konnte mich bis jetzt nicht damit anfreunden und mein Magen rebelliert immer noch bei jedem Schluck. Der dritte Schritt ist dann der Prozess mit dem Wachsen der Fangzähne.“
Sie kicherte ziemlich lange, dann beruhigte sie sich „Das ist mein Lieblingsprozess. Josi und ich vergleichen das häufig mit einem Samenerguss. Es ist wirklich so. Ein Junge steht in der Früh auf und hat auf einmal einen Steifen. Genauso ist es mit den Fangzähnen. Du wachst auf und auf einmal sind sie da.“
„Und was ist daran so schlimm?“, fragte ich, während ich mir das Kichern wegen ihrem Vergleich verkniff.
„Na ja … die Folgen davon sind extreme Zahnschmerzen. Du musst übrigens lernen die Fangzähne selber auszufahren und wieder verschwinden zu lassen.“
„Oh man“, seufzte ich und starrte auf den Boden, „Ich verstehe nicht, warum mir meine Eltern nie etwas davon erzählt haben.“
„Du, sag mal…“
„Hm“, machte ich und sah Kiara an.
„Hast du eigentlich schon einen Paten?“
Ich nickte „Du auch?“
„Ja. Meine Patin ist Sheryl. Deine?“
„Joceline.“
Ihre Kinnlade klappte nach unten und ihre Augen weiteten sich erschreckend. Ihre Reaktion machte mir ohne Zweifel Angst.
„Stimmt was nicht, Kiara?“

Zehring





„Du meinst Joceline Donoso?“ Sie ließ die Hand wieder Fallen aber der Schreck aus ihrem Blick war nicht verschwunden. Ich nickte zögerlich „Ich denke schon, dass ich die meine.“
„Ojemine“, rief sie und sah mich an, „Du hast echt die Arschkarte!“
„Warum denn?“
„Du weißt doch, dass Aristhea seit Jahrhunderten auf der Suche nach ihrem Kind ist“, ich nickte, „Na ja, sie hat eben das starke Gefühl, es sei bedingungslos ein Mädchen und kein Junge. Vor elf Jahren, da hat sie einem Mentoren befohlen, Joceline in die Harras Academy zu holen, weil sie sich zu tausend Prozent sicher war, dass sie ihre Tochter ist. Einige Jahre lang leitete Joceline deshalb die Gruppe der Lehrlinge. Joceline ist unglaublich begabt und hat in wenigen Wochen gelernt, wie man sich mental und physisch verteidigt. Sie durfte dieses Wissen den Lehrlingen weitergeben, von der die Mehrzahl sogar älter war als sie. Alle hatten extrem viel Respekt vor ihr, doch irgendwann merkte Aristhea, dass Joceline doch nicht ihre Tochter ist und der Respekt der anderen vor ihr schwand. Es traf sie hart, als sich die gesamte Harras Academy von ihr abwand, immer weniger Lehrlinge zu ihrem Unterricht kamen und immer häufiger getuschelt wurde, wenn sie den Raum betrat.“ Ein Klopfen unterbrach Kiara in ihrer Erzählung und unsere Blicke hefteten sich auf die Tür. „Wer ist da?“ Kiara sah gespannt zur Tür.
„Josi!“
„Komm rein!“
Josi öffnete die Tür und trat in das Zimmer, wo sie abrupt stehen blieb und ihre nachtblauen Augen meinen Kopf durchbohrten „Oh! Du musst wohl die Neue sein“, bemerkte sie und warf Kiara einen vielsagenden Blick zu. „Ja“, bestätigte ich und band meine glatten Haare zu einem Dutt. „Ich bin Josi Carter. Mein Zimmer ist das genau gegenüber von eurem.“
Kiara lehnte sich mit großen, amüsierten Augen zu mir vor und sagte: „Rate mal, wer ihre Zimmernachbarin ist.“
Josi verdrehte die Augen und knurrte „Wenn ich jetzt etwas da hätte, würde ich es nach dir werfen, Kiara!“
Kiara kicherte und stand vom Bett auf um zu ihrem Kleiderschrank zu gehen und es zu öffnen. In ihrem Schrank hingen mindestens zehn Mal die selben Kleider die sie gerade trug und fünf gleiche, schwarze Ballerinas.
„Müssen wir das Zeug hier andauernd tragen?“ Fragte ich irritiert und ließ meinen Blick kaum von dem Schrank ab. Kiara nickte „Ja. Das ist Pflicht, damit der Stufengrad erkannt wird.“
„Und was ist das nun wieder?“, stöhnte ich entnervt und wanderte mit dem Blick zu Josi, die dasselbe trug wie wir.
„Blau steht für die erste und zweite Stufe. Rot für die dritte und vierte. Die Mentoren tragen alle ein knielanges, moosgrünes Satinkleid, dessen Farbe sich je nach Licht allerdings immer verändert. Mal Schwarz, Violett, Grün, Dunkelblau. Ähnlich wie Schuppen eines Fisches, nur viel feiner. Einfach wunderschön! Ich hätte auch gerne so ein Kleid.“
„Ich finde immer noch, Aristhea hat das Schönste von allen“, pflichtete Josi bei und machte eine wegwischende Handbewegung, die ihre gewellten, wasserstoffblonden Haare hinter ihre Schultern warf. „Was sind eigentlich diese Motive hier?“ Ich deutet auf meinen linken Knöchel auf die kleine schwarze Feder und sah dann die beiden Freundinnen an. „Ach das“, sagte Kiara, „Das ist das Zeichen, wie weit du bereits bist. Eine Feder steht für Stufe Eins. Zwei Federn stehen für Stufe Zwei und so weiter. Die fünfte und letzte Stufe steht für einen ausgebildeten Vampir. Die Feder bildet einen Kreis um den Knöchel. Sieht ganz hübsch aus.“ Josi nickte „Und Mentoren und Professoren haben einen kleinen Diamanten in der Mitte des Kreises, um sie zu unterscheiden.“
„Hat Aristhea auch ein Tattoo?“
Beide nickten auf meine Frage „Sie hat zwei schwarze Flügel auf der Innenseite ihres rechten Fußes. Sieht genial aus“, sagte Josi und setzt sich auf Kiaras Bett, „Was machst du da eigentlich?“ Kiara stand immer noch vor dem offenen Schrank und starrte nachdenklich hinein „Ich weiß nicht, wo ich mein Handy hingeräumt habe“, murmelte sie.
„Du denkst, es ist im Schrank?“ Josi hob beide ihrer Brauen so hoch, dass sie unter ihrem Pony verschwanden. „Ja“, Kiara kramte in ihrer Unterwäsche, „Dort werfe ich es immer rein, wenn mich der Wecker in der Früh nervt. Ich kann ihn ja nicht mehr ausstellen. Seit ich mein Handy fallen gelassen habe, spinnt es total!“ Ein Knurren drang aus ihrer Kehle, das abbrach als sie die Hand mit einem weißen Handy darin wieder aus den Klamotten zog „Hier ist es!“ Josi verdrehte die Augen und lächelte mich an „Kiara ist immer so …“
„So … was?“, drohte Kiara scherzhaft und setzte sich zu Josi auf das Bett.
„Gewöhnungsbedürftig.“ Josi warf mir einen Blick zu und ich musste kichern.
„Wozu brauchst du das jetzt eigentlich?“ Josi starrte auf das Handy, das Kiara in ihrem BH verschwinden ließ. Diese schaute sie mit einem gespielten Entsetzen an „Josi! Das ist mein Handy. Ich brauche es einfach. Es ist mein Baby.“
„Idiotin“, seufzte Josi und sah mich an, „Wie heißt du eigentlich?“
„Kate Sayers. Und wer ist deine Zimmernachbarin?“ Kam ich auf das Thema von Kiara zurück, die sich lachend in ihrem Bett fallen ließ. Josis Miene verfinsterte sich „Kayla Collister. Diese hinterhältige Schlange!“
Kiara richtete sich auf „Kayla ist glaube ich der Teufel in Person.“
„Nein, sie ist schlicht und einfach die preisgekrönte Zicke der Harras Academy!“
„Was hat sie euch denn getan?“, fragte ich die beiden.
„Die muss dir nichts tun, damit du sie hasst“, antwortete mir Kiara.
„Du wirst sie früh genug kennenlernen“, war Josis Antwort.
Es klopfte am Zimmer, die Tür ging auf „Heute um 17:00 Uhr findet eine Versammlung in der Mensa statt. Bitte seid pünktlich.“ Das war die Frau von dem Stationszimmer, die genausoschnell verschwand, wie sie gekommen war. Josi sah auf ihre Armbanduhr „Das wäre in einer Stunde“, ihr Blick richtete sich auf Kiara, „Wollen wir ihr die anderen vorstellen?“
Kiara nickte und sprang vom Bett auf, um zu mir zu kommen und mich am Arm hochzuzerren „Wir müssen dir unbedingt unsere Leute vorstellen. Wenn du uns magst, wirst du sie sicher auch mögen!“

Ich folgte Kiara und Josi, die ununterbrochen über jeden Klatsch und Tratsch plapperten, die Stationen durch. Erst gingen sie nach unten auf die Eins und klopften bei Zimmer 90. „Jaaaa“, rief eine Stimme und wir betraten das Zimmer. „Josi, Kiara! Was für ´ne Überraschung. Lang nicht mehr gesehen!“ Das Mädchen mit den kinnlangen, braunen Haaren, lag mit dem Rücken auf dem Bett, stemmte die Füße an der Wand ab und warf einen kleinen Gummiball gegen die Wand, ließ ihn abprallen, fing ihn wieder auf und warf ihn erneut gegen die Wand. Obwohl sie uns ansah, fing sie den Ball immer wieder geschickt auf. An ihren Kleidern erkannte ich, dass sie auch noch entweder in der ersten oder zweiten Stufe war. An der linken inneren Seite ihres nackten Fußes sah ich eine Feder. Erste Stufe. Eindeutig. „Was führt euch zu mir?“
„Josi und ich wollten dir Kate vorstellen“, Kiara lächelte und zog mich in das Zimmer, damit sie die Tür schließen konnte. Das Zimmer, in dem wir standen hatte nur ein Bett, ein Schreibtisch und einen Schrank, woraus ich schloss, dass es ein Einzelzimmer war. An ihrer Wand hingen Bilder von sich und ihren Freunden, Familie und Haustieren. Außerdem einige Sprüche wie „Machs dir unten nicht bequem und steh wieder auf.“ Oder ein selbst gemaltes Bild wo das weibliche Simbol und das männliche Simbold nebeneinander standen. Darunter zwei männliche Simbolde und unter den männlichen zwei weibliche Simbole, zwischen denen jeweil ein Plus gezeichnet war und rechts daneben stand: Love is Love. Ob sie bisexuell war? Ihre Lippen waren zartrot, aber ungeschminkt. Um ihre Augen war ein feiner Kayalstrich gemalt und ihre dichten Wimpern waren getuscht. Sie sah hübsch aus. Genau wie Josi und Kiara auch. „Ach, dann bist du Kate, was?“ Das Mädchen richtete sich auf und kam zu uns herüber. Erst umarmte sie mich überraschend, dann Kiara und Josi. Die glockenhelle Stimme passte absolut nicht zu ihrem Äußeren. Sie tänzelte zu ihrem Schrank, öffnete es, zog ein kleines, verpacktes Päckchen heraus und tänzelte wieder zu mir herüber, um es mir zu reichen „Hier, für dich“, sagte sie fröhlich und drückte mir das Geschenk in die Hand, „Ich habe gesehen, wie du es öffnen wirst.“ Ihre haselnussbraunen Augen strahlten und ich merkte, dass sie kaum abwarten konnte, dass ich es öffne.
„Du hast gesehen, wie ich es öffnen werde?“, fragte ich irritiert und sah Josi und Kiara abwechselnd an.
Das Mädchen lachte leise, das sich wie ein Glockenspiel anhörte und zuckte verlegen die Schultern „Ich hatte schon von Anfang an das Gefühl, dass du irgendwann kommen wirst. Und ich habe gesehen, dass du dich mit uns verstehen wirst.“
„Teela hat ab und zu so seltsame Visionen“, erklärte mir Kiara, während ich das Geschenk auspackte, „Nichts Konkretes. Meistens sieht sie nur voraus, welche Neuaufnahmen wir haben werden. Als sie noch ein Mensch war, hatte sie auch immer Visionen von neuen Begegnungen, ob gut oder schlecht. Und sie sind wirklich eingetroffen. Deshalb wurde sie auf die Harras Academy aufgenommen, weil Aristhea dachte, so vielleicht voraussehen zu können, wann Tarek angreift. War natürlich total in die Hose gegangen, weil sie so etwas eben nicht voraussehen kann. Aber dafür ist Teela unglaublich geschickt und kreativ. Mitunter eine der Schnellsten Fetzläufer hier auf unserer Academy.“
„Was sind Fetzläufer?“, fragte ich und fummelte geduldig ein Tesafilm auf.
„Hier in der Academy wirst du in bestimmten Bereichen in einer AG unterrichtet. Dazu gehört das Reiten, Verteidigen, Laufen und Klettern. Diese vier Bereiche sind sehr wichtig, falls Tarek einmal angreifen sollte. Und na ja … Fetzlauf ist der schnellste Lauf, den man hier einüben kann. Und Teela ist mit Abstand die Schnellste in dem Kurs von Professor Havering – die ist übrigens extrem cool. Sehr beliebt bei den Schülern.“
Teela lächelte und sah mir dabei zu, wie ich endlich ungeschickt das Geschenkpapier abbekommen hatte. Langsam öffnete ich die dunkelblaue, kleine Schachtel und sah einen hübschen, schlichten, silbernen Ring, den ich herausnahm und in meinen Fingern wandte. „Das ist ein Zehring. Schau mal, was da innen steht!“ Teela drehte mir den Ring in der Hand so hin, dass ich das Motiv der fünf Federn sehen konnte. „Hast du das gemacht?“ Fragte ich fasziniert und fühlte mit dem Finger über das Motiv. Teela nickte eifrig „Ja, habe ich. Wir alle tragen so einen.“ Sie zeigte mir ihren nackten, linken Fuß, wo auf dem zweiten Zeh der hübsche Ring war.
„Wir alle?“ Ich zog mein Fuß aus dem Ballerina und steckte mir den Ring auf den Zeh, der wie angegossen passte.
„Die anderen. Du lernst sie noch kennen“, versprach Kiara und zog auch ihren Fuß raus, um mir denselben Ring zu zeigen. Josi tat dasselbe. „Soll sowas wie ein kleiner Ansporn für uns sein“, sagte Josi.
„Ja, der Ring zeigt uns, dass wir unser Ziel erreichen und auch alle fünf Federn haben werden“, verkündete Teela freudig, während wir alle unsere Ballerinas wieder anzogen. Ich musste lächeln „Hört sich echt süß an.“
Teela zuckte strahlend die Schultern „Freut mich, dass es dir gefällt. Wie alt bist du eigentlich?“
„Sechzehn“, antwortete ich ihr.
„Genau wie ich. Und Kiara ist auch sechzehn. Josi ist vor kurzem siebzehn geworden.“
„Alles Gute nachträglich“, sagte ich monoton und sah Josi an, die dankbar nickte. „Danke Teela, für dein Geschenk.“
„Gerne! Ich wusste, du wirst dich freuen.“
„Magst du mitkommen? Wir stellen Kate gerade die anderen vor.“
Teela schüttelte den Kopf „Danke Kiara, aber ich möchte lieber hier bleiben und noch ein wenig mit dem Ball spielen. Außerdem bin ich grade zu faul.“
Kiara zuckte die Schultern und lächelte „Na gut. Dann sehen wir uns später bei der Versammlung.“ Teela nickte und wir gingen drei Türen weiter, um zu klopfen.

Irgendwie waren die anderen, die sie mir vorstellen wollten, nicht in ihren Zimmern, also meinte Kiara, dass wir schonmal zur Versammlung aufbrechen könnten, denn dort würden wir sie bestimmt sehen. Kiara, Josi, Teela und ich waren eine der Ersten im Saal, deshalb ergatterten wir uns einen Platz ganz vorne an den Tischen. Nach und nach füllte sich der Saal. Die Jungvampire, wie Kiara und Josi sie nannten, saßen alle hinter oder neben uns an den Tischen, auf den Tischen, oder standen. Die Mentoren und Professoren standen vorne und schienen auf etwas zu warten. Sehr wohl auf Aristhea. Kiara sah sich die ganze Zeit unruhig um, streckte, reckte und verrenkte ihren ganzen Körper, um über die ganzen Köpfe sehen zu können und ihre Leute zu finden „Irgendwie sehe ich sie nicht“, murmelte sie verärgert und sah Josi an, die nun auch zu Suchen begann „Vielleicht sind sie noch in einem Kurs. Mrs. Bellingham ist ja auch noch nicht hier.“ Kiara schweifte mit dem Blick durch die ganzen Professoren und Mentoren, die dort vorne in ihren wunderschönen Kleidern standen „Stimmt“, murmelte sie und schlug sich dann an die Stirn, „Stimmt! Die hatten ja heute Verteidigungskurs. Ganz vergessen.“
Ich hörte, wie Teela die ganze Zeit plapperte. Sie sprach mit jedem einzelnen Jungvampir, als würde sie alle kennen. Und noch dazu verstand sie sich mit jedem! Was natürlich nicht so verwunderlich war, denn Teela hatte irgendetwas an sich, was sie unglaublich sympathisch machte. „Hey, Kate“, sie zupfte an meinem Kleid und sah mich mit ihren fröhlichen Augen an, „Als du noch zu Hause warst. Hattest du da einen Freund?“
„Ja, ich habe einen Freund“, antwortete ich ihr und verbesserte sie dabei unauffällig. Obwohl Erik jetzt ganz wo anders war, liebte ich ihn immer noch. Und ich würde ihn auch immer lieben! „Ach so“, schmunzelte sie, „Du bist also schon vergeben.“ Nachdenklich senkte sie den Blick und rieb sich den linken Nasenflügel.
„Worüber denkst du nach?“, fragte ich.
„Hm“, machte sie und sah mich an, „Hier ist nur so ein Typ. Und ich dachte, ihr würdet total gut zusammenpassen. Allerdings … wenn du vergeben bist, hat sich das ja dann erledigt.“ Ihr nachdenkliches Gesicht verwandelte sich wieder in ein helles Strahlen. Ich musste kichern und den Kopf schütteln.
„Hey, da ist Mrs Bellingham“, flüsterte Kiara und deutet auf eine Frau, die sich gerade zwischen zwei Professoren drängte.
„Oh“, machte Josi und sah sich nun im Saal um, „Dort sind sie!“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und deutete ganz hinter über alle Köpfe hinweg, womit sie die Aufmerksamkeit vieler auf sich zog und sich verlegen wieder klein machte.
„Gehen wir zu ihnen hinter?“, fragte Teela und sah Kiara an. Ich machte mir nicht die Mühe, mich auf die Zehenspitzen zu stellen und hinter zu sehen, um vielleicht zu erkennen, wen sie meinten. Das würde bloß die Aufmerksamkeit auf mich ziehen.
„Nein. Warten wir, bis die Versammlung vorbei ist“, schlug Kiara vor, drehte sich aber trotzdem um, um sich auf die Zehenspitzen zu stellen und ihren Freunden zuzuwinken. Dann verstummte die ganze Mensa, denn Aristhea betrat den Raum und sie zog Dank ihrer Schönheit alle in ihren Bann. Leichtfüßig, beinahe als würde sie schweben, stellte sie sich zwischen die Professoren und Mentoren, sah sich in der Mensa um, schenkte uns ein wunderschönes Lächeln und nickte dann „Willkommen, meine Kinder.“ Ich merkte, wie sie alle hypnotisiert anstarrten. Beinahe, als sei sie eine Göttin.
Teela strahlte so fasziniert über beide Ohren, dass man meinen konnte, sie würde gleich zu ihr rüber stürzen und einen Kniefall machen. Aber wenn ich richtig sah … so sahen sie alle aus. „Willkommen, Priesterin“, raunte es voller Ehrfurcht und Bewunderung durch den Saal.
„Wir haben uns heute versammelt, weil wir wieder Neulinge auf der Harras Academy haben. Sicherlich haben einige von euch sie schon kennengelernt.“
Aristhea sah in die Mensa und blieb dann an mir hängen. Als sie ihren Blick auf mich richtete, hörte ich, wie sich auch alle anderen in meine Richtung drehten. Teela grinste so sehr, als sie mich ansah, dass ich dachte, sie würde gleich hysterisch loslachen oder kreischen. „Zum Einen wäre da unser Neuling Kate Sayers.“
Ein Applaus schmerzte meinen Ohren, als ich meinen Namen hörte. Aristhea wandte den Blick von mir ab und suchte den Nächsten „Als nächstes Heath Gedney“, sie suchte den Nächsten, „Laurie Harper“, und den Nächsten, „Hanna Bishop, Matthew Lawrence, Aiden Stark und Cassidy Ames.“
Beim letzten Namen setzte mein Herz aus, meine Lunge fing an zu brennen, mein Augenlied an zu Zucken und ich hätte am liebsten geschrieen. Cassidy Ames. Nein. Das konnte nicht sein. Das war unmöglich. Cassidy war in Seattle im Internat, spielte wahrscheinlich gerade Billiard oder Schach und fühlte sich ganz besonders toll mit ihrer „Yolo-Hipster-Swag-ABFFffffffffff….“. Mir kam etwas hoch, obwohl ich nichts gegessen hatte. „Kate, geht’s dir nicht gut?“, fragte Josi besorgt und legte eine Hand auf meine Schulter. Ich versuchte mich zusammen zu reißen und sah sie an „Doch … passt schon. Alles ok.“

Der Schwan




Ich wusste nicht, was ich denken sollte. Cassidy Ames war mit mir hier auf der Harras Academy. Das hieß, dass Aristhea oder einer der Mentoren etwas Besonderes in ihr gesehen haben muss. Was konnte das sein? Ihr unglaubliches Intrigen, die Lügerei, ihr abscheulicher Perfektionismus oder diese Freundlichkeit, die mindestens genauso falsch war wie Pamala Andersons Titten? Ich wäre am liebsten zu Cassidy rübergelaufen, hätte sie auf den Boden gestoßen und ihr ein Veilchen verpasst. Du bist nichts Besseres als ich! Nehme mir nicht immer alles weg!

Hätte ich geschrien und immer wieder auf ihr Gesicht eingeschlagen. Es kam mir vor, als würde sie mich schon ein Leben lang verfolgen. Es fing im Kindergarten an, nahm mir meine Lieblingsbarbiepuppen weg, so dass ich immer den bescheuerten Jungen spielen musste. Sie hat mir immer das letzte Kuchenstück vor der Nase weggeschnappt, hatte mich eine Woche vor meinem Geburtstag mit ihren widerlichen Windpocken angesteckt, so dass ich ihn dann zu Hause in meinem Bett, mit Fieber, Juckreiz und Schmerzen verbringen musste, während sie ihren eigenen (der übrigens, oh Wunder, am selben Tag ist) im Kindergarten mit 1000 Geschenken und Glückwünschen und Spielen gefeiert hatte. Seit dem Tag habe ich sie gehasst. In der Grundschule war ich froh, dass sie in meiner Parallelklasse und nicht in meiner Klasse war, obwohl das an der Situation auch nichts änderte, da wir dann in dieselbe Kindertagesstätte gingen, sie dauernd meine Freunde gegen mich aufhetzte, immer die Lehrerin spielen wollte oder mir bei einer Aufführung als Rotkäppchen die Hauptrolle genommen hatte. Als ich ins Internat kam, froh dass Helena und ich seit der zweiten Klasse so viel durchgestanden haben, traf mich beinahe der Schlag, als ich Cassidy in meiner Klasse sitzen sah. Sie ist wie ein Virus, das nie wieder verschwindet. Wie AIDS. Ich hasse sie!
„Kate, das sind Alvin und Lukas“ Kiara lächelte, als sie mich ihren Freunden vorstellte. Ich sah einem Jungen in schwarzer Jeans und blauem Hemd in die Augen, der mich willkommen mit seinen großen, olivgrünen Augen ansah, und dabei seine schwarze Föhnfrisur aus dem Gesicht strich, mit der er ein wenig aussah wie ein Emo, dann aber wieder den Kopf senkte. Abgesehen von der Tatsache, dass Emos nicht unbedingt mein Geschmack waren, sah er ungeheuer gut aus! Er hatte ein markantes Kinn und scharfe Gesichtszüge. Seine Wangenknochen waren so männlich, dass ich nicht glauben konnte, dass er in meinem Alter sein sollte. Aber sein Hemd war blau. Ich vermutete, dass bei den Jungs es genauso geregelt war wie bei den Mädchen. Blau: Stufe 1 und Stufe 2. Rot: Stufe 3 und Stufe 4. Die Mentoren und Professoren trugen Smokings die teurer aussahen als hundert Diamanten zusammen.
Lukas unterschied sich von Alvin wie Tag und Nacht sich voneinander unterscheiden. Lukas´ sandbraunen Haare waren zu einer kurzen, lockeren Frisur geschnitten, bei der Man(n) einfach nur mit der Hand durch die Haare fahren musste und sie wieder perfekt saßen. Seine Augen waren von einem warmen, freundlichen Haselnussbraun und seine dichten, dunklen Wimpern umrahmten seine ovalen Augen. Seine Gesichtzüge waren fein und unauffällig.
„Teela hat uns schon viel von dir erzählt“, sagte Lukas und lächelte mich an. In seinen Augen schien die Sonne zu strahlen, denn obwohl seine Mundwinkel wieder auf ihrem Platz waren, lächelten seine Augen ununterbrochen. Er hielt mir die Hand hin, damit ich sie schüttelte, dann stellte er sich locker, mit beiden Armen neben dem Körper hängend hin und sah Kiara unverstohlen an. Alvin hingegen hatte den Kopf so gesenkt, dass seine schwarzen Haare ihm in die Augen fielen und fast sein ganzes Gesicht in Schatten verdeckte. Nur seinen Mund konnte ich sehen, den er die ganze Zeit geschlossen hielt. Starrte er auf meine Füße? Er hatte die Hände in seine Hosentaschen gesteckt. Er trug eine schwarze Lederjacke über dem blauen Hemd. Kiara merkte dass ich ihn anstarrte und tippte mich höflichkeitshalber an den Arm, damit ich aus meiner Starre kam. In dem Moment fragte ich mich, was für ein Geheimnis Alvin wahrte. Und warum ein so gutaussehender Kerl so verbittert sein konnte. Gutaussehender Kerl … ich seufzte, weil mir Erik´s vertrautes Gesicht ins Gedächtnissprang. Nicht einen Tag war ich weg von dem Internat und schon vermisste ich Erik und Helena so sehr, dass ich heulen könnte. Erst gestern Abend bin ich mit Erik zusammen gekommen, durfte seine Komplimente genießen, seine großen, starken Hände um meine Hüfte fühlen, in seine kristallblauen Augen sehen, seine weichen, süßen Lippen berühren … Ich durfte mich in seinen schwarzen Locken festkrallen, um mich nicht zu verlieren, während er mich küsste. Ich spürte seine Hand auf meinem wilden Herz, das so laut pochte, dass selbst Erik es hören musste. Einen Abend … und ich dachte für immer.
Aber nein.
Jetzt war ich hier.
Weg von Erik. Von Helena. Und von meiner Familie.
Kaum hatte ich zu Ende gedacht, riss mich ein kalter, plötzlicher Windstoß aus meinen Tagträumen und mein Herz setzte für mehrere Sekunde aus, als die Türen auf und zu schlugen, während alle Lichter ausfielen und ein Kreischen die ruhige Atmosphäre der Harras Academy zerriss. Hilfesuchend sah ich mich um und spürte eine Hand nach meiner greifen. Teela drückte ihre Nägel so sehr in meine Handfläche, dass ich das Bedürfnis hatte, sie wegzustoßen, aber meine Angst ließ mich zu einer Masochistin werden, denn ich drückte ihre Hand so fest, dass sich ihre Nägel noch weiter in mein Fleisch bohrten. Mir wurde ganz schnell bewusst, dass nicht sie das war, die zu fest zudrückte, sondern ich selber. Alle sahen in die Richtung, von der die Kälte gekommen war und das Schreien den Frieden durchschnitt. Dieser Schrei war alles andere normal. So schrie die Seele, kurz bevor sie vom Qual erdrückt wurde. „Was war das?“ fragte ich in voller Angst, als es wieder still wurde und die Kälte verschwand. „Ich weiß es nicht“, antwortete mir Kiara genauso leise, wie ich sie gefragt hatte. Auf einmal war es totenstill. Ich hörte keine Schritte, kein Gelächter und kein Getratsche mehr auf dem Gelände, das vorher noch so voller Leben zu sein schien.
„Ruft sofort Mrs. Nolan. Sie soll sich auf der Stelle in den Mädchentrakt begeben!“ Alle, die noch mit uns in der Mensa standen, rissen ihre Köpfe zu Aristhea, die ihre elfenbeinfarbenes Satinkleid nach oben gezogen und losgerannt war. In die Richtung, aus der das Schreien kam. Alle bewegten sich auf einmal Aristhea hinterher. Ich wollte schon auch loslaufen, doch Kiara hielt mich am Handgelenk zurück und schüttelte den Kopf. „Was ist da los, Kiara? Sag mir nicht, dass du nicht weißt, was passiert ist!“ Meine Augen sprühten Funken, während ich Kiara anstarrte. Alle Jungvampire, denen Angst und Entsetzen ins Gesicht geschrieben war, folgten Aristhea in den Mädchentrakt. Irgendetwas … etwas ganz tief in mir … zwang mich ihr auch hinterherzulaufen, genauso wie alle anderen es taten, aber Kiara und ihre Freunde blieben so ruhig, als hätte Grandma die Kekse verbrannt. „Es ist besser, wenn du das nicht siehst“, murmelte Teela entschuldigend und sah mir dabei nicht in die Augen. „Warum denn? Dann sagt mir doch bitte wenigstens, was geschehen ist!“
„Es wurde jemand angegriffen“, antwortete Alvin tonlos und blickte mich so finster an, dass ich mich erschrak. Als würde er mir

die Schuld dafür geben!
„Wie … es wurde jemand angegriffen“, keuchte ich. Mein erster Tag hier und schon sowas! Na das fing ja gut an. Josi flüsterte es nur „Das passiert in letzter Zeit irgendwie häufiger. Carrie, das ist eine von Teelas Station, wurde auch schon angegriffen. Sie sagt, es war ein Schwan.“
„Ein Schwan“, widerholte ich und betonte es dabei so, als sei diese Carrie völlig von Verstand.
„Das ist gar nicht so unglaublich, wie du denkst, Kate“, beschwichtigte mich Lukas und sah mich mit seinen besorgten, aber trotzdem fröhlich wirkenden Augen an, „Du wirst noch so vieles kennenlernen hier, von dem du nicht einmal gewagt hättest, daran zu glauben.“
„Und wie soll ein Schwan

bitteschön einen Jungvampir angreifen?“ Meine Angst war schon komplett verschwunden, da mich meine Verwirrung unglaublich ärgerte.
„Es beißt“, sagte Josi. Ich lachte auf: „Es beißt!“
Kiara verdrehte die Augen „Versuch doch mal wenigstens ein wenig ernster zu sein.“ Ich merkte, dass sie genervt von mir war „Tut mir leid, aber mich irritiert das alles so“, seufzend sah ich sie an, „Und was passiert jetzt?“
Die Lichter gingen wieder an.
„Mrs. Nolan muss den Jungvampir auf die Krankenstation bringen. Ich glaube, das ist jetzt das vierte Mal, dass jemand angegriffen wurde.“
„Woher kommen diese Schwäne, und was wollen sie denn?“ Mir kam das so absurd vor, dass ein Schwan … so ein schönes Wesen … einen Jungvampir angegriffen haben sollte, dass es mir einfach nicht gelang, das Wort ernst auszusprechen. Ungewollt schwang ein Hauch Ironie mit drinnen und Kiara seufzte „Wir wissen es nicht. Selbst Aristhea weiß es nicht. Und sie findet normalerweise immer einen Grund für Geschehnisse. Aber diese Schwäne … die sind und bleiben ein Rätsel.“
„Kiara!“ Ein Mädchen in rotem Kleid stand an der Tür beim Korridor, der zum Mädchentrakt führte. Ihre Augen waren rot angeschwollen und sie hielt sich eine zitternde Hand vor den Mund. Vermutlich um rechtzeitig einen Schluchzer zu verhindern.
„Allen?“ Kiara hatte schon an der Stimme gehört, dass sie weinte und ging eilig auf sie zu, um ihr tröstend eine Hand auf die Schulter zu legen. Wir folgten ihr ahnungslos und bevor Allen in Tränen ausbrach schluchzte sie „Es ist Sheryl.“
Ich merkte, wie sich Kiaras ganzer Körper verkrampfte und ihr Daumen aufhörte, Allen´s Schulter zu streicheln. Mechanisch, wie ein Roboter nahm sie die Hand von Allen und ließ uns stehen. Sie bewegte sich wie ferngesteuert den Korridor entlang zum Mädchentrakt.

Den restlichen Abend wartete ich nur noch. Wann kam Kiara endlich ins Zimmer und sagte mir, dass es ihrer Patin wieder besser ging? Schon wieder ertappte ich mich dabei, wie ich auf die Uhr sah. Seufzend schloss ich die Augen und versuchte zu ignorieren, dass bereits drei Stunden vergangen waren, seit ich alleine im Zimmer saß und versuchte dem Drama dort draußen aus dem Weg zu gehen. Als ich hinter Kiara hinterhergegangen war und dann Aristhea dort über Sheryl gebeugt schluchzen und weinen sah, wusste ich mir nicht zu helfen. Ich fühlte mich so dermaßen falsch an diesem Ort, wie ein Pinguin in Australien. Der Anblick war schlimmer, als die eigenen Eltern beim Techtelmechtel zu ertappen und was darüber hinausging. Ich hatte von Sheryl nicht viel gesehen, außer ihrer blonden Locken die über dem Boden lagen wie Wellen im Meer. Ihr Gesicht und ihr Körper verdeckten Aristheas roten Haare, da sie sich über das Mädchen gebeugt und auf ihrem Bauch geweint hatte. Josi meinte nur, dass Aristhea jeden von uns wie ihr eigenes Kind sieht und wenn eines stirbt, sterbe ein Teil von ihr. Es hörte sich für mich an wie ein trostloses Gebet, doch ich sagte nichts.
Ein eiskalter Windstoß riss mich aus den Gedanken und ich schlang automatisch die Arme um meinen Körper. Das Licht in meinem Zimmer flackerte und blieb schließlich aus. Warum bekam ich keine Angst? Meine Gefühle waren wie betäubt. Normalerweise, wenn ich zu Hause gewesen wäre, wäre ich vor Panik in das Schlafzimmer gerannt und hätte meine Eltern geweckt, um zu sagen, dass etwas im Haus war. Denn ja, hier war etwas. Ich spürte es. Ganz eindeutig. Ein inneres Prickeln, das immer stärker wurde, umso näher mir das Etwas kam. „Wer ist da?“ Keuchte ich in die Stille und kam mir ein wenig albern dabei vor. Kate

. Ich war mir nicht sicher, ob ich gerade wirklich meinen Namen gehört hatte, oder ob ich es mir nur eingebildet hatte, als mir ein erneuter kalter Windstoß durch die Haare bließ. Ich verkniff es mir wieder zu fragen, ob dort jemand war, denn ich war mir sicher, dass jemand im Zimmer war. Irgendwo dort im Schatten des Schrankes. Würde er, sie oder es bloß einen Schritt nach vorne wagen, stände es im Mondlicht und ich könnte sehen, wer da war, was mich bedrohte. Du musst hier weg. Du bist nicht sicher.

Nein! Diesmal hatte ich mir diese Stimme nicht eingebildet! „Wer bist du? Verdammt, komm raus und zeig dich, du scheiß Mistkerl!“ Ich erschrak mich vor mir selber, als ich in das scheinbar leere Zimmer schrie. Ich wollte nicht schreien. Im selben Moment ging die Tür auf und mit ihr ging das Licht an und für einen Bruchteil einer Sekunde sah ich in das Gesicht eines … mir stockte der Atem und jetzt raste mein Herz so schnell, als würde es die Angst nachholen müssen. Ein schwarzer Schwan.
Doch als Kiara im Zimmer stand und mich mit verweinten Augen ansah, war er weg.

Der Fremde





Es kostete mich viel geistige Überwindung, nicht aufzuspringen und ihr panisch ins Gesicht zu schreien, dass der Schwan gerade in unserem Zimmer gestanden war. Aber dann atmete ich tief ein, löste meine Starre und redete mir ein, dass das auch später Zeit hatte. Jetzt war erst einmal Kiara wichtig. „Sie…“, kaum hatte sie die eine Silbe ausgesprochen, fiel sie in sich zusammen und schluchzte. Ich stand von meinem Bett auf, kniete mich zu ihr auf den Boden und legte meinen Arm um sie. „Sie hat es nicht geschafft“, wimmerte sie und wischte sich zwecklos die Tränen aus ihrem Gesicht. Mein Herz hatte sich immer noch nicht beruhigt und mir schwirrten immer mehr Fragen im Kopf.
Warum griff ein Schwan einen Jungvampir an?
Warum hatte mich der Schwan gesucht?
Woher wusste er meinen Namen?
Warum deutete er an, ich sei hier in Gefahr?
Und warum war ein Jungvampir gegen einen … Schwanenbiss nicht immun?
Ich schloss die Augen, legte meinen Kopf auf Kiaras Schulter und wartete, bis sie sich beruhigte. Ungewollt schwirrte mir die ganze Zeit die Gestalt des schwarzen Schwanes vor den geschlossenen Augen. Sein Schnabel der nicht, wie bei üblichen schwarzen Schwänen rot, sondern pechschwarz war. Die dunklen Augen, dessen umrisse von einem blauen Kreis umrahmt waren und der unschuldige Blick. Wollte er mich täuschen?
Als Kiara aufhörte zu schluchzen, öffnete ich meine Augen, stand auf und half ihr hoch.
Der restliche Abend verlief schweigsam und schließlich schlief ich ein.

Ich gehe einen langen Weg entlang. Um mich herum türmen sich die Bäume bedrohlich über meinem Kopf und der Weg scheint kein Ende zu haben. In meinen Ohren klingt alles dumpf, als hätte ich Watte in ihnen. „Kate“, höre ich eine Stimme flüstern und ich wende mich zu allen Seiten. Von wo kam sie? „Kate, du musst mir gut zu hören.“ Die Bäume um mich herum verschwinden zu einem grauen Farbmuster. Unter meinen Füßen ist jetzt eine weiße Metalplatte, die Dank schwarzen Flügeln in dem grauen Nichts fliegen kann. Ich drehe mich, wie in einem unaufhaltbarem Karussel und habe keine Kontrolle über meinen Körper. Kann mir meine Hände nicht auf die Ohren drücken und meine Augen nicht zukneifen. Ich muss zuhören. „Helfe mir, Kate. Ich brauche dich. Ohne dich bin ich allein und kann nicht weiter leben. Bitte, Kate. Lass mich nicht sterben.“ Vor mir bildet sich aus dem Nichts eine weiße Gestalt, von der ich erst nur den Umriss erkenne. Dann zeichnen sich Hände, Beine, Kopf … und Flügel. Es ist ein Junge. Etwas älter als ich. Er trägt nur einen weißen Laken als Hose und seine schwarzen Flügel verdecken seinen makellosen Körper. Seine Schöhnheit ist so atemberaubend und hypnotisierend, dass jeder kleinste Winkel meines Körpers anfängt ihn zu begehren. „Wer bist du?“ frage ich schwach und bewege mich keinen Millimeter von der weißen Metalplatte, obwohl ich mich so gerne in seine Arme geworfen hätte. Ich habe Angst, ins Nichts zu fallen und ich bezweifle, dass er mir hinterherfliegen und mich retten würde. Dass er es überhaupt kann. „Ich bin dein Bruder. Und wir sollten nicht getrennt leben. Wir gehören zusammen, Kate.“



Unruhig blinzelte ich in die Dunkelheit. Es war noch in der Nacht und als ich mich bewegte, spürte ich dass ich schweisgebadet war. Angewidert schmiss ich die Decke von meinem Körper, richtete mich auf und zog mir mein weißes Schlafhemd aus. Mir ging der Traum nicht aus dem Kopf. Mein Bruder. Wie konnte ich meinen Bruder begehren? Wie konnte ich mich so angezogen von ihm fühlen? Es war ja nur ein Traum. Träume sind immer lächerlich und unrealistisch. Aber ich hatte das Gefühl, wirklich dort zu sein. Es war nicht wie jeder andere Traum, den ich bis jetzt hatte, gewiss nicht. Er war anders. Er war intensiver und … bedeutsamer. Langsam schritt ich an den Spiegel hinter dem Schrank und schaltete das kleine Licht darüber an. Mein Blick fiel auf Kiara, die tief und fest zur Wand gedreht schlief, dann sah ich in den Spiegel. Unter meinen Augen bildeten sich dunkle Augenringe, die wirklich nicht mehr feierlich aussahen. Und dann sah ich noch etwas. Da ich jetzt nur in Unterwäsche dastand, richteten sich meine Augen auf mein Schlüsselbein. Was war das? Ich beugte mich näher an den Spiegel heran und tastete über das schwarze Etwas, von dem ich hoffte, es war nur ein Fussel, doch es verschwand nicht. Egal wie fest ich rubbelte und kratzte, es blieb haften. Stattdessen scheuerte ich mir nur die Haut rot. Um den Schlaf aus den Augen zu kriegen, rieb ich sie mir, kniff sie zusammen, ging mit dem Kopf ganz nah an den Spiegel und versuchte noch einmal zu erkennen, was das war.
Es war ein Tattoo. Es war ein unfertiges Tattoo und ich konnte nicht erkennen, was es werden sollte. Wie zur Hölle war das auf mein Schlüsselbein geraten? Vielleicht träumst du ja noch. Vielleicht bist du noch gar nicht wach!

Ich lachte innerlich auf, als ich versuchte mir das einzureden, obwohl ich zu hundert Prozent sicher war, dass ich in Fleisch und Blut vor dem Spiegel stand. Das war wirklich absurd. Vielleicht sollte ich morgen einfach mal Kiara darauf ansprechen. Ob sie mehr wusste?
Ich bin dein Bruder. Und wir sollten nicht getrennt leben. Wir gehören zusammen, Kate.


Wie ein schlechtes Omen hallte die Stimme des Jungen aus meinem Traum in meinem Kopf wider. Hör auf dich wahnsinnig zu machen,

schimpfte ich mich, es war nur ein Traum und du hast ja noch nicht einmal einen Bruder und hast es auch nie gehabt!


Müde schaltete ich das Licht wieder aus und ging zurück in das Bett, um den Rest der Nacht einen etwas ruhigeren Schlaf zu finden.

„Kate!“ Eine Hand rüttelte mich aus dem Schlaf und ich blinzelte in das zerknautschte Gesicht von Kiara. Ihre blonden Locken waren wie frisch vom Friseur, obwohl sie auch gerade erst aus dem Bett gestiegen sein musste. „Du musst in die Eingangsgruppe. Es ist schon halb acht. Nicht, dass du zu spät kommst.“
„Geht es dir gut?“ fragte ich und ignorierte, was sie mir sagte.
Kiara senkte den Kopf und zuckte die Schultern „Ich muss in den Lehrsaal, sonts kriege ich geschimpft. Viel Spaß in der Eingangsgruppe.“ Mit den Worten band sie sich die Schleife an ihrem Kleid und verließ das Zimmer. Sie hatte mir keine richtige Antwort gegeben. Warum vertraute mir Kiara nicht?

„Hallo, du musst Kate Sayers sein, richtig?“ Eine Frau mit strohblonden Haaren, die zu einem lockeren Zopf gebunden waren reichte mir die Hand. „Ja, die bin ich“, sagte ich und setzte mein Everybodys-Darling-Lächeln auf. „Ich bin Professor Timea. Professor Miron kommt erst in den nächsten beiden Stunden, da er Donnerstags auch in den Lehrsäälen unterrichtet. Wenn du magst, kannst du dir aussuchen, was du machen möchtest. Hier hast du freie Auswahl“, Sie deutete mit ihrerer Handfläche zur geschlossenen Tür, hinter der die Eingangsgruppe auf mich wartete, „Die anderen haben bestimmt schon angefangen. Du kannst hier Griffe für dein Schwert selbst bauen, genau wie du eine eigene Satteldecke oder Bandagen für dein Pferd, eigene Laufschuhe für den Laufkurs oder Sportsachen nähen kannst.“
„Cool“, sagte ich und lächelte, „Kriegen wir denn dabei Hilfe?“
„Natürlich. Dafür sind wir da!“ Professor Timea zwinkerte mir zu, legte eine Hand auf meinen Rücken und geleitete mich so in die Eingangsgruppe, wo mein Lächeln sofort verblasste, als Cassidys und meine Blicke sich trafen. Ein hinterhältiges Lächeln bildete sich auf ihrem hübschen Gesicht.
Im Laufschritt steuerte ich auf sie zu, wo sie gerade eine Satteldecke machte, blieb neben ihr stehen, schnappte mir eine weiße Satteldecke und starrte auf den Tisch vor uns „Was tust du hier“, zischte ich leise, so dass Professor Timea uns nicht hörte. Sie war zu einem Jungen gegangen, der an einem Schwertgriff arbeitete, um ihm zu helfen.
„Das selbe könnte ich dich auch fragen“, antwortete sie selbstgefällig und pinselte weitere verschnörkelte hellblaue Fäden über den weißen Sattel. „Hör auf damit!“
„Womit denn?“ Fragte sie unschuldig, hob den Kopf und lächelte mich an, während sie mit ihren langen Wimpern klimperte und mir ihre geraden Zähne zeigte.
„Mir überallhin zu folgen!“
„Ich kann doch nichts dafür, wenn die Mentoren meinen, ich hätte etwas Besonderes an mir, dass sie mich auf die Harras Academy holen wollen.“
„Du wusstest von der Harras Academy?“ Fragte ich verärgert und beobachtete sie beim malen. Cassidy sah mich mit ihren katzengelben Augen an und hob die schön geschwungenen Brauen „Du nicht?“
Ich schwieg und starrte sie wütend an.
Sie lachte „Das ist wieder typisch Kate. Kommt in die West Harras Academy und weiß nicht einmal davon!“ Als sie mir eine Hand auf die Schulter legt und so tut, als würde sie herzhaft lachen, griff ich um ihre Taille, zog sie an mich ran, drückte meine Lippen an ihr Ohr und flüsterte: „Hör mir zu, Cassy! Lass deine Spielchen. Das hier wirst du mir nicht wegnehmen!“ Damit verließ ich die Eingangsgruppe mit einem Hollywoodlike-Türknallen und ging schwer atmend auf die Toilette, wo ich hinter mir absperrte und mich mit dem Rücken an der Wand auf den Boden gleiten ließ. Ich zog die Beine an meinen Körper und legte meinen Kopf auf sie. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Ich kam mir vor, wie in einem schlechten Film. Seufzend zog ich mein Handy aus der kleinen Tasche in meinem Kleid und wählte eine Nummer.
Es klingelte.
Einmal … zweimal … dreimal …
Elfmal … zwölfmal … gerade als ich auflegen wollte, ging sie ran „Helena, ja endlich!“
„Sorry, hab mein Handy nicht gefunden“, murmelte sie schuldbewusst und dann quietschte sie lauthals in den Hörer, „Ach du Scheiße, Kate! Du bist in der Harras Academy!!! Ich glaubs ja nicht, das ist DER HAMMER! Warum hast du mir nichts gesagt? Woah, wenn du wüsstest! Das ganze Internat redet von dir!“
„Moment mal, woher weißt DU denn davon?“
„Ganz einfach. Als dich dieser Typ in der Nacht aus dem Fenster gezogen hat, da habe ich das Abzeichen gesehen.“
„Welches Abzeichen?“
„Das war so eine Feder oder so. Auf seinem Handgelenk.“
„Hm“, machte ich und fing schon das neue Thema an, „Cassidy ist übrigens auch hier.“
„Ich weiß“, sagte sie leise und entschuldigend, „Jeder weiß es.“
„Diese miese Kuh! Gerade habe ich sie in der Eingangsgruppe gesehen. Sie meinte, sie könne ja nichts dafür, dass ein Mentor sie in die Harras geholt hat, weil sie ja etwas soooooo Besonderes ist.“
Helena lachte „Die hat sie doch echt nicht mehr alle!“
„Wie geht es Erik?“
„Gut“, murmelte sie, aber ich hörte heraus, dass das nicht alles war.
„Helena …“
„Ja … ich weiß nicht. Er ist so komisch. Scheint total niedergeschlagen zu sein. Er läuft rum wie eine Gewitterwolke. Selbst seine Kumpel haben keine Lust auf ihn weil er total depri ist.“
„Oh je“, seufzte ich und starrte auf einen Schmutzfleck im Boden, „Ist er gerade in deiner Nähe?“
„Magst du mit ihm reden?“
Ich nickte bis ich merkte, dass sie mich gar nicht sah „Irgendwie schon … ja.“
„Hm … kannst du kurz warten? Ich stell dich solange ab, während ich mich zu den Jungs schleiche und ihn hole, ja?“
„Alles klar, danke Helena!“ Ein Lächeln flog mir über das Gesicht doch bis dahin hatte sie mich schon irgendwo abgestellt. Ich wartete und hörte dem Kicher und Geplapper zu, der aus der scheinbar offen gebliebenen Tür drang. Ich verstand nichts, aber es war angenehm. Irgendwie beruhigte mich das. Während ich lauschte starrte ich die weiße Wand vor mir an und zählte die kleinen Steinchen in ihnen, als plötzlich die Tür im Telefon zugezogen wurde und es auf einmal totenstill war. Ich riss meinen Blick von der Wand und runzelte die Stirn. Jemand hatte das Telefon in die Hand genommen und hielt es an sein Ohr. Ich konnte das Atmen hören. „Hallo? Erik, bist du das?“
Es atmete weiter.
„Hallo? Hört auf mit dem Mist!“
„Kate“, hauchte die fremde Stimme am Hörer und mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Ich konnte schwören, das war exakt dieselbe Stimme wie des Jungen aus meinem Traum. Ich musste mich beherrschen, um nicht meinen Körper vor Angst zu verkrampfen. „Was willst du“, zischte ich verwundert kontrolliert über mich selber. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass sich meine Stimme so kräftig anhören würde.
„Dich!“ Mit dem Wort hörte ich wieder ein Türknallen und das Telefon fiel irgendwie auf den Boden. Es knallte und schepperte und einen Moment hatte ich gedacht, die Verbindung sei abgebrochen. „Huh, wie ist das denn passiert?“ Hörte ich Helena etwas weiter entfernt vom Handy sagen. Vermutlich sprach sie mit Erik, denn jetzt hob jemand das Handy auf und dann hörte ich seine vertraute Stimme. Und obwohl sie mir nicht die Angst von eben rauben konnte; ich fühlte mich besser „Erik!“
„Kate! Mein Gott, warum sagst du uns denn nicht, dass du auf die Harras kommst?“ In seiner Stimme lag ein tiefer Vorwurf.
„Ich wusste es ja selber nicht! Und überhaupt – ich hatte bis gestern keine Ahnung was diese Harras Academy ist.“
„Was? Deine Eltern haben dir nichts davon erzählt?“ Ich sah förmlich vor mir, wie Helena und Erik sich erstaunte Blicke zuwarfen.
„Nein, nie. Ich habe es von Kiara erfahren, meiner Zimmernachbarin.“
„Oh cool! Hat die Fangzähne und so richtig schwarze Klamotten? Ist sie ne Ghetto-Keule? Wie ist sie? Laufen die alle da so in schwarzen … du weißt schon … Dingsis. Draculamänteln rum?“ Das war Helena, der die Fragen nur so aus dem Mund schossen und ich musste lächeln, wobei meine Angst beinahe verflog „Nein. Im Gegenteil. Kiara hat noch gar keine Fangzähne und wir … müssen hier sowas wie Schuluniformen tragen.“
„Ist ja krass“, hörte ich sie sagen.
„Wie sehen die aus?“, fragte Erik, „Ich meine, damit ich dich mir besser vorstellen kann.“
„Kommt mich doch einfach besuchen!“
„Das geht?“ Helena schrie fast vor Begeisterung in das Handy.
„Ja natürlich geht das. Unsere Eltern dürfen uns doch auch besuchen.“
„Aber das sind ja auch deine Eltern, Kate“, beschwichtigte mich Erik, „Ich bezweifle, dass wir dich dort besuchen dürfen.“
„Werden wir da nicht angegriffen? Also … du weißt schon … ausgesaugt und so?“
„Nein, Helena. Die würden euch nichts tun. Ich bin ja selber noch kein Jungvampir. Zähle praktisch noch als Mensch und scheinbar sind die immun gegen menschliches Blut.“
„Äh, was trinken die denn dann?“ Ich sah vor mir, wie sie die Stirn runzelte.
„Tierblut, Vampirblut … keine Ahnung.“
„Vampirblut? Wie geht das?“ Das war Erik.
„Was weiß ich. Auf jeden Fall habe ich hier schon Päärchen gesehen die aufeinanderliegend gegenseitig die Schädel ausgesaugt haben. Das soll ja angeblich wie ein Orgasmus wirken.“
„Waaaaaaaas?“ Helena rief so laut in das Telefon, dass ich es mir eine Armlänge weghalten musste, bis sie sich ausgelacht hatte.
„Na toll“, ich konnte spüren, wie sich Eriks Miene verfinsterte, „Wirst du auch gebissen?“
„Ja“, murmelte ich schuldbewusst.
„Weißt du wer es ist?“
„Nein.“
„Warum kann ich nicht so ein bescheuerter Vampir sein? Du hattest nicht einmal dein erstes Mal und erlebst durch einen Vampirbiss einen Orgasmus.“ Er grunzte entnervt.
„Hey, Erik“, sagte ich sanft, „Das ändert doch nichts an der Tatsache, dass ich dich liebe. Für mich wird es immer nur dich geben!“
Langes Schweigen. Ich hörte Helena flüster: „Jetzt sag doch was, du Spacko!“
Ich lächelte.
„Ich liebe dich auch, Kate. Und ich hoffe, du wirst mich nicht enttäuschen.“
„Niemals.“ Und wenn ich es mir ins Herz brandmarken müsste. Ich liebte Erik über alles.
„In welcher Harras bist du eigentlich?“
„Wie?“, fragte ich Helena irritiert.
„Na ja … West, East, North, South …“
“Ach, da fragst du mich was!”
„Es gibt doch vier Harras Academys. Wenn du mir sagst, wer eure Priesterin ist, dann weiß ich, wo du bist.“
„Woher weißt du das eigentlich alles?“
„Nachtlange Recherche im Internet“, ich hörte ein Grinsen aus ihrem Unterton, „Hey, ich muss doch wissen, wo meine beste Freundin ist!“
„Unsere Priesterin heißt Aristhea.“
Sie dacht eine Weile nach „Das muss die Harras Academy West sein.“
„Und wie heißen die Priester von den anderen Harras Academys?“ Fragte Erik leise.
„Öh“, machte Helena, „Weiß nicht genau, wer wo. Aber es gibt auf jeden Fall noch eine Malloren und einen Logan und Ravyn. Sag nichts. In Wirklichkeit verstehe ich nicht viel von dem.“
„Hm“, machte Erik.
„Du, Kate … ich muss jetzt auflegen. Mein Akku ist bald alle und dann kackt mein Handy ab.“
„Alles klar.“
„Ich liebe dich, Kate“, sagte Erik noch leise in den Hörer.
„Ich dich auch Kate“, äffte Helena in einem sehr dramatischen Tonfall nach und ich musste lachen „Ich liebe euch auch“, bevor sie auflegten fügte ich noch hinzu, „Und bitte passt auf euch auf.“

So nah am Tod





Die nächsten zwei Tage verliefen relativ ruhig im Gegensatz zu den anderen. Aristhea hatte für Sheryl eine Zeremonie veranstalt, bei der jeder dabei war, außer ich. Ich hasste Beerdigungen und Zeremonien … eigentlich Abschiede jeder Art. Sei es so … oder so. Kiara Moe wurde eine neue Patin angeboten, doch sie lehnte freundlich ab. Sie wollte keinen Paten mehr haben. Sie fand sich inzwischen schon zurecht, meinte sie.
Müde und schlaff rührte ich in meiner Suppe rum, die wir heute zu Mittagessen bekommen hatten. Ich hätte mir auch Spaghetti mit Bolognese oder Spinat holen können, doch ich hatte überhaupt keinen Hunger und selbst auf die Suppe hatte ich keine Lust, dabei hatte ich mir wirklich wenig geholt. „Wenn du nicht magst, ess ich sie für dich“, bot mir Josi an und band sich ihre langen Haare nach hinten, damit sie nicht ins Essen hingen. Es war wirklich seltsam. Wenn ich in ihre Augen sah, meinte ich in den Nachthimmel zu sehen. Die reflektierenden Lichter waren die Sterne in dem dunklen Blau. Ihre Pupillen waren kaum zu erkennen. Josi war durchschnittlich schön. Eigentlich sah sie wirklich gut aus, aber im Gegenzug zu den Mentoren und Professoren oder den Jungvampiren in den oberen Stufen sah sie nur durchschnittlich aus. Genau wie Teela und Kiara auch. Nur ich … ich kam mir vor, als sähe ich dadurch unterdurchschnittlich aus. Manchmal konnte ich echt ausrasten, wenn ich durch die Korridore lief und mir ein Jungvampir nach dem anderen über den Weg lief und ich mir dauernd eingestehen musste, dass ich nie so aussehen würde wie sie. Was fand Erik eigentlich so toll an mir? Selbst Cassidy … die miese, fiese, hinterhältige Schlange, deren Gegenwart ich nicht einen Tag länger in der Eingangsgruppe aushielt, sah besser aus als ich. Ihr passte das Kleid besser, das Tattoo besser und in der Eingangsgruppe beim kreiieren eigener Werke hatte sie mich auch geschlagen. Ich hasse sie!
Von meinem Tattoo am Schlüsselbein, das nicht verschwunden war seit dem Tag, hatte ich bis jetzt noch nichts erwähnt, obwohl ich eigentlich vorgehabt hatte Kiara danach zu fragen. Es kam mir vor, als würde das Tattoo immer weiter wachsen. Vielleicht nur millimeterweise, aber es nahm eine Form an und ich konnte schon jetzt erkennen, was es werden würde – eine Feder. Wer hätte das Gedacht?
„Nein, danke“, lächelte ich, „Ich esse die schon. War grad nur in Gedanken.“
Josi erwiderte mein Lächeln und setzte ihr Gespräch mit Teela über irgendwelche Jungs fort, die mir nichts sagten. „Probier das mal“, Lukas Kraft schob mir ein Gewürz zu uns strahlte mich aus seinen braunen Augen an, „Schmeckt dann vielleicht besser.“
Wie sich die letzten Tage herausgestellt hatte, hatte Lukas so etwas wie ein Wundergaumen. Er konnte unglaublich gut das Essen verfeinern. Ich lächelte ihm dankbar zu, nahm das Gewürz, das ich nicht kannte und streute ein wenig auf meine Suppe. „Nicht zu viel“, sagte er, „Sonst schmeckst du ja die Suppe gar nicht mehr.“ Ich legte das Gewürz weg und schlürfte die Suppe von meinem Löffel und Tatsache – es schmeckte wirklich besser als davor.
„Ich verstehe immer noch nicht, warum du nicht zum Kochen gegangen bist“, murmelte Alvin Black, während er seine Spaghetti aß.
„Du weißt genau, dass das nur … keine Ahnung“, seufzte Lukas, „Ich koche nicht gerne.“
„Aha“, grinste Alvin und seine grünen Augen strahlten zur Abwechslung mal. Es kam wirklich nicht selten vor, dass Alvin lächelte oder lachte. Im Gegenteil. Er tat es sogar außerordentlich oft, aber dann verschwand das Lächeln auch so schnell wieder, dass man sich einbilden konnte, es wäre nur eine Halluzination gewesen.
Nach und nach bemerkte ich, dass auf einmal immer wieder Mentoren in die Mensa kamen und die Leute aus meiner Eingangsgruppe aufforderten mit zu kommen. „Oh oh“, machte Teela, als sie das auch bemerkte, „Es geht los!“ Sie stupste mir aufgeregt in die rechte Seite.
„Hä? Was soll los gehen? Ich versteh nichts“, sagte ich verwirrt und sah Cassidy hinterher, die einem überaus attraktivem Mentor hinterherstolzierte. Ich glaube, das war der schönste Mentor von allen, denn als er die Mensa mit Cassidy verließ, verfielen alle in ein aufgeregtes Tuscheln. „Das war Professor Paul.“
„Mein Mentor“, grinste Lukas über beide Ohren und unterbrach Kiara, die ihm einen bösen Blick zu warf.
„Was ist mit dem?“, fragte ich.
„Das ist der sexieste Mann, den ich je gesehen habe. Oh, Kate! Wenn du ihn nackt sehen würdest, würdest du glaube ich in Ohnmacht fallen. Diese Muskeln! Dieser Körper! Ein Traum!“
„Hast du?“, fragte ich entsetzt und ließ den Löffel in meine Schüssel sinken.
„Was?“
„Na … ihn nackt gesehen.“
„Ach Quatsch“, winkte sie ab, „Aber ich habe ihn mir nackt vorgestellt.“
Ich verdrehte die Augen und kicherte mit den anderen mit.
„Kate“, flüsterte Josi, „Ich glaube, die kommt zu dir.“
Ich folgte ihrem Blick und sah eine Frau, die mich so ziemlich an Charlize Theron erinnerte. Abgesehen von der einen roten Strähne in ihren hochgesteckten Haaren. Sie steuerte tatsächlich auf mich zu „Kate Sayers?“
„Ja, das bin ich“, sagte ich eingeschüchtert, obwohl sie mich eigentlich schon ansah und ganz genau wusste, dass ich es war. „Ich bin Desdemona. Deine Mentorin.“
Verdammt, warum hatte ich Teela nicht gefragt, was sie mit „Es geht los“ meinte? Jetzt war ich so aufgeregt, dass ich innerlich total das Zittern begann. Desdemona hielt mir ihre Hand hin, womit sie mir zu verstehen gab, dass ich mich erheben und ihr folgen sollte, was ich auch tat. Als ich mit ihr ging, drehte ich mich noch einmal zu den anderen um und warf ihnen einen hilflosen Blick zu. „Die Verwandlung“, flüsterte mir Josi noch zu und ich bemerkte, dass Teela auf einmal vom Platz verschwunden war.
Die Verwandlung! Oh Gott! Deshalb hatten sie alle so aufgeregt getuschelt, als Cassidy von Paul aus der Mensa geholt worden ist. Er war ihr Mentor! Und … Wut ergriff mich so schnell, dass ich am liebsten wie ein kleines Kind mit dem Fuß aufgestampft hätte und geschrien hätte „Ich will aber nicht!“ Wenn Paul Cassidys Mentor war, dann hieß das … sie würde von ihm gebissen werden und. Argh – diese verdammte Höllenhexe! Jetzt hatte sie wieder etwas, womit sie angeben konnte. Wäre ich ein schlechter Mensch, würde ich ihr Qualen bis ans Ende ihres Lebens wünschen, doch so wünschte ich ihr nur den Tod.
Ich folgte Desdemona die Treppen nach oben durch den Mädchentrakt und hoch zu den Zimmern der Mentore. Sie ließ mich in ihr eigenes Zimmer herein und schloss die Tür hinter sich. Ein inneres Kribbeln der Aufregung ließ mir die Nackenhaare zu Berge stehen. Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen sollte, von einer Frau gebissen zu werden. Aufgeregt, beleidigt oder nur absolut kurz davor mir in die Hose zu machen und mich in Grund und Boden zu schämen.
„Magst du vorher noch etwas trinken? Du weißt, dass du danach keinerlei Getränke oder Wasser trinken darfst.“
Oh je! Aber nein, ich hatte keinen Durst „Nein danke“, sagte ich und versuchte völlig ruhig zu klingen obwohl meine Stimme vor Aufregung eine Oktave zu hoch war. Ich hatte Angst vor den Schmerzen, die mir Kiara erzählt hatte. Nur zehn Minuten, Kate,

redete ich mir ein, nicht länger, dann ist alles vorbei. Und du bist ein Jungvampir. Vielleicht bist du dann auch endlich so schön wie die anderen.

An diesen Gedanken hielt ich mich fest. Was konnte schon groß passieren? Die Schmerzen würden wieder verschwinden und dafür bekam ich meinen Lohn – ich war für ein Leben lang Jungvampir. Oder besser gesagt – ein Vampir. Irgendwann.
„Dann“, seufzte Desdemona und runzelte die Stirn, als sie meinen schwarzen Schal aus Seide sah, den ich mir umgehängt hatte, damit man das Tattoo nicht sah, „Kannst du deinen Schal abmachen und wir bringen es hinter uns.“
Wir bringen es hinter uns.

Sie schien ja sehr begeistert darüber zu sein, mich beißen zu müssen. Ob Mentoren dasselbe Gefühl dabei hatten, wie die Neulinge? Die Päärchen, die ich am Abend durch mein Fenster im Innenhof auf der Bank gesehen hatte, schienen beide extrem viel Spaß gehabt zu haben.
Ich tat, was sie sagte, ohne Zögern. Nahm meinen Schal ab und legte es auf den Tisch. „Setz dich“, bat sie und deutete auf ein Himmelbett aus schwarzem Holz und rotem Laken.
Sie kam zu mir an das Bett, setzte sich neben mich und wartete eine Weile „Weißt du, wie das abläuft?“
„Ja … eine …“, ich zögerte, „Freundin hat es mir erzählt.“
„Dann weißt du ja, was dich im Nachhinein erwartet.“
„Die Schmerzen“, sagte ich, was aber eher wie eine Frage klang. Desdemona nickte „Nach dem Biss wirst du wahrscheinlich erst einmal einschlafen. Während der Verwandlung bin ich die ganze Zeit im Raum, nur um das Schlimmste zu verhindern.“
„Was wäre denn das Schlimmste?“, fragte ich vorsichtig und sah in ihre grau-grünen Augen, wobei mir auffiel, dass sie viel schöner als Charlize Theron war. Und wenn ich genauer hinsah … hatten sie eigentlich kaum Gemeinsamkeiten. Ihre Haare waren goldblond und sahen so seidig aus, dass ich sie am liebsten angefasst hätte. Ihre Haut war so glatt und ebenmäßig wie Mamor. Ihr Gesicht ungeschminkt pure Schönheit. Neid packte mich.
„Dass du stirbst“, sagte sie tonlos und sah mir direkt in die Augen, was mich wie ein Blitzschlag traf.
Ich atmete tief ein, um alle negativen Gefühle loszuwerden. Ich durfte die Sache nicht zu negativ angehen. „Optimismus ist der Trick des Lebens“, hatte meine Grandma immer zu mir gesagt.
Okay, Granny. Danke für den Tipp. Hättest du das auch gesagt, wenn du gewusst hättest, dass ich auf die Harras Academy komme?
Bevor ich zu Ende gedacht hatte, legte mir Desdemona die Haare auf meine linke Schulter. Ihre Hände waren eiskalt. Das war mir vorher gar nicht aufgefallen. Sie warf den Kopf dezent nach hinten und öffnete den Mund einen Spalt. Fasziniert beobachtete ich, wie sie ihre Fangzähne ausfuhr und sich meinem Hals näherte. Ich machte mich auf alles gefasst. Mein Körper war angespannt, meine Handflächen schwitzten, meine Augen waren geschlossen, mein Herz raste … ich wartete. Es geschah nichts. Langsam öffnete ich erst ein Auge, dann das andere und ich sah, wie Desdemona auf einen Fleck an meinem Hals starrte. Nein … nicht mein Hals. Auf mein Schlüsselbein. Ihre Fangzähne verschwanden und mit ihnen meine Nervosität „Seit wann hast du das?“, fragte sie leise und strich vorsichtig mit ihrer kalten Hand über das unfertige Tattoo ohne den Blick davon zu heben. „Seit … zwei Tagen, glaube ich“, antwortete ich genauso leise und bemühte mich, nicht hysterisch zu werden. So wie sie das Tattoo anstarrte, war es absolut kein gutes Zeichen. „Tu mir den Gefallen und geh bitte nach der Verwandlung zu Aristhea. Sie muss das sehen.“
Hektisch nickte ich, dann sah sie mir in die Augen, schloss ihre kurz, atmete tief ein und das Ganze ging von vorne los – die Fangzähne, mein Körper spannte sich wieder an, meine Handflächen fingen an zu schwitzen und blablabla. Ich schloss die Augen und stellte mir vor, Desdemona wäre Erik. Vielleicht wäre der Prozess so weniger unangenehm. Ich konnte nicht einmal bis eins zählen, da stieß sie auch schon ihre Zähne in eine Stelle in meinem Hals, die mich für den Bruchteil einer Sekunde aufschreien ließ, denn wie sie meine Haut durchbohrte, tat schrecklich weh. Das Brennen dauerte eine Weile an und Eriks Gesicht verschwamm vor meinen Augen. Erst, als mir das Atmen schwerer fiel, weil ein Prickeln wie Brausepulver durch mein Körper zischte, ergriff ich mir sein Gesicht wieder. Ich spürte, wie das Blut aus meinem Körper wich und … Himmel – je mehr, desto flacher atmete ich, desto schneller schlug mein Herz, desto schwerer wurde es, mich zu beherrschen. Desdemona- nein, Erik griff um meinen Kopf und drückte mich noch enger an seinen Mund. Mein ganzer Körper schien von Glücksgefühlen zu sprudeln. Mein Kopf war so leicht und frei, mein Körper so hingerissen, von diesem Gefühl. Ich ließ mich in das Bett fallen, wobei ich Erik mitriss. Ich griff in seine Hüfte und wollte mehr. Er sollte mich noch mehr küssen, noch leidenschaftlicher an meinem Hals saugen. Ich schien die Kontrolle über meinen Körper zu verlieren. Himmel – ich war so erregt wie zehn Pferde beim Paaren. Ich konnte mich nicht beherrschen. Ich wollte mehr!
Ein Stöhnen entwich mir und noch eins. Nein! Ich presste meine Lippen zusammen, damit das nicht noch einmal vorkam. Gleich müsste ich einen blauen Fleck am Brustkorb haben. Mein Herz hämmerte so stark, dass es schon weh tat. Ich öffnete ungewollt die Augen, wobei ich Eriks Gestalt aus den Augen verlor und Scham überkam mich, als ich merkte, wie ich Desdemona an mich herangezogen hatte. Ich ließ ihre Hüfte los, schloss die Augen wieder und krallte mich an der Bettdecke fest.
Wann hörte es auf? Diese Erregung brachte mich um! Was konnte schlimmer sein?
Jetzt kam alles außer Kontrolle. Ich wand mich im Bett, presste mich in die Matratze, bewegte mich am ganzen Körper, nur um zu wissen, dass dieses unglaublich tolle Gefühl auch überall ankam. Kein Teil meines Körpers durfte das verpassen und dann – es schleuderte durch alle Gänge in mir und Erik löste sich von meinem Hals, so dass ich windend und erschöpft, hechelnd und schwitzend im Bett liegen blieb, ohne die Augen öffnen zu können. Ich hörte, wie Desdemona ebenso außer Atem war und jetzt musste ich doch nachsehen. Ich öffnete die Augen und kam mir vor, als sei ich mitten in der Nacht geweckt worden – ich war so unglaublich müde und erschöpft! Kiara hatte Recht … beinahe wie ein Orgasmus. Aber nicht einmal das traf es genau. Dieses Gefühl war tausendmal besser. Desdemona kniete neben mir auf dem Bett, ihr Mund blutverschmiert. Dieser Anblick sollte mir Angst machen, aber mein Körper war nicht fähig, zu reagieren. Sie atmete so stark, dass sich ihre Schultern heftig auf und ab bewegten, während sie den Kopf gesenkt hielt und versuchte sich zu beruhigen. Scheinbar hatte sie gar keine Luft geholt. Danach schloss ich meine Augen, versuchte zu vergessen was ich gesehen hatte und fiel in einen tiefen Schlaf.

Ein Schrei riss mich aus meinem Traum. Vor meinen Augen war etwas in Flammen aufgegangen. Mein Körper tat überall weh, als ich die Augen aufriss und merkte, dass ich es war, die ununterbrochen schrie. Was geschah mit mir? Mein Magen krampfte, die Knochen in meinen Beinen schienen zu zersplittern und sich als tausende kleine Stücke in mein Fleisch zu bohren. Wieder schrie ich und spürte Tränen meine kalte Wanger herunterrinnen. Mein Kopf tat so weh, als wenn mir jemand einen Bohrer hineingeschoben hätte und bohrte und bohrte und bohrte. Mein Herz brannte, schien aber nicht zu verbrennen und mein Hals! Er war so trocken, so rau! Ich schrie wieder. Diese Schmerzen waren nicht zu beschreiben. Lieber wäre ich tot gewesen, als das zu spüren. Ich sah die verschwommene Gestalt von Desdemona, die mir eine Hand auf die Stirn legte und dann meinen Hals und meine Wangen abtastete. Auf ihrer Miene lag schwere Besorgnis. „Es tut so weh“, schrie ich und wand mich aus ihrer Berührung, presste mein Gesicht in das Bett und schrie wieder. Mein Körper war eine schwere Steinplatte. Ich konnte ihn nur mit aller Mühe bewegen. „Das gefällt mir gar nicht“, hörte ich sie murmeln. Ich kniff meine Augen zusammen und schrie wieder. Mein Körper bebte und brennte in jedem kleinsten Winkel, den es gab. Es gab keine Stelle auf die ich mich konzentrieren konnte, die nicht unter diesen Schmerzen litt.
„Was ist passiert?“, hörte ich die Stimme von Aristhea am Bett.
„Ich weiß es nicht. Es verlief alles wie sonst auch, aber sie schreit schon seit knapp einer Stunde so rum. Es hat im Schlaf angefangen“, Desdemona klang schuldbewusst.
Mein Schrei zerriss die Luft, aber nicht für zu lange Zeit, denn dann verfiel ich in panisches Husten, das nicht mehr aufhörte. Ich hustete, hustete … ich stemmte mich so gut es ging mit den Armen ab, und sah auf das weiße Kissen. Ich hustete so sehr, dass Speichel aus meinem Mund flog und … Blut. Ich spuckte Blut! Aristhea und Desdemona kamen zu mir herüber geeilt. Mein Körper tat so weh! Die wenige Kraft in meinen Armen ließ nach und ich klatschte mit dem Gesicht wieder im Kissen auf, bekam keine Luft, wollte schreien, aber ich konnte nicht. Mein Kopf drohte zu zerplatzen.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter und drehte mich auf den Rücken, damit ich wieder Luft bekam. „Kate, hör mir zu“, sagte Aristhea und nahm beide meine Hände in ihre, „Ich werde dir jetzt etwas geben. Das heißt Morphin. Eigentlich benutzen wir das ungern, aber es scheint, als gäbe es keine andere Möglichkeit.“
Ich versuchte unter den Schmerzen zu nicken, doch es gelang mir nicht, ich schlang meine Arme um mich und schrie innerlich, als der Drahtzaun wieder durch meinen Körper schoss und alles aufschlitzte.
Aristhea nahm mit aller Mühe meinen Arm. Ich wollte ihn ihr nicht geben. Ich hatte das Gefühl zu zerfallen, wenn ich meinen Körper losließ. Ich sah, wie sie mir eine Spritze gab, und dann von meinem Arm abließ. Ich schlang ihn wieder um meinen Körper und schrie erneut innerlich auf. Bitte mach, dass es aufhört

, betete ich und weinte Rotz und Wasser, bitte mach, dass es aufhört! Bitte mach, dass diese Schmerzen aufhören!



Irgendwann musste ich wohl wieder eingeschlafen sein, was mir völlig unerklärlich blieb. Wie konnte ich unter diesen Schmerzen einschlafen? Ich blinzelte in die Dunkelheit, wartete auf den Schmerz … er blieb aus … ich wartete nochmal fünf Sekunden … er kam nicht. Ich bewegte meine Arme, dann meine Beine, meinen Kopf … schließlich richtete ich mich auf. Die Schmerzen waren weg. Allein mein Kopf pochte, als würde jemand mit dem Hammer gegen ihn schlagen, aber das war im Gegensatz zu den Qualen vorher eine Streicheleinheit.
„Geht es dir wieder besser?“, hörte ich eine warme, angenehme Stimme, die Desdemonas sein musste. Sie saß neben mir auf einem Stuhl am Bett. Hatte sie mich die ganze Nacht beim Schlafen beobachtet? Ich nickte und rieb mir die Augen „Mir geht es gut“, antwortete ich schwach und spürte erst jetzt den großen Durst, den ich hatte.
Desdemona nickte und hielt mir ein Glas hin, das sie schon die ganze Zeit in der Hand hielt „Trink das. Das wird dir gut tun.“ Sie reichte mir das Glas mit dickflüssigem Blut und ich verschlang es ohne darüber nachzudenken, was es war oder woher es stammte. Es erfüllte meinen Körper wieder mit Leben und ich fühlte mich gleich noch tausendmal besser, kräftiger, gesunder. Das Hämmern in meinem Kopf erlisch. Ich reichte ihr das Glas wieder. „Dein Körper hat sich gegen die Verwandlung geweigert“, sagte sie dann schließlich nach kurzem Zögern und starrte in das Glas, „Das kam bis jetzt noch nie bei uns vor. Und auch die anderen Priester haben noch nie davon gehört, dass sich der Körper gegen das Gift wehrt.“
Unruhe packte mich „Heißt es, ich bin noch ein Mensch?“
„Nein. Du bist jetzt ein Jungvampir. Aber du wärst beinahe gestorben, hätte Aristhea dir nicht das Morphin gegeben.“
„Na toll“, grunzte ich, „Das ist mal wieder sowas von typisch Kate.“
„Na, wenn das typisch für dich ist, dass du solch ein Glück hast, dann beneide ich dich wirklich.“
„Mein Glück“, erwiderte ich sarkastisch, „Das kann unmöglich mein Glück sein, solche Schmerzen zu erleiden. Ich habe es mir ja schon schlimm genug vorgestellt, aber so …“
„Nein, Kate. Dein Glück ist, dass dein Gehirn nicht ausgetrocknet und dein Herz verkampft ist. Diese Schmerzen die du hattest, wären nichts im Vergleich zu dem Sterben.“
Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter und ich blieb still.
Was war nicht in Ordnung mit mir?
Mein Körper hat sich gegen die Verwandlung gewehrt.
Ich wäre fast gestorben.

Weil es dich gibt





Als ich mich wieder sicher auf den Beinen fühlte, ging ich zurück in die Mensa, wo Josi, Teela und Kiara an einem Tisch saßen und plauderten. Als ich mich zu ihnen setzte, trat sehr verdächtiges Schweigen ein „Mh … ist was?“ fragte ich vorsichtig und legte noch einmal meine Haare zurecht, um sicher zu sein, dass sie das Tattoo verdeckten. Josi und Teela senkten den Blick. Nur Kiara sah mich ausdruckslos an „Wir haben gehört, deine Verwandlung hat bis zu zwei Tagen gedauert…“
„Zwei Tage?“ Die Frage kam viel überraschter und überstürzter aus mir heraus, als mir lieb war. Kiara nickte immer noch ausdruckslos. Die anderen beiden ließen den Kopf gesenkt und ich wurde das Gefühl nicht los, dass noch mehr an ihrem Verhalten dran war. Warum sie mich gerade so … na ja ignorierten. Ich versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie mich das verletzte. Stattdessen holte ich mein Handy raus und tat so, als würde ich SMS lesen. Sie sprachen ja gerade sowieso nicht mit mir. Hatten sie etwa vorhin über mich gesprochen? Mich machte sowas wahnsinnig! „Leute“, murmelte ich, steckte das Handy weg und sah sie an, um die Stimmung wieder ein wenig in die Gerade zu biegen, „Ich muss euch da mal etwas fragen.“ Vielleicht vertrauen sie mir ja nicht? War es vielleicht das der Grund, warum sie sich gerade so komisch verhielten? Sie sahen mich alle an. Ausdruckslos.
Ich nahm meine Haare auf die linke Schulterseite und machte dadurch mein Schlüsselbein frei „Was meint ihr? Was ist das?“
Plötzlich, als hätte man einen Schalter umgelegt, zeichnete sich eine riesige Neugier auf ihren Gesichtern. Sie starrten wie hypnotisiert auf mein Tattoo „Woher hast du das?“, fragte Josi und streichelte scheu über das Motiv, als sei es giftig. „Weiß ich nicht“, gab ich zu und war erleichtert, dass sie darauf ein wenig offener reagierten, „Es war einfach da.“
„Sieht aus, als würde es eine Feder werden“, murmelte Kiara fasziniert. Teela sah genauso erstaunt und neugierig aus wie die anderen beiden, aber als sie bemerkte, dass ich sie ansah, senkte sie sofort wieder ausdruckslos den Blick und rieb sich den rechten Nasenflügel. Was war bloß los mit ihr? Erst jetzt sah ich, als die Sonne in ihr Gesicht fiel, dass ihre Wimpern nass glitzerten. Hatte sie geweint? Ich ließ ärgerlich meine Haare wieder zurück auf die rechte Schulter, wobei Kiara und Josi überrascht zurückfuhren „Okay, was geht hier vor?“, stellte ich sie zur Rede und sah Teela direkt in die Augen. Ihre Unterlippe zitterte. Tatsächlich! Sie kömpfte mit den Tränen! Josi und Kiara sahen Teela an, die aber unsere Blicke ignorierte, schließlich von dem Tisch aufsprang und aus der Mensa lief. Weinend. „Habe ich ihr etwas getan?“ Unsicher bewegte ich meine Zehen, um sicher zu gehen, dass ich den Zehring noch trug und sie damit nicht verletzt hatte, doch der war an meinem Zeh. Kiara und Josi senkten schuldbewusst den Blick und atmeten ganz leise. „Och nö! Bitte hört auf mit dem Theater. Das erinnert mich echt an die erste Klasse. Könnt ihr nicht einfach sagen, was ich falsch gemacht habe?“ Allmählig wurde ich wütend. Ich hasste Lästerei und Ungewissheit über alles. „Ich weiß nicht, ob wir dir das einfach so sagen sollen“, murmelte Kiara.
„Wieso nicht?“
„Weil … keine Ahnung. Vielleicht solltest du mit Teela reden.“
Ich zog beide meiner Augenlieder nach unten, was so viel heißen sollte wie „angeblich“ oder „ganz klar“ doppelt und zweifach. Als würde Teela mit mir reden! Ich weiß nicht, was es war aber eine innere Stimme sagte mir, dass sie mir nie erzählen würde, was los war. Josi löste sich als erste aus ihrer Starre, drehte sich zu mir und sah mich an „Es ist wegen Desdemona.“
„Oh“, brachte ich geistreich hervor. Was sollte ich sonst sagen? Damit hatte ich nicht gerechnet „Was ist denn mit Desdemona?“
Josi rückte näher an mich und fiel in ein Flüsterton „Hör zu, du musst hoch und heilig versprechen, das niemandem zu sagen, ja?“ Sie hielt mir ihre Hand hin.
„Versprochen“, sagte ich und drückte ihre Hand. Sie nahm meine und küsste sie, worauf ich das Gleiche bei ihr tat.
„Du musst es wirklich schwören. Das weiß keiner außer uns hier.“ Josi ließ meine Hand los, sah sich um und rückte näher an mich heran „Teela ist eifersüchtig auf dich.“
„Hä?“
„Teela fühlt sich irgendwie schon seit längerem zu Desdemona hingezogen…“
„Sie ist einfach vollekanne in sie verknallt“, unterbrach Kiara sie.
„Oh“, machte ich wieder unglaublich geistreich.
„Als sie dich geholt hat, war Teela tierisch eifersüchtig und wütend auf dich.“
„Aber ich kann doch nichts dafür“, verteidigte ich mich leise.
„Ich weiß“, sagte Josi, „Aber … na ja, du weißt ja, wie man sich bei einem Biss fühlt…“
Ich nickte schnell um die Gänsehaut zu ignorieren, die meinen Körper von Kopf bis Fuß überkam. „Ist ja klar, dass sie da extrem eifersüchtig wird.“
„Himmel“, stöhnte ich und verdrehte die Augen, „Das gehört doch dazu! Desdemona will doch gar nichts von mir und überhaupt … die ist doch sicher schon fast dreißig und Teela ist sechzehn!“
„Na, versuch ihr das mal klar zu machen“, nuschelte Josi und zog die Brauen in die Höhe.
„Teela ist unglaublich starrsinnig und sie ist sich zu hundert Prozent sicher, dass da vielleicht noch was werden könnte“, leierte Kiara herunter, weil sie das vermutlich schon so oft gehört hatte.
„Das ist doch total unrealistisch“, beschwerte ich mich, „Das wird niemals klappen! Habt ihr denn nie versucht, ihr das auszureden?“
Josi und Kiara wechselten Blicke.
„Du kannst es ja mal versuchen“, meinte Josi und zuckte die Schultern.
Wir schwiegen alle eine Weile und in der Zeit fiel mir das Bild über Teelas Bett ein „Heißt das, Teela ist bisexuell?“
„Sie tendiert eher zu Frauen“, sagte Josi.
„Sie findet Frauen oberscharf. Du musst mal sehen, wie sie einigen hier hinterherguckt!“ Kiara musste lächeln.
Ich verdrehte die Augen, schüttelte den Kopf und musste doch lächeln „Aber dann soll sie sich doch eine aussuchen, die so alt ist wie sie und nicht eine die … ihre Mutter sein könnte.“
„Mutter?“, riefen beide gleichzeitig.
„Na ja. Passt ja wohl eher, als Geliebte oder Gemahlin. Oder könnt ihr euch eine Beziehung zwischen Leuten mit einem Altersunterschied von vierzehn Jahren vorstellen?“
„Das gibts doch heutzutage oft“, verteidigte Kiara Teela.
„Sei mal ernst“, schnaubte ich.
„Ja, vielleicht keine mit einer Sechzehn- und Dreißigjährigen. Aber vielleicht, wenn Teela zwanzig oder fünfundzwanzig geworden wäre“, fantasierte Kiara weiter.
„Geworden wäre … du sagst es. Wird sie aber nie sein.“
Kiara zuckte die Schultern „Ich unterstütze sie gerne bei ihren Fantasien. Ist ja eigentlich ganz aufregend.“
„Aufregend? Die muss doch total fertig sein wegen Liebeskummer.“
„Sie sieht das eigentlich ganz entspannt“, beschwichtigte mich Josi.
„Sieht man ja“, murrte ich und meine Miene verfinsterte sich.
Beide verdrehten die Augen „Ja … okay. Da hat sie jetzt vielleicht ein bisschen übertrieben, aber hey! Ich gehe zum Beispiel schon in die Luft, wenn mein Schwarm ein anderes Mädchen anlächelt. Wenn ich wüsste, dass er jemanden beißt, dann weiß ich wirklich nicht was ich tun würde.“
„Dein Schwarm“, stichelte ich sie und piekste ihr in die Hüfte, bis sie kicherte, „Wer ist das?“
„Der bestaussehendste Typ hier auf der ganzen Harras!“
„So gut sieht er nun auch wieder nicht aus“; seufzte Josi.
„Och, nur weil du auf diesen Streber stehst, der die ganze Zeit mit karrierter Stoffjacke, Brille und Büchern in der Hand herumläuft…“
„Das ist so unglaublich süß, wenn er die Brille mit seinem Zeigefinger immer wieder nach oben schiebt“, säuselte Josi und lächelte.
„Oh Gott. Ich hoffe ich benehme mich nicht so wie ihr, wenn ich von Erik rede.“
„Wer ist Erik?“ Sie starrten mich beide aus großen Augen an.
„Mein Freund“, sagte ich stolz und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, denn er war wirklich der heißeste Typ auf dem ganzen Internat.
„Oh“, machte Kiara betörend und wackelte mit den Augenbrauen, „Wie lange läuft da schon was?“
Tja. Das war peinlich. „Einen Tag“, nuschelte ich und mein Stolz verpuffte.
„Äh, wie?“ Kiaras Kinnlade klappte fassungslos nach unten.
„Ja“, ich kratzte mich am Hinterkopf und sah auf meine Ballerinas, „Ist halt doof gelaufen, weiß nicht.“
„Erzähl“, drängte mich Josi und schüttelte aufgeregt meinen Arm, bis ich ihnen erzählte, weshalb ich Erik nur einmal küssen konnte, seit wir zusammen waren. Ich erzählte ihnen auch von Helena und Cassidy, die ja jetzt auch hier auf der Harras Academy war.
„Das ist ja eeecht madig“, murmelte Josi und rieb ihre Augenbraue, „Irgendwie wie so eine Liebestragödie. Da findet die Prinzessin endlich ihren Prinz und muss weit, weit fort um die Weltherrschaft zu retten.“
„Sei mal ernst“, seufzte ich.
„Und diese Cassidy. Sie hört sich fast genauso schlimm an, wie Kayla. Die würden bestimmt gut zusammen passen.“ Josi und Kiara lachten, wonach sie einklatschten.

Am Abend saß ich noch mit Kiara etwas länger wach und trank Cola Light. Eigentlich totales Verbot für Jungvampire, aber Kiara sagte, dass sie das schon immer getan hat und ihr noch nie irgendwas passiert ist und es ihr körperlich sogar noch besser geht, seit sie sich nicht nur von Blut ernährt. Ich war skeptisch, trank allerdings dann doch einen Schluck. „Erzähl mal. Wie war die Verwandlung eigentlich?“
„Oh Himmel“, stöhnte ich, „Desdemona meinte, mein Körper hätte sich gegen die Verwandlung gewehrt. Sie haben noch nie so etwas miterlebt.“ Ich konnte mir ein Augenrollen nicht verkneifen.
„Denkst du, das liegt daran?“ Kiara machte eine Kopfbewegung zu mir und warf einen Blick auf mein Schlüsselbein. Zögernd strich ich mir über das Tattoo und runzelte die Stirn „Wegen dem Tattoo? Mach mir keine Angst!“ Kiara zuckte die Schultern „Weiß nicht. Wenn die sagen, dass sie sowas noch nie erlebt haben. Ein Tattoo hatte bis jetzt, soweit ich denken kann, auch noch nie jemand am Schlüsselbein. Wir Jungvampire haben sie immer … wirklich ausschließlich, immer am linken, inneren Knöcheln.“
„Ich bin halt irgendwie unnormal.“
„Quatsch. Das sind wir hier alle irgendwie. Und wenn alle unnormal sind, dann gibt es ja eigentlich keine Unnormalen mehr!“
Ich verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf „Ich muss dich nicht verstehen, oder?“
Kiara kicherte „Nein.“
„Gut“, ich lächelte ihr zu, „Gute Nacht. Ich bin todmüde.“
„Schlaf gut“, sagte sie und machte ihr Nachttischllämpchen aus. Nur binnen weniger Sekunden war ich in meiner Traumwelt gefangen.

Ich bin in einer dunklen Hülle. Ich weiß nicht, was es ist. Hier ist es eng, nass und warm. Ich schwimme. Ich sehe mich um, sehe aber nichts als pure Dunkelheit. Außenherum höre ich Geschreie. Piepsen, Stimmen. „Und pressen“, höre ich es von draußen rufen. Um mich herum ist ein wenig mehr Platz jetzt. „Kommen Sie. Noch einmal. Ich sehe schon den Kopf!“ Ich verstehe nicht, wovon die Menschen reden. Die Frau schreit wieder und jetzt habe ich endlich genug Platz, um mit den Beinen zu strampeln. „Noch eins“, höre ich es aufgeregt rufen, „Dr. es kommt noch eines!“ Ich höre die Frau, deren Stimme mir so unglaublich vertraut ist, wieder schreien. Qualvoll, leidend, und trotzdem spüre ich, dass sie glücklich ist. Ich verstand die Welt nicht mehr! „Mrs. Taylor, pressen Sie noch einmal. Sie haben es bald geschafft!“ Ein erneuter Schrei und ich spüre, wie ich von meinem Platz rutsche. Ich bewege mich von meiner vertrauten, warmen, sicheren Hülle fort …
„Und noch einmal!“
Plötzlich kriege ich keine Luft mehr. Mir ist kalt, ich fühle mich schutzlos. Ich spüre einen kleinen Klaps auf meinem Po und ich muss schreien. Endlich! Luft! Ich kann atmen! Weinend und schreiend werde ich von einem Ort zum anderen gereicht. Irgendetwas wischt unsanft über mein Gesicht. Es fühlt sich rau und gefährlich an. Alles fühlt sich auf einmal gefährlich an. „Mrs. Taylor. Meinen Glückwunsch! Es sind Zwillinge!“ Ich fühle, wie ich von einem zum anderen überreicht werde und schließlich meinen Platz in einer warmen Decke gehüllt in den Armen von jemandem finde, wo ich mich außerdordentlich wohl und sicher fühle. Die Stimme meiner Mutter haucht mir an die kalte Wange „Kate … Du bist meine kleine Kate.“
Eine andere Stimme in meinem Kopf rauschte mir durch das Blut „Ich bin nur am Leben, weil es dich gibt.“ Diese Stimme ist nicht von meiner Mutter und kaum habe ich mich beruhigt, fange ich wieder das Weinen und Schreien an.


Blinzelnd wachte ich auf und sah auf meinen Wecker. Es war kurz vor Sieben. Mann, war das ein merkwürdiger Traum! Ich setzte mich vorsichtig aufrecht, schloss nochmal kurz die Augen und versuchte die Geräusche aus meinem Traum wieder wahrzunehmen. Das Schreien, Piepsen, die Stimmen … Ich hatte geträumt, dass ich ein Baby bin! Und … unwillkürlich runzelte ich die Stirn, als mir spontan klar wurde, dass eine einzige Kleinigkeit nicht stimmen konnte. „Mrs. Taylor. Meinen Glückwunsch! Es sind Zwillinge!“
Ich hieß nicht Taylor. Mein Name war Sayers. Kate Sayers und nicht Kate Taylor. Verwirrt stand ich aus meinem warmen Bett und ging zum Spiegel, um Zähne zu putzen, mir ein wenig Make-Up aufzutragen und meine Haare zu kämmen … Als ich meine schwarzen Haare auf die linke Schulter nahm, stockte mir beinahe der Atem und die Bürste fiel mir aus der Hand. Aus Schreck sah ich erst hinter mich, ob Kiara aufgewacht war, doch die schlief wie ein Stein. Dann drehte ich mich wieder zu mir in den Spiegel. Das Tattoo! Es ist größer geworden. Jetzt konnte man eindeutig erkennen, dass es einen Feder werden würde. Gänsehaut schlich sich über meinen Körper und das nicht deshalb, weil mir kalt war.
Ich bin nur am Leben, weil es dich gibt.

 

Nicht Ich





Als ich den Korridor zu den Lehrsäälen betrat, wurde mir heiß und kalt gleichzeitig. Ich musste mir meine ganzen Haare zu einem rechten Seitenzopf binden, damit man das Tattoo nicht sah. Eigentlich hatte ich Desdemona versprochen zu Aristhea zu gehen und ihr davon zu erzählen, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass dieses Tattoo ein schlechtes Omen war. Und das sagte ich jetzt nicht nur, weil mein Körper sich gegen die Verwandlung gewehrt hatte. Leise klopfte ich am Sekreteriat und trat zur Tür herein. Eine Frau mit braunen, hochgesteckten Haaren in diesem schönen Kleid der Professoren, saß an einer Rezeption vor dem Computer und lächelte mich an „Hallo. Du musst Kate Sayers sein, richtig?“
Ich nickte und reichte ihr die Hand, um sie zu begrüßen.
„Ich bin Professor McGusman, die Leiterin der Lehrsääle und der Jungvampirschule. Du hast heute deinen ersten richtigen Schultag, habe ich Recht?“ Ein Lächeln huschte über ihre kirschroten Lippen. Nickend sah ich ihr in die Augen. Sie wandte sich von mir ab und kramte in einer Schublade herum, bis sie sowas wie eine Karteikarte hervorzog, sich die Brille vom Kopf auf ihre Nase setzte und die Karte überflog „Mh … Kate Sayers …“, murmelte sie, „Komisch, du bist noch in keine Klasse eingetragen worden.“ Professor McGusman sah mich irritiert an, worauf ich nur unschuldig die Schultern zucken konnte. „Wer ist denn deine Mentorin, meine Liebe?“
„Desdemona.“
„Mhm“, machte sie und legte die Karteikarte wieder weg, „Moment einmal, bitte.“ Sie nahm das Telefon und wählte eine Nummer „Hallo, hier ist Sophia… Nein, es geht um Kate Sayers … Ja, sie steht hier in meinem Büro, aber sie wurde noch in keine Klasse eingetragen. Weißt du irgendwa- … aha …“, Professor McGusman warf mir einen merkwürdigen Blick zu, „Mhm … ja, gut. Das werde ich ihr ausrichten“, dann lächelte sie, „Ja, wir sehen uns später. Dir auch noch einen schönen Tag.“ Als sie auflegte, sah sie mich eine Weile mit betretenem Schweigen an. Ich versuchte vergebens ihrem Blick auszuweichen. „Desdemona hat mir gerade gesagt, dass Aristhea sie darum gebeten hatte, vor der Aufnahme in den Lehrsäälen, noch einmal bei ihr vorbei zu schauen.“
Mir wich jegliche Farbe aus dem Gesicht und mir wurde schlecht. Oh Himmel! Was hatte ich angestellt? Ob Aristhea wegen der schweren Verwandlung mit mir reden wollte?
„Keine Sorge, es scheint nichts Schlimmes zu sein. Sie wollte dich einfach noch einmal vorher sehen und wissen, wie es dir geht.“
„Mh“, machte ich unsicher, „Okay… dann-dann komme ich einfach später noch einmal.“
Professor McGusman lächelte mich mit einem Nicken an „Kopf hoch. Du brauchst keine Angst haben. Aristhea hat wirklich ein großes Herz!“
Na wollen wir doch hoffen

, dachte ich noch, als ich die Tür zum Sekreteriat verließ und die düsteren Korridore zu dem Saal folgte, in dem Aristhea immer war. Der große Saal, der mich an ein Schachbrettspiel erinnerte. Mein Blick fiel als aller erstes auf den leeren Sarg, der in der Mitte des Raumes stand, in dem ich vor wenigen Tagen noch gelegen bin. Dann wanderte mein Blick zu Aristhea, die lächelnd auf ihrem „Thron“ saß. Neben ihr diese seltsamen Bodyguards. Meine eigentlich sonst so leisen Schritte hörten sich in diesem großen Raum übermäßig laut an, als ich unsicher zu ihr an den Platz schritt und sie sich dann, kurz bevor ich bei ihr ankam, erhob „Kate. Das freut mich, dass du noch einmal vorbeigekommen bist.“
Ich nickte.
„James, Elijah“, sie warf den beiden Männern mit der Sonnenbrille einen vielsagenden Blick zu. Sie erhoben sich und verließen den großen Saal. Nun stand ich alleine hier vor Aristhea der Priesterin der Harras Academy und hatte wirklich keine Ahnung, was sie von mir wollte. Obwohl … ich vermutete es eigentlich schon, doch ich wollte es nicht wahrhaben.
„Nun“, setzte sie an, „Ich habe gestern Abend mit Desdemona gesprochen.“
Oh Gott, ich ahnte es!
„Sie hat mir von der Verwandlung erzählt. Und dabei habe ich Dinge erfahren, die eigentlich ziemlich außergewöhnlich sind“, sie hob eine perfekt geschwungene, rote Augenbraue, die farblich zu ihrem seidigem Haar passte.
„Und das wäre?“, fragte ich leise, weil ich so eingeschüchtert war von ihrer Macht. „Dass dein Körper sich gegen die Verwandlung wehren wollte, wissen wir ja schon alle. Aber dass dein Blut eine Prägung auslöst, hätten wir nie zu denken verhofft.“
„Eine Prägung?“, ich musste mir ein hysterisches Lachen verkneifen. Was war das nun wieder?! Aristhea nickte ruhig und setzte sich wieder auf ihren Thron. „Desdemona hat während sie dein Blut getrunken hat genau dasselbe gefühlt wie du. Konnte deine Gedanken hören …“
Ich spürte, wie mir Blut in das Gesicht schoss. Das war unmöglich! Das konnte nicht wahr sein. Himmel! Du heiliger, schwarzer Himmel! War das peinlich! War hier irgendwo bitte ein Loch im Boden, in das ich springen und für immer verschwinden konnte?
„Und dann hat sie mir noch etwas erzählt“, Aristhea wartete auf eine Reaktion, doch als sie diese nicht bekam, sprach sie einfach weiter, „Sie hat mir von diesem Tattoo an deinem Schlüsselbein erzählt.“
Es fühlte sich auf einmal an, als würde dieses Motiv wie Feuer in meiner Haut brennen und ich musste automatisch danach tasten. Zögernd nickte ich. „Darf ich das mal sehen?“, fragte Aristhea. Ich bewegte mich ohne Antwort auf sie zu, während ich meinen Seitenzopf öffnete und meine Haare von der Schulter nahm. „Faszinierend“, staunte sie und fasste mir mit ihrer weichen Hand über das Schlüsselbein, „Eine schwarze Feder. Sowas habe ich wahrhaftig noch nie gesehen.“ Ihre smaragdgrünen Augen wanderten zu meinen und hielt Inne. Ein Lächeln bildete sich auf ihrem Gesicht „Du scheinst etwas Besonderes zu sein, Kate. Etwas wie dich hatten wir hier auf der Harras Academy noch nie.“ Verlegen senkte ich den Blick, weil ich ihrem nicht mehr Stand halten konnte. „Darf ich etwas ausprobieren, Kate?“
Ich nickte.
Bevor ich auch nur blinzeln konnte, schnitt sie sich mit dem Fingernagel am Handgelenk auf. Blut sickerte dickflüssig aus der Wunde. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, mein Blick war starr auf die Wunde geheftet. Auf das Blut, das jetzt immer schneller auf den Boden tropfte … immer mehr. Unter meinen Augen fing etwas an zu kribbeln. Ich befürchtete schon, dass meine Augenlieder vor Verlangen zu Zucken begannen. Dann bewegte sich etwas Seltsames in meinem Mund. Ich spürte es eindeutig und tastete mit der Zunge nach. Meine Zähne wuchsen! Meine … oh mein Gott! Vor Schreck riss ich den Blick von der Wunde, stolperte mehrere Meter zurück und fiel schließlich auf den Boden. Ich hatte Fangzähne. Meine Augen kribbelten immer noch heiß.
„Dachte ich es mir doch“, murmelte sie gedankenverloren, leckte sich einmal elegant, wie eine Katze, über die Wunde die dann sofort wieder verheilte und sah mich an. Mein Herz schleuderte vor und zurück. Aristhea kam langsam auf mich zu und kniete sich vor mich auf den Boden, dann nahm sie meine Hand „Kate, du hast dich bereits vollständig in einen Jungvampir verwandelt.“
„Habe ich“, keuchte ich und wusste, dass sie Recht hatte. Wie war das möglich? Wo doch mein Körper selbst gegen die Verwandlung alles getan hatte. „Du musst wissen, dass wir Wesen der Nacht sind“, fing sie leise und vorsichtig an es mir zu erklären. Sie klang dabei so mütterlich und voller Liebe, als würde sie ihrem Kind das Laufen beibringen. Vorsichtig, damit es nicht fiel und sich wehtat. „Wir sind tot, Kate, aber das weißt du.“
Ich nickte. Worauf wollte sie hinaus?
„Unsere Schönheit ist nur ein Geschenk der Natur … der Natur der Nachtgestalten, der Vampire. Aber in Wirklichkeit … du weißt, wie du im Grunde wirklich aussehen würdest.“
Wieder nickte ich „Wie ein toter Mensch.“
„Das kannst du jederzeit zu deiner Wehr umsetzen. Anderen Angst machen. Du kannst dich von“, sie schnippste in die Finger, „Einer Sekunde zur anderen in ein grausames, hässliches Monster verwandeln. Wenn du es willst.“
„Oh“, flüsterte ich, obwohl ich nicht wirklich verstand, was sie meinte.
„Erschrecke dich jetzt bitte nicht.“ Sie hielt eine Hand fest um meine gedrückt und mit der anderen hielt sie die Hand wie ein Stop-Zeichen an ihren Thron. Ich sah, wie sich etwas kleines wackelig von dem kleinen Steintisch neben diesem rot gepolstertem Sessel erhob und sich schwebend in ihre Hand legte. Damn! Wie hatte sie DAS gemacht??? Das wollte ich auch können!
Sie betrachtete erst sich selbst ausdruckslos in dem goldenen Handspiegel, dann drehte sie es langsam um, Richtung mein Gesicht. Was ich dort sah, ließ mir die Hand an den Mund klatschen, um nicht zu kreischen. Wie sah ich aus? Das Weiße meiner Augen war blutrot und hässliche, dunkelblaue und lila Adern prankten dort, wo gestern Abend noch meine Augenringe waren. Tränen schossen in mein verdorbenes Gesicht. Meine Fangzähne passten bildlich perfekt zu meinen Augen, meine Lippen waren blutrot angelaufen, meine Haut sah unnatürlich bleich und krank aus. Und trotzdem … trotzdem hatte es etwas … Schönes an sich. Gruslig aber schön. Das traf es.
„Du kannst es ändern, Kate. Du allein hast die Kontrolle über deinen Körper.“
„Und wie?“, schluchzte ich auf. Aristhea hielt meine Hand ganz fest in ihrer. „Konzentriere dich auf dein Inneres. Auf das, was du fühlst. Positives, Glückliches … sehe dich so, wie du dich sehen möchtest.“
„Es funktioniert nicht“, wimmerte ich und eine Träne lief mir über die Wange. Und wenn mein Gesicht jetzt für immer so entstellt blieb?
Aristhea schüttelte den Kopf. Sie schloss kurz die Augen und ich sah, wie sich immer mehr ähnliche Blutadern unter ihrem Auge bildeten wie bei mir. Ihre Fangzähne fuhren unter den Lippen hervor, dann öffnete sie die Augen, die von einem noch kräftigerem blutrot waren, wie meine und schließlich öffnete sie einen kleinen Spalt ihre blutroten Lippen. Ihre Haut wurde bleich und ihre Nägel wuchsen unnatürlich lang. Beinahe bohrten sie sich in mein Fleisch. Ihre Fangzähne waren anders, als die unsere. Als die von den Jungvampiren. Nicht nur ihre Schneidezähne waren lang und Spitz, nein. Auch die kleinen davor waren fast so lang wie die Schneidezähne. Ein wenig kürzer, aber dafür sogar fast einen Tick schärfer und spitzer.
So schnell, wie diese Maske aufgetaucht war, verschwand sie auch wieder und ihr wunderschönes Gesicht trat zum Vorschein. Die Nägel fuhren wieder ein und ihre Fangzähne verschwanden mit den blutroten Lippen, so dass sie jetzt wieder nur noch zartrot waren, wie vorher.
„Das kannst du auch. Du musst es versuchen, Kate.“
Schwer atmend schloss ich meine Augen und stellte mir mein Gesicht vor, als ich heute früh in den Spiegel gesehen hatte. Eine Träne kullerte mir dabei über die eiskalte Wange. Ich sah heute Früh zwar nicht sonderlich gut aus. Einfach nur durchschnittlich, wie immer. Schwarze, lange glatte Haare, rehbraune Augen, hohe Wangenknochen … ich stellte mir ganz besonders meine Augen und meine Haut vor. Egal wie müde ich heute aussah, egal welche Augenringe ich hatte – es war allemale besser, als wie ich jetzt war. Wie ein Monster, so sah ich aus! Auf einmal verwandelte sich mein ganzer Körper im Spiegel in ein hässliches Wesen. Was ich dort sah, und wie ich mich fühlte, war mit nichts zu vergleichen. Mein Kleid verblasste. Ich stand nackt vor dem Spiegel, meine Haut berstete sich und fühlte sich leicht an, wie Schlangenhaut. Meine Haare verfilzten, als hätte ich sie schrecklich übertrieben toupiert, auf meiner Stirn bildeten sich tiefe, dunkle Stirnfalten, meine Augen und mein Mund nahmen das gleiche Aussehen an wie ich es vorhin in dem Handspiegel von Aristhea gesehen hatte. „Nein“, keuchte ich mit geschlossenen Augen, „Nein, nein, nein!“
Meine Haut verschrumpelte und nahm einen alten, ungesunden, grauen Hautton an.
„Kate“, sagte Aristhea drängen und drückte meine Hand ganz fest, „Du kannst es. Und jetzt verwandele dich zurück! Siehst du, du schaffst das!“
Was meinte sie damit? Ich kann es? Zurückverwandeln? Tränen kullerten mir ununterbrochen über die Wange und als ich die Augen aufmachte sah ich genau das Monster vor mir in dem kleinen Handspiegel, das ich in meinem Kopf gesehen hatte. „Nein“, kreischte ich, als würde man mir mein Herz ausreißen, „Nein! So will ich nicht aussehen!“ Wie ein Tier sprang ich einen Arm weit von ihr weg, doch sie blieb ganz ruhig „Du hast es geschafft, dein Körper in ein Monster zu verwandeln, dann schaffst du es auch, es wieder in einen Jungvampiren zu verwandeln. In dich zu verwandeln. Kate, glaube an dich!“
Ich starrte in den Spiegel versuchte so gut ich konnte mir mein Gesicht von heute Morgen vorzustellen, doch es funktionierte nicht. Es war wie aus meinen Erinnerungen geblasen. Es existierte nur noch dieses gaffende Monster. „Neeeeiiiin“, mein Kreischen durchbrach die Stille. Die Türen flogen auf. Ohne hinzusehen, wusste ich, dass es die Bodyguards gewesen sein mussten. „Elijah, James“, knurrte Aristhea wütend. Bevor sie wieder aus der Tür stolperten hörte ich noch einen flüstern „Großer Gott!“
Wie ein Embrio kugelte ich mich zusammen, zog meinen Kopf ein, wiegte mich hin und her und weinte. Ich wollte wieder Kate sein. Kate Sayers. Was, wenn ich für immer in dem Körper gefangen blieb? Nein, daran wollte ich gar nicht denken! Ich wollte wieder meine weichen, gesunden Haare haben, meine schönen Rehaugen, für die mich so viele beneideten oder meine reine Haut und die zartrosa Lippen.
„Gut“, sagte Aristhea ruhig, „Genau so.“ Sie sprach, wie eine Seelenklemptnerin mit seinem Patienten, der gerade seine Todesangst überwand. Langsam öffnete ich die Augen und starrte an die weiße Wand mehrere Meter entfernt von mir. Erst jetzt kam ich langsam wieder zu Verstand und merkte, wie albern es war, wie ein kleines Baby auf dem Boden zusammengerollt zu heulen und zu warten, dass alles von alleine aufhörte.
Hunger … Mama macht das schon
Volle Windeln … Mama macht das schon
Einsam … Mama macht das schon
Angst im Dunkeln … Mama ist ja da …
Es wird alles gut.


Genauso benahm ich mich gerade. Wie ein kleines, hilfloses Baby dabei wurde ich bald siebzehn. Himmel! Mit verweintem Gesicht richtete ich mich wieder ins Sitzen auf und erwartete das Schlimmste, als ich in den Spiegel sah, doch mein Gesicht … sah wieder normal aus. Schön … das war ich! Genau so sah ich aus und nicht anders! Jetzt weinte ich nicht mehr aus Angst, sondern vor Erleichterung.
Aristhea stand auf, ging leichtfüßig, als würde sie schweben, wieder zu ihrem Thron und setzte sich „Ich glaube, du kannst dich heute in die Stufe Drei einschreiben lassen.“
Benebelt stand ich vom Boden auf und traute mich nicht ihr in die Augen zu sehen, während ich immer noch weinte. Vor Schreck … oder vor Erleichterung … oder vor Glück … oder Dankbarkeit … oder am Besten wegen allem zusammen.
Ich kam in die dritte Stufe.
Cassidy würde sich die Haare grau ärgern.
Und plötzlich, als wäre nie etwas passiert, lachte ich lautstark in den großen Raum hinein.

Wahnsinn





Als ich mit meinem neuen, roten Kleid in die Stufe Drei der Lehrsääle trat, wurde ich von oben bis unten mit kritischen Blicken gemustert. Zum ersten mal genoss ich es, wie mich einige beneideten, und andere bewunderten.
„Das ist Kate Sayers, eure neue Mitschülerin“, stellte mich Professor Draper, ein Lehrer mit einem extremen, englischen Akzent der Klasse vor, „Kate, du darfst dich neben Kayla setzen.“ Kayla … das war doch diese Zicke, von der Josi und Kiara immer sprachen. Oh super! Aber ich ließ mir meine Laune nicht verderben. Mit einem Lächeln im Gesicht setzte ich mich auf den freien Platz neben ein Mädchen mit schwarzen Haaren und meerblauen Augen. Sie könnte locker als Eriks Schwester durchgehen. Erik …
Ich seufzte, als ich mich neben Kayla setzte. Ich vermisste ihn so.
Kayla würdigte mich keines Blickes. Sie sah einfach ignorant geradeaus und folgte dem Unterricht. Zu meinem Überraschen sprachen sie gerade über genau das Thema, was mir Aristhea vorhin erklärt hatte. Wie ich mich verwandeln konnte. Und soweit ich mitkam, wussten sie noch nicht allzu viel darüber.
Mir war so langweilig, dass ich mich echt beherrschen musste, nicht mit der Konzentration abzuschweifen und die Minuten zogen sich wie Kaugummi in die Länge. Als es endlich zum Mittagessen gongte, war ich die Erste die den Klassenraum verließ. Kaum war ich aus der Tür gestolpert, riss mich eine Hand am Arm auf die Seite „Okay, sag mir, was du gemacht hast!“ Cassidy schaute mir von einem Auge in das Andere und ihre Wut war nicht zu übersehen. Sie war durch und durch neidisch auf mich. Und das genoss ich.
„Was meinst du?“, fragte ich unschuldig und hob die Brauen.
„Du weißt genau, wovon ich rede“, zischte sie und ignorierte die Schüler, die an uns vorbeigingen.
„Sags mir“, bat ich und tat, als hätte ich keine Ahnung, was ihr Problem war. Ich wollte es aus ihrem Mund hören. Ich wollte hören, wie sie endlich zugab, dass sie nichts Besseres war! Ungewollt zauberte sich ein verschwörerisches Lächeln auf meinem Gesicht doch ich verbiss es mir gleich wieder, als Cassidy knurrte „Dass du plötzlich in die Stufe Drei gehst und …“, sie sah mein neues Kleid abwertend an, „das da trägst!“
Wir sahen uns lange schweigend in die Augen, versuchten uns mental auszulöschen. Als mich Cassidy dann anfing zu mustern und an meinem Schlüsselbein hängen blieb, weiteten sich ihre Augen „Oh mein Gott“, keuchte sie und wischte mir mit dem Finger über das Tattoo. Wütend drehte ich mich weg „Lass das!“
„Du hast das auch?“
„Was meinst du?“, fragte ich nun sichtlich irritiert. Cassidy hob ihre blonden Haare auf die linke Schulter, wobei sie mir ihr Schlüsselbein zeigte auf dem genau dasselbe Tattoo war, wie ich es hatte. Das war unmöglich! Das durfte einfach nicht wahr sein. War sie irgendwie sowas wie mein persönliches Schicksal? AIDS. Ich sagte es doch. Eine Krankheit die man nie wieder los wird – so war sie. Ganz genau so. Und jetzt … jetzt verband uns auch noch etwas. Am liebsten hätte ich vor Zorn aufgeschrien, stattdessen blieb ich ganz locker und versuchte gelassen zu klingen, während ich eine gleichgültige Handbewegung machte „Ach das“, log ich, „Das haben hier viele. Meine Freundinnen haben das Tattoo auch.“ Ich wollte nicht, dass sie wieder dachte, sie sei etwas Besonderes.
„Du lügst“, keifte sie bissig.
„Warum sollte ich?“, fragte ich unschuldig.
„Weil du …“, aus ihrem Unterton kam auf einmal dezent eine fremde Stimme hervor, „… nicht wahrhaben willst, dass wir zusammen gehören!“ Vor Schreck machte ich ein Schritt zurück und riss meine Augen entsetzt auf. Die bedrohliche Stimme, die zwischen ihrer Pussy-Stimme zu hören war, gehörte einem Jungen. Und ich wusste genau welchem!
„Was hast du?“, fragte sie irritier und zog genervt die Stirn in Falten.
„Was hast du gerade gesagt?“
„Tu nicht so, als hättest du mich nicht gehört“, knurrte sie verärgert, „Ich habe gesagt: weil du nicht wahrhaben möchtest, dass ich auch so ein Tattoo habe.“
Ich schüttelte den Kopf „Nein, das hast du nicht gesagt“, murmelte ich leise und mein Ärger war mit dem Schreck gerade verschwunden und ich empfand im Moment nichts weiter als Angst.
„Dann kauf dir ein Hörgerät“, schnaubte sie.
Überfordert mit meinen Gedanken entschuldigte ich mich (Himmel – ich hatte mich tatsächlich bei Cassidy entschuldig!) und drängte mich an ihr vorbei, lief durch die Lehrsääle und sperrte mich dann in einer Toilette ein. Langsam hatte ich das Gefühl, ich würde völlig verrückt werden.
Weil du nicht wahrhaben willst, dass wir zusammen gehören!


Gänsehaut überkam mich von Kopf bis Fuß. Mit schwerem Kopf sah ich in den Spiegel vor mir. Mein Gesicht war auf seltsame Art und Weise schön geworden. Ich hatte mich verändert! Meine Haut hatte mehr an Farbe angenommen und das Rosarot meiner Lippen war kontraststärker geworden. Meine braunen Augen hatten seltsame Sprenkelmuster, wie die bei einer Schlange. Und meine Wimpern waren ungetuscht superlang und dicht. Dabei hatte ich heute nur einen dünnen Lidstrich aufgetragen. Dann wanderte mein Blick auf die Feder, die jetzt vollständig zu erkennen, aber trotzdem noch nicht ganz vollendet war. Das durfte nicht sein, dass Cassidy dieselbe Feder hatte, wie ich! Das durfte nicht wahr sein.
Ob sie dann auch schon so vieles wusste, wie ich? Wie man sich in ein Monster verwandelte? Wie man die Fangzähne ausstieß, wie man das Gesicht verändern konnte? Ob sie das auch schon alles erlebt hat aber, im Gegensatz zu mir, niemand da war, der ihr sagen konnte, dass sie etwas Besonderes war?
Das war alles viel zu verwirrend. Ob sie schon jemandem etwas über ihr Tattoo erzählt hatte? Nein, wohl kaum. Dann wüsste es Aristhea bestimmt schon lange und dann hätte sie zu mir nicht gesagt, dass sie sowas noch nie gesehen hatte und ich etwas … Besonderes war. Argh, Cassidy! Immer muss sie mir alles verderben. Alles, alles, alles, alles, alles….
Auf einmal hörte ich ein Schluchzen aus einem der Toilettenkabinen. Es war bestimmt schon länger zu hören, aber ich hatte es nicht wahrgenommen. „Hallo“, rief ich leise und kam aus meiner Kabine heraus um zu sehen, welche Tür zu war. Wo das Mädchen, das weinte, gerade sein konnte. Jetzt wimmerte es, dann schluchzte es wieder und aufeinmal wurde mir klar, dass das kein Jungvampir sein konnte. Dieses Mädchen, das weinte, war noch ein Kind! „Hey, wo bist du?“, fragte ich und ging die ungefähr zehn Toilettenkabinen durch. Bei einer blieb ich stehen. Dort musste sie drinnen sein. Vorsichtig klopfte ich „Alles in Ordnung bei dir?“
Sie antwortete nicht, weinte nur.
Ich klopfte erneut „Komm doch bitte raus. Ich will dir nichts tun.“
Schweigen. Ich hörte nur noch ihr leises, aufgeregtes Atmen. Oh Himmel, Kate! Ganz ruhig, das ist bloß ein Kind. Mach dir jetzt bloß nicht in die Hose

, schimpfte ich mich selber, als ich merkte, wie mich ein Angstschauer durchlief. Ich sah, wie die Türsperrung ganz langsam aufgedreht wurde. Die Tür wurde geöffnet. So schleichend, dass ich vor Panik am liebsten selber diese Fuck-Kabine aufgerissen hätte, um zu wissen, wer da war. Als sie offen war, stand ein Mädchen, vielleicht gerade mal sechs Jahre alt, in einem gelben Blümchenkleid und einer nackten Stoffpuppe, die ziemlich kaputt aussah, mit gesenktem Kopf vor mir. Ich sah ihr Gesicht nicht, nur die schulterlangen, schwarzen Haare. Trotzdem kam mir das Kleid und die Puppe bekannt vor. Hatte ich nicht selber auch schon einmal so eine Puppe? Und war das, als ich ein Kind war, nicht mein Lieblingskleid gewesen? „Was ist denn passiert?“, fragte ich und versuchte vergebens tapfer zu klingen, doch meine Stimme zitterte, während sich der Kopf von dem Mädchen hob. Ihre braunen Augen starrten mir wütend entgegen, Tränen liefen ihr immer noch über die weichen Wangen. „Warum hat sie uns getrennt?“, flüsterte sie hasserfüllt. Mein Herz setzte aus, als die unschuldigen Kinderäuglein anfingen rot zu glühen, sie mich zur Seite stieß und eilig aus der Mädchentoilette marschierte. Als die Tür nach draußen zugefallen war, ließ ich mich an der Wand auf den Boden gleiten, warf meinen Kopf hinter und schloss die Augen.
Das warst du, Kate

, dachte ich, das warst du, mit sechs Jahren, in deinem Lieblingskleid und deiner Lieblingspuppe Holly.


Dann fing ich an zu weinen.

Visionen?





Ich weiß nicht, wie lange ich so still vor mich hin geweint hatte, bis es schließlich an der Mädchentoilette klopfte. Ich wischte mir hastig die Tränen von der Wange, stand auf, rannte zu den Waschbecken und klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Ich trocknete mein Gesicht mit dem Papier ab als die Tür aufging und ich durch den Spiegel Jocelines verärgertes Gesicht sah „Da bist du ja! Mann, Kate, Professor Draper hat schon einen knallroten Kopf, weil du nicht zu seinem Unterricht erschienen bist. Professor McGusman musste mich jetzt beten dich zu suchen“, gereizt kam sie zu mir an das Waschbecken und ihr Ausdruck veränderte sich schlagartig „Hast du geweint?“
Ich senkte den Blick und starrte auf die Wassertropfen im Waschbecken.
Joceline drehte mich an der Schulter zu sich um, doch ich sah ihr immer noch nicht in die Augen. Zu viel Angst hatte ich vor ihrer Reaktion. „Ist was passiert?“
„Nein … ich glaube, ich bin einfach nur gegen irgendetwas allergisch.“ Das würde die Röte meiner Augen erklären.
„Ach, spiel mir doch nichts vor. Ich sehe doch, dass du geweint hast. Wenn du magst, können wir dich bei Professor McGusman befreien lassen. Viele neue Jungvampire haben es schwer am ersten Tag in der Schule.“
Ich war froh, dass sie keine Ahnung hatte, warum ich weinte. Ich hatte nicht vor auch nur irgendjemandem auf der Harras Academy von den ganzen Seltsamen Dingen zu erzählen, die gerade passierten. Sie würden mich noch für verrückt erklären. Aber das war nicht das Schlimmste an der Sache. Es war, als wollte irgendetwas verhindern wollen, dass ich länger auf dieser Vampiracademy blieb.
„Nein“, sagte ich entschlossen, „Es geht schon.“ Damit ließ ich Joceline hinter mir im Bad stehen und ging wieder zurück in mein Lehrsaal. Als ich die Tür betrat ignorierte ich die stechenden, neugierigen Blicke der anderen Jungvampire und sah Professor Draper in die Augen „Verzeihung, Professor Draper. Das wird nicht noch einmal vorkommen.“ Ich sagte das völlig tonlos. Beinahe so, als sei ich tot (Haha, welch Ironie!)
Professor Draper brummte nur mit finsterer Miene durch seinen langen, grauen Bart und las an dem Zettel weiter, das er in der Hand hielt. Als ich mich neben Kayla auf meinen Platz setzte, schob sie mir ein Buch zu und öffnete es auf der Seite, auf der sie gerade waren. Also dafür, was Josi und Kiara über sie erzählten, war das ziemlich freundlich.
Konzentriert las ich mit:

… schon von Anbeginn stellte man fest, dass einige der Vampire besondere Gaben hatten. Sei es eine Gabe im Laufen oder im Denken oder vielleicht sogar etwas Außergewöhnlicheres, wie Visionen, Manipulationen oder das Lesen der Gedanken anderer. Viele Jungvampire finden ihre besondere Gabe erst sehr, sehr spät und einige wiederum gar nicht.



„Zu der Stelle möchte ich Sie etwas fragen“, unterbrach Professor Draper seinen Text. Die Klasse hob neugierig ihre Köpfe „Hat irgendeiner von Ihnen schon irgendetwas Merkwürdiges erlebt? Etwas, wovon er behaupten könne, das sei eine besondere Gabe?“
Einige Jungvampire wechselten flüchtige Blicke, andere sahen sich um und schüttelten den Kopf. „Mhmm“, machte Professor Draper, „Und das ist ganz normal. Viele von Ihnen werden ihre Gabe wahrscheinlich erst finden, wenn sie in der vierten Stufe oder bereits ein ausgebildeter Vampir sind. Sowieso steht die Chance von Zwei zu Vierzig.“
Wir waren vierzig Schüler in der Stufe Drei.
„Was soviel heißt, dass zwei von Ihnen auf jeden Fall ihre Gabe bekommen werden aber auf keinen Fall mehr.“
Ein enttäuschtes Raunen ging durch die Klasse.
Mich interressierte dieses Thema auf einmal so sehr, dass ich sogar anfing zwischendurch Fragen zu stellen „Ist es auch möglich, in die Vergangenheit sehen zu können?“
Professor Draper sah mich mit kritischen Augen an „Nun ja“, murrte er, „Sowas würde dann ganz klar zu den Visionen zählen.“
„Ach, sowas nennt man auch Visionen?“
„Wissen Sie, Kate, diese Gaben kann man in mehrere Kategorien einteilen. Es gibt so viele, die könnte ich ihnen nicht aufzählen, weil ich sie wahrscheinlich nicht einmal alle kenne. Aber wie Sie ja alle wissen“, er wanderte mit dem Blick durch die Klasse, „Sie können jederzeit die Computersääle besuchen und immer wieder recherchieren.“
„Entschuldigen Sie, Professor Draper“, unterbrach ich ihn wieder neugierig, „Aber zu wie viel Prozent meinen Sie, ist es möglich seine Gabe schon früher zu finden?“
„Wenn Sie sie denn überhaupt finden“, murmelte er leise vor sich hin, trotzdem entging es mir nicht, „Das kann ich Ihnen leider nun auch nicht genau sagen, Kate. Aber die Chancen sind sehr gering. Wie gesagt – nur zwei aus dieser Klasse werden eine Gabe finden. Wenn überhaupt.“ Er schob seine Brille mit dem Zeigefinger wieder auf die Nase, nur um danach wieder über sie drüber zu luren und so fortzufahren.
Nachdenklich runzelte ich die Stirn und biss auf meiner Unterlippe herum, während ich auf das weiße Blatt vor mir starrte und mit dem Kugelschreiber in einem bestimmten Takt drauftrommelte. Vielleicht sollte ich mal recherchieren gehen? Wer weiß, vielleicht hatte ich ja eines dieser Gaben. Immerhin sprach vieles dafür: meine seltsamen Träume, die Stimme, die mich verfolgte, das frühere Ich vorhin in der Toilette und dann dieser Schwan … Ob mich die Gewissheit beruhigen würde? Dann würde immerhin alles Sinn ergeben. Wiederum … ob ich das wollen würde? Wenn ich wirklich Visionen hatte, dann musste die „kleine Kate“ von eben etwas gesagt haben, was von Bedeutung war: Warum haben sie uns getrennt?

Mir lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter.

Noch bevor es zum Schulschluss gongte, klappte ich mein Arbeitsbuch zu und verließ als Erste das Klassenzimmer. Ein Bruchteil einer Sekunde, nachdem ich die Tür verlassen hatte, gongte es und die restlichen Schüler stürmten hinter mir aus den Lehrsäälen. Wo konnten diese Computersääle wohl sein? Obwohl ich gedacht hatte, dass Joceline mir an meinem ersten Tag schon die ganze Harras gezeigt hatte, vergaß sie wohl mir noch entscheidende andere Räume zu zeigen. Zum Beispiel wo diese verfluchten Computersääle waren!
„Hey, Kate!“ Kiara hakte sich unter und lächelte mir fröhlich zu, doch dann verblasste das Lächeln auch sofort wieder, als sie mein Gesicht sah „Du siehst ja furchtbar aus!“
„Danke“, murmelte ich sarkastisch.
„Hast du schlecht geschlafen?“
Ich schüttelte den Kopf „Du, Kiara … weißt du wo die Computerräume sind?“
„Klar weiß ich das. Magst du da hin?“
„Ja“, sagte ich mit einem verzwickten Lächeln und hob das Arbeitsbuch über Vampir-Geschichte ein wenig hoch, „Ein bisschen recherchieren.“
„Oh, verstehe“, murmelte Kiara, glaubte mir allerdings nicht wirklich, „Darf ich denn zusehen?“
„Mh“, machte ich spontan und biss mir auf die Unterlippe, „Weiß nicht … ich würde heute lieber alleine sein, wenn dir das nichts ausmacht.“
„Quatsch“, erwiderte sie und führte mich die Treppen nach oben an den Zimmern der Mentoren vorbei und bog dort in eine Tür ein, die sich schließlich als Computerraum entpuppte, „Wenn etwas sein sollte … Josi und ich wir sind in der Mensa bis Fünf. Dann haben wir Reiten.“
Ich lächelte sie dankbar an und wartete, bis sie die Tür hinter sich schloss und mich alleine ließ. Dieser Raum war groß. Er bestand aus einem roten Teppich und braunen Tafelwänden. Eigentlich glich das hier eher einer Bücherei, als einem Computersaal, denn hier standen nur vier Computertische links hinten in einer Ecke. Der Rest war über und über mit riesigen Bücherregalen und einigen Sessel. Hier und da sah ich ein paar Jungvampire, die nach Büchern suchten oder welche die in einem der beige farbenen Sessel saßen und lasen.
Ich steuerte ruhig auf die Computer zu, zog einen der schwarzen Stühle raus, setzte mich an den Schreibtisch und startete den Computer. Er arbeitete so langsam, dass ich mir öfter ein Gähnen verkneifen musste und mich einige Jungvampire schon mit seltsamen Blicken beäugten, was ich so lange vor einem schwarzen Bildschirm mache.
Als endlich der Computer hochgefahren war, klickte ich auf Google und legte meine Hände schon auf die Tasten, drauf und dran loszutippen, bis mich ein inneres Gewissen Inne halten ließ. Was, wenn die Internetverläufe gespeichert wurden? Wenn die Professoren in die Computer sehen konnten und dann wussten, wonach ich gesucht hatte?
Quatsch! Und wenn es denn so wäre – woher wüssten sie, dass ausgerechnet ich das war? Gar nicht. Okay … ich holte tief Luft und tippte die ersten Buchstaben in das Suchfeld: außergewöhnliche Visio
„Kate?“
Mein Finger schnellte zur Löschtaste und ich ließ die Buchstaben wieder verschwinden. Erschrocken drehte ich mich um und sah in das Gesicht von Alvin, der mich misstrauisch musterte „Was machst du hier?“
„Ich – äh … ich wollte …“, ich deutete auf das Buch, „Recherchieren… für die nächste Sunde bei Professor Draper.“
„Warum habe ich das Gefühl, dass ich dir das nicht glauben sollte?“
„Weiß nicht“, sagte ich und brachte ein Lächeln zustande, „Vielleicht weil ich nicht unbedingt nach einem Streberlein aussehe?“ Versuchte ich es vegebens ins Lächerliche zu ziehen. Alvin schüttelte mit finsterer Miene den Kopf und verschrenkte seine Arme vor seinem gut trainierten Körper. Heute trug er ausnahmsweise mal nicht seine schwarze Lederjacke über dem blauen Hemd und so kamen seine Muskeln noch mehr zur Geltung. Es waren nicht zu viele, genau richtig. Gerade so, dass er als Profifussballer oder Basketballer durchkam. Er lehnte sich an den Schreibtisch und sah auf mich herab „Spucks aus. Du verheimlichst uns doch etwas.“
Ich lachte gekünstelt „Was gibt es vor euch zu verheimlichen? Vielleicht dass ich Blut trinke oder ein Jungvampir bin?“
Alvin ließ das kalt „Du weiß wovon ich rede. Ich bin doch nicht bescheuert. Außerdem habe ich gesehen, wie du die Suchleiste wieder gelöscht hast, als ich gekommen bin.“
„Oh“, machte ich geistreich und gab damit meine Verteidigung auf, „Hast du … na ja…“
„Ob ich gelesen habe, was da stand? Nein. Aber wenn du es so plötzlich gelöscht hast, muss das ja heißen, dass du etwas vor uns verheimlichst.“ Er hob eine schwarze Augenbraue und wartete ab, während ich mich in seinen olivgrünen Augen verlor. Seit er sich vor zwei Tagen die Haare wieder etwas nachgeschnitten hatte, so dass sie ihm nicht mehr vollkommen in das Gesicht hingen, sah er noch besser aus, als sowieso schon. Und immer wenn ich das dachte, fühlte ich mich, als würde ich Erik fremdgehen, dabei tat ich doch nichts, oder? Ich wette um jede Menge, dass er auch anderen Mädchen hinterhersah, seit ich weg war. Aber solange ich mit niemandem flirtete, solange betrog ich Erik doch nicht, oder? Ich drufte Alvin doch gutaussehend finden, nicht? Außerdem liebte ich Erik. Ganz sicher. So sehr, dass ich ihn um keinen Preis der Welt verletzen wollen würde.
„Und? Was sagst du zu deiner Verteidigung?“ Nun war er es, der ein wenig scherzhaft klang. Allerdings nur um die Spannung zwischen uns zu lösen.
„Hm“, machte ich und senkte den Blick, um auf meine unlakierten Nägel zu sehen. Was sollte ich dazu noch sagen? Egal was ich mir jetzt einfallen ließ, er wüsste, dass ich lüge. Ein ergebenes Seufzen entwich mir und ich sah ihm wieder in das Gesicht „Ich weiß nicht, wie ich euch das erklären soll.“
„Wusst ich´s doch“, grinste er triumphierend und ließ die Arme wieder neben seinem Körper hängen, „Sags einfach.“
„Das ist nicht so einfach“, schnaubte ich, verärgert dass ich nachgegeben hatte.
Alvin zuckte die Schultern und sah unschuldig an die Decke „Du vertraust mir also nicht.“
Jetzt sprach er in der Einzahl und irgendwie stimmte mich das ein wenig glücklich.
„Doch“, platzte es mir unwillkürlich hervor und bereute es zutiefst, denn ich war mir nicht sicher, ob das stimmte, „Also … jedenfalls … glaube ich nicht dass ihr irgendwelche Geheimnisse von mir ausplaudern würdet“, wog ich das noch gerade so aus. Das würden sie sicher nicht tun. Aber vielleicht würden sie dann nie wieder etwas mit mir zu tun haben wollen. Und sie waren immerhin die Einzigen, die ich wenigstens ein wenig mochte. Mit denen ich mich nicht einsam oder fehl am Platz fühlte.
„Du musst es ja nicht uns

sagen“, meinte Alvin nur leise und sah auf mich herab, um zu sehen, ob ich die Andeutung bemerkt hatte. Und ja, die hatte ich bemerkt. „Und wer sagt mir, dass ich dir

vertrauen kann?“ Neckte ich ihn.
„Ich sage das.“
„Wo sind deine Beweise?“
„Meinst du sowas, wie ein Liebesbeweis. Sowas wie ein Ehering als Verprechen der Treue und blablabla?“
Ich musste lachen, als er diesen kirchlichen Unterton annahm und wunderte mich darüber, wie ehrlich sich das anfühlte „Ja, genau sowas“, bestätigte ich mit einem Lächeln in den Augen. Er lachte auch und stellte sich nun aufrecht von dem Schreibtisch weg, um sich auf ein Bein zu knien, meine Hand zu nehmen, noch einmal vorher die Augen zu verdrehen und dann ganz ernst zu sagen: „Kate Sayers, hiermit schwöre ich Dir mit meinem Leib und meiner Seele, dass ich, egal was kommen mag, nicht ein einziges Wort über den Tag im Oktober in den Computerräumen der Harras Academy West verlieren, geschweige denn in der Nähe anderer daran denken werde“, jetzt verfiel er in ein etwas dramatischeren Tonfall, „Ich werde dich anbeten und gelobe, ein treuer Diener zu sein, bis dass der Tod uns scheidet…“ Ungewollt prustete ich los und stieß ihn von meiner Hand, während er ebenfalls anfing in mein Gelächert einzustimmen.
„Wow, Alvin, ich hätte nicht gedacht, dass du so ein Spaßvogel sein kannst“, gab ich mit einem Seufzen zu und lächelte ihn an. Irgendwie fing ich an ihn zu mögen. Sonst, wenn wir in der Gruppe waren, war er immer so still und unauffällig, als sei er gar nicht dabei. Ich merkte sogar manchmal, wie sich Kiara ab und an umdrehte, nur um nachzusehen ob Alvin noch bei uns war. Eigentlich schade, denn er konnte wirklich lustig sein.
„Und“, setzte er nun an und setzte sich auf den Stuhl neben mich, „Darf ich jetzt endlich dein Geheimnis wissen?“
„Ich glaube ich kenne niemanden, der so geil auf Geheimnisse ist wie du!“
„Rede nicht!“ Er riss die Augen entsetzt auf, hob die Brauen in die Höhe, und tat so, als sei er schockiert. Dann lehnte er sich zu mir und hielt mir sein Ohr hin „Jetzt musst du dich aber auch an deinen Teil der Abmachung halten“, sagte er grinsend.
„Welche Abmachung?“, Ich musste mir ein Kichern verkneifen. Es gefiel mir, ihn zu ärgern und ihn zappeln zu lassen. Sollte er ruhig noch ein Weilchen neugierig auf mein Geheimnis sein. Er brauchte ja nicht zu wissen, dass ich ihm vollkommen vertraute.
Selbstsicher drückte ich ihn von mir weg, zwinkerte ihn an und verließ den Computerraum.

Hindernisparcour





Da ich heute Nachmittag nicht mehr dazu gekommen war in Ruhe im Computerraum zu recherchieren, nahm ich mir vor zu warten bis die Lichter ausgeschaltet und die meisten Jungvampire schon im Bett waren. Kiara war duschen, während Teela noch bei uns im Zimmer saß (obwohl das um die Uhrzeit nicht mehr erlaubt war) und mit mir Chips aß. Sie schien inzwischen schon beinahe vergessen zu haben, dass Desdemona meine Mentorin war, aber ich wollte das Ganze nicht einfach irgendwo in der Luft herumschweben lassen, also sprach ich sie gleich nach meinem nächsten Chip mit vollem Mund darauf an „Du, sag mal …“
„Hm?“, machte sie und sah mir in die Augen.
„Bist du eigentlich überhaupt nicht mehr böse auf mich?“
Teela kaute ihre Chips nun langsamer, während sie mir forschend in die Augen sah, dann stopfte sie sich wieder die nächste Hand voll in den Mund „Nö.“
„Weißt du, ich habe da etwas gehört.“
„Was´n?“
„Du warst ziemlich eifersüchtig an dem Tag, als Desdemona mich geholt hat.“
„Wie kommst du denn da drauf?“
Ich sah auf die Chipstüte und murmelte: „Josi und Kiara haben es mir gesagt.“
„Was?“, sie hielt mit dem Chip vor ihrem Mund Inne und sah mich aus großen Augen an, „Und ich dachte ich könnte ihnen vertrauen!“ Verletzt steckte sie den Chip weg und wir starrten einige Sekunden schweigsam auf die Paprikachips, auf die jetzt keiner von uns beiden mehr Lust hatte.
„Das kannst du ja auch“, meinte ich dann leise, „Sie haben es ja nur gut gemeint“, ich sah Teela in die Augen, „Und außerdem … wir machen uns Sorgen um dich.“
„Sorgen? Warum macht ihr euch um mich Sorgen?“ Nun zog sie überrascht die Brauen in die Höhe.
„Du weißt doch hoffentlich, dass das mit dir und Desdemona nie etwas werden wird, oder?“, kam ich auf den Punkt.
In dem Moment kam Kiara mit einem Handtuch um den Kopf und den Körper gewickelt in das Zimmer und lächelte uns zu.
„Bei We Are The Night geht das aber“, murmelte Teela, nachdem sie Kiara kurz einen unbedeutenden Blick geschenkt hatte.
„Das ist ja auch ein Film“, beschwichtigte ich sie, „Außerdem ist diese Lena da ja auch zwanzig und nicht sechzehn!“
„Worüber redet ihr?“, fragte Kiara, während sie ein Schlafanzug aus ihrem Schrank suchte.
Teela warf ihr einen giftigen Blick zu „Danke, dass du mich weiterverraten hast, Freundin!“
Kiara sah mich kurz an und dann wieder Teela „Was sollte ich denn tun?“
„Ich habe selber gemerkt, dass irgendwas mit dir nicht stimmt“, pflichtete ich bei, damit der Streit nicht eskalierte.
„Schon gut“, murmelte Teela dann, „Aber verspreche, dass du in deinem Leben – und das kann ziemlich lange sein – nie ein Wort darüber verlierst, klar?!“
„Ehrenwort“, schwor ich.
Auf Teelas Gesicht breitete sich ein Lächeln aus und so kannte ich sie schon besser.
„Verdammt, ich muss noch mal ins Bad, hab dort mein Kleid vergessen“, nuschelte Kiara und raste darauf aus der Tür. Teela und ich sahen ihr nach.
„Um Kiara mache ich mir auch Sorgen. Als Sheryl gestorben ist war sie völlig am Ende und nur einen Tag später macht sie weiter, als wäre nichts passiert.“
„Das ist nur eine Maske“, wusste Teela automatisch darauf zu antworten, „Das macht sie immer. Sie zeigt nicht gerne, wenn es ihr nicht gut geht.“
Es klopfte „Teela? Was machst Du denn noch hier? Geh bitte sofort auf Deine Station! Professor Miller hat schon alle Stationen durchtelefoniert, weil er Dich nicht finden konnte.“ Desdemona öffnete die Tür sperangelweit und machte Teela damit deutlich aus meinem Zimmer zu verschwinden. Gerade dachte ich mir, wie scharf und kalt sich das in Teelas Ohren angehört haben musste, wenn sie doch verliebt in sie war, obwohl sie gar nicht wirklich geschimpft hatte. Teela stand angespannt auf, sah mich an und ich warf ihr noch einen Blick zu der sagen sollte: Kopf hoch! „Und wo ist Kiara?“, fragte Desdemona, als Teela ignorant an ihr vorbeigegangen war. „Duschen“, sagte ich monoton und legte die Chips auf den Schreibtisch neben mir, damit ich die Decke über meinen Körper ziehen konnte.
„Okay. Dann macht bitte nicht mehr zu lange“, sie schenkte mir einen vielsagenden Blick, „Morgen ist Freitag. Das schaffst du doch auch ohen Schwänzen, oder?“
Ich nickte mit zusammengepressten Lippen, als sie zwinkerte und dann die Tür hinter sich zu zog. Oh, Himmel! Wie schnell tauschten sich die Professoren hier eigentlich aus? Ich meine, wann hatten sie überhaupt die Zeit dafür? Ob sie es mit Gedanken teleportierten?
Ich drehte mich zur Wand und sah dann auf den Wecker, den ich immer neben mein Kopfkissen legte. Es war halb Elf. Hoffentlich würde Kiara nicht mehr so lange brauchen und dann schnell einschlafen. Ich musste unbedingt noch heute recherchieren. Fraglich war nur, wie ich an den ganzen Stationen und vorallem an den Zimmern der Mentore vorbeikam. Mir wurde flau im Magen, aber das hielt mich nicht von meiner Entscheidung ab.
Als Kiara endlich ins Zimmer kam, schloss ich meine Augen und stellte mich schlafend. So hätte sie keinen Partner mehr, mit dem sie ihre heutigen Erlebnise bequatschen konnte und würde vielleicht schneller einschlafen. „Kate“, flüsterte sie und beugte sich über mich drüber, um mein Gesicht zu sehen, „Schläfst du schon?“ Sie tippte auf meine Wange und fummelte ein bisschen an meinem Gesicht herum – war das ihre Methode andere aus dem Schlaf zu nerven? Wenn ja, dann sollte ich das vielleicht auch mal anwenden, denn wenn ich wirklich geschlafen hätte, wäre ich jetzt sofort wach. Es nervte tierisch und beinahe seufzte ich erleichtert auf, als sie endlich von mir abließ und mit einem unverständlichem Murmeln zu ihrem Bett rüberging und das Licht ausknipste.
Jetzt musste ich nur noch warten.

Es dauerte ungefähr eine Stunde, bis sie endlich schnarchend eingeschlafen war und lustigerweise erinnerte mich ihr leises Schnarchen ein wenig an eine Katze. Sobald ich mir ganz sicher war, dass sie keine Bombe mehr wecken könnte, stieg ich aus dem Bett, zog mir Socken über, damit man meine nackten Füße auf den Holzböden auf dem Weg zum Computerraum nicht hörte und band meine Haare zu einem Dutt. Dann ging ich so leise wie möglich aus dem Zimmer. Aus Angst, dass das Schloss zu laut zu knacken würde, ließ ich die Tür hinter mir einen Spalt breit offen. Sobald ich aus dem Zimmer auf den Flur getreten war, hörte ich sofort leise Stimmen aus dem Fernseher im Aufenthaltsraum summen und bunte Lichter auf den Boden werfen. Desdemona schien einen Film zu gucken, denn im Stationszimmer war die Tür geschlossen und das Licht aus. Ich fand es nur zu doof, dass Kiara und mein Zimmer sich nur zwei Zimmern vom Aufenthaltsraum und dem Stationszimmer befand, denn so machte es mir das noch schwerer unbemerkt vorbeizukommen. Zum Glück hatte ich schon von Klein auf eine ziemliche Begabung darin zu schleichen, denn so hörte man nicht einen einzigen Schritt von mir. Als ich am Stationszimmer ankam, blieb ich eine Sekunde stehen und spähte in das Zimmer hinein. Desdemona saß mit dem Rücken zu mir auf der blauen Couch und schaute sich einen Film an … We Are The Night. Ironie lässt grüßen. Was Teela wohl denken würde, wenn sie das wüsste! Ich wartete noch die Szene ab, in der Louise Lena über die Lippen streichelte und sie dann biss, dachte mir dabei, was man nur am gleichen Geschlecht so anziehend finden konnte, und dann huschte ich am Aufenthaltsraum vorbei zu der Tür, die nach unten führte. Ich wollte es nicht riskieren, durch den Mädchentrakt zu laufen. So verschlängelt, wie dieses Schloss hier war, musste es ganz sicher auch einen anderen Weg zu diesen Computersäälen geben. Mit Herzklopfen, das Einzige, was gerade Geräusche machte, lief ich die Treppen runter. Jetzt war ich auf Station Eins.. Und … verflucht! Im Stationszimmer brannte das Licht und ich hörte Stimmen aus der Tür. Langsam schlich ich mich eng an die Wand gedrückt bis zum Türrahmen und hielt den Atem an. „Ich weiß nicht, ob sie das schaffen wird“, flüsterte eine männliche Stimme, die ich nicht kannte, „Sie ist zu leichtsinnig, zu naiv.“ Von wem sprachen sie?
„Hören Sie mal, Professor Rowley, mag sein, dass dieses Kind ziemlich unüberlegt handelt, aber dafür hat sie große Begabungen im Laufen und im Reiten. Somit wird sie es ganz sicher schaffen. Ich glaube an sie.“ Das war Aristheas belehrende Stimme. Langsam spähte ich an dem Türrahmen vorbei und stellte mit Erleichterung fest, das gerade beide aus dem großen Fenster am Ende des Raumes sahen. Wenn ich jetzt schnell war, würden sie mich nicht sehen. Mit einem Satz sprang ich leichtfüßig an der Tür vorbei und hinaus aus dem Mädchentrakt. „Ja“, zischte ich leise und grinste, als ich nun endlich … ich sage mal im grünen Bereich war. Hier war mit Sicherheit niemand, der Wache hielt. Sie rechneten ja nicht damit, dass sich ein Jungvampir wagen würde, sich aus seinem Zimmer zu schleichen. Dafür waren sie zu stolz und selbstsicher. Zu mächtig und zu angesehen. Sie dachten, es würde nicht einmal jemand trauen, sich daran zu denken, sich wegzuschleichen.. Tja, dann kannten sie mich leider nicht gut genug.
Als ich vor der Treppe stand, die zu den Zimmern der Mentore nach oben führte, dachte ich nach. Dort oben war zwar der Computerraum, aber ich bezweifelte, dass schon alle Mentoren bzw Professoren schliefen und ich wollte das Risiko nicht eingehen, von ihnen ertappt zu werden. Der Computersaal … ich entschied mich, ihn Bibliothek zu nennen, da es davon überwiegend mehr gab, als Rechner … war auf der östlichen Seite des Gebäudes. Das heißt genau links von mir. Ich hatte heute gesehen, wie vor dem Fenster eine Feuerleiter war. Dann musste es theoretisch doch auch einen Weg nach oben geben, wenn es einen Weg nach unten gab, oder nicht?
Kate, tu nichts Unüberlegtes. Am Ende kommst du nicht mehr in das Gebäude rein und musst draußen schlafen, warnte ich mich. Aber wo sollte ich sonst lang? Ich kniff meine Augen zusammen, atmete tief durch und ging schließlich durch die Mensa hinaus in den Garten. Kalter Wind erschütterte meinen Körper, doch das war mir egal. Jetzt musste es schnell gehen. Ich raste wie eine Wahnsinnige durch das hohe Gras, blieb immer wieder ein paar Sekunden hinter einem rettenden Gebüsch stehen, um sicher zu gehen, dass mich auch keiner Entdeckte. An meinem Ziel angekommen, wunderte ich mich, wie gut meine Ausdauer auf einmal war. Normalerweise konnte ich nicht einmal zehn Meter ohne erschöpft umzukippen, durchlaufen und das hintere Teil der Harras war mindestens hundert Meter lang, genau wie die Vorderseite, was für mich so viel hieß, dass ich ungefähr von der Mitte aus fünfzig Meter gerannt sein muss, Plus den zwanzig Metern um die Ecke bis zur Mitte der Seite des Gebäudes. Hier prankte eine lange Leiter von einem Fenster des fünften Stockes aus an der Wand nach unten. Sie war allerdings zu weit weg vom Boden, als dass ich sie hinauf klettern konnte. „Verflucht“, zischte ich und stampfte mit dem Fuß in die trockene Erde, die wegen der Kälte schon ziemlich hart war. Es war zwar erst Oktober, aber trotzdem schon unnatürlich kalt draußen. „Es muss doch hier noch irgendwo einen verfluchten Weg geben, wie ich da hoch komme!“ Fluchte ich lautstark vor mich hin, plötzlich ohne jede Rücksicht, dass mich jemand hören konnte. Mein Blick schweifte in dem Garten rum, doch ich fand nichts, was ich unter die Leiter stellen konnte. Keine alten Kisten, kein Baumstamm, nichts. Wäre ja zu schön gewesen!
„Also schön“, schnaubte ich, trat mehrere Schritte nach hinten, bis ich mit dem Rücken an der grauen Mauer war, die mich von der Außenwelt trennte, fixierte diese bescheuerte Leiter und raste auf sie zu. So schnell, und das schwöre ich bei meinem Herzblut, war ich in meinem Leben noch nie gelaufen. Ich weiß nicht, ob das in dem Moment nur Dank meinem Adrenalin so war, oder ob das zu einem der neuen Fähigkeiten eines Jungevampiren dazugehörte. Kurz vor der Mauer sprang ich in die Luft, streckte meinen Arm aus und … mit einem lauten – BOOM – knallte mein Körper an der harten Wand ab und ich taumelte unter Schmerzen zurück, bis ich schließlich hinfiel. „Ah, verdammt“, rief ich, als ich sah, wie abscheulich meine Hand sich verdreht hatte. Das sah so unnatürlich aus, dass ich fast wieder in Panik verfiel, doch dazu kam es gar nicht, denn nicht einmal fünf Sekunden dauerte es, bis der Bruch auf einmal verheilt war. „Ist das krass“, flüsterte ich und drehte meine Hand in alle Richtungen, bis ich mir ins Gedächtnis rief, dass dafür keine Zeit war. Entschlossen rappelte ich mich wieder hoch und versuchte es erneut – erfolglos.
Und nochmal ... BOOM.
Auf ein Neues ……………………… mit einem lauten Tennisspieler-Stöhnen sprang ich in die Höhe und schaffte es tatsächlich meine Finger um die unterste Sprosse der Leiter zu klammern. "Oh mein Gott“, keuchte ich, als meine Brust ununterbrochen gegen die Wand stieß, während ich noch in der Luft hin und her taumelte. Als mein Körper nach hinten schaukelte, holte ich noch einmel Schwung und ergriff die Sprosse noch mit meiner anderen Hand, während ich mich mit meinen Füßen von der Wand abstützte und mich so auf die Leiter zog. Als ich endlich sicher auf einer Sprosse stand warf ich meinen Kopf nach hinten und atmete tief aus. Das würde morgen bestimmt Kopfschmerzen geben! Oder Muskelkater. Unbelohnt blieb es auf alle Fälle nicht. Jetzt brauchte ich nur noch die Leiter nach oben klettern und das Fenster der Blibliothek irgendwie von außen auf bekommen. Das müsste zu schaffen sein, denn das Schwerste wäre ja immerhin schon geschafft. Ich kletterte mit Herzdonnern die Leiter nach oben. Mein Blick war starr auf das Fenster gerichtet. Unerwartet und mit einem überdimensional lautem Krächzen, schlug der Flügel einer Krähe vor meinem Gesicht zusammen und vor Schreck ließ ich die Leiter los, so dass ich mehrere Sprossen wieder nach unten schlitterte, und ich nur dem Glück verdanken konnte, dass ich gerade noch rechtzeitig eine Sprosse erwischte und mich wieder hochziehen konnte. „Was zur gottverdammten Hölle war das?“, fluchte ich aufgebracht und musterte das geisteskranke Tier, das immer noch über meinem Kopf herumflatterte und mich förmlich versuchte zu verscheuchen, „Zieh Leine, du dummer Vogel“, knurrte ich und wedelte mit einer Hand über meinem Kopf herum, bis er endlich davon flog. Mann, das war wirklich seltsam. Mit neu gesammeltem Mut kletterte ich die ganzen Sprossen wieder nach oben und kam endlich, endlich an meinem Ziel an. „Und wenn du jetzt auch noch Zicken machts, dann schlag ich dich ein“, zischte ich, als wäre das Fenster etwas Lebendiges. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, dieses Gebäude würde sich gegen mich verschwören, doch wie als hätte mich der leblose Gegenstand gehört, zeigte es mir einen Knauf, auf dem ein Pfeil im Halbkreis in die rechte Richtung deutete. Mit einer Hand hielt ich mich noch an der Leiter fest, während ich mit der anderen den Knauf nach Rechts drehte und das Fenster mit einem leisen Quietschen aufging „Na siehst du, geht doch.“ Mit einem selsbtsicheren, und zufriedenem Lächeln kletterte ich durch das Fenster und war endlich in dieser Fuck-Bibliothek.
Was mich dort erwartete, hätte ich im Leben nicht geahnt.
Doch jetzt war es zu spät.

Mit dem Bösen in einem Raum





Noch einmal sah ich mich auch in der Bibiothek um, dass sie auch wirklich leer war. Aber hier schien niemand mehr zu sein. Wer denn auch? Ich wette keiner hatte den Mut sich aus dem Zimmer zu schleichen. „Also gut“, seufzte ich erleichterte und setzte mich an einen Rechner, diesmal an einen, der etwas schneller startete, als der von heute Nachmittag. Seltsamerweise kam mir das Surren des Computers unnatürlich laut vor in dieser beißenden Stille, doch ich beruhigte mich immer mit dem Gedanken, dass ich noch genug Zeit hätte, um durch das offen gebliebene Fenster zu springen und wieder davon zu laufen – falls ich mir nicht alle meine Knochen dabei brach.
Wie heute schon einmal, gab ich die meine besagte Suche ein „Außergewöhnliche Visionen“, und kam mir dabei vor, als hätte ich ein Dejavúe, während ganz viele Treffer erschienen – nach meinem Geschmack leider ein bisschen zu viele. Wo sollte ich bloß anfangen? Seufzend klickte ich auf das erste Ergebnis, doch ich fand nichts weiter als irgend so einen Quatsch über Wahrsager und ihre Tricks die Leute übers Ohr zu hauen. Und das folgend die weiteren Ergebnisse auch „Ihr dummen Menschen“, keifte ich entnervt. Mit meinen Fingernägeln auf den Tisch trommelnd grübelte ich, während ich auf die Tastatur sah. Das Internet würde mir nichts Hilfreiches an Informationen rausspucken. Aber vielleicht die Bücher? Ich drehte mich um und sah die vielen, vielen Bücherregale, die alle identisch aussahen, ohne jegliche Beschriftung. Alle nur groß und aus schwarzem Holz. Ich hörte förmlich, wie sie mich auslachten. Wenn ich etwas finden wollte, würde ich bis morgen Früh hier suchen müssen. „Ihr wollt mich provozieren, was?“, flüsterte ich zu den abermillionen Büchern, die mir spöttisch entgegengrinsten, „Also schön!“ Ich erhob mich von meinem Stuhl streckte meine Arme und meinen ganzen Körper, bevor ich beim allerersten Regal anfing die Bücher in meinem schnellsten Tempo durchzuschauen. Doch mit dem ersten Regal allein war ich in einer ganzen Stunde noch nicht fertig und ich hatte das Gefühl einen Nervenzusammenbruch zu erleiden. Wütend schmetterte ich das letzte Buch aus dem Regal gegen die Wand „Argh, so wird das doch nie was“, knurrte ich aufgebracht und ließ mein Gesicht in meinen Händen verschwinden, um mich zu beruhigen. Auf einmal hörte ich ein Atmen. Ein kaltes, schauriges, langgezogenes Atmen, was mein Kopf hochfahren und mich wild umsehen ließ „Ist da jemand?“, fragte ich leise in die Stille und versuchte etwas in den Schatten der Bücherregale zu erkennen. Nur der abnehmende Mond verschaffte mir die Möglichkeit noch ein wenig zu erkennen. Jetzt hörte ich Schritte. Es waren Schritte. Eindeutig. Ich wusste nicht von wo sie kamen. Sie hallten von allen vier Wänden ab und schlichen sich in meine Richtung „Wer ist da?“, fragte ich mit einem Zittern in der Stimme und fing an rückwerts auf das offene Fenster zuzusteuern. Obwohl ich dachte, diese Schritte würden gleich schneller werden, um mich vom Fliehen abzuhalten, blieben sie immer noch langsam und gelassen, als würde der oder diejenige einen ganz normalen Spaziergang im Park machen. Mein Herz donnerte und ich versuchte mir einzureden, dass es vielleicht nur ein Professor war, der mich entdeckt hatte, doch … mein Bauch rumorte und mir wurde schlecht. Das, was hier im Raum war, war nicht gut. Es war etwas Böses. Etwas, was die Atmosphäre zerstörte. Als würde sich die Natur gegen diese Gestalt wehren. Es passte nicht hierher. Nicht in diese Welt.
Die Schritt wurden lauter, umso näher ich dem Fenster kam. Ich ließ die Schatten der Bücherregale nicht aus dem Blick und versuchte immer noch vergebens herauszuhören, von wo sich mir der Feind näherte. Ich traute mich nicht mehr zu reden, nicht mehr zu atmen.
Bücher fielen aus den Regalen.
Erst ganz hinten.
Dann ganz vorne.
Dann links.
Dann rechts.
Ich kam gar nicht mit den Kopfbewegungen hinterher und ich spürte, wie sich mir der Schweis auf der Haut bildete. Meine Unterlippe fing vor Angst an zu zittern.
Ich hörte ein leises Rauschen, und darauf wie der Computer, an dem ich gesessen bin, auf einmal blau wurde und eine Musik abspielte: Lollipop von The Chordettes.
Mein Herz raste so schnell, dass ich mit dem Atmen nicht hinterherkam. Es störte meine Bewegungen, ließ meinen Körper erzittern. Die Musik war ganz leise und machte mir mehr Angst, als wenn irgendeine Psychomusik im Hintergrund gespielt hätte. Endlich sah ich eine Gestalt direkt mir gegenüber bei den Bücherregalen. Die Augen leuchteten. Ich biss meine Zähne zusammen, um nicht loszuschreien. Wer es war, konnte ich nicht erkennen. Für mich war es gerade einfach nur der schwarze Mann. Der Boogeyman, das Monster im Schrank … all die Alpträume, die ich als Kind hatte, alles wovor ich als kleines Mädchen am meisten Angst gehabt hatte. Das Fenster hinter mir flog zu. Und genau in dem Moment reagierte endlich mein Körper. Ich riss meinen Kopf herum, raste auf das geschlossene Fenster zu und drehte am Knauf. Er öffnete sich nicht „Scheiße“, fluchte ich zitternd. Ich zerrte und klopfte an dem Fenster, doch es ließ sich nicht öffnen. Der Fremde hinter mir bewegte sich immer noch so langsam auf mich zu, wie als ich noch gestanden bin. Als hätte er keine Bedenken dabei, dass ich floh … weil er genau wusste, dass ich nicht fliehen konnte. „Scheiße“, fluchte ich noch einmal und diesesmal war meine Stimme gleich mehrere Oktaven zu hoch vor Angst. Ich lief zum nächsten Fenster. Meine Hände waren schweisnass und rutschten bei jedem Knauf ab. Entweder war ich in meiner Panik gerade einfach zu blöd um das Fenster zu öffnen, oder … Bebender Schock packte mich … oder er hatte sie allein durch seine Gedanken abgeschlossen. Alle.
Ich drehte mich wieder zu ihm um und drückte mich an die Wand, wünschte mir, eins mit ihr zu werden und zu verschwinden. Er kam mir immer näher doch ich sah ihn immer noch nicht. Er war bloß ein schwarzer Schatten in der Dunkelheit. Neben mir stand ein Bücherregal. Ich hatte nicht gemerkt, dass ich bis an die Ecke alle Fenster durchgerüttelt hatte. Ich wollte schreien, doch ich konnte nicht. Meine Angst schnitt mir die Stimmbänder durch und ich konnte nur noch nach Luft schnappen, um nicht zu ersticken. Ich musste mich erinnern: Atme, Kate, atme, denn mein Körper war zu dieser eigentlich so selbstständigen Sache nicht mehr fähig. Meine Brust hob und senkte sich, während er sich mir näherte … und näherte … und näherte.
Mit einem erlösenden Wutschrei riss ich das Bücherregal in meine Richtung, so dass es mit einem lauten Knall vor mir auf den Boden flog und dem Fremden den Weg versperrte, während ich aus meiner Sackgasse lief und bei den ganzen labyrinthartigen Gängen der Bücherregale Schutz suchte. Ich musste mich verstecken! Irgendwo musste ich mich verstecken! Ich keuchte, stieß die Luft aus und sog sie wieder ein. Mein Kopf arbeitete, doch er fand keinen Halt. Wie eine Festplatte ohne Daten. Sie konnte nichts finden, weil es nichts gab. Wo sollte ich mich verstecken? Ich lief weiter, blieb nicht stehen. Er folgte mir. Ich spürte es. Er war dicht auf meinen Fersen, aber holte mich nicht ein, weil er immer noch in Schritttempo lief, während ich um mein Leben rannte – Wort wörtlich. Plötzlich hörte es auf…
Dieses Gefühl seine Nähe zu spüren.
Er war stehen geblieben.
Mit Herzdonnern hielt ich abrupt an und sah mich um. Wo konnte er hin sein? Schweis lief mir an meiner Schläfe entlang über meine Wange. Ich merkte, wie mein Keuchen in hilfloses und hysterisches Schluchzen der Angst übergegangen war. Ich durfte nicht stehen bleiben. Er würde mich kriegen. Und wenn ich nicht floh, dann früher, als später. Ich lief weiter, einfach dem Mondlicht entgegen, wo die Fenster waren.
Die Schatten und Bücherregale, genau wie die Sessel verschwammen zu diesem grauen Nichts aus meinem Traum, in dem ich diesem Jungen begegnet war, nur dass dieses Nichts hier nicht grau, sondern schwarz war. Schwarz, und leer. Ich wusste nicht mehr, wo ich hinlief, wusste nicht, wo ich mich befand, aber weit konnte ich ja nicht gekommen sein. Ich konnte schließlich nur im Kreis laufen. Die Bibliothek hatte weder eine Treppe nach unten, noch nach oben. Während ich durch das Nichts irrte, fragte ich mich, ob die Musik immer noch lief, oder sie sich nur in meinen Kopf gebrannt hatte und ich sie dort hörte.
Call my Baby Lollipop tell you why
His kiss is sweet than an apple pie
And when he does his shaky rockin’ dance
Man I haven´t got a chance I call him …


„Nein“, flehte ich und spürte erst jetzt, wie mir heiße Tränen über die Wangen liefen. Nein, sie flohen. Sie flohen genau wie ich. Selbst sie flohen vor dem Bösen. Eine Störung der Atmosphäre.
Ein Flügelschlag unterbrach meinen Tunnelblick und ich sah wieder die Sessel und Bücherregale um mich herum. Der schwarze Schwan, der mir entgegengeflogen kam, erwischte mich mit einem Flügel im Gesicht und ein beißender Schmerz brannte in meiner Wange. Ich taumelte zurück und stieß gegen etwas. Als ich mich umdrehte, sah ich direkt in das Gesicht … es war kein Gesicht. Ich schrie, denn der Mann, der diese Maske eines Schwanes trug, packte mich an den Armen. Die Musik in meinem Kopf wurde lauter, vermischte sich mit dem seltsamen Geräusch, welches der Schwan, der über meinem Kopf immer und immer wieder mit dem Zusammenschlagen der Flügel verursachte, und alles fing sich an zu drehen. Ich presste mir die Hände auf die Ohren, so weit es möglich war und kniff die Augen zusammen, die mir vom Weinen schon brannten. Ich wollte das nicht hören.

Crazy way he thrills me tell you why
just like a lightning from the sky
he loves to kiss me till I can't see straight
gee my lollipop is great I call him …


Lollipop, Lollipop, oh Lolli-Lolli-Lolli
Lollipop, Lollipop, oh Lolli-Lolli-Lolli

 


Lollipop, Lollipop, oh Lolli-Lolli-Lolli

 


Lollipop, Lollipop, oh Lolli-Lolli-Lolli

 



Mein Kreischen durchbrach den Wahnsinn in meinem Kopf, das Licht ging an, die Tür wurde aufgerissen, die starken Hände, die meine Knochen zu zerbrechen drohten, ließen von mir ab, das Flattern des Schwanes verschwand mit der Musik und es wurde schwarz vor meinen Augen. Ich sackte zusammen.

Ich habe es gesehen, Kate





Ich spürte etwas Kaltes in meinem Gesicht. Etwas Kaltes, Nasses … ich hustete, als ich mich an dem Wasser verschluckte und drehte mich auf meinen Bauch, um mich dann mit Armen und Beinen, wie ein Hund vom Boden abzustemmen und das Wasser wieder auszuhusten. Ich sah auf den roten Teppich, der zu der Bibliothek gehörte. Fast hätte ich wieder das Schreien angefangen, als ich mich erinnerte, wo ich war und wie ich hergekommen bin … was passiert war. Doch eine warme Hand auf meinem Rücken und vertrautes Gemurmel in meinen Ohren verhinderten die Panik wieder aufsteigen zu lassen. Es war zwar hell, aber es war noch nicht Tag. Sie hatten nur das Licht angemacht, als sie mich entdeckt hatten. Ich sah kein Gesicht, weil ich zu schwach war, um den Kopf in das Licht zu heben, aber ich sah viele, viele nackte Beine oder Beine in schwarzen Hosen – je nachdem, ob es eine Frau oder ein Mann war. Ihre Zehenspitzen zeigten alle im Kreis auf mich, während schräg vor mir jemand kniete. Derjenige, der mir auch die Hand auf den Rücken hielt. „Kate, bist du in Ordnung?“, Desdemonas Stimme fühlte sich für mich an wie Seide, wie Watte, die mich schützend einhüllte und ich fühlte wie mein Herz wieder anfing zu rasen. Nicht aus Angst, sondern aus Erleichterung. „Was ist denn passiert?“ Sie hob mein Gesicht mit einem ihrem Finger und ich sah in ihr schönes, vertrautes Gesicht.
Kein Schwan.
Kein böser, schwarzer Mann.
Sie war gut.
Sie war nicht gefährlich.
„Er war hier“, wimmerte ich nur schwach und war verwundert, dass meine Stimme immer noch so zitterte. „Der Schwan, Kate? War es der Schwan?“, fragte sie leise und hielt meinen Kopf immer noch mit ihrem Finger. Sie wusste, wenn sie ihn loslassen würde, würde er wieder in die Tiefe sacken. Er fühlte sich so schwer an!
Ich nickte.
„Hat schon jemand Aristhea informiert?“, rief sie nun in den Kreis, der sich um uns gebildet hatte. Auch ich sah nach oben und bemerkte bedauerlich, wie sich selbst die Jungvampire vor der Tür der Bibliothek versammelt hatten und versuchten zu erkennen, was passiert war, doch einige der Professoren hielten sie davon ab, den Raum zu betreten und baten sie wieder in die Zimmer zu gehen. Nach und nach verschwanden sie … Nur Cassidy … sie war die Einzige, die wenige, aber dafür entscheidende Sekunden länger in der Tür stand und direkt in meine Augen sah. Dann ging sie auch.
Ich ließ meinen Kopf wieder fallen und die Schultern zusammensacken, doch Desdemona hielt mich noch vor dem unbewussten Knall auf den harten Boden auf, indem sie mich an den Schultern packte und aufrecht hielt.
„Wo ist sie?“, hörte ich Aristheas besorgte, energische und wuterfüllte Stimme zu mir dringen. Ein Weg machte sich für sie frei, indem die Professoren zur Seite gingen und sie durchließen. Aristhea schnellte zu mir auf den Boden und nahm mich Desdemona aus der Hand. Sie streichelte mir über das Haar, das Gesicht, die Augen, Lippen, Ohren … „Oh Gott, Kate! Bist du in Ordnung? Wurdest du verletzt?“
Ich zuckte die Schultern, hielt aber Inne, als ich mich an den Flügel des Schwanes erinnerte und deutete auf meine linke Wange „Ich glaube er hat mich geschnitten“, flüsterte ich. Aristhea schaute auf die Stelle, wo ich hingedeutet hatte, dann schüttelte sie allerdings den Kopf „Das scheint wieder verheilt zu sein.“ Sie streichelte mir ganz oft über die vorher noch wunde Stelle und gab mir dann sogar einen ganz sanften, und zarten Kuss auf die Wange. Dann ließ sie mich mit einer Hand los und biss sich in den Unterarm „Hier, trink das.“ Sie hielt mir ihr blutendes Handgelenk entgegen und ich drückte meinen Kopf in ihre Hand nach hinten, weil ich nicht wollte. Sie aber ließ meinen Kopf nicht los und hielt mir ihren Arm weiter hin „Bitte, Kate. Du brauchst das. Es wird dir gut tun.“
Ich sah jedem einzeln in die erwartungsvollen Gesichter, bis Aristhea es merkte und die Professoren dankbar ansah „Vielen Dank. Dafür werdet ihr noch belohnt werden. Aber jetzt lasst uns bitte allein“, bat sie leise. Die Professoren nickten und verließen schweigend den Raum, außer Desdemona, die immer noch neben mir und Aristhea saß und meine Hand hielt. Aristhea biss sich noch einmal in die gleiche Stelle, da die Wunde inzwischen wieder verheilt war und hielt mir erneut den Arm hin „Jetzt komm schon“, whisperte sie beinahe quengelnd, „Nur ein wenig, damit du wieder stärker wirst.“
Lange starrte ich das Blut mit einem Gefühl von Widerwertigkeit und großem Verlangen an. Eigentlich wollte mein ganzer Körper dieses Blut schmecken. Mein Kopf, mein Herz, mein Mund … alles … aber … nichts aber. Ich näherte mich ihrem Arm, stieß meine Fangzähne aus, bohrte sie weiter in die schon offene Wunde und sog das Blut in mich hinein, das mich von neuem Leben erfüllte. Ich schloss die Augen, nahm meine Hand aus Desdemonas und drückte Aristheas Arm fester an meinen Mund, in der Hoffnung, so würde sich mehr Blut in ihm sammeln. Überrascht hörte ich, wie Aristhea leise stöhnte, den Kopf hinter warf und die Augen schloss. Ich sah sie an und wusste, durch das Prickeln in meinen Augen, dass mein Gesicht sich gerade wieder verwandelt hatte.
Ich ließ schließlich von ihr ab und stellte mir die normale Kate vor. Das Prickeln in meinen Augen verschwand, meine Fangzähne zogen sich zurück und ich schleckte mir das Blut von den Lippen.
Mir ging es besser.
Die Wunde an Aristheas Arm verschwand und sie streichelte mir noch einmal über den Kopf, bevor sie sich erhob und sie und Dedemona mir nach oben halfen.
„Du wirst keinem von dem Vorfall erzählen, Kate.“
Owbohl sie das so sanft und vorsichtig wie möglich aussprach, hörte ich die Macht und das unausweichliche Befehl in ihrer Stimme.
Ohne Wiederrede nickte ich.
„Desdemona, bitte bring sie in ihr Zimmer. Und sperr die Tür ab.“
Mit dem Satz verließ sie die Bibliothek und ich war allein mit Desdemona. Hilfesuchend sah ich ihr in die Augen, doch sie sah mich nur mit einem kalten Blick an. Jegliche Sorge von eben war verschwunden „Wie kommst du eigentlich auf die Idee, dein Zimmer zu verlassen und dich davon zu schleichen?“, schimpfte sie mich und packte mich am Handgelenk, ohne mir weh zu tun, „Kannst du dir vorstellen, was für Vorwürfe ich mir gemacht habe? Du hättest sterben können“, sie lachte auf, „Gott bewahre! Wären wir bloß eine Skunde später gekommen …“ Sie schüttelte den Kopf und ich folgte ihr den ganzen Weg bis zu meinem Zimmer zurück, wo sie noch wartete, bis ich im Bett lag „Ich sperre für die restliche Nacht das Fenster und die Tür ab. Falls du wieder auf dumme Gedanken kommen solltest …“ Als sie das Zimmer verließ, hörte ich noch das Schloss rausfahren und jetzt war ich eingesperrt. Wie in der Irrenanstalt,

dachte ich.
Aber wenigstens war ich jetzt sicher.

Ich wachte ungefähr viertel vor Acht in der Früh auf und mein allererste Blick fiel auf Kiara, die entnervt, mit finsterer Miene auf dem Bett saß „Warum. Ist. Unser. Zimmer. Abgesperrt?“
„Dir auch einen guten Morgen“; murmelte ich und richtete mich auf. Kiara war glaube ich die Einzige gewesen, die nichts von dem, was gestern passiert war, mitbekommen hatte. Sie hat geschlafen wie ein Stein.
„Ich komme zu spät zum Unterricht“, knurrte sie, stand auf und klopfte an der Tür.
Während sie wartete, dass ihr endlich jemand öffnete, zog ich mich in aller Ruhe an und band mir meine Haare, wie eigentlich immer, die letzten Tage, zu einem Seitenzopf, um mein Tattoo zu verdecken … aber … ich hielt Inne, bevor ich es auf meine Schulter legte, denn es hatte sich verändert. „Kiara“; flüsterte ich, ohne meinen Blick von dem Motiv zu heben.
„Ich klopf doch schon aber die machen nicht auf, Mann!“
„Nein“, flüsterte ich, „Das meine ich nicht. Schau mal …“
„Hä ? … was?“ Sie drehte sich verwirrt in meine Richtung und bemerkte sofort meine Starre, „Hey, Kate, alles in Ordnung? Was ist denn…“, als sie zu mir an den Spiegel eilte brach sie im Satz ab und starrte auf die Feder, die an der Spitze als lauter, kleinen Vögeln verschwand. Sie flogen davon, und es sah so aus, als würde sich die Feder dadurch nach und nach auflösen zu wollen.
„Isdaskrass“, sagte sie mit einem einzigen Atemstoß und hielt sich die Hand vor den Mund, „Hat das schon jemand gesehen???“
Ich schüttelte den Kopf „Nein. Ich habe es auch gerade erst bemerkt.“
Die Tür ging auf „Ach, ihr seid ja schon wach“, bemerkte Desdemona, während ich meinen Zopf wieder auf das Tattoo schnellen ließ und wir sie beide ansahen. Kiara sah mich noch kurz undeutsam an, dann schmiss sie sich ihre Tasche um die Schultern „Warum war heute Nacht unser Zimmer abgesperrt?“, fragte sie und ging an Desdemona vorbei aus der Tür.
„Eine Maßnahme von Aristhea. Sie wird wissen, warum sie das gemacht hat“, antwortete sie bloß monoton, während sie mir unauffällig einen Blick zu warf und hinter sich und Kiara die Tür schloss.
Oh Himmel, was sollte ich jetzt bloß machen? Dieses Tattoo schien mit den Bösen Dingen, die mit mir passierten, zu wachsen, und das konnte einfach nichts Gutes heißen. Mein Kopf fing an zu brummen und ich war es satt, mit solcher Angst und Ungewissheit durch die Gänge der Harras Academy zu rennen. Warum konnten scheinbar alle außer mir dieses Erlebnis genießen? Ob ich vielleicht einfach nur zu pessimistisch dachte?
Ach, Granny, wärst du jetzt bloß hier – meine Gedanken machten Halt, als mir einfiel, dass heute Freitag war. Vielleicht konnten mich meine Eltern morgen besuchen? Und am Sonntag könnten Helena und Erik kommen! Endlich, nach Langem bildete sich ein Lächeln auf meinem Gesicht und ich freute mich. Ja, genau so musste ich durch die Gegend laufen und nicht anders. Wild davon überzeugt, dass dieser Tag heute anders werden würde als die anderen, machte ich mich auf zum Unterricht und beschloss heute Spaß zu haben.

Gut, dass mit dem Spaß war nur eine Voraussetzung, die ich während dem Unterricht bei Professor Draper nicht einhalten konnte. Es war so stinklangweilig, denn er wiederholte ununterbrochen das Thema von gestern: Gaben, Verwandlung und Tralala.
Langsam hatte ich übrigens das Gefühl, dass Professor Draper mich nicht leiden konnte. Denn immer wenn ich mich für eine Frage meldete, verfinsterte sich seine Miene, wenn er meinen Namen aufrief, anders, als bei den anderen. Als hätte er Angst, dass ich ihm, wie so oft, eine Frage stellen würde, auf die er keine Antwort hatte.
Oder auf die er keine Antwort haben wollte, war meine etwas neuere Theorie.
Während alle anderen an einem Arbeitsblatt arbeiteten, kam Professor Draper zu mir und legte mir ein Blatt auf den Tisch „Das sind deine Kurse, die du ab nächster Woche besuchen musst“, nuschelte er durch seinen Bart und ging wieder auf seinen Platz.
Mein Blick fiel auf das Blatt:
Montag:
16:00 Uhr – 17:15 Uhr
Verteidigung
Dienstag:
17:00 Uhr – 17:30 Uhr
Laufen
Donnerstag:
8:00 Uhr – 10:00 Uhr
Reitkurs
17:00 Uhr – 17:30 Uhr
Klettern


„Ach ja“, fügte noch Professor Draper hinzu, „An den Tagen, wo du um sechzehn Uhr oder zwei Kurse an einem Tag hast, hast du nur vier Stunden Unterricht.“
Ich nickte einmal und steckte das Blatt in meine Mappe.

Als es zur ersten Pause klingelte, die zwischen Zehn und halb Elf war, freute ich mich das erste Mal, seit ich hier war, so richtig auf das Essen. Mein Magen fühlte sich an, wie ein großes leeres Loch und ich konnte schwören, dass ich zwei Bären auffressen hätte können. Doch so weit, dass ich die Mensa betrat, sollte es gar nicht kommen.
„Kate … hey, Kate, warte!“ Cassidy lief hinter mir her, holte mich auf und stellte sich mir in den Weg. Meine Miene verfinsterte sich. So würde ich den heutigen Vorsatz, bezüglich dem Spaß haben, mit großer Sicherheit nicht durchstehen. „Was willst du?“, fragte ich giftig und blieb stehen. „Was ist gestern dort oben passiert?“, fragte sie und kam damit gleich auf den Punkt, womit sie mich auf den Boden der Realität zuirückschleuderte. Ich durfte keinen Spaß haben. Irgendetwas hatte es mir verboten. Und ich hatte das Gefühl, dass es ganz stark mit dieser Harras Academy zusammenhing.
„Das geht dich einen Scheißdreck an“, keifte ich und wollte an ihr vorbei, doch Cassidy drückte mich an der Schulter zurück und gab mir zu verstehen, dass sie noch nicht fertig war „Außer dem Schwan war noch etwas in diesem Raum“, wusste sie und sprach so leise, dass ich sie kaum hörte, obwohl ihre Lippen meine Ohren berührten, „Wer war das?“
„Woher weißt du das?“, fragte ich und versuchte die Angst und Unruhe, die sie damit in mir geweckt hatte, zu ignorieren.
„Ich habe es gesehen“, whisperte sie in mein Ohr und sah mir dann in meine Augen, in denen sich mein Gesicht widerspiegelte. Unsere Gesichter waren so nah, dass ich ihren fruchtigen Atmen spüren konnte, und jeder Mensch mit gesunden Augen denken würde, wir würden uns gleich küssen. Ihre katzengelben Augen wanderten auf mein verdecktes Schlüsselbein und sie hob ihre blonden Haare von der Schulter „Siehst du. Ich weiß, dass deins genauso aussieht.“ Sie hatte Recht. Identisch. Aber das war es nicht, was mich verwirrte „Wie hast du das gesehen? Und was hast du gesehen?“
Cassidy ließ ihre Haare wieder auf die Schulter fallen „Alles“; sagte sie nun in normalem Tonfall und zog ihren Kopf wieder zurück. Ein bittersüßes Lächeln bildete sich auf ihrem Gesicht, denn sie hatte gemerkt, dass die gesamte Mensa ihre Köpfe zu uns gedreht und beobachtet hatte. Auf keinen Fall wollte sie ihren guten Ruf als „Everybodys-Darling“ verlieren. Ich musste fast kotzen, als ich mir eingestand, dass sie wahnsinnig gut schauspielte. Das, was sie sagte, passte absolut nicht zu ihrer Mimik, aber so dachten die Jungvampire in der Mensa, dass wir ein ganz normales Gespräch unter Freunden führten. Allein Kiara und Co. konnten wissen, was für ein falsches Spiel sie trieb.
„Es war, als würde ich durch deine Augen sehen“, sagte sie und spielte mit ihren Haaren herum, „Ich habe alles gesehen, was du gesehen hast, und es wie als Albtraum empfunden, aber als ich durch das Kreischen wach geworden bin, wusste ich, dass das kein Traum sein konnte, wenn ich es selbst mit offenen Augen noch sah.“
„Du konntest es sehen?“, fragte ich fassungslos.
Cassidy nickte stumm.
„Warum bist du nicht gekommen, um mir zu helfen?“, schrie ich sie nun an und ich fühlte, wie sich mir Tränen in die Augen bahnten.
„Was sollte ich denn tun, Kate? Ich habe doch gesagt, ich dachte, es sei ein Traum gewesen. Außerdem mussten die Professoren diese Tür mit einem Stahlhebel aufbrechen, weil sie nicht aufging. Denkst du, ich hätte auch nur die leiseste Chance gehabt, dort rein zu kommen?“
„Du wolltest mir gar nicht helfen“, bemerkte ich leise.
„Sei nicht albern“, seufzte sie und ich merkte, wie ihre Maske langsam aber sicher fiel.
„Du wolltest mir nicht helfen. Vielleicht wärst du ja froh, wenn ich dir endlich nicht mehr im Weg stehe.“
„Na sicher. Hast du jetzt auch noch Wahnvorstellungen und hörst Stimmen in deinem Kopf?“, sie lachte bitter, „Ich bitte dich, Kate. Das hier alles ist eine Vampiracademy. Denkst du, da ist es außergewöhnlich, so etwas, wie das gestern in der Bibliothek zu erleben?“
„Ich weiß es nicht“, flüsterte ich und meine Stimme hörte sich seltsam besiegt an. Eine Träne lief mir über die Wange und mir war der Appettit auf einmal vergangen. Mit einem leisen Kopfschütteln kehrte ich um und verzog mich auf der Toilette – mein heiliger Platz, dem ich dankbar war, irgendwo alleine sein zu können.
Ich schloss mich in eine Kabine ein und versuchte mich zu beruhigen.
Du wolltest heute Spaß haben, Kate. Schon vergessen?


Mein Blick fiel auf meine schwarzen Ballerinas. Ich zog meinen nackten Fuß heraus und betrachtete den Zehring, den mir Teela geschenkt hatte.
Der Ring zeigt uns, dass wir unser Ziel erreichen und auch alle fünf Federn haben werden


Hallte ihre Stimme in meinem Kopf wider und ich musste lächeln. „Ja, Teela. Wir werden alle fünf Federn haben und es gemeinsam schaffen. Wir alle“, sagte ich bestimmt leise und mir lief eine Träne über die Wange.
Mit einem tiefen Seufzen steckte ich mein Fuß wieder in meine Ballerinas und erhob mich von dem Klodeckel, um wieder nach draußen in die Mensa zu gehen und mich zu Kiara und Josi zu setzen. Ich stellte mich vor den Spiegel, wusch mir noch davor kurz die Hand mit kaltem Wasser und trocknete sie ab, als ich auf einmal ein Atmen hörte, dass mir die Nackenhaare zu Berge stellen ließ „Nein“, flehte ich und fing an meine Hände hastiger in dem Tuch abzutrocknen, „Bitte nicht!“
Es atmete noch einmal.
Mein Herz fing an zu rasen.
Das Atmen aus der Bibliothek von heute Nacht!
Mit zitterndem Körper bückte ich mich und sah unter die Kabinen. Es war nichts zu sehen.
Hast du jetzt auch noch Wahnvorstellungen und hörst Stimmen in deinem Kopf?


Cassidy hatte Recht. Vielleicht bildete ich mir das alles nur ein.
Ich hörte etwas in einer Kabine bewegen und gleich darauf folgend erkannte ich einen Schatten auf den weißen Fließen, die aus der Kabine zwei Türen vor dem Ausgang kam. Die Klinke wurde langsam nach unten gedrückt und bevor ich wirklich darüber nachdenken konnte, raste ich an dem Mann mit der Maske, der aus der Tür trat vorbei, schaffte es gerade noch, durch seine Finger zu laufen, aus der Tür zu stürzen und im Gang der Lehrsääle Cassidy in die Arme zu laufen. Mein Atem ging flach und ich fing beinahe wieder an hysterisch zu werden, wie gestern Nacht.
„Ich habe ihn gesehen“, sagte Cassidy mit weit aufgeschlagenen Augen, „Und bin deshalb hierhergekommen.“
Seltsamerweise war ich noch nie so froh gewesen, dass Cassidy da war.
„Er ist da drinnen“, sagte ich leise mit zitternder Stimme und deutete auf die Tür der Mädchentoiletten. Cassidy und ich wechselten Blicke, bevor wir uns dann gemeinsam der geschlossenen Tür, aus der ich geflüchtet war, näherten.
Mein Herz klopfte wie ein Donnerschall und das Blut rauschte in meinen Ohren vor Adrenalin.
Cassidy zögerte gar nicht all zu lange, als sie die Klinke runterdrücke und die Tür mit ihrem Fuß auftrat, während wir gleichzeitig zur Seite sprangen, aus Angst, er oder es würde uns sofort angreifen doch es blieb still.
Cassidy stellte ein Fuß zwischen die Tür, damit sie nicht wieder zufiel und öffnete sie dann mit der Hand. Sie stellte sich in den Vorraum der Toillette und sah sich um. Es geschah nichts. Er war weg.
Genauso schnell wie er gekommen war.
Mit einem Runzeln auf der Stirn kam Cassidy wieder aus der Toilettenkabine.
„Nichts“, murmelte sie.
Ich schüttelte bloß den Kopf, ließ ihn hängen und machte mich auf den Weg zur Mensa.
Cassidy war mir mit nur wenigen Metern Abstand gefolgt und setzte sich zu ihrer neuen Clique.
„Wow, was ist dir denn über die Leber gelaufen?“, fragte Kiara, als sie mich sah, „Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen!“
Ich musste bitter über ihre Bemerkung lächeln.
Oh, Kiara, wenn du wüsstest, wie du ins Schwarze triffst!


„Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragte Josi und legte mir eine Hand auf die Stirn, „Mann, Kate, du glühst ja!“
Ich hob den Blick und sah ungewollt in Alvins Augen, der versuchte schlau aus mir zu werden. Wenn er bis jetzt noch Zweifel an einem Geheimnis von mir gehabt hatte, dann waren die in dem Moment mit Sicherheit alle verschwunden.
„Warum hast du mir eigentlich nichts erzählt?“, fing Kiara murmelnd an und zupfte an meiner roten Schleife, „Was gestern in der Bibliothek passiert ist.“
Ich sah Josi, Teela, Alvin und Lukas abwechselnd in das Gesicht.
Josi zuckte die Schultern „Sorry Kate, aber die ganze Academy weiß eigentlich davon. Wer hätte damit gerechnet, dass scheinbar nicht einmal ein Bombenanschlag Ms Baker aus dem Schlaf geweckt hätte?“
„Und deswegen war also unser Zimmer abgesperrt?“, fragte sie und sah mich an.
Ich zuckte die Schultern. Aristhea hatte mir verboten, auch nur mit irgendjemandem darüber zu sprechen.
„Find ich übrigens oberhart, wie du dich getraut hast einfach davon zu schleichen“, grinste Teela und schlürfte genüsslich ihre Pfannkuchensuppe.
Ich aß schweigend meine Nudeln mit Gulasch weiter.
„Wie hast du das geschafft?“, fragte Lukas.
„Dass ich nicht einmal etwas bemerkt habe! Hast du dich dorthin gebeamt?“, fragte Kiara scherzhaft.
„Das würde mich jetzt aber auch mal interessieren, wie du es an den ganzen Nachtwachen vorbeigeschafft hast“, meinte Josi.
Wütend ließ ich die Gabel in meine Schüssel fallen, stand auf und verließ die Mensa.
Das waren mir zu viele Fragen.
Wie sollte ich denen aus dem Weg gehen?
Besser ich hielt mich erst einmal fern von ihnen, bis sich das Geschehen von gestern ein wenig in den Hintergrund legte. Ich wusste ja nicht, was Aristhea tun würde, wenn ich mit irgendjemandem darüber sprach.
Ich hörte wie die Tür der Mensa hinter mir auf und wieder zuging, dann wie mir jemand hinterherlief und sich bei mir unterhakte „Alles in Ordnung, Katie-Kate?“, fragte Kiara besorgt und fing meinen Blick auf. Ich schwieg und senkte ihn auf den Boden.
„Was ist denn los bei dir?“
„Kiara“, seufzte ich, löste mich von ihrem Arm, blieb stehen und sah sie an, „Ich weiß nicht, was es ist“, flüsterte ich und merkte, wie wieder Tränen in meine Augen stiegen, „Aber irgendetwas da draußen versucht mich umzubringen. Und er wird nicht aufgeben, bis er es geschafft hat“, sagte ich, jedes einzelne Wort betont und bewusst gewählt, so dass Kiara keine Zweifel daran haben konnte, dass es nicht stimmte und ich mir das alles nur einbildete.
Dann hörten wir ein Kinderlachen.
Ein spöttisches, hässliches, Kinderlachen.

Die Leichenkammer





„Hast du das auch gehört?“, fragte ich automatisch, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass ich es mir vielleicht wieder nur eingebildet haben könnte, doch Kiara nickte verwirrt und sah mich an. „Soweit ich weiß dürfen uns hier gar keine Kinder besuchen“, meinte Kiara ahnungslos und zuckte die Schultern. „Und wenn das kein Kind ist?“, fragte ich leise, entschlossen, mich ihr ein wenig zu öffnen.
„Wie meinst du das?“ Kiara war sichtlich verwirrt.
„Hör zu“, flüsterte ich, damit uns das Etwas ja nicht hörte, „Letztens auf der Toilette, da habe ich ein kleines Kind weinen hören. Als es dann rauskam, habe ich gesehen, dass ich das war, Kiara. Das war ich mit fünf Jahren.“
Kiara sah mich mit gerunzelter Stirn an und fixierte meinen Blick „Denkst du, du hast Visionen oder so?“
„Ich weiß nicht, was das ist. Wirklich nicht. Aber wenn du das Lachen eben auch gehört hast, dann kann es keine Vision sein.“
„Gehen wir nachsehen“, schlug sie spontan vor, doch bevor sie loslaufen konnte, dem Lachen hinterher, riss ich sie am Handgelenk zurück.
„Spinn nicht rum“, zischte ich.
„Was soll schon passieren, Katie-Kate? Ich meine, du sagst doch selber, dass das bloß du selber aus der Vergangenheit bist. Was würdest du uns als Fünfjährige schon antun wollen?“ Ihr entwich ein leises Kichern.
„Das ist nicht lustig, Kiara. Auch wenn das mein Körper war, meine Gestalt … ich stehe hier, vor dir. Und ich wage es nicht zu behaupten, dass dieses Kind dieselben Charakterzüge hat wie ich“, meine Stimme wurde noch leiser, „Ich habe das Gefühl, sie ist etwas Böses.“
Kiara lachte auf, ohne jeglichen Scherz zu empfinden. Ich kannte das, wenn man nicht wusste, wie man seine Gefühle zum Ausdruck bringen sollte „Sei nicht albern, Kate! Weißt du eigentlich, wie du dich gerade anhörst? Als wärst du irgendso eine geistesgestörte Hellseherin, die mit Geistern und Dämonen kommunizieren kann“, In ihrer Stimme lag Abschätzung und sie starrte mich wütend an, „du machst mir manchmal echt verdammt Angst mit deinem Verhalten und …“ das kreischende Lachen des Mädchens ließ sie zusammenfahren, „Verflucht, ist die auf Extasy?!“ Rief Kiara wutentbrannt, weil sie sich so erschrocken hatte.
Ich zuckte die Schultern und ging kurz in ihren Spaß mit ein „Sie hatte letztens rote Augen.“
„Oh super, dann haben wir es scheinbar nicht nur mit einer Klein-Katie zu tun, sondern einer Klein-Katie auf Droge … Denkst du, so könnte sie gefährlicher sein?“, fragte sie, während sie das Wort Gefährlich mit ihren Fingern in Anführungszeichen setzte.
Jetzt war ich auch wütend: „Weißt du was, Kiara? Wenn du mir nicht glaubst, dann geh zurück zu den anderen, aber lass mich in Ruhe mit deinen Andeutungen, ich wäre irre. Ich brauche nicht zwei davon, die das glauben. Ich alleine reiche durchaus.“
Ich wollte ihr schon den Rücken zudrehen und endlich dem Lachen folgen, doch sie hielt mich an der Schulter zurück „Warte“, murmelte sie und senkte den Blick, „Okay, tut mir leid. Gehen wir zusammen nachsehen und ich mache auch keine so dummen Scherze mehr, ja?“
Mit einem Seufzen zog ich die Brauen in die Höhe, hackte mich bei Kiara unter und ging mit ihr in Richtung der Lehrsääle. Jetzt hörten wir natürlich nichts mehr. Weder ein Kichern, noch ein Lachen. Verwundert blieben wir stehen und warfen uns einen verwirrten Blick zu. Es war so leise, als hätte es dieses Kinderlachen nie gegeben. Als hätten wir es uns eingebildet! „Okay, das ist echt seltsam“, brachte Kiara nach langem Schweigen hervor.
„Na wenigstens bin ich jetzt nicht mehr die Einzige, die langsam aber sicher verrückt wird.“
Kiara boxte mir sanft in die Schulter „Da“, whisperte sie und deutete durch den Gang der Lehrsääle zu den Korridoren, „Ich habe da gerade irgendetwas gesehen.“
Mit einer langsamen Kopfbewegung machte ich ihr deutlich, dass ich hinterher möchte, doch sie blieb wie angewurzelt stehen „Da können wir nicht hin, Katie-Kate“, flüsterte sie auf eine Art und Weise, die mir beinahe das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Warum nicht?“, fragte ich in demselben, leisen Tonfall. „Dort unten ist die Leichenkammer.“
„Die WAS?“, ich hätte es beinahe geschrien, konnte mich aber noch rechtzeitig beherrschen.
„Aristhea … fällt es doch so schwer, wenn jemand von ihren Kindern stirbt“, murmelte sie in befangenem Ton, „Sie lässt die Körper einfrieren und lagert sie dort unten im Kühlraum … Totenraum.“
„Das ist doch krank“, schimpfte ich aufgebracht und fasste mir an die Stirn, „Und warum sollte das Mädchen dort runter laufen?“
Kiara zuckte die Schultern „Ich will es glaube ich auch nicht wissen.“
„Ich aber“, wiedersprach ich, „Und wenn du nicht mitkommst, gehe ich eben alleine.“
„Du hast einen Knall, Kate … lass es. Lass uns lieber wieder zurück gehen!“
„Nein. Ich möchte da runter und wissen, was sie von mir will. Langsam nervt mich das alles wirklich und ich möchte endlich Klarheit.“
Kiara schüttelte nur fassungslos den Kopf.
„Kiara, Kate“, das war Josies Stimme, die nach uns rief, „Was macht ihr hier?“ Josie kam von hinten mit Teela und Alvin zu uns herüber gerannt und wunderte sich sofort, dass wir so planlos im Gang herumstanden.
„Was macht ihr hier?“, fragte Teela.
Kiara und ich warfen uns Blicke zu.
„Wir … suchen jemanden“, murmelte ich, was viel unsicherer klang, als ich wollte. Josi hob eine Augenbraue „Natürlich sucht ihr jemanden. Wen?“
Wieder sahen Kiara und ich uns hilflos an.
„Komm schon, Katie-Kate … sag es ihnen. Sie sind unsere Freunde.“
Falsch, Kiara. Sie sind deine Freunde. Ich vertraue ihnen noch nicht genug … glaube ich.


Als sie das sagte, sah ich sofort zu Alvin, dessen Gesicht sich verfinsterte. Er dachte sicherlich, ich hätte Kiara schon erzählt, was er letztens in der Bibliothek wissen wollte. Ich schüttelte unmerklich den Kopf und sein Gesicht erhellte wieder ein wenig. Er sollte bloß nicht sein Vertrauen in mich verlieren. Ich mochte Alvin. Und ich glaube, ich mochte ihn sogar am meisten von allen hier.
„Was sollst du uns sagen, Kate?“, fragte Teela neugierig mit ihrer glockenhellen Stimme und fixierte meinen Blick mit ihren großen Augen. Kiara gab mir einen Stoß in die Seite und ich warf meinen Kopf hinter, wonach ich mir über das Gesicht wischte „Oh Junge, ihr werdet mich für verrückt halten!“ Die drei kamen näher an uns heran und Josi schüttelte den Kopf „Glaube mir, werden wir nicht.“ Sie lächelte mir aufmunternd zu.
Ich wanderte mit dem Blick von dem einen Gesicht zum anderen „Eigentlich wollte ich das keinem sagen. Wirklich keinem!“
„Bitte, Kate. Du kannst uns echt vertrauen. Egal was ist, wir werden dir zur Seite stehen, ja?“ Teela lächelte und nickte aufgeregt.
Ich seufzte „Also schön. Hört zu“, mit einem tiefen Luftzug erzählte ich ihnen die ganze Geschichte. Von meinen Träumen, meinen Visionen … und letzten Endes sogar davon, was mir in der Bibliothek passiert war.
„Ohje ohje ohje“, brachte Teela mit einem Luftstoß raus und hatte scheinbar das Blinzeln verlernt.
„Das hört sich gar nicht gut an“, murmelte Alvin zur Abwechslung mal und starrte nachdenklich auf den Boden, „Du wurdest angegriffen. Und das vor etwas, was keiner kennt.“
„Was keiner kennt?“, Josi lachte auf, „Das war der Schwan, Alvin. Ganz klar. Das kann doch nur Tarek gewesen sein!“
Alvin schüttelte den Kopf „Das bezweifle ich. Tarek würde sowas nie so auffällig machen. Nicht in der Bibliothek und das auch noch oben bei den Mentoren. So dämlich ist er nicht.“ Er fixierte meinen Blick und hob die Brauen „Wir sollten recherchieren, was das mit deinen Träumen auf sich hat. Ich habe das Ungute Gefühl, dass das, was dich angegriffen hat, etwas damit zu tun hat.“
Ich zuckte die Schultern „Das hatte ich irgendwie auch schon befürchtet.“
Kiara zupfte an meinem Ärmel und sah mich vielsagend an „Das Mädchen? Wir wollten hinterher.“
Ich sah Josi, Teela und Alvin an „Kommt ihr mit?“
Die drei wechselten unschlüssige Blicke.
„Denkt ihr, es ist gut, wenn das … was auch immer es ist … weiß, dass du uns davon erzählt hast? Vielleicht wäre es besser, wir halten es geheim. Vor allen.“
„Da muss ich Josi Recht geben“, pflichete Alvin bei und steckte seine Hände in die Hosentasche.
„Dann …“, Kiara grübelte kurz, „Könnt ihr nicht vielleicht solange recherchieren? Katie-Kate und ich gehen solange nachsehen, wo Klein-Katie hin sein könnte.“
„Wir haben gleich wieder Unterricht, Kiara“, erinnerte sie Teela.
„Bitte“, sie setzte ein Schmollen auf, „Tut es für Kate … bitte … Wenn ihr fünf Minuten zu spät kommt, werden sie euch doch nicht die Köpfe abreißen, oder?“
Josi seufzte tief, dann entwich ihr ein Lächeln „Na schön. Immerhin geht es hier nicht um irgendein Kindergartenspiel.“
Alvin und Teela waren zwar nicht unbedingt einverstanden, folgten Josi dann aber trotzdem, als sie sich auf den Weg zur Bibliothek machte.

Kiara und ich liefen einen Gang entlang, den wir noch nie gesehen hatten. Mir wurde immer mulmiger bei dem Gedanken, dass wir den toten Körpern näher kamen und schließlich an einer Tür ankamen, die mit einem Schlüssel zugesperrt war. „Kommst du da hoch?“, fragte Kiara. Wir hatten längst begonnen im Flüsterton zu sprechen.
Ich biss auf meiner Unterlippe herum und sah hoch an den kleinen Haken, wo ein Schlüssel hing. „Kannst du eine Räuberleiter machen?“
Kiara schmunzelte kurz, bückte sich dann aber und machte mir eine Räuberleite. Vorsichtig stieg ich in ihre Handflächen und zog mich am Türrahmen nach oben, streckte mich und erreichte tatsächlich den Schlüssel, den ich leise vom Haken nahm und dann leichtfüßig von Kiaras Hand sprang, die erst einmal ihre Arme ausschüttelte.
„Übertreibs nicht“, schnaubte ich, „So schwer bin ich nicht!“
Kiara verzwickte sich ein Grinsen und beobachtete mich dabei, wie ich die Tür öffnete. Es war stockdunkel! Vorsichtig und mit jetzt plötzlich zitternder Hand tastete ich nach einem Lichtschalter und knipste den kleinen Knopf nach unten, worauf mit einem leisen Surren schwaches Licht anging. Eine Glühbirne schaukelte in der Mitte des kleinen Raumes hin und her. An der Wand standen drei Waschmaschinen und links neben uns ein Kleiderständer. „Ist das strange“, flüsterte Kiara und runzelte die Stirn, „Wozu braucht sie bitte die Waschmaschinen hier?“ Ich zuckte auf ihre Frage nur die Schultern und mein Bauch schmerzte vor Aufregung und Nervosität inzwischen schon. „Hier geht es aber nicht weiter“, bemerkte ich, nachdem wir uns umgesehen hatten. Obwohl es hier nicht viel zum Umsehen gab …
„Das verstehe ich nicht“, sagte Kiara, „Ich schwöre, hier muss es sein!“
Mein Blick wanderte zu dem kleinen, runden Teppich auf dem Boden, wo ich etwas erblickte, was nicht zum Rest des hölzernen Bodens passte. Die Muster sahen dort anders aus und mich beschlich eine unruhige Vorahnung. „Los, hilf mir!“ Kiara und ich griffen nach dem Ende des Teppiches und zogen es beiseite. Tatsächlich. Dort auf dem Boden war eine Falltür! Kiara und ich warfen uns unsichere Blicke zu, griffen dann aber beide nach den beiden Türseiten und zogen sie auf.
„Ich glaube, ich mache mir vor Angst gleich in die Hose, Katie-Kate“, whisperte sie und ich sah ihre Hand unnatürlich zittern, während sie nach unten auf die schlingelnde, schwarze Treppe starrte, die in die Dunkelheit führte.
„Ich will wissen, wo das Mädchen hin ist“, brachte ich energisch hervor, als versuchte ich so meine ansteigende Angst zu vertreiben. Entschlossen legte ich leise die Tür auf dem Boden ab und stieg die Treppe hinunter. Nach langem Zögern folgte mir sogar Kiara, holte mich ein und griff sich fest in meinen Arm. „Ist hier irgendwo ein verdammter Lichtschalter?“, zischte ich in die Dunkelheit und tastete mich das Geländer entlang, bis wir unten ankamen. Dort ließ mich Kiara los und wir fingen beide an die Wand abzutasten, bis auf einmal das Licht von alleine anging.
Mir entfuhr ein Schrecklaut, als das Mädchen nur wenige Zentimeter vor mir stand, kicherte und dann wieder weglief. Kiara machte einen Sprung zu mir und klammerte sich wieder an meinem Arm fest. „Wo ist sie hin?“, fragte ich und starrte in den endlos langen Gang.
„Ooooh, Katie-Kate, bitte lass uns hier verschwinden! Ich piss mir gleich ein, ich schwörs dir!“
„Wer hat vorhin so große Töne gespuckt, hm? Ich oder du?“, schnaubte ich, nahm sie an der Hand und ging mit ihr langsam den Gang entlang, „Ich habe mindestens genauso Angst wie du, Kiara. Aber ich will endlich wissen, was für ein verfluchtes Spiel sie mit uns spielt.“
„Wenn du früher wirklich so scary warst, dann bin ich froh, dich erst jetzt kennengelernt zu haben“, murmelte sie verärgert.
Endlich sahen wir am Ende des Ganges eine kleine Metalltür. Sie war verriegelt und man konnte durch ein Glasfenster in der Tür hindurchsehen. Kiara bibberte schon am ganzen Körper. Ich glaube, sie musste wirklich aufs Klo.
Vor der Tür ließ sie mich los und blieb ein paar Schritte von ihr entfernt, während ich zu ihr ging und an ihr rüttelte, bis ich merkte, dass sie oben verriegelt war. „Wuuaah“, machte sie aufgeregt und sprang von einem Fuß auf den anderen, „Ich muss echt dringend!“
„Jetzt komm schon, Kiara!“ Ich machte eine Handbewegung, dass sie zu mir kommen sollte, nachdem ich mich auf Zehenspitzen gestellt und den Riegel gelöst hatte. Sie schüttelte den Kopf. Ich öffnete die Tür und trat in den kleinen, weißen Raum vor mir, wo ich sofort den Lichtschalter fand und das Licht anmachte. Das hier war sowas wie ein Vorraum. Wirklich nicht groß. Vielleicht so, wie ein Aufzug bei Krankenhäusern. „Nun sei doch nicht so feige!“
Kiara machte langsame Schritte auf mich zu, bis aufeinmal die Tür vor meiner Nase zuschlug und Kiara in panisches Gekreische ausbrach. Fast hätte ich auch geschrien, doch mein Verstand funktionierte noch und ich riskierte es nicht, erwischt zu werden. Durch das Glasfenster machte ich ihr mit großen Augen das Zeichen, dass sie die Klappe halten sollte. Kiara klatschte sich die Hände auf den Mund und rannte zu mir an die Tür. Ich wollte die Tür wieder öffnen, doch sie war zugesperrt. Kiara versuchte den Riegel zu öffnen, doch sie war etwas kleiner als ich. Entscheidende paar Zentimeter, um den Riegel nicht zu erreichen. Sie sah mich verzweifelt an und hob die Schultern in die Höhe.
„Kannst du mich hören?“, fragte ich sie und hob etwas meine Stimme dabei. Sie nickte. „Hör zu, bleib hier stehen und warte. Ich gehe weiter, ok?“
Kiara nickte und ging aufgeregt auf und ab. Wenn ich mich nicht beeilte, würde sie gleich einen Nervenzusammenbruch haben.
Mit einem tiefen Sefuzen wandte ich der Tür und somit auch Kiara den Rücken zu und starrte die nächste Tür, die genauso aussah wie die, durch die ich gerade gegangen war, herausfordernd an. Hinter dem Glasfenster war es stockdunkel. Ich erkannte gar nichts. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und wollte schon den Riegel öffnen, als mich ein Kindersummen zusammenfahren ließ. Ich drehte mich um und starrte Klein-Katie an, die sich im Summen hin und herwiegte und lächelte. „An deiner Stelle würde ich dort nicht reingehen“, lächelte sie zuckersüß und sah mir direkt in die Augen.

Unerklärlich, Unerklärlicher





„Was meinst du?“, fragte ich leise und trat automatisch einen Schritt zurück. Ich war mir als Kind wirklich nicht geheuer. Dieses Lächeln war so honigsüß, dass mir beinahe schlecht wurde. Mein Herz pochte vor Panik und ich hoffte, dass Klein-Katie das nicht hörte oder merkte. Eine ihrer Augenbrauen zuckte leicht in die Höhe, dann verbiss sie sich ein Kichern. Sie fing wieder das Summen an und schwang ihre Arme an ihrem Körper hin und her. Mich nervte dieses Spiel, traute mich aber nicht etwas dagegen zu sagen. Ich hatte Angst vor ihr. Und diese Melodie. Ich kannte sie irgendwoher! Ich konnte schwören …oh Himmel! Nein … mir stockte der Atem. Pan´s Labyrinth´ Lullaby. Dieses Lied hat mir meine Mutter so oft vorgesummt, wenn ich in der Nacht geweint hatte, weil ich aus unerfindlichen Gründen Angst bekommen hatte. Damals glaubte ich ja noch an den schwarzen Mann. Und an die Monster in meinem Schrank. Mum war immer da gewesen, wenn ich weinend zu meinen Eltern in das Schlafzimmer getapst war und an ihrem Bett gewartete hatte, bis sie merkten, dass ich dort stand. Mum hatte sich dann aufgesetzt, mich auf ihren Schoß gehoben, meinen Kopf gestreichelt und mir solange das Lied gesummt, bis ich wieder eingeschlafen war. Am nächsten Morgen war ich wieder in meinem Bett aufgewacht, war froh über die Strahlen der Sonne. Dass sie so friedlich und gut wirkten, im Gegensatz zu der Dunkelheit.
Sie fehlte mir so …
Klein-Katie hörte mit dem Summen nicht mehr auf. Sie schloss sogar die Augen und kicherte kurz dabei. Es klang ein wenig wie ein Echo. Aber wahschreinlich bildete ich mir das wieder nur ein. Ich schloss die Augen. Ungewollt. Irgendwie fühlte sich mein Körper auf einmal so schwerelos an und meine Angst sank um mehrere Grade. Bis hin zum Nullpunkt. Sie war doch nur ein Kind. Sie war Klein-Katie. Ich empfand plötzlich das Bedürfnis, sie in die Arme zu schließen, doch ich spürte, wie sie während dem Summen sanft nach meinem Handgelenk griff und mich hinterherzog. Nur wenige Schritte. Dann hörte ich, wie sie das Licht für den anderen Raum anknipste. Sie summte weiter. Es beruhigte mich.
Dann öffnete ich langsam meine Augen. Sie sah lächelnd durch das Schlüsselloch, während sie immer wieder erneut Luft holte, um das Schlaflied neu zu summen. Als ich durch die Glasscheibe sah, platzten mir alle meine Nerven. Ich riss die Augen auf, taumelte mehrere Schritte zurück, knallte mit dem Rücken gegen die Tür und krisch mir die Seele aus dem Leib. Trännen schossen mir über das Gesicht wie ein Monsun, während Klein-Katie jetzt in ein sehr amüsiertes Kichern verfiel und verschwand. Die Tür hinter mir fiel auf, ich landete auf dem Rücken. Kiara kniete sich sofort neben mich und klatschte mir mehrere Male an die Wangen, aber ich nahm es nicht wirklich wahr. Die Angst lähmte mich so sehr, dass ich das Gefühl hatte, keine Knochen oder Muskeln mehr zu haben. Ich zitterte am ganzen Körper. Trauer überfiel mich wie ein Schock, aus dem ich mich nicht mehr lösen konnte.
„Kate, Kate!!! KATE!“ Den letzten Schlag in mein Gesicht verpasste Kiara mir so heftig, dass ich in zwei Wochen noch einen Abdruck davon haben würde. Ich schnappte nach Luft, schluchzte und sah sie an, während mir das hysterische Kreischen im Hals sztecken blieb.
„Verdammt, was machst du?“ Kiara hatte Tränen in den Augen und schluchzte ebenso hysterisch wie ich. Das hatte ich nicht mitbekommen. Ich holte mit schnellen Schnappgeräuschen Luft, während ich ihr entsetzt ins Gesicht sah und versuchte mich zu beruhigen. Kiara streichelte wild mein Gesicht und schluchzte dabei, während sich meine Tränen mit ihren auf meinem Gesicht vermischten. Als wir beide wieder einigermaßen normal atmen konnten, zog sie mich bei der Hand nach oben und hielt mich an der Schulter. Wohl aus Angst, ich würde umkippen, dabei fühlte ich mich ziemlich stabil. „Lass uns gehen, bitte! Ich habe so Angst.“ Unsere Köpfe wanderten zu den Türen, die jetzt wieder zu waren und wo das Licht nun aus war. Ich musste nicht eine Sekunde darüber nachdenken, krallte mich in ihre Hand und lief mit ihr den ganzen Weg zurück zu den Lehrsäälen, wo wir uns erst einmal in der Mädchentoilette einsperrten und unsere Gesichter wuschen. Während ich mich im Spiegelbild betrachtete, verschwamm mein nasses Gesicht zu dem Bild, was ich gesehen hatte. Das, was mir Klein-Katie gezeigt hatte. Meine Eltern zusammengebunden an einem Galgen aufgehängt … und ausgesaugt. Blutleer. Wie sie mich aus ihren leeren Augen anstarrten. Ich fing wieder das Zittern an und rieb mir noch einmal kaltes Wasser über das Gesicht, als mein Blick auf meine freie Schulter fiel. Irgendwas war seltsam. Ich hob meine Haare von der rechten Schulter, obwohl ich schwören konnte, dass das Tattoo bis jetzt immer auf der linken Seite war … doch selbst auf der Rechten war nichts mehr zu sehen. „Was“, whisperte ich und runzelte die Stirn, während ich mir kaltes Wasser über das Schlüsselbein schrubbte. „Ist was?“, fragte Kiara unsicher und kam zu mir herüber, nachdem sie sich das Gesicht abgetrocknet hatte.
„Kiara …“, sagte ich und merkte, wie meine Stimme in leichte Panik verfiel, „Mein Tattoo … es ist weg!“ Unsere Blicke trafen sich misstrauisch und auch sie fing an an meinen Schlüsselbeinen herumzufummeln. „Wie ist das möglich?“ Sie sah mir in die Augen.
„Ich weiß es nicht“, sagte ich leise, „Ehrlichgesagt weiß ich gar nichts mehr!“ Mit einem Atemstoß lehnte ich mich an das Waschbecken und fasste mir an den Kopf. Mich überforderte alles! Ich wusste nicht, was mit mir vorging, oder was hier überhaupt los war. Es gab keine Erklärungen, alles schwächte mich und ich konnte nichts dagegen tun! Eine Träne lief mir über die Wange, die Kiara mit ihrem Daumen sofort wieder wegwischte „Hey, Kate …“, sie nahm mein Gesicht in ihre Hände, „Egal was hier gerade vor sich geht, ich und die anderen … wir sind immer für dich da, ja? Versuch uns zu vertrauen!“
Ich nickte schwach und verbiss mir ganz das Weinen anzufangen. Kiara ließ mein Gesicht los, nahm mich bei der Hand und wischte mir mein Gesicht trocken „Ich bringe dich in die Klasse. Und dann treffen wir uns um halb fünf in der Mensa. Ich gebe den anderen Bescheid, ja?“

Nach dem Unterricht hatten Kiara, die anderen und ich uns in der Mensa versammelt und uns an einen Tisch gesetzt. Lukas mussten wir natürlich erst einmal aufklären. Er war mehr als nur verwirrt. Im Unterricht hatte ich nicht die leiseste Chance mich zu konzentrieren.
„Also… wir haben nichts gefunden, was auf Kate´s Situation zutrifft“, gab Josi leise zu und schlug ein Buch auf, dass sie aus der Bibliothek mitgenommen hatten, „Aber hier steht etwas über die Motive.“ Sie blätterte bis zu einer bestimmten Seite, wo uns viele, viele Tattoos angrinsten und drehte das Buch in meine Richtung. Ich biss meine Zähne zusammen, bevor ich das Buch in überhaupt wirklich angesehen hatte „Mein Tattoo“, murmelte ich und senkte den Blick, „Es ist weg.“
„Was“, hörte ich es von allen Seiten zischen und erwartete acht ungläubige Augen auf mich gerichtet. Kiara schmunzelte „Es war einfach weg. Ich habe es selbst gesehen.“
„Dann … denkt ihr, das hört jetzt alles auf?“ Ich beneidete Lukas Optimismus! Aber ich zweifelte daran und schüttelte den Kopf „Ich glaube nicht, dass das alles mit meinem Tattoo zusammenhing und Cassidy … Cassidy!“ Ohne Erklärung sprang ich vom Tisch auf und lief aus der Mensa durch den Korridor in den Mädchentrakt, wo ich ungeduldig gegen Cassidys Tür donnerte, bis sie mir öffnete und mich genervt anstarrte „Was zur Hölle ist in dich gefahren?“, knurrte sie mich an und stockte, obwohl sie noch etwas sagen wollte, „Wow, Kate … du siehst ja echt scheiße aus!“
Mit einem Augenrollen drückte ich sie in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter uns. „Cassidy … zeig mir dein Tattoo!“
„Was?“
„Zeig es mir!“
„Warum?“
„Tu es einfach“, zischte ich und sah sie fest an.
Mit einem Stöhnen nahm sie ihre Haare von der Schulter und hielt den Atem an. Ich konnte es nicht fassen und am liebsten hätte ich aufgeschrien! Ihr Tattoo war da. Aber anders als vorher. Es war … fertig. Eine Feder, die als kleine Vögel verschwand.
„Das ist unmöglich“, keuchte ich und versuchte meinen Zorn im Zaum zu halten.
„Ja“, stimmte sie mir zu und strich sich fasziniert über das Tattoo.
Ja, freu dich, du Scheißkuh! Jetzt bist du was Besonderes.


„Ist das bei dir auch so?“ Unsere Blicke trafen sich.
Ich antwortete nicht. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Bestimmt würde ich ihr nicht sagen, dass mein Tattoo weg war.
„Kate?“
„Ähm…“
„Zeig doch mal“, sie wollte nach meinen Haaren greifen, doch ich drehte mich weg. „Ich muss wieder.“ Damit verließ ich ihr Zimmer.

Mir war klar, dass irgendetwas nicht stimmte. Und das schon seit längerer Zeit. Aber jetzt schien alles Unerklärliche Überhand zu ergreifen. Auch wenn ich das Tattoo immer als böses Omen abgestempelt hatte. Irgendwas sagte mir, dass es nicht besser war, dass es verschwunden war.
Erschöpft warf ich mich in das Bett und nahm mein Handy. Morgen war Wochenende und ich wollte, dass mich Helena und Erik besuchten. Sie fehlten mir. Während ich die Nummer von Helenas Handy eintippte, zog sich Kiara schon ihr Schlafhemd über und kuschelte sich in ihr Bett „Wen rufst du an?“, fragte sie in das Düten hinein.
„Eine Freundin. Ich will sie für morgen einladen.“
„Morgen kommen meine Eltern“, lächelte Kiara.
Das Düten wurde unterbrochen „Kate?“
„Helena!“ Ein Strahlen zauberte sich mir auf das Gesicht.
„Wie geht es dir? Geht es dir gut?“
„Ja, mir geht es gut, mach dir um mich keine Sorgen“, versicherte ich ihr und versuchte mir nicht meine Beklemmtheit anmerken zu lassen, „Wie geht es dir?“
„Mir geht es wunderbar. Aber du fehlst mir so, Kate … Ach ja“, ich merkte, jetzt kam ihr Redefluss, „Seit du mit Erik zusammen bist, hängt er total häufig mit mir ab und alle wollen auf einmal was mit mir zu tun haben, das ist SO cool! Und er kann so nett sein, Kate. Ich glaube er ist der beste Freund, den man sich vorstellen kann.“
„Danke“, hüstelte ich und grinste.
„Mit Ausnahme dir natürlich“, ich hörte das Grinsen in ihrer Stimme, „Na ja … jedenfalls hast du echt einen guten Fang gemacht.“
„Ja“, murmelte ich und meine Freude verpuffte, als ich mich dabei erwischte, wie ich an Alvin dachte, „Finde ich auch.“
„Aber das ist es doch nicht, weshalb du anrufst. Nur um zu so einen kleinen Small-Talk zu starten. Also? Ich bin ganz Ohr!“
„Ja“, sagte ich, „Also, ich wollte im Grunde nur fragen, ob du und Erik euch nun entschlossen habt, morgen vorbei zu kommen.“
„Was für eine Frage! Natürlich kommen wir!“
„Super“, lächelte ich und schaute zu Kiara, die nun in ihrem Bett lag und Tagebuch schrieb. Tagebücher … ich verstand bis heute nicht, wie man Zeit für so etwas verschwenden konnte. Meistens waren Gedanken in Tagebüchern sowieso nur trübsinnig und wenn man eines Tages nachlesen würde, würde das diese Momente wieder aufwühlen. Ich entschied mich schon vor vielen Jahren lieber für das Vergessen.
„Ich habe übrigens eine neue Zimmergenossin.“
„Hast du?“, fragte ich überrascht.
„Ja“, murrte sie, „Ein klarer Fall von Geisteskrankheit, das kann ich dir versprechen.“
„Oh oh, hört sich ja richtig lustig an.“
„Aber hallo!“
Ich kicherte „Erzähl mir morgen mehr darüber. Ich lege auf, sonst wird’s zu teuer, ja?“
„Schon in Ordnung. Ich freu mich auf dich!“
„Bis morgen, Helena.“
„Bis morgen.“
Sie legte auf.
„Was hört sich lustig an?“, fragte Kiara, ohne von ihrem Tagebuch hochzuschauen. Ich verfolgte die Bewegungen ihres Füllers und zog mir die Decke bis zum Kinn „Meine Freundin hat eine neue Zimmernachbarin. Weil ich ja jetzt nicht mehr auf das Internat gehe, war ja nun mein Zimmer frei und ja … sie scheint nicht begeistert von ihr zu sein.“
„Warum, was tut sie?“, fragte sie und legte nun den Stift weg, sah mich an und klappte ihr Tagebuch zu. Ich verzog das Gesicht „Weiß ich nicht. Erzählt sie mir morgen.“
„Sie kommt also?“
„Ja.“
„Geil, dann lerne ich sie endlich mal kennen“, grinste Kiara und zog die Cola Light unter ihrem Bett hervor, um eine kräftigen Schluck zu nehmen.
„Hieß es nicht eigentlich, dass man stirbt, wenn man etwas anderes als Blut trinkt?“
„Sehe ich tot aus?“, stellte mir Kiara eine Gegenfrage und legte die Cola wieder weg.
„Bist du lustig“, hüstelte ich.
Sie zog eine Braue in die Höhe.
„Sind wir denn nicht tot? Immerhin sind wir Vampire.“
Kiara lachte auf „Nein! Wir sind Jungvampire. Und Jungvampire sind alles andere als tot. Merkst du die Unterschiede denn gar nicht?“
„Hä“, machte ich geistreich.
„Na, schau her. Als Jungvampir, bist du ja noch in der Verwandlungsphase. Auch wenn sich das bei dir inzwischen erledigt hat … aber das Gift von Desdemona ist noch nicht ausgearbeitet. Das zieht sich über Jahre. Mentoren altern nicht mehr. Und viele Jungvampire in der vierten Stufe ebenfalls nichts mehr. Aber solange das Gift in unserem Körper noch nicht unser Herz erreicht hat, leben und altern wir weiter“, sie zuckte die Schultern, „Das dauert lange, weil sich das Gift nur sehr schleichend fortbewegt, da dein Immunsystem ja immer noch dagegen ankämpft. So gut es eben kann. Denn geschwächt ist es ja immerhin schon.“
„Desdemona war so eiskalt.“
„Eiskalt? Im Sinne von…“
„Die Körpertemperatur.“
„Ach ja“, meinte Kiara, „Ja ja, klar. Sie sind ja auch tot. Verstehste?! Wir haben immer noch unsere normale Körpertemperatur, da wir noch leben. Unser Herz schlägt weiter.“
„Man lernt immer dazu“, seufzte ich und drehte mich auf den Rücken.
„Das kannst du laut sagen.“
Langes Schweigen.
„Kiara?“
„Hm?“
„Cassidys Tattoo ist übrigens vollkommen …“

"Es gibt für alles eine Erklärung"





Ich wurde gegen zehn Uhr wach und sah, dass Kiara bereits ihr Bett gemacht hatte und nicht mehr im Zimmer war. Leider hatte Helena mir gar nicht gesagt, wann sie kommen wollten, aber wenn sie schon da gewesen wären, hätten sie mich geweckt. Helena hatte da keine große Rücksicht auf mich. Aber das machte eine gute Freundin gerade aus.
Ich stand aus dem Bett auf, ging an den Spiegel und machte mich frisch, zog mich um und schaute ob ich vielleicht eine SMS bekommen hatte. Da knurrte auf einmal mein Magen und fühlte sich groß und leer an. Irritiert fasste ich mir an den Bauch. Ich hatte lange kein Hungergefühl mehr verspürt.
Ich musste etwas trinken.
Ich steckte mir mein Handy in die Jeanshose (wir durften an Wochenenden unsere eigene Kleidung tragen) und ging geradewegs in den Aufenthaltsraum, wo Kiara, Teela und Josi auf der Couch saßen und herumblödelten. Teela kniete über Kiara und schlug mit einem Kissen auf sie ein, bis ich herein kam, alle drei die Köpfe zu mir drehten und versteinerten. Teela sprang von Kiara runter und kam zu mir gerannt „Du kriegst ja heute besuch“, strahlte sie. Ich nickte und warf einen Blick auf Kiaras hochroten Kopf „Womit hat sie denn das verdient?“
„Was?“ Teela sah mich mit großen Kullerkükenäuglein an. Dann sah sie auf das Kissen in ihrer Hand und kicherte „Ach so!“
„Oh, Desdemona… oh, ich liebe dich so sehr“, säuselte Kiara aus der Ecke und verfiel in ein Lachen. Teele verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf „Verstehst dus jetzt?“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief zurück zu Kiara um sie zu kitzeln. Kiara quiekte und schrie, was mir in den Ohren beinahe weh tat.
Hastig griff ich nach einem Blutbeutel.
Mein Magen tat schrecklich weh! Er war so leer, wie noch nie in meinem Leben.
Ich drückte das Blut in eine Tasse und trank sie mit einem Schluck leer.
Jetzt war ich zwar nicht mehr hungrig. Aber dafür kam mir Übelkeit hoch. Ich würgte. Mir wurde schlecht.
Die Mädels hörten sofort auf zu lachen und liefen zu mir herüber „Katie-Kate, ist alles in Ordnung mit dir?“
Ich konnte auf Kiaras Frage nicht antworten, denn genau in dem Moment kam mir das ganze Blut, dass ich getrunken hatte, wieder hoch. Meine Freunde sprangen zur Seite und verzogen das Gesicht. Mir war das so peinlich, dass ich am liebsten im Erdboden verschwunden wäre! Hastig wischte ich mir den Mund und entschuldigte mich tausendmal, während ich die Sauerei angewidert wegwischte.
„Vielleicht solltest du dich besser hinlegen“, sagte Josi besorgt und half mir den Mist aufzuwischen. Ich merkte, dass sie die Luft anhielt.
„Sorry Katie-Kate, dass soll jetzt nicht beleidigend wirken!“ Kiara verschwand für wenige Sekunden so schnell, dass ich sie nicht mehr sah und besprühte darauf den Raum mit ihrem Zitronendeo.
Er ließ den Gestank verschwinden, ich bekam aber Kopfweh von der Menge.
„Hier.“ Teela reichte mir ein Glas Wasser und ich kippte es runter.
„Soll ich jemanden rufen?“
„Nein“, sagte ich, „Passt schon, Josi. Ich glaube, ich hätte das Blut nicht so verschlingen sollen.“
„Ich habe noch nie miterlebt, dass ein Jungvampir das Blut, das er getrunken hat, wieder ausgekotzt hat“, murmelte Teela gedankenverloren.
„Das … wird sicher einen Grund geben“, sagte ich fest. Und hoffte es inständig.
„Kate Sayers? Du hast Besuch.“ Die Frau, die bei uns heute im Stationszimmer war, stand in der Tür. Meine Übelkeit verschwand. Helena! Erik!
Ich lief den Korridor entlang zur Eingangstür. Ich hörte, wie mir meine Freunde folgten und es sich anhörte, als würden gleich zehn Elefanten durch das Gebäude stampfen. Als ich Helena und Erik in der Eingangstür herumstehen sah, verfiel ich in lautes Quieken, lief schneller, breitete meine Arme aus und fiel Helena um den Hals. Auch sie fing an mit zur Quieken und zu kichern „Kaaaaaateee! Du geile sau du! Dracula is coming home“, Helena biss mir in den Hals und ich zuckte lachend mit dem Kopf zurück, während ich sie fest an mein Körper drückte. Sie hatte mir so wahnsinnig gefehlt! Und das merkte ich erst jetzt, wo sie hier war. Erik wartete geduldig neben mir.
Ich löste mich lächelnd von Helena und sah Erik an. In seine blauen Augen … legte meine Hand auf seine Wange. Diese weiche, kakaofarbene Haut … diese schwarzen Locken. Ich hatte beinahe vergessen, wie schön er war. Mein Herz raste.
Er lächelte. Seine weißen Zähne traten zum Vorschein.
„Hi“, hauchte ich verloren in seiner Schönheit.
„Hi“, hauchte er zurück und legte beide seiner Hände um meine Hüften. Diese Berührung harmonierte mit diesem unglaublichen Moment. Dann küsste ich ihn leidenschaftlich und vergaß, dass noch meine Freunde hinter mir standen.
Ich krallte mich in seine Haare, um mich nicht zu verlieren, zwang mich zu atmen und drückte dann, nachdem ich mich gelöst hatte, meinen Kopf in seine Brust. „Ich liebe dich“, seufzte ich.
„Du fehlst mir.“ Er streichelte meine Haare.
Jemand hinter mir räusperte sich.
Ich drehte mich herum „Oh … äh. Sorry. Also Leute, das sind Helena und Erik“, beide hoben kurz willkommen die Hand, „Und das sind Teela, Josi und Kiara Moe.“
Teela hüpfte von einem Fuß auf den anderen und strahlte über das ganze Gesicht „Ihr seid so perfekt“, seufzte sie, „Wie Romeo und Julia.“
„Wie Rose und Jack.“
„Wie Spongebob und Patrick.“
Die Blicke richteten sich mit hochgezogenen Brauen auf Kiara, dann lachten wir gemeinsam. Sie verstanden sich. Meine Freunde verstanden sich. Sehr gut. Ich war froh. Das erste mal, seit ich hier war, dass ich bedinungslos glücklich war.

Wir setzten uns alle zusammen in die Mensa. Dort war es heute irgendwie ziemlich leer. Klar, viele waren bestimmt nach Hause gegangen über das Wochenende. So wie Alvin und Lukas. Und Cassidy. Man, war das eine Erleichterung. Ich wollte nicht wissen was passiert wäre, wenn Cassidy oder Alvin auf Erik gestoßen wären.
Vor allem bei Alvin hätte ich nicht gewusst, wie ich mich verhalten sollte. Es war so unkompliziert mit ihm. Und ich mochte ihn sehr. Ich bedeutete mehr für ihn, asl nur eine Freundin, das spürte ich, aber an Erik kam er nicht ran.
Ich lag mit dem Kopf auf seinem Schoß und hörte den anderen bei ihrem Gespräch zu. Am meisten schienen sich Teela und Helena zu verstehen.
„Wisst ihr eigentlich was obercool wäre?“, stellte Helena die Frage in den Raum.
„Was denn?“ Teela schaute sie mit großen, neugierigen Augen an.
„Wenn man hier übernachten dürfte!“
„Und am nächsten Tag wärst du käseweiß und blutleer.“ Kiara verdrehte die Augen.
„Aber es wäre doch cool, wenn wir dann mal zusammen einen Filmabend machen, oder nicht?“ Helena fing meinen Blick auf.
„Oh ja. Dann schauen wir uns ganz viele Filme an. Cracks ist richtig gut“, warf Teela ein.
Helena richtete ihren Blick auf Teela „Der ist mir zu fraulich. Und der hat mich richtig aggressiv gemacht.“
„Weil er fraulich ist?“, fragte Teele überrascht kleinlaut.
„Nein, ach quatsch. Sondern dass die alle so verflucht scheiße waren!“ Zorn spiegelte sich in Helenas Augen wider.
„Worum geht’s in dem Film?“, fragte Kiara.
„Ach, zu kompliziert“, winkte Teela ab.
„Ist ein Lesbenfilm“, erklärte Helena.
„DU schaust Lesbenfilme?“ Ich konnte mir ein Kichern nicht verkneifen.
„Hey, Eva Green! Hallo? EVA GREEN! Diese Schauspielerin ist Gott!” Rief sie empört.
Wir fingen alle an zu lachen.
„Aber in dem Film war sie kacke“, knurrte Helena nun weiter, „Diese Frau gehörte eingesperrt. Und die Mädchen taten mir überhaupt nicht leid. Ich habe mich sogar gefreut, dass Fiamma gestorben ist, damit die alle darunter leiden, was sie angerichtet haben. Vor allem diese Psychotante.“
„Eva Green?“ Josi grinste gemein.
„Nein“, brummte Helena, „Miss G. Das war nur ihre Rolle. Eva Green ist klasse!“
„Also mir hat Miss G einfach nur total leid getan, weil sie so furchtbar einsam war und niemanden hatte“, murmelte Teela traurig.
„Die hat dauernd gelogen und wegen ihr ist ein Mädchen gestorben. Kein Wunder, dass sie da irgendwann alleine in der Hölle schmorrt!“ Helena regte sich total auf.
Teela machte ein entsetztes Gesicht.
„Okay, dieser Film scheint reiner Mindfuck zu sein“, erkannte Kiara.
„Wenn wir einen Filmabend machen wollen, dann sollte das schon ein Film sein, bei dem wir uns einig sind“, meinte Josi, „Und der für uns alle spricht.“ Sie warf Teela einen vielsagenden Blick zu. Teela seufzte beleidigt „Ach kommt schon. Lesbenfilme sind so viel toller als euer Heterozeugs …“
Wir kicherten.
„Dann müssen wir uns Chloe ansehen. Der ist sowohl lesbisch, als auch hetero.“
Alle sahen Kiara an.
„Woher kennst DU solche Filme?“, fragte Josi erstaunt.
Kiara klopfte sich auf die Brust „Tja. Ich kenne eben alle guten Filme.“
Ich seufzte und hievte mich aus Eriks Schoß, da mein ganzer Körper schon steif war, von dem Liegen auf diesen harten Bänken. „Ich habe jetzt irgendwie Lust euch etwas Abgefahrenes zu zeigen“, meinte ich.
Alle sahen mich neugierig an.
„Kommt einfach mit“, lächelte ich, stand auf, zog Erik an der Hand mit und ging mit meinen Freunden auf die Mädchentoilette zu, doch bevor ich sie betrat, blieb Erik wie angewurzelt stehen und hüstelte.
„Jetzt zier dich nicht“, seufzte ich, „Wenn wir kein Unterricht haben, benutzt diese Toiletten sowieso keiner. Also hopp.“ Ich zerrte an seinem Arm, bis er nachgab und mitkam. Ich schmiegte mich in seine Arme und betrat mit den Mädels und Erik die Mädchentoilette. „Was hast du denn vor mit uns?“, fragte Josi.
„Vielleicht steht sie ja auf Gruppensex“, witzelte Kiara und stieß Teela in die Hüfte, „Muss ziemlich aufregend für dich sein jetzt.“
Teela knurrte „Legst du es wirklich darauf an?“
Kiara lachte.
Josi konnte nur den Kopf schütteln während Helena mitkicherte.
„Also. Was willst du uns nun so Abgefahrenes zeigen?“ Helena sah mich neugierig an. Mein Lächeln ging in ein Grinsen über und ich löste mich von Erik „Es wäre besser, ihr würdet einen kleinen Schritt zurücktreten.“
„Wow, jetzt kommts“, Kiara grinste Teela zu, „Sie zieht sich aus!“
„Fick dich“, schnaubte Teela und verschrenkte die Arme vor der Brust.
„Aber nur wenn du mitmachst.“ Kiara brach in schallendes Gelächter aus und Teela konnte nun doch nicht anders als mitzukichern.
„Jetzt“, zischte Helena, „Ich will wissen, was sie macht!“
„Ich auch“, murmelte Erik mit kritischer Miene.
Ich lächelte schon in mich hinein. Doch blieb die Ruhe selbst. Ich stützte mich mit den Händen an dem Becken ab, ließ den Kopf sinken und schloss die Augen.
„Was macht sie da?“ Hörte ich Josi irritiert whispern.
„Wenn sie jetzt zu meditieren anfängt, ergreif ich die Flucht“, entgegnete Kiara genauso leise wie Josi. Teela kicherte.
Also Kate, das kannst du noch

, sagte ich zu mir selber, Erst die Augen. Die Schlagadern, die sich über mein halbes Gesicht ziehen. Dann das Blut, das in meine Augen schießt.

Ich spürte es. Sehr gut. Das altbekannte Prickeln, das ich bei Aristhea das erste Mal gespürt hatte, war wieder da. Jetzt die Haare. Sie mussten fester, dicker werden. Wilder.


Auch gut. Ich fühlte es. Und hörte Helena staunen. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Ich musste mich konzentrieren.
Jetzt die Zähne. Los Kate, du kannst es.


Während mir die Fangzähne wuchsen, verspürte ich dezente Zahnschmerzen, die aber sofort verschwanden, als sie sacht in meine Unterlippe stachen.
Dann öffnete ich die Augen und sah in den Spiegel vor mir. Perfekt. Ich konnte es noch. Dann drehte ich mich um.
Ein Raunen ging durch den schmalen Raum, dann kamen meine Freunde einen Schritt auf mich zu. Helena streckte reflexartig den Arm aus und tastete nach meinen Haaren „Du siehst ernsthaft aus wie Dracula als Weib“, bemerkte sie, „Und so …“
„Grausam schön“, beendete Erik ihren Satz.
Kurz bevor er nach meinem Gesicht greifen konnte, verspürte ich einen Schwall von Schwäche und ich merkte, dass ich mich rasch in die normale Kate verwandelte. Ich sah in den Spiegel. Und in mein Gesicht. Hä?
Wie hatte ich das denn hinbekommen?
„Kate?“ Josi hatte meinen Schwächeanfall mitbekommen und war an meine Seite geeilt um mich zu stützen, als ich mir an den Kopf fasste, der auf einmal unheimlich pochte.
Ich schüttelte sie freundlich von mir ab „Es geht schon“, beschwichtigte ich sie. Auf ein Neues. Diesmal musste ich ihnen das Monster zeigen. Das, wovor ich mich gefürchtet hatte. Ob sie sich auch davor fürchten würden? Ich konnte meine Vorfreude kaum aushalten.
Mir huschte ein Grinsen über das Gesicht, obwohl ich jetzt permanent Kopfschmerzen hatte. Aber das war mir egal. Ich war froh, dass Erik und Helena da waren und sie sich mit den Mädels verstanden.
„Jetzt passt auf!“
Ich schloss noch einmal die Augen.
Und dann stellte ich es mir vor. Dieses Monster, dass ich letztens bei Aristhea im Spiegel gesehen hatte. Das, das mir so eine Höllenangst eingejagt hatte, weil ich mich selber nicht mehr erkannt hatte. Ich stellte es mir vor … und immer noch … noch länger…
Meine Kopfschmerzen wurden stärker und immer unerträglicher.
Es geschah nichts.
Ich stellte es mir weiter vor.
Ich hatte das Gefühl, mir würden alle Nerven platzen, dann keuchte ich unter Schmerzen auf und brach in die Knie, während ich mir am Kopf in die Haare krallte und schwer atmete.
Meine Freunde kamen sofort zu mir geeilt und ich öffnete die Augen „Ich verstehe das nicht“, sagte ich bekümmert, „Das sollte eigentlich funktionieren!“
„Was denn, Kate?“, fragte Josi und nahm meine Hand in ihre.
„Wisst ihr, das Jungvampire in den oberen Stufen sich in eine Art Monster verwandeln können?“
„Klar“, nickte Teela, „Aber das sind keine Monster. Das sind nur ihre eigentlichen Wesen. Damit können sie Böses verjagen, weil ihre Gestalt so grausig aussieht.“
„Ich weiß“, murmelte ich, „Das hat mir Aristhea auch erzählt.“
„Okay“, sagte Kiara, „Und worauf willst du nun hinaus?“ Sie halfen mir hoch.
„Ich konnte es.“
Sie sahen mich ungläubig an.
„Ich sags euch, ohne Witz! Ich konnte mich in dieses Vieh verwandeln. Fragt Aristhea, wenn ihr mir nicht glaubt. Aber jetzt kann ich es nicht mehr.“
„Kann man sowas verlernen?“, fragte Teela nach einer fassungslosen Schweigeminute.
„Nein“, meinte Josi, „So etwas kann man nicht verlernen, Teela. Schon vergessen? Das ist die erste Regel, die wir in Stufe Eins lernen: Alles, was wir uns als Jungvampir anlernen, werden und können wir nie verlernen. Ob wir wollen, oder nicht.“
Helena hatte einen Arm um meine Hüfte gelegt, während Erik meine Hand hielt. Ich fühlte mich gerade ein wenig wie ein kleines, naives Kind.
Und auf einmal hatte ich das Gefühl, dass mein Erbrechen vorhin etwas mit der Sache jetzt zu tun hatte. Und ja, vielleicht gab es eine ganz simple Erklärung. Aber diese war definitiv nicht gut.

Der nächste Angriff

 

 

„Ihr jagt mir Angst ein!“ Mein Blick schweifte von einem Gesicht zum anderen.

„Warum das´n?“ Kiara sah mich ungläubig an, „Wir geben dir bloß Ratschläge.“

„Wenn ihr sagt, ich soll zu Joceline … dann hört sich das weniger beruhigend an.“

„Na, nur um wenigstens zu fragen, ob sie vielleicht mehr darüber weiß“, seufzte Teela und verdrehte die Augen.

„Kommt ihr mit?“ Ich sah Erik und Helena an.

„Sicher“, schoss es ohne Überlegung aus Helena heraus, „Immer.“

Erik verschrenkte seine Finger mit meinen und zog mich näher an sich heran, damit er mich auf den Kopf küssen konnte. Mein Herz flatterte.

„Wir warten in der Mensa, ja?“ Josi sah mich an und wartete auf eine Antwort, bis ich nickte.

 

Erik und Helena wurden immer nervöser, umso näher wir dem vierten Stock kamen, wo Jocelines Zimmer war. Erik und Nervosität! Das hatte ich bis zu dem Zeitpunkt, als er mich das erste Mal küsste, noch nie erlebt. Außerdem … was Erik betraf … irgendwas war seltsam. Ich weiß nicht, woran ich das spürte, aber ich merkte eindeutig, dass sich etwas verändert hatte. Sein Verhalten? Gut, ich konnte nicht viel behaupten, immerhin waren wir nur ein Tag wirklich „zusammen“ … bis mich dann entweder James oder Elijah entführt hatten. Seufzend wünschte ich mir, es wäre nie passiert. Das Leben vorher war so viel schöner, einfacher, sorgenfreier.

Erik seufzte und blieb mit mir und Helena vor Jocelines Tür stehen. Ich wusste, er würde später noch mit mir alleine reden wollen. Ich fühlte es. Ich war mir sicher. Vielleicht fehlte ihm auch einfach nur die Zeit mit uns alleine? Ich meine, er war mein Freund. Mein atemberaubend, wunderschöner Freund … der einem Engel glich. Mit meerblauen Augen zum versinken.

Bevor ich noch weiter ins Schwärmen geriet, klopfte ich zögerlich an der Tür meiner Patin. Joceline öffnete nur wenige Sekunden danach die Tür und sah mich und meine Freunde abwechselnd an „Du weißt, wenn das ein Mentor sieht, werden sie nicht mehr erlauben, dass sie dich besuchen kommen“, meinte sie nur leise und warf einen Blick auf Eriks und meine verschrenkten Finger. „Dir auch einen wunderschönen Tag, Joceline“, murmelte ich finster drein und ließ Eriks Hand mit einem entschuldigenden Blick los. Joceline verdrehte die Augen und lehnte sich an den Türrahmen „Gut. Was brauchst du?“

„Ich brauche deine Hilfe.“

Sie sah mich irritiert an und musterte mich argwöhnisch „Du brauchst meine Hilfe? Willst du mich ärgern?“

„Warum sollte ich dich ärgern wollen?“, fragte ich bissig und spürte so etwas wie Unsicherheit in mir anbahnen. Vielleicht war es doch keine gute Idee, mit Joceline darüber zu sprechen. Mit dem Mädchen, das anfangs für die Tochter der Priesterin gehalten wurde und nun doch nur eine von vielen ist.

„Du kannst doch alles. Du hast zwei Stufen übersprungen, kannst dich verwandeln … du trinkst Blut, denkst wie wir und…“

„Nein“, unterbrach ich sie und verstand nun, dass sie eifersüchtig war.

„Wie, nein?“

„Das kann ich nicht. Ich kann es eben nicht mehr.“

„Sie kann sich nicht mehr verwandeln … sie wollte es uns zeigen, aber es ging nicht“, gab Helena kleinlaut von sich und starrte Joceline an, als sei sie eine Göttin. Ja, natürlich. Verständlich. Joceline musste für sie auch so aussehen. Sie sah wunderschön aus, kein Zweifel.

„Das ist unmöglich“, schnaubte Joceline und ihr Gesicht verfinsterte sich.

„Ich habe es auch mitbekommen“, pflichtete Erik bei.

„Und wenn du ihnen nicht glaubst, kann ich auch noch Josi, Kiara und Teela holen, die das bezeugen“, sagte ich.

Joceline dachte nach „Wenn es wirklich so ist, wie du sagst … dann reden wir morgen darüber, wenn die beiden“, sie warf meinen Freunden einen vernichtenden Blick zu, „Nicht mehr da sind und ich noch darüber recherchieren kann.“

„Danke“, seufzte ich erleichtert.

„Und jetzt zischt ab. Ich habe noch zu tun.“ Joceline knallte die Tür vor unserer Nase zu und Helena atmete auf „Wow, die ist aber wirklich sehr…“

„Sympathisch, liebenswert?“, beendete ich ihren Satz ironisch und sah Helena in die Augen. „Genau das“, bestätigte sie mit einem dicken Grinsen im Gesicht, das allerdings schnell wieder verblasste „Warum dürfen wir nicht dabei sein?“

„Wo?“, fragte ich, als wir wieder nach unten in die Mensa gingen.

„Wenn ihr darüber sprecht. Über das Ganze.“

„Weiß ich nicht“, gab ich zu, „Sie ist sowieso ein bisschen … gewöhnungsbedürftig.“

„Ist sie“, gab Erik mir Recht, lächelte mich an, hob mein Kinn mit seinem Finger an und gab mir einen zarten Kuss auf die Lippen, der wie Feuer in mir explodierte. Ich umarmte ihn „Ich wünschte, ich wäre nie hierhergebracht worden“, flüsterte ich traurig.

Helena legte mir eine Hand auf den Rücken „Das wünschte ich auch“, seufzte sie bekümmert.

Ich drehte mich um und sah sie an. Sie hob wieder den Kopf und strahlte „Trotzdem finde ich cool, dass du in so ner Dracula-Grufti-Akademie lebst! Woah, ich meine, das ist so geil, weißt du? Meine beste Freundin ist ein oberkrasser Vampir mit einem oberhammer Menschenfreund und ich bin die normale beste Freundin … Helena Spring!“ Helena sprang in die Luft und machte Pirouetten den Gang entlang. Ich konnte darüber nur lächelnd den Kopf schütteln, und war froh, dass sie da war. Sie erinnerten mich wenigstens noch an ein klein Bisschen Normalität, an das alte Leben. Unkompliziert, fröhlich, lebendig, menschlich. Das waren die Dinge, die mir in letzter Zeit immer häufiger fehlten.

Die Lichter gingen aus.

„Fuck“, rief ich erschrocken und klammerte mich an Erik fest, der seine starken Arme um mich legte, und an sich zog.

„Stromausfall?“, fragte er unsicher.

Ich spürte einen kalten Luftzug und eine furchtbare Erinnerung stieg in mir hoch.

„Helena?“, schrie ich, „Helena, wo bist du? Komm zurück!“ Panik stieg in mir auf. „Wo seid ihr denn? Ich sehe nichts! Woah ist das creepy. Voll Horror und so!“

Wie konnte sie an so einer Atmosphäre Spaß haben? Sie verstand den Ernst der Lage nicht. Erik auch nicht. Er verstand nicht, warum ich beinahe einen Herzkasper bekam. „Helena, das ist nicht lustig. Komm sofort her“, schrie ich aufgebracht und fühlte mein Herz in meinem Hals hämmern. So stark, dass es meinen ganzen Körper lähmte.

„Kate, das ist doch bloß ein Stromausfall, du brauchst doch keine Angst …“ Ein Kreischen durchschnitt Eriks beruhigende Stimme. Es war Helenas Kreischen.

„Scheiße“, schrie ich aufgebracht, „Ich habe es doch gesagt“, schluchzte ich. Ich löste mich von Erik und lief los. In die Dunkelheit hinein … wusste nicht, wo ich war. Dann ging das Licht an und Helena lief mir mit schreckensweit geöffneten Augen entgegen. Sie zitterte, ich fing sie auf und drückte sie an mich. Erik kam hinter mir hergerannt.

„Geht es dir gut?“, fragte ich panisch und strich ihr die Haare aus dem Gesicht.

„Da … war etwas. Ich habe es nicht sehen können, aber es hat mich gekratzt … oder gebissen.“ Sie zeigte mir ihren Unterarm, auf dem eine tiefe Schnittwunde zu sehen war. So tief, dass ihre Hat an beiden Seiten nach außen stand und sie auf dem ganzen Korridor ihr Blut verteilt hatte. Warum bekam ich keinen Durst? Mir wurde schlecht bei dem Anblick der Wunde. Und es war nicht nur, weil es so schrecklich aussah, sondern weil ich zu hundert Prozent wusste, dass der schwarze Schwan wieder angegriffen hatte. Und diesmal nicht mich, sondern meine beste Freundin.

„Gehen wir zu Mrs. Nolan. Das ist die Krankenschwester hier in der Academy“, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen und brachte Helena zu dem besagten Ort.

 

„Ich spüre meinen Arm nicht mehr“, sagte Helena und tippte auf ihrem verbundenen Arm rum. „Lass ihn ruhen. In ungefähr vier Stunden sollte die Wirkung nachlassen.“ Mrs. Nolan klebte den Verband fest, damit er nicht aufging. „Vier Stunden? So lange?“, rief Helena entsetzt und sah mich an. Ich zuckte darauf bloß die Schulter. Erik hatte seinen Kopf auf meinen gelegt und hielt hinter meinem Rücken meine Hand in seiner. „Ich musste ein bisschen mehr von der Betäubung spritzen. Die Wunde war viel zu tief.“

„Hm“, machte Helena und sah Mrs. Nolan an, „Und wann kann der Verband ab?“

„Ihr solltet zu Hause nach zwei Wochen vielleicht mal zu einem Arzt gehen, und es untersuchen lassen.“

„Kann ich nicht zu Ihnen gehen, Mrs. Nolan?“, fragte Helena und klimperte mit ihren Wimpern.

Ich musste kichern. Typisch Helena. Sie ließ sich auch wirklich keine Chance entgehen, den Vampiren nahe zu sein.

Mrs. Nolan lachte leise auf und fuhr Helena durchs Haar, so dass sie es wieder richten musste „Du weißt genau, dass das nicht geht.“

Helena lächelte verlegen und lehnte sich in den Stuhl zurück „Ich wurde glaube ich noch nie mit elf Stichen genäht.“

„Oh Himmel! Bitte hör auf, Helena“, grauste ich und schmiegte mich an Eriks warmen Körper.

„Und Kate“, Mrs. Nolan sah mich an, während sie etwas in eine Karteikarte schrieb, „Du bist dir sicher, dass es dieser Schwan war?“

Ich nickte.

Mrs. Nolan händigte Helena einen Zettel aus „Hier, bitteschön. Das ist eine Überweisung zu einem anderen Arzt. Und ich hoffe du weißt, dass das, was Kate vermutet, nicht weitererzählt werden darf. Die Harras Academy West hat einen guten Ruf, ich möchte nicht, dass sich das ändert, wenn die Menschen erfahren, dass wir in letzter Zeit angegriffen werden.“

Helena nickte fest „Ich verspreche, ich schweige wie ein Grab.“ Sie steckte den Zettel in ihre Hosentasche und sah mich an „Gehen wir zurück zu den anderen?“

„Ja. Machen wir das. Die warten bestimmt schon total ungeduldig.“ Wir bedankten uns noch bei Mrs. Nolan und eilten dann zu meinen  Freunden, die lachend und ahnungslos an unserem Stammtisch saßen und plauderten. Als wir uns zu ihnen setzten, und sie Helenas Verband sahen, verblasste ihr Lachen sofort „Was ist denn bei dir passiert?“, fragte Teela neugierig mit großen, besorgten Augen und strich vorsichtig mit einem Finger über Helenas verwundeten Arm. „Wir haben gesagt, ihr sollt mit Joceline reden, und euch nicht mit ihr prügeln“, scherzte Kiara, wurde aber sofort ernst, als sie meinen warnenden Gesichtsausdruck sah.

„Kate, was ist passiert?“, fragte Josi und fixierte meinen Blick.

„Der Schwan“, sagte ich leise und senkten den Kopf, „Er hat Helena angegriffen.“

„Kein Scheiß“, rief Kiara, „Ist das dein Ernst? Wir müssen das sofort Aristhea oder deiner Mentorin sagen, Mann!“

„Spinnst du? Die werden nie wieder erlauben, dass die beiden mich besuchen! Gegebenfalls werden sie auch noch mich für die Angriffe beschuldigen!“ Mein Herz fing zu hämmern an. Sie durften das auf keinen Fall weitersagen. Niemandem!

„Wow, schon gut, Katie-Kate“, murmelte Kiara, „Aber was, wenn es was Schlimmes ist?“

„Was Schlimmes?“, wiederholte Helena, „Schlimmer als ein Puddingarm und elf Stiche?“ Helena lachte ungläubig auf.

„Na ja, für Jungvampire ist so ein Biss … oder was auch immer das ist, tödlich“, antwortete Josi entschuldigend.

Helena sah mich entsetzt an.

Ich legte eine Hand auf ihre Schulter „Nicht für Menschen“, beruhigte ich sie und sah Josi fest an, „Habe ich erst vor kurzem in einem unserer Lehrbücher gelesen.“

„Na, da hast du ja nochmal Glück gehabt“, seufzte Teela erleichtert und lächelte Helena aufmunternd zu.

„Ja, aber was hat denn nun Joceline gesagt?“ Kiara sah mich neugierig an.

„Nichts“, murrte ich.

„Wieeee, nichts?!?“ Teela klappte die Kinnlade herunter.

„Na, sie wusste es noch nicht. Sie wollte erst noch recherchieren und morgen alleine mit mir darüber reden.“

„So eine“, knurrte Kiara, „So typisch für sie. Ich wette, sie will dich nur ärgern.“

„Warum sollte sie?“, fragte ich unschuldig.

„Sie hasst jeden hier. Sie hat keine Freunde, sie will keine Freunde. Warum sollte sie nicht?“, stellte Kiara mir die Gegenfrage. Darauf hatte ich keine Antwort mehr.

Nach unserem ernsten Gespräch, gerieten wir endlich einmal in ein ganz normales Teenagergesräch. Interessen, Lieblingsfilme, Beziehungen, dramatische Geschichten. Ich fühlte mich wohl. Wenn Erik und Helena nur auch hier wohnen könnten! Dann wäre alles so viel einfacher. Ich vergaß für eine ganze Weile sogar, weswegen ich hier war.

Erik und Josi teilten sehr viele gemeinsame Interessen. Ich hätte nie gedacht, dass Josi als Mensch Tennis und Fußball gespielt hat. So sah sie nun wirklich nicht aus! Sie erinnerte mich mehr an so einen typischen Cheerleader. Ein Mädchen, das Kleider trug und in High-Heels stolzierte. Sie zockte früher gerne PS3 und liebte es Zombies abzuschlachten. Himmel … ich hatte ein völlig gestörtes Sinnbild.

Erik zockte auch gerne. Das wusste jeder von der Schule. Außerdem spielte er Hockey und Fußball. Was sein straffer und trainierter Körper auch zeigte. Er war nun mal ein perfekter Traummann. So, wie ihn sich viele Mädchen vorstellen und trotzdem nicht eingebildet. Er spielte auch nicht mit Mädchen. Er war einfach … wie ein ganz normaler Junge. Ja, gut. Er zog schon manchmal unpassende Sprüche, wenn er mit seinen Kumpels unterwegs war. Das hatte selbst ich einnmal abbekommen, als er mal auf dem Gang vor seinen Kumpels fragte, warum ich heute nicht den rosanen Slip trug, den er gestern gesehen hatte. Ich fragte ihn darauf, ob er nicht jeden Tag seine Unterwäsche wechseln würde.

Also von daher: aufgefallen war ich ihm schon vorher ab und an mal. Nur seit einigen Wochen bedeutete das etwas ganz anderes. Und ich liebte ihn.

Erik seine weiche Hand strich über meine Wange, dann spürte ich seinen warmen Atem an meinem Ohr „Können wir kurz reden?“

Ich sah ihn an und küsste ihn auf die Wange „Klar.“

Wir standen auf und entschuldigten uns bei den anderen.

„Ach ja. Ich möchte keine blutleere Helena auffinden, wenn ich wieder da bin“, zwinkerte ich noch und meine Freundinnen schüttelten grinsend und kichernd den Kopf.

Jetzt war ich gespannt, was Erik mir zu sagen hatte.

Sie weiß mehr

 

 

Erik hatte mich in der Mensa hinter eine Halbwand gezogen, wo es etwas ruhiger und leer war. Er stutzte lange herum, während er meine Hände in seinen hielt und sie betrachtete. „Geht es dir nicht gut?“, war meine erste Vermutung. Erik schluckte hörbar und seufzte dann tief „Doch. Mir geht es wunderbar, Kate.“

„Okay“, sagte ich unsicher und fing seinen Blick auf.

Er lächelte bitter und streichelte meine Wange. Ich konnte es nicht genießen, weil mir sein Verhalten ganz und gar nicht gefiel. Es machte mich unruhig und teilweise sogar traurig. „Was ist denn los? Warum wolltest du nun mit mir sprechen?“

Seine Hand verweilte auf meinem Gesicht und ich fühlte, wie sie immer kälter und feuchter wurde. Er war nervös, er war unsicher und er hatte Angst. Nur wovor? Ich konnte dies alles aus seinen Augen lesen, die auf einmal so müde und erschöpft wirkten.

„Ich glaube, wir sollten so etwas wie eine Pause einlegen“, sagte er so leise, dass ich es kaum verstand und war mir im ersten Moment auch gar nicht sicher, ob ich mich darin nicht getäuscht hatte, was ich hörte.

„Eine … Pause?“ Mein Atem ging auf einmal unregelmäßig und mein Herz fing schmerzhaft an zu stechen. Erik nickte nur sacht und senkte den Blick.

„Und … warum? Gibt es einen Grund?“ Kaum hatte ich die Frage ausgesprochen, merkte ich schon, wie bescheuert sie klang. Erik dachte vermutlich gerade dasselbe. „Einen Grund“, ächte er und ließ seine Hand von meiner Wange wieder ab, „Es gibt ganz viele Gründe, Kate.“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

„Es liegt nicht an dir, okay? Es ist einfach die Gesamtsituation. Weißt du, ich kann so keine anständige Beziehung führen. Es tut zu sehr weh. Da komme ich endlich mit dem Mädchen zusammen, dass ich so liebe und dann wird sie mir von irgendwelchen Blutsaugern weggenommen.“

Ich senkte den Kopf.

„Kate?“ Er nahm mein Gesicht wieder in seine kalten Hände, doch jetzt fühlte sich diese Berührung weniger schön an. Ich sah ihm nicht in die Augen, um die Tränen zu verstecken, die sich in ihnen sammelten. „Kate. Ich liebe dich. Aber es funktioniert so einfach nicht mehr. Dann auch noch diese seltsamen Vorkommnisse hier. Und du! Du hast so vieles, was du erst einmal lernen, verstehen und verarbeiten musst. Da steh ich dir doch nur im Weg.“

„Tust du nicht“, schnitt ich ihm das Wort ab und ich bereute, dass meine Stimme klang wie ein Peitschenschlag, „Geht es dir hier um mich? Darum, wie es mir geht?“ Nun entfloh mir doch eine dicke Träne, als ich Eriks verständnisloses Gesicht sah „Wenn ja, dann muss ich dich damit enttäuschen! Denn das, was du gerade vorhast dass wird mich nur noch mehr kaputt machen. Wenn du … schluss machst.“

„Aber ich mache doch gar nicht schluss!“

Ich lachte auf „Eine Beziehungspause, Erik? Das ist ein Witz. Das gab es im Kindergarten, aber nicht heute. Das mache ich nicht mit.“

Mein stilles Weinen ging in leises Schluchzen über.

Es brachte ja doch nichts.

„Kate, ich liebe dich, glaube mir.“ Erik legte seine Hände an meine Taille und wollte mich an sich ranziehen, um mir einen Kuss auf den Kopf zu drücken, doch ich drückte ihn weg, entzog mich seiner Berührung und eilte weinend aus der Mensa. Mir war egal, dass mir meine Freunde verwundert hinterher sahen und mir war auch egal, was Erik gerade fühlte.

Konnte man sich in Jungs nur täuschen?

Ich hatte geglaubt, mich in Erik widergefunden zu haben. Er war meine Seele. Und jetzt gab er das zwischen uns auf, nur wegen dieser verdammten Vampirsache? Ich hasste mein Leben! Aufgelöst geriet ich ins Laufen, verschwand in meinem Zimmer, knallte die Tür zu, warf mich aufs Bett und weinte.

 

Es war Helena, die schließlich an meinem Zimmer klopfte und zu mir herein kam „Kate?“ Ich hörte, wie sie die Tür schloss und spürte, wie sich das Gewicht verlagerte, als sie sich zu mir auf das Bett setzte. Sie legte mir eine Hand auf den Rücken und ich setzte mich auf. „Ohman“, seufzte sie, zog mich an sich heran und tröstete mich. Ich war so froh, dass es sie gab und dass sie heute hier war. Wie gut, dass Erik nicht alleine gekommen war. Diese Situation hier hätte ich ohne Helena nicht überstanden.

„Hey“, flüsterte sie und drückte mich armlängenweit von sich weg, „Jungs sind doch alles Arschlöcher.“

„Sind sie“, gab ich ihr schniefend Recht und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht.

„Erik ist übrigens nach Hause gegangen.“

„Was sonst“, seufzte ich.

„Ich verstehe es bloß nicht.“

„Ich auch nicht“, knurrte ich, „Dieser hirnrissige Vollidiot meint, er würde mir damit etwas Gutes tun, er stände mir dann nicht mehr im Weg.“

Helena lachte emotionslos auf „So ein Trottel. Aber ich bin ja da.“ Ein wunderschönes Lächeln erhellte ihr Gesicht und ich umarmte sie noch einmal fest.

„Komm, er ist es nicht wert. Habe lieber Spaß und denk daran, dass du mich und deine tollen neuen Freunde hast. Sie sind echt klasse. Ich beneide dich.“ Helena boxte mir zwinkernd in die Schulter und stand mit mir vom Bett auf.

„Musst du auch schon gehen?“, fragte ich traurig.

Helena nickte „Leider. Mom wird ausflippen, wenn ich erst im Dunkeln nach Hause komme und außerdem“, sie hob ihren verletzten Arm, „das ist nicht unbedingt ein Pluspunkt.“

„Verstehe“, murmelte ich, „Ich begleite dich noch nach draußen.“

Helena lächelte verzwickt und ging mit ihr mit vor die Eingangstür der Harras Academy. Es wurde langsam dunkel. „Na dann. Ich werde die nächsten Tage mal anrufen. Und geh gefälligst an dein Handy!“ Helena grinste, drückte mir einen Kuss auf die Wange und ich sah ihr hinterher, wie sie das Tor der Harras Academy verließ.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort draußen stand, aber als ich realisierte, dass ich ihr wie in Trance hinterherstarrte, war es bereits stockfinster. Die Tür hinter mir war zu und ich genoss diese Stille und Kälte der Dunkelheit. Hoch oben, durch die nackten Arme der Bäume hindurch, schien der Halbmond in meine Gesicht. Ich schlang meine Arme um meinen Körper und spazierte um dieses Schlossähnliche Gebäude herum. Ich vermisste mein eigenes Zimmer. Meine Mutter, meinen Vater. Mit einem wilden Herzdonnern tastete ich nach meinem Handy, und mir fiel ein, dass sie am Samstag beide nie arbeiteten.

Hastig tippte ich die Zahlen unseres Festnetztelefones ein und wartete ungeduldig, dass das Düten unterbrochen wurde.

„Sayers zu sprechen“, hörte ich die formelle Stimme meiner Mutter.

Ich war so überwältigt, sie zu hören, dass mein Kinn anfing zu zittern und ich mich beherrschen musste, nicht aufzuschluchzen.

„Hallo? Ist da jemand?“

Ich schniefte.

„Entschuldigung. Kann ich Ihnen helfen?“

„Mum“, schniefte ich und ließ mich auf den Boden sinken, in das kalte, feuchte Gras.

„Kate? Oh mein Gott, Kate! Wie schön, dass du dich meldest! Wie geht es dir? Geht es dir gut?“

„Mum, ihr fehlt mir so.“ Jetzt war es unmöglich, die Tränen aufzuhalten. Meine Stimme zitterte die ganze Zeit über, als ich ihr alles bis ins kleinste Detail erzählte und ihr immer wieder ein entsetzter Laut entfuhr oder sie „Ach du Schreck“, keuchte.

„Kate, Schatz … das tut mir so furchtbar leid. Kann ich irgendetwas für dich tun?“

„Bitte“, schluchzte ich aufgelöst, „Bitte, kommt mit morgen besuchen.“

„Baby“, seufzte sie, „Hast du denn mit der Academy geredet? Ist das genehmigt?“

„Sie werden euch nicht zurückschicken, wenn ihr erst da seid. Bitte“, meine Stimme brach ab und ich verlor mich wieder in meinem Kummer. Ich wollte so gerne bei meiner Mutter sein. Von ihr umarmt werden, geküsst werden, von ihr gesagt bekommen, dass sie mich liebt und ich das schönste und einzige Mädchen bin, dass es für sie gibt und dass alles gut wird und ich nicht verrückt bin. Dass alles ein Ende nehmen wird. Ein glückliches Ende, und wir am Ende über all das lachen würden. Mir fehlte ihre Wärme und ihre Nähe so sehr.

„Gut, dann komme ich dich mit deinem Vater morgen besuchen, ja? Mach dir keine Sorgen, Maus. Was machst du eigentlich gerade? Wo bist du?“

„Ich sitze draußen“, antwortete ich etwas erleichtert über ihre Zustimmung.

„Draußen? Um die Uhrzeit? Kate, geh doch bitte wieder rein. Ich möchte mir keine Sorgen machen. Vor allem nach dem, was du mir alles über diesen seltsamen Schwan erzählt hast“, ihre Stimme versagte und ich hatte das Gefühl, dass Mum auch gerade mit den Tränen kämpfte.

„Hier draußen ist es weniger gefährlich, als dort drinnen“, sagte ich leise und wartete auf eine Antwort.

„Schatz, ich glaube dein Akku ist bald leer. Ich höre dauernd ein Piepen.“

Ich sah auf den Display meines Handys. Oh nein, nur noch zwei Prozent!

„Mum, dann kommt ihr morgen, ja?“

„Versprochen.“

„Dann lege ich auf. Mein Handy geht es bald aus. Ich liebe dich, Mum.“

„Ich liebe dich auch, mein Schatz.“

„Bis morgen.“

„Bis morgen.“

Wir legten auf. Ich drückte das Handy an meine Brust und fing wieder das Weinen an. Es klang erbärmlich, mein einsames, trostloses Schluchzen in der Nacht unter einem Weißdorn, dessen Blätter gespenstisch unruhig im Wind hin und herfegten, als wollten sie mich loshaben.

Erschöpft wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht und erblickte dabei eine Gestalt, die sich auf mich zu bewegte. Ich kroch erschrocken zurück und stoß mit dem Rücken gegen die Mauer, die uns von der Außenwelt abgrenzte.

„Kate?“

Als ich Aristheas Stimme erkannte, seufzte ich erleichtert auf.

Als sie nah genug war, erkannte ich auch ihre schöne Gestalt, die sich zu mir hockte und mir eine Hand auf mein Knie legte „Was machst du denn hier so alleine?“

Wäre sie eine meiner Freunde gewesen, hätte ich jetzt spontan mit Meditieren geantwortet, um die ganze Sache ins Lächerliche zu ziehen, doch das konnte ich bei ihr nicht machen. Zum Einen, weil ich Respekt vor ihr hatte und zum Anderen, weil mich das große Verlangen überkam, mich einfach in ihre Arme zu werfen und ihr meinen Kummer zu erzählen. Alles, was passiert war. Meine Träume, Klein-Katie, alles. Es wäre so viel einfacher, aber ich traute mich nicht.

„Ich habe gehört, dass deine Freundin angegriffen wurde. Ist es das, was dich so traurig stimmt?“

Sie setzte sich nun unbekümmert ebenfalls auf den nassen Boden und obwohl ihre Hand so kalt war, empfand ich sie als das Wärmste, was ich heute verspürte.

„Nein“, gab ich kleinlaut zu und senkte den Kopf.

Aristhea kam mir näher und ich fühlte einen Arm um meine Schultern. Ich fühlte ihren Körper und die Fürsorge, die von ihr ausging und ich ließ mich in ihrer Umarmung versinken, vergrub mein Gesicht in ihrer Brust und wünschte, sie könnte so alle meine Sorgen zunichte machen. Und irgendetwas geschah, dass genau dieser Wunsch in Erfüllung ging. Während sie mir den Kopf streichelte, beruhigte sich meine Atmung, meine Gedanken schweiften in eine völlig andere Richtung. Ich dachte an Kiara Moe, Teela, Josi … Alvin, Lucas und daran, welche Freude sie mir bereiteten und dass ich mit ihnen gar nicht so einsam war, wie ich mich vorhin noch gefühlt hatte. Warum hatte ich nochmal geweint? Ich hatte es vergessen! Mir zauberte sich ein zufriedenes Lächeln auf das Gesicht und ich schloss die Augen. „Du hast es nicht leicht“, fing Aristhea nun leise an und ich wunderte mich, dass ich nun etwas in ihrer Brust schlagen hörte. Etwas … wie ein Herz. Aber … sie war doch tot! Sie lebte nicht. Ihr Herz konnte nicht schlagen. Was war das? Dieses Geräusch beruhigte mich.

„Was verängstigt dich so, mein Kind?“

Ich seufzte und wollte nicht antworten, weil ich mich gerade so wohl fühlte, in ihren Armen. Sie fingen mich auf, spendeten mir Trost, Wärme und Geborgenheit.

„Mein Tattoo ist weg“, flüsterte ich wohlig und es klang eher, als sei ich darüber erleichtert, als schockiert.

Ihre Hand stockte mitten in der Bewegung und ich hörte, wie dieses pochende Geräusch, unregelmäßig wurde. „Dein Tattoo ist weg?“

Ich nickte.

„Und ich habe alles Blut wieder erbrochen, welches ich trinken wollte.“

Die Unregelmäßigkeit verstärkte sich und wurde wilder, doch es beunruhigte mich nicht. Es war, als hätte sich so etwas wie eine unsichtbare Schutzwand um mich gehüllt, um jegliche negativen Gefühle von mir fern zu halten. War das Aristheas Werk? Ich wusste immerhin, dass sie viele Fähigkeiten besitzte.

Sie nahm ihren Arm von mir und hob meinen Kinn mit ihrem Finger an. Ich öffnete die Augen und sah direkt in ihre grünen Augen, die selbst in dieser Dunkelheit wunderschön strahlten. In ihrem Gesicht lag Ausdruckslosigkeit „Kannst du mir das nachmachen?“

Sie verwandelte ihr Gesicht in das schöne Monster mit den Fangzähnen, den blutroten Augen und den Schlagadern. Es verschwand genausoschnell, wie es gekommen war und ich schüttelte müde den Kopf. „Versuche es. Ich bin mir sicher, dass du es kannst.“ Nun schlich sich Unruhe in ihre feinen Gesichtszüge.

„Habe ich“, sagte ich leise, „Vorhin erst, als meine Freunde dabei waren. Ich kann es nicht. Es verursacht mir höllische Kopfschmerzen und Übelkeit, wenn ich es versuche.“

Aristhea ließ unerwartet meinen Kopf los, so dass er sacht in sich sackte und ich hellwach wurde, als ich in wieder hoch riss. Was tat sie?

„Trink das!“ Aristhea schnitt sich eine tiefe Wunde in ihren Unterarm.

Ich sah sie an.

„Trink es, bitte.“ Sie hielt mir ihren Arm vor das Gesicht und mir blieb wohl nichts anderes übrig, als ihr Blut zu trinken. Meine Fangzähne erschienen nicht und im Gegensatz zu dem letzten Mal, fand ich diesen Geschmack abscheulich. Es war nass, dickflüssig, warm und schmeckte eklig nach Salz und Metal. Würgend riss ich meinen Kopf weg und spuckte den Rest aus meinem Mund, den ich nicht mehr runter bekam. Aristhea hatte die Augen entsetzt aufgeschlagen, als ich anfing zu husten und schließlich alles Blut wieder erbrach. Mir war speihübel!!!

„Großer Gott der Harras Academys und Vampire, der über uns wacht“, keuchte sie erschrocken und hielt sich fassungslos eine Hand vor den Mund.

Was war los?

Ich konnte zwar keine negativen Gefühle empfangen, und trotzdem wusste ich, dass ihr gerade etwas Schreckliches klar wurde.

 

 

Unerwartete Wendung

Ich wartete … und wartete … es schien, als würde ich eine Ewigkeit warten, während Aristhea sich erst wieder sammeln konnte. Dann endlich bewegte sie sich, stand vom Boden auf, half mir hoch, nahm mein Gesicht in ihre Hände und sah mir fest und fixierend in die Augen, als versuchte sie etwas aus ihnen zu lesen.
„Ich kann es nicht glauben. Das ist unmöglich!“ Sie schüttelte fassnungslos den Kopf und ich hätte schwören können, Tränen in ihren Augen glitzern zu sehen, die sie schnell wieder wegblinzelte.
„Was ist denn?“, fragte ich vorsichtig und legte meine Hand auf ihre, die lange auf meiner Wange verweilte. Dann ließ sie von mir ab und fuhr sich durch die Haare. Sie fing an auf und ab zu tigern, wie ein Tier. Ich spürte förmlich, wie sehr sie mit ihren Gedanken kämpfte, wie sehr sie überlegte und versuchte eine Erklärung zu finden für etwas, was ich nicht verstand.
„Du musst nach Hause“, sagte sie schließlich so leise, dass ich dachte, ich hätte mich verhört und daher noch einmal mit einem „Was“, nachfragen musste.
„Du musst so schnell wie möglich wieder nach Hause.“
„Aber … warum?“ Ich war mir zu hundert Prozent sicher, könnte ich jetzt negative Gefühle empfangen, würde diese Nachricht wie tausend Glassplitter in meinem Bauch schmerzen, doch ich fühlte mich immer noch glücklich. Wenn auch verwirrt glücklich, aber die Freude war da.
„Du …“, sie suchte nach passenden Worten. Sie wollte etwas aussprechen, schien aber so absurd zu klingen, dass sie es nicht über die Lippen brachte. Sie lachte kalt und emotionslos, während sie immer noch auf und ab laufend ihren Kopf schüttelte und zu begreifen versuchte, was gerade geschehen war.
„Ja?“
„Du bist ein Mensch, Kate“, sagte sie nun.
„Wie?“ Komplette Verwirrung legte sich in mir breit.
„Deine Verwandlung … irgendetwas ist passiert. Dein Körper hat irgendetwas angerichtet … du bist kein Jungvampir mehr! Deine Verwandlung wurde zurückgesetzt.“
„Aber das ist doch unmöglich“, keuchte ich fassungslos und verstand nun ihr Verhalten.
Sie nickte „Das ist wahrlich unmöglich und ich habe vorerst keine Erklärung dafür, deshalb … musst du nach Hause.“
„Aber warum?“
„Wegen deines Blutes, Kate“, zischte sie, „Spätestens morgen würde jeder dein Blut riechen. Selbst ich hatte gedacht, dieser Duft stamme noch von den paar Besuchern, die erst vor wenigen Minuten gegangen sind. Jetzt weiß ich, dass es dein Blut ist.“
„Aber … ihr könnt euch doch beherrschen!“
Aristhea warf ihren Kopf hinter und rieb sich angespannt die Schläfen, während ihr ein leises Knurren entfuhr „Kate“, seufzte sie, „Es ist nicht grundlos so, dass uns nur einmal in der Woche Menschen besuchen dürfen! Für uns ausgewachsenen Vampire, ist es ein wildes Verlangen, das in uns ausgelöst wird und gegen das wir jede Sekunde gnadenlos ankämpfen müssen. Ihr Jungvampire verspürt diese Lust glücklicherweise noch nicht, aber solltest du weiterhin hier wohnen, mit deinem frischen Blut in deinem Körper, kann ich dir nicht versprechen, dass dir nichts passiert.“
Eine Hälfte meines Herzens machte Freudenschreie, die andere weinte blutige Tränen. Kiara, Teela, Josi … Alvin! Ich konnte sie nicht hier lassen. Nicht mit dem, was sie wussten. Über Klein-Katie und meinen Träumen … meine Träume! Sie waren in letzter Zeit auch nicht mehr wieder gekommen. Ich verstand es nicht. Ich verstand rein gar nichts mehr.
Alles was ich hatte, war die Erklärung für das Erbrechen des Blutes, dass ich mich nicht mehr Verwandeln konnte und meine Tattoos verschwunden waren. Aber alles andere verstand ich nicht.
Doch vielleicht … wenn das alles weg war, vielleicht würde alles andere auch ein Ende nehmen? Vielleicht würde Klein-Kaite aufhören hier herum zu spuken, vielleicht würde mich der Schwan nicht mehr angreifen … oder dieser Mann.
Und vielleicht wären dann meine neuen Freunde auch viel sicherer.
Und Helena … ein kalter Schauer lief mir den Rücken herunter, als ich mich erinnerte, wie damals bei dem Telefonat, als Helena kurz den Raum verlassen hatte um Erik zu holen, diese Stimme aus meinem Traum am Hörer war und sagte, dass er mich wollte.
Er war in Helenas Zimmer gewesen.
Und stünde irgendeine Verbindung zwischen ihm und dem Schwan, dann war es vermutlich auch sein Werk, dass Helena heute angegriffen wurde.
„Kate, du musst nach Hause, hast du gehört?“
„Heute noch?“
„Heute noch!“
„Aber… es ist kurz vor dem Abendessen. Kiara… und alle anderen. Sie werden sich fragen, wo ich bin.“
Aristhea stieß scharf die Luft aus und überlegte kurz „Vertraust du deinen Freundinnen? Innig?“
Ich nickte ernst.
„Gut. Du darfst ihnen erzählen, was passiert ist, und warum du gehen musst. Aber du musst ihnen sagen, dass ich es Befehle, dass sie schweigen.“

Sie sahen mich schweigend an. Ihre Augen weit aufgeschlagen, ihre Körper steif und reglos. Mein Herz pochte wild, mein Kopf ratterte. Sie sollten endlich etwas sagen! Was dachten sie über mich? Hatte das eine Bedeutung für sie oder war ich trotzdem noch eine gute Freundin? „Ich … also … ich weiß nicht, was ich sagen soll“, whisperte Teela und verlagerte nun endlich ihr Gewicht. Ich biss auf meiner Lippe herum und wich ihren Blicken aus. „Wäre die Lage nicht so ernst“, fing Kiara leise an, „Würd‘ ich dichf ragen, ob ich mal von dir kosten darf.“ Ich zog meine Brauen in die Höhe und brachte ein verzwicktes Lächeln zustande. Josi boxte Kiara in die Seite „Spinn nicht.“
„Sorry“, knurrte sie, „Aber wenn das wirklich dein Blut ist, was ich rieche, dann“, sie stieß scharf die Luft aus und Teela kicherte ein wenig „Stimmt. Vermutlich ist sie genauso köstlich, wie sie duftet.“ Sie lächelte mich zuckersüß an und ich strich mich eine Strähne hinter´s Ohr, ohne zu wissen, was ich sagen sollte.
„Leute, könnt ihr vielleicht mal ernst bleiben?“, zischte Josi und kam zu mir. Sie nahm mich an der Hand und sah mir in die Augen „Denkst du, das hört auf?“, fragte sie leise. Ich sah sie aus großen Augen an „Was  genau?“
„Ich glaube, sie meint das mit Klein-Katie und so“, erklärte Kiara.
Ich seufzte und dachte lange nach, spielte mit Josis Fingern rum. Würde das aufhören?
„Na ja“, murmelte ich, „Immerhin haben die Dinge angefangen, als ich hier angekommen bin. Dann müssten sie doch theoretisch auch wieder aufhören, oder?“ Ich suchte in ihren Augen nach Bestätigung doch sie senkten die Blicke und wussten nicht zu antworten. Vermutlich waren sie sich nicht sicher, und wollten mir keine falschen Hoffnungen machen.
„Und was wenn nicht?“, fragte Teela vorsichtig. Alle Blicke richteten sich auf sie. „Na, dann habe ich wohl … Pech.“ Josi schüttelte schnell den Kopf und nahm mein Gesicht in ihre Hände. Ich merkte, wie sie die Zähne zusammenbiss und sich ihr Körper anspannte, als sie meine Schlagader am Hals pochen spürte „Hör zu“, brachte sie mühsam hervor, „Wir werden für dich da sein, selbst wenn du nicht mehr hier wohnst, okay? Wenn du das Gefühl hast, in Gefahr zu sein, dann ruf uns an.“
„Danke“, sagte ich verlegen, „Ihr seid mir wirklich wahre Freunde geworden.“
„Aww, komm zu Tante Baker, mein Hasi-Pupsi“, schmollte Kiara und schloss mich in ihre Arme, genau wie die anderen beiden auch. So verweilten wir eine gefühlte Ewigkeit und ich genoss es, von ihnen in den Arm genommen zu werden. Es fühlte sich seltsam vertraut an.
Ein Räuspern ließ uns außeinanderfahren. Wir sahen zu Aristhea, Desdemona und den beiden Typen, die wie Bodyguards aussahen. „Du musst los“, sagte Aristhea und sah mich vielsagend an, „Elijah wird dich nach Hause fahren.“ Mit einem Kloß im Hals sah ich meinen Freunden in die Augen und ich sah, wie Teela mit den Tränen kämpfte. Ich konnte mir nicht verkneifen, sie ein zweites Mal an mich zu drücken „Ich werde euch nie vergessen“; flüsterte ich in ihr Ohr. Teela nickte „Und wir bleiben Freunde, ja?“, schniefte sie und wischte sich über das Gesicht, als ich sie wieder los ließ. Ich nickte und lächelte sie aufmunternd an. Dann ging ich zu Aristhea, wo ich mich noch einmal umdrehte „Richtet Alvin und Lukas liebe Grüße von mir aus.“ Jetzt musste selbst ich mit den Tränen kämpfen, schluckte sie aber immer wieder tapfer. Meine Freunde nickten.
„Kate, wir müssen“, sagte Aristhea fürsorglich und legte mir eine Hand auf die Schulter. Dann drehte ich meinen Freunden endgültig den Rücken zu und verließ mit den vieren das Grundstück. Sie begleiteten mich vor das Tor auf die Straße, wo ein schwarzer Wagen stand und nur darauf wartete, dass ich einstieg. Mein Herz verkrampfte sich. Ich war lange nicht mehr draußen gewesen, aber auf einmal war es mir nichts mehr wert. Mir fehlten die Mädels jetzt schon. Und jetzt war es unmöglich die Tränen  zurück zu halten. Desdemona legte ihre Hände auf meine Schultern und sah mir in die Augen. Ich versuchte zu erkennen, was sie mir sagen wollte, doch dazu kam ich nicht, denn sie nahm mich kurz in den Arm und flüsterte mir etwas ins Ohr, so leise, dass ich es kaum hörte. Es hörte sich an wie: „Genieße es. Du bist jetzt wieder frei.“ Aber sicher war ich mir nicht. Mit einem tiefen Seufzen löste ich mich von ihr und sah Aristhea an, die mir eine Träne von der Wange streichelte, mein Gesicht in ihre Hände nahm und sich zu mir herunter beugte. Ihr Gesicht war meinem so nah, dass ich ihren Atem an meinen Lippen fühlen konnte. Sie lächelte und fixierte meinen Blick „Hör zu, Kate“, fing sie an, „Das ist nicht das Ende. Und ich habe im Gefühl, dass du etwas Besonderes bist. Dieser Vorfall wird kein Zufall gewesen sein. Und ich werde herausfinden, warum ausgerechnet du.“ Ich sah ihr lange in die Augen und ließ die Worte auf mich einwirken. Sie hielt mich für etwas Besonderes, obwohl ich wieder ein Mensch war. Würde Cassidy das hören, würde sie blau werden vor Neid. Über Aristheas Gesicht wich so ein weicher Ausdruck, so ein herzlicher, warmer Ausdruck, dass ich unter ihrer Berührung erzitterte. „Mein Kind“, flüsterte sie noch, dann legte sie ganz zärtlich ihre Lippen auf meine und gab mir einen Kuss, von dem ich nicht wusste, was ich denken sollte. Dann umarmte sie mich noch einmal kurz und überließ mich ihren … Bodyguards. James hielt mir die Autotür auf und ich setzte mich hinein. Die Tür fiel zu, Elijah saß schon neben mir am Beifahrersitz. Er startete den Motor, während hinter Aristhea, Desdemona und James das Tor, hinter dem die Harras Academy war, zufiel. Als er los fuhr, sah ich im letzten Augenblick noch das Gesicht von Cassidy in eines der Fenster. Sie starrte ausdruckslos auf das Auto herab, in dem ich saß und neben ihr … mein Herz setzte für mehrere Schläge aus und verkrampfte sich … neben ihr stand die Gestalt, die mich in der Bibliothek angegriffen hatte.

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir! Verwendung und/ oder Verbreitung nicht gestattet
Bildmaterialien: www.weheartit.com
Tag der Veröffentlichung: 29.01.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dear, whoever is reading this, don´t forget to smile today :-)

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