~
"What more can I say, what more can I do?
I'm livin' a lie when I say I'm over you.
Still fallin' apart, I'm broken of heart.
Can make a new start after all we've been through.
I can't let go, I don't know why.
None knows I've tried, still I'm broken inside.
Here we are, once again, how can these tears still be rollin' down my face again?
I can't believe, I'm still crying, I'm still crying over you."
~
Weil die Welt ohne dich keine Welt mehr ist.
Man sagt, die Zeit heilt alle Wunden. Das stimmt nicht. Zumindest nicht immer. Manchmal hat man das Gefühl, dass es nie aufhört zu bluten, egal wie viele Wochen, Monate, Jahre schon vergangen sind. Man denkt sich, so sehr wie es schmerzt, müsste man eigentlich bald tot sein. Aber das passiert nie. Ich denke, es ist gerade noch so erträglich, dass es einen nicht umbringt, äußerlich auf jeden Fall nicht. Und gerade das ist das Gemeine an der Sache – man muss lernen damit zu leben, versuchen zu vergessen, so tun, als wäre alles in Ordnung.
Ich wischte mit einem Ärmel über die beschlagene Scheibe, um draußen etwas erkenn zu können. Um zu sehen, ob er vielleicht doch wiederkam, so wie er es mir einmal versprochen hatte. „Ich werde immer wieder zu dir kommen. Immer.“ Das waren seine Worte gewesen und dabei hatte er gelächelt, das Lächeln, das ich so geliebt hatte und das ich noch immer manchmal vor mir sah. Dann hatte er mich in die Arme genommen und geküsst und ich hatte gewusst, dass ich das glücklichste Mädchen der Welt war.
Aber das war Vergangenheit und ich sollte eigentlich wissen, dass ich nicht mehr auf seine Versprechen zählen konnte. Tief in meinem Herzen glaubte ich ihm noch immer, all das Schöne, was er mir gesagt hatte. All die Versprechen, die er bereits gebrochen hatte. „Ich werde dich für immer lieben. Ich werde dich niemals allein lassen. Ich werde für dich da sein, wenn du mich brauchst.“ Alles gelogen. Er liebt mich nicht mehr, dachte ich nüchtern und begriff doch nicht den Sinn der Worte. Es konnte nicht sein. So oft hatte er es mir gesagt und ich hatte in seinen Augen gesehen, dass es wahr war. Und er hatte mich allein gelassen. Er war nicht für mich da und genau jetzt hätte ich ihn am dringendsten gebraucht, eine Umarmung, ein Lächeln, aufmunternde Worte von ihm. Aber er sah einfach dabei zu, wie es mich immer mehr zerriss, in immer kleinere Stücke. Oder er sah noch nicht einmal zu – er sah mich gar nicht und das war noch schlimmer. Vielleicht gibt es solche Phasen im Leben eines jeden Menschen, die man alleine durchstehen muss, in denen einem keiner helfen kann. Vielleicht gibt es sie auch nur für manche Menschen.
„Kommst du essen?“ Ich fuhr herum, aufgeschreckt. Meine Mutter stand in der Tür, eine Schürze umgebunden und einen Soßenspritzer auf der Wange. Sie sah mich an, mit diesem seltsamen Ausdruck in den Augen, halb ängstlich und besorgt, halb aufgesetzt fröhlich.
Stumm warf ich einen flüchtigen Seitenblick aus dem Fenster, dann wieder schnell zu ihr, aber sie bemerkte es trotzdem. Langsam kam sie zu mir hinüber und sah einige Sekunden schweigend auf die Straße hinaus, so als würde sie dasselbe tun wie ich – warten, dass das Glück zurückkommt, dass der Albtraum vorbei ist.
„Er kommt nicht zurück“, sagte sie dann ohne mich anzusehen. Ihre Worte klangen fest und entschlossen. In meinem Kopf nahm ich die Buchstaben auseinander, setzte sie wieder zusammen. Es kam mir vor, als redete sie mit jemand anderem. Für mich galt dieser Satz nicht, er war nicht richtig. Also erwiderte ich nichts, sah nur wie sie wieder hinaus, wo es regnete und die Welt in trübes grau getaucht wurde. Ich spürte, dass meine Mutter mich beobachtete, weil sie dachte, ich würde es nicht merken. Sie wartete auf meine Reaktion, irgendein Zeichen, dass ich ihre Worte wahrgenommen hatte. Ich blieb stumm und regungslos sitzen, sah dem Regen zu.
„Kommst du?“, wiederholte sie ihre Frage von vorhin und nahm mich sanft am Arm.
Ich schüttelte sie ab. „Gleich.“
Unschlüssig blieb sie einen Moment stehen, dann seufzte sie und ging zur Tür. „Okay.“
Und sobald sie fort war, hatte ich das Essen schon wieder vergessen. Verdrängt. So wie ich es mit ihm manchmal gerne tun würde und doch Angst davor hatte. Angst, dass ich mich eines Tages nicht mehr an seine Augen würde erinnern können, Angst, dass ich unsere Zeit vergas, unseren Sommer. Ihn selbst würde ich nie vergessen können, das wusste ich. Nicht nur, dass ich ihn jeden Tag von weitem auf dem Schulhof beobachtete, er hatte sich in meiner Seele eingebrannt, für immer. Ich hatte gedacht, nein, ich hatte gewusst
, dass er der Richtige war. Die Liebe meines Lebens. Ich wusste es noch immer. Was ich nicht gewusst hatte war, dass auch der Richtige gehen kann, dass auch die Liebe des Lebens nicht immer zusammen glücklich wird. Durfte das überhaupt so sein? Durfte einer aufhören, den anderen zu lieben? Einfach so? Ich bezweifelte es und doch war es geschehen.
Und so war ich jetzt allein, von ihm verlassen und noch immer bedingungslos in ihn verliebt. Er hatte mein Herz gestohlen und es mir nie zurückgegeben – und es würde ihm gehören, bis ans Ende aller Zeiten. „Lass andere Menschen in dein Herz“, sagten die anderen. Meine Mutter. Meine Freundinnen. Mein bester Freund. Aber welches Herz? Und wie sollte ich dort jemals andere Menschen hineinlassen, wenn doch nur für ihn Platz war, wenn er der Einzige war, der immer da sein würde, ob er wollte oder nicht.
„Halt Abstand von mir. Ich will dich nicht verletzen.“ Das hatte er zuletzt zu mir gesagt. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Ich war längst verletzt gewesen und doch hielt ich mich an seine Bitte, ich ging ihm aus dem Weg, auch wenn es mir falsch vorkam, so zu tun, als würden wir uns gar nicht kennen. Ich hätte es vielleicht ertragen können, wenn es auch ihm wehgetan hätte, wenn ich ihm den Schmerz angesehen hätte. Aber nichts. Er hatte so anders ausgesehen als sonst, entschlossen und unerbittlich. Er hatte mich die ganze Zeit unverwandt angesehen und zugeschaut, wie jedes seiner Worte mich wie eine Nadel traf und immer mehr kaputt machte. Wie konnte er so eiskalt und herzlos sein? Wie? Er, von dem ich gedacht hatte, dass er der war, dem ich am meisten vertrauen konnte, hatte mich zuletzt auch am meisten verletzt – aber ich hatte ihm längst verziehen. Seine Worte, sein Abschied, alles. Und ich wusste, wenn er zurückkommen würde, wäre es mir egal, was geschehen war, ich würde ihn immer wollen. Er war der Einzige, der mein zerbrochenes Innenleben wieder heilen konnte und ich glaubte daran, dass er es eines Tages tun würde. Ich musste nur warten, darauf, dass die Zeit uns irgendwann wieder vereinte, so wie es sein musste.
„Vergiss ihn endlich“, sagte mir meine Freundin oft und ich nickte jedes Mal gehorsam. Aber wie konnte ich ihn vergessen, wenn es sein Gesicht war, das ich vor mir sah sobald ich die Augen schloss? Wenn er es war, der meine Träume beeinflusste und der mich zumindest über Nacht glücklich machte? Wenn ich noch immer davon überzeugt war, dass er der beste Mensch auf dieser Welt war? Wenn ich ihn immer noch mehr als alles andere liebte? Ich hatte vergessen, wie es sich anfühlte, das nicht für ihn zu empfinden, vergessen wie es war, als ich noch an ihm vorbeigehen konnte, ohne dass mein Herz sich überschlug. Woran sollte ich denken, wenn nicht an ihn?
Ich wäre zufriedener, wenn ich wenigstens sehen könnte, dass er genauso fühlte, dass ich nicht die Einzige war, die litt. Aber dass er ohne mich glücklich sein konnte und ich nicht, dass ich ihn unendlich vermisste und er mich nicht – das tat weh. Jede Pause sah ich ihn bei seinem Freundeskreis stehen und lachen – ohne mich. Sonst war er immer nur mit mir irgendwohin gegangen, wo nicht so viele Leute waren, damit wir ungestört sein konnten. Aber meine Hand hatte er trotzdem vor allen anderen gehalten, vor allen hatte er mich geküsst und mir gesagt, dass er mich liebte. Ich war dann immer rot geworden, ich war so stolz darauf gewesen, ihn meinen Freund nennen zu dürfen. So stolz und glücklich. Jetzt wusste ich, dass ich etwas hätte anders machen sollen. Irgendetwas. Um ihn nicht zu verlieren.
„Eines Tages. Eines Tages vielleicht“, hatte er noch gesagt und ich wünschte, ich hätte den Satz nicht mehr gehört. Ich wünschte, in meinem Kopf wäre an dieser Stelle schon so viel Rauschen und Dröhnen gewesen, dass ich nichts anderes mehr wahrnahm. Aber natürlich hatte ich ganz genau hingehört, um ja keines seiner Worte zu verpassen, egal wie sehr sie schmerzten. Er hatte die schönste Stimme überhaupt – warum war mir das früher eigentlich nie aufgefallen? Und nicht nur das – warum war er mir nie aufgefallen? Mein ganzes Schulleben lang hatten wir schon dieselbe Klasse besucht und er war immer nur irgendein Junge gewesen. Und ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann es sich geändert hatte. Irgendwann eben, es kam plötzlich, so als ob ich auf einmal sehen könnte. Aber zu spät. Viel zu spät hatte ich es gemerkt und dann war unsere Zeit zusammen nur so kurz gewesen... und doch hatte er mir mit diesen letzten Worten noch Hoffnung gegeben. Hoffnung, die ich eigentlich nicht haben wollte. Er hat es nur gesagt, um dich zu trösten, sagte ich mir jeden Tag und hoffte trotzdem. Und wartete. Darauf, dass die Zeit uns wieder vereinte, so wie es sein sollte. Wenn ich ganz fest daran glaubte, würde es auch geschehen – und ich musste einfach daran glauben, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte. Was hätte es noch für einen Sinn, all die unangenehmen Stunden im Leben abzusitzen, wenn ich nicht mehr auf ihn warten könnte? Wenn es ganz klar vorbei wäre?
Ruckartig stand ich auf. Auf einmal kam der Raum mir zu klein vor, ich musste… einfach weg. Raus. Egal wohin. Ich konnte nicht vor meinen Gedanken fliehen, nein. Wo auch immer ich war, sie verfolgten mich verlässlich und irgendwie war ich froh darüber. Froh, wenigstens noch in Erinnerungen leben zu können.
Ungewöhnlich hektisch lief ich aus meinem Zimmer und die Treppe herunter, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Ich nahm nichts weiter mit, keine Tasche und kein Handy – denn die einzige Person, von der ich angerufen werden wollte, würde es sowieso nicht tun.
„Gehst du weg, Liebes?“, rief meine Mutter aus der Küche, als ich gerade die Haustür zuschlagen wollte. Ich hörte die Hoffnung in ihrer Stimme und erwog kurz, einfach so zu tun, als hätte ich sie nicht mehr gehört, um der Antwort auszuweichen. Doch ich blieb stehen.
„Ja, ich… wollte noch kurz in die Stadt“, sagte ich vage und überlegte mir dabei, dass das ja auch noch vollkommen gelogen war. Zumindest würde ich die Stadt durchqueren.
„Okay! Bis später!“
„Bis später.“ Die Tür fiel mit einem Klicken ins Schloss und ich fühlte mich gleich irgendwie besser. Ich hatte keine große Lust, mit dem Fahrrad loszufahren und so ging ich einfach zu Fuß – dorthin, wo es mich eben gerade hinführte. Es hatte aufgehört zu regnen und ich war wütend darüber. In einer Welt ohne ihn musste
es regnen, immerhin gab es ziemlich viel zu beweinen.
Ich sah aus Prinzip immer zu Boden, um keine besorgt-mitleidigen Blicke von Leuten, die von mir und dem ganzen Chaos in meinem Leben gehört hatten, ertragen zu müssen. Aber vor allem um nicht zufällig einem seiner zahlreichen Freunde oder im schlimmsten Fall ihm zu begegnen. Doch ab und zu musste ich einfach aufschauen – denn was, wenn er wirklich hier irgendwo war und ich ihn verpasste?! Undenkbar. Ich redete mir ein, ihm dann sowieso nur einen flüchtigen Blick zuzuwerfen, den er gar nicht bemerken würde. Nur ganz kurz, um meine Erinnerung an sein Gesicht aufzufrischen. Um wenige Sekunden lang denken zu können, dass dieser wunderbare Junge mir gehörte.
Deswegen war ich halb erleichtert und halb enttäuscht als ich ihn nach einem ausgiebigem Lauf durch die Innenstadt nirgends entdeckt hatte und ich bemerkte erst, wohin ich unterwegs war, als ich dort schon fast angekommen war. Und bevor ich mich dazu durchringen konnte, sicherheitshalber noch umzudrehen, war ich schon da. Viel zu groß für unsere winzige Stadt ragte das Bahnhofsgebäude vor mir auf und ohne dass ich etwas dagegen hätte tun können, ging ich hinein – so wie ich es schon hunderte Male zuvor getan hatte. Nur dass ich dann meistens außer Atem gewesen war, weil ich mich sosehr beeilt hatte und mir erst zu spät auffiel, wie zerzaust und unordentlich meine Haare jetzt aussahen.
Langsam ging ich die Treppe zum Gleis 8 hoch und erinnerte mich daran, wie oft ich hier zwei oder drei Stufen auf einmal genommen hatte, weil ich schon gehört hatte, wie der Zug einfuhr. Und plötzlich ging ich schneller, obwohl ich es gar nicht wollte, schließlich rannte ich die endlos lange Treppe hinauf – ohne Grund. Aber ich wollte gerne glauben, dass ich ihn in wenigen Minuten sehen würde, dass er mir entgegenkommen würde, mein Lieblingslächeln lächelnd, und mich dann in die Arme nehmen würde, sodass ich alles um mich herum vergas. Ich glaubte fast zu hören, wie er es vor sich hinflüsterte: „Mein Mädchen.“ Er hatte mir viele Kosenamen gegeben, einer niedlicher als der andere, aber das hatte ich am liebsten gehört. Sein Mädchen. Tief in mir war ich es noch immer, ich konnte es nicht ertragen, das einfach zu vergessen und so zu tun, als wäre da nie was gewesen. Er offensichtlich schon. Dieser letzte Gedanke sollte eigentlich fest und gleichgültig klingen, doch es traf mich noch immer so hart, als würde ich zum ersten Mal daran denken.
Atemlos kam ich am Gleis an und blieb schwer atmend stehen. Allein. Niemand war hier, der Bahnsteig war vollkommen leer und meine seltsame Aufregung verschwand augenblicklich. Langsam ging ich ein paar Schritte und setzte mich dann auf eine der kalten Sitzbänke. Neben mir stand die Tafel mit den Ankunfts- und Abfahrtszeiten der Züge – ich hatte ewig nicht mehr darauf geschaut, weil ich die Zeiten für seinen Zug längst auswendig kannte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er immer noch so oft fortfuhr, auch wenn es albern war. Warum sollte sich etwas daran ändern, dass er manchmal seinen Vater besuchte oder zu seiner Keyboardstunde musste? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass sein Leben ohne mich unmöglich so systematisch und geordnet sein konnte wie immer und meins vollkommen in Scherben lag. Ich wusste, dass er abschließen konnte und ich nicht. Und vor allem wusste ich, dass er mein Leben gewesen und auch jetzt noch immer war, während ich nur ein Kapitel in seinem beansprucht hatte. Das war einfach nicht gerecht…
Es hatte wieder angefangen zu regnen, aber ich merkte es kaum. Der Wind pfiff um mich herum, aber ich nahm auch die Kälte nicht wahr. Allmählich wurde es wohl wirklich Winter… Er hatte den Winter gemocht, anders als viele, die immer den Sommer herbeisehnten. Ich hatte nie verstehen können, warum er beim stürmischsten Wetter draußen herumlaufen wollte, aber ich hatte seine Einstellung irgendwie bewundert. Wie er sein Ding durchzog, während alle etwas anderes taten, wie er nein sagte, wenn alle ja sagten.
Vielleicht bedeutete es irgendwas, dass es ein Sommertag gewesen war, an dem er mich allein gelassen hatte. Heiß und drückend war es gewesen, man hatte das Gefühl gehabt, gar nicht einatmen zu können. Ich stellte mir manchmal vor, wie damals in meiner kleinen Welt die Zeit stehen geblieben war und ich deswegen heute, egal wo ich war, noch immer so fühlte. Als ob mir die Luft zum Atmen fehlen würde, aber ich könnte trotzdem nicht daran ersticken. Und irgendwo fragte ich mich auch, ob er gewusst hatte, wie weh er mir damit tat. Nein, sagte mein Herz, niemals hätte er es dann getan. Natürlich, sagte mein Verstand, er sieht dich doch jetzt noch leiden und steht unberührt daneben.
Ich sah auf, als ein Schatten auf mich fiel. Vor mir stand ein Schaffner in Uniform, er runzelte besorgt die Stirn, während er mich musterte. Ich starrte ihn an.
„Warten Sie auf jemanden?“, fragte er vorsichtig und klopfte mir väterlich auf die Schulter.
Ich sah an ihm vorbei auf die Gleise, auf denen niemals der richtige Zug einfahren würde. „Ja.“
… weißt du, ich vermisse dich und du merkst es nicht einmal.
Mir war nie bewusst gewesen, dass Schule eine regelrechte Folter sein kann – und das nur wegen einem einzigen Menschen. Klar, arbeiten schreiben, früh aufstehen und Hausaufgaben trägt nicht gerade dazu bei, dass man es mag, aber im Großen und Ganzen ist es eben Pflicht und irgendwo auch erträglich. So hatte auch ich es früher empfunden, nein, ich hatte Schule sogar richtig gemocht
, weil ich jeden Tag ihn sehen und anbeten konnte. Dann war ich dazu übergegangen, es zu lieben, als wir nämlich zusammen waren und insgeheim hatte ich es genossen, wie mich die anderen Mädchen neidisch angesehen hatten.
Und so war ich dann von höchster Freude zu tiefster Niedergeschlagenheit, meinem derzeitigen Status, gelangt. Einerseits war ich noch immer dankbar, ihn wenigstens von Weitem sehen zu dürfen, es gab mir das Gefühl, dass das Geschehene real und kein Traum war. Manchmal jedoch wünschte ich mir auch, es wäre ein Traum gewesen, denn dann müsste ich vielleicht nicht jedes Mal bei seinem Anblick diesen verstärkten Druck auf meiner Lunge ertragen, müsste nicht noch einmal mehr spüren, wie sehr er mich verletzt hatte.
Komisch, wie schnell man ganz allein dastehen kann – früher war ich immer von Freunden umgeben gewesen oder zumindest von Menschen, die ich als Freunde bezeichnet hatte. Jetzt war ich mir nicht mehr sicher, ob sie das gewesen waren. Sie hatten mich nicht verstanden, sie hatten mir immer wieder gesagt, dass ich über die Trennung von ihm allmählich hinwegkommen musste und dass es nicht das Ende der Welt war.
Das stimmte nicht. Es war
das Ende der Welt, wenigstens das von meiner. Er war schließlich meine Welt gewesen, warum verstanden sie das nicht? Vielleicht war das mein Fehler gewesen. Vielleicht hätte ich das nicht zulassen dürfen. Ich war unvorsichtig gewesen, weil ich ihm blind vertraut hatte, weil ich gedacht hatte, dass er mich niemals verletzen würde. Und es war trotzdem geschehen und er hatte alles kaputt gemacht. Vielleicht für immer.
Automatisch schweifte mein Blick über den Schulhof, sobald ich ihn betrat, auf der Suche nach ihm. Ich hatte ihn schnell gefunden, er stand gar nicht weit weg, inmitten seiner vielen Freunde, darunter auch eine Menge Mädchen. Nein, ich war nicht einmal eifersüchtig. In dieser Hinsicht war ich wirklich nett. Irgendwie konnte ich diese ganzen Menschen um ihn herum nur bewundern, sie vielleicht ein bisschen beneiden, weil er ihre Anwesenheit akzeptierte und meine nicht mehr. Aber unfair konnte ich es trotzdem nicht finden – er hatte mir so eine glückliche Zeit beschert, dass jetzt andere an der Reihe waren. Ich war so dumm gewesen zu denken, dass das Glück mich nie wieder verlassen würde und dann war es geschehen und ich war kein bisschen darauf vorbereitet gewesen.
Er lachte. Sein Lachen war das Schönste auf der ganzen Welt, das war es schon immer gewesen. Und es war mir immer noch schöner erschienen, wenn es nur mir gegolten hatte…
Der Wind zerzauste sein dunkles Haar, er ließ es schon seit einiger Zeit länger wachsen und ich mochte es so. Ich fragte mich, ob er wohl wusste, dass ich ihn beobachtete. Wenn ja, ignorierte er mich ziemlich gut, denn er hatte mich nicht einmal seit jenem Tag angesehen. Ich war einfach Luft für ihn und das machte es so schwer zu glauben, dass ich einmal allein sein Mädchen gewesen war, das Mädchen, das er liebte.
Ich hatte nicht versucht, mit ihm zu reden. Ich wollte ihm zum einen seinen Willen lassen und nicht feige wirken. Aber vor allem hatte ich es nicht getan, weil ich Angst hatte. Angst vor seinen Worten und Reaktionen – ich wusste, dass er noch immer der war, der mich am meisten damit verletzen konnte, sogar unbewusst. Ich wollte nicht noch einmal bestätigt hören, dass ich nichts mehr für ihn war und dass ich ihn in Ruhe lassen sollte.
Er hatte damals gesagt, ich sollte vergessen was war. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Dass ich die Zeit einfach aus meinem Gedächtnis streichen und die Erinnerungen löschen konnte? Schon immer hatte er mich für stärker gehalten als ich eigentlich war und ich fragte mich oft, woran das lag. Ich machte ganz und gar keinen starken, selbstbewussten Eindruck, mutig war ich nie gewesen. „Du schaffst das schon. Du bist mein starkes Mädchen“, hatte er immer in unerschütterlichem Optimismus zu mir gesagt und mein Gesicht in seinen warmen Händen gehalten.
Sein Platz neben mir war im Unterricht noch immer frei. Ich hatte das Gefühl, ansonsten zu zeigen, dass ich über ihn hinweg wäre – aber das war ich nicht. Und selbst wenn er nie wieder dort sitzen sollte, dann würde der Platz eben leer bleiben.
Er saß jetzt weiter vorne und ich würde auch in den Unterricht gehen, nur um die ganze Stunde über seinen Hinterkopf anzustarren, zu beobachten wie er etwas aufschrieb und zu hören wie er manchmal sprach, wenn er drangenommen wurde. Es war spannender als jeder Film, nur seine Bewegungen zu verfolgen – wie er sich manchmal durchs Haar fuhr oder mit den Fingern leise auf die Tischplatte trommelte.
Aber was auch immer tat, ich sah nur von weitem zu, ich war ein Zuschauer und spielte nicht mehr mit, so wie früher. Nicht einmal eine Nebenrolle besetzte ich noch, ich war wie abgeschnitten und hatte das Gefühl, damit die Einzige zu sein. Es kam mir vor, als würde er jedem mehr Aufmerksamkeit schenken als mir. Dabei hatte er immer, jede Minute, meine ungeteilte Aufmerksamkeit, mit jeder Faser meines Körpers konzentrierte ich mich nur auf ihn. Ich hatte versucht, es zu lassen. Ich hatte wirklich versucht, ihn in Ruhe zu lassen, so wie er es wollte, aber ich konnte nicht. Er war wie ein Magnet für mich und ich wollte gar nicht die Kraft haben, ihm zu widerstehen. Wenn er doch das Einzige war, das ich wirklich wollte, wie konnte ich ihn aufgeben?
Ich fragte mich, ob er denn gar nicht manchmal zurückdachte. Ob er sich nicht manchmal daran erinnerte, wie glücklich wir gewesen waren und wie wunderbar die Zeit zusammen gewesen war. Ich weigerte mich zu denken, dass es sich für ihn vielleicht nicht so angefühlt hatte, das hätte er mir doch nicht alles vorspielen können, oder?
Es klingelte durchdringend und ich fuhr zusammen. Während alle aus dem Klassenraum stürmten, blieb ich noch ein paar Sekunden wie betäubt sitzen, sah ihm hinterher, wie er lachend und redend auf den Flur trat und dabei seine Jacke anzog. Ich stand auf und ging ebenfalls hinaus, um ihn wie jeden Tag aus der Ferne anzusehen ohne dass er mir die geringste Beachtung schenkte.
„Du darfst nicht zulassen, dass der Junge so viel Einfluss auf dich hat“, sagte mir eine meiner Freundinnen oft. „Er kommt nie zurück, wenn du ihn spüren lässt, dass du ihn vermisst.“ Sie mochte Recht haben, aber was hatte das für einen Sinn? Ich hatte ihm immer die Wahrheit gesagt und deswegen würde ich nicht so tun als wäre er mir egal – es war so schon schwer genug. Jeden Tag. Und ich wollte einfach nicht glauben, dass das seine Schuld war, vielleicht ist das ja immer so, wenn man jemanden sehr liebt. Man kann ihm einfach nichts vorwerfen, man sicht Fehler bei sich selbst, die vielleicht gar nicht da sind, man glaubt es immer noch, auch wenn man tausend Beweise hat, die dagegen sprechen.
Ich wusste, ich konnte noch lange so weitermachen. In dieser Hinsicht hatte er Recht, ich war stark. Aber ich war es nur für ihn. Ich konnte so weitermachen bis wir mit der Schule fertig waren, ich würde immer in seiner Nähe bleiben, ob er wollte oder nicht. Das war der einzige Wunsch, den ich ihm nicht erfüllen wollte und konnte.
Ereignislos zog der Tag an mir vorüber, ich sah zu, wie er mittags in den Bus stieg und ging ohne Eile nach Hause. Meine wichtigste Beschäftigung für heute war erfüllt, ich konnte also beruhigt wieder dazu übergehen, nichts zu tun. Früher hatte ich eine Menge Hobbys gehabt, mit ihm aber auch die Lust daran verloren. Sie machten mir nur wieder deutlich, wie sehr er fehlte, weckten Erinnerungen daran, wie er mich danach immer schon erwartet hatte und mich als Erstes umarmt hatte. Kleinigkeiten, die mir nach einer Weile ganz selbstverständlich erschienen waren, hatten einen unschätzbaren Wert und ich bezweifelte, dass ich je etwas davon vergessen konnte.
Man hört oft, dass man erst erkennt, was viel wert war, wenn man es verliert – aber eigentlich erfasst man die richtige Bedeutung dessen erst, wenn es einem passiert, wenn einem das Wichtigste im Leben genommen wird. Natürlich versteht man das erst viel zu spät, so ist es viel zu oft und höchstwahrscheinlich würde man den gleichen Fehler wieder machen, man würde dem Menschen tausend zweite Chancen geben, egal was war. Selbst wenn man nur ausgenutzt wird, bemerkt man es gar nicht, man verzeiht wieder und wieder, obwohl der andere das vielleicht gar nicht verdient.
Im Grunde ist kein Mensch auf dieser Welt perfekt…bis man sich in ihn verliebt. Man verliebt sich eigentlich fast immer mehrfach im Leben und jedes Mal spricht man von ‚der großen Liebe’. Aber ob sie es war, kann man ganz sicher erst im Nachhinein sagen und ich denke, es wird der Junge gewesen sein, der dich glücklich gemacht hat, auch wenn du noch nicht mit ihm zusammen warst. Mit dem du eine wunderbare Zeit hattest, als er noch nicht mal deinen Namen kannte. Der deinen Tag unbewusst verschönert oder verschlechtert hat. Nach dem du morgens in der Schule immer als Erstes Ausschau gehalten hast und dessen bloße Gegenwart dir schon wie ein Geschenk vorkam. Den du für den perfektesten Menschen dieser Erde gehalten hast, während alle sagten, dass er arrogant wäre. Bei dem dir deine Freundinnen sagten ‚Wenn er dich nicht will, verdient er dich nicht’ und du ihn trotzdem weiterhin angehimmelt hast. Denn dann hast du ihn wirklich geliebt. Und das ist es, was im Endeffekt zählt.
Wahrscheinlich werde ich ihn niemals zurückbekommen. Wahrscheinlich wird er mich nicht mehr beachten, seinen Abschluss machen und dann ohne mich glücklich werden. Er wird eine andere heiraten und mich vielleicht vergessen.
Doch eigentlich ist mir das egal – klar wäre es schöner, wenn ich wüsste, dass ich ihm etwas bedeute, aber es beeinflusst meine Gefühle nicht. Keiner fragt den anderen, ob er einen liebt, bevor man sich in ihn verliebt, denn tief im Innern ist man ein selbstsüchtiger Mensch, dem seine eigenen Emotionen wichtig sind.
Aber vielleicht kommt es auch anders. Vielleicht beschert mir das Schicksal auch noch einmal unfassbares Glück und eines schönen Tages kommt er zu mir zurück. Ich würde für ihn vergessen können, was er getan hatte, ich würde ihn bedingungslos weiterlieben können als wäre nie etwas geschehen. Ich wusste, dass es unwahrscheinlich war, aber solange auch nur die geringste Chance bestand, würde ich darauf hoffen.
Hoffnung ist etwas Schreckliches und Wunderbares zugleich, aber man wählt sie immer, auch unbewusst – denn wer würde schon stattdessen einfach aufgeben?
Und bis die Zukunft entscheidet, was mit uns beiden geschehen soll, werde ich hier bleiben und darauf warten, darauf, dass die Zeit uns vereint. Nichts wäre schlimmer als wenn er irgendwann zurückkommt und ich dann nicht mehr da bin und so kann ich besser warten. Es ist das Einzige, das ich noch für dich tun kann und ich gebe nicht auf, ich weiß, dass es eines Tages vielleicht wieder soweit ist. Vielleicht brauchte er auch nur eine Pause. Doch er muss wissen, dass ich ohne ihn nicht glücklich sein kann und er derjenige ist, der mich wieder zum Lächeln bringen kann.
Irgendwann.
Und diese Gedanken sind es, die mich dazu bringen, dass ich immer noch weitermache, morgens aufstehe und den Tag hinter mich bringe. Der Platz an meiner Seite wird immer für ihn frei bleiben.
Ich werde weiterhin warten.
~
Es wie in einem Film, du bist die Hauptfigur
Alle Lichter nur auf dich und deine Traumfigur
Und meine Nebenrolle reicht nicht, ich bin nur Statist, nicht um dir so nah zu sein wie du's in meinen Träumen bist
Ich schreibe Szene 23 in Kapitel 11
Dort sind wir zwei zusammen und reisen um die ganze Welt
Es wie in diesen Filmen, die mit Happy End
Am Ende kommt zusammen, was zusammen passt, wie's jeder kennt
Es ist immer noch derselbe Tag zur gleichen Zeit
Ich nehm immer noch mit dir an all diesen Momenten teil
Ich verbring' den ganzen Tag heute nur bei dir
~
- The End -
Tag der Veröffentlichung: 12.11.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine beste Freundin. Ich liebe dich.