Cover

"Jemand tritt in dein Leben und deine eine Hälfte sagt: 'Du bist noch lange nicht bereit.' Während die andere sagt: 'Sorg dafür, dass er für immer dir gehört.'"


Vorwort

Diesmal war ich so schlau, das Buch ganz neutral unter der Kategorie 'Jugendbuch' einzuordnen und ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll.
Einen riesengroßen Dank an meine allertollsten Freunde erstmal! Jenny, Natascha, Tabea, Linda? Ich liebe euch, fühlt euch geküsst und geknuddelt :D!! Ihr seid toll!

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Ich hatte nie das Bedürfnis, mein Leben zu Papier bringen zu müssen. Ich dachte nie, dass es irgendjemanden – am allerwenigsten mich – jemals interessieren würde, was ich einmal erlebt habe, wenn es doch längst vorbei ist. Aber jetzt, nach allem, habe ich das Gefühl, es doch tun zu müssen. Nicht, damit ich selbst es nicht vergesse. Das werde ich nie. Aber ich will mich später mal irgendwann hinsetzen und lesen können, was geschehen ist. Alles noch einmal durchleben, allen Schmerz und alle Liebe. Eigentlich überwiegt der Schmerz, aber ich denke, dass ich nichts aufschreiben könnte, wenn ich ihn weglassen würde. Und wenn ich mir überlege, wie wunderschön der winzige Teil Liebe ist, dann war es all das doch wert. Denn ich habe gelernt, dass es besser ist, Schmerz zu spüren, als gar nichts. Dann weiß man wenigstens, dass die Liebe zumindest da war.
Manchmal muss man erst verlieren, um wieder etwas haben zu können.
Und das ist meine Geschichte.



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1. Kapitel » And I felt nothing. «

Montag. Ein Tag wie jeder andere. Wochentage hatten ihre Bedeutung verloren, die Sonne ging auf und wieder unter, mehr nicht. Und nach fünf Malen ging ich zweimal nicht zur Schule. Danach wieder. Ich hätte nicht sagen können, was ich weniger mochte, den langen Vormittag unter Menschen oder das Alleinsein an Wochenenden. Es kam nicht mehr oft vor, dass ich mir darüber Gedanken machte, ob mir etwas gefiel oder nicht. Meistens war es egal. So viele Dinge waren mir gleichgültig, über die sich andere ewig aufregen konnten. Wenn man genauer darüber nachdachte, verloren viele Sachen ihren Sinn. Was hatte schon Aufmerksamkeit verdient? „Jungs, Klamotten, Aussehen“, hätte ich früher geantwortet. Naiv. Im Grunde waren alle Typen gleich und im Endeffekt verliebte sich niemand in die so wichtigen ‚inneren Werte’. Alle Beziehungen beruhten letztendlich nur darauf, dass die Mädchen Lust hatten, mit den Jungs zu spielen und sich die Zeit zu vertreiben, während diese darauf aus waren, mit ihren Freundinnen zu prahlen. Nichts davon war so, wie es in Filmen immer den Anschein hatte, von wegen großer Liebe und so weiter. Und Kleidung, Make-up – alles diente nur dazu, die rechte Fassade aufrecht zu erhalten, die Menschen hinter anderem, künstlichen Zeug zu verstecken und so zu tun, als wäre man ein anderer. Genau das hatte auch ich getan. Ich hatte es genossen, mich als eine andere herauszugeben, mich morgens herzurichten, bis jede Haarsträhne richtig lag und minutenlang mit höchster Konzentration den Kajal zu benutzen. Verrückt, wie glücklich es mich immer gemacht hatte, mit meinen Freundinnen shoppen zu gehen und so richtig viel Geld für unnützen Kram auszugeben. Meine Haare waren mir immer total wichtig gewesen, ab und zu hatte ich sie gefärbt und einen neuen Haarschnitt ausprobiert, um nicht so langweilig zu sein. Jeden Morgen vor der Schule hatte ich sie gewaschen, geföhnt und geglättet oder gelockt, je nachdem, sorgfältig die widerspenstigen Strähnchen mit Spangen gebändigt und alles mit Haarspray bearbeitet. In der Schule hatte ich immer eine Haarbürste zur Hand gehabt und einen kleinen Spiegel, um im Notfall schnell mein Aussehen durchchecken zu können.
Jetzt kümmerten meine Haare mich wenig. Wie alles eigentlich. Routinemäßig kämmte ich einmal durch, aber ich sah dabei nicht einmal in den Spiegel. Alle vorherigen Färbungen waren mittlerweile herausgewachsen und ich hatte wieder meinen natürlichen, unauffälligen Hellbraunton und die leicht gelockten Spitzen, die mich sonst immer genervt hatten. Es kümmerte mich nicht mehr. Ich hatte niemanden, für den ich gut aussehen wollte, kein wichtiges Vorhaben, wo ich hervorstechen wollte. Meine Mutter sagte oft, ich wäre ungewöhnlich blass geworden in den letzten Monaten, aber ich glaubte, dass es eher daran lag, weil ich meine Haut sonst immer unter einer Zentimeterschicht Abdecker versteckt hatte. Im Sommer war ich immer schön braun geworden, aber ansonsten war da immer diese leicht milchige Haut gewesen, die mich gestört hatte. Meine Mum machte sich viele Sorgen um mich, aber mit der Zeit war es besser geworden. Früher war ich meinen eigenen Weg gegangen und gewissermaßen tat ich es auch immer noch, nur nicht mehr mit hoch erhobenem Kopf und dem alten Stolz. Ich konnte es ihr aber kaum übel nehmen, dass sie es beunruhigend fand, wie ich mich entwickelt hatte. Ich konnte es ja selbst nicht richtig verstehen und alle anderen, die ich gekannt hatte (und ich hatte eine Menge Leute gekannt…), fanden es gruselig. Gekannt hatte deswegen, weil ich mittlerweile kaum wieder zu erkennen war. Wenn ich alte Fotos von mir sah, war das ein anderes Mädchen. Es war Dina Carter, die Schönheitsqueen der Highschool, die

Modetrendsetterin, das Mädchen, das jedes Jahr zur Ballkönigin gekürt wurde und ihr Leben lang Schulsprecherin war. So wie sie hatte jeder sein wollen, die Mitglieder ihrer Clique waren vom Glück gesegnet gewesen, dass sie mit ihr hatten herumlaufen dürfen. Sie war das Mädchen gewesen, dem die Jungs zu Füßen lagen, und die auf allen Partys anwesend gewesen war.
Ich atmete einmal tief durch, bevor ich durch die Haustür nach draußen trat. Dorthin, wo ich anderen Menschen gegenübertreten musste. Früher hatte ich mir meine Freunde meistens aus den älteren Jahrgängen gesucht, sodass ich mit ihnen zur Schule fahren konnte, ob auf dem Moped oder mit dem Auto – es hatte auf jeden Fall massig Eindruck gemacht. Jetzt benutzte ich den Bus, so wie jedes andere normale Mädchen es auch tat. Ich war immer pünktlich an der Haltestelle, da ich mich nicht mit anderen Sachen aufhielt und bekam deswegen jeden Morgen einen Sitzplatz. Nicht, dass es mir etwas ausmachen würde zu stehen. Ich saß immer alleine, auch wenn der Bus überfüllt war. Keiner wollte neben mich, es könnte ja sein, dass ich jemanden auf die dunkle Seite rüberzog oder so. Selbst Neue hielten automatisch Abstand von mir – oder sie nahmen mich gar nicht erst wahr.
So war es auch in der Schule. Es war, als hätte würde ich mich mit einer Wand umgeben, die mich unsichtbar machte und alle auf Abstand hielt. Beim allgemeinen morgendlichen Gedränge stieß mich kaum jemand an, die Schüler blickten einfach durch mich hindurch. Ich tat es genauso. Nach einiger Übung war es überraschend leicht, die Gespräche auszublenden, immer zu Boden zu sehen und sich unauffällig zu verhalten. Die jüngeren Schüler, die nie die glänzende, atemberaubende Dina Carter kennen gelernt hatten, kannten mich nicht anders und die Älteren schwiegen über das Thema geflissentlich. Vielleicht hatten sie Angst, dass ich eines Nachts mit einem Messer vor ihrem Bett stehen könnte, wenn sie etwas erzählten.
Aber manchmal konnten sie es dann doch nicht lassen. Ich spürte ihre Blicke, etwas ängstlich und beunruhigt, manchmal missbilligend und verächtlich. Wenn ich es nicht mehr aushielt, starrte ich einfach zurück, was sie verlässlich dazu brachte, schnell wegzuschauen und eine angespannte Unterhaltung mit ihren Freunden zu beginnen. Das waren dann meistens diejenigen, die früher zu meinem engsten Kreis gehört hatten und denen ich fremd geworden war. Anfangs hatten sie mich noch manchmal angesprochen, aber auch das hatte rasch abgenommen. Ich war froh darüber. Sie alle waren noch immer so wie vorher und dennoch hatte keine von ihnen meinen alten Platz eingenommen, so als hätte ich eine Art Fluch darüber ausgesprochen, dass mit ihnen dann dasselbe passieren würde oder ich meinen Posten zurückfordern könnte. Ich war für sie potenzieller Favorit für die Amokläuferrolle und alle waren sorgfältig darauf bedacht, mich ja nicht zu beleidigen oder mir einen anderen Grund zu geben, sie zu hassen. Auch wenn ich es etwas übertrieben fand, gleich zu solchen Vorstellungen zu kommen, war es doch auch irgendwie praktisch. Man ließ mich in Ruhe, selbst die Lehrer. Nie wurde ich drangenommen, nie musste ich ein Referat halten. Niemandem würde es auffallen, wenn ich meine Arbeit einmal nicht abgeben würde, aber ich tat es immer. Meine schulischen Leistungen waren durchschnittlich, ich gab mir bei den Tests nicht wirklich Mühe, achtete aber darauf, nicht allzu schlecht abzuschneiden. Ich wollte meiner Mutter nicht auch noch so was antun, da sie sowieso schon fast täglich ein besorgtes Telefonat mit meiner Klassenlehrerin führte und sich noch nicht ganz von dem Verdacht verabschieden konnte, dass ich in die Drogenszene abgerutscht war oder so. Eine Theorie war verrückter als die andere.
Während ich wie jeden Morgen zuerst zu meinem Spind ging und meine Sachen sortierte (ich war ungewöhnlich ordentlich geworden), hörte ich mit halbem Ohr den Gesprächen um mich herum zu. Denn nur weil ich mich unsichtbar machte, war ich noch lange nicht unaufmerksam. Auch wenn es nicht mehr interessant war, sondern mich eher amüsierte, verfolgte ich noch immer den täglichen Schulklatsch, brachte in Erfahrung, mit wem einer meiner zahlreichen Exfreunde zurzeit ausging und bekam mit, welches Mädchen sich auf einer Party ein bisschen zu knapp angezogen hatte. Es war gut, Bescheid zu wissen, auch wenn ich meine Informationen nicht mehr dafür nutzte, mir neue Beziehungen zu beschaffen und neue Kandidaten auf meine mentale Eines-Tages-töte-ich-euch-Liste zu setzen.
Ich konnte kaum glauben, wie blind sie alle waren. Wie wenig sie wirklich bemerkten. Wie war es möglich, dass ich die Einzige war, die einmal nachgedacht hatte? Das war eine der wenigen Tatsachen, die mich selbst jetzt noch aufregen konnte. Nur mit mir war es geschehen. Ich hatte angefangen, zu denken, zu erkennen, und nicht mehr aufhören können. Wenn man genauer hinsah, fiel die Fassade der schönen, perfekten Welt und ließ das schlichte, graue Leben zurück. Meine Mum hatte immer gesagt, dass ich zu schnell erwachsen geworden wäre, als es anfing. Ich denke nicht, dass ich auf einmal erwachsen war. Denn auch die Großen ließen sich von den Illusionen verführen, Alter hin oder her. Das nahm mir jede Hoffnung darauf, je wieder verstanden zu werden. Denn sobald ich erst angefangen hatte, mich mit jedem Schritt von meiner alten, gewohnten Welt zu entfernen, hatte ich die Zeit nicht mehr zurückdrehen können. Ich hatte es erst gewollt, schließlich war ich mit meinem Leben immer zufrieden gewesen – wie auch nicht, wenn ich doch alles hatte, was ich wollte? Aber jetzt schon lange nicht mehr. Ich war nicht wirklich zufrieden, aber es war doch irgendwie besser, als wie alle anderen naiv und leichtgläubig durchs Leben zu gehen.
Langsam ging ich zum Klassenraum, ich war nicht sonderlich scharf darauf, dort den anderen aufzufallen und mitzubekommen, wie sie mich ‚Freakmädchen’ nannten. Ich hatte an den Nachmittagen nie etwas Besseres zutun als Hausaufgaben zu machen und so brauchte ich auch nichts abschreiben. Oder vielmehr selbst machen, denn jedem, den ich ansprach, würde wahrscheinlich vor Schreck das Heft aus der Hand fallen.
Als ich schließlich doch beim Raum war, setzte ich mich auf die schmale Bank in der Ecke (es würde sich verlässlich niemand neben mich setzen) und machte mich so klein wie möglich. Trotzdem warfen mir die Mädchen, die schon dort standen, mir misstrauische Blicke zu. Es war im Grunde meine alte Clique, mittlerweile angeführt von Jodie, früher meine Stellvertreterin. Sie sah mich an, als wäre ich geistig gestört. Nichts Neues, aber es nervte mich trotzdem. Ich erwiderte ihren Blick und stellte zufrieden fest, dass sie zusammenzuckte und sich wieder den anderen zuwandte. Nur in solchen Momenten merkte ich, dass auch sie es nicht vergessen hatten. Wie ich mal gewesen war.
Ich wünschte mir oft, sie könnten es eines Tages vergessen, fast sosehr, wie ich wünschte, dass ich es könnte. Wenn man nur die Vergangenheit ausradieren könnte – ich hätte es sofort getan. Ich schämte mich fast dafür, wie ich früher herumgelaufen war, was ich alles für endlos zickenmäßigen Mist ich von mir gegeben hatte und mit wie vielen Typen ich mich hatte sehen lassen. Aber die anderen hatten mich so geliebt. Geradezu angebetet.
Ich bemerkte, wie sich meine Gesichtszüge automatisch zu der leicht angewiderten Maske geformt hatten, die ich immer dann aufsetzte, wenn ich über Vergangenes nachdachte. Schnell und geübt zauberte ich wieder die neutral gleichgültige Miene her und stand auf, als unsere Lehrerin kam, um den Raum aufzuschließen.
Wie immer ließ ich den anderen den Vortritt, um dann als Letzte durch die Tür zu gehen und den Einzelplatz in der hintersten Ecke am Fenster anzusteuern, wo ich seit einem guten halben Jahr saß. Auch wenn der Klassenraum zu den Kleinsten an der Schule gehörte und eigentlich viel zu eng war, hielten meine Mitschüler wie gewohnt sorgsam Sicherheitsabstand von mir und ich hatte drei Tische für mich. Vorteilsweise wurde ich so auch nie für Gruppenarbeit mit anderen eingeteilt und konnte alleine arbeiten – die Lehrer schienen irgendwie zu kapieren, dass weder die anderen etwas mit mir, noch ich etwas mit ihnen zutun haben wollte. Ich passte im Unterricht nie wirklich auf – was ich auch früher nicht getan hatte, nur war ich damals damit beschäftigt gewesen, Zettelchen zu schreiben und mit meinen Freundinnen zu quatschen.
Um den Schein halbwegs aufrecht zu erhalten, holte ich meine Sachen heraus und schlug mein Heft auf. Ich wusste nicht einmal, ob es das richtige Fach war und es war mir auch egal. Meine Noten kümmerten mich nicht, ich hatte keine bestimmten Berufsvorstellungen und nicht den Ehrgeiz, einen guten Abschluss machen zu wollen, auch wenn es meiner Mum wichtig war. Gedankenverloren malte ich auf meinem Block herum und sah aus dem Fenster, die Stimmen der Lehrerin und die Nebengeräusche der anderen traten in den Hintergrund, während ich die Regentropfen beobachtete, die an der Scheibe herunterliefen.
Ich hatte nichts, was mich hätte ablenken konnte und so hing ich meinen Gedanken nach, die langsam aber sicher in die vertraute Richtung gingen. Das Fenster verschwamm vor meinen Augen und verwandelte sich in den altbekannten Flur unserer Schule…


2. Kapitel » Do you remember? «

„Hey, Dina! Du siehst super aus heute!“ Jodies Blick glitt bewundernd an meinem Körper herab und ich nahm meine Tasche in die andere Hand, um den neuen Gürtel zu präsentieren.
„Hi, J. Danke.“ Ich schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Wir hatten die erste Stunde frei, also konnte ich mir ruhig die Zeit für ein Gespräch nehmen.
„Kommst du heute Abend eigentlich zu Saras Party? Ich mein, Joshua hat doch sein Footballspiel…?“
„Football hin oder her, du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich mir die Gelegenheit, mein neues Kleid einzuweihen, entgehen lasse, oder?! Josh kann leider nicht mitkommen, sie brauchen ihn beim Spiel. Er ist immerhin Kapitän!“ Jetzt war mein Lächeln nicht aufgesetzt. Joshua Blythe aus der 10. hatte sich in den letzten Wochen ganz schön gemacht und ich war durch den Sport auf ihn aufmerksam geworden. Cheerleaderin und Footballspieler war erfahrungsgemäß die perfekte Mischung und er war wirklich total süß…
„Ähm, müsst ihr dann nicht auch zum Spiel?“, unterbrach Jodie meine Schwärmereien vorsichtig.
Ich sah sie an. „Sie hatten mich aufgestellt, aber ich hab klargemacht, dass ich nicht kann. Die Mädels werden auch einmal ohne mich auskommen“, erwiderte ich fest. Meine Trainerin war zwar alles andere als begeistert gewesen und ich wäre auch eigentlich gerne dabei gewesen, aber ich konnte unmöglich zulassen, dass Chloe, auch bekannt als Megabitch, heute Abend freie Bahn hatte und sich den besten Tanzpartner sicherte. Deswegen war ich auch ganz froh, Josh nicht dabeizuhaben – an ihn konnte sie sich dann immerhin nicht ranschmeißen. Mit meinem wunderschönen neuen Cocktailkleid würde ich ihr so was von die Show stehlen…
„Ach so.“ Jodie schwieg kurz. „Ich hab gehört, Charlie und so kommen auch“, sagte sie dann ziemlich leise.
Mein Kopf fuhr hoch. „Was?!“
„Grace aus der 7. erzählt überall herum, dass ihr Bruder mit den anderen eingeladen ist und dass sie planen, zu kommen“, erläuterte sie etwas ausführlicher.
„Grace Kelly?“, fragte ich, um die Glaubwürdigkeit des Gerüchtes einschätzen zu können.
Jodie nickte. „Hm. Das wäre… echt ziemlich geil“, sagte ich dann. Charlie und seine Jungs bildeten zusammen die Skatertypen der Stadt und so ungefähr die angesagteste männliche Clique des Jahrhunderts. Es gab eigentlich keine Party, auf die sie nicht eingeladen waren, nur kamen sie eigentlich nie. Und heute also doch. Wow. Weltpremiere. Auch wenn es mich ein bisschen neidisch machte, dass sie zu Sara kamen und zu mir letztes Frühjahr nicht… Okay, da hatte Charlie sich auch persönlich bei mir entschuldigt, das war schon cool genug gewesen. Außerdem überwog meine Vorfreude die Eifersucht und abgesehen davon war Sara bei aller Freundschaft nicht wirklich eine ernst zunehmende Konkurrenz für mich. Kaum jemand war eine Konkurrenz für mich und so eingebildet das auch klang – es war wahr.
„Und sie kommen auch wirklich alle

?“, vergewisserte ich mich vorsichtshalber.
„Ja… sagt Grace“, antwortete Jodie etwas unsicher. Grace Kelly würde die schlimmste Zeit ihres Lebens durchmachen, wenn das nicht stimmte, so viel war sicher.
Ich beschloss, mir meine möglicherweise notwendigen Rachepläne dann auszudenken, wenn sie gebraucht wurden, und lächelte Jodie an. „Na dann… bis heute Abend!“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, stolzierte ich den Gang hinunter davon, in Gedanken schon dabei, mein Outfit für die Party durchzuplanen.

Es war schon nach acht, als ich ankam, aber das war beabsichtigt. Die anderen sollten ruhig eine Weile auf mich warten und auch wenn ich es kaum abwarten konnte, zu sehen, ob Charlie & Co schon da waren, zwang ich mich dazu, langsam und lässig die Auffahrt zur riesigen Villa von Saras Eltern hinaufzugehen. Ja, auf dieses Haus war ich abgrundtief eifersüchtig und nur mein Stolz hielt mich davon ab, es nicht zu zeigen. Dass das auch das einzige Beneidenswerte an Sara Johnson war, war zwar nur ein schwacher Trost, gab mir aber dennoch Kraft.
Ich straffte die Schultern und strich mir eine kastanienbraune, sorgfältig gelockte Haarsträhne zurecht. Du bist die Queen des Abends, sagte ich mir motivierend, trat vor die Tür und klingelte. Es war wie zu erwarten Sara, die mir öffnete und das Erste, was ich zufrieden feststellte, war, dass sie nicht annähernd so gut aussah wie ich. Durch diese Tatsache besser gelaunt, lächelte ich sie an. „Hi.“
„Hey, Dina.“ Ihr Blick baute mich extrem auf und ich konnte es mir nicht verkneifen, ebenfalls einen kurzen Blick an mir herabgleiten zu lassen. Der Ausschnitt des schwarzen Kleides war hart an der Grenze und ich war mir dessen vollkommen bewusst. Es gab mir einen gewissen Kick, mich am Rande des verbotenen Aussehens zu befinden und mein Haar war absichtlich so hochgesteckt, dass auch der unbedeckte Teil meines Rückens gut sichtbar war. Mit den Schuhen hatte ich etwas gemogelt, um größer zu wirken – mit diesen Absätzen zu laufen war alles andere als einfach, aber wenn das meine geringe Körpergröße überspielen konnte, war es mir recht. Mir war ebenfalls klar, dass das Kleid eigentlich eine Nummer größer hätte sein müssen, um vernünftig auszusehen und ich war stolz darauf, es dank meiner schlanken Taille trotzdem so tragen zu können – außerdem kam meine Oberweite so besser zur Geltung. Nach all dem war die Netzstrumpfhose dazu eigentlich vollkommen unnötig, aber ich hatte es mal wieder nicht lassen können, mein Mode-Inventar bis ins Detail auszunutzen. Und vielleicht hatte es mich einfach gereizt, aufzufallen, denn ich war relativ sicher, dass alle anderen sich traditionell an unbekleidete Beine halten würden.
„Komm doch rein“, sagte Sara und lächelte mich schüchtern an. Ich musste zugeben, dass sie schon ganz süß war mit ihren blonden Löckchen und den großen, grünen Augen – und sie gab sich wirklich Mühe, eine gute Gastgeberin zu sein. Sie war in meinem Jahrgang und ein eher unauffälliges Mädchen, jetzt jedoch hatte sie ihre Unscheinbarkeit mit einem dunkelblauen Kleid erfolgreich wettgemacht und während ich ihr durch die protzige Eingangshalle folgte, nahm ich mir vor, mich mal etwas genauer mit ihr zu beschäftigen.
Wie ich erwartet (und gehofft) hatte, fand das ganze Geschehen hinten im überdimensionalen Garten statt und ich rechnete es Sara hoch an, dass sie nur Schüler der älteren Jahrgänge eingeladen hatte und das Event so doch einiges an Niveau zu bieten hatte. Einiges, aber eben nicht alles – die Erste, die mir ins Auge stach, war die Megabitch, die offensichtlich das Kleid mit am wenigsten Stoff aus ihrem Kleiderschrank gekramt hatte und mich schon jetzt nervte. Mein Vorhaben, sie zu ignorieren, wurde auch gleich von ihr durchkreuzt, als sie sofort auf mich zukam und mich flüchtig umarmte, was in mir den Drang auslöste, mich auf der Stelle unter die Dusche zu stellen, um ihre Berührung wieder loszuwerden. Ich war es gewohnt, dass Chloe mich wie ihre beste Freundin behandelte – es war albern, aber doch eine Art eingespieltes Theater von uns Beiden, das keine von uns je unterbrach. Für mich war es nur ein Weg, meinen Hass gegen sie ein bisschen zu verstecken.
Chloe ging augenblicklich dazu über, mich zuzutexten und ich überlegte mir schon ein paar Höflichkeitsfloskeln, mit denen ich sie möglichst schnell wieder loswerden konnte, als ich sie sah. Sie standen ein Stück weit entfernt in einem kleinen Kreis, lässig wie immer, aber bisher noch von keinem angesprochen, da die Mädchen sie zwar mit Blicken aufaßen, jedoch keine das Wort an sie richten wollte. Oh mein Gott. Sie waren tatsächlich gekommen.
Ich machte den Mund auf, um Chloes oberflächliches Getue zu unterbrechen und ihr zu sagen, dass ich jetzt wirklich Besseres zutun hatte, als ich sah, wie Charlie mich zu sich winkte. Ungläubig schaute ich mich rasch um, ob er vielleicht eine der zahlreichen Kellnerinnen meinte, aber nein, er lächelte mich

an und auch die anderen hoben ihre Blicke jetzt auf mich. Und Chloes halb geschockte, halb mörderisch eifersüchtige Miene gab mir ebenfalls Recht und so setzte ich mich, bevor ich es mir anders überlegen konnte, in Bewegung und ging geradewegs auf sie zu.
Es war gleichzeitig der einschüchternste und schönste Moment in meinem Leben, als ich spürte, wie die Köpfe der anderen (hauptsächlich weiblichen) Gäste jetzt schamlos zu mir herumfuhren und ich praktisch von Blicken durchbohrt wurde. Zum Glück war es nichts Neues, dass ich angestarrt wurde und so gelang es mir, das leicht unsichere Zittern meiner Beine zu unterdrücken und mein undurchdringliches lächelndes Pokerface aufzusetzen. Meine Gedanken rasten, aber auch sie waren Aufmerksamkeit und Druck gewohnt und so verhinderte ich einen abgrundtief peinlichen Auftritt.
Ich legte mir hastig ein paar Sätze zurecht, doch als ich bei ihnen ankam und mich locker und selbstverständlich zu ihrer Clique stellte, sprach Charlie mich an, bevor ich den Mund aufmachen konnte: „Hey, Dina.“ Es klang cool wie immer und auch wenn alle so was zu mir sagten, war es doch dieses Mal etwas ganz Besonderes. Denn sein Unterton war freundschaftlich und vertraut, so als wären wir gute Bekannte und statt mir nur zuzunicken oder so, kam er auf mich zu und umarmte mich kurz. Seine halblangen, dunklen Haare strichen dabei über meine Wange und ich gestand mir ein, dass er wirklich ziemlich gut aussah… Die Begrüßung hätte meine Maske normalerweise wahrscheinlich zum Bröckeln gebracht, doch auf einmal überkam mich eine seltsame Sicherheit, die alle Zweifel fortwischte und so drückte ich ihn ebenfalls flüchtig an mich. Ich beschloss, später darüber nachzudenken, woher diese plötzliche Vertrautheit kam…
„Hi“, erwiderte ich und gab den anderen die Hand, während ich das unsichtbare ‚Wow’, das in der Luft um mich herum zu schweben schien, konsequent ignorierte.
Ich war erleichtert, dass allmählich die anderen Gespräche wieder aufkamen (auch wenn sie sich vermutlich alle um mich drehten) und ich entspannte mich ein wenig.
„Wir dachten uns, dass du heute da bist“, meinte einer der Skatertypen, Phil, wenn ich mich richtig erinnerte – ein großer Typ mit total süßen blonden Haaren, „aber warum ohne Begleitung? Du gehst doch seit Neuestem mit Joshua aus, oder?“ Die anderen grinsten.
Ich verkrampfte mich. Es gab für mich zwei Möglichkeiten, entweder ich setzte auf Verteidigung und bestätigte, dass ich Josh total liebte und machte mich so selbst unantastbar, oder ich stritt eine engere Beziehung ab und flirtete ein bisschen. Mist. Josh oder die Skatertypen?
„Ach, das

. Nichts Ernstes“, sagte ich lächelnd. Sorry, Josh, sandte ich ihm in Gedanken zu, aber ich muss die Gelegenheit einfach nutzen.
„Gut zu wissen.“ Charlie grinste. „Willst du was trinken?“ Mit anderen Worten: Wollen wir uns zusammen die Kante geben?
Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich am Anfang nicht direkt zu betrinken, aber wenn ich schon so eingeladen wurde… „Klar“, stimmte ich locker zu und folgte den Jungs zur Bar.
Es blieb natürlich nicht bei einem Cocktail. Ich leerte ein Glas nach dem anderen und unterhielt mich dabei mit den Jungs – wobei der Alkohol dafür sorgte, dass die Stimmung immer besser wurde. Ich genoss ihre Gesellschaft, lachte mit ihnen und registrierte die neidischen Blicke der anderen Mädchen, allen voran Chloe, die aussah, als ob sie gleich über den Tisch springen wollte, um mir die Kehle durchzuschneiden. Ab und zu kamen andere hinzu, um sich mit mir zu unterhalten, aber ich sagte nur wenigen Tanzaufforderungen zu und beschränkte es dabei auch nur auf einen Song. Ich nahm kaum war, wie es schließlich vollkommen dunkel war und die Zeit voranschritt, bis sich der Garten merklich leerte. Als ich auf die Uhr sah, war es schon kurz nach eins.
„Ich sollte auch langsam nach Hause“, erklärte ich Charlie und den anderen lächelnd, ich wusste, wenn ich noch mehr trank, würden mich meine Beine nicht mehr lange tragen.
„Zu dieser Zeit noch? Es ist gefährlich für ein Mädchen wie dich alleine nachts herumzulaufen“, meinte Phil.
„Es ist ja nicht weit.“ Ich lächelte über die Fürsorge. Sie waren echt netter als ich dachte…
„Komm doch noch mit zu uns! Du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten“, schaltete Charlie sich ein und nickte mir aufmunternd zu.
Mein Kopf brummte und ich merkte, wie ich mich an der Tischkante festhielt. Verdammte Drinks. Es fiel mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen und die Musik dröhnte so laut… Mir war klar, dass ich das Angebot ausschlagen sollte, Mum hatte es nicht gern, wenn ich über Nacht unangekündigt wegblieb und ich musste Josh noch anrufen, aber ich war so schrecklich müde…
„Okay“, willigte ich erschöpft ein und im nächsten Moment spürte ich, wie Charlie seinen Arm um meine Taille legte. „Danke“, fügte ich noch leise hinzu.
„Kein Problem“, murmelte er und ich lehnte mich erleichtert gegen ihn, als er losging. Ich bekam kaum mit, wie wir uns von Sara und anderen verabschiedeten und achtete nicht auf den Weg, Charlie trug den Großteil meines Gewichts und die Unterhaltungen seiner Freunde vermischten sich zu einem eintönigen Hintergrundgeräusch. Ich sagte gar nichts mehr, auch wenn ich wahrnahm, wie ich einige Male angesprochen wurde und ich sah erst auf, als sie stehen blieben. Wir befanden uns in einer verlassenen, schmalen Gasse und ich sah an den dunklen Häuserblöcken empor – mit fiel auf, dass ich keine Ahnung hatte, wo die Jungs überhaupt lebten.
„Wohnst du hier?“, fragte ich Charlie verwirrt und stützte mich an einer der Hauswände ab.
„Nein. Hier wohnt niemand“, erwiderte er und lächelte mich an. Sein Gesicht verschwamm zwischen meinen Augen, so sehr hatte mich der Alkohol benebelt.
„Warum sind wir dann hier?“, brachte ich hervor. Ich wollte nichts anderes als schlafen, mich endlich ausruhen und mir diese verdammten Schuhe ausziehen.
„Wir dachten uns, dass wir den Rest der Nacht auch noch sinnvoll nutzen könnten.“ Phil kam näher zu mir. „Ist dir nicht warm in deinem Kleid?“ Und im nächsten Moment spürte ich seine Hand am Reißverschluss in meinem Rücken.
Ich erstarrte und die Müdigkeit war plötzlich Nebensache. Viel deutlicher war ein Gefühl, dass schon seit ich mit ihnen losgegangen war versuchte, mich auf sich aufmerksam zu machen. Angst. Panik. Tausend Bilder aus Filmen schossen mir durch den Kopf, wo hilflose Mädchen vergewaltigt wurden und mein Herz begann, unkontrolliert gegen meinen Brustkorb zu hämmern. So was würden sie doch nicht tun… oder?
„Lass… das“, sagte ich schwach und versuchte, seine Hand wegzuschlagen. Leider war er nicht halb so betrunken und schwerfällig wie ich und außerdem waren sie zu siebt und ich alleine. Schlecht.
„Das sagst du doch sonst auch nicht, oder?!“ Ich wusste nicht, wer es sagte, aber mir schlug eine nach Alkohol riechende Atemwolke entgegen. Mir wurde schlecht. Ich gab es auf, die Hand zu bekämpfen und presste mich stattdessen fest gegen die Wand, in der Hoffnung, sie würde von mir ablassen. Sie tat es auch tatsächlich, aber nur solange, bis mich andere Hände grob an den Schultern gepackt und von der schützenden Mauer weggerissen hatten.
Wenn ich nur an meine Schuhe drankommen würde, dachte ich, mit den Absätzen könnte ich wahrscheinlich sogar jemanden aufspießen. Aber ich wurde noch immer festgehalten und konnte mich nicht rühren, während die Hand an meinem Rücken jetzt den Reißverschluss aufmachte. Also tat ich das Einzige, was mir noch einfiel und schrie. Ich ließ zu, dass die Panik mich übermannte und meiner Stimme Kraft gab, mir war egal, was die Leute dachten, ich betete nur verzweifelt, dass jemand kam…
Dann traf mich ein Schlag in den Bauch und mir blieb die Luft weg. Tränen des Schmerzes und der Verzweiflung traten mir in die Augen und ich spürte, wie sie samt Wimperntusche meine Wangen hinunterliefen. Sie hätten mir ebenso gut ein Messer in den Unterleib gerammt haben, ich hätte den Unterschied nicht bemerkt. Das grauenhafte Wissen, nicht atmen zu können, überlagerte das unangenehme, demütigende Gefühl, das angesichts der tastenden Hände auf meiner Haut hervorgerufen wurde. Ich war soweit, dass ich es auch über mich ergehen lassen würde, nur damit sie endlich aufhörten, aber irgendwie nahm ich nicht an, dass das bald sein würde.
„Hey, ihr da!“, rief da plötzlich eine Stimme. Die Hände erstarrten, ebenso wie ich. Aber meine Muskeln blieben nicht lange reglos. Endlich fuhr der Adrenalinstoß durch meine Adern, auf den ich die ganze Zeit gehofft hatte und ich hatte nur noch einen Gedanken: Flucht. Mit neuer Energie, deren Ursprung ich nicht kannte, riss ich mich ruckartig los und während ich schon blindlings losrannte, streifte ich mir hastig die Schuhe von den Füßen und ließ sie achtlos zurück. Ich nahm mir nicht die Zeit, mich nach meinem vermeintlichen Retter umzusehen oder nachzusehen, ob mir jemand folgte – Schritte konnte ich durch das Rauschen in meinen Ohren unmöglich hören und ich selbst veranstaltete auf der gepflasterten Straße schon einen Höllenlärm.
Ich rannte einfach immer weiter, egal wohin, nur weit, weit weg von hier.


3. Kapitel » Changed «

Als ich mir wieder meiner Umgebung bewusst wurde, ging mein Herzschlag unregelmäßig, so wie jedes Mal wenn ich mich erinnerte. Wenn ich es noch einmal durchlebte. Jener Tag gehörte zu diesen Dingen, die man nie vergisst. Sosehr ich auch versucht hatte, es zu verdrängen, manches blieb.
Ich erinnerte mich auch noch sehr gut an die darauf folgenden Tage. Natürlich hatte Josh noch in aller Frühe angerufen, er war wohl gerade erst zuhause angekommen und ich fühlte mich nicht besonders schuldig, da er beinahe genauso betrunken klang wie ich und garantiert nicht jedem Flirt aus dem Weg gegangen war. Dadurch konnte ich ihn zum Glück auch schnell abwimmeln und musste keine Erklärung abliefern. Anders wäre es bei meiner Mum gewesen, aber sie schlief zum Glück schon, sodass ich noch bis zum Morgen Zeit für eine glaubwürdige Ausrede hatte.
Ich machte seitdem mein Aussehen dafür verantwortlich, meine herausstechende Schönheit, die wirklich jeden ansprach. Nur sie war es und nicht mein Charakter und ich hasste mich dafür. Als ich in den frühen Morgenstunden vor dem Spiegel stand, sah ich, dass sie selbst in dieser Situation noch da war. Auch wenn mein Make-up verwischt, meine Haare aufgelöst und wirr und meine Haut voller Schürfwunden war, erinnerte ich noch an eine Rachegöttin, die geradewegs vom Himmel herabgestiegen war, um Tod und Verderben unter die gewöhnlichen Sterblichen zu bringen.
Selbst so würden mir noch sämtliche Jungs zu Füßen liegen und ich hasste mich dafür. Und wer weiß, vielleicht musste so was wie in jener Nacht mal passieren, damit ich merkte, wie grausam eine solche Gabe sein konnte. Damit ich aufwachte und die Augen aufschlug. Vielleicht musste es so heftig sein.
Ich musste meine Mum am nächsten Morgen nicht dazu überreden, mich daheim bleiben zu lassen, sie schickte mich wieder ins Bett, sobald sie mein Gesicht sah und ich war ihr dankbar dafür. Nicht, dass sie wirklich verstand, was passiert war – wie konnte sie auch? – aber unter diesen Umständen wäre ich auch ansonsten nicht zur Schule gegangen. Es war nicht nur, dass ich mörderische Kopfschmerzen hatte und auch so aussah, als hätte ich eine heftige Schlägerei hinter mir, sondern viel mehr das unendliche Verlangen danach, allein zu sein. Ich wollte mich nicht aufgesetzt gutgelaunt mit den anderen unterhalten müssen und schon gar nicht Josh gegenübertreten.
Ich blieb zwei lange Wochen zuhause, mehr ließ meine Mum dann doch nicht zu. Ich ignorierte meine vielen Anrufe und die einzige SMS, die ich schrieb, war eine kurze Nachricht an Josh, um Schluss zu machen. Ich konnte es einfach nicht mehr länger ertragen und war der Meinung, dass es sowohl für ihn als auch für mich das Beste wäre. Aber ansonsten tat ich nichts. Ich lag im Bett, saß am Fenster oder am Tisch und sah nach draußen, ließ die Welt an mir vorbeiziehen und versuchte, an nichts zu denken. Natürlich gelang es mir nicht, aber das, worüber ich mir dann zwangsläufig Gedanken machte, führte wenigstens zu einem Entschluss. Im Nachhinein denke ich, dass ich in der Zeit die Mauer um mich herum aufbaute. Damit niemand mehr an mich herankam. Denn nach einigen Tagen konnte ich nicht mehr weinen, egal wie gerne ich es getan hätte, konnte nicht mehr schreien, egal wie sehr es schmerzte. Und anstatt mir alles von der Seele zu reden, baute ich es um mich herum auf, ließ zu, dass es mich von innen auffraß. Vielleicht war das genau das, was man auf keinen Fall tun sollte, aber es war mir egal. Andere bekommen so was hin, dass sie mit Freunden sprechen oder von mir aus zum Psychiater gehen, aber ich konnte es einfach nicht. Mit den ganzen Skatertypen gab es schon genug Personen, die davon wussten und ich wollte in jedem Fall verhindern, dass die Geschichte öffentlich die Runde machte – wenn nicht Charlie schon alles herumerzählte. Letzteres bezweifelte ich jedoch, mein Gefühl sagte mir, dass er nicht derjenige war, der nach so einem Auftritt die ganze Stadt über seine Taten informierte. Ich hoffte es.
Und ich hatte Recht behalten, dank meinem untrüglichen Spürsinn für das Denken und Handeln von Jungs, dachte ich seufzend als ich jetzt aufstand und meine Sachen zusammenpackte, die Stunde war endlich zu Ende. Niemand hatte je von dem Vorfall erfahren und das würde auch so bleiben.
Ohne Eile ging ich den Flur entlang, automatisch wich ich bis nah an die Wand zurück, um bloß niemandem aufzufallen, indem ich im Weg war. Ich hatte gelernt, dass die anderen verlässlich Abstand von dir halten, wenn du welchen von ihnen hältst. Als mir eine Horde Fünftklässler entgegenkam drückte ich mich schnell gegen ein Fenster und umklammerte meine Tasche, um nicht von ihnen überrannt zu werden. Die Jüngeren kannten mich ja auch nicht anders, für sie war ich schon immer das stille, etwas gruselige Freakmädchen gewesen, das niemals lächelte. Und deswegen würden sie mich auch ohne Skrupel niedertrampeln, während beispielsweise die Siebtklässler Angst hätten, dass ich sie in so was wie mich verwandeln könnte. Ja, sie glaubten alle immer noch, dass eines Tages der Knoten platzte und ich riesengroßen Wirbel machen würden, auch wenn ich bisher erfolgreich harmlos und unauffällig gewesen war – normal leider nicht, daran arbeitete ich noch. Als wäre ich eine Zeitbombe, die jeden Moment losgehen könnte und alle ins Verderben riss. Zu Anfang hatte ich mich manchmal auch so gefühlt, so als würde ein versteckter Teil von mir herausbrechen und etwas tun, was mich selbst überraschen würde. Aber auch damit konnte ich mittlerweile umgehen. Mich berührte einfach nichts mehr wirklich, alle Emotionen waren mir immer fremder geworden, bis es mir manchmal vorkam, als würde mein eigentliches Ich neben meinem Körper stehen und zusehen, wie er zugrunde ging.
In Gedanken versunken ging ich weiter und wäre beinahe gegen jemanden gerannt. Ich hob erstaunt den Blick, derjenige, der freiwillig das Risiko einging, das Freakmädchen zu berühren, war Aufmerksamkeit wert.
Es war Josh. Wo ich gerade davon geredet habe, dass mich so gut wie nichts mehr berührte, sein Anblick tat es zu meinem Ärger noch immer. Den Skatertypen konnte ich leicht aus dem Weg gehen, weil sie nicht in meiner Nähe waren, aber er ging auf diese Schule und erinnerte jedes Mal wieder neu an die alten Zeiten. Ich wusste, dass das nicht seine – sondern vielmehr meine – Schuld war, aber ich schob trotzdem immer gerne alles Unheil auf ihn. Ich senkte hastig wieder den Kopf, weil er zurückstarrte und ging wieder los, um ihn schnell zu umrunden und in die Menge der Schüler zu flüchten, doch er hielt mich am Arm fest. Ich zuckte zusammen und riss mich unsanft von ihm los. Nicht nur dass ich es nicht gewohnt war, dass man mich anfasste, er durfte es mit am allerwenigsten.
„Dina.“ Okay, mich konnte doch noch etwas mehr treffen als eine Berührung. Dass er mich so direkt ansprach, meinen Namen bewusst sagte, versetzte mir einen schmerzhaften Stich – für meine Verhältnisse schmerzhaft zumindest, es war nur eine kaum wahrnehmbare Bewegung in meinem zu Eis gefrorenen Gefühlschaos. Aber ich nahm sie trotzdem überdeutlich wahr. Seit Ewigkeiten hatte das niemand mehr getan, wenn die Klassenliste verlesen wurde oder so, hörte ich kaum, dass da mein Name genannt wurde, weil er einfach wie alle anderen monoton erwähnt wurde, nichts weiter. Das hier war etwas anderes, etwas, das mir nicht gefiel und das wusste er auch ganz genau.
Also blieb ich gezwungenermaßen stehen und erwiderte seinen Blick so finster wie möglich, das fiel mir mittlerweile zum Glück leicht. Seine Augen waren noch immer so grün wie früher, wie ich feststellte. Damals hatten sie mir sehr gefallen – und sie waren ja auch schön. Aber jetzt wollte ich sie nicht mehr sehen. Sie bedeuteten Vergangenheit und Vergangenheit bedeutete Schmerz. So einfach war das.
Fest entschlossen, auf keinen Fall etwas zu erwidern, presste ich die Lippen aufeinander und wartete ab, was er mir zu sagen hatte oder ob es ihm reichte, meinen Tag zu versauen und er wieder abzog. Ich hoffte auf Letzteres, kannte ihn jedoch gut genug, um zu wissen, dass da noch was kam. Ich behielt Recht.
„Wie lange willst du das noch so weitermachen, Dina?“ Ich wusste genau, dass er meinen Namen absichtlich noch einmal erwähnte, auch wenn es zufällig klingen sollte. Dachte er, dass er so mit mir spielen konnte? Ich hatte mich verändert, aber ich konnte ihn noch immer durchschauen und das sollte er eigentlich wissen. Stolz bemerkte ich, dass seine Worte mich dagegen nicht verletzen konnten. Gut so.
„Wenn es das ist, was du mich fragen wolltest, kannst du dir meine Antwort sicher selber denken. Und hör bitte auf damit, so zu tun, als würde ich hier eine Schauspielnummer einlegen“, gab ich zurück und legte dabei so viel Gleichgültigkeit und Desinteresse in meine Stimme wie ich konnte. Ich sah ihn an, um a) nicht feige zu sein und b) ihn sehen zu lassen, wie wenig mir das hier alles bedeutete, auch wenn das ein bisschen unfair ihm gegenüber war.
„Ich hab gewartet, weil ich dachte, es ist nur so eine Phase, die vorbeigeht. Aber es hält an, seit mehr als sechs Monaten! Denkst du nicht, dass irgendwann mal alles wieder so sein muss wie früher?“, fuhr Josh fort, jetzt flehend und mit Schmerz in den Augen. Aber es war mir egal und das erschreckte mich fast ein bisschen. Fast.
„Es wird nie wieder so sein wie früher, du solltest das besser akzeptieren“, sagte ich ruhig.
„Aber ich kann es nicht! Ich weiß, dass du noch irgendwo Du bist, du versteckst es nur. Ich weiß, dass es wieder aus dir rauskann, wenn du es nur zulässt. Bitte. Alle wären damit zufriedener, glaub mir, selbst du würdest erkennen, dass es dir dann besser geht. Und ich hab den perfekten Einstieg dafür, nächstes Wochenende ist der Herbstball und wir könnten zusammen hingehen!“ Seine – wie ich vermutete sorgfältig vorbereitete – Rede wurde leidenschaftlicher und seine Augen funkelten. Ich schüttelte seine Hände ab, mit denen er meine währenddessen unbewusst oder auch nicht umklammert hatte. Mittlerweile hatten wir Aufmerksamkeit auf uns gezogen und auch wenn niemand anhielt, um schamlos wie bei einer Schlägerei zuzusehen, spürte ich doch die Blicke auf uns ruhen. Und man konnte es ihnen noch nicht mal übel nehmen, schließlich hatte seit Ewigkeiten niemand mehr ein ordentliches Gespräch mit mir geführt. Flüchtig warf ich einen Blick in die Runde, was zumindest einige der Zuschauer in die Flucht schlug. Dann wandte ich mich wieder Josh zu.
„Ich weiß nicht genau, was du an dem, was ich sage, nicht verstehst, aber so läuft das nicht. Okay, vielleicht wärt ihr alle glücklicher, wenn ich mich einfach zurückverwandeln würde, aber ich

wäre es nicht. Und das war nicht ich. Das hier bin Ich und ich habe auch vor, ich zu bleiben. Und was den Ball betrifft… vergiss es. Zwischen uns gibt’s nichts mehr, das ‚uns’ war mal. Ich möchte nicht wieder eine Beziehung anfangen, nicht einmal Kontakt halten, klar? Kannst du dich nicht einfach von mir fernhalten, so wie ich es auch tue?!“ Mit diesen Worten wirbelte ich herum und ging schnellen Schrittes in die Richtung zurück, aus der ich gekommen war, auch wenn ich dann einen Umweg zum Bioraum machen musste – aber den nahm ich gerne in Kauf. Ich war froh darüber, dass die anderen mir Platz machten und ich niemandem ausweichen musste, doch ich war wütend auf mich selbst, weil ich am Ende doch mehr gesagt hatte als vorgenommen und für meine Verhältnisse ein bisschen ausgetickt war. Ich wollte nicht einsehen, dass Josh die Ursache gewesen war. Okay, ich hatte auch Grund dazu, wenn er so unverschämt war, mich nach Monaten ohne ein einziges Wort plötzlich zu fragen, ob ich mit ihm zum Ball gehen wolle…!
Immer noch etwas durcheinander kam ich schließlich doch beim Bioraum an und war nur deswegen nicht zu spät, weil unsere Lehrerin ebenfalls noch nicht da war. Kurz nach mir erreichte sie den Raum und ich ging mit den anderen hinter ihr hinein, setzte mich auf den Einzelplatz in der vorletzten Reihe und holte gedankenverloren meine Sachen heraus. Deswegen bekam ich auch erst dann von dem, was Mrs. Jones sagte, etwas mit, als sie das kleine Wörtchen ‚neu’ erwähnte. Neues war nicht gut.
„… schon morgen ankommen. Er heißt, ähm… ach, hier steht’s ja. René Cumberland.“ Mrs. Jones tippte mit einem kirschrot lackierten Fingernagel auf die Papiere vor sich und sah dann mit einem motivierten Lächeln wieder die Klasse an. „Ich bin sicher, dass ihr ihn gut aufnehmen werdet.“ Bei diesen Worten hörte sie sich mehr so an, als wollte sie sich selbst davon überzeugen und ich konnte gut verstehen, warum. Bereits drei Schüler hatten aus unserer Klasse herausgewechselt, weil sie Opfer unserer ‚Kriminalität’ geworden waren – das ging vom Zettelchen an den Kopf werfen bis zum Auflauern nach dem Unterricht. Aber man sollte dazu sagen, dass wir da nicht die Einzigen waren, eigentlich war unsere ganze Schule eher eine Aufnahmestation für schwer-erziehbare-Schrägstrich-asoziale Kinder und der Ruf, der uns vorauseilte, schreckte die meisten Eltern zuverlässig ab. Ein Wunder, dass wir überhaupt noch neue Schüler bekamen. Aber mitten im Schuljahr ein Neuer? Was sollte das denn?! Tja, wenn ich zugehört hätte, hätte ich mehr wissen können. Okay, im Prinzip war das auch egal, denn die Neuen waren alle gleich schlimm – entweder genauso scheiße wie wir oder sie waren nach einer Woche so entsetzt von den Zuständen hier, dass sie wieder dahin zurückgingen, wo sie hergekommen waren. Für mich bedeuteten Neue aber noch etwas anderes Schlimmes, denn die neuen Schüler starrten mich immer am auffälligsten und blödesten an, selbst wenn die Geschichte des geheimnisvollen Freakmädchens schon zu ihnen durchgesickert war. Ich war froh gewesen, als sich nach der Ankunft der neuen 5. Klassen der Aufruhr um mich endlich wieder gelegt hatte und sich die Kleinen endlich mit mir abgefunden hatten und jetzt sollte noch jemand dazu kommen? Noch dazu in meine Klasse? Dagegen war ja das Gespräch mit Josh eben noch harmlos gewesen, jetzt

war mein Tag versaut und ich konnte den Rest des Unterrichts mit einem noch düsteren Gesicht als sonst absitzen. Ich hoffte eiskalt darauf, dass die anderen diesen Neuen schnell rausmobben würden, so wie das sonst auch immer funktionierte.
So saß ich mit Mordgedanken im Biounterricht und konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Innerhalb einer halben Stunde war meine ganze schöne, gefühlslose Fassade zum Bröckeln gebracht worden und das passte mir überhaupt nicht. Zum ersten Mal seit Monaten war meine Laune endlich mal wieder am Tiefpunkt angelangt.


4. Kapitel » First look «

Ich beeilte mich nach der Schule nicht besonders zum Bus zu kommen, auch wenn ich froh war, dass der Unterricht für heute überstanden war. Ich ging schlicht und einfach davon aus, dass sich niemand auf meinen persönlichen Stammplatz setzen würde und ich behielt Recht – obwohl ich als Letztes einstieg, erfasste ich mit einem Blick die leere Sitzbank links hinter der zweiten Tür. Der Busfahrer fragte mich gar nicht erst nach meiner Karte, er nickte mich nur weiter und ich ging geradeaus den Gang entlang, darauf bedacht, niemanden zu streifen oder anzusehen. Ich ließ mich auf den Sitz am Fenster sinken und meine Tasche neben mich fallen. Zeitgleich setzte das Röhren des Motors ein und der Bus setzte sich in Bewegung.
Ich lehnte die Stirn an die kühle Scheibe und schloss die Augen, froh, einen Moment entspannen zu können, ich hörte den Regentropfen zu, die gegen die Fenster prasselten und blendete die Gespräche der anderen Mitfahrenden aus. Mittlerweile war ich so geübt darin, dass ich es beinahe automatisch tat und es war unvorstellbar praktisch, wenn man sich nicht für seine Umwelt interessierte. Ich ging im Geiste noch einmal schnell den Schultag durch, besonders die ‚Unterhaltung’ mit Josh, die mich jetzt noch aufregte. Vorher war es ein Tag wie jeder andere gewesen und dann hatte das Unglück angefangen – er hatte mich unbedingt ansprechen müssen, vor allen Leuten, einfach so. Was dachte er sich eigentlich dabei? Manchmal wünschte ich, andere Menschen könnten genauso denken wie ich und die Vergangenheit ruhen lassen. Klar, man konnte ja darüber nachdenken und so weiter, aber nicht diejenigen daran erinnern, die sie am liebsten vergessen würden. Aber, dachte ich dann, so einer ist Josh nie gewesen. Er musste immer alles optimal haben, damit er zufrieden war, vielleicht lag es an seinem Ehrgeiz vom Sport.
Der Bus hielt ruckelnd und ich schlug die Augen wieder auf, um die ein- und aussteigenden Fahrgäste zu beobachten. Die meisten Leute, die herein kamen, waren Erwachsene, die von der Arbeit in der Stadt jetzt unterwegs nach Hause waren. Wenn ich es mir so recht überlegte, waren die Eltern mir eigentlich fast lieber als ihre Kinder. Auch wenn es mir nie jemand ins Gesicht gesagt hatte, wusste ich, dass ich bei ihnen nie wirklich beliebt gewesen war und sie mich mittlerweile als harmloser betrachteten. Trotzdem war ich sicher, dass sie nicht begeistert wären, wenn ich mich plötzlich mit ihren Töchtern und Söhnen anfreunden würde – dafür war die ‚Wandlung’, die ich durchgemacht hatte, einfach zu ungewöhnlich.
Eine Ausnahme stellte meine Mum dar. Sie ließ mich nicht in Ruhe, zumindest nicht für längere Zeit. Zwischendurch versuchte sie immer wieder, mich mit leckerem Essen oder Ähnlichem zu bestechen, damit wir ein „klärendes Gespräch zwischen Mutter und Tochter“ führen konnten. Ich verstand nicht, warum sie mich vorher immer meinen Weg hatte gehen lassen und jetzt auf einmal der Meinung war, dass ich Hilfe brauchte. Aus erwachsener Sicht war ich wirklich auf dem Weg der Besserung – ich hing nicht mehr mit gefährlichen Typen rum, ging zu keinen Partys und zog mich nicht freizügig an. Vielleicht verwirrte Mum das auch nur, ich weiß, Beschützerinstinkt und so weiter, aber ab und zu übertrieb sie es ein wenig. Noch war sie mir nicht mit einer Therapie gekommen, von der ich wusste, dass ich auf sie garantiert gereizt reagieren würde, aber ich traute es ihr durchaus zu – wenn ich mitbekam, wie sie mir besorgte Blicke zuwarf und dachte, ich würde es nicht bemerken und wenn ich spürte, dass sie mir etwas sagen wollte, aber nicht die richtigen Worte fand. Es war ein bisschen so wie zu der Zeit, kurz nachdem mein Vater uns verlassen hatte. Ich war neun Jahre alt gewesen, als er eines Morgens plötzlich nicht mehr da gewesen war, obwohl er am Vorabend noch heimgekommen war. Ich hatte nie erfahren, was in der Nacht dazwischen passiert war und ich hatte Mum nie gefragt, ich konnte es mir nur zusammenreimen. Meine Eltern hatten sich nie beunruhigend viel gestritten, zumindest nicht, wenn ich dabei war, aber manchmal hatte ich selbst als kleines Mädchen gespürt, dass etwas nicht stimmte. Etwas, das ich nicht verstand, was nur zwischen den beiden war. Vielleicht war es an der Nacht einfach an die Oberfläche gebrochen. Ich wusste es nicht.
Mein Vater hatte in meinem Gedächtnis deutliche Erinnerungen hinterlassen und ich war überzeugt davon, dass ich ihn nie vergessen würde. Er war keiner gewesen, der seine Tochter verwöhnte, aber ich nahm es ihm nicht übel, nein, ich war sogar der Meinung, dass ich durch ihn einige der wichtigsten Dinge im Leben gelernt hatte. Ich hatte gelernt, stark zu sein, selbstbewusst aufzutreten wenn es mir schlecht ging und Menschen von vornherein beurteilen zu können. Vielleicht hatte ich sein Verschwinden deswegen einfach hingenommen. Ich hatte nicht geweint, kein einziges Mal und ich hatte versucht, mein Leben weiterzuleben, es im Ganzen zu behalten, so wie vorher. Es hatte geklappt. Ich denke jedoch, dass meine Mum noch immer mit der Verarbeitung kämpft und ich hörte nachts oft, wie sie weinte. Ihr war es vielleicht nicht bewusst, aber sie hatte sich wesentlich verändert und ich war nicht in der Lage zu sagen, ob es eine positive oder negative Veränderung war. Sie war nicht sosehr spürbar, aber ich hatte es dennoch mitbekommen. Ich merkte es daran, wie sie seinen Namen mied und mich trotzdem manchmal flehend ansah, als ob sie wollte, dass ich ihn erwähnte. Wie sie mich seitdem mehr beschützte als zuvor, so als könnte man mich ihr wegnehmen. Wie sie mir oft das Haar zur Seite strich, so wie er es früher getan hatte.
Während ich so in Gedanken versunken war, ließ ich meinen Blick ruhelos über die neuen Fahrgäste schweifen, bis ich plötzlich an einem Jungen hängen blieb. Ich weiß bis heute nicht, was mich auf ihn aufmerksam werden ließ – er fiel nicht auf und war halb hinter einem breitschultrigen Mann verdeckt. Aber dennoch erlangte er meine Aufmerksamkeit und ich musterte ihn, was vielleicht der erste Fehler war. Er war etwa so alt wie ich, vielleicht 16, aber bestimmt ein gutes Stück größer. Und noch während ich seine Kleidung betrachtete, spürte ich plötzlich, wie er mich ansah. Gegen meinen Willen hob ich den Blick wieder und starrte zurück, selbst aus der Entfernung konnte ich sicher sagen, dass seine Augen dunkel waren. Ich wollte wegschauen, aber ich konnte nicht, ich dachte, er würde vielleicht den Blick abwenden, aber er tat es nicht. Er schaute mich nur an.
Und mit einem Mal wusste ich, dass er sich neben mich setzen wollte. Ich hatte keine Ahnung, woran ich das festmachte, immerhin waren noch einige andere Plätze frei und ich fand, dass meine Tasche neben mir ziemlich abwesend wirkte. Außerdem musste er doch wissen, was mit mir los war, oder? Alle wussten es. Erst in diesem Moment stellte ich fest, dass ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte, er mir aber dennoch nicht fremd vorkam. Woran lag das? Ich beobachtete, wie er sich langsam durch den Gang voran schob, immer näher kam und ich versuchte, ihn allein durch Gedanken- bzw. Blickkraft dazu zu bringen, sich woanders hinzusetzen – bloß nicht neben mich. Ich wollte es nicht und er wusste es ganz genau.
Trotzdem konnte ich ihn nicht aufhalten, er schien meine abwehrenden Blicke einfach zu ignorieren und auf einmal blieb er dann direkt vor mir stehen und sah erst auf den Platz neben mir, dann mir in die Augen. Dunkelgrün. Seine Augen waren dunkelgrün, wie ich feststellte.
„Ist hier noch frei?“ Es klang eher wie eine rhetorische Frage und er schien drauf und dran, sich hier niederzulassen. Was fiel ihm eigentlich ein?!
„Nein“, antwortete ich giftig und machte keine Anstalten, meine Tasche zur Seite zu räumen, darauf konnte er lange warten.
Umso entsetzter war ich, als er diesen Part einfach selbst übernahm, die Tasche zu meinen Füßen abstellte und sich dann auf den freien Sitz fallen ließ, alles mit ausdruckslosem Gesicht und ohne mich zu beachten. „Wenn der kommt, für den du freihältst, kann ich mich ja wegsetzen“, teilte er mir dann gut gelaunt mit, als er es sich bequem gemacht hatte.
Ich beschränkte mich darauf, ihm einen erdolchenden Blick zuzuwerfen und wandte mich dann demonstrativ zum Fenster ab. Und obwohl ich es gar nicht wissen konnte, war ich sicher, dass er lächelte und ich hätte mich beinahe umgedreht, um nachzusehen. Zum Glück konnte ich das noch verhindern und beobachtete stattdessen, wie jetzt die Häuser draußen wieder vorbeiflogen. Ich konnte dabei nicht verhindern, dass ich mich fragte, wer er eigentlich war, dass er sich einfach so zu mir setzte, zu einer Person, wie sie abwehrender nicht sein könnte. Was hatte ich ihm denn getan, dass er mich so provozieren musste? Konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen, so wie es alle anderen auch halbwegs schafften?
Plötzlich stellte ich fest, dass ich seinen Blick nicht mehr auf mir spürte und sah aus den Augenwinkeln, dass er an mir vorbei- oder durch mich hindurchzublicken schien. Unauffällig wandte ich den Oberkörper wieder nach vorne, sodass ich ihn meinerseits betrachten konnte, jetzt, wo er offensichtlich total abwesend war. Denn genau so sah es aus, mit Gedanken schien er ganz woanders zu sein und mich gar nicht mehr wahrzunehmen.
Und dann wusste ich plötzlich, warum er mir aufgefallen war. Was an ihm nicht zu passen schien, die ganze Zeit schon. Es waren seine Augen. Seine dunkelgrünen Augen, die neben seinem jungenhaften Aussehen zu erwachsen aussahen und im feingliedrigen Gesicht völlig fehl am Platze wirkten. Es waren die Augen eines Mannes, der schon viel erlebt hatte, mehr wusste als die meisten Menschen und der all das mit sich herumtrug. Sie machten mir Angst und faszinierten mich gleichzeitig – ich hatte nie etwas Vergleichbares gesehen.
Und vielleicht war das der Auslöser, durch den ich plötzlich auch andere Kleinigkeiten wahrnahm. Denn jetzt sah ich, warum er zunächst so groß gewirkt hatte – die Ärmel seiner Jacke waren viel zu lang und nicht nur das, seine gesamte Kleidung schien ihm zu groß. Nicht nur sein Gesicht war so ungewöhnlich zart und jung, seine ganze Statur wirkte unter dem Stoff schmächtig – und doch saß er aufrecht und kerzengerade da. Ich bemerkte, wie er sich mit seinen schmalen Händen an seiner Jacke festklammerte, so als ob er nicht wüsste, wo er sich sonst festhalten sollte. Und ich sah auch, wie blass er war, warum war mir das eben nur noch nicht aufgefallen? Vielleicht, weil es zu seiner Erscheinung passte, weil es den Kontrast zwischen den dunklen Haaren und Augen perfekt machte und von weitem gar nicht so ungewöhnlich wirkte. Jetzt jedoch… ich konnte es nicht beschreiben, aber etwas sagte mir, dass es einfach anders war als bei normalen Leuten, die von Natur aus nicht braun gebrannt waren. Und zuletzt war da noch sein Gesichtsausdruck, in seiner Geistesabwesenheit hart und verschlossen, die Lippen zusammengepresst. Intuitiv wusste ich, dass er über etwas nachdachte, das ihn oft beschäftigte. Und dieses Etwas war für seine alten Augen verantwortlich, ich war mir auf einmal ganz sicher.
Aus irgendeinem Grund ließen diese kleinen Details an seinem Aussehen ihn unendlich traurig aussehen und meine Wut über ihn schien sich einfach in Luft aufzulösen. Wie konnte er sich in der kurzen Zeit, die ich weggeschaut hatte, so sehr verändert haben? Vorher hatte er… aufgeweckt gewirkt, offen. Und jetzt war ich sicher, dass ich noch nie jemand so Traurigen gesehen hatte und ich musste mich zusammennehmen, um ihm nicht über eine seiner verkrampften, schmalen Hände zu streichen. Woher kam das nur? Dieses plötzliche Mitgefühl, nein, diese ganzen Gefühle, die widersprüchlich in mir tobten, wie ich es seit Monaten nicht mehr erlebt hatte. Was an diesem fremden Jungen traf mich so tief, als würde ich sein Schicksal, was auch immer das sein mochte, teilen – ich kannte doch nicht einmal seinen Namen! Ich wusste genau genommen gar nichts über ihn und doch sagten mir meine Gefühle etwas Anderes, das ich nicht verstand.
Doch dann hielt der Bus und mein Kopf fuhr hoch, wir hatten die nächste Haltestelle erreicht. Auch der Junge schien sich aus seiner Starre zu lösen, denn seine Augen fanden mich wieder und er nahm seine Umgebung wieder war. Er lächelte mich an, als ich ihn fassungslos anstarrte und wenn ich nicht gesehen hätte, dass seine Finger sich nicht einen Millimeter vom Stoff der Jacke gelöst hatten, hätte ich gedacht, dass ich mir das eben nur eingebildet hatte.
Obwohl ich eigentlich noch zwei Stationen weiterfahren musste, stand ich ruckartig auf und drängte mich an ihm vorbei auf den Gang und ging mit großen Schritten zur Tür, die sich bereits geöffnet hatte. Ich hielt es einfach nicht länger aus, dieser Junge verwirrt mich und regte mich noch um ein Vielfaches mehr auf als Josh heute in der Schule – dieses Ereignis schien sowieso schon Ewigkeiten zurückzuliegen. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, keinen Blick zurückzuwerfen, aber als ich auf der Straße stand und die Tür sich schon langsam wieder schloss, wandte ich mich noch kurz um und fand die dunklen Augen des Jungen, der auf meiner persönlichen Sitzbank saß.
Er lächelte noch immer und sein Lächeln schloss alles in seinem Gesicht ein – außer den Augen. Die Augen blieben dunkel und erwachsen, während der Rest den Eindruck eines gewöhnlichen Jungens machte und ich sah wieder weg.
Hastig lief ich die Straße entlang und wurde immer schneller, bis ich schließlich rannte. Den ganzen langen Weg bis nach Hause wurde ich nicht langsamer und ich war froh, dass es regnete – denn so sah niemand meine Tränen.


5. Kapitel » I knew it. «

Ich hasste mich selbst dafür, aber ich konnte den seltsamen Jungen aus dem Bus nicht vergessen. Warum war er mir nicht einfach egal, so wie alle anderen auch? Und – wenn schon nicht das – warum konnte ich ihn

nicht hassen? Dabei hatte ich doch allen Grund dazu… Na gut, vielleicht nicht unbedingt. Er konnte schließlich nicht wissen, dass ich allergisch auf Gesellschaft reagierte, stimmt’s? Und immerhin war ich es gewesen, die ihn als Erste wie ein Vollidiot angestarrt hatte. Da war es ja ganz verständlich, dass er zurückschaute.
Moment mal, verteidigte ich ihn hier gerade?! Unmöglich. Ich würde nicht zulassen, dass ich mir letztendlich die Schuld für… für was eigentlich? Dafür, dass er sich neben mich gesetzt hatte? Dass er eine echt gruselige Wandlung von total lässig und gut gelaunt zu unendlich traurig durchgemacht hatte und mich das aus irgendeinem Grund mit voller Wucht getroffen hatte? Dass ich noch immer diese Vorahnung hatte, dass mit ihm etwas ganz und gar nicht stimmte und ich nicht wissen wollte, was?
Ich wollte eigentlich darüber nachdenken, aber ich konnte nicht anders. Dieser Anblick, wie er dort gesessen hatte – es ging mir einfach nicht aus dem Kopf. In meiner Erinnerung fühlte es sich an wie wenn man gerade aus der Achterbahn gestiegen ist und versucht, noch einmal an den Moment zu denken, an dem man für einen Herzschlag lang still stand, kurz bevor man mit vollem Tempo nach unten gerast ist. Sosehr man es auch versucht, man weiß nicht mehr genau, wie es sich angefühlt hat, was man weiß ist nur, dass die Sekunden auf einmal länger wurden und genau dann, wenn man dachte, es müsste ewig andauern, war es vorbei.
Immer wieder sah ich seine erwachsenen Augen in dem jungenhaften Gesicht vor mir und obwohl ich nicht wusste, warum, schauderte ich jedes Mal leicht. Insgesamt war ich selbst für meine Verhältnisse den restlichen Tag lang auffällig geistesabwesend, Mums besorgte Mutterblicke häuften sich, ich wurde immer genervter und verwirrter. Es war so ein Tag, von dem man wünschte, ihn aus dem Kalender streichen zu können.
Sobald man ins Bett gehen konnte, ohne dass es seltsam erschien, zog ich mich um und legte mich schlafen. Oder ich wollte

schlafen, konnte es aber nicht. Ich hatte dieses Gefühl, was ich an manchen anderen Abenden auch hatte, nur stärker. Das Gefühl, nein, das sichere Wissen, dass ich etwas träumen würde, etwas, was mich verunsichern würde und auf verrückte Weise letztendlich der Wahrheit entsprach. Nicht dass ich irgendwie abergläubisch wäre, aber es gab diese eine Intuition, die mich nie trog. Ich konnte mich morgens eigentlich nie an meine Träume erinnern – aber wenn ich vorm Einschlafen schon dieses Gefühl hatte, dann jedes Mal. Vermutlich hätte ich es unheimlich gefunden, wenn ich nicht schon längst aufgehört hatte, mir über so etwas Nebensächliches wie Träume Gedanken zu machen. Außerdem hatte ich insgeheim diese Theorie, dass das nur passierte, wenn etwas am Tag mich besonders aufgeregt oder geschockt hatte. Vielleicht dachte ich dann mehr darüber nach und mein Unterbewusstsein veranstaltete deswegen über Nacht so ein Chaos – ich wusste es nicht.
Scheinbar ewig lag ich wach, wälzte mich von einer Seite auf die andere, zog schließlich die Vorhänge zu und presste mein Kissen auf die Ohren, um den Lärm auszublenden, den Mum beim Aufräumen in der Küche veranstaltete.
Und irgendwann, als ich es schon fast aufgegeben hatte, schlief ich schließlich ein – noch immer den fremden Jungen vor Augen und eine verirrte Träne im Augenwinkel.

Eigentlich wäre ich am Tag darauf gar nicht zur Schule gegangen. Eigentlich hätte ich meine Mum so lange bejammert, bis sie mich zuhause behielt und ich dann erst Montag wieder hin müsste. Aber ich tat es nicht, aus Trotz. Ich hatte solche unerklärliche Panik, dass ich mich dafür schämte und ich sagte mir, dass es absolut schwach und feige wäre, zu versuchen, das, was auch immer passieren würde – oder eher nicht passieren würde – zu vermeiden. Ich würde mir mit dadurch eingestehen, dass ich Angst hatte und das völlig unbegründet. Warum sollte nicht alles so langweilig ablaufen wie immer? Dieses bisschen Stolz besaß ich noch, dass ich nicht wegen eines schlechten Gefühls schwänzte, außerdem war ich mir eigentlich vollkommen sicher, dass nicht plötzlich etwas Weltbewegendes geschehen würde, nachdem die letzten Monate absolut nichts passiert war.
Ich hatte Recht behalten, meine Nacht war der Horror gewesen. Irgendwann hatte ich kaum mehr gewusst, ob ich träumte oder wach war – da war immer nur er vor meinem inneren Auge gewesen, die ganze Zeit er, er, er. Mein Gehirn schien dieses eine Bild von ihm ungewöhnlich detailliert abgespeichert zu haben und es darauf anzusetzen, mich die ganze Zeit damit zu konfrontieren. Einerseits machte es mir Angst. Andererseits wollte ich es so, auch wenn ich das nicht gerne zugab.
Demonstrativ laut polterte ich die Treppen in unserem Wohnblock hinab, auch wenn niemand da war, der mein aufgesetztes Selbstbewusstsein bewundern konnte und den ich davon überzeugen wollte, dass alles vollkommen in Ordnung war. Außer ich selbst natürlich und ich hatte es ziemlich nötig.
Ohne es mir bewusst vorzunehmen, machte ich mich nicht auf den kurzen Weg zur Bushaltestelle, sondern holte mein Fahrrad aus dem Schuppen (ich war überrascht, dass es noch nicht in sich zusammengefallen war, so lange wie ich es nicht mehr benutzt hatte) und schlug die Straße ein, die mich – irgendwann – ebenfalls zur Schule führen würde. Diese Albernheit konnte ich nicht lassen, ich konnte schlicht und einfach nicht mit dem Bus fahren, allein bei dem Gedanken bekam ich eine Gänsehaut und fühlte zugleich, wie mich ungewohnte Aufregung durchzuckte. Wie auch immer, es wäre ganz sicher nicht gut für meine Stimmung und so beschloss ich sicherheitshalber, die kompliziertere – sicherere – Möglichkeit zu wählen. Natürlich wusste ich, dass ich jetzt nicht eine Art Phobie gegen Busfahrten entwickeln und dem Ereignis ewig aus dem Weg gehen konnte, aber heute musste es einmal sein, ansonsten würde ich an Paranoia sterben und nach dem Hinweg wahrscheinlich direkt wieder panisch schreiend nach Hause rennen.
So kam mir meine neue Angewohnheit, überpünktlich zu sein, zugute und ich musste mich noch nicht einmal sonderlich beeilen. Ich fuhr eigentlich nie Fahrrad, ich hatte einfach außer Schule nichts, wo ich hinfahren könnte. Partys, Treffen mit Freunden, Kinobesuche – das gab es in meinem Leben jetzt nicht mehr. Früher hatte ich mich dort immer bestens amüsiert, allein die Stunde vorher, die ich gebraucht hatte, um mich angemessen zu kleiden, hatte ich schon genossen. Jetzt kam es mir nur noch sinnlos und albern vor, letztendlich lief es sowieso auf das Gleiche hinaus und meistens war man danach betrunken, egal ob man es vorgehabt hatte oder nicht. Ich weiß, man tut so was um Spaß zu haben und so weiter, aber mich reizte das Thema Spaß einfach nicht mehr, ich hatte die Lust auf verbotene Dinge endgültig verloren.
Als ich an der Schule ankam, war es noch ziemlich leer und so waren an den Fahrradständen nicht besonders viele, die mich neugierig und nicht im Geringsten unauffällig anstarren und sich fragen konnten, was mein neues Verkehrsmittel wohl Unheimliches bedeuten könnte. Ohne den Blick auch nur eine Sekunde vom Boden abzuwenden, ging ich den kurzen gepflasterten Weg zum Eingang entlang und betrat die Schule. Augenblicklich schlug mir der vertraute Lärm von lachenden und plaudernden Schülern entgegen, der angenehme Geruch nach frischen Brezeln, der aus der Cafeteria bis in die Pausenhalle zog.
Siehst du, alles ist wie immer, redete ich mir ein, während ich mich auf den Weg zu unserem Klassenraum machte. Kein Grund panisch zu werden. Dachte ich zumindest.
Ich hob meinen Blick nicht von meinen Füßen, als ich am Raum ankam, stellte ich in aller Ruhe meine Tasche auf den Boden und legte meine Jacke ab. Ich merkte zwar, dass schon jemand an seinen Rucksack gelehnt da saß, aber es interessierte mich ganz einfach nicht, wer es war. Zumindest nicht, bis ich das schüchterne „Hi“ hörte, in dem ein Lächeln mitschwang.
Langsam wandte ich mich um, um den verdächtig freundlichen Mitschüler mit einem Todesblick zum Verstummen zu bringen, als plötzlich etwas in meinem Gehirn den Alarm anstellte. Diese Stimme… Mein Blick glitt vollständig zu ihm herüber, ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich wissen wollte, wer mich angesprochen hatte. Am dunklen Haar blieb ich hängen. Sekundenlang starrte ich wie hypnotisiert darauf, dann fuhr mein Kopf so schnell endgültig zu seinem Gesicht, das mir zugewandt war, hinab, dass es fast wehtat.
Und obwohl ich eigentlich verwundert war, dass er überhaupt da war, sein ganzer Körper, sah ich nur seine Augen an. Dunkelgrün und erwachsen. Das Lächeln, was seine Mundwinkel umspielte, erreichte sie nicht ganz, auch wenn er versuchte, es durch einen freundlichen Blick wieder wettzumachen. Der Junge aus dem Bus.


Ich wäre gerne weggerannt, aber in dem Moment kamen auch schon Jodie und die anderen Mädchen und so blieb ich einfach wie erstarrt stehen, unfähig, den Blick von dem Jungen zu wenden. Ich hab es gewusst, hallte immer und immer wieder derselbe Gedanke in meinem Kopf nach. Ich glaubte Bauchschmerzen von den in mir sich widersprechenden Gefühlen bekommen zu müssen, einerseits waren da Angst, Unbehaglichkeit und Schock, andererseits fast so etwas wie… Freude?! War ich jetzt total übergeschnappt? Ich hasste den Typen doch eigentlich, er hatte sich in den wenigen Minuten gestern bei mir immerhin denkbar unbeliebt gemacht. Aber warum wollte ich mich dann nicht so richtig unwohl fühlen? Warum gelang es mir nicht, ihn wütend anzusehen und diesen geistig minderbemittelten Blick von ihm abzuwenden?
„Hey, du bist wohl der Neue, was? Ich bin Jodie.“ Jodie hatte sich natürlich schnell an allen vorbeigedrängelt, um ihn direkt für sich zu beanspruchen. Ein unschuldiger Augenaufschlag während sie sprach – laut, damit es auch möglichst jeder mitbekam – und sie hielt ihm hoheitsvoll die Hand hin. Es wunderte mich selbst, wie sehr ich sie dafür hasste, dass sie sich so offensichtlich an ihn ranmachte. Immerhin konnte mir das vollkommen egal sein, mit wem Jodie sich nun schon wieder abgab – ich könnte wetten, dass in diesem Moment ihr derzeitiger Freund seine Zeit bei ihr beendet hatte.
Der Junge – René – hatte mich noch immer angeschaut und als er jetzt die grünen Augen auf Jodie richtete, fiel auch ihr auf, dass ich ihn ebenfalls ansah. Ich beobachtete, wie ihr Blick einige Male von ihm zu mir und wieder zurückwanderte, bis er schließlich an mir hängen blieb. In ihren Augen lag neben unterdrückter Überraschung und Ungläubigkeit darüber, dass er mir offensichtlich nicht ganz so egal war wie der Rest, eine unausgesprochene Herausforderung, die direkt an die Dina Carter von früher ging, die Modequeen Dina Carter und nicht an das schüchterne Mädchen Dina, das von kaum jemandem wirklich wahrgenommen wurde. Es war die Herausforderung, das Duell anzunehmen, das Duell um den neuen Jungen, und ich sah, dass sie mich damit provozieren wollte. Sie wollte mir damit sagen, dass sie hier jetzt das Kommando hatte und dass ich niemals die geringste Chance hätte – als ob ich das will, dachte ich verächtlich.
Und beinahe hätte es sogar funktioniert, beinahe hätte ich den Teil der alten Dina wieder aufleben lassen, der noch immer irgendwo tief in mir verborgen war. Aber die Art, wie Jodie den Jungen angesprochen hatte, wie sie schamlos drauflos geflirtet hatte – das alles hatte mich wieder an mein früheres Ich erinnert und auch daran, dass ich nie wieder so sein wollte. Denn hatte ich es nicht immer genauso gemacht? Sah ich in Jodie nicht eigentlich nur mich selbst widergespiegelt? Diese Ähnlichkeit widerte mich an und brachte den beängstigenden Teil von mir ohne Schwierigkeiten zum Verstummen, ich schaffte es ohne die geringste Anstrengung, ihr einen kühlen, gleichgültigen Blick zuzuwerfen, der sie hoffentlich daran erinnerte, dass sie sich auch jetzt nicht mit mir anlegen sollte. Ich hoffte, dass sie sich daran erinnerte, wie sie früher mir gefolgt war und ich niemals ihr hinterhergelaufen war.
„Ja. Hi.“ René unterbrach unser stummes Blickduell, aber er nahm nicht die ihm dargebotene Hand (was mich insgeheim unbändig freute, auch wenn ich es nie zugegeben hätte), sondern stand selbst auf und nickte Jodie nur leicht zu, genauso wie dem Rest. Allen, außer mir. Unser Augenkontakt eben war schon genug an Begrüßung gewesen, natürlich hatte er mich erkannt und er wusste, dass ich auch ihn erkannt hatte. Jetzt musste ich mit der Tatsache, dass er da war, irgendwie fertig werden und ich hatte das schlechte Gefühl, dass das nicht so leicht werden würde. Warum musste er sich so schicksalsschwer in mein Leben drängeln und warum schien mich das kaum zu stören?
Ohne zu wissen, welche Anspannung sie damit unterbrach, kam in dem Moment Mrs. Jones herbei, wie immer wirkte sie leicht gehetzt und ihr suchender Blick ruhte auf René. „Ah, der neue Schüler! Willkommen“, begrüßte sie ihn und lächelte verkrampft, sie war sich der Verantwortung, die auf ihr lag, sehr wohl bewusst. Dann sah sie uns anderen alle der Reihe nach streng an, als vermutete sie, dass wir schon damit angefangen hatten, ihm das Leben hier schwer zu machen. Sie nickte René noch einmal zu, der ihr nur mit einem leichten Lächeln geantwortet hatte – was mich aus irgendeinem Grund vermuten ließ, dass er genau wusste, wie diese Schule auf Neulinge reagierte -, und schloss die Tür auf.
Hastig verzog ich mich nach hinten zu meinem Platz, ohne René oder einen der anderen auch nur eines Blickes zu würdigen, schweigend packte ich meine Sachen aus, während der Rest sich unter lautem Gerede ebenfalls auf die Plätze begab, selbst aus der Entfernung hörte ich heraus, dass sich die meisten Gespräche offenkundig um den Neuen drehten. Natürlich. Ich unterdrückte ein genervtes Seufzen. Die nächsten Tage würde ich mich wohl daran gewöhnen müssen, dass fast alle über ihn redeten, was es nicht gerade erleichterte, ihn zu ignorieren – denn genau das hatte ich vor, ihn einfach so zu behandeln wie alle anderen, das würde das Beste sein und mir (hoffentlich) nicht schwer fallen.
Schließlich kehrte Ruhe ein und alle Blicke richteten sich nach vorne, wo René noch immer neben Mrs. Jones stand, die ihre Hand fürsorglich auf seine Schulter gelegt hatte – anscheinend fürchtete sie bereits jetzt um das Wohl ihres neuen Schützlings. „Wie ihr sicher schon vermutet, ist dieser reizende junge Mann hier René Cumberland, der ab heute unsere Klasse besuchen wird. Ich weiß, dass das alles etwas, äh, kurzfristig ist, aber die Umstände haben sich so ergeben. Wo setzen wir dich denn mal hin…?“ Sie brach ab und schaute suchend in der Klasse umher, ich konnte selbst von hinten sehen, wie Jodie demonstrativ von René zu dem freien Platz schräg neben ihr schaute und hätte am liebsten die Augen verdreht. Auch Mrs. Jones schien von dieser Kombination nicht besonders viel zu halten und ich zuckte zusammen, als ihr Blick schließlich auf mir ruhte. Ich wusste, was ihr durch den Kopf ging, einerseits wäre bei mir der perfekte Platz, weil ich den Unterricht nie störte und keinen Ärger machte, andererseits wusste natürlich auch sie von der seltsamen Wandlung, die ich durchgemacht hatte…
Ich versuchte angestrengt ihr mit den Augen klarzumachen, dass sie ihn bitte auf keinen Fall neben mich setzen sollte – dann könnte ich mir das mit dem Ignorieren sofort abschminken. Ich glaubte zu bemerken, wie sich ein entschuldigender, aber entschlossener Ausdruck in ihren Blick schlich und dann sprach sie die Worte zu meinem Todesurteil aus: „Da hinten bei Dina ist noch was frei. Das ist doch kein Problem, nicht wahr?“
Wie in Trance sah ich, wie René den Kopf schüttelte und mir aufmunternd zulächelte, was mich dazu bewog, mich rasch auf Mrs. Jones zu konzentrieren. Ich war kurz davor nein zu sagen, aber ich sah ihren flehenden Blick, erinnerte mich wieder an den Augenblick im Bus… und konnte es einfach nicht.
„Natürlich nicht, Mrs. Jones“, sagte ich leise und starrte auf die Tischplatte.


6. Kapitel » Speechless. «

„Sehr schön.“ Mrs. Jones lächelte sichtlich erleichtert. „Ihr kommt bestimmt gut miteinander aus“, fügte sie an René gewandt hinzu und ich fragte mich, ob ich die Einzige war, die bemerkte, dass ihr Lächeln bei diesen Worten etwas gezwungener wirkte.
„Natürlich.“ René nickte leicht, aber dabei sah er nur mich an. Ich starrte feindselig zurück. Der Verlauf der Dinge gefiel mir ganz und gar nicht und ich hatte das Gefühl, dass dieser neue Junge noch jede Menge in meinem Leben durcheinander bringen würde. Nicht gerade ein motivierender Gedanke.
Außerdem hatte ich damit eine neue Feindschaft mit Jodie, deren bösen Blick ich jetzt schon auf mir spürte. Nicht dass wir uns seit meiner ‚Wandlung’ besonders gemocht hatten, aber wir hatten es beide irgendwie nie öffentlich gezeigt. Das würde sich jetzt wohl ändern, denn ich spürte, dass sie ihn wollte

und dass die Tatsache, dass er mir nicht egal war, dieses Verlangen nur verstärkt hatte.
Ich kannte dieses Verhalten von mir selbst. Auch ich hatte viele Male so gefühlt und ich hatte gewonnen. Immer. Denn darum ging es bei diesem Spiel – den begehrten Jungen zu erobern und über der Konkurrentin zu triumphieren. Meistens waren die besagten Typen dann doch nicht so interessant, aber um das Siegesgefühl etwas auszukosten, war ich meistens ein paar Wochen mit ihnen zusammen geblieben und hatte dann Schluss gemacht.
Ich wusste, dass Jodie sich im Grunde nicht sicher war, ob sie gegen mich gewinnen konnte. Äußerlich tat sie natürlich so und ich war nicht gerade mehr die große Konkurrenz, aber trotzdem war ich immer noch Dina. Und wenn ein Mädchen wusste, wie man einen Jungen eroberte, dann war ich es. Ihr war klar, dass ich nicht so kämpfen würde wie früher (da wäre sie mir auch hoffnungslos unterlegen gewesen und die Versuchung, sie so richtig zu blamieren, war groß), aber sie konnte auch nicht davon ausgehen, dass ich alles vergessen hatte. Sie musste auf ihre Beliebtheit und ihren Status an dieser Schule zählen, und darauf, dass ich allgemein als das Freakmädchen bekannt war.
Trotzdem wusste ich meinen eigenen Vorteil der Erfahrung zu schätzen, Jodie war berechenbar und ich konnte fast genau sagen, was sie vorhaben würde – ich hatte es selbst oft genug getan und bei meinen Gegnerinnen beobachtet.
Aber was mir zu denken gab, war meine neue Schwäche. Ich hatte in den letzten Monaten erfolgreich eine undurchdringbare Mauer um mich herum aufgebaut, die mich unverletzlich und stark machte. Wenn nichts dich aus der Fassung bringen kann, kannst du nur gewinnen – das war etwas, das ich gelernt hatte.
Gefühle aber machen schwach. Auf Gefühle kannst du dich nicht verlassen, sie beeinflussen dich so, dass du Dinge tust, die du später bereust – doch du kannst nichts daran ändern und wirst den gleichen Fehler immer wieder machen. Es machte mir Angst, dass Jodie in René meine Schwachstelle sehen könnte, denn ich konnte nicht leugnen, dass irgendwas an diesem Jungen mich berührte. Ich wollte nicht, dass er es war, der meiner Mauer solche verhängnisvollen Risse zufügte und ich konnte nicht einschätzen, was er mir wirklich bedeutete. Doch egal ob ich ihn mochte oder hasste – Gefühle für ihn waren da und das musste ich schnellstens ändern. Jodie würde es gnadenlos ausnutzen, da war ich sicher.
Eigentlich war es albern, sich auf dieses Spiel einzulassen, was brachte mir das? Ich wollte ihn schließlich nicht für mich haben oder so, diese Zeiten waren vorbei. Andererseits durfte Jodie ihn auf keinen Fall bekommen, aber ich hatte irgendwie eine Art Intuition, die mir sagte, dass René klug genug war, um ihre Persönlichkeit selbst einzuschätzen. Und wenn er dann dennoch an ihr interessiert war, konnte man ihm sowieso nicht mehr helfen.
All das schoss mir durch den Kopf, während René auf mich zukam und ich mich déjà-vu-mäßig an die Szene im Bus gestern erinnerte – nur konnte ich hier nicht einfach aussteigen und vor ihm davonrennen.
Aber hey, warum sollte ich das auch wollen?, dachte ich fest. Er ist nur ein Junge. Nur ein weiterer unsichtbarer Schüler hier, den ich ignorieren kann wie jeden anderen.
„Hi.“ Er grinste mich an, als er sich neben mich setzte. Ich erwiderte nichts und sah stattdessen nach vorne, wo Mrs. Jones ihren Unterricht begonnen hatte.
Es schien ihn nicht zu stören, dass er keine Antwort bekam und ich musste zugeben, dass ich aus den Augenwinkeln beobachtete, wie er seine Sachen aus der Tasche holte und sorgfältig auf den Tisch legte. Dabei fiel mir schon wieder auf, wie ungewöhnlich zart seine Hände für einen Jungen doch aussahen. Schmal und weiß. Unheimlich und doch faszinierend.
Ich wandte den Blick ab und versuchte mich auf den Unterricht zu konzentrieren – was gar nicht so einfach war, wenn ich mich mit allen Symptomen von Paranoia beobachtet fühlte. Angespannt saß ich auf meinem Stuhl und starrte geradeaus ohne etwas zu sehen. Ich hatte Angst davor, ihn anzusehen und wieder diese Trauer ertragen zu müssen, die er vielleicht ausstrahlte. Diesen abwesenden Blick aus den viel zu alten Augen, der mich schaudern ließ – ohne dass ich wusste warum.
War das normal? Sicher nicht. Aber andererseits… war ich normal? War es normal, dass man irgendwann im Leben eine solche Veränderung durchlebt, wie ich es getan hatte? Wohl eher auch nicht. Diese Gemeinsamkeit verursachte mir eine Gänsehaut. Ich wollte das hier nicht. Warum musste es also geschehen?
Es klingelte schließlich zur Pause und ich konnte es kaum erwarten, den Klassenraum zu verlassen und Renés Anwesenheit nicht die ganze Zeit mit all meinen Sinnen wahrnehmen zu müssen. Erst setzte ich mich einfach alleine auf eine der Bänke in der Pausenhalle, aber ich hielt es nicht lange dort aus. Ich wollte nach draußen. Frische Luft.
Hastig stand ich auf und drängte mich an Schülergruppen vorbei bis zu einem der Ausgänge, der auf die große Schulwiese führte. Es war kalt, die meisten waren drinnen – mein Atem hing als weiße Wolke vor meinem Gesicht. Dabei war es noch lange nicht Winter… vielleicht kommt er ja früher dieses Jahr, überlegte ich. Das wäre gar nicht schlimm. Ich mochte den Winter und die Kälte, ich hatte das Gefühl, dass dann nicht mehr so viele Menschen mit unerträglich guter Sonnenscheinlaune herumliefen und alles irgendwie zur Ruhe kam. Ein gutes Gefühl. Man konnte dann Spaziergänge machen, ohne jemanden zu treffen – da waren nur die kalte, stille Landschaft und man selbst.
Langsam lief ich ein paar Schritte über die laubbedeckte Wiese, die Hände tief in meinen Manteltaschen vergraben, als ich plötzlich stehen blieb. Da war kein Laut, der mir etwas hätte verraten könnte, nicht einmal ein Windstoß. Und trotzdem war ich mir ganz sicher, dass er hier war. Noch bevor ich ihn dort sitzen sah, wusste ich es. Und ich wusste auch, wie er dort sitzen würde. Still. Kalt. Traurig. Wie die Landschaft.
Zitternd atmete ich ein. Dann drehte ich mich langsam um und ging wie in Trance den Weg zurück, den ich gekommen war. Aber ich war mir dennoch mit hundertprozentiger Gewissheit sicher, dass er mich bemerkt hatte. Und ich fragte mich, ob mich das freute oder mir noch mehr Angst einjagte…
Die Wärme und der Lärm der Pausenhalle bildeten einen unglaublichen Kontrast zur stillen Wiese draußen und ich hatte fast das Gefühl, wieder in die Realität einzutreten – oder kam ich geradewegs aus der Realität? Ich war erleichtert, als es klingelte und betrat mit gemischten Gefühlen den Klassenraum, wie durch einen Zufall lief René direkt vor mir und auch wenn es mir kindisch vorkam, bewahrte ich vorsichtshalber einige Zentimeter Sicherheitsabstand.
Wenn ich wenigstens nur ein paar Stunden in der Woche neben ihm hätte sitzen müssen – aber stattdessen hatten wir beinahe alle Fächer in unserem Raum. Anscheinend stand mir eine albtraumhafte Zeit bevor.
Diese Theorie bestätigte sich, als unser Lehrer sofort eine für die nächsten Wochen geplante Partnerarbeit ankündigte – so was hatte ich sonst immer alleine gemacht. Jetzt jedoch… jetzt saß neben mir die einzige Person, die mich andauernd aus dem Konzept brachte und mit der ich am wenigsten zusammenarbeiten wollte. Bei anderen hätte ich wenigstens noch die leise Hoffnung gehabt, dass das Ganze größtenteils schweigend ablaufen würde, aber etwas sagte mir, dass er nicht der Mensch war, der das zulassen würde. Ich hatte ja schon festgestellt, dass es nichts brachte, ihn zu ignorieren, also fiel diese Möglichkeit schon mal weg.
Widerwillig wandte ich mich zu ihm um und stellte fest, dass er m ich bereits erwartungsvoll ansah, so intensiv, dass ich unmöglich den Blick wieder hätte abwenden können. Seine Augen faszinierten mich nach wie vor und seine Gesichtszüge… ich war sicher, noch nie einen vergleichbaren Jungen gesehen zu haben.
Er lächelte und der Bann war gebrochen. Ich senkte meinen Blick hastig auf meine Hände und war froh, nicht zu den Leuten zu gehören, die allzu schnell rot wurden.
„Fangen wir an?“ Seine Stimme klang, als müsste er ein Lachen unterdrücken und ich hoffte inständig, dass das nichts mit mir zutun hatte.
„Klar“, erwiderte ich knapp, fest entschlossen, mich nicht noch einmal so von seinem Anblick fesseln zu lassen und deutlich zu machen, dass mich seine Anwesenheit kein bisschen berührte. Oder ich nahm mir zumindest vor, so zu tun, weil ich leider nur zu gut wusste, dass mich seine Nähe eben nicht vollkommen kalt ließ. Erbärmlich.
Er jedoch lächelte abermals nur, so als wüsste er längst, was in mir vorging und ich biss wütend die Zähne zusammen.
In der Partnerarbeit sollte es darum gehen, die Probleme verschiedener Städte darzustellen, zu zeigen wie diese sich in Zukunft entwickeln könnten und mögliche Lösungsansätze vorzustellen. Mich interessierte das Thema nicht wirklich, aber ich nahm mir vor, trotzdem sauber und ausführlich zu arbeiten – so wie ich es sonst alleine auch immer tat, ich war nicht besonders scharf darauf, durch schlechte Arbeit aufzufallen und wenn ich schon nichts Besseres zutun hatte, konnte ich ebenso gut meine Noten aufbessern. Früher war mir das nicht sonderlich wichtig gewesen und ich musste zugeben, dass es jetzt eigentlich nicht anders war, doch ich wollte meine Mum nicht noch mehr Sorgen bereiten als sie sowieso schon hatte.
Glücklicherweise musste ich zunächst nur einen langen Text lesen, was ihm wohl keine Gelegenheit bieten sollte, mit mir zu reden und so saßen wir den größten Teil der Stunde über schweigend auf unseren Plätzen – ich war unauffällig ein Stück abgerückt, damit nicht die Gefahr bestand, dass unsere Ellbogen sich zufällig berührten.
Vielleicht war ich durch die Tatsache, dass er mich in Ruhe ließ, so motiviert, dass ich schneller las als sonst – zumindest waren wir beide am schnellsten fertig und so saß ich angespannt auf meinem Stuhl und versuchte ihn zu ignorieren. Vergeblich.
„Bist du immer so gesprächig?“, fragte René, während ich damit beschäftigt war, überall hinzuschauen außer zu ihm.
Ich spielte einen Moment mit dem Gedanken, einfach so zu tun als hätte ich ihn nicht gehört – dann drehte ich den Kopf doch minimal in seine Richtung. „Ja“, entgegnete ich kurz und sah wieder weg. Himmel, diese Augen trieben mich noch in den Wahnsinn…
„Ah“, machte er nur und ich betete, dass das Gespräch jetzt für ihn beendet war. Naiv wie ich war, glaubte ich sogar schon fast daran, als er nach einer Weile hinzufügte: „Du hast ein schönes Armband.“ Er klang aufrichtig. Und dann, bevor ich es irgendwie verhindern konnte, hob er plötzlich seine Hand und berührte vorsichtig den silbernen Anhänger an meinem Handgelenk – dabei streiften seine Finger leicht meine Haut und ich stellte überrascht fest, wie warm sie waren. Und das war für den Augenblick das Einzige, was ich denken konnte und das war wirklich gruselig.
Wahrscheinlich war ich zu erschrocken, um zu reagieren, auf jeden Fall saß ich nur bewegungslos da und starrte ihn an. Er fasste mich einfach so an?! Grundsätzlich war das ja nichts Besonderes, aber… für mich schon. Und er musste es wissen, ich war sicher. Trotzdem stellte ich fest, dass ich nicht wütend auf ihn war – seine Hand fühlte sich sogar gut an.
Moment. Was dachte ich denn da?! Ich war mittlerweile wohl komplett verwirrt, eine andere Erklärung fiel mir darauf nicht ein.
„Danke“, sagte ich leise und zog meine Hand weg. Warum konnte er nicht verstehen, dass ich das alles nicht wollte? Nein, korrigierte ich mich sogleich, er verstand es ja, aber er ignorierte es einfach! So wie ich ihn ignorierte… Oh nein. Ich wollte bloß kein Mitleid mit ihm haben, nur das nicht. Meine Gefühle (kaum zu glauben, dass sie überhaupt noch tief in mir vergraben existierten!) spielten sowieso schon verrückt, da konnte ich das am allerwenigsten gebrauchen. Es ärgerte und freute mich zugleich, dass er mir so viel Aufmerksamkeit schenkte und ich ihm offensichtlich nicht egal war, aber hauptsächlich irritierte es mich. Es war einfach eine ungewohnte Reaktion, die ich eigentlich nur von früher kannte – jetzt war ich so gut wie unsichtbar und trotzdem beachtete er mich mehr als den Rest. Okay, er saß ja auch neben mir, also brauchte ich mir darauf nicht allzu viel einbilden, aber dennoch. Es ließ sich nicht abstreiten, dass es ungewöhnlich war und selbst er als Neuling musste das merken.
Ich beschloss hartnäckig, die Freude darüber darauf zu schieben, dass Jodie das ganz bestimmt nicht gefiel und ignorierte dabei die Tatsache, dass selbst das unnormal für mich war – seit wann baute ich wieder Rivalitäten mit anderen Mädchen aus? Das ging gefährlich nah in die Richtung der alten Dina, war ich vielleicht doch nicht stark genug, um mich von all dem abzukapseln? Ich wollte auf keinen Fall wieder so werden und ich hatte gedacht, dass ich es geschafft hatte – zumindest bis ich gestern ihm

begegnet war. Was nicht gerade für ihn sprach. Und doch hatte er dieses gewisse Etwas, das mich davon abhielt, ihn als schlecht abzustempeln.
Zumindest war mit dieser Stunde der schlimmste Teil des Tages geschafft – er redete nicht noch einmal mit mir und irgendwie hatte ich Angst, ihn gekränkt zu haben. Auch wenn das total dumm war. Schließlich war es für uns beide das Beste, wenn ich ihm von Anfang an klar machte, wie meine Grenzen gesetzt waren, oder?
Als es zum Schulschluss klingelte, war ich die Erste an der Tür, schnappte mir meine Jacke und rannte fast den Flur entlang. Bis ich plötzlich seine Stimme hörte.
„Dina!“ Er sagte es nicht laut, nur so, dass ich es hören konnte – aber ich könnte schwören, dass es dennoch alle Schüler im Umkreis von 30 Metern mitbekamen und sie mich alle anstarrten. Ich schwöre, dass ich mich nicht umdrehen wollte

, aber meinem Körper schien das egal zu sein. Meine Beine blieben ohne mein Zutun stehen und ich wandte mich um.
Er stand noch an der Garderobe, ein ganzes Stück von mir entfernt. Trotzdem spürte ich seinen fesselnden Blick auf mir ruhen, als wäre er nur wenige Zentimeter vor mir. Vielleicht hatte ich mich auch nur wegen dem Klang seiner Stimme umgedreht – er sagte meinen Namen irgendwie sanft, als wäre er etwas ganz Besonderes.
Fragend sah ich ihn an, doch er schwieg. Aber wozu waren Worte auch nötig, wenn seine Augen mir alles sagten, was ich wissen musste? Wie im Film hielten wir gefühlte Minuten Blickkontakt, dann schaffte ich es, mich abzuwenden und langsamer als zuvor meinen Weg zum Ausgang fortzusetzen.
Erst als ich später zuhause war, fiel mir die Sache mit dem Armband wieder ein und ich betrachtete den Anhänger, den er berührt hatte. Es war ein Herz, ich hatte es zu Weihnachten bekommen, als ich noch sehr klein war – und ich trug es immer noch, obwohl ich nicht recht wusste, warum. Vielleicht weil es das letzte Weihnachten gewesen war, das ich mit meinem Vater und Mum zusammen gefeiert hatte.
Wie auch immer, es bedeutete mir viel. Und etwas sagte mir, dass er das genau gewusst hatte.


7. Kapitel » Silence. «

Ich schlief nicht gut. Schon wieder. Der Gedanke an den nächsten Tag hielt mich wach und am Morgen stand ich kurz davor, mir eine Ausrede zu überlegen und zuhause zu bleiben. Meine Mum würde es schon erlauben, schließlich hatte ich in letzter Zeit nie gefehlt – warum sollte ich auch, wenn es doch nicht besser war als Schule. Und auf einmal hatte ich einen Grund. Und das machte mir Angst.
Am Ende ging ich aber natürlich doch, genau wie am Tag zuvor redete ich mir ein, dass es feige wäre. Und wie um mir selbst zu beweisen, dass nichts war, beschloss ich, wie gewöhnlich den Bus zu nehmen. Ich hatte keinen Grund für ein Versteckspiel, außerdem wusste ich nicht einmal, ob er überhaupt mitfuhr – er konnte ebenso gut einen der anderen zahlreichen Busse nehmen, nur weil ich ihn auf einer Fahrt kennen gelernt hatte, hieß das noch lange nicht, dass ich ihm dort wieder begegnen würde.
Fest entschlossen folgte ich also anderen aus der Nachbarschaft, die mir mittlerweile wie Fremde vorkamen, und stieg in den röhrenden Bus, den ich immer nahm. Ohne dass ich es hätte verhindern können huschte mein Blick die Sitze entlang, doch ich begegnete nur den üblichen fasziniert-ängstlichen Augenpaaren, die sich schnell abwandten, sobald ich sie ansah. Ich wusste nicht, ob mich das enttäuschen oder erleichtern sollte – wahrscheinlich sollte es mir egal sein, dachte ich dann und seufzte über meinen kläglichen Versuch, nichts zu empfinden. Es fiel mir doch eigentlich so leicht… wieso also nicht bei ihm?
Wann immer der Bus an einer Haltestelle ankam beobachtete ich nervös die Tür, musterte die neuen Mitfahrer und sank jedes Mal wieder entspannt zurück in meinen Sitz, wenn er nicht dabei war. Vielleicht kommt er auch heute gar nicht zur Schule, dachte ich hoffnungsvoll. Vielleicht kann heute alles so sein wie immer und ich muss nicht reden, ihn nicht anschauen und mich nicht von ihm irritieren lassen. Das wäre so viel einfacher…
Aber warum sollte es mir dann auch vergönnt sein?! Mein Wunschdenken fand ein Ende, als ich nach der nervenaufreibenden Busfahrt zum Klassenraum ging und schon von weitem sah, wer davor neben seiner Tasche saß. Innerlich stöhnte ich auf, doch ich war geübt darin, meine Gefühle zu verbergen, eine emotionslose Maske aufzusetzen. Einfach ignorieren, sagte ich mir und ging entschlossenen Schrittes weiter. Ohne ihm auch nur einen weiteren Blick zu schenken, stellte ich meinen Rucksack ab und zog meinen Mantel aus, demonstrativ wandte ich ihm den Rücken zu.
„Hey.“
Die Stimme hinter mir ließ mich zu meinem großen Ärger zusammenfahren und es war nahezu beängstigend, wie vertraut sie mir war. Ich atmete tief durch, dann hatte ich mich wieder unter Kontrolle, ich wandte widerwillig den Kopf und nickte ihm mit einer minimalen Bewegung zu. Rasch drehte ich mich wieder um und fummelte unnötigerweise an dem Reißverschluss meiner Jacke herum.
„Dina, das mit gestern tut mir leid – was auch immer dich daran gestört hat. Wirklich“, fing er nach einem kurzen Schweigen wieder an.
Jetzt konnte ich ein Seufzen nicht mehr unterdrücken. Ich sah ihn an. „Lass uns einfach auf Distanz bleiben, ja? Bitte.“ Das sagt die Richtige, dachte ich gleichzeitig finster.
Er erwiderte meinen Blick, seine Miene war ebenso ausdruckslos wie meine, aber seine Augen jagten mir einen Schauer über den Rücken.
„Verstehe.“ Sein Tonfall war so ruhig und kalt, dass ich meine Worte beinahe zurückgenommen hätte. Aber mir entging nicht, dass er mir keineswegs zugestimmt oder etwas versprochen hatte.
Ich schluckte hart und nickte. „Gut.“ Dann sah ich schnell wieder zum Fenster, damit er nicht sah, wie ich die Zähne zusammenbiss.
Der Tag verlief schrecklich ereignislos, es kam mir beinahe vor, als wäre er gar nicht da. Doch natürlich war seine Gegenwart unmöglich zu vergessen und gelegentlich warf ich ihm aus den Augenwinkeln einen kurzen Blick zu, versuchte, seine Gedanken an seiner Miene abzulesen. Aber er war gut, vielleicht sogar so gut wie ich. Er konnte auch eine Maske auflegen, die nichts verriet, genau wie ich. Manchmal jedoch trafen sich unsere Blicke – dann wandten wir uns beide hastig um und gaben vor, mit etwas Anderem beschäftigt zu sein.
Irgendwie brachten wir es fertig, bei der gemeinsamen Arbeit in Erdkunde kein einziges Wort miteinander zu wechseln und während alle um uns herum redeten und lachten, saßen wir still auf unseren Plätzen, die Augen aufs Papier gesenkt.
Und ich versuchte zu vergessen, wie idiotisch das alles war…
Die folgenden Tage verliefen nach dem gleichen, eintönigen Muster und ich gab mir größte Mühe, alles mit der gewohnten Gleichgültigkeit zu betrachten, die Stimmen auszublenden und mich unsichtbar zu machen. Dennoch konnte ich nicht abstreiten, dass mich Renés Verhalten insgeheim ärgerte – er schien einfach so aufgegeben zu haben und sich gar nicht mehr für mich zu interessieren, irgendwie hatte ich dummerweise gehofft

, dass er versuchen würde, weiterhin mit mir in Kontakt zu bleiben uns mich anzusprechen.
Und das Schlimme daran war, dass es genau das war, was ich von ihm verlangt hatte – erst jetzt wurde mir klar, dass ich fest davon ausgegangen war, dass er sich nicht an meine Bedingungen halten würde. Und es traf mich, es traf mich viel mehr als ich es mir je hätte träumen lassen. Denn es machte mir bewusst, dass ich mir seine Zuneigung wahrscheinlich nur eingebildet hatte und er in Wirklichkeit nur nett und höflich hatte sein wollen – während ich in sein Benehmen gleich bedeutende Gefühle hineininterpretiert hatte.
So brachte ich es also fertig, mir mit meinen eigenen Regeln Schmerz zuzufügen und natürlich bekam ich mit, dass Jodie offensichtlich eisige Klima zwischen uns ausnutzte und René wie ihren besten Freund oder Schlimmeres behandelte. Allerdings stellte ich mit Genugtuung fest, dass sie auch verunsichert darüber war, dass ich ihr so kampflos das Feld überließ, denn aus ihren Augen konnte das wohl nur bedeuten, dass ich das Interesse an ihm verloren hatte (nicht dass da jemals Interesse gewesen wäre). Und das wiederum machte ihn auch nicht mehr so begehrenswert – denn welches Mädchen wollte schon einen Jungen, der ihr von der Konkurrentin freiwillig überlassen wurde?!
Es war mein Glück, dass keiner von dem Chaos in meinem Inneren wusste, von den ungewohnten Gefühlen, die sich widersprachen und tobten, um die anderen zu überlagern. Nach so langer Zeit der Neutralität kam mir das alles überraschend heftig vor und ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich es geschafft hatte, all diese Emotionen sicher irgendwo einzusperren, um sie nie wieder fühlen zu müssen. Ich hatte die Wahl gehabt, entweder alles oder nichts fühlen. Ich hatte mich für nichts entschieden und so mit dem Schmerz auch die Freude, mit der Trauer auch das Glück aufgegeben. Alles hatte seinen Preis.
Anscheinend hatte ich den Schlüssel zu all dem jetzt gegen meinen Willen wieder gefunden – oder René hatte es getan. Und ich war nicht sicher, ob das sehr gut oder aber sehr schlecht war…
Er ging jedem Kontakt aus dem Weg, nicht einmal einen Blick hatte er noch für mich übrig, wenn ich morgens kam. Schön, dachte ich – wütend, auch wenn mir klar war, dass das nicht gerechtfertigt war, wenn er es so will. Ich ging dazu über, mich im Unterricht einen Platz weiterzusetzen, sodass zwischen uns jede Menge Abstand war und auch wenn wir die Partnerarbeit fortsetzen mussten, blieb ich dort.
Und ich musste mir eingestehen, dass ich oftmals nur zur Schule ging, um ihm zu beweisen, dass seine Gegenwart mir nicht das Geringste ausmachte. Ich ließ mir nicht anmerken, dass ich jedes Mal aufs Neue neugierig wurde, wenn er wieder in einer seiner geistesabwesenden Trancen verfiel – und vor allem nicht, wie es mir auch jedes Mal Angst machte. Und ich tat so, als ob ich mich nicht jedes Mal erschrecken würde, wenn ich seine Stimme hörte, so ruhig, so vertraut. Zu vertraut.
Doch während René in mir regelmäßig die Gefühle explodieren ließ, schien ich mich den anderen, meinen alten Freunden, kein bisschen anzunähern. Ich hatte seit dem ‚Gespräch’ letztens auf dem Flur nicht mehr mit Josh gesprochen, aber wann immer er – zufällig oder nicht – an mir vorbeiging und ich demonstrativ zu Boden starrte, spürte ich seinen Blick auf mir ruhen und ich fragte mich, warum wohl ausgerechnet er mich selbst jetzt noch beachtete. Ich war immerhin mit genügend Typen zusammen gewesen und auch wenn Josh echt nett war, konnte ich nicht sagen, dass er mir viel mehr bedeutet hatte als der Rest. Vielleicht lag es einfach daran, dass er mein Freund gewesen war, als es

passiert war, als ich anders geworden war.
Ich wünschte mehr denn je, Joshua Blythe würde die Schule verlassen und aus meinem Leben verschwinden. Und mit ihm die Erinnerungen. Die Erinnerungen, die mich jetzt wieder einzuholen drohten, nachdem ich bisher sorgsam Abstand bewahrt hatte. Natürlich hatte ich nie etwas vergessen, vor allem nicht von jener Nacht, doch ich hatte in den letzten Monaten ohne Gefühlsregung darauf zurückblicken können. Ohne dass es wehtat.
Und jetzt… jetzt war es, als wäre es erst gestern geschehen. Obwohl, das war nicht ganz richtig. So schlimm war ich jetzt nicht dran, jedenfalls noch nicht. Ich war kein Wrack, ich heulte mir nicht die Seele aus dem Leib. An den Tagen direkt danach war es mir egal gewesen, was andere von mir dachten, denn vor meinem inneren Auge spielte sich ununterbrochen die Szene ab, immer und immer wieder. Ich hatte mich im Spiegel betrachtet und was ich gesehen hatte, hatte mir Angst gemacht. Meine Schönheit, die mir jeden Tag aufs Neue schlagartig bewusst wurde. Und auch wenn man bald nichts mehr von den Schürfwunden sehen konnte und das Blut längst abgewaschen war, kam das Bild ganz von alleine in mein Gedächtnis, verfolgte mich. Oft hatte ich mir panisch übers Gesicht gewischt, nur um dann festzustellen, dass da nichts war. Kein Blut. Nicht mehr.
Ich hatte das mit der Zeit hinter mir gelassen, war erfolgreich davon losgekommen. Doch jetzt, nur wenige Tage nachdem René zum ersten Mal bei uns in der Schule gewesen war, hatte ich seit langem wieder davon geträumt. Und es war keineswegs eine Ausnahme gewesen, nein, seitdem besuchte die Erinnerung mich im Traum jede Nacht – wenn ich nicht gerade Renés Augen sah, während ich schlief.
Ich hätte nicht sagen können, was von Beidem mir mehr Angst machte, aber ich war mir eigentlich vollkommen sicher gewesen, dass die Erinnerungen an damals mich nicht mehr unter Kontrolle hatten. Doch ich hatte mich geirrt – und es fühlte sich nicht gut an, gar nicht gut. Es fühlte sich so an, als wäre ich wieder verletzlich. Verletzlich und für jedermann sichtbar. Das einzig Beruhigende an der Sache war, dass ich ja immer noch anders aussah, äußerlich immer noch schüchtern und unauffällig war.
Und ich gab natürlich René die Schuld daran, selbstverständlich. Wem auch sonst?! Dank diesen Träumen zwang ich mich dazu, selbst die schnellen Blicke im Unterricht zu unterdrücken – ich zählte manchmal, wie viele Stunden ich es aushielt, ohne ihn anzusehen. Es waren jedoch nicht besonders viele. Natürlich nicht. Vielleicht hätte ich meine Vorsätze eingehalten, wenn ich noch meine alte, angenehme Selbstkontrolle hätte, die mir immer ein Gefühl der Sicherheit gegeben hatte. Aber so, mit diesen ungewohnt heftigen Empfindungen, meinen Träumen und Gedanken in seiner Nähe, war es unmöglich. Ich erkannte mich kaum wieder, das war nicht ich. Es widersprach sowohl meinem früheren Verhalten als auch der Isolation der letzten Monate
Doch vielleicht, ganz vielleicht, dachte ich, irrte ich mich. Vielleicht war gerade das hier ich selbst und ich wusste es nur noch nicht. Einfach ein Teil, ein sehr großer Teil von mir, den ich aus irgendwelchen Gründen nie kennen gelernt hatte. Ein Teil, der allein durch René wach geworden war und den seine Anwesenheit am Leben erhielt.
Aber obwohl ich ihm in der Schule meistens körperlich näher war als jeder andere, so wurde die geistige Distanz zwischen uns doch mit jedem Tag größer…


8. Kapitel » Closer. «

Ich würde gerne behaupten, dass es mit der Zeit besser wurde. Dass ich über die Albträume hinwegkam, so wie ich es schon einmal geschafft hatte, dass ich mich wieder unsichtbar machen konnte. Aber das wäre eine Lüge – in Wahrheit wurde es kein bisschen besser. Es war, als hätte sich der Teil meines Gehirns, der sich mit solchen Sachen bestens auskannte, einfach ausgeschaltet und ich konnte den Wechselknopf nicht finden, um ihn wieder zu aktivieren.
Die Zeit verging mal langsamer (wenn ich in Renés Nähe war), dann wieder schneller (wenn ich mich anderweitig ablenken konnte) und ich bekam kaum mit, wie wir uns bei wenig effektiven Erdkunde-Partnerarbeit, in der keiner von uns je das Wort an den anderen richtete, dem Ende näherten. Und obwohl wir die Arbeit beide ohne die geringste Hilfe des anderen erledigten, waren wir doch etwa genauso schnell wie der Rest der Klasse – die lauthals redeten und über ihre Gespräche schnell ihre eigentliche Aufgabe vergaßen.
Doch dann kam dieser eine Tag. Ich hätte überhaupt nichts mitbekommen, wenn er mich nicht darauf hingewiesen hätte, ich war so drin in meinem Arbeits- bzw. Ignoriermodus, dass ich immer eine Möglichkeit fand, die Unterthemen, die in meinen Aufgabenbereich fielen, noch zu präzisieren. Vermutlich würde diese Arbeit das Zeug zur Bestnote haben, ich konnte mich nicht daran erinnern, mich im Unterricht je so intensiv mit etwas beschäftigt zu haben.
Vollkommen ahnungslos saß ich also in der Erdkundestunde, so weit über mein Buch gebeugt, dass meine Haare nach vorn fielen und ich gar nicht erst in Versuchung kam, aus dem Augenwinkel zu seinem Platz zu schielen. Nicht dass diese Gefahr bestand.
Und plötzlich legte René los. Noch bevor er anfing zu sprechen, wurde ich schon hellhörig – es war so ungewohnt, etwas von ihm zu hören, dass ich mich kerzengerade aufsetzte, sobald er Luft holte. Ich war stolz auf mich, dass mir mein Blick nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde entglitt, ich spürte, dass er mich ansah und wenn ich mir auch nur für einen Moment erlaubte, in diese tiefen, erwachsenen Augen zu schauen, würden diese mich hundertprozentig fesseln. Also starrte ich angestrengt auf die Tischplatte und wartete die unheilvollen Augenblicke ab, die zwischen dem Atemholen und dem ersten Wort lagen. Es kam mir vor wie eine Ewigkeit…
„Unsere Aufgabe ist fertig. Nächste Woche werden wir referieren.“ Verdammt, ich hatte ganz vergessen, wie seine Stimme klang, wenn er nicht wütend war, nicht hart und abweisend. Die ganzen letzten Tage, wann immer er drangenommen wurde oder ich ihn mit jemand anderem reden hörte (was kaum vorkam, da er so gut wie nie mit jemandem sprach), hatte ich nur diese dunklere, kältere Variante seines Tonfalls gehört. Seit dem Morgen, an dem er sich bei mir für den Tag davor hatte entschuldigen wollen, seit wir dann letztendlich ohne ein freundliches Wort auseinander gegangen waren.
Aber jetzt, plötzlich, klang er wieder genauso. Wie auch im Bus, als ich ihm zum ersten Mal begegnet war. Genauso. Ruhig, sanft. Und zum Sterben schön. Was fiel ihm ein, so mit mir zu reden, nachdem wir eine halbe Ewigkeit kein bisschen

miteinander gesprochen hatten?!
„Tun wir das?“, erwiderte ich reserviert und noch immer ohne ihn anzusehen. Das würde meine ganze hart erarbeitete Disziplin zunichte machen, da war ich sicher.
„Dina.“ In der kurzen Stille, die darauf folgte, klang mein Name aus seinem Mund noch in der Luft zwischen uns nach und ich war nicht sicher, ob es die Anspannung lockerte oder noch steigerte. „Komm schon“, fuhr er dann fort, geduldig, als würde er mit einem Kind sprechen. Aber andererseits auch mit einer Intensität, die man gegenüber eines Kindes nicht anwenden würde. Oh, er mogelte schon wieder, er wollte mich allein dadurch dazu bringen, auf ihn einzugehen!
Und jetzt musste

ich ihn einfach ansehen, sein Plan schien leider zu funktionieren, aber ich konnte nicht anders! Er wagte es tatsächlich, so mit mir zu reden, als wäre ich hier die Einzige, die sich durch unsichtbare Barrieren unerreichbar machte!
Meine giftige Antwort blieb mir im Hals stecken als ich ihn jetzt doch ansehen musste. Seine dunkelgrünen Augen ruhten natürlich auf mir, seine Züge waren weich. Dieses Gesicht, das so schmal und zerbrechlich aussah, dass es nicht zu einem Jungen seines Alters passen wollte. Ohne dass ich es hätte verhindern können, schmolz meine Wut dahin, eine unwirkliche Ruhe überkam mich. Ich konnte ihm nicht böse sein. Nicht, während er mich so anschaute.
Ich zweifelte nicht daran, dass er mir meine plötzliche Stimmungsschwankung anmerkte, doch sein Gesicht verriet nichts. „Wir müssen zumindest einmal zusammen für das Referat üben“, stellte er fest.
Ich biss die Zähne zusammen. Selbstverständlich hatte er Recht. Es war keine gute Idee, uns unvorbereitet in die gemeinsame Vorstellung unserer Arbeit zu stürzen. Aber ich wollte nicht mit ihm dafür üben. Ich wollte nicht mit ihm allein sein, ohne andere um uns herum, die mich vor zu großer Intensität der Zweisamkeit schützen könnten.
„Und was willst du tun?“, fragte ich nach einer Weile, sorgfältig darauf bedacht, nicht das Wörtchen ‚wir’ zu verwenden. Mir graute vor seiner Antwort, denn ich war sicher, dass ich seinen Vorschlag nicht hören wollte.
Er zögerte, was meine Unruhe nur verstärkte. „Ich dachte… wir könnten uns einmal treffen. Bei mir, wenn es dir nichts ausmacht. Wann immer du willst.“ Bei den letzten Worten verschwand seine Unsicherheit und er lächelte mich an.
Ich musste den Blick senken, um vernünftig nachdenken zu können. Ich wollte nicht zu ihm. Allerdings wollte ich ihn noch weniger bei mir haben und irgendwo war ich auch neugierig darauf, wo er wohnte, wie sein Zimmer aussah. Aber es wäre nicht gut, ihn besser kennen zu lernen. Überhaupt nicht gut. Es würde meiner schützenden Unnahbarkeit schaden – je weniger ich von ihm wusste, desto leichter für mich, ihn zu ignorieren. Doch wie sollte ich ablehnen? Wie konnte

ich ablehnen? Was sollte ich sagen?
Ich sah wieder auf, hoffend, dass mein Gesicht nicht zu viel verriet. „Okay“, sagte ich widerwillig. „Wie wär’s mit heute?“, fügte ich dann schnell hinzu. Besser, ich hatte es bald hinter mir.
„Klar.“ Und dann beugte er sich plötzlich zu mir hinüber und begann, etwas auf mein Löschblatt zu kritzeln. Ich merkte erst nach einigen Schreckenssekunden, dass er mir seine Adresse aufschrieb, seine unerwartete, ungewohnte Nähe verwirrte mich und so blieb ich steif und mit angehaltenem Atem sitzen, während er nur wenige Zentimeter von mir entfernt seelenruhig einen Straßennamen mit Hausnummer zu Papier brachte.
Doch dann ertönte die Klingel zum Unterrichtsschluss, durchdringend durchbrach sie die Anspannung des Augenblicks und ich fuhr heftig zusammen. René lehnte sich zurück, nahm seine Tasche und stand auf.
„Bis später dann“, sagte er noch gut gelaunt, dann verließ er mit den anderen den Klassenraum.
Vollkommen atemlos und entgeistert blieb ich sitzen.

Ich gebe zu, dass ich mehr als einmal erwog, das Treffen sausen zu lassen. Seine Handynummer hatte ich nicht, aber ich könnte am nächsten Tag in der Schule ja sagen, dass mir schlecht geworden wäre oder so.
Und vielleicht hätte ich das sogar getan, wenn ich es mit meinem Gewissen hätte vereinbaren können. Aber wie sollte ich ihn einfach versetzen? Er konnte nichts dafür, dass ich solche Gesellschaftsprobleme speziell mit ihm hatte und auch wenn ich noch immer fand, dass er nicht ganz unschuldig war, hatte ich ihm wahrscheinlich schon genug zugesetzt. Zudem wäre es absolut feige, nicht zu gehen – wer war er denn schon?!
Also machte ich mich am Nachmittag brav und rechtzeitig auf den Weg zu ihm, er wohnte nur etwa eine Viertelstunde mit dem Rad von mir entfernt. Den Gedanken, dass ich zum ersten Mal seit gefühlten Ewigkeiten einen Jungen besuchte, verscheuchte ich lieber schnell. Dieser Besuch heute war unfreiwillig und hatte nichts mit solchen Situationen aus meiner Vergangenheit zutun. Absolut nichts.
Ich hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie er wohl lebte – in einer kleinen Wohnung oder vielleicht in einer gigantischen Villa? Im Grunde wollte ich es gar nicht wissen… aber neugierig war ich schon.
Doch als ich in seine Straße einbog, waren da nur Einfamilienhäuser, nicht sonderlich bemerkenswert und vollkommen normal. Und in dem Moment stellte ich fest, dass ich nicht erwartet hatte, an René je etwas Normales ausfindig zu machen, dafür war er einfach nicht der Typ, auch wenn er auf den ersten Blick vielleicht so wirkte. Ich wusste nicht, was es war, aber irgendetwas machte ihn anders als den Rest, auf eine unheimliche und faszinierende Weise einzigartig.
Deswegen kam es mir absurd vor, dass er einfach so wie jeder andere auch in einem gewöhnlichen Haus leben sollte, das sich nicht im Geringsten von den restlichen Bauten in der Straße unterschied. Unsicher hielt ich vor dem Gebäude mit der richtigen Hausnummer und betrachtete es. Der Teil, der mir in der letzten Zeit dabei geholfen hatte, mich zurückzuziehen, sträubte sich ganz eindeutig dagegen, dort hineinzugehen und am liebsten hätte ich umgedreht und wäre wieder nach Hause gefahren.
Aber das tat ich natürlich nicht, allein für den Fall, dass er mich beobachtete. Jetzt war ich schon mal hier, dann wollte ich es auch durchziehen. Normalerweise war ich schließlich auch nicht so ein Feigling, selbst in dieser Zeit, als schüchternes, unauffälliges Mädchen nicht. Und keiner, schon gar nicht René, würde das ändern können.
Schwungvoll wendete ich mein Rad, überquerte den Hof und lehnte es an die Hauswand. Ich schloss nicht an, da ich befürchtete, meinen Schub Selbstbewusstsein nicht so lange aufrechterhalten zu können. Entschlossen drückte ich auf den Klingelknopf (allerdings nicht ohne vorher noch einmal auf dem kleinen Schild darunter nachgeschaut zu haben, ob ich hier auch wirklich richtig war).
Ich spielte gerade mit dem Gedanken, wieder wegzufahren, als die Tür aufging – und dann stand René direkt vor mir und sah mich mit einer Mischung aus Freude und etwas Anderem, Undefinierbaren, an. Etwas, das fast Trauer sein könnte…
„Hey.“ Er lächelte und nicht einmal eine Ahnung von negativen Gefühlen war in seinem Gesicht zu erkennen.
„Hi“, erwiderte ich, spürte schon wie meine Mundwickel nach oben zucken wollten – aber ich erlaubte mir kein Lächeln. Das hier war rein schulisch und fiel ganz klar in die Kategorie Pflichten.
„Komm doch rein.“ Er trat zur Seite und wirkte dabei leider nicht annähernd so verlegen wie ich, als ich ein paar Schritte nach vorne machte und meine Jacke aufknöpfte.
Ich hätte gerne irgendwas gesagt, mir fiel jedoch nichts ein und so sah ich mich unauffällig ein bisschen um, während René meine Jacke an einen Haken hängte. Der Flur, in dem wir standen, war schlicht, aber geschmackvoll eingerichtet, ich erhaschte durch eine offen stehende Tür einen Blick ins Wohnzimmer, das den gleichen Stil an den Tag trug. Irgendwie vermutete ich, dass das nicht seine Idee gewesen war, er machte immer so einen… lebendigen Eindruck. Wenn er mich nicht gerade ignorierte oder in Gedanken versunken in der Gegend herumstarrte zumindest.
„Sind deine Eltern gar nicht da?“, fragte ich, bevor ich die Worte zurückhalten konnte, mir war aufgefallen, wie

ruhig es eigentlich war. Zu ruhig. Sofort biss ich mir auf die Lippe, ich hatte eigentlich nicht vor, so neugierig zu erscheinen. Das könnte einen falschen Eindruck vermitteln.
Er runzelte die Stirn, für einen Moment sah er fast verärgert aus, doch dann glätteten sich seine Gesichtszüge sofort wieder. „Meine Mutter. Ich lebe nur mit ihr zusammen. Sie ist gerade… bei einer Freundin“, sagte er dann, klang aber irgendwie so, als würde er Letzteres recht glauben oder wäre nicht einverstanden damit.
„Oh… ach so“, entgegnete ich ziemlich lahm. Ich hätte gern gefragt, ob seine Mutter wusste, dass ich hier war, doch das ging entschieden zu weit, so viel war sicher. Auch hätte ich mich am liebsten nach seinem Vater erkundigt, befürchtete aber, bei so was wie ‚Er ist schon lange tot’, oder ‚Er hat uns verlassen’ mein Mitleid aussprechen zu müssen, das ich dann wahrscheinlich auch haben würde. Und Mitleid ging gefährlich nah in Richtung Zuneigung.
„Kommst du? Mein Zimmer ist da vorne.“ Während ich in Gedanken versunken dagestanden hatte, war er schon ein paar Schritte vorausgegangen. Jetzt sah er sich zu mir um, ich erwiderte seinen Blick leicht verwirrt.
Dann erst fiel mir wieder ein, warum ich eigentlich hier war und nickte eilig. „Klar!“ Und dann folgte ich ihm schnell in das kleine Zimmer, das ihm gehörte.


9. Kapitel » Amaze me. «

„…okay. Dann erzählst du noch das mit der Wasserversorgung und das war’s dann, oder?“ René klappte sein Buch zu und ließ sich rückwärts auf die Matratze des Bettes sinken, auf dessen Kante er die ganze Zeit über gesessen hatte.
„Ja, ich denke schon“, stimmte ich ihm zu und rutschte ein bisschen auf seinem Schreibtischstuhl herum, dabei achtete ich darauf, nichts von der überfüllten Kommode neben mir anzustoßen und damit zu riskieren, dass sämtliche Gegenstände auf dem Boden landeten.
In Renés Zimmer war es überall voll, egal wo man hinsah. „Ich sammel’ halt gerne so dies und das“, hatte er nur mit einer Art entschuldigendem Schulterzucken gemeint und verlegen gelächelt, als er meinen zweifellos ungläubigen Blick gesehen hatte. Aber das war wohl die Untertreibung des Jahrhunderts, denn ‚dies und das’ traf es nicht ganz – das ließ eher auf eine Briefmarkensammlung (die er vermutlich auch irgendwo in dem Chaos hatte) oder so schließen. Doch auf den Regalen, Tischchen, Fensterbänken und natürlich dem Fußboden war von Glasflaschen in sämtlichen Farben und Formen bis hin zu seit Ewigkeiten abgelaufenen Kalendern wohl annähernd alles zu finden. Das Wort ‚Fundbüro’ traf eher auf sein Reich zu als bloß ‚Zimmer’.
„Ähm… wir könnten noch mit dem Rad weg, ich kenne eine schöne Stelle und es sieht draußen gerade ziemlich warm aus. Also nur, wenn du willst…?“, fing René an, gerade als das Schweigen begann, unbehaglich zu werden. Er platzte damit heraus, als hätte es ihm schon die gesamte vergangene Stunde auf der Zunge gelegen. Seine Arme hatte er halb aufs Bett gestützt, sodass er mich ansehen konnte und wie er da so lag/saß, sah er einfach zum Sterben niedlich aus, da hätte mir jeder zugestimmt!
„Klar“, sagte ich, noch während ich in Gedanken eine ausgeklügelte Ausrede ersann, um mich halbwegs höflich verkrümeln zu können. Anscheinend war meine erste Reaktion nicht der gleichen Meinung wie mein Gehirn.
Er schien genauso über meine Antwort überrascht wie ich selbst und ich war fast ein bisschen beschämt, dass ich offenbar einen so abweisenden Eindruck machte, dass er sich schon auf eine Absage vorbereitet hatte. Die ich ihm ja auch grundsätzlich geben will, dachte ich schuldbewusst, was soll ich schließlich mit ihm

irgendwo im Nirgendwo?!
Und da sprang er auch schon auf, lief mit großen Schritten auf den Flur hinaus. Einen Moment noch blieb ich verwirrt sitzen, dann folgte ich ihm langsamer – er war durch eine Tür verschwunden, die in die Küche führte, wie ich feststellte. Zögernd blieb ich mitten im Raum stehen und beobachtete, wie er etwas aus einem ordentlich sortierten Schrank (also eindeutig nicht sein Revier hier) holte, das verdächtig nach Keksen und Cola aussah.
Und dann richtete er sich wieder auf, sah mich kurz mit einem seiner unergründlichen Blicke an und ging an mir vorbei. Ich kam mir dabei vor wie ein Hund, aber natürlich kam ich ihm erneut hinterher, schweigend reichte er mir meine Jacke und zog seine eigene an.
Als wir aber hinausgingen und er sein Fahrrad geholt hatte, musste ich einfach fragen. „Wohin geht’s denn?“ Und für einen Moment kam mir der Gedanke, dass er mich vielleicht einfach nur aus dem Haus haben wollte, weil seine Mutter nicht erfahren sollte, dass ich da war… das verletzte mich mehr als es sollte und ich beschloss, diese Möglichkeit nicht mehr in Erwägung zu ziehen. Das würde einfach nicht zu ihm passen, dass er so

einer war. Aber okay, was war

er denn dann für einer? Ich wusste es nicht… wollte es im Grunde auch gar nicht wissen. Zumindest war es das, was ich mir mehr oder weniger erfolgreich einredete.
„Es ist nicht weit von hier“, murmelte er nur als Antwort vor sich hin, ich verdrehte die Augen. Wunderbar, jetzt konnte ich mir ja auch echt was darunter vorstellen! Aber ich hielt vorsichtshalber den Mund und folgte ihm widerspruchslos, als er von der kleinen Auffahrt aus nach links abbog.
Eine Weile fuhren wir schweigend nebeneinander her, ich hatte nicht vor, diejenige zu sein, die ein Gespräch anfing. Außerdem waren meine Gedanken zu laut, um sie ignorieren zu können – ich meine, was machte ich da eigentlich? Ich war mit einem Jungen unterwegs, den ich nur sehr, sehr

flüchtig aus der Schule kannte und der zufällig dort neben mir saß, weshalb ich gezwungen war, mit ihm ein Referat vorzubereiten. Aber obwohl ich ihn eigentlich nicht ausstehen konnte, ihm aus dem Weg gehen wollte, hatte ich mich dazu überreden lassen, noch etwas mit ihm zu unternehmen, etwas Freiwilliges, das mir keine schulische Pflicht als Entschuldigung lieferte. Zu allem Überfluss hatte ich keine Ahnung, wo er mich hinführte.
Wo kam diese plötzliche Leichtsinnigkeit nur her? Das passte ganz und gar nicht zu mir – oder zumindest passte es nicht mehr. Früher, ja, früher hätte ich so was ohne Frage getan, aber war ich nicht eigentlich nur so einsam und still geworden, um solchen Dingen aus dem Weg zu gehen? Ich hatte für mich selbst Regeln aufgestellt, Regeln, die ich kein einziges Mal gebrochen hatte und wenn ich es mir so recht überlegte, war ich auch nie auf die Idee gekommen, mir einen Ausrutscher zu erlauben, für meinen eigenen Spaß einmal nur zu schummeln. Immerhin überprüfte keiner, ob ich meine Regeln einhielt – außer mir selbst. Das Problem war nur, dass ich zu meiner eigenen strengsten Aufsichtsperson geworden war, dass ich besser auf mich achtete als jeder andere.
Aber gerade, in genau diesem Moment… da tat ich es nicht, da war ich unaufmerksam. Panisch schrie meine ängstliche Vernunft mich an, dass das ein Fehler war, ein ganz grauenhafter Fehler sogar und dass ich ihn ganz bestimmt bereuen würde. Doch die Bedeutung der Worte durchdrang meinen Nebel aus Leichtsinn nicht, sie kam einfach nicht bei mir an…
„Worüber denkst du nach?“, fragte René plötzlich unvermittelt. Ich wandte ihm erstaunt den Kopf zu, er schaute mich neugierig an.
Ich überlegte kurz. „Nicht so wichtig“, sagte ich schließlich, als mir keine passende Ausrede einfiel.
„Ach so.“ Aber er sah nicht wirklich zufrieden gestellt aus.
Ich wechselte sicherheitshalber das Thema. „Wann sind wir denn endlich da?“, fragte ich gespielt ungeduldig.
Zweifellos durchschaute er meine Taktik, aber lächeln musste er trotzdem. „Es ist nicht mehr weit, versprochen.“ Dann runzelte er die Stirn. „Ehrlich gesagt habe ich erwartet, dass du absagst.“
Ich schaute angestrengt auf die Straße. „Wieso das denn?“ Leider lag nicht halb so viel Erstaunen in meiner Stimme wie ich gehofft hatte. Aber wie konnte ich auch ahnen, dass er mich das einfach so ganz direkt fragte?
Er seufzte, als wäre ihm bewusst, dass ich die Antwort eigentlich schon kannte. Trotzdem schien er die Situation aus seinem Blickwinkel schildern zu wollen, denn er entgegnete: „Wir haben ewig kein Wort mehr miteinander gewechselt, bis heute zumindest. Du warst total wütend… und bist es vielleicht immer noch. Du wolltest heute auch nicht für den Vortrag üben, du wärst am liebsten gar nicht gekommen, stimmt’s?“
Ich wollte eine unverständliche Antwort murmeln, als er schon ohne zu warten fortfuhr: „Ich verstehe zwar nicht, warum du dich so gegen jeglichen menschlichen Kontakt wehrst, aber schon okay, der Grund geht mich ja eigentlich nichts an. Aber glaubst du nicht, dass es in manchen Situationen besser wäre, jemanden zu haben, mit dem man reden kann? Ich meine, Isolation ist doch keine Problemlösung!“ Zum Ende hin wurde er immer aufgebrachter, seine sonst so ruhige Art war plötzlich verschwunden.
Ich ärgerte mich darüber, dass er es wagte, mir in diesem Punkt Ratschläge zu erteilen als wäre es sein eigenes Problem, aber noch mehr wurmte es mich, dass er mich so gnadenlos durchschaut hatte und dennoch den Mut aufbrachte, es mir ins Gesicht zu sagen. Abgesehen davon brauchte er sich gar nicht so darüber aufzuregen, immerhin ging es ihn, wie er es so passend ausgedrückt hatte, überhaupt nichts an.
„Ach, du weißt wohl ziemlich gut Bescheid, was?“, fauchte ich ihn an. Okay, vielleicht sollte ich nicht so heftig reagieren, ich war etwas zu sensibel bei diesem Thema – oder besser gesagt hatte ich ewig nicht mehr darüber geredet, meine Mum hatte schnell damit aufgehört.
„Ob du’s glaubst oder nicht, das weiß ich vielleicht sogar tatsächlich!“ Kaum waren die Worte heraus, presste er die Lippen zu einer harten Linie zusammen, er sah fast ein wenig geschockt aus.
Und wahrscheinlich gab ich kein besseres Bild ab, zumindest starrte ich ihn höchst irritiert an, dieser letzte kleine Ausbruch von ihm hatte mich total aus dem Konzept gebracht.
„Äh… Entschuldigung…?“, brachte ich heraus und hörte selber die Frage heraus. Meine Gedanken überschlugen sich, auf einmal hatte ich die wildesten Spekulationen im Kopf, dazu abenteuerliche Bilder meiner Fantasie. Vielleicht war sein Vater wirklich tot und er hatte eine schlimme Zeit hinter sich… oder er hatte traumatische Erfahrungen gemacht, mit denen er nicht hatte umgehen können und die ihn total mitgenommen hatten. Oder, dachte ich aufgeregt weiter, einer seiner Freunde hatte sich umgebracht und er hatte sich für den Tod verantwortlich gefühlt, und deswegen war er auch mit seiner Mutter hierhin gezogen, mitten im Schuljahr.
In meiner Neugierde wandte ich ihm voller Faszination den Blick zu – und plötzlich war ich kein bisschen fasziniert mehr. Sein Gesicht war so ernst, so abweisend, dass ich mir kalt wurde. Es war nicht dieses gedankliche Weitwegsein, nein, er war vollkommen hier, bei mir. Aber seine Augen, die so alt in seinem jungenhaften Gesicht erschienen, waren eine Nuance dunkler, zumindest kam es mir so vor.
Und jetzt verspürte ich nur noch Mitleid mit ihm, Mitleid – und Verständnis. Bestimmt war ihm etwas Ähnliches passiert wie mir. Etwas, das ihn auch verändert hatte. Okay, garantiert war er nicht mehr oder weniger vergewaltigt worden, aber es konnte ja auch etwas Anderes gewesen sein. Wahrscheinlich hatte es ihn nicht ganz so sehr mitgenommen wie mich, immerhin war er an sich ziemlich lebendig… wenn er sich nicht gerade in einer seiner düsteren (und total unheimlichen) Freakboy-Phasen befand. Aber halt, so wollte ich nicht von ihm denken. War ich es nicht, die es immer gestört hatte, wenn mich alle anstarrten wie eine Außerirdische und Gerüchte in den Umlauf brachten, was mir zugestoßen sein könnte, damals, nach Saras Party…
„Alles okay“, erwiderte er jetzt, aber ich war nicht sicher, ob er das zu mir oder zu sich selbst sagte.
Ich überlegte fieberhaft, was man in meiner Situation tun musste als guter Freund – ihm auf die Schulter klopfen und irgendwas Mitfühlendes sagen? Aber Moment, ich war nicht einmal eine gute Freundin von ihm, um genau zu sein war ich meilenweit davon entfernt. Gab mir das die Erlaubnis so zu tun als wäre nichts und anzufangen belangloses Zeug zu quatschen? Dabei war ich definitiv nicht der Typ, der so was tat… wenn ich es mir so recht überlegte, hatte ich seit gefühlten Ewigkeiten mit niemandem mehr über etwas Belangloses geredet… nicht dass ich überhaupt sonderlich viel geredet hätte.
Verdammt, wenn ich nur wüsste, was er hören wollte!
Doch er nahm mir die Antwort ab. „Da sind wir“, kündigte er unvermittelt und ich verdrängte jeglichen Gedanken an ihn und seine Gefühle.
Stattdessen schaute ich auf, wir waren gerade aus einem kleinen Wäldchen herausgefahren und vor uns lag eine Wiese mit vereinzelten Bäumen und einem schmalen Fluss, über den sich eine wacklig aussehende Holzbrücke spannte. Zudem kam jetzt die Sonne zwischen kleinen Wattewolken hervor und die Strahlen gaben der Szene einen malerischen Touch – insgesamt ein sehr schön sommerlicher Anblick, der mich vergessen ließ, dass wir uns mitten im Herbst befanden.
„Wow“, sagte ich schließlich, weil mir nichts Besseres einfiel und warf ihm einen anerkennenden Blick zu. Ich rechnete es ihm ziemlich hoch an, dass er mich nicht zu so einem Jungsplatz geführt hatte, eine Skaterbahn oder so (oh, früher hätte ich das wundervoll gefunden, keine Frage)… oder eine einsame Gasse…
Ich fröstelte, die Sonne war plötzlich nicht mehr ganz so warm.
„Kommst du?“ Renés Stimme hinderte mich daran, weiterzudenken, mein Blick klärte sich und ich war wieder im Hier und Jetzt. Er hatte sein Rad schon an einen Baum gelehnt, die Tasche aus seinem Korb genommen und war nun auf halbem Weg in Richtung Fluss.
„Klar!“, rief ich leicht hysterisch zurück und folgte ihm schnell.
Als ich ihn erreichte, hatte er sich schon im Gras niedergelassen; ich setzte mich ebenfalls (vorsichtshalber so, dass keine Berührungsgefahr bestand) und fing die Colaflasche, die er mir zuwarf.
„Danke“, murmelte ich etwas verlegen und ärgerte mich darüber, dass er wie der perfekte Gastgeber dastand.
„Kein Problem, meine Mutter wird froh sein, wenn mal wieder was aus unserem überfüllten Getränkefach verschwindet“, erwiderte er gut gelaunt und trank einen Schluck.
Das ist die Gelegenheit, dachte ich, jetzt könnte ich ihn nach seiner Mutter fragen. „Warum…“, setzte ich an und verstummte unsicher. War das zu persönlich.
Er sah mich durchdringend an. „Warum was?“
Mich verließ der Mut. „Warum sind wir nicht bei dir geblieben? Ich meine, es ist sehr schön hier, aber…“ Ich ließ den Satz unbeendet, da ich ungern sagen wollte ‚aber was wollen wir hier eigentlich?’.
„Oh, ähm… weißt du, ich bin nicht so gerne zuhause. Oder vielleicht trifft nicht gerne in geschlossenen Räumen besser.“ Er schaute weg.
„Hast du Klaustrophobie?“, fragte ich, bevor ich mich zügeln konnte – und wäre ich nicht so gut geübt gewesen, wäre ich garantiert rot angelaufen.
Jetzt blickte er wieder auf, er musste lächeln. „So was in der Art.“
Wie konnte man den bitte so was in der Art von Klaustrophobie haben?! „Ah“, sagte ich unbestimmt und wandte meinen Blick dem in der Sonne glitzernden Wasser zu, das nur wenige Meter von uns entfernt floss.
Er lachte. Ich fuhr wieder zu ihm herum. „Was?!“
„Nichts“, beteuerte er ernst, aber seine Mundwinkel zuckten. „Du bist nur so anders als alle, die ich je getroffen habe“, fügte er dann hinzu, es klang aufrichtig.
Und jetzt war ich es, die lächelte.


10. Kapitel » The mask «

Es blieb nicht bei diesem einzigen, zaghaften Lächeln. Den ganzen restlichen Nachmittag verzogen sich meine Mundwinkel öfter nach oben als vielleicht im gesamten letzten Monat. Kein einziges Mal lachte ich laut, ich war nicht sicher, ob ich das konnte und ich dachte sowieso schon, dass meine Wangen eigentlich von der ungewohnten Beschäftigung schmerzen müssten.
René war so ein Mensch, der jeden zum Lächeln bringt, denn seine Art ruft das einfach bei einem hervor. So wie man manchmal unbeabsichtigt weint, wenn einem ein scharfer Wind ins Gesicht weht und die kalte Luft Tränen in die Augen treibt. Ich konnte nicht sagen, ob es sich gut anfühlte – es schien einfach zu ungewohnt.
Auch ließ ich ihn die meiste Zeit reden, ab und zu hakte ich nach, damit er weiter sprach, aber ansonsten saß ich einfach nur stumm da und betrachtete den Fluss, die Wiese, die Bäume, meine Cola, und manchmal, vorsichtig aus dem Augenwinkel, ihn. Sein Gesicht, das beim Erzählen förmlich zu leuchten schien und das mich darüber nachdenken ließ, ob jemand wie er nicht eher in einer angenehmeren Gesellschaft aufgehoben wäre. Trotzdem brachte ich es nicht über mich, zu fragen, wann wir wieder aufbrechen wollten.
Er redete über alles Mögliche und auch ein bisschen über sich selbst, aber dennoch blieb es eine lockere Erzählung, die nichts Intimes an sich hatte und dafür war ich dankbar. Ich hörte nicht die ganze Zeit zu, es war eine Weile her, dass jemand nur mit mir allein gesprochen hatte und ab und zu schweiften meine Gedanken ganz automatisch ab – wenn er das wahrnahm, so ließ er sich zumindest nichts anmerken. Ich war überrascht, dass er mich nicht ununterbrochen beobachtete, irgendwie hatte ich wohl doch das leise Vorurteil gehabt, dass er nur mit mir hier war, um das Freakmädchen anzustarren und auszuquetschen, aber dies schien nicht der Fall zu sein. Manchmal sah er mich kurz an, aber dann war es nur dieser Blickkontakt, den man mit einem Gesprächspartner einfach zwischendurch hat. Und ich fragte mich, ob das nur daran lag, dass er noch nicht richtig kapiert hatte, wie komisch ich drauf war oder ob er großzügig darüber hinwegsah – was eine Premiere wäre. Ich gab mir Mühe, nicht zu viel Hoffnung auf diese letzte Möglichkeit zu verschwenden, zumal sie auch ziemlich unwahrscheinlich war. Und warum sollte nach hunderten anderen Menschen plötzlich er ankommen und Verständnis zeigen? So etwas passierte in Filmen, aber garantiert nicht mir. Vielleicht war es nicht fair von mir, ihm zu misstrauen, doch nur weil er nicht so auf mich reagierte wie so ungefähr der ganze Rest der Stadt, hieß das noch nichts. Er musste ja nicht unbedingt einer von diesen Vollidioten sein, aber dennoch. Wenn er sich mein Vertrauen verdienen wollte, musste er sich schon mehr einfallen lassen, so schnell ließ ich mich nicht herumkriegen, nicht mehr…
„… halben Jahr gemacht?“ Ich horchte auf, weil René seinen Redefluss unterbrach und hob den Kopf, er schaute mich erwartungsvoll an. Offenbar hatte er mich etwas gefragt.
„Äh, was?“ Beinahe war ich verlegen, weil er mich so dabei ertappt hatte – in Gedanken versunken und ganz offensichtlich nicht auf das konzentriert, was er sagte.
Sein Gesichtsausdruck blieb gleichmütig. „Was habt ihr so an Stoff in Mathe im letzten halben Jahr gemacht?“, wiederholte er geduldig. „Irgendwie fehlt mir da eine Menge“, fügte er dann noch hinzu, vermutlich als Reaktion auf meinen zweifellos etwas konfusen Blick, den ich ihm zuwarf.
Er konnte ja nicht wissen, dass ich mich keineswegs über die Frage wunderte. Vielmehr hatte er einen meiner Schwachpunkte getroffen, ich war zwar in Mathe immer irgendwie mitgekommen, aber ich konnte mich beim besten Willen an nichts Spezielles mehr erinnern. Vor den Klassenarbeiten hatte ich immer im Buch noch schnell das durchgelesen, was drankommen würde, da ich in der Schule nicht besonders gut aufpasste und zumindest eine ausreichende Leistung erbringen wollte, doch das war auch schon alles. Ich war mir nicht sicher, ob ich den Stoff zu dem Zeitpunkt immer wirklich verstanden hatte, aber ich prägte mir jedes Mal genug ein, um es dann abrufen und aufschreiben zu können – bisher hatte das meistens ganz gut geklappt, auch wenn ich, wenn wir die Arbeit dann wiederbekamen, meine eigene Denkweise nicht mehr ganz nachvollziehen konnte.
„Ich weiß nicht, also…“, begann ich, um Zeit zu schinden und sagte dann das erste Thema, das mir einfiel, „ich glaube, etwas mit Wahrscheinlichkeitsrechnung oder so.“
Er sah mich mit einer Mischung aus Verwirrung und Skepsis an. „Echt? Das kommt im Buch gar nicht vor…“
„Es war wohl eine Art eingeschobenes Zwischenthema“, verteidigte ich schwach meinen Einfall.
Er zuckte die Schultern. „Kann sein. Na ja, ich werde wohl mal die Lehrerin fragen, demnächst.“
Ich verkniff es mir, aufzuseufzen. Spätestens dann würde er erfahren, dass wir Wahrscheinlichkeitsrechnung vermutlich das letzte Mal vor zwei Jahren durchgenommen hatten und sich so seine Gedanken zu mir und meiner Zurechnungsfähigkeit machen. Ich versuchte mir einzureden, dass mir das egal sein konnte, war aber nur mittelmäßig erfolgreich. Was soll’s, dachte ich dann ergeben, ewig kann ich sowieso nicht mehr ihm gegenüber die Fassade des gewöhnlichen Schülers aufrechterhalten. Er denkt wahrscheinlich eh schon, dass ich geistig zurückgeblieben bin oder so. Was ja nichts Neues wäre. Machte mir auch eigentlich gar nichts aus, wenn er auch zu denjenigen (also allen) gehören würde, die einen Bogen um mich machten… aber schade wäre es doch irgendwie um ihn.
„Ähm, und was machst du sonst so hobbymäßig? Außer alle möglichen Sachen sammeln und mit fremden Mädchen auf einer Wiese sitzen, meine ich“, wechselte ich vorsichtshalber das Thema. Bei den letzten Worten versuchte ich ein Lächeln, aber es kam nicht halb so überzeugend rüber wie geplant.
Trotzdem erwiderte er es. „Wir sind ja eigentlich gerade erst hergezogen“, erinnerte er mich freundlich, „aber früher habe ich mal Basketball gespielt. Allerdings jetzt schon seit einer Weile nicht mehr, ich schau mir nur noch die Spiele an.“
Ich blinzelte überrascht und ließ unwillkürlich den Blick über seinen vergleichsweise zierlichen Körper schweifen. Jungs wie er gehörten meiner Einschätzung nach eher ans Klavier oder so… Es wäre ein gutes Gesprächsthema gewesen, wenn ich die geringste Ahnung von Basketball gehabt hätte – was aber leider nicht der Fall war. Und bevor ich mich erneut blamierte, gab ich es lieber gleich zu. „Oh, ach so, da kenne ich mich nicht so aus… wo hast du denn früher gewohnt?“
„San Francisco.“ Er klang distanziert und ich wünschte, ich hätte etwas Anderes gefragt. Früher hätte ich nicht die falschen Fragen gestellt, nein, nie im Leben. Früher hatte ich ein Gespür für das, was man sagen musste, aber auch dieses Talent war einfach verschwunden nach jener Nacht. Für so etwas war einfach kein Platz mehr in meiner neuen Persönlichkeit. Ich hatte das gewusst, ich hatte genau gewusst, wie viel ich aufgeben musste und wenn es eine noch so unwichtig erscheinende Kleinigkeit war. Trotzdem war es die richtige Entscheidung gewesen.
„Ist was?“
Ich sah auf. „Nein, ich… ich war nur in Gedanken“, entgegnete ich und versuchte gar nicht erst zu lächeln. Er würde es mir sowieso nicht abnehmen.
Er nickte nur, offenbar fiel ihm keine gute Antwort ein. Dieses Gefühl kannte ich nur zu gut…
„Ähm, wollen wir wieder los? Es ist schon ziemlich spät.“
Ich blinzelte. Er war echt gut im Themawechseln, das musste man ihm lassen. „Okay“, stimmte ich zu und stand auf. Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht froh über seinen Vorschlag war, allmählich wurde mir dieses Gespräch zu anstrengend. Ich musste die ganze Zeit zuhören und mich konzentrieren, um ihm folgen zu können. Zu lange schon war ich darauf spezialisiert, Gespräche einfach auszublenden, meine Umgebung gar nicht mehr richtig wahrzunehmen. Es war so viel einfacher als dieser Zwang, Konversation betreiben zu müssen – und worüber unterhielt man sich denn schon? Das Wetter, Schule, gemeinsame Hobbys vielleicht. Aber das war’s auch schon.
Wann sind wir Menschen nur so oberflächlich geworden?, überlegte ich während wir zu unseren Rädern gingen. Müsste es in einer Welt wie dieser nicht eigentlich andere Menschen geben, Menschen, die weniger auf das Offensichtliche fokussiert sind? Alle sind so blind und ich war die Blindeste von allen… früher. Nur das Gute zu sehen, konnte unmöglich gesund sein – und doch tat es letztendlich fast jeder, ganz unbewusst.
René fuhr schweigend neben mir her und ich war dankbar für die Stille, die mir Raum zum Nachdenken gab. Man muss eine ganze Menge nachdenken, wenn man es jahrelang nicht getan hat.
Vielleicht war er gekränkt, weil ich ihm kaum zuhörte, aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen, jetzt nicht. Wobei, wenn ich seinen konzentrierten Gesichtsausdruck so ansah, war er wohl gar nicht enttäuscht oder so… eher genauso nachdenklich wie ich.
René ist nicht so blind wie viele, dachte ich und hätte fast gelächelt.
Ich kannte den Weg nicht und trotzdem wäre ich wohl ohne zu überlegen immer weiter gefahren – ich hielt schließlich nur an, weil René mich verlegen darauf aufmerksam machte, dass er abbiegen musste und offensichtlich mehr als ein kurzes ‚tschüss’ erwartete.
Und als wir da so an der Straßenecke standen (wegen der Räder nicht besonders lässig und elegant), verspürte ich den Anflug eines unguten Gefühls im Bauch. Wenn es einen Preis für das Vorhersehen unangenehmer Ereignisse gäbe, hätte ich den garantiert gewonnen – ich sah es in seinem Gesicht, in seinen erfahrenen Augen, dass er mir gleich etwas sagen würde, was ich nicht hören wollte. Etwas, das er vielleicht nur gut meinte, das aber nichts Gutes war. Nicht für mich.
Ich hätte ihn gerne zurückgehalten, am liebsten wäre ich einfach gefahren, bevor er den Mund aufmachen konnte. Aber ich blieb da, ich blieb, weil ich selbst dann noch hoffen konnte, dass ich mich irrte.
„Dina? Ich fand das heute echt schön, auch wenn ich weiß, dass es schwierig für dich war. Und für mich war es das auch, mehr als du denkst“, fing er an.
„Ach, wirklich?!“ Ich versuchte ein lockeres Lachen, aber es klang in meinen Ohren hypernervös.
Und ich erreichte damit auch nichts – er war vollkommen ernst und ließ sich kein bisschen aus der Ruhe bringen. Sein Gesicht war ganz ruhig und ich biss die Zähne zusammen. Ich ahnte, was jetzt kommen würde.
„Ich möchte dir helfen. Du gehst nicht viel unter Leute und ich hätte gar nicht erwartet, dass du heute überhaupt kommst – umso glücklicher war ich, als du doch noch vor der Tür standest. Vielleicht haben dir das schon viele Leute gesagt, aber ich will, dass du weißt, dass ich dich verstehe. Ich weiß wie es dir geht, ich weiß es besser als du dir vorstellen kannst und ich weiß auch, dass es schwer ist, da wieder raus zu finden. Aber du kannst mir vertrauen und es ist möglich, ich habe es selbst geschafft.“
Ich erinnere mich, dass er während er das sagte zu Boden sah. Aber am Ende, beim letzten Satz, da schaute er auf und seine grünen Augen, die so gar nicht zu seinem jungenhaften Gesicht passen wollten, sahen mich genau an. In seinem intensiven Blick stand der Wille, der ihn das alles sagen ließ, und auch die Aufrichtigkeit, seine vollkommene Überzeugung, dass er den richtigen Weg wählte.
Er sagte, er verstand mich, aber in Wirklichkeit verstand er gar nichts. Er verstand nicht, dass ich meinen Weg alleine wählen musste und das auch getan hatte. Endgültig. Er konnte nicht für mich wählen, keiner konnte das.
Steif stand ich da und sah ihn an. Ich gab mir alle Mühe, die Enttäuschung, die in mir toben wollte, zu zügeln und war froh, dass es mir gelang.
„Ich weiß nicht recht, wovon du sprichst. Da ist nichts, wo mir jemand heraushelfen muss, aber danke für deine Sorge“, sagte ich fest, die Worte kamen sicher und kühl. Man musste kein Menschenkenner sein, um mir anzuhören, dass ich alles andere als dankbar für seine Sorge war.
Was ich nicht erwartet hatte, war seine plötzliche Wut. Ohne jede Vorwarnung wurde sein Blick finster und noch eindringlicher. Er packte mich am Arm, ich verkrampfte mich noch mehr.
„Du tust es schon wieder! Und ich weiß, dass du das ganz bewusst tust, du ziehst dich zurück, um nicht vernünftig nachdenken zu müssen, du blockst alles einfach ab ohne es in Erwägung zu ziehen. Du versteckst dich hinter deiner Fassade, damit keiner merkt wie verletzt du in Wirklichkeit bist. Äußerlich ist da deine ruhige Maske, aber eigentlich bist du gar nicht mehr hier, nur noch körperlich. Du musst damit aufhören! Du musst mal etwas an dich ranlassen, das ist sehr wichtig! Du musst-“
„Das reicht jetzt, René“, schnitt ich ihm das Wort ab. Mit einem Ruck befreite ich mich aus seinem schmerzhaften Griff. Ich wusste, dass es falsch wäre jetzt auszuticken, aber seine Wut machte mich auch wütend. Seine Wut und sein Wille, aus mir eine andere zu machen. Er wusste nicht, wie viele das schon probiert hatten, mit anderen Worten, die aber dieselbe Bedeutung hatten. Ich wollte ihn anschreien, ihm sagen, wie dumm das von ihm war, so unglaublich dumm…
Aber ich blieb ruhig. Ich hatte genug Übung. „Ich muss gar nichts tun, was du mir sagst. Wenn du glaubst, es dir zur Aufgabe machen zu können, mich zu ändern, muss ich dich enttäuschen. Es tut mir leid, dass ich heute gekommen bin und du falsche Vorstellungen von mir bekommen hast, aber das ist jetzt nicht mehr zu ändern. Und wenn ich dir einen Tipp geben darf… du solltest dich lieber nicht in das Leben anderer einmischen.“
Ich stieg auf mein Fahrrad. „Wir sehen uns in der Schule. Tschüss.“
Und dann fuhr ich ohne einen Blick zurück los, schnell – aber nicht so schnell, dass ich schon außer Hörweite war als er mir noch nachrief: „Welches Leben?“
Aber ich drehte mich nicht um. Ich schlug den Weg nach Hause ein und musste feststellen, dass ich wider Willen doch gehofft hatte, dass er vielleicht anders war als der Rest. Es hatte gut ausgesehen, aber ich hatte nicht erkannt, dass er nur einfach eine andere Taktik gehabt und nicht den direkten Weg gewählt hatte.
Letztendlich spielte das keine Rolle. Er hatte mir ja doch nur das gesagt, was ich schon oft gehört hatte und ich war enttäuscht von ihm. Und diese Enttäuschung machte mich schwach.
René Cumberland war genau so ein Vollidiot wie alle anderen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 12.09.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Freunde, die mir Kraft geben.

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