Vorwort
Zunächst sollte ich sagen, dass das hier nur eine ausgedachte Geschichte ist - die meisten Figuren, Häuser, Orte usw. sind frei erdacht. Manche der Personen haben zwar Bezug auf die Realität, aber ihre Namen entsprechen nicht der Wirklichkeit. Sie dienten mir eher als Vorlage, damit ich sie mir besser vorstellen konnte.
Ganz besonders meine Lieblingsfigur habe ich einem existierenden Menschen nachgebildet und eigentlich habe ich das Buch auch nur deswegen geschrieben. Aber ich denke, dass jeder Leser sich die Personen selbst vorstellen sollte - und ich hoffe, dass das möglich ist, dass man im Kopf ein klares Bild hat. Mein Ziel ist es, dass man beim Lesen die Gefühle spürt und mitgerissen wird. Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, aber ich habe mir Mühe gegeben.
In vieler Hinsicht wünschte ich, diese Geschichte würde wirklich eines Tages geschehen, aber ich weiß leider, dass es nie so kommen wird. Auch deswegen will ich sie als Buch festhalten.
Warst du schon einmal verliebt?
So verliebt, dass du abends im Bett liegst und deine Gedanken nur um diese eine Person kreisen?
So verliebt, dass deine Gefühle zwischen tiefster Enttäuschung und höchstem Glück schwanken?
So verliebt, dass du diesen einen Namen vor dich hinsprichst und ihn mit deinem eigenen ausprobierst?
So verliebt, dass du nur noch diese Person siehst, wenn sie den Raum betritt?
So verliebt, dass du ausnahmslos alles für diese Person tun würdest?
So verliebt, dass alle anderen Gefühle auf einmal egal sind?
- Ich schon.
1. Kleine unberührte Welt
Damals.
Als ich noch dachte, dass er der Einzige für mich ist.
Ich erwachte davon, dass etwas meinen Arm streifte. Meine Haut so leicht berührte, dass es kitzelig war und ich eine Gänsehaut bekam. Ich war noch zu müde, um genauer darüber nachzudenken, geschweige denn die Augen zu öffnen und blieb still liegen in der Hoffnung, dass es bald aufhörte. Es hörte nicht auf. Wäre ja auch zu schön gewesen… Es machte mich wahnsinnig. Ich tastete mit einer Hand des anderen Arms nach dem Ursprung der Berührung und stieß gegen etwas Hartes. Ich war zu müde zum Nachdenken, kurzerhand schlug ich drauf. Und noch einmal zur Sicherheit. Ein unterdrückter Fluch.
„Autsch“, jammerte eine vertraute Stimme, „sag doch einfach was!“
Ich grinste ohne die Augen zu öffnen. „Was hab ich getroffen?“
„Meinen Kopf“, gab er zurück. Ach so. Seine Haare also.
Ich öffnete ein Auge. „Was macht dein Kopf an meinem Arm?“
„Ich wollte dich wieder zudecken. Du hast die Decke irgendwie beim Schlafen weggestrampelt. Kein Grund auf mich einzuschlagen.“ Er sollte allmählich wissen, dass ich empfindlich war wenn’s ums Aufwecken ging. Aber er konnte es natürlich nicht lassen.
„Hm… schneid dir die Haare kürzer“, schlug ich vor.
„Ich dachte, du magst sie länger lieber…?“ Er klang sofort total niedlich-verwirrt.
Ich seufzte wohlig. „Stimmt…“
„Ich verstehe deine Logik nicht.“
„Musst du auch nicht.“ Ich lächelte, öffnete nun doch beide Augen und setzte mich auf. Die Sonne schien durchs Fenster auf meinen Rücken, wie lange hatte ich geschlafen?
Er war schon umgezogen und hatte, seinen noch feuchten Haaren nach zu urteilen, auch frisch geduscht.
„Diese ewigen Frühaufsteher“, seufzte ich.
„Es ist keine Kunst, vor dir auf den Beinen zu sein“, entgegnete er und beugte sich zu mir hinunter um mich zu küssen. „Guten Morgen“, flüsterte er. Sein warmer Atem kitzelte an meiner Wange.
„Mhm“, machte ich unbestimmt, erwiderte seinen Kuss kurz und schwang die Beine vom Sofa.
Wenn es nach Nicolas ginge, würde ich ganz sicher woanders schlafen und den besten Luxus bekommen, den er zu bieten hatte, aber ich bezog jedes Mal die breite Couch. Ich wusste, dass es ihm lieber wäre, wenn ich in seinem Bett schliefe (auch wenn er behauptete, dass er dann das Sofa nehmen würde, könnte ich wetten, dass er hoffte, dann neben mir schlafen zu können), aber das wäre mir unangenehm – ob mit oder ohne ihn spielte keine Rolle. Es wäre einfach zu… nah, zu intim für meinen Geschmack. Klar, Nicolas war mein Freund und wir waren schon mehrere Wochen lang zusammen, aber dafür
war ich ganz sicher nicht bereit. Wann immer seine Mutter nicht da war, übernachtete ich also auf der Couch der Familie Kreuz – er jedoch nie bei mir, auch wenn meine Eltern das nach einigem Betteln wahrscheinlich sogar erlaubt hätten (ich hatte einwandfrei bei Nico übernachteten dürfen, nachdem ich hoch und heilig versprochen hatte, ganz sicher nicht mit ihm zu schlafen… so was kann auch nur von Eltern kommen). Zum einen, weil es nie vorkam, dass sowohl mein Vater als auch meine Mutter die ganze Nacht weg waren und ich allein zuhause blieb, zum anderen, weil ich mit der Gewissheit, dass Nico in unserem
Wohnzimmer, auf unserer
Couch lag, niemals ruhig schlafen könnte. Natürlich war das eigentlich albern, wir waren zusammen und ich hatte ihn furchtbar gern, aber dennoch… Ich wusste genau, ich würde vor Nervosität verrückt werden. Und ich war unendlich dankbar, dass er mir stets alles recht machen wollte und somit diese Bedingung akzeptierte.
Ich war noch nicht bereit, aufzustehen, zu sehr umgab mich noch diese allmorgendliche Benommenheit, als wäre mein Geist noch nicht ganz aus meinen Traumwelten wieder da und so blieb ich sitzen. „Wie viel Uhr haben wir es?“
„Noch Zeit bis 12 Uhr. Du kannst noch liegen bleiben – soll ich dir Frühstück herbringen?“, fragte er hilfsbereit. Er liebte es, mich zu bemuttern und ich war stets darum bemüht, seinen Eifer diesbezüglich etwas zu zügeln.
„Nein… bleib hier bei mir“, bat ich und zog ihn an einer Hand neben mich.
„Wenn du das willst, schönes Mädchen“, erwiderte er, setzte sich und ließ zu, dass ich meinen Kopf in seinen Schoß legte. Gedankenverloren spielte er mit meinen Haaren, so wie er es oft tat – seine Hände brauchten immer irgendeine Beschäftigung. Ich fragte mich, ob das daran lag, dass er Schlagzeug spielt und so einen Bewegungsdrang im Blut hatte… oder einfach eine Eigenart seines verspielten Wesens war. Wahrscheinlich Letzteres.
Wir schwiegen eine Weile, ich folgte mit den Augen dem verschlungenen Muster des Wohnzimmerteppichs und ließ meine Gedanken schweifen.
„Woran denkst du?“, fragte er nach ein paar Minuten leise – er war wie so oft zu ungeduldig, um die Stille abzuwarten. Ich würde sein Bedürfnis, Konversation zu betreiben, nie nachvollziehen können.
Ich musste lächeln. „Ich denke daran, dass wir heute ganz genau zwei Monate zusammen sind“, entgegnete ich.
Er rechnete das schnell nach, wie ich vermutete, und meinte dann: „Stimmt. Und ich weiß noch genau wie wir zusammengekommen sind.“
Ich verdrehte unwillkürlich die Augen. Ich hasste diesen winzigen Makel an unserer Beziehung, aber leider war er unmöglich zu vergessen, wenn einen die so genannten Freunde immer wieder damit aufzogen. „Wahrheit oder Pflicht. Alicias Idee. So ungefähr das Unromantischste was man sich denken kann.“
Er lachte. „An mir hat es nicht gelegen, ich hätte schon seit Monaten mit dir zusammen sein können, wenn du gewollt hättest. Seit ich dir zum ersten Mal begegnet bin. Für mich war es so was wie Liebe auf den ersten Blick… Ein Mädchen namens Jenny Lehmann eroberte von einem Augenblick zum nächsten mein Herz.“ Ein stolzer Unterton schwang in seiner Stimme mit, so als wäre ich hier die begehrenswerte Person. Er hielt mir dauernd vor, dass er von Anfang an von mir eingenommen gewesen wäre, aber ich traute ihm durchaus zu, dass er das nur sagte, damit ich mich gut fühlte. Immer darauf bedacht, mich nicht zu verletzen. Es konnte ganz schön anstrengend sein.
„Ich würde gerne sagen, dass ich es genau so empfand, aber das wäre eine Lüge. Im ersten Moment – und in den ersten Wochen – hast du mich eher an ein Double von Justin Bieber erinnert.“ Ich lachte bei der Erinnerung.
„Weißt du, vielleicht habe ich mich auch nur in deine Eigenschaft verliebt, immer so mit schmeichelhaften Komplimenten um dich zu werfen“, erwiderte er und schlug mir leicht mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf.
Ich wandte den Kopf, sodass ich ihn von unten ansehen konnte. „Du weißt, dass ich schon seit Langem anders über dich denke.“
„Ich hoffe es.“ Aber er lächelte dabei.
Ich sah ihn weiterhin an, versuchte ihn so zu betrachten, wie es jemand täte, der ihm zum ersten Mal begegnet. Selbst unvoreingenommen musste man zugeben, dass er gut aussah, das dunkelbraune Haar – ein wenig dunkler als meins – war für Jungenverhältnisse relativ lang und lag ihm absichtlich schräg, so wie es zurzeit viele Jungen tragen und es ab und zu ganz cool mit einer raschen Kopfbewegung in Position werfen (ich gebe zu, er erinnert mich noch heute ein kleines bisschen an Justin Bieber…). Seine Augen waren grün, ein reiner, schön anzuschauender Ton und seine Wimpern ungewöhnlich lang, was seinem Gesicht – sehr zu seinem Unmut – einen mädchenhaften Touch gab. Na ja. Ich fand es süß.
Seine Haut war blass, heller als meine und er konnte sich so lange in die Sonne legen wie er wollte – er wurde nicht brauner.
Soweit zum Äußeren. Sein Inneres zu sehen, war wesentlich schwieriger, selbst wenn man ihn schon länger kannte, aber es glich auf jeden Fall die Justin-Bieber-Geschichte aus. Meistens charakterisierte ich Leute so, indem ich mir vorstellte, wie wohl ihre Zukunft aussehen würde.
Bei Nico war das nicht so einfach. Zum einen war da seine verspielte, kindliche Seite seines Selbst, die nie erwachsen werden würde und diesem Nico traute ich durchaus zu, dass er später vielleicht Sandkastenförmchen herstellt oder eine Kindersendung moderiert.
Und dann war da der einfühlsame, verständnisvolle Nicolas (den ich zugegeben persönlich immer noch lieber mochte), dem unzählige Mädchen (darunter – zu meinem Schmach – auch ich) zu Füßen lagen und der irgendwann in einer Werbung für Haargel oder so was mitspielen könnte, wo die Kerle meistens nur unwiderstehlich gucken müssen. Ich hoffte insgeheim auf die Haargel-Werbung, aber es war schwer zu sagen, welche Seite von ihm überwiegen würde. Und mir war klar, dass ich keinen Einfluss darauf haben würde, er traf seine Entscheidungen alleine und wusste, was er wollte. Vielleicht war das ganz gut so. Und vielleicht war es auch das, was ich an ihm mochte.
Nico gab sich Mühe, mich in Ruhe zu ende denken zu lassen, er kannte mich gut genug um zu wissen, dass er mich in solchen Momenten besser nicht störte. Er wickelte eine meiner Haarsträhnen um seine Finger und strich mir mit der anderen Hand leicht über die Wange. Schließlich brach er das Schweigen doch.
„Ich hoffe, unsere Kinder haben später deine Haarfarbe“, meinte er unvermittelt.
Ich zuckte kaum merklich zusammen. „Vielleicht kannst du ja mit deiner Gedankenkraft nachhelfen“, erwiderte ich leichthin in dem Versuch, seiner Aussage die Ernsthaftigkeit zu nehmen.
Ich hatte Nicolas unglaublich gern, aber wenn er dieses Thema anschnitt, wurde ich unruhig. Wenn er seine Überlegungen über eine gemeinsame Zukunft aussprach. Mir wäre es lieber, er würde diese Gedanken für sich behalten, weil mich das jedes Mal nervös und panisch machte. Denn für ihn schien ganz klar, dass wir immer zusammenbleiben würden und heiraten und Kinder kriegen…
Aber für mich nicht. Es war nicht so, dass ich ihn nicht wollte, ganz im Gegenteil, er war der Junge, der richtig für mich war – der Einzige im Universum, den es für mich gab, da war ich ganz sicher. Jedenfalls noch. Denn Beziehungen konnten so leicht auseinander gehen, ein Streit, ein anderes hübscheres Mädchen… Und es lag noch so viel vom Leben vor mir – vor ihm. Nein, ich konnte eine Zukunft von uns
nicht sehen. Auch wenn ich es wollte. Ihn sah ich, ja, ganz leicht erschien vor meinem inneren Auge ein Bild von ihm als glücklicher Vater mit süßen kleinen Kindern, die seine grünen Augen hatten. Denn ein guter Vater würde er ohne Frage sein, würde mit seinen Kindern spielen und herumalbern, eine Legostadt mit ihnen aufbauen…
Aber das war alles er
.
Ich sah mich nicht als Mutter der spielenden Kinder. Ich sah nicht, wie ich die Kinder morgens weckte und ihnen Schulbrote schmierte, wie ich ihnen nachmittags bei den Hausaufgaben half, Essen für meine Familie kochte und Geburtstage mit Paten und Omas feierte. Das war nicht ich
. Obwohl es keineswegs eine schlechte oder beängstigende Aussicht war – es war das Leben, das sich viele Mädchen wünschten. Und vielleicht war das der Grund, weswegen ich das nicht tat. Vielleicht wollte ich einfach nicht so sein wie alle anderen. Ich wollte nicht später eine von vielen sein, ich wollte mein
Leben haben, das mich wieder spiegelte, meine Handschrift trug, aus meinen eigenen Träumen und Fehlern gemacht war. Vielleicht war das zu viel verlangt. Ich konnte nicht sagen, wie das alles aussehen würde, aber genau das war es, das dieses Leben ausmachen sollte. Einzigartigkeit. Vermutlich wollen das die meisten Menschen und ein Haufen Leute schafft es wahrscheinlich nie, aber ich wollte es zumindest versuchen.
Überhaupt konnte ich nicht sagen, was meine Zukunft bringen würde – ich war mehr auf meine Mitmenschen spezialisiert. Ich selber war mir schon immer ein Rätsel gewesen, ich tat das Gegenteil von Sachen, die ich mir vorgenommen hatte und letztendlich wollte ich ganz andere Dinge als die, von denen ich das immer gedacht hatte.
Das Einzige, was ich sicher wusste, war, dass sie mich überraschen würde, dass es anders sein würde als ich es je erwarten könnte. Es würde wie ich sein.
Und ich sah keine Jenny Kreuz, die an Nicolas’ Seite durchs Leben ging und mit ihm Kinder großzog. Ich kam mir selbst schlecht dabei vor und konnte doch nichts daran ändern. Im Moment zählte für mich das Jetzt und Hier und ich war nicht imstande zu sagen, ob es für Jenny und Nicolas eine Zukunft geben konnte – auch wenn mich dieser Gedanke traurig machte.
Und ich wollte ihn nicht an mich ketten, er sollte immer eine Wahl haben, sollte irgendwann das Mädchen heiraten, das für ihn bestimmt war. Vielleicht würde ich es sein. Vielleicht nicht.
Und ich selbst wollte die Wahl haben, wollte vor dem Altar in einem Brautkleid stehen und wissen, dass ich genau das Richtige tat, dass mein Bräutigam derjenige war, den ich wollte und dass kein anderer das ändern konnte. Derjenige, der mich glücklich machen würde und dem ich blind vertrauen konnte. Vielleicht Nicolas.
Aber auch soweit war ich noch nicht. Ich sagte ihm das alles nicht, aus Angst, dass er es falsch verstehen könnte und verletzt sein würde. Denn – wer weiß – vielleicht hatte er ja recht und wir würden unser Leben glücklich miteinander verbringen und seine Träume und Pläne wahr machen. Ich glaubte das nur zu gern.
Trotzdem war ich darauf bedacht, ihn nicht zu bekräftigen, mitzuträumen und nahm es als Spaß, auch wenn ich wusste, dass es für ihn keiner war. Vielleicht war es das. Diese Tatsache machte mich jedes Mal aufs Neue traurig. Denn er war so felsenfest davon überzeugt, dass wir zusammen gehörten, dass ich instinktiv davor zurückschreckte, ihn jemals zu enttäuschen. Vielleicht würde ich ihn nicht immer auf diese Art lieben wie ich es zurzeit tat, aber ich wünschte ihm ein glückliches Leben, egal, ob mit oder ohne mich. Ich war nicht davon überzeugt, dass es für jeden Menschen ein Happy End gibt, selbst wenn man alles dafür tut. Ich konnte es mir nicht vorstellen. Es gab zu viel Unglück und Trauer auf dieser Welt, um alle Menschen zufrieden zustellen und ich wünschte mir oft, diejenigen, die ich liebte, davor beschützen zu können. Und wusste doch, dass ich dazu nie in der Lage sein würde. Seltsam, wie traurig Nachdenken einen schon wieder machen konnte…
Nico lächelte nur und ging zu meiner Erleichterung nicht länger auf das Thema ein. Zur Sicherheit fing ich trotzdem an von etwas anderem zu sprechen.
„Wer kommt eigentlich später alles? Kathi, Janni,…?“ Wir machten wieder eins von diesen Treffen in der Stadt, deren einziger Sinn darin bestand, miteinander zu reden und zu lachen. Es war immer eine irgendwie befreiende Angelegenheit.
„Michelle muss zum Zahnarzt, kriegt ihre Spange raus… Janni bringt vermutlich Sven mit und Alicia kommt mit Paul. Ihr Neuer.“
Aha, jetzt würden wir also Alicias tausendsten Freund kennen lernen… Ich hatte immer etwas Mitleid mit den Jungs, die sie sich ausguckte, weil derjenige hundertprozentig Mr. Perfect sein musste und Alicia nicht gerade niedrige Ansprüche hatte. Paul war, soweit ich wusste, schon Oberstufe (jepp, ältere Jungs waren der neueste Trend) und Alicia hatte ihn schon länger ins Visier genommen. Ich hatte bei dem Typ immer eine sehr lebhafte Zukunftsvision vor Augen, in der er Millionär war und die Bank seines Vaters übernommen hatte. Ich konnte vor mir sehen, wie er mit ebenso reichen einflussreichen Freunden am Wochenende mit professioneller und superteurer Ausrüstung auf einem Golfplatz herumlief und mit ihnen eine neue Geschäftsidee besprach. Alicia bekam in diesem Fall die Rolle der Freundin, die ein eigenes Modelabel gegründet hatte und immer und überall Style Queen auf den Cocktailpartys war, die sie mit ihrem Mann zuhauf besuchte. Ich musste lächeln.
„Was?“, fragte er irritiert. Ja, Nico war mein Prinz, aber das mit dem Gedankenlesen musste er noch üben…
„Nichts… alles okay.“ Ich küsste ihn. Das lenkte ihn höchstwahrscheinlich ab. Er war einer dieser Berührungsbesessenen. Und… okay, ich auch.
Es wirkte. Natürlich. „Mhm…“, machte er. Ich biss mir auf die Lippe, um nicht zu lächeln. Nicos ‚Mhm’ war so unglaublich süß. Aber er wollte ja nicht süß sein (das würde ich nie verstehen… süß sein ist doch geil?!). Das brachte ihm allerdings überhaupt nichts, es war einfach eine Eigenschaft von ihm – zum Beispiel wenn er meine Hand hielt, weil wir an einem Videoabend unbedingt einen Horrorfilm gucken mussten, der zu Alicias geschätzten dreitausend Lieblingsfilmen gehörte.
Meine Überlegungen über Videoabende bei Alicia und unser Kuss wurden unterbrochen, als Nicos Handy losbrummte (seine dämliche SMS-Benachrichtigung). Grr. Wer wagte es?
Wir ignorierten es ca. 20 Sekunden (wer auch immer es war wusste leider genau, dass er da war), dann seufzte er und sah kurz auf den Display.
Er verdrehte die Augen. „Katharina.“
Zu dem Schluss war ich auch schon gekommen. Niemand war hartnäckiger als dieses Mädchen, das ich meine beste Freundin nannte. Ja, verdammt. Wir kannten uns seit dem Kindergarten und Sandkastenfreundschaften sind beständig. Irgendwie waren wir in der Grundschule dann auch nicht voneinander losgekommen und das war’s dann. Es war nicht so, dass wir keinen Tag getrennt verbrachten oder solche Seelenverwandten wären, aber letztendlich blieb Kathi mir immer eine gute Möglichkeit, einen Menschen mit meinem Leid voll zujammern und Zeit totzuschlagen. Und sie machte sich unglaublich gut als Kummerkastentante, das musste man ihr lassen. Nach außen hin war sie schüchtern, aber wenn man sie besser kannte, taute sie rasend schnell auf. Sie war oft anderer Meinung und wir fetzten uns, aber mit Kathi konnte man nicht lange zerstritten bleiben, weil es sehr schwierig war, sie zu ignorieren. Und weil sie immer so kompromissbereit und harmoniebedürftig war. Ganz im Gegensatz zu mir. Manchmal musste ich einen anderen Menschen mal mehr oder weniger mit Grund anfauchen und meine Energie verschwenden. Es schien tatsächlich Menschen zu geben, die so was nicht brauchten, und meine Freunde waren so gut wie alle von dieser Sorte. Janni ließ ihre ganze Kraft beim Sport und brauchte sich danach nirgendwo mehr auspowern. Nico ging sämtlichen Streitigkeiten mit mir aus dem Weg und Michelle konnte gar nichts erschüttern. Ein Glück, dass Alicia ebenso gerne herumschrie wie ich...
„Was ist?“, fragte ich und wusste es im selben Moment auch schon. Ich musste nicht auf die Uhr schauen, um zu wissen, dass es Punkt 12 war.
Nico machte sich nicht die Mühe, sich Kathis Vortrag über Pünktlichkeit durchzulesen und stand auf. Wo hatte sie nur diesen Sinn für Ordnung und Benehmen her? Von mir jedenfalls nicht. Vielleicht glaubte sie, mich ausgleichen zu müssen? Keine schlechte Idee, aber leider ohne Aussicht auf Erfolg. Mein Chaos war unverwüstlich.
„Ich mach uns schnell was zu essen zum Mitnehmen.“ Nico verschwand in Richtung Küche. Ich hätte schwören können, dass er in seinem früheren Leben Koch war – aber vielleicht hatte er seine Künste von der Übung, die ihm die kulinarische Unfähigkeit seiner Mutter verschaffte. Ich würde das seltsame System der beiden nie verstehen, als Außenstehender konnte man bei denen überhaupt nicht durchblicken.
Ich fragte mich manchmal, wie wohl Nicos Vater gewesen war, denn er war komplett das Kind seiner Mutter. Sie konnte genauso verspielt und kindlich sein wie er und eigentlich fehlte in diesem Haushalt ganz klar eine vernünftigere Person. Doch meine täglichen Beobachtungen waren zu ganz anderen Ergebnissen gekommen. Mutter und Sohn ergänzten sich zu einer Einheit, in der kein Platz für andere Familienmitglieder war – vielleicht war das erst durch den Tod von Nicos Vater geschehen, aber ich konnte es mir anders nicht vorstellen. Seltsame Familie.
Seufzend ging ich ins Bad und zog mich um. Das war’s dann wohl mit dem gemütlichen Vormittag. Beeilung mit Zähneputzen und allem, um Kathi milde zu stimmen. Ich hatte mein Handy vorsorglich gestern Abend schon ausgeschaltet, obwohl meine Mutter jedes Mal austickte – von wegen man muss erreichbar sein und so weiter. Ich hätte wissen müssen, dass Nico das vergessen hatte.
Er war schon fertig mit unserem Frühstück zum unterwegs essen als ich zu ihm in die Küche kam, mittlerweile waren wir auf diese Situation eingespielt. Wir kamen eigentlich immer zu spät und Kathi wurde nicht müde, sich jedes Mal ausgiebig darüber aufzuregen. Dabei redete sie mir immer ein, dass Unterschiede und Gemeinsamkeiten in einer Beziehung unbeschreiblich wichtig sind – tja, hier hatte sie unsere Gemeinsamkeit.
Fünf Minuten später waren wir mit unseren Rädern auf den Weg in die Stadt, jeder ein Sandwich in einer Hand und ich dachte über eine Methode nach, mit der man Kathis Pünktlichkeitsfimmel abstellen konnte. Als wir beim Marktplatz ankamen, war ich noch nicht zu einer Lösung gekommen.
Das Leben ist wie Schach, ein falscher Zug und das Spiel ist vorbei.
2. Ein wunderbar normaler Tag
Die Welt kann so einfach sein und man gewöhnt sich allzu leicht daran.
Mein Leben war eingegrenzt und ich war zufrieden damit.
„Na endlich.“ Ich hörte ein Augenverdrehen in Kathis Immer-warten-wir-auf-euch-Tonfall und schloss mein Rad absichtlich langsam mit Nicos zusammen, um mir noch schnell eine gute Entschuldigung zu überlegen.
Unsere Clique stand ganz gangstermäßig beim Brunnen, außer Michelle so ziemlich komplett; Alicia mit Millionär-Paul, Janni mit ihrem Sven und Kathi natürlich. Alicia trug ihr Lieblingsshirt mit ‚New York loves me’ drauf, Janni überragte Sven um etwa zehn Zentimeter, auch wenn er sich sehr groß machte und Kathi funkelte mich böse an (ich hätte fragen können wieso ich, Nico ist auch zu spät, aber so was hatte ich längst aufgegeben). Alles so wie immer.
„Wir konnten nicht früher, weil-“, setzte ich zu einer Erklärung an, doch Kathi winkte ab.
„Ich glaube euch kein Wort! Und ich hasse dich.“ Aber sie lächelte. Puuh. Beste Freundin ruhig gestellt.
„Ich weiß“, gab ich zurück. Ich liebe diese Harmonie zwischen uns.
„Können wir los?“ Alicia wartete die Antwort nicht ab, sondern ging mit Paul einfach schon mal los. Vielleicht sollte es mich nerven, dass sie seit jeher den Ton angab, doch in Wirklichkeit war ich ganz froh darüber, dass ich es nicht tun musste. Alicia war garantiert schon mit diesen Führungsqualitäten zur Welt gekommen und sie war gut in so was. Organisation, Anführung, Koordination. Nicht wirklich meine Stärken.
Wir machten uns auf den Weg zu einem alten Spielplatz in der Altstadt, der mehr als Cliquentreffpunkt genutzt wurde als dass dort kleine Kinder spielten. Dumm nur, dass es in dieser Stadt eindeutig zu viele Cliquen gab, die sich auch noch fast alle da treffen wollten. Klar wäre es einfacher woanders hinzugehen, zumal es durchaus bessere Plätze gäbe, aber die Tatsache, dass es ein begehrter Platz war, machte ihn erst so begehrenswert. Außerdem brauchte Alicia diese Herausforderung, den Treffpunkt zu verteidigen und ihr ganzer toller Ruf wäre dahin, wenn sie sich verscheuchen lassen würde. Das würde einen Makel in ihrer tadellosen Ehre hinterlassen. Also nein, aufgeben war nicht drin.
Es hatte nie einen besonderen Anfang bei unserer Cliquengeschichte gegeben, als wir auf dem Gymnasium in einer Klasse gelandet waren, hatte es die Freundschaft zwischen Alicia und Janni und die zwischen Kathi und mir gegeben. Michelle war in der sechsten Klasse dazugekommen und irgendwie waren wir fünf immer zusammen gewesen. Ein ungeschriebenes Gesetz lautete nur, dass die derzeitigen Jungs immer dazugehörten und es einmal im Monat Videoabend bei Alicia gab. Dazwischen hatte es immer mal wieder seltsame Phasen gegeben, in denen wir alberne Rituale abgehalten hatten und auf Bäume geklettert waren, um Typen zu beobachten (oh, okay, also das mit dem Typen beobachten taten wir immer noch, nur nicht mehr auf Bäumen…), aber das war meistens zum Glück unserer Mitmenschen schnell zu ende gewesen. Trotz der Regel mit den Jungs war Nico auch schon dabei gewesen, als er noch nicht mit mir zusammen gewesen war. Ich hatte schon da den Verdacht gehabt, dass Alicia ihn schon seitdem sie ihn zum ersten Mal getroffen hatte für mich ausgeguckt hatte. Was es eigentlich schlimm machen sollte, dass sie ihren Willen vor exakt zwei Monaten auch bekommen hatte.
Im Prinzip waren wir aber ganz friedlich. Oder wir waren friedlich und Alicia eher weniger.
Wir hörten schon von weitem, dass der Spielplatz besetzt war – wäre auch unwahrscheinliches Glück wenn nicht. Dem Kreischen nach war es die Möchtegern-Clique aus dem neuen fünften Jahrgang an unserer Schule, angeführt von dem nervigsten kleinen Mädchen der Welt namens Laura-Josephine, die etwa halb so groß war wie Janni und sich gerne aufspielte, weil sie zu wenig Aufmerksamkeit hatte. Ich wusste, dass sie vieles dafür gegeben hätte, um so cool zu sein wie Alicia. Traurig, dass absolut niemand Alicia kopieren konnte. Little-Lauras Clique gehörten ihre, hm, rund geschätzten 18234 ABF’s an (keine Jungs, obwohl ich wetten könnte, dass Laura wusste, dass es dermaßen cooler war, Jungs dabeizuhaben; aber ich konnte gut nachvollziehen, warum sich die Jungs von ihr fernhielten) und als Zeichen ihrer Verbundenheit hatten sie alle ihre Fahrräder barbiepink gestrichen (ich konnte darüber jedes Mal wieder lachen), weswegen jetzt sämtliche Mädchen aus den fünften Klassen mit rosaroten Fahrrädern zur Schule kamen und ich mich für meine blöde Schule in Grund und Boden schämen könnte.
In Alicias Gesicht erschien dieser Ausdruck, der mir verriet, dass sie ebenfalls Little-Laura an unserem Stammplatz vermutete, zur einen Hälfte bestehend aus absolutem Angenervtsein, zur anderen aus Vorfreude darauf, jemanden richtig runtermachen zu können.
Wir kamen am Gatter an und ja, Little-Laura war da mit ihrer Billig-Clique, etwa 90% ihrer Anhängerinnen trugen ein ‚Kiss me, I’m famous’ T-Shirt, die Exemplare der restlichen 10% waren vermutlich in der Wäsche (das nenn ich Aufopferung fürs Aussehen, ich meine, wir hatten Januar!). Little-Laura selbst sah eigentlich aus wie immer (Kategorie Püppchen), mit weißblondem Zopf fünf Zentimeter Absatz, was sie allerdings auch nicht größer erscheinen ließ.
Ganz die Herrin der Lage ließ sie ihren Blick schweifen bis sie an Alicia hängen blieb. Erdolchender Blick. Wenn sie nicht so klein und dumm gewesen wäre, könnte sie fast ganz süß sein…
Ich nahm an, dass Alicia es unter ihrer Würde befand, sich genauer mit den Zwergen auseinanderzusetzen, denn sie ignorierte Laura und ging voran zu den uralten Schaukeln, Paul wie ihr Leibwächter ein Stückchen hinter ihr. Ich konnte mir einen demonstrativ mitleidigen Blick in L.-L.s nicht verkneifen und folgte dann den anderen.
L.L. schien es überhaupt gar nicht zu gefallen, einfach übergangen zu werden und sie stellte sich Alicia in den Weg. „Was wollt ihr hier?“
Alicia – sichtlich verärgert darüber, dass sie sich dazu herablassen musste, mit L.-L. zu sprechen – ging an ihrem Hindernis vorbei und ließ sich auf einer Schaukel nieder.
„Die richtige Frage wäre eher, was wollt ihr
hier. Der Spielplatz gehört den Älteren, also verzieh dich.“
L.-L. funkelte sie böse an.
„Wir waren aber zuerst da“, bemerkte ihre Freundin Famous No.1.
„Ihr seid hier immer“, fügte Famous No.2 hinzu.
„Gut erkannt, deswegen sind wir es heute auch, Süße.“ Ich könnte Alicia für diesen herrlichen Tonfall umarmen.
Laura fiel darauf nichts weiter ein und musste einsehen, dass sie ihren Posten ganz offensichtlich verloren hatte. Sie bedachte jeden von uns noch einmal mit einem Mörderblick und stolzierte dann davon, gefolgt von ihren Freundinnen.
Alicia schnaubte. „Wie ich diese kleine Ziege verachte…!“
„Sie ist es nicht wert“, erwiderte Kathi friedliebend wie immer.
„Ich weiß… Hat jemand Kaugummi?“
Der Tag verlief wie gewöhnlich, so wie wir schon unzählige Wochenenden zuvor totgeschlagen hatten. In der Woche trafen wir uns eigentlich nicht, weil wir uns in der Schule zuhauf sahen und sowieso meistens keine Zeit hatten. Dass Sven heute dabei war, war eine Ausnahme, er wohnte in Hannover und hatte Janni bei irgendeinem Sportevent kennen gelernt. Die meiste Zeit waren wir am Reden und Lästern (vor allem Letzteres) und was man eben so macht. Als Außenstehender sahen wir aus wie eine ganz normale Clique von Teenagern (waren wir ja auch…) und ich war sicher, dass wir das mindestens bis zum Abitur auch noch sein würden. Alle außer mir machten auch schon fleißig Pläne, nach dem Praktikum im letzten Halbjahr waren Ausbildung und alles was dazugehört das
Thema gewesen.
Kathi wollte schon immer Gerichtsmedizinerin werden (was ich nie verstehen konnte, weil ich es absolut widerlich fand, in toten Körpern herumzustochern) und wurde von ihren Eltern mit Begeisterung unterstützt. Obwohl ich ihre Entscheidung nicht wirklich nachvollziehen konnte, war ich mir sicher, dass sie auf jeden Fall die perfekte Ausstrahlung dazu hatte – groß, Brille, dunkelhaarig. Kathi hatte ihre Zukunft bis ins kleinste Detail durchgeplant und das Gemeine war, dass all ihre Wünsche höchstwahrscheinlich auch in Erfüllung gehen würden.
Ich selbst war mir noch nicht einmal sicher, in welche Richtung meine Tätigkeit später mal gehen sollte und ich fand, dass es dafür sowieso noch viel zu früh war – wir waren 9. Klasse. Bei diesen Diskussionen hielt ich lieber den Mund und fragte mich entsetzt, warum um alles in der Welt ich solche erwachsenen, reifen Freunde hatte.
Es war bereits früher Nachmittag als ich mal wieder darüber nachdachte, aber bevor ich mich in weitere beängstigende Überlegungen stürzen konnte, wurde ich abgelenkt, weil wir zu Subway zum Essen gingen.
Meine Mutter hasste es, dass wir dauernd mittags Pizza und so’n Zeug aßen, andererseits war sie froh, sich nicht um ein Essen für mich kümmern zu müssen, weil sie selbst nicht wirklich gut kochen konnte und am Samstag meistens noch arbeiten war. Meine kleine Schwester Betty war am Wochenende entweder mit unserem Vater oder ihren Freundinnen unterwegs. Ich gebe zu, dass ich manchmal ganz gerne mit meiner süßen Schwester angebe – sie war klein, blond, hatte große braune Augen und war der Liebling sämtlicher Tanten und Großeltern (ich bekam meistens die Statistenrolle als große grummelige Schwester). Leider wird von einem zwangsläufig erwartet, dass man vernünftig ist und nachgibt und so weiter. So ein Mist.
Das Gute ist, dass wir bei Subway immer ziemlich wenig bezahlen mussten, weil Alicia und Janni etwa dreitausend Gutscheine hatten und ich mich immer noch von Nico einladen lassen konnte (ganz der Gentleman). Das machte ich allerdings nur wenn ich wirklich, wirklich kein Geld mehr hatte, ich wollte ihn auf keinen Fall ausnutzen.
Nachdenklich saß ich am Tisch, während die anderen sich um die Kekse stritten. Ich kam mir selbst langweilig vor… Ich verbrachte eindeutig zu viel Zeit damit, über Dinge nachzudenken, die ich sowieso nicht ändern konnte. Apropos Dinge, die man nicht ändern konnte, schrieben wir nicht nächsten Dienstag Englisch? Verdammt, klar schrieben wir. Unsere dämliche Lehrerin hasste mich, da war ich mir ganz sicher – auch wenn Kathi stets meinte, dass ich Englisch einfach nicht mochte. Von wegen in jedem Menschen steckt etwas Gutes und so weiter.
„Jenny?“
Ich fuhr hoch und stieß dabei fast Nicos Cola um. Nico sah mich an.
„Was hast du gesagt?“
„Du machst dir schon wieder Sorgen um irgendwas, stimmt’s?“
Ich überlegte einen Moment, ob ich das abstreiten sollte, entschied mich aber dann dagegen. Er würde mich sowieso durchschauen. „Ich denke
“, betonte ich gereizt.
„Und du machst dir Sorgen. Du hast diesen Gesichtsausdruck…“, erwiderte er.
Ich sah ihn finster an. „Ich werd mal an meiner Mimik arbeiten.“ Ich war von mir selbst angekotzt als ich mir zuhörte. Er ist dein Freund und hat dir überhaupt nichts getan, ermahnte ich mich streng. Genau genommen hat dir keiner was getan.
Ja, fauchte ich zurück, vielleicht ist das das Problem! Dass alle so verdammt freundlich zu mir sind!
Nico beobachtete meinen inneren Wortwechsel interessiert. „Alles okay?“ Arrgh, der Junge soll aufhören sich Sorgen um mich zu machen!
„Ja, ich … ich muss nach Hause. Auf Betty aufpassen.“ Ich stand hastig auf und vermied es, Nico anzusehen, obwohl er wahrscheinlich sowieso schon wusste, dass das nicht stimmte. Lügen war nicht meine Stärke.
„Deine Sachen sind noch bei mir“, meinte er nur.
„Ich hol sie morgen ab. Ciao, Leute.“ Ich nahm meine Tasche und ging schon auf den Ausgang zu. Dabei stolperte ich fast über ein kleines Kind, das auf dem Boden saß. Ich funkelte es böse an, während ich es umrundete.
„Jenny? Soll ich mitkommen?“ Kathi witterte ihren Einsatz als Kummerkasten.
„Ich find den Weg schon“, knurrte ich und knallte die Tür hinter mir zu.
Huh. Was für ein Auftritt. War das nötig gewesen? Jawohl, das war es, antwortete ich mir selbst (ja, ich führe Selbstgespräche seit ich früher mit meinen Puppen geredet habe… seltsames Kind). In letzter Zeit war ich dauernd so mehr oder weniger angenervt von mir und allen anderen. Oder mehr von mir. Super hinbekommen, jetzt hast du deine Freunde schön grundlos abserviert, Jenny. Ich seufzte. Sollte ich zurückgehen? Nein, lieber nicht. Ein kleines bisschen Selbsterhaltung war mir noch geblieben. Also musste ich wohl wirklich nach Hause.
Ich war froh, den Weg bis zum Marktplatz und den Fahrrädern gehen zu können, ohne mich mit jemandem unterhalten zu müssen. Alleinsein war doch manchmal besser als jegliche Gesellschaft… vor allem besser als meine eigene.
Was wollte ich eigentlich? Ich hatte gute Freunde, einen total süßen Jungen zum Freund, war nicht schlecht in der Schule… Vielleicht brauchten manche Menschen Herausforderungen. Vielleicht war es das. Das Leben war so einfach und langweilig – und daran würde sich wahrscheinlich auch nie etwas ändern. Ich dachte an das, was mir heute Morgen bei Nico durch den Kopf gegangen war. Etwas Besonderes sein. Nicht in der Art besonders, wie Nico es mir andauernd beteuerte. Einfach… anders.
Und das war ich nicht. Ich kickte ein paar Steine vor mir her und ließ zu, dass ich ein bisschen in Selbstmitleid versank.
Aber wenn man versucht anders zu sein, erreicht man meistens das Gegenteil. Man kann einfach nur darauf hoffen, dass das Schicksal noch was in der Hinterhand hat.
Ich sollte Philosoph werden…
Jeder Mensch wird einzigartig geboren, doch die meisten sterben als Kopie.
3. Ein weltbewegendes Blatt Papier
Wenn man will, dass sich etwas verändert, sollte man selbst die Veränderung sein.
Ich hatte es keineswegs eilig, nach Hause zu kommen und ließ mir absichtlich Zeit. Ich hatte noch nie besonders viel Zeit freiwillig mit meiner Familie verbracht und war schon immer relativ unabhängig gewesen, wie meine Mutter es gerne ausdrückte. Überall wird von einem erwartet, dass man seine Familie liebt und so weiter und meistens war meine ganz in Ordnung, aber mehr auch nicht. Betty mochte ich von allen wahrscheinlich noch am liebsten. Sie war zu dieser Zeit gerade acht geworden und ließ mich weitgehend in Ruhe.
Ich wünschte mir oft, meine Eltern würden mir mehr Freiraum lassen und sich nicht immer so krampfhaft um mich kümmern, aber diesen elterlichen Instinkt konnte man wohl nicht ändern. Wenn meine Eltern etwas für richtig hielten, konnte man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass ich anderer Meinung war und ich ging Diskussionen nicht gerade aus dem Weg.
Meinem Vater machte sich darüber keine Gedanken, er war davon überzeugt, dass ich in einer ‚rebellischen Phase’ steckte und mit der Zeit daraus hinaus wachsen würde oder so. Obwohl ich dem rebellischen Teil ganz und gar nicht zustimmte, ließ ich ihn doch lieber in dem Glauben und war froh, dass er nicht länger darüber nachdachte.
So wie meine Mutter. Sie machte sich nämlich sehr wohl Gedanken und war besorgt, bei ihrer Erziehung irgendetwas falsch gemacht zu haben. Ich hatte ein bisschen Mitleid mir Betty, weil sie das Opfer des neuen Konzepts war und meine Mutter sämtliche Methoden aus Büchern anwendete, für die ich zum Glück mittlerweile schon zu alt war. Am Anfang war ich neidisch gewesen, weil Betty auf eine andere Schule gehen durfte als ich und sie dort wesentlich weniger Unterrichtsstunden hatte als ich zu meiner Zeit – allerdings nur bis Betty uns strahlend von den Lernmethoden dort erzählte. Dann war ich doch ein kleines bisschen beunruhigt, was sie dort mit ihren Schülern machten und war froh, auf meine ganz normale, blöde Schule gehen zu können.
Kein Außenstehender würde vermuten, dass Betty und ich auch nur annähernd verwandt waren. Betty hatte schon damals die Züge meiner Mutter und die Haare meines Vaters – wenn ich mich im Spiegel betrachtete, fragte ich mich manchmal, ob ich vielleicht adoptiert war und in Wirklichkeit Eltern hatte, die Geheimagenten waren… Aber leider sprach meine Geburtsurkunde und alles weitere dagegen. Mist.
Betty war eine Energieschleuder, wie meine Mutter es gerne ausdrückte.
Ich… nicht. Aber ich fand es okay so. Ich war froh, nicht Betty zu sein und nicht so gewesen zu sein wie sie – zurzeit hatte sie ihre Hannah-Montana-Phase und ich war froh, dass ich diesen Lebensabschnitt irgendwie ausgelassen hatte.
Ich verbrachte nicht besonders viel Zeit zuhause, meistens war ich bei Kathi oder mit den anderen unterwegs, und wenn ich doch mal nichts vorhatte, war ich oft in meinem Zimmer. Stundenlang könnte ich nur auf dem Bett liegen und nachdenken und Musik hören, allerdings wurde man in ruhigen Momenten in dieser Familie meistens alle paar Minuten gestört. Meine Eltern waren eindeutig zu dynamisch. Ich fragte mich oft, woher sie diesen zwanghaften Drang hatten, immer etwas unternehmen zu müssen und ob ich wirklich so gelangweilt wirkte, dass man das Bedürfnis hatte, mich zu beschäftigen.
Ich fuhr einen Umweg nach Hause, ich hasste es, durch dichten Verkehr und Lärm fahren zu müssen und nahm einige wenig befahrene Straßen, die hauptsächlich übers Land führten. Trotzdem war ich viel zu schnell an unserem Haus. Ich war erleichtert, als ich sah, dass meine Eltern beide noch weg waren und Betty dann vermutlich auch noch. Ich stellte mein Rad ab und schloss auf. Es gibt Leute, die sich in leeren Häusern einsam fühlen und die fehlenden Geräusche gruselig finden – ich gehörte noch nie dazu. Die Stille war irgendwie beruhigend und ich war froh darüber, niemandem erklären zu müssen, warum ich schon so früh war. Ich könnte fast vergessen, dass es noch andere Menschen auf dieser Welt gab. Fast.
Wenn unser Anrufbeantworter nicht kurz vorm Hyperventilieren wäre und wild blinkte. Kathi hatte dreimal drauf gesprochen und Nico einmal und ich löschte sie seufzend, ohne sie mir anzuhören. Sie würden sowieso alle in etwa den gleichen Inhalt haben.
Ich bemerkte erst dann, dass auf dem Tisch eine Notiz von meiner Mutter lag und ein Brief für mich. Ich bekam eigentlich nur selten Post und das konnte eigentlich nur ein schlechtes Zeichen sein. Ich drehte den Umschlag um und starrte ein paar Sekunden auf den Absender. Meine Schule. Mein erster Gedanke war: Verdammt. Was hab ich gemacht? Dann überlegte ich, wie hoch die Chance wäre, dass meine Mutter mich nicht später darauf ansprechen würde wenn ich den Umschlag zerriss und wegschmiss ohne ihn vorher zu öffnen. Sehr gering. Ich zwang mich dazu, vernünftig zu denken – ich hatte überhaupt nichts Schlimmes angestellt und wenn doch hätte ich doch bestimmt etwas davon mitbekommen, oder? Also, folgerte ich, musste es eigentlich relativ harmlos sein. Während ich in Gedanken sorgfältig mein Gedächtnis nach irgendwelchen Vorfällen in den letzten Wochen durchsuchte, schlitzte ich den Umschlag auf. Darin enthalten war nur ein Bogen Papier und der Brief war eindeutig nur an mich adressiert. Ich faltete ihn wieder zusammen, nahm meine Sachen und ging erstmal nach oben in mein Zimmer.
Ich setzte mich auf mein Bett und fing an zu lesen.
Zu Anfang dachte ich, dass ich vielleicht versehentlich das Schreiben bekommen hatte und es eigentlich für jemand anderen gedacht war, mehrere Male schaute ich nach, ob der Empfänger auch wirklich ich sein sollte. Es war von unserem Lehrer, der sich um den ganzen Fremdsprachen-Kram kümmerte und so was.
Dann erinnerte ich mich. Ich hatte es schon fast vergessen, es war noch am Ende der 8. Klasse gewesen. Kathi und ich hatten uns zusammen angemeldet und eine Bewerbung geschrieben (Wort für Wort gleich, weil ich alles von ihr abgeschrieben hatte), um am Ende der 9. Klasse für ein halbes Jahr ins Ausland gehen zu können. Kathi hatte mich dazu überredet und es irgendwie geschafft, mich dafür zu begeistern. In den ersten Wochen danach waren wir jeden Tag zum Briefkasten gehetzt, um eine Annahme ja nicht zu verpassen. Das hatte mit der Zeit nachgelassen und wir hatten seit Ewigkeiten nicht mehr darüber gesprochen. Kathi hatte nach England geschrieben, sie wollte da später sowieso mal studieren. Und ich nach Spanien (zum Großteil weil ich in Englisch und Französisch so erbärmlich schlecht war, dass ich da garantiert wieder rausgeworfen worden wäre oder so).
Und jetzt hielt ich meine Annahme in der Hand.
Ich las es mindestens fünfzehnmal durch und begriff noch gar nicht richtig, was das alles bedeutete. Von einem Moment zum nächsten schien sich mein Leben vor meinen Augen in etwas Spannendes, Aufregendes zu verwandeln.
Laut dem Brief hatte meine Schule eine Antwort auf meine Bewerbung erhalten und ein junges Paar wäre bereit, mich für ein halbes Jahr bei sich aufzunehmen. Wow. Ich rechnete schnell nach, wie lange es noch bis Mai war. Etwa drei Monate. Meine Gedanken schweiften bereits ab und überlegten, wie viel Gepäck man wohl bei so einem Flug mitnehmen durfte… Dabei war noch nichts entschieden und ich musste mal wieder übertreiben. Ohne die offizielle Erlaubnis meiner Eltern lief erstmal gar nichts.
Ich sah auf die Uhr, meine Eltern müssten bald mit Betty zurückkommen. Mit zittrigen Händen faltete ich den Brief wieder zusammen und ging nach unten, mein Gesicht wahrscheinlich eine sehr geistreiche Maske aus Überraschung und Unglauben. Ich begann, das Abendessen vorzubereiten (meine Mutter würde austicken vor Freude), um meine Hände zu beschäftigen. Vielleicht hätte ich den ganzen Auslandsaufenthaltskram damals genauer überdenken sollen.
Wusste ich, was ich jetzt tun sollte? Nein.
Hatte ich auch nur eine Ahnung, was auf mich zukam? Nein.
War ich überfordert? Ja.
Gedankenverloren schnitt ich die Paprika in mikroskopisch kleine Stückchen und rührte die Sahnesoße zum Lieblingsgericht meiner Eltern an (es konnte ja nicht schaden, sich ein bisschen einzuschleimen), als ich draußen den Motor unseres Wagens hörte. Meine Hände erstarrten für einen Herzschlag und arbeiteten dann doppelt so schnell weiter. Irgendwie hatte ich Angst vor der Reaktion meiner Eltern, auch wenn ich mir sagte, dass sie schließlich damals zugestimmt hatten, dass ich meine Bewerbung abschickte. Nach gut 15 Jahren kannte ich mich selber doch ziemlich gut und war relativ sicher, dass irgendwo in meinem Gehirn eine Überreaktion ausgelöst worden war - und dennoch. Vielleicht sagten sie auf der Stelle, dass so was das nie und nimmer erlauben würden…
Ich hörte meine Mutter lautstark mit meinem Vater darüber diskutieren, ob Betty eine neue Tapete brauchte oder nicht und öffnete die Haustür bevor sie aufschließen konnten.
„Hi“, sagte ich ziemlich lahm. Ich ohrfeigte mich in Gedanken dafür, dass ich mir nicht vorher überlegt hatte, was ich sagen wollte.
„Hallo, Liebes.“ Meine Mutter umarmte mich, dann bemerkte sie meine Vorbereitungen fürs Essen. „Das wäre doch nicht nötig gewesen…!“ Sie strahlte. Anscheinend war meine miserable Schleimerei doch nicht so miserabel.
Wenige Minuten später saßen wir am Tisch und aßen, ich überlegte hin und her, in welchem Moment ich das Thema wohl am besten auf den Brief lenken konnte und ließ, feige wie immer, jegliche Gelegenheiten ungenutzt verstreichen. Ich war schon soweit, das Ganze auf morgen zu verschieben, als meine Mutter mir den Anfang abnahm.
„Ach, was war das eigentlich mit dem Umschlag von deiner Schule? Ich hatte ihn extra noch nicht gelesen, weil er nur an dich adressiert war.“ Glück gehabt.
Ich widmete mich vollkommen meinem Essen, um die ohnehin schon winzigen Paprikafitzel noch weiter zu zerkleinern. „Öhm. Na ja. Ich hab ja in der achten mal mit Kathi diese Bewerbung für einen Aufenthalt im Ausland geschrieben, wisst ihr noch?“, begann ich.
Keine Reaktion. „Ja?“, fragte mein Vater nach einer Weile. Verdammt.
„Ich wurde angenommen.“ Eine nicht vorbereitete Rede wäre sowieso im Eimer gewesen, redete ich mir gut zu.
„Aber… das ist ja großartig!“, rief meine Mutter vollkommen begeistert aus. Großartig?!
Was war denn jetzt los? Zu irritiert, um mich an meinen Vorsatz, nicht aufzuschauen zu erinnern, starrte ich sie an. Machte sie sich denn gar keine Sorgen? Fand sie das denn nicht alles viel zu gefährlich? Und überhaupt? Bei Leuten, die sie nicht kannte und so weiter?
Mein Vater zeigte mehr die erwartete Reaktion. Er setzte eine grimmige undurchdringliche Miene auf. Irgendwie beruhigend. „Das müssen wir natürlich besprechen“, begann er unheilvoll. Oh-oh. Ich hatte es gewusst. Mist. Aber meine Mutter überraschte mich erneut.
„Eine hervorragende Chance für dich, Schatz! Dann kannst du endlich deine Spanischkenntnisse verbessern, nicht wahr?“ Ach. Ich verstand die Welt nicht mehr. Sie hatte die ganze Anmeldung damals nur erlaubt, weil mein Lehrer ihr gut zugeredet hatte, von wegen Zukunftschancen und so. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sie von dem ganzen letztendlich so begeistert gewesen war.
„Ähm. Ja. Dachte ich auch“, erwiderte ich als meine Mutter mich mit erwartungsvollem Blick ansah. Ich gab ihr den Brief, um sie zu beschäftigen und war froh, während der restlichen Mahlzeit kaum noch etwas sagen zu müssen. Die meiste Zeit redete meine Mutter auf meinen Vater ein und ich gab ab und zu ein vages ‚Hm’ oder ‚Jaah’ von mir.
Als ich später im Bett lag, kam meine Mutter noch einmal zu mir.
„Mama?“, fragte ich zögernd.
„Ja, Liebling?“ Sie blieb in der Tür stehen.
„Machst du dir überhaupt keine Sorgen um mich?“ Ich musste nicht sagen, worum es ging.
Sie kam noch einmal an mein Bett. „Natürlich mache ich mir Sorgen. Über alles Mögliche, was passieren könnte. Aber das ist eine einzigartige Chance für dich und ich wusste immer, dass du etwas Besonderes bist. So was würde dir gut tun, da bin ich ganz sicher und wenn du es willst, werde ich dich unterstützen.“ Sie lächelte. Und ich musste unwillkürlich zurücklächeln, weil sie mich wirklich liebte. Trotz allem was sie manchmal sagte und tat.
Sie stand auf und ging zur Tür. Doch ich musste ihr noch etwas sagen.
„Ich liebe dich“, sagte ich leise.
„Ich liebe dich auch, Schatz. Und jetzt schlaf gut und denk nicht so viel nach. Du hast noch genug Zeit, um dich zu entscheiden.“ Dann hatte sie die Tür geschlossen und ich war allein in meinem Zimmer. Ihr letzter Satz hallte noch einmal in meinen Gedanken wieder. Ich würde natürlich trotzdem jede Menge nachdenken. Aber nicht über meine Entscheidung. Natürlich würde ich Kathi vermissen. Ich würde Nico vermissen und die anderen. Meine Familie. Aber ich wollte auch etwas Neues und ich würde die Gelegenheit nutzen. Kathi würde mich unterstützen, das wusste ich, und sie würde sich darüber aufregen, dass ich sie nicht sofort angerufen hatte. Nico würde furchtbar enttäuscht sein, aber er würde sich damit abfinden, wenn es etwas war, das mich glücklich machte.
Ich hatte bereits entschieden als ich den Brief zum ersten Mal gelesen hatte. Mein altes Leben war vorüber und bei diesem Gedanken lächelte ich ohne bestimmten Grund in die Dunkelheit meines nächtlichen Zimmers.
Lächelnd und voller Optimismus laufe ich ins offene Messer.
4. Plan A: Bringe deinen Freunden bei, dass sie dich ein halbes Jahr nicht sehen werden.
Manchmal muss man einfach herzlos und selbstsüchtig sein.
Wenn es das Beste ist.
Ich träumte.
Ich wusste es, weil ich mich selbst sah. Ich ging einen Weg entlang. Es war dunkel, aber ich wusste trotzdem genau, wie es vor mir aussah. Je weiter ich ging, desto dunkler schien es zu werden, bis die Umgebung ein einziger Schatten war und ich plötzlich nicht mehr wusste, wo es lang ging. Ich ging jetzt langsamer und fühlte unter meinen Füßen nicht mehr den vertrauten Weg. Es war kalt und ich wusste, dass ich allein war. Und ich suchte etwas. Ich wusste nicht, was es war, aber ich wusste, dass ich diesen Weg gehen konnte wenn ich es nur fand. Ohne etwas zu finden, tasteten meine Hände in die Dunkelheit…
Ich fuhr hoch. Ich schloss kurz die Augen und atmete tief durch, dann fühlte ich mich wieder ganz da. In der Realität. Es wurde schon langsam hell und die Leuchtziffern meines Weckers zeigten kurz nach acht an, noch ungewöhnlich früh für meine Schlafverhältnisse. Langsam wurden meine Gedanken wieder von den Ereignissen gestern eingeholt und ich erwog kurz, einfach den ganzen Tag im Bett zu bleiben und mit niemandem zu sprechen; entschied dann aber, dass Kathi in dem Fall vermutlich vorbeikommen würde und setzte mich auf. Ich ging zum Fenster und sah auf unseren kleinen Hof hinaus, meine Mutter war schon weg. Am Sonntag half sie immer im Altenheim neben dem Krankenhaus, in dem sie arbeitete. Sie beschwerte sich oft darüber, dass sie so viel zu tun hatte, aber ich vermutete, dass sie insgeheim die ganze Arbeit absichtlich auf sich nahm, um irgendetwas machen zu können. Ich beschloss, mit Kathi Kriegsrat zu halten, bevor der Tag richtig anfing und ich kompliziertere Gespräche mit Nico oder Alicia führen musste. Bei Kathi zuhause fing der Tag um 6 Uhr morgens schon an und so wie ich sie kannte, hatte sie schon geduscht und gefrühstückt und schrieb jetzt gerade wahrscheinlich irgendwas in eines ihrer unzähligen Notizbücher. Oder sie versuchte mich wach zu klingeln. Zum Glück hatte ich mein Handy ausgeschaltet.
Wie erwartet waren mein Vater und Betty noch nicht auf und ich schrieb eine kurze Notiz, dass ich weg war. Kathi wohnte nur ein paar Straßen weiter und ich war mit dem Rad in wenigen Minuten bei ihr. Bevor ich auch nur absteigen konnte, wurde die Haustür schon aufgerissen.
„Ist euer Telefon kaputt?“
„Eigentlich nicht.“ Ich stellte das Rad ab und folgte ihr ins Haus.
„Du hättest mich zurückrufen können“, meinte Kathi anklagend während wir die Treppe hinauf zu ihrem Zimmer gingen, „nach dem was gestern war. Ich mach mir Sorgen, okay? Und außerdem-“
„Vergiss das von gestern, wir haben ein anderes Problem. Ich wurde angenommen“, unterbrach ich sie ungeduldig und ließ mich auf ihr Bett fallen.
„Hä?“, machte meine beste Freundin nach einer Weile verständnislos und wütend zugleich, weil sie mir nicht folgen konnte.
„Weißt du noch, Ende der achten Klasse, als wir uns-“, begann ich, aber sie hatte es schon kapiert. „Sechs Monate Spanien?!“, fuhr sie aufgeregt dazwischen, so als wäre sie es, die diese Neuigkeit gerade bekommen hatte. „Oh mein Gott, ich glaub’s
ja nicht! Also nicht dass unsere Bewerbung nicht allererste Sahne gewesen ist, aber das ist… wow
. Und das erzählst du mir erst jetzt?! Du hättest mich anrufen können, verdammt. Na ja, egal. Wohin geht’s denn? Wie ist deine Gastfamilie?“, sprudelte sie hervor, ihr Gehirn schon zehn Schritte weiter.
„Ähm“, machte ich wenig geistreich, um ihren Redeschwall zu stoppen.
Sie sah auf. „Was? Warum sitzt du hier überhaupt noch? Du solltest vielleicht mal bei der Anmeldungsstelle für das Programm anrufen, ich weiß nicht genau, wie viel Gepäck man mitnehmen darf…“
„Du meinst, ich sollte gehen.“ Eine Feststellung, keine Frage. War ja klar gewesen.
Kathi starrte mich an wie eine Außerirdische. „Oh. Nein. Du hast das nicht wirklich abgesagt, oder? Bist du verrückt?! Hoffentlich ist es noch nicht zu spät, da lässt sich bestimmt noch was machen“, überlegte sie rasend schnell. Das Mädchen gehörte in irgendein Wissenschaftslabor, wo sie ohne Ende nachdenken konnte.
„Nein! Hör mir doch mal zu! Ich hab’s ja gar nicht abgesagt. Aber meinst du nicht, dass das ganze bei Nico und so vielleicht nicht so gut kommt?“, sagte ich schnell als sie Luft holen musste. „Und mein Vater ist auch nicht wirklich begeistert – meine Ma würde mich zwar unterstützen, aber er fand das von Anfang an nicht so gut“, redete ich weiter.
„Ach Quatsch, natürlich werden sie das erlauben! Meine Eltern können mit deinen reden, das ist kein Problem. Und mach dir über Nico keine Sorgen, ich sage immer, ei ne Beziehung muss auf die Probe gestellt werden“, erwiderte Kathi. „Und ganz vielleicht krieg ich auch noch eine Annahme und dann können wir das alles zusammen machen! Oh man, das wird super! Dann brauchen wir uns auch keine Sorgen um die andere machen, weil wir beide gleichzeitig weg sind – und wir können uns immer schreiben und telefonieren und so, ist ja klar. Oh, ich hoffe, du bist am Meer, dann musst du unbedingt Fotos machen, okay?“ Wenn ich es wollte, würde Kathi mein ganzes Leben für mich organisieren. Himmel, das Mädchen hatte irgendeinen Sinn dazu. Ich bewunderte immer wieder ihre Selbstlosigkeit – wie konnte man sich nur so sehr für jemand anderen freuen?!
„Ich weiß gar nicht genau, wo ich hin soll… Galicien? Weißt du, wo das liegt?“, wagte ich eine kurze Frage. Erdkunde war nicht gerade meine Stärke und abgesehen davon hatte ich mich um die näheren Details noch gar nicht gekümmert. Ich war froh, Kathi bei mir zu haben, die sich intensiv mit der Sache beschäftigte und sich da reinhängte.
„Das hätte ich an deiner Stelle schon längst nachgeguckt“, seufzte sie lächelnd und fügte hinzu: „Allerdings weiß ich das zufällig. Galicien liegt im Nordwesten Spaniens und grenzt im Süden an Portugal. Du hast ein Glück, es liegt direkt am Meer, da kannst du dauernd baden gehen. Man, da wollte ich schon immer mal hin. Fotografier alles, okay?“
Während sie ununterbrochen redete versuchte ich einfach, möglichst viele Informationen abzuspeichern und ihr einigermaßen zu folgen. Und irgendwie ließ ich mich von ihrer Begeisterung tatsächlich mitreißen und erlaubte ein kleines Gefühl der Vorfreude.
„Du hast den Brief doch dabei, oder? Zeig mal her.“ Ich ließ Kathi das Schreiben durchlesen, ich hatte es mitgenommen, weil ich schon vermutet hatte, dass sie darauf zählte.
„Okay“, meinte sie nach einer Weile, „du bekommst in der Schule jede Menge Kram zum Ausfüllen, aber dabei helfe ich dir. Und du brauchst natürlich eine Erlaubnis der Eltern, der Schule und so weiter – das volle Programm. Mein Gott, wir müssen uns beeilen, der Flug muss ja gebucht werden und alles!“ Sie murmelte noch allerhand weitere Dinge vor sich hin und ich hörte nur noch mit halbem Ohr zu. Nach einer Weile war sie verstummt und sah tausend unwichtige Sachen im Internet nach.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte ich schließlich zögernd.
Kathi drehte auf ihrem Schreibtischstuhl zu mir herum und sah mich an. Ihre Augen leuchteten, so wie immer, wenn sie eine neue Aufgabe für sich gefunden hatte.
„Tja, ich würde sagen, du solltest es Nico sagen. Je länger er Zeit hat, sich an den Gedanken zu gewöhnen, desto besser. Und es kommt wahrscheinlich nicht so gut, wenn er es von Alicia oder so erfährt.“
Ich hatte es befürchtet. „Er wird Schluss machen“, jammerte ich pessimistisch.
Kathi verdrehte die Augen. „Wird er nicht. Weil er nämlich verrückt nach dir ist. Mach dir keine Sorgen um ihn, du musst ihm klar machen, dass dir das Ganze wichtig ist und so und er wird es überleben. Und am besten rufst du ihn jetzt direkt an, dass du gleich bei ihm vorbeikommst.“ Sie warf mir ihr Handy zu.
Ich seufzte. „Na gut.“ Ich wählte seine Nummer und wartete nervös. Er nahm nach dem ersten Klingeln ab. „Jenny?“ Er klang erleichtert und besorgt zugleich. Ohne mich zu Wort kommen zu lassen redete er drauflos: „Hör mal, wegen gestern, wenn ich irgendwas Falsches gesagt hab-“
„Hey, mach dir keine Sorgen. Das war nichts wegen dir, okay? Ein kleiner Ausrutscher. Ähm… meine Sachen sind ja noch bei dir. Ist es okay wenn ich mal eben vorbeikomme?“, unterbrach ich ihn.
„Ach so. Okay. Deine Sachen? Ich kann sie auch zu dir bringen, das ist kein Problem…“, meinte er. Mist.
„Das ist, öhm, total nett von dir, aber ich komm lieber zu dir, okay? Ich muss mit dir reden.“ Kathi verdrehte die Augen über meine melodramatische Andeutung. Ich funkelte sie böse an und drehte mich weg, um sie nicht länger ansehen zu müssen.
„Wenn du das willst… ich warte auf dich“, sagte Nico nach einer Weile.
„Danke. Bis gleich“, entgegnete ich erleichtert.
„Bis gleich. Ich liebe dich.“
Ich schluckte. Fragte sich nur, wie lange noch. „Ich dich auch.“ Ich legte auf.
„Auffälliger ging’s ja wohl nicht. ‚Ich muss mit dir reden.’ Wahrscheinlich denkt er, du hast einen Neuen oder so“, kommentierte Kathi. Dann seufzte sie. „Dann mach dich schon auf den Weg. Und mach schnell wenn’s geht, ja?“
„Ja, Ma’am“, erwiderte ich grinsend und schloss die Tür zu ihrem Zimmer hinter mir. Ich beeilte mich nicht besonders auf dem Weg, ich hatte genug damit zutun, darüber nachzudenken, was ich Nico am besten sagen konnte. Ich hatte Angst, dass er verletzt sein könnte oder enttäuscht von mir…
Und natürlich war ich unglaublich nervös als ich schließlich die Treppen zur Wohnung von Nico und seiner Mutter hochstieg und klingelte. Er öffnete sofort, ganz offensichtlich hatte er auf mich gewartet.
„Hey.“ Er begrüßte mich mit einer Umarmung. „Alles okay bei dir?“
Das schlechte Gewissen stand mir wohl ins Gesicht geschrieben. Ich versuchte ein Lächeln. „Klar.“ Ich folgte ihm ins Wohnzimmer, wo er meine Sachen schon sorgfältig zusammengepackt hatte. „Danke.“ Unschlüssig blieb ich stehen. Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte und zum Glück schien Nico zu merken, dass ich jetzt dringend mit ihm reden wollte.
„Setz dich ruhig, ich hab Kakao gemacht“, meinte er und ging in die Küche. Erleichtert, dass er den Übergang zu einem Gespräch geschaffen hatte, ließ ich mich auf der vertrauten Couch nieder. Kurz darauf kam er wieder, mit einem Tablett auf dem ein Teller mit meinen Lieblingskeksen und zwei dampfende Tassen standen. Ich lächelte verkrampft. Sollte nicht eher ich diejenige sein, die ihm etwas Gutes tat in Voraussicht auf das, was ich ihm gleich sagen würde? Er setzte sich neben mich und stellte das Tablett auf den Sofatisch, gab mir eine Tasse und lehnte sich mit seiner eigenen zurück. Ich wusste, er erwartete von mir, dass ich ihm jetzt erzählte, was ich auf dem Herzen hatte. Ich atmete tief durch. So schlimm konnte es gar nicht werden.
„Okay. Sei bitte nicht sauer, ja?“, begann ich zur Sicherheit.
Er sah mich skeptisch an. „Habe ich denn einen Grund dazu?“
„Na ja. Eigentlich nicht, aber… ach, bleib einfach ruhig.“
Er sah verwirrt aus, nickte mir aber aufmunternd zu.
„Also. Erinnerst du dich noch daran, dass Kathi und ich uns mal bei dieser Auslandsreisen-Sache angemeldet haben? Du warst ja in der 8. noch nicht bei uns, aber wir haben nach den Sommerferien von nichts anderem gesprochen“, begann ich. Nico nickte. „Tja, wir haben beide keine Benachrichtigung gekriegt und hatten es mittlerweile vergessen (oder ich zumindest, Kathi hat wahrscheinlich im Unterbewusstsein immer dran gedacht so schnell wie sie das Ganze kapiert hat, korrigierte ich mich in Gedanken). Und als ich gestern Abend nach Hause kam, hatte ich einen Brief von der Schule bekommen und, ähm, wurde jetzt doch noch angenommen“, fuhr ich unsicher fort. Nicos Gesichtsausdruck hielt mich davon ab, weiter zu sprechen. Oh-oh.
„Es tut mir-“, setzte ich ängstlich an, aber er unterbrach mich: „Du gehst nach Spanien?“ Er klang entsetzlich leblos. Sein Gesicht, das vorhin noch ungläubig ausgesehen hatte, war nun zu einer bewegungslosen Maske gefroren. Verdammt. Ich wünschte mir, jetzt einfach weglaufen zu können. Bevor ich etwas erwidern konnte, sprach er auch schon weiter: „Sechs Monate?!“ Es klang furchtbar, so wie er es sagte.
„Du hast nie gesagt, dass du etwas dagegen hast, damals“, sagte ich hilflos.
„Da war ja auch alles noch ganz anders!“, rief er aus, zu aufgewühlt um seine Gefühle zu verbergen. „Ich kannte dich ja gerade erst ein paar Wochen! Wir waren nicht zusammen! Ich dachte, wir…“ Er beendete den Satz nicht und sah mich verzweifelt an, in der Hoffnung, dass das alles ein Scherz war und ich gleich anfangen würde zu lachen.
„Es tut mir leid“, flüsterte ich.
Plötzlich sah er mehr ängstlich als ärgerlich aus. „Ist es wegen mir? Du musst es nur sagen, ich kann dich eine Weile in Ruhe lassen und dir mehr Freiraum geben. Sag, was ich tun kann, aber bitte bleib bei mir. Hat es was mit gestern zutun? Hab ich was falsch gemacht?“
„Nein!“, rief ich aus, entsetzt darüber, dass er sich die Schuld gab, selbst jetzt noch. „Hör mir bitte zu. Es ist überhaupt nicht wegen dir, okay? Und vergiss das gestern, das hat nichts damit zutun! Ich mache es nicht, um Abstand von dir zu bekommen. Es ist einfach diese einzigartige Chance, verstehst du? Einfach mal ein halbes Jahr nach Spanien – die Möglichkeit bekomme ich nie wieder!“, argumentierte ich. Ich betete, dass er mich verstehen würde, so wie er es schon so oft getan hatte. Erleichtert sah ich, dass er etwas ruhiger wurde.
„Muss es wirklich sein? Sechs Monate sind eine lange Zeit.“ Er sah mich nun offen flehend an. Ich hasste mich dafür, ihn so verletzt zu haben.
„Ich würde es gerne machen. Und wir können ja auch telefonieren und mailen, ich bin ja nicht aus der Welt. Außerdem sind in dem halben Jahr auch Sommerferien und da fliegst du doch sowieso mit deiner Ma nach Rom.“
Er sah mich an. „Sommerferien? So bald schon? Ich dachte, in der 10. erst…“
Ich erwiderte seinen Blick fest. Meine Entscheidung steht, redete ich mir ein, er soll es wissen. „Es geht von Mai bis Oktober.“
Er nickte, seine Emotionen hatte er wieder unter Kontrolle. „So bald schon“, murmelte er.
Ich biss mir auf die Lippe und nickte dann. „Es ist extra so gelegt, dass man nicht das ganze erste Halbjahr der 10. verpasst“, setzte ich hinzu, weil ich das Gefühl hatte, noch etwas sagen zu müssen.
Er nickte wieder nur. „Du hast entschieden“, stellte er nüchtern fest und ich wünschte, ich könnte es guten Gewissens abstreiten – aber keine Chance. Er wusste es sowieso schon.
„Ja.“ Ich sah zu Boden. Nach einer Weile des Schweigens stand ich auf, ich hatte meinen Kakao nicht einmal angerührt. „Ich geh wohl besser mal.“
Er blieb sitzen. „Das kommt… überraschend. Und ich möchte nicht, dass du gehst. Aber wenn du es willst, dann werde ich nicht versuchen, dich davon abzuhalten. Ich brauche ein bisschen Zeit zum Nachdenken, okay?“
Wenigstens das. Ich seufzte erleichtert. „Ich wusste, du würdest mich verstehen. Danke. Für alles. Du kannst soviel nachdenken wie du willst. Ich liebe dich.“
Er sah mich an und ein kleines Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Ein bisschen wehmütig, aber auch verständnisvoll. „Ich liebe dich auch.“
Ich lächelte zurück, dann nahm ich meine Sachen und ging. Er hielt mich nicht zurück.
Ich sah mich nicht noch einmal um und hielt erst an als ich wieder bei Kathi war, wieder war sie in Windeseile an der Tür. „Wie war’s?“, fragte sie besorgt, offensichtlich war sie doch nicht so optimistisch gewesen wie sie zuvor getan hatte.
Ich antwortete ihr erst als wir wieder in ihrem Zimmer waren. „Es war… nicht so. Er war ziemlich enttäuscht, glaube ich.“ Niedergeschlagen erzählte ich meiner besten Freundin von unserem Gespräch. „Du hättest sein Gesicht sehen müssen“, beendete ich meinen Bericht unglücklich. Kathi nahm mich in den Arm.
„Aber letztendlich hat er doch gesagt, dass er dich nicht davon abbringen will, stimmt’s? Er wird drüber nachdenken, aber er wird nicht lange brauchen. Er liebt dich und du wirst sehen, schließlich wird er dich dann auch unterstützen“, meinte sie, aber ich hörte gar nicht richtig zu. Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander.
„Und was jetzt?“, fragte ich schließlich.
„Es bleiben noch Alicia, Janni und Michelle“, erinnerte Kathi mich vorsichtig.
„Aber es steht doch noch gar nicht richtig fest“, widersprach ich schwach.
„Deine Mutter wird deinen Vater umstimmen und die Schule ist einverstanden. Was steht dir noch im Weg? Ich hab mir übrigens während du weg warst mal die Informationen zu deiner Gastfamilie angesehen. José Diaz und Naiara Comez, beide werden demnächst 22 und so wie ich das verstehe, auch bald verlobt. Und ich hab mal ein bisschen gegoogelt, der Ort liegt tatsächlich am Meer“, erklärte Kathi strahlend. Ich lächelte halbherzig zurück.
„Ich ruf die anderen lieber von zuhause an, okay? Wir sehen uns ja morgen in der Schule“, meinte ich und stand auf.
„Na gut. Ich versprech’s, dir, das wird genial.“ Kathi umarmte mich noch einmal und brachte mich zur Tür. Ich stieg auf mein Rad und machte mich auf den Weg nach Hause, mittlerweile war es Mittag.
Ich war nicht besonders scharf darauf, noch mehr meiner Freunde zu verletzen, aber Kathi hatte recht – je schneller desto besser. Mein Vater begrüßte mich kurz, kam aber nicht auf das Spanien-Thema zu sprechen, darüber war ich auch ganz froh, ich würde heute noch genug Leuten erklären müssen, was ich vorhatte. Seufzend nahm ich das Telefon mit auf mein Zimmer und wählte Michelles Nummer…
Als ich an diesem Abend im Bett lag, hatte ich vier Telefongespräche und eine Diskussion mit meinen Eltern hinter mir. Meine Freundinnen hatten ganz verschieden reagiert, Michelle war einsichtig wie immer und verstand mich voll ganz – wofür ich sehr dankbar war, nach dem niederschmetternden Gespräch mit Nico. Alicia war zunächst entsetzt und enttäuscht, gab aber schnell nach, als ich ihr versprach nach heißen Spaniern Ausschau zu halten und ihr wenn möglich ein paar Kontakte zu verschaffen. Janina war ebenfalls traurig (und eigentlich tat es ganz gut zu wissen, dass man seinen Freunden nicht egal war) und versuchte, mich umzustimmen – was zu diesem Zeitpunkt jedoch überhaupt keinen Sinn mehr hatte, da ich zuvor schon mit meinen Eltern geredet hatte. Mein Vater hatte betont, dass noch nichts entschieden war, aber sein Widerstand bröckelte bereits und meine Mutter stürzte sich fast so begeistert in Planungen wie Kathi. Schließlich hatte ich auch noch einmal mit Letzterer gesprochen, weil sie natürlich wissen wollte, wie es gelaufen war und mich mit weiteren Informationen überschüttete. Ich wusste, wie gerne sie das alles auch für sich tun wollte und hoffte für sie, dass sie noch eine Annahme aus England bekam – bei Kathis Noten war all das noch weniger ein Problem als bei mir. Außerdem würde mir der Abschied von ihr dann nicht so schwer fallen, weil ich wüsste, dass sie sowieso woanders war.
Der Abschied. Ich hatte Angst davor, auch wenn meine Mutter und Kathi mich mittlerweile so sehr mitgerissen hatten, dass ich mich schon ziemlich freute. Es waren zwar noch mehr als drei Monate, aber ich wusste, dass die Zeit schneller vergehen würde als es jetzt denn Anschein hatte. Und es machte mir Angst, dass überhaupt alles so schnell über die Bühne ging – ich hatte ja gestern erst die Benachrichtigung bekommen und nun hatte es beinahe den Anschein, als wäre es eine seit Wochen beschlossene Sache.
Besorgt und mit Nicos enttäuschtem Gesicht vor Augen schlief ich schließlich spät ein.
Das Einzige, was im Leben bleibt, ist die Veränderung.
5. Plan B: Bekomme alles irgendwie wieder in Ordnung.
Die Wege sind da, du musst sie nur gehen.
Kathi behielt natürlich recht, wie immer. Noch bevor ich am nächsten Tag in die Schule fuhr, bekam ich eine SMS von Nico, dass er mich noch einmal bat, hier zu bleiben, meine Entscheidung aber hinnahm und mich so gut es ging unterstützen würde. Ich war unendlich erleichtert und dankbar, dass er mich verstand.
In der Schule wurde ich von meiner Clique überfallen, sie waren fast so schlimm wie Kathi und wollten natürlich absolut alles wissen – ich erzählte ein bisschen, bis ich die Unterhaltung zum Laufen gebracht hatte und musste dann nur noch dabeistehen.
In der Pause holte ich mit Kathi sämtliche Ausfüllformulare vom Sekretariat ab und führte nach dem Unterricht noch ein Gespräch mit meinem Spanischlehrer, weil sowohl Kathi als auch meiner Mutter der Meinung waren, dass ich meine Sprachkenntnisse unbedingt noch verbessern sollte. Eigentlich war Spanisch mein Lieblingsfach, aber auf Extrastunden hatte ich überhaupt keine Lust. Ich stimmte zu, statt einer Stunde Chemie und einer Kunst (die anderen beiden Fächer, in denen ich relativ gut war) noch zweimal pro Woche am Unterricht der 10. Klasse teilzunehmen, da mein Lehrer mir versicherte, dass ich dort leicht rein finden würde.
Außerdem ermunterte er mich dazu, mich per E-Mail mit meiner zukünftigen Gastfamilie in Kontakt zu setzen. Kathi war von diesem Vorschlag ganz begeistert und kam nach der Schule direkt mit zu mir, wo wir nach sorgfältig gemachten Hausaufgaben („Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!“, ermahnte Kathi mich) ewig überlegten, was wir am besten schreiben sollten. Kathi war dafür, auf Spanisch zu schreiben, aber ich konnte sie zum Glück davon überzeugen, dass Englisch für den Anfang völlig ausreichte, wie ebenfalls in dem Brief gestanden hatte – so viel Spanisch traute ich mir dann doch nicht zu und Kathi war in Italienisch und somit keine große Hilfe. Nach einer halbem Ewigkei war sie endlich zufrieden und erlaubte mir, abzuschicken - auch wenn es mich extrem nervös machte, darunter meinen Namen zu setzen.
„Ich bin gespannt, wie die da so sind“, rätselte sie, so als wäre sie es, die ein halbes Jahr mit zwei Fremden verbringen würde. „Versprich mir, dass du mir ganz oft mailst, ja?“
Ich hatte schon tausend Sachen versprochen und stimmte auch dem zu, in der Hoffnung, dass sie dann etwas Ruhe geben würde. Natürlich vergebens.
Nur vier Tage später änderte alles sich noch einmal gewaltig.
Ich war gerade mit dem Mittagessen fertig, als das Telefon klingelte. Es war Kathi und bevor ich mehr als Hallo sagen konnte, sprudelten die Neuigkeiten schon aus ihr heraus.
„Halt dich fest, ich wurde auch angenommen! Ich hab auch so einen Brief bekommen und ich kann nach England! Ist das geil oder ist das geil?!“ Sie klang als würde sie gerade überschnappen vor Begeisterung.
„Wow. Das ist super“, sagte ich so enthusiastisch wie möglich. Einerseits war ich froh, dass Kathi jetzt auch ihren Wunsch erfüllt bekam, andrerseits war ich mir ziemlich sicher, dass das doppelt so viel Stress bedeutete.
„Unsere Eltern können dann zusammen planen, meine Mutter will noch heute mit deiner sprechen. Und sie hat schon mit der Schule gesprochen und stell dir vor, wir können beide am gleichen Tag einen Flug aus Münster nehmen!“, fuhr sie fort. Kathis Mutter war genauso wie ihre Tochter – sie organisierte alles sofort und dachte ausnahmslos an alles. In der Familie wurde man von Unternehmungsdrang nur so überrannt, so war ich kein bisschen verwundert, dass die Flüge schon so gut wie gebucht waren.
Von diesem Zeitpunkt an war Kathi noch aufgeregter als vorher (etwas, das ich für unmöglich gehalten hatte) und gewöhnte es sich an, mich ab und zu auf Englisch anzusprechen, was nach einer Weile total nervtötend und war und mir ziemlich albern vorkam, sodass ich immer absichtlich auf Deutsch antwortete, was bei ihr einen Vortrag über gute Sprachkenntnisse hervorrief.
So war ich froh, manchmal zu Nico flüchten zu können, der das ganze Thema von alleine kaum anschnitt. Auch wenn er es nie zugeben würde und ich mich hütete, ihn darauf anzusprechen, war ich mir ziemlich sicher, dass er absichtlich viel Zeit mit mir verbrachte – so lange es noch ging. Dieser Gedanke machte mich mit jedem Mal wieder traurig, ich wusste, dass es ihn nicht wirklich tröstete, dass ich ihm schreiben und ihn anrufen würde.
„Ich habe Angst, dass unsere Beziehung irgendwie untergeht, verstehst du? Man kriegt ja mit, wie das mit Fernbeziehungen so läuft“, meinte er an einem Abend als ich bei ihm war und wir doch einmal auf das Thema zu sprechen kamen.
„Ich weiß. Aber wenn wir beide daran glauben, dann geht es auch. Und sechs Monate sind nicht für immer, sie werden ganz schnell vergehen“, entgegnete ich so optimistisch wie möglich.
„Mir werden sie sehr lange vorkommen. Ich vermisse dich schon, wenn ich nur daran denke.“
Ich rutschte näher an ihn heran und küsste ihn sanft. „Denk nicht daran. Wir haben noch ein paar Wochen.“
Er seufzte leise und legte einen Arm um meine Schultern. „Nur ein paar Wochen“, echote er wehmütig. Ich hasste es, ihn so zu sehen. Ich hasste es, wenn ich sah, wie sehr ihm das Ganze zu schaffen machte, auch wenn er es nicht zugab. Und am meisten hasste ich es zu wissen, dass ich ihm das alles antat.
„Meine Ma hat gesagt, dass du mit zum Flughafen fahren kannst wenn du willst, aber du musst das nicht, okay? Ich möchte es dir nicht noch schwerer machen“, sagte ich leise.
„In welchem Paralleluniversum lebst du?! Natürlich werde ich mitkommen wenn ich dich dann noch länger sehen kann“, erwiderte er und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich schloss einen Moment die Augen und genoss die Berührung. Bald würde ich das alles für eine ganze Weile nicht fühlen können.
„Danke“, flüsterte ich, „ich hatte gehofft, dass du das sagst. Ich werde dich auch vermissen. Du bist der beste Freund, den man sich wünschen kann.“
„Und du bist die allerbeste Freundin.“ Er küsste mich und ich ließ zu, dass ich für eine Weile vergas, dass wir bald getrennt sein würden.
Ich war oft an solchen Abenden bei ihm und wir redeten mehr als sonst. Weil nicht mehr viel Zeit war. Und dennoch schaffte Kathi es immer wieder, mich zu begeistern und ich sah der Zukunft voller Erwartung und Freude entgegen.
Ich bekam bald eine Antwort auf unsere Mail an das junge Paar in Spanien und brauchte keine Hilfe mehr bei den folgenden Mails, die wir austauschten. Sie schienen nett zu sein und schickten mir Fotos von sich und ihrem Haus am Meer. Ich war von beidem begeistert, auch wenn sie in schwarzweiß waren und man nicht so viel erkennen konnte.
Auch Kathi setzte sich mit ihrer Gastfamilie in Kontakt, sie sollte zu einem Paar und deren beiden Kindern kommen. Das Mädchen war etwa so alt wie wir und offenbar genauso aufgeregt wie Kathi.
Janni freute sich schließlich doch für uns und Alicia war ein wenig besorgt, weil ihre Clique eine Weile mit zwei Mitgliedern weniger auskommen musste.
Und die Zeit verstrich unaufhaltsam. Janni schleppte uns zu Svens Geburtstag auf einen Leichtathletikwettkampf mit und am Rosenmontag waren wir nach der Schule alle voller Rasierschaum und buntem Haarspray, was nicht nur meine Mutter enorm aufregte. Mein Spanischlehrer war begeistert von meinen Fortschritten und Kathi schrieb – wie auch vorher schon – tadellose Arbeiten in Englisch.
„Wahrscheinlich wirst du besser sprechen als die dort“, meinte ich an einem Samstagabend, an dem ich bei ihr übernachtete.
Kathi lachte. „Na ja, so gut bin ich nun auch wieder nicht. Sie lernen da ja auch Deutsch, aber ich möchte es eigentlich mit Englisch versuchen.“
Wir schwiegen einen Moment. Ich wollte ihr noch etwas, wusste aber nicht wie ich anfangen sollte. „Kathi?“, fragte ich nach einer Weile.
„Hm?“ Sie klang als wäre sie schon halb am Schlafen.
„Ich freu mich auf Spanien und das alles und danke, dass du mir so viel geholfen hast. Aber ich werde dich vermissen.“
Einen Moment blieb sie still. „Ich werde dich auch vermissen. Mehr als du denkst. Vielleicht merkt man es mir nicht so an, aber ich blicke eben nach vorn und versuche, das Beste daraus zu machen und das Positive zu sehen“, sagte sie dann leise.
Ich lächelte in die Dunkelheit. „Ich weiß. Aber ich möchte, dass du das nicht vergisst.“
„Werd ich nicht. Versprochen.“
„Okay. Nacht.“
„Gute Nacht.“ Nur wenige Minuten später wurde ihr Atem ruhig und gleichmäßig.
Aber ich konnte noch nicht schlafen. Ich fragte mich, wie es sein würde, wenn meine Mutter mich nicht morgens aus dem Bett scheuchte und ich bei den Hausaufgaben nicht Betty mit ihren Freundinnen spielen hörte. Ungewohnt, ja. Aber würde ich es vermissen? Ich war mir nicht sicher. Ich war froh, auch mal etwas für mich alleine zu haben, nicht immer unter der Obhut meiner Eltern zu stehen, unabhängig zu sein. Die Frage war nur, wie unabhängig. Ich schätzte José und Naiara nicht so ein, dass sie mich wie ein Kind behandeln würden, zumal sie selbst ja auch nicht so viel älter waren, aber man konnte ja nie wissen… Wenn ich es mir so recht überlegte, war ich nie viel herumgekommen. Jeden Sommer fuhr ich mit meiner Familie zu Freunden nach Belgien und ab und zu nach Österreich. In dieser Hinsicht wünschte ich mir oft Nicos unkomplizierte Mutter, die mit ihm immer woanders hinflog oder Alicias Onkel in Australien. Aber bevor ich meine Freunde noch weiter beneiden konnte, war ich schon eingeschlafen.
Ich träumte oft wieder von mir und dem Weg im Dunklen. Von der Kälte. Mittlerweile wusste ich, an welcher Stelle ich verlässlich aufwachte und erschrak nicht mehr. Kathi behauptete, es wäre ein Zeichen, als ich ihr davon erzählte - aber ich glaubte nicht an so was.
Zu Ostern fuhr ich mit Betty zu unserer Tante in München und aß dort so viel Schokolade, dass es für die nächsten zehn Jahre reichen würde. Betty liebte das Ganze mit Eiersuchen und so weiter und ihr zuliebe machte ich mit.
Meine Zeit in Osnabrück neigte sich dem Ende zu und Mitte April veranstaltete Alicia eine Abschlussparty für Kathi und mich, auch wenn wir einstimmig protestierten, dass das total überflüssig war.
„Es sind nur sechs Monate, okay?“, grummelte Kathi als wir in dem riesigen Wintergarten von Michelles Haus saßen und Janni den Kuchen anschnitt.
„Seid nicht so langweilig, eure Geschenke sind schon gekauft, wir sind in der Überzahl – ihr hab nicht die geringste Chance“, stellte Alicia ohne jegliches Mitleid fest.
„Wir haben aber gar keine Geschenke für euch“, gab ich schuldbewusst zu als ich den kleinen Berg aus verpackten Päckchen entdeckte. Kathi und ich hatten ausgemacht, uns gegenseitig nichts zu schenken. Um den Schein zu wahren, dass es nicht lange war.
„Ihr schreibt uns und macht einfach jede Menge Fotos als Entschädigung“, schlug Janni großzügig vor und drückte uns beiden jeweils ein kleines Geschenk in die Hände. „Und jetzt macht schon auf. Von Alicia und mir.“
„Hmpf“, machte ich wenig begeistert und riss das Papier auf. Es waren bunte Badeshorts und eine gigantische Sonnenbrille, an dessen Rand in silberner Schrift klein ‚We love you’ geschrieben stand.
„Damit du auch richtig ausgerüstet bist“, meinte Alicia etwas nervös bevor ich auch nur den Mund aufmachen konnte, „und damit du dich daran erinnerst, dass wir dich über alles lieben wenn du gerade am Strand in der Sonne liegst.“
„Danke, das ist echt total nett“, sagte ich wahrheitsgemäß und umarmte beide. So ging es weiter, ich bekam drei Tafeln meiner Lieblingsschokolade von Michelle („Ich weiß, dass das Essen im Flugzeug nicht so toll ist…“) und eine Kette mit einem halben Herzanhänger von Nico.
„Ich hab die andere. Damit wir uns nie vergessen“, sagte er und lächelte.
„Ihr tut so, als wären wir für immer weg“, grummelte Kathi als wir wenig später den Kuchen aßen. Ich konnte ihr in dieser Hinsicht nur zustimmen, mit jedem weiteren Geschenk war ich nervöser geworden und hatte mehr denn je das Gefühl, sehr viel zurückzulassen. Als ob danach alles anders wäre. Nie wieder dasselbe… Dieser Gedanke versetzte mir einen Stich und ich verscheuchte ihn schnell.
Es wäre wahrscheinlich noch ein sehr langer Abend geworden wenn ich Kathi nicht dazu überredet hätte zu gehen, sobald es anfing zu dämmern. Ich wollte der Abschiedsstimmung entfliehen, dieser Spannung, die trotz aller aufgesetzten Fröhlichkeit da war und dem Gefühl, dass das das letzte Mal war. Das letzte Mal für immer. Und das war natürlich absurd.
Doch als ich später im Bett lag beschäftigten mich diese Gedanken noch immer. Auf einmal wünschte ich mir, irgendetwas von hier mitnehmen zu können. Nicht so was wie die kleinen Geschenke meiner Freunde, sondern etwas, das schon immer hierher gehörte und mich begleiten würde. Ich spürte, wie mir eine einzelne Träne die Wange hinunterlief und wischte sie ärgerlich fort. Keine Tränen, das hatte ich mir fest vorgenommen. Doch besser jetzt als am Tag der Abreise. Und so liefen stumme Tränen in mein Kissen, bis ich schließlich in einen leichten, unruhigen Schlaf fiel.
Du merkst erst, wie viel dir etwas bedeutet, wenn du dabei bist, es zu verlieren.
Und dann ist es zu spät.
6. Ungewiss
Du kannst nicht wissen, was dein Leben bringen wird.
Du kannst nur du selbst sein und den richtigen Weg einschlagen.
Die letzten Tage zogen an mir vorbei, ohne dass ich es wirklich wahrnahm. Ich traf mich nicht mehr mit den anderen, weil ich das Gefühl hatte, alleine Abschied nehmen zu müssen. Ich brauchte Ruhe, um es für mich selbst zu schaffen, irgendwie einen inneren Abschluss zu finden. Ich sehnte den Tag der Abreise dabei und fürchtete mich gleichzeitig davor, doch ich kam nicht dazu, wirklich darüber nachzudenken, welche meiner Gefühle überwogen.
Meine Mutter hing beinahe den ganzen letzten Tag am Telefon und beriet sich mit Kathis Mutter, während Kathi und ich mit unseren Handys vorlieb nehmen mussten und parallel unsere Koffer packten. Ich hatte den halben Tag damit verbracht, Abschiedsgrüße von Verwandten und Freunden anzunehmen und ein bisschen Smalltalk zu betreiben und so waren wir jetzt letztendlich doch in Eile, obwohl wir alles bis ins Detail geplant hatten. Der Flug ging vormittags und wir würden nicht viel Zeit morgen haben – alles sollte noch an diesem Abend fertig sein.
„Okay, denkst du, ich soll ein paar T-Shirts weniger mitnehmen und lieber noch ein paar Bücher?“, fragte Kathi unsicher.
Ich verdrehte unwillkürlich die Augen. „Vollkommen egal, ich bin sicher, dass du Beides in England besorgen kannst. Sag mir lieber, wo ich das Aufladegerät für mein Handy habe! Ich weiß genau, dass es hier irgendwo sein muss, aber es ist weg
!“ Hektisch suchte ich meine Schubladen durch ohne etwas zu finden.
„Hast du schon auf deinem Schreibtisch nachgesehen? Da liegt es immer“, schlug Kathi wenig hilfreich vor.
„Für wie blöd hältst du mich eigentlich?! Da hab ich natürlich als Allererstes nachge-, ha, ich hab’s!“ Triumphierend warf ich es auf mein Bett, wo schon einige andere Dinge verstreut lagen, die ich mitnehmen wollte.
So ging es noch fast zwei Stunden weiter – dann waren wir beide erstaunlicherweise doch noch fertig geworden. Alles war gepackt, ausgefüllt, gebucht oder abgeschickt, eigentlich musste nur noch ich selbst bereit sein.
Ich hatte Alicia gesagt, sie sollte es lassen, aber spätabends kam sie mit Michelle und Janni noch einmal bei mir vorbei, um sich endgültig zu verabschieden („Wir wollen euch morgen auf keinen Fall aufhalten, nachher verpasst ihr durch uns noch den Flug, also besser noch heute“). Ihre Anwesenheit stresste mich merklich noch mehr und ich fragte mich, wie ich in dieser Nacht jemals schlafen sollte. Alle redeten gleichzeitig auf mich ein und ich nickte und umarmte jeden gefühlte hundertmal.
„Vergiss die Fotos nicht, ja?“
„Schreib so oft es geht!“
„Wir werden dich so vermissen!“
„Wenn du heißen Spaniern begegnest, denk an mich!“
„Wir lieben dich.“
Irgendwann schaffte ich es endlich, sie dazu zu bewegen, zu gehen, mit der Begründung, dass ich unbedingt Schlaf brauchte und Kathi bestimmt schon auf sie wartete.
Ich ließ mir Zeit damit, mich umzuziehen und sah mich noch einmal eingehend in meinem Zimmer um, bevor ich zu Bett ging. Es wirkte durch das Gepäck ebenfalls aufbruchbereit und es machte mich ein bisschen traurig, dass ich die Sachen, die dieses Zimmer zu meinem persönlichen Reich gemacht hatten, größtenteils mitnahm. Es würde lange Zeit leer stehen, aber es war irgendwie tröstlich zu wissen, dass es auf mich warten würde bis ich zurückkam. Wie mein neues Zimmer wohl sein würde…?
Ich seufzte als ich merkte, wie ich schon wieder über den nächsten Tag nachdachte. Hellwach lag ich im Bett und wälzte mich von einer Seite zur anderen. Und irgendwann fühlte ich zu meiner eigenen Überraschung, wie die Hektik des Tages sich bemerkbar machte und ich von Müdigkeit übermannt wurde.
Es war nicht so wie man es immer liest, dass ich mich benommen fühlte und nicht wusste, wo ich war. Ich schlug die Augen auf und alles war sofort glasklar wieder da, als hätte ich seit gestern Abend nur einmal geblinzelt und nicht stundenlang geschlafen. Ich hatte meinen Wecker gar nicht erst gestellt, wohlwissend, dass ich auch so viel zu früh wach sein würde. Ich hatte richtig vermutet, es war gerade erst sieben Uhr, doch es war unmöglich, jetzt noch einmal zu schlafen. Ich fühlte mich nicht wirklich ausgeschlafen, jedoch gut genug, um den Tag einigermaßen zu überleben.
Ich wusste, dass es eigentlich albern war, da der Flug und alles jegliche äußerlichen Vorbereitungen so oder so wieder zunichte machen würde, aber ich hatte hin und her überlegt, was ich anziehen sollte. Eigentlich hatte ich mir am vorigen Abend etwas Gutes und Elegantes zurecht gelegt, doch jetzt erschien es mir lächerlich und ich beschloss, ganz normal in kurzer Hose und T-Shirt zu gehen. Wieso aus mir jemanden machen, der ich nicht war? Sie sollten mich so kennen lernen wie ich war und mich auch so akzeptieren.
Ich machte mich im Bad fertig und verzichtete dabei darauf, irgendwas mit meinen Haaren anzufangen – immer noch mit der Ganz-ich-selbst-sein-Einstellung.
Obwohl es noch so früh war, war meine Mutter schon unten und bereitete das Frühstück vor. Sie schien ebenso aufgeregt wie ich. Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, etwas zu essen und schlang nur schnell ein Toast herunter, weil sie darauf bestand, von wegen kräftig genug für die Reise und so. Mein Vater war längst bei der Arbeit und Betty in der Schule – es war ein ganz normaler Freitag (auch wenn es mir nicht so vorkam) und ich hatte mich von den Beiden schon am gestrigen Abend verabschieden müssen. Ich konnte sie guten Gewissens zurücklassen, ich war sicher, dass sie die perfekte Mutter-Vater-Kind-Familie abgeben würden.
Kathis Eltern mussten ebenfalls arbeiten und so hatte meine Mutter sich freigenommen, um uns zum Flughafen nach Münster zu bringen – Nico würden wir auf dem Weg abholen, er hatte nach ein bisschen Betteln die Erlaubnis von der Schule bekommen, für die ersten Stunden zu fehlen.
Während ich meine Sachen ins Auto trug, nahm ich innerlich noch einmal Abschied von meinem Zuhause. In den nächsten Monaten würde ein anderes, fremdes Haus es für mich ersetzen und ich war nicht sicher, ob ich mich je woanders wirklich zuhause fühlen können würde. Trotzdem nahm ich mir vor, tolerant und offen für Neues zu sein und es zumindest zu versuchen.
„Können wir los, Liebling?“, fragte meine Mutter vom Fahrersitz aus und sah nervös auf die Uhr, obwohl wir noch genug Zeit hatten.
Ich atmete noch einmal tief durch, dann wandte ich dem Haus den Rücken und stieg ein. „Ja. Los geht’s.“
Wir sammelten Kathi und Nico ein und fuhren dann in Richtung Münster, es war nicht sehr weit. Vor meiner Mutter war Nico immer etwas schüchterner – und ich auch – nur Kathi schien so etwas nicht zu kennen. Ich war ihr dankbar, dass sie ein Gespräch am Laufen hielt und so ein unangenehmes Schweigen verhinderte, Nico und ich gaben ab und zu zustimmende Laute von uns und mussten ansonsten nichts weiter tun.
Ich hatte das Gefühl, dass Kathi es absichtlich so eingerichtet hatte, dass ich mit Nico auf der Rückbank saß und war jetzt doch dankbar dafür. Wir redeten nicht, aber suchten doch irgendwie immer Kontakt mit dem Wissen, dass es die letzten gemeinsamen Augenblicke waren. Ich sagte mir, dass das Leben nach diesem halben Jahr genau so weitergehen würde wie jetzt, aber etwas sagte mir, dass das nicht der Fall sein würde. Und es machte mir Angst.
Über diese ganzen Gedanken vergas ich fast, dass ich noch nie in meinem Leben geflogen war, aber irgendwie kam es mir angesichts der Zukunft, die vor mir lag, lächerlich vor, sich über so etwas Belangloses wie mögliche Höhenangst Sorgen zu machen.
Ich war erleichtert, mich um nichts wirklich kümmern zu müssen, als wir endlich am Flughafen ankamen, Kathi lotste meine Mutter zum Parkplatz und ich bekam kaum mit, wie wir von A nach B liefen, mein Gepäck kontrollieren ließen und abgaben, sämtliche Sicherheitskontrollen durchliefen und was man sonst noch alles machen musste und schließlich darauf warteten, dass mein Flugzeug landete. Kathis Flug ging erst eine gute halbe Stunde später und sie würde auch nicht so lange unterwegs sein wie ich. Ich nahm auch Nico nicht wirklich war, obwohl ich seinen Blick auf mir spürte. Ich hasste mich dafür, dass ihm diese Trennung ganz offensichtlich mehr ausmachte als mir und hoffte, dass er sich die Vorstellung, dass ich das Ganze tat, um Abstand von ihm zu bekommen, endgültig aus dem Kopf gestrichen hatte.
Ich spielte mit meiner Kette und sah alle paar Minuten auf die große Uhr, ohne die Zeiger richtig zu sehen.
„Jenny? Komm jetzt, du musst los!“ Die Stimme meiner Mutter erreichte mich irgendwann wie aus weiter Ferne. Ich sah auf und merkte, dass die anderen bereits aufgestanden waren. Hastig nahm ich mein Gepäck und ging zu ihnen hinüber. Kathi umarmte mich.
„Okay. Viel Spaß und schreib mir, ja? Ich weiß, dass Telefonieren teuer wird, aber ab und zu… Ich werde dich vermissen.“
Ich lächelte ein bisschen. „Klar. Mach die Engländer nicht verrückt.“
Sie reichte mich an Nico weiter und jetzt küsste er mich doch noch einmal. „Ich liebe dich. Komm bald wieder zu mir zurück“, flüsterte er.
„Ich liebe dich auch. Und du wirst sehen, ich bin bald wieder da.“ Ich war von mir selbst beeindruckt als ich ihn tatsächlich aufrichtig anlächeln konnte. Seine Erwiderung war eher kläglich.
Auch meine Mutter nahm mich noch einmal fest in den Arm. „Schreib uns, wie es dir geht und was du so machst. Wir haben dich lieb, Schatz. Und jetzt lauf, damit sie nicht ohne dich fliegen.“
Ich nickte und war überrascht, wie leicht mir der Abschied fiel. Vielleicht kam das erst später? Ich sah jeden von ihnen noch einmal an, drei Menschen, die ich liebte und jetzt verließ und ging dann ohne mich noch einmal umzuschauen nach allerletzten Kontrollen durch den langen Gang zum Flugzeug.
Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis ich mein Handgepäck verstaut und mich zu meinem Platz vorgekämpft hatte. Ich war froh, am Fenster sitzen und während dem Flug nach draußen schauen zu können. Neben mir saß eine junge Frau, die ich auf Mitte 20 schätzte und die ich mir gut als unscheinbare, schüchterne Studentin vorstellen konnte.
Eine gefühlte Stunde lang wurde allen Fluggästen gezeigt, wie man im Notfall Rettungswesten anlegte und so weiter und ich zwang mich dazu, aufzupassen.
Ich war fast ein bisschen enttäuscht, als das Flugzeug abhob und es gar nicht so spektakulär war, wie ich es mir vorgestellt hatte. Nach einer Weile begann ein Film auf den kleinen Fernsehern zu laufen, den aber offensichtlich schon sämtliche Leute kannten – darunter auch ich und so schenkte ich dem Bildschirm bald keine Aufmerksamkeit mehr und beobachtete stattdessen, wie draußen der Himmel vorbeizog.
Ich hatte nicht das Gefühl, einsam zu sein, auch wenn ich es vielleicht sollte. Immerhin reiste ich gerade alleine in einem Flugzeug in ein fremdes Land. Aber eigentlich fühlte ich mich gut. Frei. Und manchmal war mir das Alleinsein lieber als Gesellschaft.
Ich hatte nichts zutun und fing irgendwann an, die anderen Leute im Flugzeug zu beobachten und es erwies sich als wesentlich interessanter als die Sicht nach draußen.
Auf der anderen Seite des Ganges saß hintereinander eine vierköpfige Familie, wie es schien ein Vater mit seinen drei Töchtern. Die Jüngste war vielleicht drei oder vier Jahre alt und versuchte permanent, ihrem Vater auf den Schoß zu klettern, der jedoch seine Zeitung lesen wollte.
Das älteste Mädchen sah aus wie 12 und redete auf seine etwas jüngere Schwester ein, in einer Sprache, die ich als Portugiesisch identifizierte. Die Angesprochene reagierte kaum und malte auf dem kleinen ausklappbaren Brett am Sitz vor ihr ein Bild. Ich rätselte eine Weile, wie das zeichnende Mädchen wohl heißen könnte und versuchte in dem fließenden Gequatsche der Ältesten einen Namen herauszuhören (erfolglos), bis irgendwann das Essen gebracht wurde. Mir wurde schon von dem Geruch schlecht und während die Studenten-Frau neben mir es heißhungrig verschlang, atmete ich durch den Mund und schob meine Portion so weit von mir wie möglich.
Ich hätte nicht gedacht, dass ich schlafen könnte, während ich mich hunderte Meter in der Luft befand, aber irgendwie döste ich ein und wurde zwischendurch nur von den sinnlosen Durchsagen geweckt, die darüber informierten, wo man sich gerade befand. Schließlich gab ich es auf und hielt mich wach, indem ich darüber nachdachte, was mich am Ende meiner Reise erwartete. José hatte geschrieben, dass sie mich am Flughafen abholen würden und ich überlegte nervös, was genau das heißen sollte – meinte er den Parkplatz? Vor meinem inneren Auge sah ich mich schon orientierungslos und verwirrt auf dem Flughafengelände herumirren, bis ich von Security-Männern gefunden wurde…
Ich war so in Gedanken versunken, dass ich die Durchsage zur Landung erst wahrnahm, als meine Sitznachbarin aufstand und ihr Handgepäck aus dem Fach über den Sitzen angelte. Erschrocken sah ich auf die Uhr, die Zeit des Flugs war buchstäblich an mir vorübergeflogen. Ich bekam kaum mit, wie wir landeten und schließlich anhielten, weil plötzlich größtes Chaos herrschte - alle Leute ignorierten die Aufforderung, bis zum Stillstand sitzen zu bleiben, und drängten sich in den engen Gang.
In der Aufregung schaltete mein Gehirn irgendwie ab und ich versuchte ohne Erfolg mich daran zu erinnern, was meine Mutter mir gesagt hatte – wo ich lang musste und so weiter. Mehr oder weniger freiwillig folgte ich dem guten alten Gruppenzwang und hielt mich einfach an die vierköpfige Vater-Töchter-Familie aus dem Flugzeug als alle durch die kleine Tür heraus in den langen Gang strömten, der ins Gebäude führte. Die Panik überwältigte mich so sehr, dass ich ganz vergas, mir mit einem Blick durch die Fenster an den Seiten einen ersten Eindruck von Spanien zu verschaffen und ich mich ganz darauf konzentrierte, die dunklen Locken der ältesten Tochter der Familie aus dem Flugzeug nicht aus den Augen zu verlieren, was nicht besonders einfach war, da sie sich zwischen den Leuten hindurchschlängelte als wollte sie mich damit ärgern.
Ich hatte darauf gezählt, dass mich die Schilder irgendwie zur Gepäckausgabe lotsen würden. Und wahrscheinlich konnten sie das sogar. Wenn mein Spanisch ausgereicht hätte, um sie zu lesen, denn ich war einfach davon ausgegangen, dass die Bedeutung in Englisch darunter stand. Stand sie aber nicht. Andere hatten offensichtlich das gleiche Problem, denn vor einem Übersichtsplan drängten sich schon einige Leute, von denen ich einige von meinem Flug wieder erkannte. Seufzend schob ich mich durch die Menschen, die Karte mein Ziel, und bereitete mich mental auf einen längeren Aufenthalt hier auf.
Die Zukunft kann man nicht im Rückspiegel sehen.
7. Kleine Augenblicke, die alles verändern
Niemals werde ich diese Begegnung vergessen. Niemals.
Nach einer Weile gab ich es auf, mich nach vorne kämpfen zu wollen, um einen Blick auf die Übersicht zu erhaschen. Ich wurde von sämtlichen Menschen deutlich überragt und ich sagte mir, dass es mit der Zeit leerer werden würde. Seufzend setzte ich mich auf eine Bank und versuchte, die Panik zu ignorieren, die mich bei dem Gedanken, dass ich im Moment ohne meine Sachen, ohne alles
, dastand, augenblicklich überfiel. Ich ließ meinen Blick schweifen, in der Hoffnung, einen Gang zu entdecken, den auffällig viele Leute nahmen und der mich vielleicht zur Gepäckausgabe führte, aber die Menschen schienen wahllos in alle Richtungen davonzulaufen.
Und dann sah ich sie.
Okay, ich präzisiere, ich sah zuerst ihn
.
Aber man sollte dazu sagen, dass ich jedes Recht dazu hatte. Und mein Gehirn schaltete irgendwie ungewöhnlich schnell, rief sich das Schwarzweißfoto auf meinem Laptop in Erinnerung und wusste es eigentlich schon. Das war er. Das waren sie. Ich war vom ersten Moment an zu hundert Prozent sicher, auch wenn ich jetzt feststellte, dass das Foto, dass ich bekommen hatte, entweder nicht mit der Realität mithalten konnte oder dass ich es einfach sehr, sehr unaufmerksam betrachtet hatte. Wahrscheinlich traf beides zu.
Wie Gottes Beweis dafür, dass die Spezies Wahnsinnig-gut-aussehende-Typen noch nicht ganz ausgestorben war, stand José Diaz etwa 25 Meter entfernt von meiner Bank an der Wand und sah sich um (erst ein paar Augenblicke später wurde mir klar, dass er mich suchte). Und das Wort umwerfend wäre nicht einmal annähernd aussagekräftig genug, um ihn zu beschreiben.
Sein Haar war dunkelblond und etwas kürzer als beispielsweise Nicos, es fiel ihm leicht in die Stirn und ich hätte schwören können, dass das einfach so war und er es nicht absichtlich vor dem Spiegel stylen musste. Sein T-Shirt lag nicht eng an, aber es konnte nicht die Konturen eines unverschämt sexy Körpers verbergen, einer Figur, auf die wohl jeder Mann hinarbeitet. Und seine Arme… Himmel, diese wundervollen, gebräunten, supermannmäßig starken Arme waren einfach nur zum Schreien.
Meine imaginäre Aussehens-Skala erweiterte sich von einem Moment zum nächsten um etwa zweihundert Einheiten nach oben.
Ich war gerade dabei zu analysieren, wie passend seine unzähligen Sommersprossen seine Gesichtszüge ergänzten (Sommersprossen, ging’s eigentlich noch süßer?!), als ich mich stoppte. Ich sollte mir diese Angewohnheit, Typen bis ins Detail zu mustern, mal abgewöhnen. Und der hier war immerhin für die nächsten sechs Monate praktisch für mich zuständig. Was wirklich ein angenehmer Gedanke war…
Aber hallo?! Hätte mir nichtmal jemand sagen können, dass ich es mit einer absoluten Geilheit zutun haben würde? Vielleicht waren ja alle Spanier so… keine schlechte Vorstellung, wobei mir hier ansonsten noch keiner sonderlich aufgefallen war. Aber das musste nichts bedeuten, immerhin waren hier hauptsächlich Ausländer wie ich.
Okay, ich hatte die Bilder gehabt, eigene Doofheit, dass ich mich mehr mit dem Haus beschäftigt hatte. Dumm, dumm, dumm. Aber egal jetzt.
Die junge Frau an seiner Seite war ebenfalls hübsch und sah anscheinend gerade etwas auf einem Zettel nach, sie saß wie ich auf einer Bank (weshalb ich sie auch erst später sah, wie ich mir selbst unschuldig beteuerte). Naiara. Ein schöner Name für eine schöne Person. Ihr Haar war dunkler als meines, beinhaltete aber auch einen warmen Kastanienton und es fiel ihr bis zur Taille hinab, ich verspürte einen Anflug von Neid.
Mir wurde bewusst, dass ich die Beiden die ganze Zeit nur anstarrte und ich vielleicht mal zu ihnen hinübergehen sollte und stand hastig auf, wobei ich beinahe eine Frau umwarf, die vorbeiging und mir daraufhin einen bösen Blick zuwarf. Aber meine Augen blieben auf das junge Paar geheftet und ich ging rasch auf sie zu, bevor mein Selbstbewusstsein erlöschen konnte.
Jetzt schien José mich ebenfalls zu bemerken, denn er sah mich an, lächelte (ich dachte immer, es wäre nur so ein Sprichwort, dass die Sonne aufzugehen scheint wenn manche Menschen lächeln… jetzt erkannte ich, dass ich mich geirrt hatte und kämpfte gegen den Drang an, mich auf den Boden zu werfen und zu sabbern) und sagte augenscheinlich etwas zu Naiara, ich war noch nicht nah genug, um etwas verstehen zu können.
Ich überraschte mich selbst als ich unwillkürlich zurücklächelte und dabei ganz natürlich wirkte. Ich erreichte die Beiden und blieb unschlüssig stehen, sollte ich ein bisschen schleimen und sie auf Spanisch begrüßen oder zur Sicherheit Englisch reden? Zum Glück wurde mir die Entscheidung von José abgenommen.
„Hi, wir haben schon nach dir Ausschau gehalten. Ich bin José, aber das weißt du ja schon“, sagte er mit einem hinreißenden Akzent auf Englisch und schüttelte mir die Hand (ab dem Moment waren warme Hände zum Sterben sexy). Es kam mir so vor als wären wir alte Freunde und würden uns nicht gerade zum ersten Mal begegnen, auch wenn mich sein Aussehen dann wahrscheinlich nicht mehr so umhauen würde. Mir fiel auf, dass er dunkelblaue Augen hatte, unergründlich tief und doch voller Wärme.
„Naiara.“ Auch sie schien sich noch einmal persönlich vorstellen zu wollen und gab mir die Hand. „Wir freuen uns, dass du hier bist.“
„Danke… Tja, ich bin Jenny“, sagte ich ein bisschen verlegen. „Ehm… ich wusste nicht wirklich, wo ich hinmuss und hab mein Gepäck noch nicht geholt…“ Ich hoffte inständig, dass das jetzt nicht total desorientiert und durchgeknallt rüberkam.
Aber José nickte. „Ist etwas unübersichtlich hier. Komm mit.“ Er ging voran durch einen Flur und ich folgte mit Naiara ein Stück hinter ihm.
„Hattest du einen guten Flug?“, fragte sie mich, während wir nebeneinander liefen und es klang wirklich interessiert, nicht bloß wie reine Höflichkeit.
„Ja, danke.“ Ich lächelte schüchtern, immerhin kannte ich sie erst seit ein paar Minuten und ich hatte diese blöde Angewohnheit, bei neuen Begegnungen am Anfang etwas scheu zu sein. Ich dachte darüber nach, was ich vielleicht noch sagen könnte, um nicht wie ein kleines Mädchen zu wirken, aber dann waren wir schon bei der Gepäckausgabe und ich musste nach meinen Sachen Ausschau halten. Insgeheim hatte ich die Befürchtung, dass etwas fehlte und war unendlich erleichtert, als ich alles beisammenhatte.
Naiara fragte noch genauer nach, wie meine Reise gewesen war, während wir zum Parkplatz gingen und ich spürte erleichtert, wie ich langsam lockerer wurde – vor allem als José auch ein paar Fragen stellte, was wohl der Hauptgrund war.
Er fuhr einen silbernen Porsche (so wie ich Naiara einschätzte, war ich sicher, dass das hauptsächlich seiner war) und ich lächelte versonnen vor mich hin als ich zu den Beiden ins Auto stieg, unser Wagen zuhause kam mir dagegen langweilig vor und ich dachte zufrieden daran, dass ich mich in den nächsten Monaten öfter hiermit sehen lassen konnte. Ich war auch auf seltsame Weise stolz, zu dem jungen Paar zu gehören, er einzigartig und eindeutig gut aussehend, sie aber ebenfalls ohne Zweifel eine Schönheit.
Während der Fahrt gewann ich dann endlich meinen wichtigen ersten Eindruck und ließ mir erklären, wo genau ich mich befand und wo es hinging.
Wir fuhren über wenig befahrene Straßen und ich ließ die Landschaft auf mich wirken, zu meinem eigenen Erstaunen fühlte ich mich gut und irgendwie urlaubsmäßig, obwohl alles neu und fremd war. Dazu sollte ich allerdings sagen, dass Naiara und José mir kein bisschen fremd vorkamen. Sie gehörten zu dieser unkomplizierten Sorte von Menschen, mit denen man einfach klarkommen muss
und die bewirkten, dass jegliche Anspannung von einem abfiel.
„Wir sind gleich da, unser Haus liegt nur ein Stück vom Strand entfernt“, sagte José nach etwa einer halben Stunde und deutete nach links, wo ich zwischen den Häusern das von der Abendsonne glitzernde Meer erkennen konnte.
„Wow. Echt cool, so dicht am Wasser zu wohnen…“ Ich würde damit ein bisschen angeben, wenn ich im Herbst wieder in Osnabrück war, so viel war sicher. Hoffentlich hatte meine Kamera genug Speicherplatz.
„Ja, wir haben das Haus vor etwa einem Jahr gekauft und Josés Vater hat uns beim Renovieren geholfen“, erklärte Naiara, aber ich hörte ihr kaum zu. Ich bewunderte meine Unterkunft für die nächsten sechs Monate und gratulierte mich in Gedanken selbst zu meinem Glück.
Das was ich bisher auf dem Foto gesehen hatte, war wie sich herausstellte eine recht bescheidene Ansicht. In der Realität überwältigte es mich fast ebenso wie meine beiden jetzigen Begleiter zuvor. Eigentlich war es nichts Besonderes. Aber vielleicht machte diese Tatsache es dann doch zu einer Einzigartigkeit. Das Haus war nicht besonders groß, die Mauern waren aus hellem Stein, an dem an manchen Stellen mir unbekannte Pflanzen emporwuchsen. Es war etwas höher gelegen und man konnte in einiger Entfernung auch hier das funkelnde Meer sehen. Es war nicht unnatürlich perfekt, aber trotzdem irgendwie richtig
. Hatte ich vielleicht was falsch verstanden und war ins Wunderland gereist oder so?
„Es ist total schön“, sagte ich wahrheitsgemäß, während ich ausstieg.
„Ja, das ist es“, stimmte Naiara mir zu. In ihrem Tonfall schwang Stolz mit, aber ich musste zugeben, dass sie jedes Recht dazu hatte.
Ich selbst nahm nur mein Handgepäck aus dem Flugzeug, José bestand darauf, meinen Koffer ins Haus zu tragen (erwähnte ich bereits, dass ich eine Schwäche für Gentlemen hatte?). Die Inneneinrichtung war gemütlich und hielt sich an ein für mich nicht erkennbares Muster (spanischer Stil?), ich folgte den Beiden in ein Zimmer, dass am hinteren Ende einer Art Flur lag. Ich sah mich um, es war nicht besonders groß und schlicht mit einem Bett, Schreibtisch, Regal und einer Kommode eingerichtet.
„Ich habe es ein bisschen hergerichtet, aber ich dachte mir, dass ich die Details am besten dir überlasse“, meinte Naiara nach einer Weile, offensichtlich nervös, dass es mir nicht gefallen könnte – was mich sofort dazu motivierte, ihr das Gegenteil zu beweisen. Und da dies sowieso der Fall war, fiel es mir nicht schwer.
„Danke“, sagte ich ehrlich und lächelte sie an, ich war froh, dass sie mir etwas freie Hand ließ. So konnte ich meinen Teil zu dem Zimmer beitragen und es ein Stück meines Wesens verinnerlichen lassen. Das war zumindest mein Plan.
„Wahrscheinlich möchtest du dich erstmal ein bisschen einrichten und ein bisschen Ruhe haben, die Reise war ja ziemlich lang. Das Bad ist gleich zwei Türen weiter, du kannst dich dort fertigmachen wenn du willst.“ José hatte meinen Koffer abgestellt und lehnte in einer vollendeten Fotoshooting-Pose in der Tür (vielleicht modelte er…?).
„Ich beeile mich mit dem Essen… du magst doch Spaghetti? Wir wollten dich am Anfang nicht direkt mit etwas Exotischem überwältigen und dachten, was Normales wäre gut…“, fügte Naiara hinzu, sie sah ein bisschen unsicher aus.
„Klar, danke. Aber ihr braucht wirklich keinen Aufwand wegen mir machen, das ist schon okay“, sagte ich ein bisschen verlegen, weil meine Anwesenheit natürlich Umstände bedeutete und ich nicht zu sehr zur Last fallen wollte, es aber offenbar trotzdem tat.
„Das hätte ich an deiner Stelle lieber nicht gesagt“, erwiderte José grinsend und verließ hinter seiner Freundin das Zimmer. Mein
Zimmer, wie ich mich in Gedanken korrigierte.
Ich war dankbar, dass sie mich nicht bedrängten und mir Freiraum ließen (wobei es mir nichts ausgemacht hätte, wenn zumindest José noch etwas geblieben wäre) und ließ mich auf das Bett sinken. Es stand am Fenster und Sonnenstrahlen fielen auf die schlichte Decke. Dunkel und ruhig erstreckte sich der Ozean bis zum Horizont. Die Aussicht wirkte vertraut und ruhig und ich konnte mir gut vorstellen, sie den ganzen Tag über vor Augen zu haben.
Ich fühlte mich noch immer etwas mitgenommen vom Flug und beschloss, zuerst zu duschen. Trotz der Wärme duschte ich heiß wie immer und spürte, wie meine Muskeln sich unter dem fließenden Wasser entspannten. Ich blieb so lange, wie ich es mir angesichts der Tatsache, dass ich hier ja eigentlich nur Gast war und es vielleicht nicht so gut käme, wenn ich das warme Wasser aufbrauchen würde, erlaubte und zog mir etwas Frisches an.
Ich entschied, dass es noch zu früh war, um in der Küche aufzukreuzen (ich hätte es gerne getan, befürchtete aber auch, sie damit unter Druck zu setzen, mit dem Essen fertig zu werden) und begann, meine Kleidung in die Kommode zu räumen. Ich hatte nicht allzu viel mitnehmen können und hoffte, in den nächsten Wochen die Gelegenheit zu bekommen, mir ein paar neue Sachen zu besorgen. Ich hatte meine Lieblingsbücher eingepackt, da ich hier wohl mit englischer und hauptsächlich spanischer Literatur würde vorlieb nehmen müssen. Insgeheim hoffte ich, durch irgendeine Umstellung meines Gehirns nach einer Weile flüssig Spanisch sprechen zu können und nicht wie eine totale Ausländerin rüberzukommen. Leider war es unvermeidlich, dass auch hier die Bildung Vorrang hatte und ich würde bis Ende Juni die Schule hier besuchen müssen, wenn auch ohne Benotungdafür war die Dauer meiner Schulzeit hier glücklicherweise zu kurz. Natürlich würde ich in Deutschland dann in den ersten Wochen im Herbst zurückhängen, dafür aber in Spanisch hoffentlich ein bisschen herumprotzen können.
Nach einer Weile hielt ich es nicht länger aus und machte mich auf den Weg in die Küche, der zum Glück selbst für Orientierungslose wie mich leicht zu finden war, da ich die Stimmen von José und Naiara hörte (Spanisch natürlich und ich musste mir entmutigt eingestehen, dass sie sehr viel schwerer zu verstehen waren als die Leute bei den Hörverstehensübungen in der Schule) und das Essen roch. Der Kochbereich ging in Wohn- und Esszimmer über und es entstand ein relativ großer, offener Raum.
Naiara stand am Herd, José lehnte am Arbeitstresen und beide sahen auf als ich hereinkam.
„Hast du dich ein bisschen erholt? Das Essen ist sofort fertig.“ Naiara holte Teller aus einem Schrank, die ich ihr aus Gewohnheit abnahm und auf dem Esstisch verteilte. Ich war überrascht und dankbar, dass sie nicht auf Englisch wechselte, sobald ich anwesend war, jetzt kam ich mir nicht mehr ganz so sehr wie eine Außenstehende vor.
„Ja, die Dusche brauchte ich.“ Ich setzte mich hin, mir gegenüber saß José (so ein gemeiner Platz, wie sollte man da vernünftig und ohne sich total zu blamieren essen? Wenigstens hatte ich eine Entschuldigung dafür, ihn anzusehen) und an der Seite Naiara. Ich hatte mir vorsorglich überlegt, was ich fragen könnte, falls ein angespanntes Schweigen herrschen sollte, aber dazu kam es gar nicht. Nicht alle Menschen schienen Kommunikationsprobleme wie ich manchmal zu haben, zumindest hielten die Beiden mit bewundernswerter Gelassenheit ein lockeres Gespräch am Laufen, sodass ich nach wenigen Minuten ungezwungen losquatschte (Kommunikationsknoten geplatzt, danach war ich nicht mehr zu stoppen) und von meiner Familie, Osnabrück und meiner Schule erzählte.
Möglicherweise (oder eher höchstwahrscheinlich) war es nur mein Empfinden, aber es schien mir, als ob vor allem José den Abend eher wie ein Treffen von Freunden wirken ließ, die sich länger nicht getroffen hatten. Wenn ich das Gefühl hatte, dass es keiner mitbekam, beobachtete ich ihn insgeheim, doch mehr als einmal sah es so aus, als hätte er meine armseligen Spionagetalente durchschaut, denn ab und zu trafen sich unsere Blicke. Leider konnte ich in seinen Augen nicht lesen, er offensichtlich aber in meinen, denn – so zumindest deutete ich es – sein Lächeln, das seine Mundwinkel manchmal dabei umspielte, schien wissend (ich bekam Angst, dass er vielleicht Gedanken lesen konnte, das wäre... peinlich). Ich sah dann immer schnell und angestrengt auf meinen Teller, was mich vermutlich nur noch auffälliger wirken ließ, aber sosehr ich mich auch dafür hasste, ich musste einfach immer wieder zu ihm herüberschielen. Meine Blicke schienen von ihm magnetisch angezogen zu werden und immer wenn ich mich dabei ertappte, wie ich zum Beispiel gerade fasziniert eine seiner Haarsträhnen betrachtete, wandte ich mich Naiara zu und war wütend, dass meine Selbstdisziplin so erbärmlich war. Ich hoffte sehr, dass sie mein kleines Problem nicht ebenfalls erkannte und jetzt dachte, ich wollte mich an ihren Freund ranmachen. Wobei so was sicher öfter vorkam, bei seinem Aussehen… und noch immer war sie mit ihm zusammen, was wohl bedeutete, dass er sie wirklich liebte.
Als ich später im Bett lag, verfluchte ich mich selbst wegen der Sache, sagte mir aber, dass ich im Recht war. Niemand hatte mich darauf vorbereitet, dass der Typ ein absoluter Traum war und doch fühlte ich mich schuldig, als ich an Nico dachte. Aber durfte man sich nicht trotzdem denken
, dass jemand verdammt gut aussah, auch wenn man vergeben war, oder? Bei José zumindest war etwas Anderes vollkommen ausgeschlossen…
Ich war doch müder als ich dachte und obwohl alles neu und fremd war, schlief ich bald ein.
Es kommt auf deine Gesellschaft an, ob du dich wohl woanders fühlst oder nicht
8. Endlose Perfektion
Irgendwo auf dieser Welt gibt es ihn. Den perfekten Ort.
Normalerweise vermutete ich immer das Schlimmste. Kathi war Optimist für uns beide zusammen. Aber an diesem Tag war es anders und vielleicht hätte mir das direkt schon Angst machen sollen. Die normale Jenny wäre misstrauisch gewesen, aber die Heile-Welt-Jenny war es nicht. Ich hätte mir denken sollen ‚Jenny, was ist mit dir los?’ und es im Keim ersticken sollen. Aber ich tat es nicht. Und so fing es wahrscheinlich an. Mit diesem traumhaften, blöden ersten Tag.
Ich hatte tief und traumlos geschlafen und erwachte ausgeruht. Ein angenehm kühler Luftzug wehte ins Zimmer, das Fenster war offen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, es geöffnet zu haben… ich ließ einen Moment die Vorstellung von José zu, wie er sich über mich beugte und das Fenster öffnete, sein warmer Körper ganz nah bei meinem…
Das war absolut albern. Ich schüttelte den Kopf über mich selbst, wahrscheinlich war es sowieso Naiara gewesen, die auf mich sehr fürsorglich wirkte. Wenn er es getan hätte, wäre ich doch garantiert aufgewacht, unmöglich, dass ich das
verpennt haben könnte. Obwohl es mir durchaus zuzutrauen wäre…
Ich kniete mich auf meine Bettdecke und lehnte mich nach draußen, der Himmel war blau und mit Wattewölkchen bedeckt wie im Bilderbuch. Und wenn ich genau hinhörte, konnte ich das Rauschen der Wellen am Strand hören… Ich musste dort heute unbedingt hingehen. Das Meer hatte mich schon immer fasziniert. Endlos, ewig und unergründlich. Mal graublau wie verwaschene Jeans, dann klar und türkis – aber doch immer dasselbe Wasser. Unberechenbar und wunderschön.
Ich riss mich von der malerischen Aussicht und meinen poetischen Gedanken los und stand auf, um mir meine Kleidung zusammenzusuchen. Es war sommerlich warm und ich entschied mich für Shorts und mein Lieblingstop, von dem ich genau wusste, dass es gut an mir aussah. Und ich versuchte, nicht darüber nachzudenken, warum ich ausgerechnet dieses Oberteil aussuchte. Ich zog mir gerade das übergroße T-Shirt aus, das ich in der Nacht getragen hatte, als es an der Tür klopfte. Ich erstarrte. Dann hörte ich Josés Stimme.
„Jenny? Kann ich reinkommen?“ Klar! Immer, immer, immer!
„Ähm… Moment.“ Hastig zog ich mein Top drüber, warf einen kurzen Blick in den Spiegel um mich zu vergewissern, dass ich einigermaßen vorzeigbar aussah, stürzte zur Tür und riss sie auf.
Ich hatte mir ein bisschen Sorgen gemacht, dass mich die Reise gestern vielleicht benebelt hatte und ich mir nur eingebildet hatte, dass er so toll war. Dass ich mir sein Aussehen mehr zusammengereimt hatte und er eigentlich war wie jeder andere.
Aber meine Befürchtungen waren unbegründet. Natürlich. Als er nun vor mir stand, noch um vieles besser als in meinen Erinnerungen, fragte ich mich, wie ich je an ihm hatte zweifeln können. Seine Haare waren noch ungekämmt und sahen so unglaublich süß aus, dass ich am liebsten… ich weiß nicht. Ihn angesprungen hätte oder ihn anbetend auf dem Boden zusammengebrochen wäre.
„Morgen. Gut geschlafen?“ Entweder er übte dieses Lächeln vor dem Spiegel… oder er war einfach nur grenzenlos wundervoll. Ich tippte auf Letzteres.
„Ja, danke.“ Ich lächelte mit imaginären Herzchen in den Augen zurück.
„Naiara ist schon bei der Arbeit, ich mach heute mal Frühstück, okay?“ Aber sowas von okay!
„Klar, ich komm gleich.“ Ich starrte ihm hinterher, bis er in der Küche verschwand. So was war ganz sicher nicht gesund. Solche Menschen gehörten eingesperrt, wo sie keine unschuldigen Leute um den Verstand bringen konnten! Mir fiel ein, dass noch keinen Gedanken an diejenigen verschwendet hatte, die in Deutschland waren und sich fragten, was ich hier tat. Vor allem Nico. Schuldbewusst und in einem Anflug von Sehnsucht drückte ich das halbe Herz auf meinem Schlüsselbein. „Ich liebe dich“, flüsterte ich als ob er mich hören könnte. Es würde ihm hier sicher gut gefallen… aber er war so weit weg und nur ich war hier. Ich mit José und Naiara.
Ich schrieb eine beruhigende SMS an meine Mutter und an Nico, beide hatten mir schon mehrere besorgte Nachrichten geschickt. Ich kämmte meine Haare und ging absichtlich lässig und langsam zur Küche, falls es Überwachungskameras gab oder man einen Spion auf mich angesetzt hatte. Man konnte ja nie wissen.
Er stand am Herd und briet Spiegeleier (ohooo, er kann kochen! Sympathiepunkt!), als ich hereinkam, lächelte er mir über die Schulter hinweg zu. Dieses Herzinfarkteffekt-Lächeln.
„Ich bin in zwei Minuten fertig. Setz dich schon mal.“
Ich kam seiner Aufforderung nach und ließ mich auf einem der Stühle nieder, den Blick noch immer auf ihn geheftet, in der Hoffnung, dass er noch etwas sagte.
Entweder er konnte wirklich meine Gedanken lesen oder es war einfach Zufall, jedenfalls tat er mir den Gefallen und fuhr nach einer Weile fort: „Zwei Freunde von mir werden gleich vorbeikommen, sie wollen dich unbedingt kennen lernen-“, er verdrehte die Augen, „ich hoffe, das ist okay… Sie sind vielleicht ein bisschen aufgeregt, aber eigentlich sind sie ganz nett, mach dir keine Sorgen. Und, äh, sie sind vielleicht ein bisschen überschwänglich…“ Er brachte die Pfanne zum Tisch und sah etwas verlegen aus – wie
süß konnte man denn bitte sein?! Ich hoffte inständig, dass mir nicht irgendwie Speichel am Mundwinkel runterlief oder so.
„Kein Problem“, sagte ich als ich mich wieder imstande fühlte, etwas Vernünftiges zu sagen.
Er lächelte erleichtert. „Gut. Danke. Ich hab ihnen gesagt, sie sollen das lassen, gleich am ersten Tag…“
Das Frühstück verlief gut, wenn man von der Tatsache absah, dass ich mir Mühe geben musste, ihn nicht allzu oft anzustarren, auch wenn er jetzt die einzige Person war, die sich dazu anbot. Genau wie gestern Abend brachte er ein lockeres Gespräch zustande und ich schaffte es meistens, geistreich zu antworten. Ich war froh, dass seine Art es mir möglich machte, einigermaßen normal zu sein und meine schlimmsten Reaktionen auf ihn zu unterdrücken.
Ich war so locker und im Redemodus, dass ich zusammenfuhr als es klingelte.
„Das sind sie bestimmt. Bringen wir’s hinter uns“, seufzte er lächelnd und schob seinen Stuhl zurück. Meine Hände erstarrten. So was meinte ich, wenn ich von meiner albernen Angst vor Fremden sprach. Vielleicht mochten sie mich nicht. Vielleicht mochte ich sie
nicht.
„Komm schon, sie beißen nicht“, sagte José als ich keine Anstalten machte mich zu bewegen, nahm meine Hand (was einen kurzen, glücklichen Schauer durch meinen Körper sandte) und zog mich hoch. Hilflos folgte ich ihm zur Haustür, die er schwungvoll öffnete.
Draußen standen ein junger Mann, den ich etwa so alt wie José schätzte, und ein Mädchen (ich bezeichnete sie unwillkürlich als ein solches, obwohl sie eigentlich schon eine junge Frau war), das vielleicht drei oder vier Jahre älter war als ich und sofort hereinkam, um José freundschaftlich zu umarmen. Auch der Mann begrüßte ihn, was mir Zeit gab, beide ausgiebig zu mustern. Das Mädchen hatte schwarzbraune, leicht gelockte Haare, die ihr bis zur Schulter reichten, und war nur leicht gebräunt, was sie neben José und ihrem Begleiter etwas blasser wirken ließ. Letzterer besaß tiefschwarzes zerwuseltes Haar, das ihm dauernd ins Gesicht fiel und wenn er nicht direkt neben José gestanden hätte, würde ich ihn als auffallend gut aussehend bezeichnen. An meiner Schule würde er sofort hervorstechen, hier jedoch wirkte er eher durchschnittlich - was mich dazu brachte, mich schaudernd zu fragen, wie ich dann wohl wirkte.
Nachdem das Mädchen von José abgelassen hatte, wandte sie sich mir zu und umarmte mich zu meiner Überraschung ebenfalls herzlich, so als würde sie mich schon ewig kennen. Automatisch erwiderte ich die Begrüßung und bevor ich etwas sagen konnte, fing sie schon an zu reden: „Du bist also Jenny, nicht wahr? Ich bin Serena, ich kenne José noch aus der Schule. Er war nervös, aber ihr scheint euch gut zu verstehen, oder?“ Ihr Englisch war perfekt und fließend, mit einem kaum wahrnehmbaren Akzent und sie lächelte aufmunternd. Ich lächelte unwillkürlich zurück und meine Hand wurde von dem anderen Mann gedrückt, bevor ich etwas entgegnen konnte.
„David“, stellte er sich vor, „ich darf mich bescheiden als Josés bester Freund aus dem Sandkasten bezeichnen.“ Er grinste. „Zurzeit spielen wir aber hauptsächlich gemeinsam Fußball.“
„Hi. Ich freu mich wirklich euch kennen zu lernen“, sagte ich sobald ich zu Wort kam und es war die Wahrheit. Unmöglich, die Beiden nicht sympathisch zu finden, wie schon Naiara und José. Ich hatte mir wie immer viel zu viele Sorgen gemacht und war anscheinend von den nettesten Menschen der Welt umgeben.
„José hat dir den Strand wahrscheinlich noch vorenthalten, damit du dich erholen kannst.“ Serena verdrehte die Augen. „Wir haben Badesachen vorsorglich mitgenommen.“
Vom Haus aus führte ein schmaler Pfad zum Meer hinunter. Da die nächsten Nachbarhäuser ein wenig weiter entfernt waren, hatten wir dieses Stück Strand praktisch für uns allein und ich versuchte mich daran zu erinnern, wann ich zuletzt im Meer geschwommen war, früher in der Ostsee oder so (was man kein bisschen mit dem Feeling hier vergleichen konnte). Es gelang mir nicht recht und ich genoss es, als täte ich es zum ersten Mal.
Das Wasser war für Mai überraschend angenehm und ich atmete die salzige Luft tief ein. Ich war schon als kleines Kind gerne schwimmen gegangen, ich liebte das Gefühl von Wasser auf der Haut, das Gefühl, sich in einem anderen Element zu befinden. In der Gegenwart von José und seinen Freunden war es leicht zu vergessen, dass ich sie eigentlich kaum kannte und noch nichtmal einen Tag lang hier war. David machte mit seinen Sprüchen jegliche Ernsthaftigkeit zunichte und Serena behandelte mich so, als würde ich immer zu den dreien dazugehören. Ich fragte mich, ob nur Deutsche ein Problem damit hatten, Beziehungen aufzubauen und Kontakte zu knüpfen oder ob ich es mit einer seltenen Art von Mensch zutun hatte.
Nach einer Weile legte ich mich mit Serena in die Sonne, während wir die Geräusche von José und David hörten, die noch immer im Wasser waren und sich gegenseitig untertauchten. Ich lag still da und spürte die Wärme der Mittagssonne auf meiner Haut, die die letzten Wassertröpfchen verschwinden ließ. Nach einer Weile setzte ich mich halb auf und beobachtete die Jungs (bei dem Anblick, den sie boten, konnte ich sie nicht als etwas Anderes bezeichnen) im Meer. Ich hätte es ewig tun können, sie verkörperten reine Energie und sahen auch noch abartig gut dabei aus… vor allem José, wie ich ganz unvoreingenommen fand.
„Sind sie immer so?“, fragte ich schließlich.
„Ja.“ Serena lächelte ohne die Augen zu öffnen. „Aber sie sind die besten Freunde, die man sich wünschen kann und wenn du sie brauchst sind sie da.“
„Das klingt, als wärst du sehr oft mit ihnen zusammen“, stellte ich fest und dachte, dass sich mir diese Gelegenheit in der nächsten Zeit wohl auch bieten würde… eine schöne Vorstellung.
„Stimmt. Irgendwie hatte ich noch nie so viel mit den Mädchen in meinem Alter zutun und ich lernte David und José kennen, als ich hierher zog. Früher lebte ich woanders und als wir dann hier wohnten, freundete ich mich mit David an, der nur ein paar Häuser weiter wohnte – heute allerdings nicht mehr. José war mit ihm schon ewig befreundet und wir besuchten die gleiche Schule, klar, die Beiden waren zwei Jahrgänge über mir, aber irgendwie hing ich fast nur noch mit ihnen rum. Und so ist es seitdem geblieben, auch als die Jungs mit der Schule fertig waren und ich noch hingehen musste. Sie spielen in einer Mannschaft Fußball, ich bin manchmal da und sehe ihnen zu wenn sie ein Spiel haben. Du solltest mal mitkommen, sie sind gut, soweit ich das beurteilen kann.“ Sie schwieg eine Weile und ich dachte, ihre Erzählung wäre beendet, doch dann fügte sie doch noch etwas hinzu. „Ich bin froh, dass du hier bist, Jenny. Ich hoffe, dass du dich uns dreien anschließt und ich jemanden habe, mit dem ich mal shoppen gehen kann oder so was. Ich bin mir nie allein vorgekommen mit zwei Jungs um mich herum, aber manchmal wünsche ich mir, noch eine gute Freundin zu haben. Und ich habe das Gefühl, dass du das werden kannst.“
Ich schwieg, halb erstaunt, halb gerührt. Ich mochte Serenas Art schon jetzt, das was sie sagte, welche Ansichten sie hatte.
„Ich hoffe es. Ich bin froh hier zu sein“, sagte ich schließlich leise und ich spürte ihren nachdenklichen Blick auf mir ruhen.
Der Rest des Tages verlief viel zu schnell. Wir verbrachten die meiste Zeit am Wasser und ich hätte noch viel länger dort bleiben können. Deutschland kam mir hiergegen unglaublich weit weg vor, aber es war kein unangenehmes Gefühl oder Heimweh, auch wenn ich mich einige Male bei dem Gedanken daran erwischte, wie es den anderen wohl hier gefallen würde, meiner Familie, Kathi, Nico.
Ich fühlte mich gut, aufgenommen und respektiert, auch wenn alle älter waren als ich. Serena und ich spielten gegen die Jungs Beachvolleyball und verloren haushoch, weil ich so schlecht war, wir gingen noch mehrfach im Meer schwimmen und gingen erst wieder zum Haus hinauf, als Naiara zum Essen rief. Wir aßen auf der kleinen Terrasse hinterm Haus und blieben dort sitzen, bis die Sonne unterging. Als David und Serena sich verabschiedeten und ich ins Bett ging, war mir noch immer warm vom Essen und diesmal ließ ich das Fenster direkt offen. Ich war müde von der vielen Bewegung und verschob das SMS-Schreiben, das wieder fällig war, auf den nächsten Tag.
Ich war überrascht, wie leicht es war, José wie einen Kumpel zu behandeln. Als wäre nichts dabei, als wäre er wie jeder andere. Okay, es war
ja auch wirklich nichts dabei, korrigierte ich mich in Gedanken streng. Er war immerhin sechs Jahre älter und so gut wie verlobt. Da war nicht einmal die Andeutung eines Etwas-dabei-seins. Und abgesehen davon war ich selbst glücklich vergeben. Nico war genau der Richtige für mich, vielleicht nicht fürs Leben, aber es zählte das Hier und Jetzt. Und im Hier und Jetzt gehörte ich zu ihm.
Unwillkürlich tastete ich nach dem Herz an meiner Kette. Ich schloss die Augen und mein Unterbewusstsein übernahm die Kontrolle über mein Denken.
Das Leben ist ein Geschenk. Und Geschenke gibt man nicht zurück.
9. Neue Bekanntschaften
Nimm die Menschen wie sie sind, denn andere gibt es nicht.
Auch wenn ich es nicht zugeben wollte, graute mir vor Montag und der neuen Schule. Es war eine Sache, Josés besten Freunden zu begegnen, mit ihm an meiner Seite, aber eine ganz andere, ganz allein hunderten Fremden gegenübertreten zu müssen. Ich gab mir Mühe, diese Gedanken den ganzen Sonntag über auszublenden und meistens gelang es mir sogar recht gut. José bot mir an, seinen Laptop zu benutzen und ich schrieb eine Mail an meine Mutter, um sie fürs Erste ruhig zu stellen. Sie machte sich – genau wie ich – immer zu viele Sorgen.
So wie ich mir Sorgen gemacht hatte, dass es hier scheiße sein könnte. Denn bereits nach zwei Tagen kam mir dieser Gedanke absolut abwegig und unmöglich vor. Ich befand mich am wunderbarsten Ort der Welt, wie hatte ich je daran zweifeln können?!
Ich verbrachte den Sonntagnachmittag damit, mir von Naiara und Serena das kleine Dorf zeigen zu lassen, zu dem das Haus gehörte – José und David waren beim Training, wie Serena mir augenverdrehend mitteilte.
Die Schule, die ich besuchen sollte, lag etwas abseits und ich stellte mich schaudernd vor, dass hier am nächsten Tag unzählige Schüler herumwuseln würden – darunter auch ich. Und bevor ich dazu kam, mir auszumalen, wie blutrünstig sie mir begegnen könnten, war der Augenblick auch schon da.
José hatte mich mit dem Auto hingebracht (was mich dazu veranlasste, möglichst lange beim Wagen stehen zu bleiben, damit allen klar wurde, dass ich zu ihm gehörte) und obwohl ich ihn liebend gerne dabei gehabt hätte, lehnte ich es ab, als er mir anbot, mich zur Schulleitung zu bringen. Ich wollte nicht wie ein hilfloses kleines Mädchen wirken, auch wenn ich mir wünschte, es sein zu können, um das Recht zu haben, an seiner Hand durch die Schule gehen zu können. So verabschiedete ich mich schweren Herzens von ihm und betrat das Gebäude mit einem Strom von anderen, die alle so schnell redeten, dass ich nicht ein Wort verstand. Diese Tatsache trug nicht gerade zu meinem ohnehin schon niedrigen Selbstbewusstsein bei und ich dachte darüber nach, ob ich nicht einfach weglaufen sollte, um dem Tag aus dem Weg zu gehen. Ich war froh, dass mich nicht allzu viele Schüler als neu erkannten und mich anstarrten und wenn es doch jemand tat, starrte ich böse zurück, was sich als wirkungsvolle Methode erwies. Ich hätte das Büro der Schulleiterin im Leben nicht gefunden, wenn mich nicht eine mütterlich wirkende Lehrerin angesprochen hätte (offensichtlich wirkte ich doch etwas desorientiert und fehl am Platz) und mich dort abgeliefert hätte.
Die Situation, als ich vor der Tür stand und klopfte, erinnerte mich unangenehm daran, wie ich an meiner Schule in Deutschland einmal zum Direktor gemusst hatte, um etwas von meiner Klassenlehrerin abzugeben. Ich war in der fünften Klasse gewesen und fand unseren Schulleiter seitdem unheimlich. Während ich darauf wartete, hereingebeten zu werden, wog ich im Kopf ab, welche Lage wohl schlimmer war. Einerseits war ich älter und ich wusste, dass ich gleich einer Frau gegenüber stehen würde. Das machte den Unheimlichkeitsfaktor etwas weniger bedrohlich. Andererseits sprach sie eine andere Sprache und ich mehr tun müssen, als nur ein Blatt Papier abzugeben.
Ich kam nicht dazu, weitere Überlegungen anzustellen, denn aus dem Inneren des Büros erklang eine Frauenstimme, die etwas sagte, was ich als Zeichen deutete, hereinzukommen. Zögernd öffnete ich die Tür und trat ein.
Zu meiner Erleichterung schien die Schulleiterin beinahe so unsicher wie ich, sie erinnerte mich aus einem unerfindlichen Grund an ein Kaninchen… Wie auch immer, sie brachte mich persönlich zu meinem neuen Klassenraum und ich war froh, dass der Unterricht noch nicht begonnen hatte und ich in eine Stunde hineinplatzen musste. Trotzdem warfen mir alle verstohlene Blicke zu, die ich geflissentlich ignorierte und ich tat so, als wäre ich in den Saum meines T-Shirts vertieft bis endlich die Lehrerin kam.
Ich hätte mir gewünscht, nicht vor allen vorgestellt zu werden, doch es ließ sich nicht vermeiden. Ausnahmslos alle sahen mich fasziniert beziehungsweise neugierig an und ich beschränkte mich darauf, den Boden zu betrachten, da ich nicht alle gleichzeitig anfunkeln konnte. Ich verstand aus dem überdeutlichen Spanisch der Lehrerin und ihrer Gestik heraus, dass ich mich neben ein Mädchen in der mittleren Reihe setzen sollte. Sie hatte wilde, braune Locken und wunderschöne große Augen, was sie auf mich gegen meinen Willen sympathisch wirken ließ. Ich war erleichtert, dass sie mich anlächelte und weniger glotzte wie ihre Nachbarin es beispielsweise tat und nickte ihr kurz zu.
„Ich heiße Aileen. Ich hoffe, du kommst gut bei uns rein“, sagte sie, offenbar darauf bedacht, langsam genug zu sprechen, damit ich sie verstand. Ich unterdrückte den Reiz sie dafür böse anzugucken und sagte mir, dass sie es bestimmt nett meinte.
„Hey. Jenny“, stellte ich mich vor und zwang mich dazu, zurückzulächeln.
Ich musste mir bald eingestehen, dass es doch nicht so schlimm war, wenn auch schlimm genug. Es war okay, weil Aileen mich in den Pausen zu ihren zahlreichen Freundinnen schleppte und sich herausstellte, dass ich mich eigentlich ganz gut mit ihr unterhalten konnte. Wiederum überhaupt nicht okay war die Tatsache, dass mich manche anstarrten wie eine Außerirdische und ich hätte schwören können, dass sie sich hinter meinem Rücken über mich unterhielten. Ich hatte einen gewissen Vorteil, dass ich nicht wie die anderen den ganzen Nachmittag bleiben musste (meine Lehrerin wollte mich nicht überfordern… zum Glück), sondern schon früher gehen durfte. Das machte mich zwar noch außenseitermäßiger und seltsamer, aber damit konnte ich leben. Außerdem war meine Konzentration bald aufgebraucht, die einzigen Fächer, die erträglich waren, waren Mathe und Englisch (ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal sagen würde), weil dort meine Sprachkenntnisse nicht so sehr auf die Probe gestellt wurden. Die Lehrer waren meistens übertrieben rücksichtsvoll und wenn ich nicht genau gewusst hätte, dass das nötig war, hätte es mich total angenervt. So konnte ich mir nur meinen Teil dazu denken und es zähneknirschend über mich ergehen lassen. Trotz allen guten Eigenschaften von Aileen und den Ermutigungen der Lehrer war ich heilfroh als ich endlich entlassen war. Die Pausenhalle kam mir plötzlich sehr groß vor und meine Schritte hallten auf dem Boden. Ich beeilte mich, nach draußen zu kommen und dem schulischen und bildungsreichen Klima zu entkommen.
Ich hatte José versichert, dass ich auch den Weg zurück laufen könnte, obwohl ich seinem Angebot, mich abzuholen, nur zu gerne zugestimmt hätte. Ich lief relativ schnell, ich hatte Hunger und konnte es kaum abwarten, in die bereits vertraute Atmosphäre des kleinen Hauses eintauchen zu können. Ein Straßenjunge mit verschmutzten Kleidern hockte vor einer Mauer, an der ich vorüberging und grinste mich an. Ich warf ihm als Antwort den herablassendsten Blick zu, den ich zustande brachte – ich hasste es, von solchen Fremden angemacht zu werden. Die gute Nachricht war, dass mir dies relativ gut gelang, zumindest verblasste das selbstbewusste Grinsen des Typen ein wenig, die Schlechte, dass ich, weil ich damit beschäftigt war, ihn mit meinem Blick zu erdolchen, nicht auf den Weg achtete und der Länge nach hinschlug. Meine Tasche fiel herunter, der Inhalt verteilte sich auf dem Gehweg und ich biss die Zähne zusammen, um nicht aufzuheulen als ich das Brennen an meinem rechten Knie spürte. Der Junge (der, wie ich beschloss, daran schuld war) kam herbeigerannt und kniete sich zu mir auf den Boden.
„Alles okay?“, fragte er auf Spanisch und noch immer mit einem leichten Grinsen auf dem Gesicht. Ich hätte ihm gerne eine reingeschlagen, wenn ich nicht beide Hände dazu gebraucht hätte, mich abzustützen. So beschränkte ich mich auf einen bösen Blick. Zu schade, dass ich die wirklich guten Schimpfwörter nicht auf Spanisch kannte.
„Hau ab!“, blaffte ich unfreundlich und wischte mir übers Knie – ein Fehler, meine Hand war nun blutig gefleckt. Angeekelt starrte ich darauf, dann wieder auf den Jungen.
Letzterer machte keine Anstalten, zu verschwinden, sondern begann, meine Sachen einzusammeln und in meine Tasche zu packen. Ich sah ihm wütend dabei zu und riss ihm die Tasche aus der Hand, sobald er fertig war.
„Bitte“, sagte der Junge mit einem provozierenden Lächeln.
„Halt die Klappe“, knurrte ich ihn an und rappelte mich auf. Zu meiner größten Zufriedenheit war ich größer als er. Okay, er sah auch etwas jünger aus, aber dennoch.
Er lachte nur und hielt mir die Hand hin. Ich starrte ihn an und kam zu dem Schluss, dass er wirklich von mir erwartete, dass ich ihn anfasste.
Schulterzuckend ließ er die Hand wieder sinken, als ich mich nicht rührte, allerdings ohne mit seinem dämlichen Grinsen aufzuhören.
Ich drehte mich um und ging, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, weiter. Sein Lachen hörte ich trotzdem noch hinter mir.
Als ich beim Haus ankam, war ich noch immer wütend, mein Knie blutete, was mich etwas mitgenommen aussehen ließ. Außerdem konnte ich mir einen melodramatischen Gesichtsausdruck nicht verkneifen.
José öffnete – und starrte entsetzt erst mein Knie, dann auch mein Gesicht an.
„Was ist passiert?“ Bevor ich dazu kam, den Mund aufzumachen, war er schon auf mich zugekommen, hatte meinen Arm um seine Schultern und seinen um meine Taille gelegt. Seine plötzliche Nähe brachte mich zum Verstummen, sie kam so plötzlich, dass mir die Luft wegblieb. Allerdings nur kurz, danach atmete ich doppelt so schnell wie vorher weiter. Obwohl auch die Umgebung warm war, konnte ich jeden Zentimeter Haut lodern spüren, den er berührte. Selbst wenn ich es gewollt hätte – was nicht der Fall war, da ich diesen Moment niemals mit Worten zerstören würde – wäre ich nicht dazu in der Lage gewesen, etwas zu sagen. Mehr oder weniger auf ihn gestützt gelangte ich so zum Badezimmer, mit einem Fuß stieß er die Tür auf und hob mich kurz über die Türschwelle. Ich hätte natürlich durchaus laufen können, ließ mir diese Chance jedoch nicht einfach so entgehen.
Ich schwöre, dass ich kurz vorm Kollabieren war als er sich auf den Rand der Badewanne setzte und Mich. Auf. Seinen. Schoß. Hob.
Vielleicht war er ja ein geheimer Attentäter und versuchte mich mit meinen Reaktionen auf ihn umzubringen… Bis jetzt klappte es zumindest ganz gut. Ich atmete tief ein, um mich zu beruhigen, und bewirkte das Gegenteil. Sein unvergleichlicher Duft schlug mir wogenähnlich entgegen, er roch nach Salz und Meer und… Sonne? Kann Sonne wie etwas riechen? Wenn ja, dann war es genau das
.
Entweder er bemerkte meine Atemprobleme gar nicht oder er ignorierte sie sehr konsequent, auf jeden Fall tupfte er mir sorgfältig mit einem feuchten Tuch das Knie ab. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht wie eine Sechsjährige loszuheulen und konzentrierte mich auf das Gefühl, ihm ganz nahe zu sein. Es funktionierte gut, mein Denken war damit locker voll beschäftigt. Ich kam mir vor wie ein kleines Mädchen, wie ich da saß und verarztet wurde, aber ich hatte im Moment kein Problem damit. Hm. Er wäre bestimmt ein guter Vater…
Halt. Schluss. Nicht weiterdenken, Jenny. Bist du total durchgeknallt?
Wenigstens überzeugte mich dies davon, dass er doch keine Gedanken lesen konnte, denn wenn, dann hätte er irgendwie reagieren müssen
, eine dermaßen perfekte Selbstbeherrschung traute ich ihm dann doch nicht zu.
Ich wandte den Kopf und versteckte mein Gesicht in seinem T-Shirt, einerseits weil ich absolut angewidert von meinem Bein war, andererseits damit er nicht sehen konnte, dass ich rot wurde. Okay, diese Geste war nicht ganz uneigennützig, ich inhalierte unauffällig seinen Duft, der noch stärker war als vorher.
Ich spürte, wie er mir ein gigantisches Pflaster aufklebte als die Tür aufging. Ich sah auf. Und dachte im Kopf schon darüber nach, ob ich eher durchs Fenster oder durch die Tür fliehen sollte. In der Tür stand Naiara. Sie sah erschrocken aus, aber nicht auf die Art, die ich vermutet hätte. Sie starrte vielmehr mein Knie an und dann besorgt mein Gesicht.
„Was ist denn mit dir passiert?“ Rasch kam sie auf uns zu und begutachtete die Wunde, die halb vom Pflaster bedeckt wurde. Ich konnte nicht sofort antworten.
Hallo?! Ich saß gerade auf dem Schoß ihres So-gut-wie-Verlobten und es macht ihr überhaupt nichts
aus? Eines wusste ich ganz sicher, wenn ich
zum Beispiel … ähm, Alicia erwischen würde, wie sie auf Nicos Schoß saß, boah, die beiden könnten aber was erleben!
Also, dachte ich weiter, war Naiara sich entweder ihrer Sache sehr sicher, oder ich kam für sie gar nicht als mögliche Konkurrenz in Frage (kam ich ja auch gar nicht! Ich hatte gar nicht vor, zur Konkurrentin zu werden!). Sehr schmeichelhaft. Okay, wahrscheinlich war ich für sie eben ‚nur’ ein Teenagermädchen – ich mein, ich würde ja auch nicht darauf kommen, dass Betty was von Nico will, wenn sie sich in so einer Situation befände und immerhin war der Altersunterschied zwischen den Beiden etwa gleich groß wie der zwischen José und mir. Irgendwie erniedrigend, sich mit Betty auf eine Stufe gestellt zu fühlen, dachte ich griesgrämig. Aber Moment, das klang so, als ob… ich etwas von José wollen würde
! Ha! Das hatte damit überhaupt gar nichts zutun, das war nur so ein Gedanke, okay?
Während ich mich im Kopf weiter anbrüllte kam ich zu dem Schluss, dass ich vielleicht mal erklären sollte, was eigentlich passiert war.
„Ich, äh,… bin gestolpert und hingefallen“, sagte ich ziemlich kläglich und wäre am liebsten gegen eine Wand gerannt. Es klang absolut bescheuert und wahrscheinlich war es das auch. Ich rechnete es José und Naiara sehr hoch an, dass sie nicht anfingen zu lachen. Naiaras Lächeln wirkte einfach nur erleichtert und… mütterlich. Da hatte ich es wieder. Mütterlich
. Ich war nur ein kleines dämliches Teenagermädchen, das sich einbildete, bei dem geilsten Typen des Planeten irgendwelche Chancen zu haben… Aber nein! Das stimmte doch gar nicht! Ich wollte doch gar nicht an ihn ran! Ich mein ja nur, dass ich gerne den Status gehabt hätte, der mir diese Chancen vermittelt hätte. Nicht, dass ich sie nutzen würde, nein
. Ich wollte nur nicht so wie ein Kind behandelt werden. Das war alles. Ende.
Die schlimmste Art jemanden zu vermissen ist, neben ihm zu stehen und zu wissen, dass er niemals zu einem gehören wird.
10. So was nennt man Schicksal.
Niemand hatte mich darauf vorbereitet, dass ich mich plötzlich in der Fremde zuhause fühlen würde.
Kathi,
mach dir nicht so viele Sorgen um mich. Ich kann auf deine vielen Mails gar nicht mehr antworten :D …
Du müsstest hier mal hinkommen, es würde dir total gefallen – Sommer, Sonne, Strand & Meer und so, weißt schon. Aber okay, ich weiß, dass England dir besser gefällt, also bleib doch besser da.
Hey, hey, hey, aber José musst du dir unbedingt mal angucken. Boah, jemanden wie den haste noch nicht gesehen, ich schwör’s. Ich schick Fotos, sobald ich dran denke, versprochen. Eigentlich sind alle nett, Schule ist ein bisschen dumm aber okay, ich spür schon wie ich braun werde, weil ich dauernd in der Sonne bin. Ist es wissenschaftlich erwiesen, dass Spanier die heißesten Typen sind? Ich vermute, ja.
Erzähl mir was von dir, ja? Ach, und tut mir leid, dass ich dir erst jetzt antworte. Ich bin zuhauf beschäftigt, Business und so ;’D…
Geh den armen Engländern nicht zu sehr auf die Nerven, sie wollen weiterleben.
Ich hab dich lieb, vergiss das nicht.
Jenny
Ich klickte auf ‚Absenden’, schaltete den Laptop aus und seufzte. Was die sich alle für Sorgen machten… Ich hatte mich dazu überwunden, ein bisschen Zeit zu entbehren und mir in der letzten halben Stunde fast die Finger blutig getippt bei dem Versuch, allen zufrieden stellend zu antworten. Okay, wenn Naiara mich nicht daran erinnert hätte, dass meine Mutter bestimmt wissen wollte wie es mir ging, hätte ich wahrscheinlich erst in zwei Wochen oder so geschrieben. Aber ich war wirklich, wirklich beschäftigt!
Zunächst war ich am Dienstag mit Serena shoppen gewesen, halb weil ich neue Sachen brauchte, halb weil sie mich auch andernfalls mitgezerrt hätte. Wir waren in einer etwas größeren Stadt gewesen, dessen Namen ich immer noch nicht aussprechen konnte, und hatten sämtliche Geschäfte abgeklappert – Serenas Enthusiasmus war nicht zu stoppen gewesen und außerdem ansteckend. Es fiel mir leicht, mit ihr zusammen zu sein und ich hätte ihr stundenlang zuhören können, wenn sie von den letzten Jahren erzählte, die ich verpasst hatte.
Die Schule war ganz okay, die Blicke wurden allmählich weniger und ich gehörte in den Pausen stammplatzmäßig zu Aileens Clique. Ihre beste Freundin hieß Carmelita und ich musste mir tausendmal anhören, wie die Beiden über einige Jungs aus der Parallelklasse tuschelten. Okay, das war gemein, immerhin kümmerten sich alle ganz gut um mich und waren an mir interessiert. Manchmal ein bisschen zu interessiert, ein Junge aus dem Jahrgang über uns, dessen Namen ich noch nicht einmal kannte, schien Gefallen an mir gefunden zu haben und ich ging ihm möglichst aus dem Weg, auch wenn Aileen mir stets vorschwärmte, wie toll er doch wäre. Ich nahm mir vor, ihn mal mit ihr bekannt zu machen.
Jungstechnisch war ich nämlich mit José und David ganz gut bedient, ich verspürte einen gewissen Stolz wenn ich mit einem der Beiden unterwegs war und die bewundernden Blicke anderer Mädchen auffing. Jedes Mal war ich dann ein bisschen ängstlich, wie die Beiden reagierten, doch sie schienen sie gar nicht zu sehen.
Trotz allen positiven Aspekten war ich froh, als endlich mal wieder Wochenende war und ich nicht den halben Tag mit sinnlosem Lernen in der Schule verbringen musste. Serena und David waren am Samstagmorgen schon früh gekommen und frühstückten mit uns, was mir zwar die Gelegenheit eines gemeinsamen Frühstücks mit José vermieste, mich jedoch nicht weiter störte. Irgendwie bildeten sie eine Art Familie, die einfach dazugehörte und an die ich mich längst gewöhnt hatte.
„Unsere Kleinen haben heute ein Turnier“, bemerkte José, während wir draußen am Tisch saßen. Serena verdrehte demonstrativ die Augen, ich sah auf.
„Ihr trainiert eine Mannschaft? Sind sie gut?“, fragte ich interessiert und in dem Versuch, meine Enttäuschung darüber, dass er nicht da sein würde, zu verbergen.
„Natürlich sind sie gut. Absolute Weltklasse, von uns trainiert, was erwartest du?“, fragte David grinsend.
„Ihr könnt also mal einen, ähm, Mädelstag haben“, fügte José hinzu. Um seine Mundwinkel zuckte es verdächtig.
„Jaja. Ihr mit euren dämlichen Fußballspielen“, grummelte Serena ihn an, dann lächelte sie mich an. „Wir machen uns einen schönen Tag.“
Innerlich seufzte ich. Natürlich mochte ich Serena und Zeit mit ihr zu totzuschlagen machte immer Spaß, aber ich hatte gehofft, den Tag in Josés Nähe verbringen zu können. Das war’s dann wohl damit. Obwohl ich mir sagte, dass ich ihn ja auch nicht unbedingt immer sehen musste. Mädelstag dann eben.
Ich war froh, die Planung des Tages Serena überlassen zu können und nicht selbst darüber nachdenken zu müssen. Nach ausgiebigem Baden im Pool an Serenas Haus lagen wir nebeneinander in den Liegestühlen und ließen uns von der Sonne bescheinen. Ich war kurz davor einzuschlafen, das Grillenzirpen wirkte einlullend und durch einen leichten Wind war es angenehm kühl.
„Du magst José.“ Ich erstarrte als ich Serenas Worte vernahm. Jegliche Müdigkeit verschwand von einem Augenblick zum nächsten und ich erwog die Möglichkeit, mich trotzdem schlafend zu stellen – beschloss dann aber, dass sie mich sowieso durchschauen würde. Als drehte ich mich zu ihr um. Sie hatte einen Arm aufgestützt und sah mich an.
Ich versuchte gar nicht erst, ihre Aussage abzustreiten und ging auf den Gegenangriff über.
„Du magst David“, erwiderte ich mit aufgesetztem Pokerface. Zum Glück trug ich meine überdimensionale Sonnenbrille, sodass sie mir nicht in die Augen sehen konnte. Mir war selbst in der kurzen Zeit, die ich hier verbracht hatte, klar geworden, dass Serena für David vielleicht etwas mehr Freundschaft empfand. Und er auch für sie, doch beide schienen darauf bedacht, es ja nicht zuzugeben. Als ich darüber nachdachte, hätte ich mich am liebsten selbst für meine Antwort geohrfeigt. Serena mochte David vielleicht (oder eher höchstwahrscheinlich) ziemlich ziemlich gerne, aber jetzt hatte ich mich selbst verraten.
Zu diesem Schluss war sie wohl auch gekommen, denn sie hob eine Augebraue, ihr Blick war kritisch. „Du stellst also meine Beziehung-“, sie zeichnete imaginäre Anführungszeichen in die Luft, „mit David mit der von José und dir gleich, ja?“
Mist. Ich rückte mir die Sonnenbrille zurecht, um Zeit zu gewinnen.
„Nein, also eigentlich nicht…“, verteidigte ich mich schwach und wenig überzeugend. Ich war noch nie eine gute Schauspielerin gewesen.
Serena überging meinen jämmerlichen Versuch, das Gesagte zurückzunehmen. „Also mal angenommen, dass du José so magst wie ich David mag und vielleicht mag ich David ja ganz gerne…“ Sie sah mich erwartungsvoll an ohne den Satz zu beenden.
Unbehaglich rutschte ich auf meinem Liegestuhl herum. Ich war mittlerweile fast einen Monat hier und dachte eigentlich, dass niemandem mein stummes Schmachten aufgefallen war. Offenbar hatte ich mich in dem Punkt getäuscht. Ich seufzte.
„Nur Freunde und so“, sagte ich schließlich schulterzuckend und wich ihrem Blick aus.
Sie runzelte die Stirn. „Jaja, David und ich sind ja auch nur ‚Freunde’“, entgegnete sie sarkastisch und ohne mich aus den Augen zu lassen. „Du bist eine grauenhafte Schauspielerin, Jenny“, fügte sie hinzu.
Missmutig ribbelte ich den Saum meines Handtuchs auf. „Ich weiß“, seufzte ich.
„Du gibst es also zu?“ Serenas Miene hellte sich auf.
„Nein! Ich geb gar nichts zu!“, rief ich schnell.
„Ha! Ich hab dir noch gar nicht gesagt, was du zugeben sollst!“ Serena lächelte triumphierend. Ich starrte sie sprachlos an.
„Du… Monster!“ Lachend sprang sie auf als ich auf sie zu hechtete und wenige Augenblicke später tauchten wir nebeneinander aus dem Pool wieder auf.
„Das war… fies!“, keuchte Serena grinsend und warf mich fast wieder hinein.
„Das bleibt unter uns“, versetzte ich und sah sie flehend an. Sie lächelte beruhigend.
„Hey, ich bin deine Freundin, schon vergessen?“ Sie drückte mich kurz an sich und ich erwiderte ihre Umarmung dankbar.
Eigentlich war schon immer für mein ausgesprochen schlechtes Gedächtnis berühmt gewesen – was meine Mitmenschen stets höchst amüsant fanden. Aber wenn ich später an den Abend jenes Tages zurückdachte, erinnerte ich mich an jedes Detail …
Später kam Serena mit zu mir, damit ich ‚nicht allein im Haus sein musste’, wie sie betonte. Im Nachhinein vermutete ich, dass sie schon da die Cocktailparty geplant hatte, die wir dann am Abend auf ihr Drängen hin veranstalteten – gegen ihren Enthusiasmus hatte ich einfach keine Chance. Ursprünglich sollte es eine Art Empfang für David, José und Naiara werden (was mir schon ein bisschen übertrieben vorkam, aber na ja, es war eben Serena), aber nach einer Weile des Wartens fingen wir einfach schon mal an. Genau genommen war es auch gar keine richtige Cocktailparty, weil Serena darauf bestand, kein Alkohol zu benutzen und so saßen wir auf der Terrasse bei alkoholfreien Drinks als sie wiederkamen.
„Da sind wir wieder!“, rief David schon von weitem und kam als Erstes um die Hausecke, dicht gefolgt von José und Naiara.
„Alles vorbereitet, wie ich sehe“, bemerkte José grinsend und setzte sich neben mich (Freunde, Freunde, Freunde). Ich war kurz davor in meine übliche Reaktion auf ihn zu verfallen, als ich seine Worte realisierte. Ich starrte erst ihn, dann Serena an.
„Was vorbereitet? Was hast du mir nicht gesagt?“ Grr. Ich hasste
Überraschungen.
„Sei nicht sauer, ich wollte es ein bisschen interessanter machen“, sagte Serena schnell, bevor ich eine wütende Tirade von Schimpfwörtern vom Stapel lassen konnte. „Es ist eine Art Abschiedsparty.“
Das ließ meine Alarmglocken anschlagen. Abschied war meistens nicht gut. Entsetzt sah ich in die Runde. Hilfe! Was hatte ich verpasst? Konnte mich mal jemand aufklären?!
„Keine Angst, Serena übertreibt mal wieder. Es ist nur vorübergehend und eigentlich hätten wir beide die Party schmeißen müssen. Bevor du hergekommen bist, war Naiara längere Zeit über krank und wird jetzt eine Weile in eine Kur fahren und Serena besucht ihre Cousine in Madrid – ich wundere mich, dass sie es so lange ausgehalten hat, ohne es dir zu erzählen. Und David fährt ins Trainingslager vom Fußball.“ Er zuckte die Schultern. Whoa, hallo? Wie kann der die Schultern zucken, nach dem, was er mir gerade im normalsten Tonfall der Welt erzählt hatte?! Denn das, was er mir gerade eröffnet hatte, bedeutete – und das wurde mir erst jetzt richtig bewusst – ja…
Oh mein Gott
. Konnte mir mal jemand eine Tüte zum Inhalieren bringen?! Ich starrte ihn einen Moment lang an, bis ich die Kraft dazu fand, mich etwas abzuwenden. Ich fragte das Erste was mir in den Kopf kam: „Und du fährst gar nicht mit in Trainingslager?“ Ich hätte mich am liebsten von einer Klippe geworfen. Natürlich fuhr er nicht mit, das hatte ich doch gerade mitbekommen. Ich schob diesen ersten dämlichen Gedanken auf meinen Schockzustand und verdrängte mühsam die restlichen Gedanken, die etwas verspätet als riesige Welle auf mich einzustürzen drohten.
„Nein, so wichtig ist es nun auch wieder nicht. Und ich kann dich ja schlecht alleine hier lassen. Wir kriegen das schon hin…“, meinte José lächelnd. Ich hätte ihn jetzt gerne angesprungen. Nein! Halt! Letzten Gedanken bitte löschen.
Er blieb hier… wegen mir
(na ja, mehr oder weniger freiwillig, aber trotzdem). Und mir gefiel diese Art wie er von ‚uns’ sprach.
„Das ist… total nett von dir“, brachte ich heraus und unterdrückte erfolgreich den Drang, einige andere Adjektive zu benutzen, die mir durch den Kopf gingen. Ich spürte Serenas Blick auf mir und vermied es, sie anzusehen. Im Kopf konnte ich mir trotzdem ihr Grinsen vorstellen. Boah. Die konnte was erleben, dass sie mir das nicht gesagt hatte…
Erst jetzt erfasste ich den genauen Sinn von dem, was er vorhin gesagt hatte und drehte mich zu Naiara herum (was wohl meine allererste Reaktion hätte sein sollen), geschockt suchte ich automatisch nach Anzeichen einer Krankheit bei ihr, aber sie lächelte mich an.
„Längst erholt“, beruhigte sie mich, „aber die Ärzte wollen trotzdem, dass ich in diese Kur gehe. Das ist doch okay, oder? Du kommst schon klar mit José.“ Ob ich klar kam?! Oh ja, das würde ich. Hoffentlich. Wenn ich danach keine Asthmatikerin war und noch reden konnte.
Ich setzte ein Lächeln auf. „Bestimmt!“
Ich war froh, dass die anderen dann anfingen, sich angeregt zu unterhalten und ich abschalten konnte. Zumindest ein wenig, ab und zu nickte ich oder schüttelte den Kopf, damit meine Maskerade nicht so sehr auffiel. Tat sie aber trotzdem. Ich könnte schwören, dass Serena kurz vorm Loslachen war. Das würde Rache geben, so viel war sicher…
Am liebsten wäre ich so früh wie möglich in mein Zimmer gerannt und hätte… äh, mich aus dem Fenster geschmissen oder so. Aber ich sagte mir, dass es der letzte richtige Abend mit den anderen war und José saß noch immer neben mir, sodass ich nicht so dämlich sein wollte, meinen ultimativen Vip-Tribünen-Platz aufzugeben.
Schließlich war es dann doch schon relativ dunkel als ich endlich im Bett lag und ich mich endlich von meinen Gedanken überfallen lassen konnte. Mehrere Dinge schossen mir gleichzeitig durch den Kopf wie ein Schwarm Hornissen.
Erstens, ich würde mehrere Wochen ganz alleine mit José verbringen
(mit dieser Tatsache war mein Gehirn ewig beschäftigt und es kam mir so vor, als würde diese Hornisse ganz besonders laut und unzerstörbar war). Wir würden niemanden sonst um uns herum haben. Nur er und ich… jedenfalls im weitesten Sinne, zur Schule musste ich schließlich trotzdem noch gehen.
Zweitens, es sollte mir überhaupt nichts ausmachen. Aber es machte mir sehr wohl etwas aus. Und das wiederum sollte mir wirklich zu denken geben.
Drittens, es war ganz sicher nicht gut, mir von ihm den Verstand auspusten zu lassen. Ich musste das ändern und so weitermachen wie in den letzten zwei Wochen, in denen ich das mit Freunden und so ganz gut hinbekommen hatte. Allerdings musste ich jetzt unter erschwerten Bedingungen arbeiten. Das war so unfair…
Viertens, ich fühlte mich bis zu den Sternen schuldig wegen Nico. Obwohl ich eigentlich gar nichts Schlimmes getan hatte! Okay, wenn man von meinen Gedanken absah, die ich in die verbotene Schublade in meinem Gehirn verbannte. Aber Nico war nicht hier, sondern hunderte Kilometer entfernt in Deutschland… und da war es jawohl logisch, wenn ich mich mal auf Personen in meiner Nähe konzentrierte. Und wenn dann eine dieser Personen auch noch übertrieben gut aussah, musste ich mich schon etwas mehr konzentrieren.
Fünftens, ich hatte keine Ahnung wie ich das ändern sollte.
Und sechstens, ich wollte
es auch gar nicht ändern. Ich wollte verbotene Gedanken denken und mir den Kopf von ihm verdrehen lassen. Und das war wirklich nicht gut.
Ich will mehr davon. Mehr von ihm.
11. Falsche Gedanken und bodenlose Eifersucht
Die Realität ist der beste Regiesseur.
Ich erlebte die erste Nacht, in der ich nicht einschlafen konnte. Stundenlang lag ich wach und starrte an die Decke, ohne dass meine Gedanken eine neue Wendung nahmen. Das ‚Es ist ja nichts dabei’ hatte ich schon bald aufgegeben und fragte mich stattdessen, ob es wundervoll oder grauenhaft sein würde. Leider neigte ich dazu, Wundervolles in Grauenhaftes zu verwandeln und war so nicht sonderlich optimistisch.
Das Ergebnis war, dass ich am nächsten Morgen übernächtigt und ziemlich gruselig aussah, ich schaffte es nicht einmal, das Gröbste unter Make-up zu verstecken. Ich hasste mich selbst dafür, dass mich die Tatsache, mehrere Wochen mit einer Person allein zu verbringen, mich so aufregte. Okay, man musste dazu sagen, dass es sich nicht um irgendeine normal sterbliche Person handelte, neeeein, wir sprechen hier vom umwerfenden, perfekten, supersüßen,-
„Jenny? Willst du noch Kakao?“ José sah mich erwartungsvoll an, ich glotzte verständnislos zurück und versuchte, den Sinn seiner Worte zu erfassen.
„Eh…was? Öh. Nein, danke.“ Schnell senkte ich den Blick auf meinen Teller und aß hastig weiter, sodass ich mich verschluckte und fast das gesamte Essen wieder auf den Tisch gehustet hätte. Na toll. Mittlerweile hatte ich mich irgendwie daran angepasst, nach außen hin relativ normal zu wirken, wenn er dabei war. Dachte ich zumindest. Ganz von alleine kamen mir albtraumhafte Vorstellungen in den Kopf, was ich alles Schlimmes tun könnte, wenn nur wir zusammen hier waren. Er und ich. Allein. Tagsüber. Nachts. Immer. Sonst niemand.
Ich zwang mich dazu, die Schublade der verbotenen Gedanken in meinem Kopf wieder zuzustemmen und stand ruckartig auf.
„Ich… geh einkaufen“, sagte ich ziemlich lahm und wünschte mir im nächsten Moment, in einem tiefen Loch verschwinden zu können. Auffälliger ging’s jawohl nicht… Naiara war erst gestern in der Stadt gewesen.
„Klar.“ Ich sah José überrascht an, einen Augenblick fragte ich mich, ob ich vielleicht doch nicht so schlecht schauspielerte. Aber in seinen Augen las ich eher so etwas wie… Verständnis? Nicht gerade leicht, irgendwas in seinen Augen zu lesen, wenn man gleichzeitig von ihnen hypnotisiert wurde und man das Gefühl hatte, darin zu ertrinken. Wie im Meer. Ich hätte noch viel mehr über diese unvergleichlichen Augen schwärmen können, die mich wie jedes Mal an Wasser erinnerten und in ihren Bann zogen, aber ich riss mich los und schob den Stuhl wieder an den Tisch. Mir war klar, dass er genau wusste, dass ich nicht wirklich einkaufen wollte. Aber er sagte natürlich nichts. Dafür war er viel zu… einfühlsam. Verständnisvoll. Unvergleichlich süß und –
Ich geriet schon wieder ins Schwärmen. Das konnte nicht mehr gesund sein. Brauchte er keine schriftliche Erlaubnis dafür, so zu sein?
Irgendwie gelang es mir, dann schließlich auf der Straße zu stehen und ich konnte wieder einigermaßen normal denken. Ich wollte auf keinen Fall zu diesen Mädchen gehören, deren Leben durch irgendeinen Typen bestimmt wird. Okay, José war nicht irgendein Typ. Aber sagte das nicht jede?
Ich stellte frustriert fest, dass ich mich in Gedanken mal wieder so anhörte, als wäre ich ihm total verfallen. Ha! Sowas von überhaupt gar nicht! Abgesehen von dieser Tatsache kommt mein Verhalten wenn schon gar nicht zur Kategorie ‚Verknallt sein’, sondern in die Schwärmen-Rubrik für Schauspieler und solche Leute. Eindeutig eher Josés Niveau.
Unbewusst war ich einfach drauflos gegangen – ich konnte so einfach besser denken. Genug Stoff hatte ich ja. Und das Vorteilhafte hier war, dass man nicht andauernd Leuten begegnete, die man kannte und mit denen man Smalltalk halten musste. Manche, die mich kannten, sagten, dass ich wenig rede. Das stimmte nicht. Die meisten Gespräche spielten sich sowieso meistens zwischen meiner guten Seite und meiner Bösen ab und waren für Nicht-Gedankenleser nicht vorhanden. Leider schien dieser Ort mein böses Ich irgendwie zum überwiegen zu bringen – aber hey, mein böses Ich hatte auch verdammt gute Ideen und angenehme Gefühle im Angebot.
Ich hatte diese Angewohnheit, das Gegenteil von dem zu tun, was ich mir vornahm. Und trotzdem schwor ich mir, die Wochen mit ihm einfach normal und ich selbst zu sein. Ganz natürlich. Na gut, ich selbst zu sein war nicht immer so eine gute Idee, weil ich dazu neigte, eine Menge Mist zu bauen. Aber Menschen ändern sich und so. Eine gute Chance, diesen Spruch wahr zu machen, wie ich fand.
Und dann war da natürlich noch Nico. Ich weigerte mich standhaft, die José-Sache mit der Nico-Sache in Verbindung zu bringen, obwohl ich es vielleicht tun sollte. Leider versuchte ich mir vergeblich vorzulügen, dass ich ihn vermisste (wobei, ich vermisste ihn ja schon, aber... dann auch wieder nicht). Dass ich mich zu ihm wünschte. Vielleicht kam das erst später, immerhin war ich erst… über einen Monat hier. Okay, das war nicht normal. Aber ich war auch nicht normal, dann könnte es doch in Ordnung sein. Oder ich war einfach nur unabhängiger als ich dachte und kam gut mit so was klar. Oder ich war ein schrecklicher, schlechter Mensch, der seine Freunde vernachlässigte. Eine deprimierende Vorstellung, also schloss ich diese Möglichkeit konsequent aus.
Außerdem musste ich zu meiner Verteidigung dazusagen, dass ich auch nicht sonderlich viel Zeit gehabt hatte, um mich mit meinen heimatlichen Freunden zu beschäftigen. Und sollte ich nicht eigentlich froh sein, sie nicht allzu sehr zu vermissen? Immerhin blieb mir eine Menge erspart. Aber irgendwie… klang es immer noch schlecht. Dabei vermisste ich sie sehr wohl. Kathi könnte mir bestimmt behilflich sein und Alicia, Alicia mit ihrem sechsten Sinn für Jungs wäre goldwert! Zu gerne hätte ich sie um Rat gefragt, aber einfach so per SMS oder am Telefon konnte ich das ganze verwirrende Chaos hier unmöglich erklären. Und wenn Nico nun hier wäre mit seiner lieben Art und mich mal wieder weitaus besser behandeln würde als ich es verdiente… dann wäre da keine Unsicherheit, garantiert nicht. Aber er war nicht da.
Ich seufzte und hätte jetzt gerne gegen irgendwas gegen getreten, wenn ich nicht gewusst hatte, dass ich es danach definitiv bereuen würde. Ich kam an einer Bank vorbei und ließ mich mehr oder weniger bewusst darauf nieder. Am anderen Ende saß noch jemand, von mir abgewandt, sodass ich kein Gesicht erkennen konnte – aber meistens klappte die aufdringliche Sich-zu-jemandem-setzen-Methode ziemlich gut und ich hoffte, dass der- oder diejenige bald verschwinden würde.
Ich schaltete so gut es ging auf Ignoriervorgang und merkte erst nach einer Weile, dass ich angestarrt wurde. Wie ich solche Leute hasste…! Ich war kurz davor, zurückzuglotzen, als mir aus den Augenwinkeln etwas auffiel. Dieses dämliche Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor, mein Gehirn speicherte unangenehme Begegnungen immer genauer ab als andere und es brauchte nicht lange, um zu erkennen. Mein Kopf fuhr herum und ich starrte böse zurück.
„Du schon wieder“, knurrte ich den Jungen von der Straße an.
„Hi.“ Er lächelte schief (an meiner Schule in Osnabrück würde er die Rolle des Mädchenschwarms in den siebten Klassen bekommen).
„Verfolgst du mich?!“, fragte ich bissig. Konnte man mich nicht mal in Ruhe lassen?
„Hey, ich war zuerst hier!“, verteidigte er sich. Hm. Damit hatte er allerdings Recht. Ich seufzte genervt, schloss die Augen und sank zurück an die Rückenlehne.
„Kannst du nicht einfach bitte
weggehen und mich in Ruhe lassen?“
„Was ist los? Du kannst es mir ruhig sagen, ich erzähl’s nicht weiter.“ Ich sah ihn an. Wie alt er wohl war? 13? Warum sollte er mich verstehen? Aber… spielte das eine Rolle? Ich lächelte ein bisschen.
„Ein andermal.“ Ich stand auf.
„Ach, wir sehen uns also wieder?“ Er grinste und ich musste gegen meinen Willen zurückgrinsen.
„Wenn du mich weiterverfolgst lässt es sich wohl nicht vermeiden.“ Ohne einen weiteren Blick zurück ging ich weiter die Straße entlang, die Augen auf den Weg geheftet. Aber nach einigen Minuten wurde mein Gang wieder ruhiger und meine Gedanken schweiften ab.
Ich benahm mich so absolut albern. Was wollte ich denn? Ich hatte doch alles, was mich glücklich machte. Selbst hier noch. Natürlich war es möglich, José wie einen guten Freund zu behandeln, ich musste mir einfach Mühe geben. Und während ich hier herumlief und mich mit meinen Gedanken mental zumüllte, verstrich die restliche Zeit, die ich mit Serena, David und Naiara hier noch verbringen konnte bevor sie eine Weile weg waren.
Ja, ich war wirklich eine verdammt schlechte Freundin.
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass es da, wo auch immer du hinfährst, auch Kleidung zu kaufen gibt“, bemerkte ich, während der Berg aus T-Shirts, Hosen und Kleidern in Serenas Tasche wuchs. Sie hatte mich gebeten, ihr beim Packen zu helfen, obwohl ich eigentlich nur ziemlich überflüssig auf ihrem Bett saß und ihr zusah. Kofferpacken war so eine schreckliche Abschiedstätigkeit, auch wenn man weiß, dass es nicht für lange ist. Es kam mir unfair vor, dass Serena ausgerechnet in der Zeit, die ich hier verbrachte, wegfahren musste, aber sie freute sich so sehr, dass ich auch nicht den Spielverderber machen wollte.
„Ja, ja“, gab sie jetzt abwesend zurück und ohne den Blick von dem Stapel mit Tops auf ihrem Schoß zu wenden.
Ich seufzte. „Ich kann’s immer noch nicht glauben, dass du mich einfach so allein hier lässt“, sagte ich anklagend.
Jetzt sah sie doch auf. „Du hast doch noch José“, gab sie lächelnd zurück und wich dem Kissen aus, das ich nach ihr warf.
„Du weißt, was ich meine, du Kuh!“, erwiderte ich und musste gegen meinen Willen zurückgrinsen. „Wirst du mir irgendwann deinen geheimen Plan eröffnen?“
„Ich habe keinen Plan, das ist das ganze Erfolgsrezept. Alles was passiert, hat seinen Sinn und ich lasse es passieren. Hat bis jetzt immer funktioniert.“
„Findest du es nicht ein bisschen gemein, mich darunter leiden zu lassen?“, fragte ich stirnrunzelnd.
„Du wirst schon nicht zu sehr leiden, davon bin ich überzeugt.“ Ihr Lächeln wurde warm, aber ihre Augen blickten ernst. Ich starrte verzweifelt zurück.
„Ich kapier deine Einstellung nicht“, seufzte ich deprimiert.
Serena stand auf und ließ sich dann neben mir nieder. Sie drehte meinen Kopf so, dass ich sie ansehen musste und setzte ihren beschwörenden Blick auf.
„Ich hab gar keine Einstellung. Jenny, was passieren muss, passiert. Und du kriegst das schon hin. Irgendwie. Ich weiß es.“ Sie drückte meine Hand.
„Du willst mir Mut machen und dummerweise funktioniert es. Hör auf damit, das klingt alles so schrecklich erwachsen und weise, aber letztendlich bin ich auf mich allein gestellt“, gab ich muffelig zurück.
Sie lachte. „Du machst dir viel zu viele Sorgen und hast gar keinen Grund dazu. Du kannst mir nicht erzählen, dass du dich in Josés Nähe nicht wohl fühlst.“
„Genau das ist doch das Problem. Ich fühle mich so wohl, dass es schon wieder unheimlich ist und-“ Der Rest meiner Worte wurde durch Serenas Handfläche erstickt.
„Keine weitere Diskussion mehr. Komm jetzt, ich muss los.“ Sie erhob sich und zog mich gnadenlos an einer Hand mit sich, obwohl ich mich absichtlich schwer machte. Ja, manchmal konnte ich echt kindisch sein. Aber ich hatte ja auch jedes Recht dazu.
„Würdest du hier bleiben, wenn ich dich darum bitte?“, versuchte ich es mit dem einzigen Weg, der mir noch einfiel. Es war mir egal, ob sie sich dann schuldig fühlte oder nicht. Ich wusste nur, dass ich sie hier bei mir haben wollte – aus dem einfachen egoistischen Grund, dass ich sie gern hatte, mehr als das, sie eher wie eine Schwester liebte. Plötzlich wurde mir dies klar, jetzt, wo sie ging. Die Wochen hier hatten Spuren hinterlassen. Schon jetzt. Und Serena war nicht irgendeine Freundin, sie war meine Vertraute, meine Zuhörerin und die Einzige, der ich hier von Nico und mir wirklich erzählen konnte. Von dem Jungen, den ich auch jetzt liebte wie noch bei meinem Abflug und der trotzdem nicht verhindern konnte, dass ich bei einem anderen Herzklopfen bekam, alles vergas. Wie vielen Menschen kannst du bedingungslos vertrauen? Wie viele Menschen lieben dich wirklich, und das nach kurzer Zeit? Bei wie vielen Menschen hast du das Gefühl, dass sie wertvoll und wichtig sind? Meine emotionalere Seite nahm Besitz von meinen Gedanken und ließ die Gefühle alle auf einmal auf mich los. Ich hätte hier auch ganz alleine bleiben können, aber sie behandelte mich wie ihre beste Freundin. Vielleicht war sie meine beste Freundin, dachte ich und blendete von Schuldgefühlen getränkte Gedanken aus, zumindest hier.
„Nein. Du brauchst mich hier gar nicht und obwohl du es nicht weißt, weiß ich, dass es das Beste für dich ist“, entgegnete sie, ohne dass ihre optimistische Fassade auch nur den kleinsten Kratzer bekommen hatte.
„Man sollte meinen, dass ich alt genug bin, um selbst zu erkennen, was ich will und brauche“, grummelte ich, während ich hinter ihr hertrottete. Sie tat so als hätte sie mich nicht gehört und zerrte mich hinter ihr her nach draußen, wo David, José und Naiara warteten, um sie zu verabschieden. Egal, was ich je über Unabhängigkeit und Abschiede gesagt hatte, ich hasste es. Konnte man nicht im Leben einfach mit den Menschen zusammen sein, die man liebte? Ich hätte am liebsten einen riesengroßen Bogen um diese Szene gemacht, aber von einem fünfzehnjährigen Mädchen erwartet man, dass so was kein Problem mehr ist. War es aber. Denn ich wusste schon jetzt, dass ich Serena vermissen würde. Mit wem sollte ich nun über diesen ganzen Mädels-Kram reden? Aileen war dafür weniger geeignet und Kathi war einfach zu weit weg …
Mir blieb nicht länger Zeit, in Selbstmitleid zu versinken, denn Serena umarmte mich noch einmal fest. „Du schaffst das“, sagte sie so leise, dass nur ich es hörte.
„Ich werde dich vermissen“, flüsterte ich zurück und ärgerte mich darüber, dass ich mich bemühen musste, die Tränen zurückzuhalten. So viel zum Thema Reife…
„Ich dich auch.“ Sie drückte mich kurz fester an sich, dann löste sie sich von mir und stieg in ihr Auto. Verloren blieb ich stehen und sah zu, wie sie davonfuhr und das Auto schließlich in der Ferne verschwand. Und auch wenn es nur für eine Weile war, fühlte es sich doch nicht anders an, als wenn es für immer wäre. David schien noch sehr viel mitgenommener als ich (ich hatte ja gewusst, dass er ein Auge auf sie geworfen hatte) und war sichtlich darum bemüht, sicher und stark rüberzukommen. Insgesamt machten wir wohl weitaus mehr aus der Sache als eigentlich nötig.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie José zwischen uns trat und jeweils einen Arm um uns legte (ich hielt automatisch kurz die Luft an…seltsame Reaktionen). Und obwohl mir bewusst war, dass Naiara ganz in der Nähe stand, gab ich dem Drang, meinen Kopf gegen seine Schulter zu lehnen, nach.
Ich kam mir mehr und mehr vor wie die Figur eines Films, in dem man tausendmal Abschied nimmt und die Menschen, die man liebt, dann nie wieder sieht, weil eine Katastrophe alle tötet – was natürlich ganz und gar nicht auf mich zutraf, ich mir aber dennoch dank meinem Hang zur Melodramatik einbildete. Ich verscheuchte diese Vorstellung so gut es ging aus meinen Gedanken und versuchte, es nicht so pessimistisch zu sehen. Denn Grund dazu hatte ich eigentlich gar nicht, in der Zeit, die ich sonst mit Serena verbracht hatte, konnte ich ja ab jetzt etwas mit José machen. Und das war ein hochklassiger, luxuriöser Ersatz.
Bevor David ins Trainingslager fuhr, überredete er mich dazu, ein einziges Mal bei einem Spiel zuzuschauen – eigentlich war ich gänzlich desinteressiert in Sachen Sport (vielleicht, weil ich selber weit reichend talentfrei war) und kam nur mit, weil er mir ein schlechtes Gewissen machte („wir sehen uns doch so lange nicht, da kannst du mir auch mal was Gutes tun, oder?“). Und okay, ich gab’s zu, ich wollte José spielen sehen, denn jemand wie er konnte einfach nur gut sein. Naiara hatte eigentlich mitkommen wollen, aber es war der Tag vor ihrer Fahrt in die Kur und so musste ich alleine gehen – natürlich war ich viel zu früh da, weil ich mit den Jungs gefahren war, die sich noch umzogen und so weiter. An dem Platz gab es eine kleine Tribüne und ich rutschte ungeduldig auf meinem Platz hin und her, bis es endlich losging. Die junge Frau neben mir schien etwas professioneller und besser informiert als ich, zumindest wirkte sie hellauf begeistert und machte auf mich sofort den Eindruck eines alteingesessenen Fans.
„Sind sie gut?“, fragte ich und nickte zu Josés Mannschaft hinüber, die nach Ewigkeiten erschienen war und noch etwas besprach.
Die Frau sah mich an, als würde sie sich Sorgen über meinem geistigen Zustand machen (wenigstens erntete ich kein kritisches Stirnrunzeln über mein Spanisch, anscheinend wurde ich wirklich besser – dieser Gedanke heiterte mich gleich ein wenig auf).
„Sie sind die Besten
!“, sagte sie dann und strahlte mich an. Ich hätte gerne damit angegeben, dass ich sogar einen davon persönlich kannte und mit ihm in einem Haus lebte, verkniff es mir dann aber doch.
„Oh. Ach so“, entgegnete ich lahm, als mir keine bessere Antwort einfiel und wandte mich demonstrativ dem Spielfeld zu.
Ich brauchte nicht lange, um Josés unvergleichliches Dunkelblond zwischen den anderen Spielern auszumachen (ziemlich erbärmlich, wenn man jemanden allein an dessen Blondnuance im Haar erkennt, allerdings waren die meisten anderen Spieler auch dunkelhaarig) und kam danach nicht mehr dazu, nach David zu suchen. Er sah genau so aus, wie man sich das vorstellt. Professionell. Erfahren. Grenzenlos perfekt. Er hatte die Nummer neun, aber damit kam ich sowieso nur durcheinander und verfolgte mit den Augen stattdessen nur seinen vergleichsweise hellen Haarschopf. Auch wenn ich nicht wirklich fußballmäßig gebildet war, konnte ich doch durchaus erkennen, dass sie gut waren (ich hielt David und José später noch ewig lange vor, dass sie mir das nie gesagt hatten, worauf beide nur erwiderten, dass ich mir das ja hätte denken können). Oder zumindest besser als die gegnerische Mannschaft – wenn ich denn mal auf den Ball achtete. Deswegen bekam ich auch nur mit, dass ein Tor gefallen war, als die Frau neben mir aufsprang und wie wild anfing zu klatschen. Verwirrt klatschte ich mit und suchte mit den Augen das Spielfeld nach José ab.
Bevor die anderen Spieler denjenigen verdeckten, der das Tor geschossen hatte, erhaschte ich noch einen Blick auf die Rückennummer. Neun.
„Okay. Ihr kommt klar, oder?“ Der letzte Abschied. Zum Glück. David war gestern noch weggefahren und Naiara stand vor dem Wagen, den sie für die Fahrt zum Kurhaus gemietet hatten (der supergeile Porsche blieb – zu meiner Zufriedenheit – bei uns).
„Sicher.“ José drückte meinen Arm.
„Ja, ja“, stimmte ich ebenfalls schnell zu, um die ganzen Floskeln hinter mich zu bringen.
Sie nickte und umarmte mich. „Ich hoffe, du hast auch weiterhin Spaß hier“, sagte sie lächelnd und ich erwiderte es. Man musste Naiara einfach mögen, sie war immer so… voller fürsorglicher Wärme. Herzlich.
„Erhol dich gut“, entgegnete ich – ich wusste immer noch nicht, was genau für eine Krankheit sie gehabt hatte, weil ich nicht unhöflich hatte sein wollen und hoffte, dass es wirklich nur etwas Harmloses gewesen war.
Sie nickte nur, löste sich von mir und wandte sich José zu (und ich wünschte mir ganz dringend Serena oder David her, die die Stimmung aufgelockert hätten). Ich wusste natürlich, dass es den Beiden besonders schwer fiel, sich zu trennen, und die Tatsache, dass ich der Grund dafür war, dass er nicht mit ihr kommen konnte, machte es nicht gerade leichter. Aber ich konnte unmöglich bereuen, dass es so war. Trotzdem hätte ich nun gerne weggeschaut. Aber ich konnte nicht. Natürlich nicht. Bei Sachen, die einen verletzen, schaut man immer hin – nur hätte mich das gar nicht verletzen sollen. Ich hatte schon öfter gesehen, wie sie ihn küsste (ich weigerte mich standhaft, zu denken, dass er sie
küsste), aber diesmal war es anders. Vielleicht sind Abschiedsküsse so, dachte ich, konnte mich aber nicht daran erinnern, wie Nico mich im Flughafen geküsst hatte, was mich aus irgendeinem Grund traurig machte. Es ist egal, sagte ich mir, obwohl mir klar war, dass es gelogen war. Ich ließ für einen Augenblick meine Schublade mit verbotenen Gedanken aufgehen und wünschte mir, dass er mich
einmal so ansehen und küssen würde. In diesem Moment brauchte ich das. Mein Herz pochte schmerzhaft heftig und ich war unendlich erleichtert, als sie sich lösten. Ich sah zu Boden.
Und ich wünschte, ich hätte nicht hören müssen, was er ihr leise zuflüsterte, damit ich es nicht mitbekam.
„Ich liebe dich.“
Ach was, niemals. Gefühle hab ich nicht.
12. Schlaflose Nächte
Er ist doch nur einer von vielen…
Es war schon in dieser ersten Nacht. Ich lag hellwach im Bett und beobachtete, wie die Strahlen der Abendsonne auf meiner Bettdecke verblassten. Es war heißer als sonst und ich war froh, dass bald auch hier die Ferien anfangen würden. Aber ich glaube trotzdem nicht, dass es die unerträgliche Hitze war. Ich konnte fast spüren, dass nur er außer mir im Haus war und es war auf eine seltsame Weise beruhigend und irritierend zugleich.
Ich dachte unwillkürlich an meine Eltern, Betty, Kathi… Nico… Die Menschen, die zuhause waren. Dieser Gedanke klang falsch und ich wusste nur zu genau, wieso. Mein Zuhause war hier. Im Moment zumindest. Ich gehörte hierher. Jetzt. Die E-Mails aus Deutschland waren in der letzten Woche weniger geworden und ich fragte mich, ob es an mir lag oder daran, dass auch sie merkten, dass man durchaus ohne mich leben konnte. Ich wartete auf den Schmerz, der auf diesen letzten Gedanken folgen sollte, aber er kam nicht. Es machte mir nichts aus, dass sie mich vielleicht nicht vermissten. Oder zumindest nicht alle. Denn Nico schrieb noch immer haufenweise SMS. Und das
schmerzte. Oft schrieb er nur, um mir zu sagen, dass er mich liebte und vermisste und bei jedem Wort stach eine kleine Nadel auf mein Herz ein. Denn ich tat ihm weh. Er sagte es nie, aber ich wusste es. Es stand hinter seinen Worten. Ich hatte diese Liebe nicht verdient, wenn ich ihn nicht ebenso sehr zurücklieben konnte…
Aber so durfte ich nicht denken. Ich glaubte fest daran, dass jeder Mensch irgendwann jemanden fand, der wichtiger war als der Rest. Jemand, der einfach richtig
war. Nico war dieser Jemand. Er war der Prinz in meinem Märchen.
Aber wollte ich in einem Märchen leben?
Ich drehte mich auf den Rücken und wünschte mir, meine Gedanken ausblenden zu können. Und es klappte nicht. Wie immer. Und dann kam mir eine Idee. Eine Idee, die ich teils auf meine romantische Ader, teils auf irgendein unbekanntes Gefühl zurückführen würde.
Ich setzte mich auf und sah nach draußen. Der Himmel war klar, die Luft keinen Grad kälter als hier drinnen. Ich schwang die Beine über die Bettkante und stand auf. Im Zimmer herrschte nur Halbdunkel und ich musste nicht lange nach einigen Sachen zum Überziehen suchen. So leise wie ich konnte zog ich mich um, öffnete die Tür und ging auf Zehenspitzen den Flur entlang zur Hintertür.
Ich fummelte eine Weile an der Türklinke herum, bis ich feststellte, dass die Tür gar nicht verschlossen war. Okay, es würde wohl kaum jemand einbrechen…
Ich schloss sie wieder sorgfältig hinter mir und ging über die Terrasse bis zu dem Pfad zwischen den Palmen, der zum Meer hinunterführte. Ich war froh, barfuß gegangen zu sein, ich spürte den sandigen Weg unter den Füßen und hohes Gras an der Seite streifte meine Beine. Je weiter ich kam, desto mehr spürte ich die leichte, salzige Brise, die wie immer am Wasser wehte. Der Sand zwischen meinen Zehen wurde feiner und weicher und der Pfad ging allmählich in den Strand über. Die letzten Palmen verschwanden aus meinem Sichtfeld und ich blieb stehen, um den Anblick des Meeres vor mir einen Moment zu genießen. Ich schloss die Augen und atmete die salzig frische Luft ein, bevor ich weiterging.
Aber ich kam nicht weit. Nach wenigen Schritten schon blieb ich wie erstarrt stehen. Denn jetzt erst sah ich seine Silhouette. Er saß etwas weiter rechts von mir, auf einer Art Mini-Düne, die Knie angezogen, und sah hinaus aufs Wasser. Stumm starrte ich zu ihm hinüber. Ich war sicher, dass er mich bereits bemerkt hatte und sagte mir, dass es albern wäre, jetzt zurückzugehen. Und ich wollte nicht zurück. Ich wollte zu ihm.
Langsam setzte ich mich wieder in Bewegung und ging zu ihm hinüber. Er sah mich erst an, als ich unmittelbar neben ihm war. Unschlüssig blieb ich stehen und erwiderte seinen Blick. Das Sternenlicht brachte seine Augen zum Funkeln und machte sie unmöglicherweise noch schöner als sonst. Ich war unsicher, wusste nicht, was ich sagen sollte, aber sein Lächeln heilte alles. Ohne jegliche Anspannung ließ ich mich neben ihm nieder und folgte seinem Blick hinaus aufs Meer. Schweigend saßen wir nebeneinander und doch war es einer dieser kleinen perfekten Momente. Einer dieser Momente, die dann jemand wie ich zerstören muss.
„Kommst du oft nachts hierher?“, fragte ich nach einer Weile.
Er sah mich an. „Fast immer. Und was hat dich heute hergeführt?“
Ich brauchte einen Moment, um wieder vernünftig sprechen zu können, so intensiv war sein Blick. „Ich wollte…“ Ich brach ab und setzte neu an. „Ich weiß nicht. Ich wollte eigentlich in Ruhe nachdenken, aber jetzt… bin ich froh, dass du da bist.“ Bei den letzten Worten sah ich verlegen nach unten und war dankbar, dass die Dunkelheit mein Gesicht einigermaßen verbarg und er nicht sehen konnte, wie ich rot wurde.
„Es ist schön heute. Manchmal ist das Meer stürmisch, aber diese Nacht… Du hast dir den Zeitpunkt gut ausgesucht.“ Er lächelte wieder und ich erwiderte es atemlos. Seine Schönheit war so unglaublich verwirrend… aber seine Worte waren beruhigend. Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte und so schwappte eine Gefühlswelle mit allem über meinen Körper.
Wir schwiegen wieder (ich, weil ich unfähig war, etwas zu sagen und er, weil…äh, keine Ahnung, um nachzudenken oder so) und diesmal war er es, der die Stille brach.
„Vermisst du deine Familie und Freunde?“ Ich spürte seinen Blick auf mir, wagte aber nicht, ihn zu erwidern. Starr hielt ich die Augen aufs Wasser geheftet, während ich antwortete.
„Nein, nicht wirklich“, sagte ich leise.
„Dein Freund… Nico, oder? Er vermisst dich.“
Ich schluckte. Natürlich hatte er mitbekommen, dass ich einen Freund in Deutschland hatte und andauernd E-Mails und SMS von ihm bekam. Ich wollte gar nicht wissen, was das für einen Eindruck machte. „Ja. Aber ich fühle mich hier wohl“, erwiderte ich schließlich und verstand mich selbst kaum.
„Ich bin froh, dass du da bist“, bemerkte er und jetzt musste ich ihn doch ansehen. Seine Augen sahen ehrlich aus, soweit ich das beurteilen konnte.
„Und ich bin froh, bei euch sein zu dürfen“, flüsterte ich unter der hypnotischen Kraft seines Blickes und ohne, dass ich etwas dagegen tun konnte. Und dann sprudelte es einfach so aus mir heraus. „Ich hab gedacht, dass ich meine Freunde und so schon ziemlich vermissen würde, aber irgendwie tue ich es nicht. Stattdessen fühl ich mich hier wie zuhause, schon seitdem ich hier am ersten Tag hingekommen bin. Und ich weiß nicht woran es liegt. Ich habe einfach so ein Gefühl… ich weiß nicht. Ich weiß, dass Nico mich unendlich vermisst und ich ihn nicht. Es war schon schwer für ihn, als ich es ihm erzählt habe und er macht sich Sorgen um mich und so. Ich kann spüren, wie weh es ihm tut, von mir getrennt sein, aber ich
spüre den Schmerz nicht. Aber wir sind zusammen… ich liebe ihn.“ An dieser Stelle brach ich ab, teils weil sich die letzten Worte wie eine verzweifelte Lüge anhörten, teils weil ich mir am liebsten selbst eine geknallt hätte. War seine Nähe so berauschend, dass ich wirklich den Verstand verlor? Ich erzählte gerade dem geilsten Typen dieses Planeten, dass ich einen Jungen liebte. Okay, sollte ich je auch nur den Hauch einer Chance auf Akzeptanz gehabt haben, dann war dieser jetzt auch weg. Ich hörte mich an wie eine Zehnjährige…
„Ich weiß. Manchmal ist es so, dass du dein ganzes Leben lang einen Menschen liebst und dann… merkst du, dass es eigentlich ganz anders ist“, unterbrach er meinen innerlichen Monolog. Ich sah ihn überrascht und bewundernd zugleich an. Oh mein Gott. Er war so was von einfühlsam und reif
(das, was ich mir manchmal selbst wünschte…).
„Ja. So ist es. Aber ich… will ihn nicht verlieren. Ich gehöre zu ihm“, sagte ich leise und glaubte mir selbst nicht. Zugleich klang ich in meinen Ohren wie irgendein Mädchen, das ihrer Sandkastenliebe hinterher weint und gleich in ihrem verwischten Make-up ertrinkt.
„Manche Dinge passieren einfach.“ Er klang traurig und ich hätte gerne einen Arm um ihn gelegt, aber so mutig war ich dann doch nicht.
„Weißt du, meine Freundin Kathi ist in England und es geht ihr dort einfach super. Und dann… dann denke ich manchmal, dass es vielleicht so sein muss…Manchen Menschen muss man begegnen.“ Ich starrte angestrengt auf meine Hände, um ihn dabei nicht anzusehen.
„Ja. Manchen Menschen muss man begegnen.“ Er sah mich von der Seite und ich zwang mich dazu, seinen Blick nicht zu erwidern. War ich wirklich so auffällig, dass er meine albernen Schwärmereien bemerkte? Okay, ich war nicht gerade unauffällig. Wie peinlich… Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, was er von mir hielt. Ich war dabei, mich auf das Niveau von Teenagermädchen herunterzulassen, die sich bei manchen Filmstars die Kehle wund kreischten. Nein, ich war noch viel schlimmer, weil José kein Filmstar war. Na gut. Er war mindestens genauso gut. Wenn nicht besser. Also wenn sich manche von ihm mal was abgucken würden, wäre das schon ein großer Fortschritt…
„Und ich komme mir schlecht vor, weil ich… gar nichts vermisse. Ich bin viel zu glücklich. Ich denke kaum an meine Familie, an meine Freunde. Vielleicht stimmt mit mir irgendwas nicht.“ Ich konnte meine Worte nicht mehr zurückhalten, seine Anwesenheit brachte mich auf eine neue, irritierende Weise dazu, über Dinge zu sprechen, die ich sonst niemandem sagte. Und ich wünschte mir verzweifelt, dass ich jetzt bitte, bitte nicht anfing zu heulen.
Aber dann nahm er mich in den Arm und drückte mich an sich und meine Sinne wurden vollständig von ihm in Besitz genommen, sodass ich nicht mehr dazu kam, zu weinen.
„Du bist genau richtig so“, sagte er leise, als ob die Umarmung nicht schon genug wäre. Ich spürte seinen warmen Atem an meiner Wange und atmete langsam aus. Er war so süß und verständnisvoll, dass ich ihn am liebsten noch viel fester umarmt hätte. Aber eine meiner Hände lag an seiner Taille und die andere in seiner, sodass ich keine bewegen wollte. Ich wollte mich überhaupt nie wieder bewegen. Die Welt hätte für immer so bleiben können und es hätte mich glücklich gemacht. Auch er rührte sich nicht und so saßen wir still da und ich fühlte nicht nur körperlich seine Wärme, sondern auch innerlich, wenn so was möglich ist. Ich wusste, dass ich bei ihm sicher war und dass, egal, was meine blöden Gefühle mit mir machten, er immer ein Freund für mich bleiben konnte. Nicht irgendein Freund. Ein Freund, mit dem ich über alles reden konnte. Und so war es gut, hallte es in meinen Gedanken nach. So sollte es sein, es ist richtig. Ich war froh, endlich etwas Richtiges zu fühlen und dachte mir, dass ich damit ganz sicher leben könnte.
Wir saßen eine halbe Ewigkeit so da und irgendwann – ich wusste nicht, wie es anfing – redeten wir wieder leise und ich konzentrierte mich nur auf seine Worte, seine Wärme, seine Stimme, seinen Duft. Als hätte irgendetwas in mir nur darauf gewartet, schien ein Knoten zu platzen und ich erzählte einfach drauflos, über alles Mögliche, mehr oder weniger wichtig und die ganze Zeit hörte er zu, strich mir mit einer Hand ab und zu über den Rücken. Aber noch mehr mochte ich es, wenn er sprach. Denn wenn ich die Augen schloss und tief einatmete konnte ich mir vorstellen, dass es so eine Welt mit ihm tatsächlich geben konnte. Dass man alle Probleme lösen konnte, dass ich nie allein sein würde. Dass ich geliebt wurde, vielleicht auf eine bestimmte, fremde Art, aber doch geliebt.
Irgendwann wurden meine Augenlider schwer und ich bekam kaum noch mit, wie mein Kopf an seine Brust sank (seltsam, wozu Müdigkeit mich bringen konnte) und ich konnte mich noch nicht einmal darüber wundern, wie stark er war, als er mich hochhob und ins Haus zurücktrug, mich ins Bett legte und zudeckte. Aber irgendwo dort ging meine Erinnerung in wirre Träume über und ich fragte mich, was Wirklichkeit war und was Einbildung. Es war egal. Vielleicht bildete ich mir nur ein, dass er mich, bevor er das Zimmer verließ, noch einmal lange ansah und sein Blick voller Wärme war. Aber auch das war egal.
Am nächsten Morgen war ich davon überzeugt, wunderschön geträumt zu haben und konnte kaum glauben, wie weit meine Fantasie gegangen war. Zumindest dachte ich so, bis er wie mittlerweile jeden Morgen in mein Zimmer schaute. Ich hatte mir vorgenommen, irgendwas zu sagen, aber alle Vorsätze lösten sich in Luft aus, sobald er dann da war. Denn alle Antworten, die ich suchte, lagen in seinen Augen, seinem Lächeln und es war fast so, als ich könnte ich noch einmal einen Hauch der innerlichen Wärme spüren, meine Hand in seiner…
Ich fühlte mich so gut wie lange nicht mehr, weil ich wusste, dass ich so fühlen durfte, dass meine Gefühle endlich mal was richtig zu machen schienen. Vielleicht war es das, was mich weiter veränderte.
Wir sprachen auch am restlichen Tag nicht über die letzte Nacht, aber als hätten wir ein stummes Abkommen, traf ich ihn an diesem Abend erneut am Strand an. Ich war nervös, weil ich befürchtete, nicht zu verstehen, aber als ich dort war und ihn schon im Sand sitzen sah, fiel die Anspannung von mir ab und obwohl es sich so sehr anfühlte wie gestern, war es doch anders und besonders.
Serena hatte recht gehabt. Es war nicht schwierig, es war so selbstverständlich wie atmen und es kam mir lächerlich vor, dass ich mir je Sorgen gemacht hatte. Ich brauchte mehr Vertrauen in meine Mitmenschen, denn sie würden mich nicht enttäuschen. Vielleicht hatte ich lange gebraucht, um mich an seine ganze verwirrende Person zu gewöhnen, aber ich hatte das Gefühl, dass ich es jetzt konnte. Das Leben schien plötzlich leichter.
Alles schien perfekt.
Das, was du nicht ändern kannst, verändert dich.
13. Nur Zahlen...
Nimm einfach meine Hand und lass sie nie wieder um.
Die letzten Tage in der Schule gingen vorbei und vor mir lagen über zwei Monate Ferien, die ich von morgens bis abends dazu nutzen konnte, das zu tun, was ich wollte (mit anderen Worten: etwas mit José unternehmen!). Aber vor dieser angenehmen Zeit lag für mich immer noch ein anderer Tag, den ich manchmal herbeisehnte und manchmal beinahe vergas. In diesem Fall eher Letzteres, wenn ich nicht außerordentlich aufmerksame Mitmenschen gehabt hätte.
Ich erwachte davon, dass es wärmer war als sonst. Irgendwie anders warm, nicht sonnenwarm. Und es roch… gut. Vertraut. Ich kannte diesen Geruch sehr gut, ich liebte ihn. Meine Gedanken waren langsam und realisierten erst allmählich. Aber…
„Happy Birthday.“ Ich blinzelte verwirrt, obwohl ich natürlich wusste, wem diese unvergleichliche Stimme gehörte. Und meine Sinne hatten ihn natürlich schon lange vor meinem Verstand erkannt. Ich ließ mir Zeit mit einer Antwort, betrachtete ihn erst lange. Er saß auf meiner Matratze, eine Hand an meiner Taille (und obwohl ich mich seltsamerweise daran gewöhnt hatte, von ihm berührt zu werden, sandte die Berührung kleine elektrische Wellen durch meinen Körper), mit der anderen hielt er ein Tablett fest, das ich mir lieber noch gar nicht genauer ansehen wollte. Meine Augen waren noch viel zu sehr von ihm gefesselt. Ich konnte nicht oft genug sagen, wie süß seine Haare nach dem Schlafen aussahen, ungekämmt, seine Augen blau und wunderschön wie immer und sein Gesicht voller Sommersprossen. Der Preis für das schönste Gesicht des Jahres war auf jeden Fall vergeben.
Ich riss mich von seinem Anblick los und sah auf den Kuchen auf dem Tablett. Sechzehn Kerzen brannten darauf und Schokoladenguss bedeckte den Teig (ich hatte allmählich aufgehört, mich manche Sachen zu fragen, aber woher wusste er, dass ich Schokolade liebte?). Dann hob ich den Blick wieder.
„Was hat mich verraten? Ich hätte beinahe meinen eigenen Geburtstag vergessen.“
Er lächelte. „Serena hat in deinem Bewerbungsschreiben dein Geburtsdatum gefunden. Aber sei froh, dass sie nicht da ist – sie hätte zu gerne eine riesengroße Party geschmissen.“
„Das kann ich mir vorstellen. Na ja, bleibt umso mehr Kuchen für uns. Danke.“ Ich lächelte zurück. Das war so unwahrscheinlich lieb von ihm… Meine Gedanken gerieten ins Schwärmen und ich gab mir Mühe, mich zu konzentrieren.
„Das ist gar nicht das richtige Geschenk, Dummerchen“, erwiderte er und verdrehte grinsend die Augen. „Komm.“ Er nahm meine Hand und zog mich schwungvoll hoch, das Tablett auf der anderen Handfläche balancierend.
„Oh. Ach so. Was kommt denn noch?“, fragte ich und kam mir wie der letzte Vollidiot vor.
„Dann wäre es doch keine Überraschung mehr. Nicht gucken.“ Und mit diesen Worten legte sich seine Hand vor meine Augen, bevor ich die Chance hatte, zu protestieren.
„Muss das sein?!“, grummelte ich, während ich von ihm durch das Haus geführt wurde. Einerseits war ich ungeduldig und nervös, nicht sehen zu können, andrerseits war es nicht gerade das schlechteste Los, in meiner Orientierungslosigkeit José ausgeliefert zu sein.
„Ja. Warte… so.“ Wir blieben stehen und er nahm die Hand von meinen Augen. Ich blinzelte.
„Oh mein Gott.“ Irritiert strich ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und wandte mich kurz zu ihm um, um seine Mimik zu deuten. Er lächelte nur.
„Oh mein Gott!“, wiederholte ich ziemlich einfallslos und ließ meinen Blick erneut schweifen. Auf dem Tisch auf der Terrasse häufte sich ein kleiner Berg aus Geschenken, aber das war es nicht, was meine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Denn von hier aus hatte ich freie Sicht auf das Meer und den Strand davor – und selbst von hier oben konnte ich meinen Namen aus Steinen und Muscheln lesen, der neben einem Herz aus demselben Material im Sand lag. Ich konnte meinen Blick kaum davon abwenden, sah jetzt aber José an.
„Wow. Das ist wunderschön… Es ist wirklich was Besonderes
. Ich… weiß nicht, was ich sagen soll. Danke.“ Und bevor ich genauer darüber nachdenken konnte, drehte ich mich ganz zu ihm um und umarmte ihn fest und schrie leise auf, als meine Füße den Boden nicht mehr berührten und ich stattdessen um ihn herum im Kreis wirbelte. Als er mich schließlich wieder herunterließ, schwirrte mein Kopf nicht nur von den Umdrehungen und mein Atem ging noch immer unregelmäßig, als er sich zu mir herabbeugte und er mir etwas zuflüsterte.
„Herzlichen Glückwunsch. Das
war die richtige Überraschung.“
Ich konnte nur nicken und mich wieder mal fragen, woher er diesen Perfektionismus hatte und genau wusste, was mich glücklich machte.
Ich kam erst abends wirklich dazu, über meinen Geburtstag nachzudenken. Meine Eltern und Freunde hatten mir Geschenke geschickt und Serena, David und Naiara hatten alle was für mich hier gelassen. Serena erzählte mir später am Telefon, dass sie liebend gerne eine Strandparty veranstaltet hätte, aber ich versicherte ihr, dass es genau so perfekt war. Und das war wahr. Ich konnte den ganzen Tag mit dem wunderbarsten Menschen der Welt verbringen und bekam unzählige wunderschöne Geschenke – so, wie sonst nur Barbie ihren Geburtstag feiert. Und ja, ich fühlte mich auch wie Barbie, weil alles so herrlich perfekt war.
Und erst als ich dann neben José am Strand den Sonnenuntergang beobachtete, dachte ich nach. Denn so schön alles auch schien, irgendwie fand ich doch einen Makel. Klar, jetzt war ich sechzehn, wieder ein Jahr älter und so, aber trotzdem… immer noch über fünf Jahre von ihm
entfernt. Und auch wenn ich mir sagte, dass das doch ganz egal war, spürte ich sehr deutlich, dass es mir sehr wohl etwas ausmachte.
Ich wollte nicht das kleine Mädchen sein, das ich aber doch zwangsläufig in seiner Nähe war – auch wenn er mir das Gefühl gab, so alt zu sein wie er. Ich kam mir kein bisschen größer und erfahrener vor als mit fünfzehn, obwohl ich es irgendwie gehofft hatte. Aber natürlich war nichts passiert. Nur eine andere Jahresanzahl, mein Körper und mein Geist waren wie immer. Ich fragte mich, ob sich das irgendwann änderte, ob ich mich irgendwann wirklich erwachsen und reif fühlen würde oder ich vielleicht für immer so bleiben würde wie jetzt…? Der letzte Gedanke versetzte mich in Panik und ich überlegte, wie José wohl früher gewesen war… Ich konnte mir keinen unreifen, albernen José vorstellen, der Fehler wie ein normal Sterblicher machte und in die Schule gehen musste und Hausaufgaben machte, aber so war es natürlich gewesen. Ich musste mich unbedingt mal von dieser Vorstellung, dass er absolut übernatürlich und besser als der Rest war, verabschieden.
Ich beobachtete ihn von der Seite und natürlich fiel ihm das auf. Er merkte so was immer. Leider. „Woran denkst du?“, fragte er und schaute zurück.
Ich strich meinen letzten Gedanken schnell und überlegte kurz. „Findest du, dass ich… ähm, für sechzehn Jahre noch etwas… unreif bin?“, fragte ich schließlich und sah zur Seite, weil ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen schoss.
Er blieb so lange still, dass ich schließlich doch einen kurzen Blick auf ihn wagte und feststellte, dass er seine Augen immer noch auf mich geheftet hielt. Oh-oh. Nicht gut. Wahrscheinlich überlegte er, wie er mir schonend beibringen sollte, dass ich einfach noch nicht so… weit entwickelt
war. So würde er es ausdrücken, um mich nicht zu verletzen und er würde mir natürlich versichern, dass das überhaupt nicht schlimm und total normal war.
Aber es war schlimm! Jungs hatten mit so was vielleicht kein Problem, aber Mädchen machten sich nun mal über solche Dinge Gedanken.
Doch nichts hätte mich auf seine Antwort vorbereiten können. Natürlich nicht. Ich hätte wissen sollen, dass er mich wie immer überraschte.
„Du bist nicht unreif und du darfst darüber nicht eine Sekunde nachdenken. Und es zählt nicht dein Alter oder deine Größe, sondern dein Denken. Sechzehn ist nur eine Zahl und sie beschreibt auch nur, wie lange du schon auf diesem Planeten existierst, nicht mehr. Was wichtig ist, ist das, was du fühlst, was dein Herz macht. Und von daher bist du schon viel erwachsener als du denkst, denn du kannst Menschen glücklich machen und sie lieben.“ Bei den letzten Worten nahm er meine Hand, die schon die ganze Zeit in seiner lag, legte sie an mein Herz und hielt sie dort fest. Ich hätte mich darauf gefasst machen müssen, dass er wieder mal etwas völlig Unerwartetes und Wundervolles tat, aber natürlich war ich nicht bereit und ich konnte unter meiner Handfläche spüren, wie mein Herz verlässlich wie immer stolperte und doppelt so schnell seinen Takt wieder aufnahm. Ich hoffte inständig, dass er es nicht mitbekommen hatte und obwohl ich gerne weggeschaut hätte, hielt sein Blick mich fest und ich versank hilflos (okay, nicht ganz so hilflos) in dem wunderschönen Blau seiner Augen.
„Das kannst du auch“, wisperte ich kaum hörbar, doch er verstand mich.
„Danke“, erwiderte er lächelnd und ich wusste nicht woher dieses Gefühl plötzlich kam, aber ich war unendlich dankbar dafür, diese Momente miterleben zu dürfen. Klein, aber unschätzbar wertvoll und ich wusste, dass ich mich immer daran erinnern können würde. Wie viele Menschen hatten so ein Glück wie ich und begegneten einer Person wie José?
„Ich
danke dir“, sagte ich leise.
„Wieso?“ Er wandte den Blick immer noch nicht ab und ich blendete alles außer seinem Gesicht aus, was nicht sonderlich schwierig war, wenn man unter seinem Einfluss stand.
„Für alles. Dafür, dass du mein… bester Freund geworden bist.“ Ich merkte erst, dass die Worte wahr waren, als ich sie schon ausgesprochen hatte. Aber ich konnte nichts dagegen tun.
Er lächelte nur, was meinen Zustand nicht gerade verbesserte.
„Und danke für heute. Das war der schönste Geburtstag, den ich je hatte“, fuhr ich fort.
„Solange es dir gefällt, ist alles gut. Und denk immer daran, dein Alter ist nur eine Zahl. Wenn ich mit dir zusammen bin, kommst du mir nicht wie sechzehn vor und in dir drin bist du vielleicht noch nicht ganz erwachsen, aber auf dem besten Weg und außerdem immer du und so, wie wir dich alle lieben.“ Diese Worte. Dieser Blick. Dieses Lächeln. Wie machte er das? Es war mir egal, denn es war einfach er.
Und alles, was ich mir wünschte, war, dass dieser Augenblick nie zu Ende gehen sollte. Aber natürlich war meine Hoffnung vergebens und wir sahen zu, wie die Sonne am Horizont verschwand und dem Mond Platz machte.
„Morgen fangen unsere Ferien erst richtig an. Du solltest ausgeschlafen sein“, sagte er irgendwann.
„Du wirst mir nicht zufällig sagen, was wir vorhaben?“, fragte ich.
„Hm… nein.“ Er lächelte.
„Weißt du, ich würde viel lieber noch hier sitzen bleiben…“, bettelte ich halbherzig.
„Ich will nicht daran schuld sein, wenn du total übermüdet bist, wenn die anderen wiederkommen“, erwiderte er und hob mich hoch, bevor ich zum Protest ansetzen konnte. Und wenn ich erst in seinen Armen lag, war jeglicher Wille zum Widerstand sowieso ausgelöscht, deswegen seufzte ich nur zufrieden und atmete einfach seinen Duft ein, während er mich ins Haus trug, als würde ich nicht das Geringste wiegen (ich fragte mich, wie hart das Fußballtraining bei denen wohl war, dass man solche Muskeln bekam…).
Aus halb geschlossenen Augen bekam ich mit, wie er mich in mein Bett legte und zudeckte (dieses ins-Bett-bringen bekam allmählich was Routinemäßiges).
„Schlaf gut“, flüsterte er.
„Hm-hm“, machte ich müde und sah ihm nach, bis die Tür zufiel.
Ich musste eigentlich noch nachdenken, über den ganzen Tag und José und einfach alles, aber ich war so unglaublich müde… Ich schaffte es gerade noch, den Kopf zu drehen, sodass ich Nicos Geschenk, das er geschickt hatte und das jetzt auf meinem Nachttisch lag, ansehen konnte. Es war ein Armband mit Buchstaben, die ‚Ich liebe dich’ bildeten. Ich hatte es noch nicht getragen, ich hatte es… vergessen…?
Ich schmeckte etwas Salziges und merkte verwirrt, dass es meine Tränen waren, die plötzlich über mein Gesicht liefen. Und ohne genau zu wissen, warum, lag ich im Bett, mit nassen Tränenschlieren auf den Wangen und einer Traurigkeit, die mich an das Gefühl vom Abschiednehmen erinnerte und dessen ich Ursprung ich nicht kannte, und schlief schließlich ein.
Wo ist das Marmeladenglas für schöne Momente?
14. Eigentlich ist blond nicht so mein Ding.
Keine Regeln, keine Grenzen. Nur du und ich.
Bevor ich dazu kam, genauer darüber nachzudenken, war die erste Ferienwoche auch schon vorbei (vielleicht, weil ich abends todmüde ins Bett fiel und den ganzen Tag über dank José beschäftigt war). Insgeheim fragte ich mich, ob er eine geheime Liste abarbeitete, denn obwohl er mich immer aufforderte, etwas vorzuschlagen (und ich nie eine Idee hatte), schien ihm immer etwas einzufallen. Beinahe unwillkürlich zogen die Tage an mir vorbei und ich hatte das Gefühl, beinahe zusehen zu können, wie die Sonne rasend schnell den Himmel entlang wanderte. Ich war entsetzt, wie schnell die Zeit verging und wünschte mir mit jedem Tag mehr, die Welt manchmal anhalten zu können…
Aber natürlich machte ich wieder alles falsch. Sah alles durch die rosarote Brille und merkte nicht, was wirklich geschah. Zumindest nicht bis zu diesem Sonntagnachmittag, an dem sich schlagartig und eigentlich ziemlich unspektakulär alles für mich änderte.
Ich könnte nicht sagen, womit er mich schon wieder überredet hatte, aber José gab meine (nicht vorhandenen) Surfer-Talente nicht auf. Ja, ich denke auch, surfen ist was für supergut aussehende, heiße Typen, die das total draufhaben und alle anderen neidisch machen (jemand wie er
eben) und ja, ich fand es außerdem absolut klischeehaft in Spanien zu surfen. Oder auch nicht, meine Versuche konnte man vielleicht als unelegant-im-Wasser-bewegen werten und ich gebe zu, dass das auch daran lag, dass ich ziemlich demotiviert war.
In solchen Momenten dachte ich mir oft, dass es zwei Typen von Mensch gab. Die einen konnten
manche Sachen einfach auf Anhieb (er), die anderen schafften es beim ersten Mal nicht und auch nicht bei den folgenden dreitausend Versuchen (ich).
Ich hatte vorsorglich darauf bestanden, irgendwohin zu gehen, wo keine anderen waren, die meine Blamage miterleben konnten – bei meinen Talenten war es von vornherein unwahrscheinlich gewesen, dass ich irgendwas hinbekam. José hatte natürlich behauptet, dass das überhaupt nicht schwierig wäre und eine Frage der Übung und so. Aber wer hatte letztendlich Recht? Ich.
Also sah unser ‚Surfen’ ungefähr so aus, dass er surfte (und dabei unverschämt sexy und professionell aussah) und ich im Wasser herum schwamm, so tat als würde ich etwas tun und ihn nebenbei unauffällig beobachtete. Zu Trainingszwecken. Leider durchschaute er meine nicht sonderlich unauffällige Tarnung meistens und brach die Vorstellung des Superathleten für die unbegabten Fans ab.
„Ich weiß, dass du es kannst.“ Er kam zu mir herüber, ich lief im niedrigen Bereich auf und ab und setzte einen wissenden Gesichtsausdruck auf, wann immer er mich ansah.
„Es ist doch total unwichtig, so was. Hey, können wir nicht einfach so schwimmen? Das macht doch auch Spaß (eigentlich machen ja alle Aktivitäten Spaß, bei denen er nur in Shorts rumläuft…) und außerdem kann ich das auch“, schlug ich hoffnungsvoll vor.
„Du willst es gar nicht hinbekommen, das ist das Problem.“
„Äh, kann schon sein… aber ist doch auch egal.“
„Bitte. Für mich.“ Das war fies und er wusste es. Aber seit wann spielte er denn fair?!
Ich setzte einen bösen Blick auf, um zu vermeiden, dass meine Gesichtszüge aus Gewohnheit mechanisch ein Lächeln formten.
„Es ist sinnlos“, sagte ich, mehr zum symbolischen Widerstand, da ich sowieso schon verloren hatte.
Er lächelte siegessicher. „Komm jetzt.“ Ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen ging er ein Stück weiter ins Wasser, vollkommen sicher, dass ich ihm folgte. Was ich natürlich tat.
„Dein Problem ist erstens, dass du dir keine Mühe gibst und zweitens, dass du falsch stehst“, sagte er und blieb so abrupt stehen, dass ich fast in ihn reingerannt wäre.
„Yes, Sir.“
Er verdrehte die Augen und grinste. „Das war ernst gemeint.“
„Jaja.“
Er ignorierte meine Erwiderung und sah mich prüfend an (wobei ich wie immer das Gefühl hatte, mich schnell im Spiegel durchchecken zu müssen… erbärmlich, ich weiß).
„Genau so wie jetzt stehst du immer“, stellte er fest und bevor ich richtig darüber nachdenken konnte, was er tat, stand er schon hinter mir und legte mir die Hände auf die Schultern. Ich beglückwünschte mich in Gedanken dazu, dass ich nicht einmal leicht erschauderte, sondern nur reflexartig kurz die Luft anhielt.
„Aber richtig ist es… so.“ Seine Hände fuhren meine Arme hinunter und legten sich an meine Taille, als täten sie den ganzen Tag nichts anderes. Ich trug nur meinen Bikini und ich schwöre, meine Haut brannte unter seiner Berührung. Ich spürte seinen Atem an meinem Nacken.
Ich glaube, dieser Moment war es.
Der Moment, in dem irgendeine Mauer in meinem Kopf verschwand und sich meine Illusionen in nichts auflösten. In dem ich plötzlich alles klar sah und mich fragte, wie ich so dumm hatte sein können.
Wie ich je hatte so dumm sein können, zu denken, dass ich mit José befreundet sein könnte.
Blitzschnell sah ich die letzten Wochen noch einmal vor mir, sah ihn. Sah mich. Und wusste es einfach. Ich hatte es die ganze Zeit gewusst, natürlich. Aber ich hatte es nicht wahrhaben wollen und mein Gehirn hatte sich erfolgreich gegen die Erkenntnis gewehrt. Ich war schon immer gut darin gewesen, mich selbst zu belügen, wenn mir etwas nicht passte. Und es hatte bisher gut geklappt – bis irgendetwas eben einen Schalter in meinen Gedanken betätigt hatte und alles glasklar vor mir lag.
Niemals werde ich diesen Moment vergessen.
Den Moment, in dem mir klar wurde, dass ich ihn liebte.
Nicht harmlos kumpelmäßig liebte, sondern richtig
. Mehr als ich je zuvor jemanden geliebt hatte. Mein Herz hatte es gewusst. Vom ersten Augenblick an.
Nüchtern sah ich auf die Tatsachen herab, als betrachte ich das Leben einer anderen.
Aber so fühlte ich mich nur äußerlich. In mir brach die Fassade meiner alten Welt zusammen und wurde durch meine neue Welt ersetzt, die nur auf diesen Moment gewartet hatte. Eigentlich war alles so wie vor wenigen Sekunden. Doch meine Perspektive hatte sich um 180 Grad gedreht. Mein Denken. Alles. Das Einzige, das war wie vorher – nein, was noch viel stärker war -, war mein Herz. Mein Herz, das schnell und voller Kraft schlug.
Ich hatte gedacht, dass Serena recht gehabt hatte. Dass alles normal wäre, so wie es sein sollte. Dass ich endlich richtig fühlte und ihn als normalen Freund mochte. Ich hatte daran nie wirklich geglaubt, aber ich hatte es mir eingeredet, bis ich es tat.
Ich hatte es von Anfang an gewusst. Von dem Moment an, als ich in der Halle im Flughafengebäude saß und ihn zum ersten Mal sah. Für mich war es immer mehr gewesen als Freundschaft. Ich hatte es versteckt. Aber jetzt brach es hervor.
Und ganz allmählich kam mein kühler Verstand meinen Gedanken hinterher und erfasste den Sinn dieser Worte. Oh. Mein. Gott.
Ich hatte mich in José verliebt. Aaah!! Diese Worte! Wie hatte das passieren können?! Okay, er war der hammergeilste Typ dieses Universums, aber das gab mir noch lange keine Erlaubnis, ihm einfach mal so zu verfallen. Na gut, vielleicht schon. Anderes Argument. Er war blond. Blonde Jungs waren meistens schwul (immer diese Vorurteile…). Blonde Jungs erinnerten mich an Barbie und kleine Kinder. Wie konnte ich nur?!
Er hat aber das allerschönste blond der Welt, bemerkte eine Stimme in mir hartnäckig. Ja, verdammt, hatte er. Na und? Das sollte mich völlig kalt lassen. Ich hatte doch einen Freund.
Halb erwartete ich, dass ich bei diesem Gedanken austicken würde und lachen, weil ich einen Moment geglaubt hatte, mich in José verliebt zu haben. Weil ich merken sollte, dass ich doch Nico liebte. Aber natürlich passierte nichts.
Außer dass ich mich gerne vor einen Zug geworfen hätte, weil ich so ein hinterhältiges betrügerisches Monster war. Aber das war ja nichts Neues.
Ich dachte immer, ich wäre immun gegen geile Typen, weil ich Nico hatte. Aber nein, war ich nicht. Was sollte das denn? Ich musste dringend meine Welteinstellung ändern.
Alles, was ich je gedacht und gesagt hatte, schien sich jetzt ins Gegenteil zu drehen (sehr deprimierend und verwirrend). Und das Schlimme war, dass sich meine Positiv-Liste für ihn nur noch erweiterte. Und ich noch nicht einmal dagegen ankämpfte.
Na gut, Zeit für Selbsterkenntnisse: Erstens, ich war total und hoffnungslos in José verliebt. Eindeutig eine schockierende und katastrophale Erkenntnis. Mit mir ging es allmählich wohl den Bach runter…
Zweitens, ich hatte doch schon einen Freund! Glücklich vergeben und so weiter. Hatte ich zumindest immer gedacht. Aber wollte ich lieber zu Nico oder zu José? Zu José natürlich. Das klärte diese Erkenntnis dann wohl. Ich betrog meinen Freund mit einem anderen, mit dem ich noch nicht mal zusammen war. Also galt es vielleicht nicht als betrügen, oder? Okay, ich wäre gerne mit ihm zusammen, aber das fiel unter Punkt eins.
Drittens, ich wusste ganz sicher, dass es zu spät war. Für mich und meine Gefühle. Ich sollte mich an die Tatsachen gewöhnen. Von wegen, alles war besser geworden… Überhaupt nicht! Ich hatte mich mit jedem Tag mehr verliebt und es nicht einmal richtig bemerkt. Oder hatte es nicht bemerken wollen. Es war mit jedem Tag schlimmer geworden. Und jetzt war es zu spät.
Die Worte hallten in meinen Gedanken wider, aber ich nahm sie kaum wahr.
Meine Gefühle schwankten zwischen Entsetzen, Wut auf mich selbst, Trauer und… Freude? Oh mein Gott! Ich wurde mehr und mehr zur Schlampe! Konnte man Menschen wie mich nicht in einem tiefen schwarzen Loch verschwinden lassen?!
Aber gleichzeitig sagte eine andere (ziemlich hinterhältige, betrügerische und selbstsüchtige) Stimme etwas viel Verlockenderes. Na und? Ich hatte mich eben in ihn verliebt, jetzt konnte ich nichts mehr tun. Dann konnte ich doch genauso gut das Gefühl genießen und mich später weiter darüber aufregen. Außerdem war es nicht gerade fair, dass ich es hier mit einem absoluten Mädchenmagnet zutun hatte. Da konnte selbst mir so was passieren, oder? Und das konnte vorbeigehen. Ich könnte mich ja einfach ganz wehrlos meinen Gefühlen hingeben und den Augenblick genießen, sagte ich mir.
Nein, nein, nein!, schrie mein Gewissen. Das wird dann nur noch schlimmer und betrügerischer und überhaupt!
Aber wie gewöhnlich ignorierte ich mein Gewissen.
Ruckartig tauchte ich aus meinen Gedanken und Monologen auf in die Wirklichkeit und wurde augenblicklich mit voller Wucht von diesem Gefühl erschlagen, das Josés Berührung verlässlich in mir auslöste.
Was soll’s, meinte meine weniger hartnäckige Loser-Seite gut gelaunt.
Das wird dein Untergang, konterte mein Verstand, den ich danach erfolgreich abwürgte, zum Teil durch die Tatsache erleichtert, dass ich ihn immer noch deutlich spürte und meine Konzentration sowieso ihrem Ende zuging.
Wir standen immer noch so wie vorhin, meine Denkgeschwindigkeit hatte sich mal wieder in einer Notsituation verdoppelt und es war kaum eine Minute verstrichen.
„Okay?“, fragte José völlig ahnungslos (oder auch nicht) nach.
Ich traute meiner Stimme nicht und nickte nur hastig, noch immer leicht benebelt. Im nächsten Augenblick wünschte ich mir, den Kopf geschüttelt zu haben, denn er trat einen Schritt zurück und ließ mich los. In diesem Moment hätte ich gerne wie ein eingebildetes Möchtegern-Model-Mädchen aus der 6. Klasse einen Spiegel aus meiner Handtasche geholt und nachgesehen, ob ich irgendwelche Abdrücke an meiner Taille hatte. Ich glaubte fast, seine Hände noch zu spüren…
Verwirrt schüttelte ich den Kopf und drehte mich zu ihm um, sobald ich mich seinem Anblick gewachsen fühlte (es aber leider nicht war).
„Äh… gehen wir nach Hause? Ich bekomm langsam Hunger…“, sagte ich wenig einfallsreich.
Er ließ sich nicht anmerken, ob er meinen plötzlichen Stimmungswechsel bemerkte und nickte nur. „Okay.“
Und dann nahm er meine Hand und wir gingen nebeneinander zurück, mein Herz überschnappend vor Freude, mein Verstand überschnappend vor Schuldgefühlen, die ich jedoch so gut es ging ausblendete.
Und was, wenn ich mich in dich verliebt habe?
15. Eine der schönsten und schlimmsten Nächte meines Lebens
Wenn du bei mir bist, ist die ganze Scheißwelt okay.
Es war noch am gleichen Abend.
Sobald wir beim Haus waren, war ich wie wild ins Badezimmer gestürzt, hatte mich einige Minuten ziemlich geistreich im Spiegel angestarrt (aber nein, keine roten Punkte der Erkenntnis im Gesicht oder so) und dann so lange geduscht, bis nur noch kaltes Wasser kam. Heiß duschen klappte höchst verlässlich immer und so auch heute. Ich konnte mich entspannen und eine Weile abschalten, meine Gedanken, die sich andauernd wiederholten, leiser stellen.
Leider klappe diese Methode nur bis zu dem Moment, in dem das Wasser kalt wurde und ich mich fröstelnd abtrocknete. Als hätten sie nur darauf gewartet, stürzten meine Gefühle wieder über mir zusammen und obwohl ich mich absichtlich langsam anzog und sorgfältig föhnte und kämmte, war ich viel zu schnell fertig. Minutenlang stand ich bewegungslos vor der Küchentür und wog das Für und Wider zum Reingehen und ihm gegenübertreten ab. Schließlich gewann das Wider mit der verlockenden Vorstellung, ihn anzuschmachten, und ich stieß die Tür auf. Er stand mit dem Rücken zu mir an der Arbeitsfläche und drehte sich nur kurz um, um mich mit einem Lächeln zum Hyperventilieren zu bringen. Während mein Gesicht sich automatisch zu einem dummen Grinsen verzog, fiel mir ein, dass ich ja an diesem Abend eigentlich mit kochen dran war. Seit Naiara nicht mehr da war, wechselten wir uns ab – es war ziemlich demütigend nach einer einfallslosen Mahlzeit von mir am Tag darauf ein Gourmet-Menü von ihm zu essen.
„Ähm“, machte ich und sprach schnell weiter. „Soll ich heute nicht Essen machen?“
Jetzt drehte er sich doch ganz um, sodass ich ihn in seiner ganzen umwerfenden Schönheit betrachten konnte. „Ich hab zwar schon angefangen, während du geduscht hast“ – er lächelte, ich wurde rot –, „aber wir könnten doch was zusammen machen, oder?“, fuhr er fort.
Zusammen klang in meinen Ohren gut, also nickte ich. „Klar. Aber wenn du davon später noch was essen willst, würde ich mir den einfachen Part überlassen.“
Er lachte, drehte sich wieder zu seiner Arbeit um und nickte zu der freien Fläche neben sich. „Ja, ja. Ich mach die spanische Spezialität und du… das Brot.“
Während er also professionell wie immer den Fünf-Sterne-Koch-Teil übernahm und gleichzeitig auch noch sein Multitaskingtalent ausnutzte, um mit mir zu reden, gab ich mir Mühe, über seine Worte meine Tätigkeit nicht zu vergessen. Obwohl er wahrscheinlich dreimal soviel machte wie ich, war er trotzdem eher fertig und half noch bei mir mit, sodass wir später dann doch noch essen konnten.
Während er der dekorativen Anordnung der Schüsseln noch den letzten Schliff gab, betrachtete ich sein Werk.
„Ehm, ich bin nicht sicher, ob mein ungeübter deutscher Magen das verträgt“, bemerkte ich skeptisch. „Ich esse eigentlich… einfacher.“
„Sei offen für Neues, ich hab mir Mühe gegeben“, erwiderte er gewohnt optimistisch.
Ich verzog das Gesicht. „Ja, ja.“
Und während meine Augen und Ohren ganz von ihm in Anspruch genommen wurden, beschäftigten sich meine Geschmacksknospen mit seinem Essen – ja, ich musste mal wieder zugeben, dass ich zu unrecht an ihm und seinen Fähigkeiten gezweifelt hatte. Ich könnte mich glatt daran gewöhnen, jeden Abend von ihm bekocht zu werden…
„Nicht dass ich an der Qualität des Essens zweifle, aber denkst du nicht, dass du deine Sinne genug mit Neuem strapaziert hast?“, fragte er später mit einem Blick auf die fast leeren Schüsseln. Okay, er hatte Recht, ich hatte mich in ein verfressenes kleines Monster verwandelt und kräftig zugelangt. Aber was konnte ich denn dafür, wenn seine Fähigkeiten so genial waren?!
„Jaah, ich bin ja fertig“, entgegnete ich muffelig und hoffte, dass ich mein Image bei ihm nicht allzu sehr zerstört hatte. Ich spürte, wie das Essen langsam Auswirkungen zeigte und mich müde machte und stand auf. Leichter Schwindel befiel mich und ich stützte mich auf der Stuhllehne ab.
„Ich geh lieber ins Bett…“
Er sah mich prüfend an. „Alles okay?“
Ich verdrehte die Augen. „Klar“, gab ich zurück und machte mich auf den Weg in mein Zimmer. Noch lange spürte ich seinen besorgten Blick auf mir ruhen und mein Herz machte kleine, unkontrollierte Sprünge.
Als ich wenig später nach raschem Umziehen im Bett lag, hatte ich noch immer den Nachgeschmack des Essens im Mund und obwohl ich wusste, dass es warm war, fröstelte ich unter meiner Decke und zog sie so eng wie möglich um mich. Ich lag auf dem Rücken, die Beine angewinkelt, eine Hand auf meinem Bauch, der sich ungewöhnlich schwer anfühlte, und ließ den Tag noch einmal an mir vorbeiziehen. Mittlerweile bereute ich es, so viel gegessen zu haben (nicht nur dass ich es jetzt schmerzhaft spürte, ich hatte auch noch in seiner Gegenwart das ausgehungerte Mädchen raushängen lassen) und aus einem unerfindlichen Grund wummerte mein Kopf.
Den Tag an sich konnte ich trotzdem nicht bereuen, egal, wie krampfhaft ich es versuchte. Jeder Tag mit ihm schien unfassbar wertvoll und nicht zum ersten Mal drängte sich mir der schmerzhafte Gedanke in den Kopf, dass ich hier auch irgendwann wieder wegmusste.
Automatisch dachte ich an meine Freunde in Deutschland, an Nico… Aber sosehr ich auch nach einem Hauch von Sehnsucht suchte, ich fand ihn nicht.
Ich seufzte. Wahrscheinlich lag das mit an meinen Bauchschmerzen. Und Kopfschmerzen. Vielleicht hätte ich wirklich weniger essen sollen…
Ich beschloss, ein Glas Wasser trinken zu gehen und stützte mich auf einen Ellbogen in eine halb sitzende Position. Der Schwindel von vorhin überkam mich augenblicklich wieder, aber ich biss die Zähne zusammen und stand auf wackeligen Beinen auf.
Von einem Moment zum nächsten verkrampfte ich mich und spürte den Brechreiz in meiner Kehle – ich musste mich zusammenreißen, um nicht an Ort und Stelle meinen Mageninhalt auf dem Fußboden zu verteilen. Tausend Gedanken und Dränge schossen mir durch Kopf und Körper und ich gab dem an zweiter Stelle (direkt hinter Hier-und-jetzt-kotzen) nach, schluckte mühsam die Übelkeit herunter und rannte los in Richtung Badezimmer, eine Hand für alle Fälle vor den Mund gepresst.
Ich stolperte gegen die Tür und schlug blind nach dem Lichtschalter (den ich dann auch erstaunlicherweise traf), sobald ich irgendwie die Klinke heruntergedrückt hatte. Dann stürzte ich zur Toilette und erbrach mich mit einem Würgegeräusch in die Kloschüssel. Gleichzeitig kam ich mir dermaßen widerlich und ekelhaft vor, dass ich mich am liebsten selbst geschlagen hatte.
Ich brachte etwas zustande, was nach Stöhnen und Husten klang und stützte mich kraftlos auf den Fliesen ab, mein Atem ging schwer und ich hatte das Gefühl, jeden Moment wieder losröcheln oder –kotzen zu müssen. Ich hätte mich beim Essen definitiv mehr zurückhalten sollen. Er hatte recht gehabt. Wie immer eigentlich.
In dem Versuch, meinen gehetzten Atem zu beruhigen und gleichmäßig klingen zu lassen, bekam ich ein Keuchen heraus – ich konnte mich nicht daran erinnern, dass mir jemals so schlecht gewesen war wie in diesem Moment. Das Blut rauschte mir in den Ohren und übertönte meinen wilden Herzschlag. Trotzdem hörte ich die schnellen, immer näher kommenden Schritte auf dem Flur.
Oh nein. Bitte, bitte nicht. Ich hatte ihn geweckt.
Vor der Tür verstummte das Geräusch und ich hörte ein leises Klopfen. „Jenny?“ Er klang besorgt. Mehr als besorgt, er klang, als wäre er kurz davor, den Notarzt zu rufen. Verdammt. Hätte ich eben nicht ein bisschen leiser den Flur entlanghetzen können?
„Geh weg“, krächzte ich und verstand mich selbst kaum, meine Stimme ging in einem weiteren Hustenanfall unter. Um nichts in der Welt sollte er mich so
sehen. Eigentlich durfte niemand mich so sehen, aber er am allerwenigsten. Bitte lass ihn nicht reinkommen
, flehte ich in Gedanken und ärgerte mich darüber, dass ich nicht abgeschlossen hatte. Meine Worte jedoch schienen eher Grund für ihn zu sein, das Gegenteil meiner Bitte zu tun, denn ich hörte, wie die Tür aufging. Das war das Ende meines Selbstbewusstseins. Ich hätte mich gerne irgendwo versteckt, fühlte mich aber so schwach, dass ich mich kaum bewegen, geschweige denn laufen konnte.
„Jenny!“, rief er erschrocken aus, ich stöhnte sowohl innerlich als auch für ihn hörbar auf, und in wenigen Sekunden war er an meiner Seite. Ich wandte den Kopf, um ihn nicht ansehen zu müssen, auch wenn es wehtat. Tränen des Gefühls der Demütigung und des Schmerzes liefen mir die Wange herunter und ich zwang mich dazu, eine Hand zu heben, um mir hektisch im Gesicht herumzuwischen, was es nicht gerade besser machte. Mein Kinn zitterte unkontrolliert als er es sanft in eine Hand nahm und meinen Kopf ihm zuwandte, mein schwacher Protestversuch war natürlich erfolglos und sobald ich ihn ansah, war mein Wille sowieso gebrochen. Er trug nur die Shorts, in denen er immer schlief (und ja, das war etwas ganz anderes als die Shorts beim Schwimmen!) und seine vom Liegen und hastigen Aufstehen zerwuselten Haare bildeten ein blondes, wirres Nest (ein sehr, sehr seltsamer Teil meines Denkens registrierte, dass ihn das unglaublich süß aussehen ließ). Meine Schmerzen und die Übelkeit bereitetem meinem Schmachten rasch ein Ende, sodass ich ihn nur noch mit – wie ich vermute – leerem anstarrte. Unter seinen Sommersprossen wurde er blass, als er mich genauer musterte.
„Was…?“ Er beendete seinen Satz nicht, sondern stand auf, spülte mein Erbrochenes in der Toilette herunter und öffnete das Fenster. Mit den Augen verfolgte ich seine Bewegungen, meine Gedanken ein einziges verschwommenes Durcheinander. Dann kniete er sich sofort wieder neben mich und befühlte meine Wangen und Stirn. Seine Hand war so wunderbar warm, dass ich mich unwillkürlich mit dem Gesicht dagegendrückte.
„Du bist ganz heiß… du hast Fieber. Verdammt, Jenny, was machst du nur?!“ Er klang nicht wütend, sondern nur besorgt. Und plötzlich war ich froh, dass er da war, auch wenn ich schrecklich aussah und total am Ende war.
Ich brachte ein halb gekeuchtes Schnauben als Antwort heraus, bevor ich mich erneut übergab – zum Glück kam ich noch dazu, zur Toilette herumzufahren. Augenblicklich verschwand das dankbare Gefühl für seine Anwesenheit wieder und ich schämte mich in Grund und Boden.
„Verzieh dich. Bitte“, sagte ich heiser, den Geschmack des Essens noch immer im Mund. Bääh. Ich verzog das Gesicht.
„Auf keinen Fall.“ Trotz seiner Sorge und Verzweiflung sah er sehr entschlossen aus und ein Blick in seine Augen sagte mir, dass meine Widerrede keine Chance auf Erfolg hatte. Also hielt ich schmollend den Mund.
„Hier kannst du nicht die ganze Nacht bleiben“, fuhr er fort und hob mich in einer fließenden Bewegung, die vor meinen müden Augen verwischte, hoch. Jetzt wollte ich doch protestieren, fand aber meine Stimme nicht und fühlte mich außerdem an seinem warmen Körper viel zu gut. Einen Arm an meinen Kniekehlen, den anderen um meine Schultern, trug er mich wie ein kleines Mädchen (das ich in diesem Moment nur zu gerne war) aus dem Badezimmer und wieder zu meinem Bett. Ich war damit beschäftigt, den Brechreiz zu bekämpfen (nicht dass ich doch noch auf ihn draufkotzte) und versuchte, seinen Duft zu inhalieren, um die hartnäckige Übelkeit loszuwerden. Trotz seiner Wärme zitterte ich und natürlich bemerkte er auch das. Vorsichtig, als könnte ich zerbrechen (und in meiner Situation schien das durchaus im Bereich des Möglichen zu liegen), legte er mich auf meine Matratze und wickelte mich in die Decke ein wie einen Kokon.
„Ich hol dir schnell ein paar Sachen, ich bin sofort wieder da. Ruf mich, wenn du was hast. Schaffst du das?“ Sein Blick war so voller Sorge, dass sich mein Herz zusammenkrampfte. Normalerweise hätte ich auf so eine Frage hin die Augen verdreht – wenige Augenblicke ohne ihn würde ich schon überleben. Doch in diesem Moment hätte ich ihn am liebsten davon abgehalten, auch nur für einige Sekunden von meiner Seite zu weichen.
Dennoch nickte ich schwach. Anscheinend wirkte meine Zustimmung nicht sonderlich überzeugend, denn er fügte hinzu: „Ich beeile mich.“ Und dann war er schon auf den Flur hinausgelaufen.
Ich schloss die Augen und konzentrierte mich nur auf meine Atmung, während ich mir ständig einredete, dass er gleich wiederkam. Und nach 20-mal Ein- und Ausatmen war er zu meiner großen Erleichterung wieder da. Ich blinzelte, doch der Raum verschwamm und mein Kopf pochte noch mehr.
„Ich hab dir eine Schüssel mit Wasser mitgebracht, damit du nicht immer zum Bad musst“, erklärte er. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, vergas den Sinn seiner Worte, sobald sie verklangen und wollte doch nicht, dass er aufhörte zu reden. Es tat so unendlich gut, seine Stimme zu hören… Ich spürte, wie er sorgfältig eine zweite Decke um mich wickelte und öffnete nun doch die Augen, um ihn anzusehen.
Nachdem er mir mit einem feuchten Tuch das Gesicht abgetupft hatte und mich dazu überredet hatte, einen Schluck Wasser zu trinken, erhob er sich aus seiner über mich gebeugten Position und sah unschlüssig auf mich hinab. Ich suchte nach meiner Stimme und fand sie nach zwei vergeblichen Versuchen.
„Geh nicht weg“, flüsterte ich so leise, dass ich nicht sicher war, ob er mich verstand. Zur Bekräftigung zwang ich mich mit zusammen gebissenen Zähnen dazu, eine Hand nach ihm auszustrecken. Sie zitterte, als hätte alle Energie meinen Körper verlassen und die wenigen Sekunden, in denen ich sie aus eigener Kraft in der Luft hielt, strengten mich an wie ein 100m Sprint. Aber ich durfte ihn nicht gehen lassen, das war alles, was ich wusste. Obwohl ich mir sagte, dass er auch seinen Schlaf brauchte und es ihm wehtat zu sehen, wie ich litt, konnte ich ihn einfach nicht fortlassen. Dieses Mal ließ ich zu, egoistisch zu sein und nach seiner Gegenwart zu verlangen – mir war klar, dass ich mit unfairen Mitteln kämpfte, denn er würde mir meinen Wunsch in diesem Zustand niemals abschlagen und ich wusste es. Aber wie konnte ich ihn nicht darum bitten, wenn ich glaubte, ohne ihn nicht atmen zu können, seine bloße Anwesenheit brauchte?
Und er blieb. Natürlich blieb er. Ich war froh und kam mir dabei schlecht vor, ich hatte das Gefühl, seine Fürsorge auszunutzen. Okay, vielleicht wäre er sowieso geblieben, aber das Risiko war zu hoch gewesen.
Er setzte sich zu mir aufs Bett, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, an der das Kopfende stand, und breitete die zweite Decke auch über sich aus – die Erste war immer noch eng um meinen Körper geschlungen. Ich lag neben ihm, in seinen Armen (so, wie ich es mir oft wünschte) und war dankbar für diese Wärme, die ihn immer umgab.
Später fragte ich mich manchmal, ob nur ich ihn als warm empfand, weil ich selbst meist recht kühle Haut hatte, oder ob er einfach so war…
Aber in diesem Moment war mir das egal. Vieles war mir in jener Nacht egal. Im Laufe der Zeit musste ich mich noch mehrmals übergeben, aber die Abstände dazwischen wurden immer größer und irgendwann, als ich mich schon ängstlich fragte, ob ich vielleicht ein paar Organe miterbrochen hatte, war endgültig nichts mehr da, was mir hochkommen konnte.
Er blieb die ganze Zeit bei mir, tupfte mir ab und zu mit dem feuchten Tuch die Stirn ab, wechselte das Wasser in der Schüssel aus und schien überhaupt nicht angewidert zu sein. Manchmal sprach er mit mir und wenn ich die nötige Konzentration aufbrachte, hörte ich zu, ansonsten verwischten seine Worte und ich lauschte nur dem Klang seiner Stimme, der an mir vorbeifloss. Er erzählte mir alles Mögliche, von seiner Schulzeit und seiner Familie. Manches wusste ich schon, wir hatten in der letzten Woche viel geredet, doch das war nicht schlimm. Ich war einfach froh darüber, ihm zuhören zu können.
Die meiste Zeit aber (zumindest kam es mir so vor) schwiegen wir beide und er sah mich nur an. Egal, wie sehr mein Kopf schmerzte oder was ich glaubte zu sehen, sein Blick hielt meinen mit hypnotisierender Kraft fest und ließ nicht zu, dass ich die Realität verlor – oder die Realität mich. Obwohl es im Zimmer dämmrig war, konnte ich das Blau seiner Augen erkennen, den etwas helleren Ring um seine Pupillen und verlor mich in der Tiefe, die durch die Farbe wie ein Stückchen Meer wirkte. Von allem, was er für mich tat, brauchte ich das am meisten. Wenn das Fieber besonders schlimm war und er den Schmerz in meinen Augen las, zog er mich dichter an sich, als könnte er so das Leiden verringern – und ich hatte manchmal das Gefühl, dass es funktionierte.
Wenn ich im Nachhinein auf diese Nacht zurückblickte, ärgerte ich mich oft darüber, seine Nähe, das alles nicht mehr genossen zu haben, aber in jenen Momenten, in denen es so war, dachte ich nicht daran, auch wenn ich mir seiner Gegenwart deutlich bewusst war. Ich spürte seinen Atem auf der Wange und versuchte, im selben Takt zu atmen.
Zwischendurch kam mir die Nacht unendlich lang vor, aber irgendwann merkte ich, dass ich seine Sommersprossen zählen konnte und von da an wurde es immer schneller hell. Ich beobachtete, wie sein Gesicht immer deutlicher wurde, wie die ersten Sonnenstrahlen schließlich seine Haarspitzen zum Leuchten brachten und ich fühlte mich für einen kleinen Moment lang vollkommen gut.
Das Problem ist, dass ich nicht ohne dich kann. Mit keinem Herzschlag.
16. Verwirrt, aber glücklich
Für manche würde ich sterben…
…für andere sterben lassen.
Je heller es wurde, desto mehr machte sich die schlaflose Nacht bei mir bemerkbar. Und obwohl ich mich innerlich anschrie, dass ich weiterhin das Gefühl von José ganz nah bei mir genießen wollte, konnte ich nichts dagegen tun, als meine Augenlider schwerer und schwerer wurden und ich schließlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf fiel.
Ich wurde wieder wach, als er sich neben mir bewegte und als ich blinzelte, sah ich, dass die Sonne bereits tiefer und tiefer sank – es war später Nachmittag. Ich verrenkte mir fast den Hals, um ihn ansehen zu können, mein Kopf war beim Schlafen auf seine Schulter gesunken. Und ich hatte tatsächlich mit ihm in einem Bett geschlafen
. Okay, ich war in meine eigene einzelne Decke eingewickelt gewesen, aber trotzdem.
„Wie geht’s dir? Ich wollte dich nicht wecken, sorry.“ Er setzte sich ein wenig auf, wir hatten uns unbewusst gegeneinander gelehnt. Meine Nähe schien ihn allerdings nicht zu stören, wie ich höchst befriedigt feststellte. Ich
hatte damit ganz sicher kein Problem.
Ich checkte mich auf seine Frage hin kurz durch und dachte darüber nach. Dann zuckte ich die Schultern. „Ich fühl mich eigentlich ganz okay, nur ein bisschen schwach.“
Er nickte und rieb sich die Augen. „Du hast kaum geschlafen und nichts gegessen.“
„Ähm, tut mir leid, dass ich dir auch eine ruhelose Nacht bereitet habe“, begann ich verlegen und sah zur Seite. Aber ich bereue nicht, dich dazu überredet zu haben, fügte ich im Stillen schuldbewusst hinzu. Ich erinnerte mich noch zu gut daran, wie sehr ich ihn bei mir haben hatte wollen und spürte noch immer den Nachklang des Gefühls. Verliebt in ihn hin oder her, er tat einfach gut. Und wenn mein Herz nicht unregelmäßig und laut gepocht hätte und mein Verstand sich nicht um sich selbst gedreht hätte vor Aufregung, hätte ich mich vielleicht sogar einfach wie seine beste Freundin fühlen können. Ganz, ganz vielleicht.
„Hey, ich konnte dich doch nicht einfach so im Stich lassen“, gab er zurück und grinste.
Ich verdrehte die Augen. „Deswegen hättest du aber nicht die ganze Zeit bei mir bleiben und mich versorgen müssen.“
Er sah mich eine Weile an, bis ich anfing zu zappeln. „Ich hab’s gerne gemacht. Freunde machen so was eben und überhaupt – wenn es dir schlecht geht, bin ich immer für dich da, okay? Vergiss das nicht.“
Ich konnte fast spüren, wie seine Worte mir das Herz wärmten und zwang mich dazu, jetzt nicht total wegzuschmelzen. „Ja, das machen Freunde wohl“, echote ich und konnte den wehmütigen Unterton in meiner Stimme nicht unterdrücken. Freunde, wie wir es sein sollten. Wie wir es für ihn auch waren. Warum musste ich unbedingt alles so kompliziert machen und mich in ihn verlieben? Mit meinen dämlichen Gefühlen konnte ich selbst die beste Freundschaft zerstören.
Er erwiderte nichts darauf und ich vermied es, ihn anzusehen, aus Angst, seinem prüfenden Blick zu begegnen. Ich hätte mich gerne vor einen Zug geworfen. Super. Jetzt hatte ich mich noch auffälliger als sonst verhalten.
„Du solltest wirklich was essen“, sagte er schließlich und setzte sich aufrecht hin. Verdammt. Hatte ich nicht einfach mal den Mund halten können? Jetzt wollte er gehen, damit er nicht schwierige Gespräche mit mir führen und mich nicht verletzen musste.
„Okay“, sagte ich ergeben, um ihn nicht dazu zu zwingen, hier bei mir zu bleiben – auch wenn mein Körper und mein Herz sich schon jetzt wieder nach seiner Nähe sehnten. Oje, ich hätte diese Nacht wirklich nicht zulassen sollen, egal wie schlecht es mir gegangen war. Jetzt würde ich nie wieder von diesen Gefühlen loskommen.
Niedergeschlagen sah ich zu, wie er die Beine über die Bettkante schwang und halbherzig seine Haare ordnete (ich verstand nicht wirklich warum, für mich lagen sie immer perfekt). Meine Augen fuhren die Konturen seiner Muskeln nach, ohne dass ich es verhindern konnte oder wollte. Der Nachteil letzte Nacht war auf jeden Fall gewesen, dass er zum Großteil unter einer Decke gelegen hatte und ich nicht so sehr geistig da gewesen war, dass ich unauffällig seinen Oberkörper bewundern hatte können. Sehr ärgerlich.
Doch bevor er aufstehend und weggehen konnte, packte ich ihn so schnell es mein kraftloser Körper zuließ seine Hand. Ich musste ihm noch etwas Wichtiges sagen, egal wie sehr mich das verriet oder verdächtig wirken ließ.
„Danke, dass du da warst. Genau das hab ich gebraucht“, sagte ich leise und sah ihn unverwandt an. Er sollte es wissen. Zumindest das.
„Kein Problem. Ich hab nicht so sehr gelitten wie du denkst“, erwiderte er, aber sein Lächeln wirkte traurig. Wollte er mich nur aufmuntern? Seine Augen blickten ehrlich, aber wie konnte ich da sicher sein? Ich ließ widerwillig sein Handgelenk los und mein Blick folgte ihm, bis die Tür hinter ihm zufiel.
Und ich war wieder allein. Und wusste nicht, wie ich mich fühlen sollte – wie so oft in den letzten Tagen. Ich vermisste seine Nähe und Wärme schon jetzt, das war ganz sicher nicht gut. Seufzend sah ich mich im halbdunklen Zimmer um und mein Blick blieb am Laptop hängen. Jetzt war definitiv Zeit für meinen persönlichen Kummerkasten, entschied ich, streckte mich, sodass ich das Objekt meiner Begierde zu fassen bekam und begann zu tippen.
Kathi,
ich hab ein Problem. Oder eher nicht ich, sondern jemand anders. Aber ich brauche ganz dringend, dringend, dringend deinen Rat, ja?
Also. Eine Freundin von mir hier hat sich in so einen anderen Typen verknallt, der aber schon total vergeben ist, aber sie kommt nicht von ihm weg – obwohl sie selbst einen festen Freund hat, den sie aber eigentlich doch total mag und nicht verletzen will. Tja, sie braucht meine Hilfe, das verstehst du ja. Also bitte, bitte antworte schnell, es ist wichtig.
Ach ja, und sorry, dass ich noch nicht auf deine letzte Mail geantwortet hab, ich war beschäftigt, weißte ja, Josés Programm und so…
Jenny
Ich lehnte mich wieder zurück – zu meinem Ärger etwas erschöpft, ich sollte vielleicht wirklich etwas essen… Aber José durfte sich ruhig noch etwas Zeit lassen.
Die Antwort kam sofort, genau wie ich vermutet hatte, Kathis Onlinezeiten waren leicht zu durchschauen.
Jenny, verdammt, sag dass das nicht wahr ist!!!! Es ist dieser José-Typ, stimmt’s?! Bitte, bitte, tu mir das nicht an und sag, dass ich falsch liege. Das würdest du nicht wagen, oder? Hey, wenn das ein Scherz ist, dann find ich den überhaupt nicht lustig!!
Eine sehr, sehr, SEHR aufgebrachte Kathi
Oh-oh. Ich hätte es doch nicht tun sollen. Aber jetzt war es zu spät. Ich beschloss notgedrungen, zur Verteidigung überzugehen.
Ey, ich rede von einer Freundin, du Kuh! Ich mach doch gar nichts. Diesmal zumindest. Ich mein das ernst, Kathi. Und jetzt sag schon.
Jenny
Aber wie ich schon vermutet hatte – und vorher hätte wissen müssen – durchschaute sie mich. Irgendwie hatte ich das mit dem unschuldig wirken wohl nicht so. Mist.
Ich glaub dir das mit der Freundin von dir nicht und ich weiß, dass es nicht stimmt. Denk dir mal bessere Methoden aus und sag mir besser, wie du DAS geschafft hast. Hast du schon mal darüber nachgedacht, was mit Nico & so ist?! Ach, und jetzt sag schon, ob es der José ist. Okay, ich weiß es eigentlich schon. So wie du immer von ihm redest… Das war so klar.
Eine augenverdrehende Kathi
Ich konnte auch genauso gut aufgeben. Und zumindest konnte sie mich nicht anschreien. Noch nicht. Dabei hatte sie Recht. Seufzend antworte ich ihr.
Okay, okay, ich ergebe mich, du HAST Recht. Ich hab mich in diesen hammergeilen José verliebt und weiß nicht weiter. Hey, du musst ihn mal sehen, er ist so was von sexy… Wehe, du sagst irgendwas zu Alicia & Co! Beste Freundinnen, erinner dich mal und kein Wort zu Nico natürlich. Bitte, bitte, hilf mir.
Jenny
Nervös kaute ich auf meinen Fingernägeln herum (echt blöde Angewohnheit von mir). Ich betete, dass Kathi nicht doch plauderte. Dann wäre ich nämlich wirklich tot.
Pfft, dann wäre ich meinen Kummerkastentitel ja wohl los, wenn ich quatschen würde, oder? Das heißt aber nicht, dass ich dir zustimme, ganz im Gegenteil, du musst irgendwas tun und dich an deine Freunde zuhause erinnern. Vor allem an Nico. Das darf definitiv nicht so bleiben und jetzt erzähl endlich, wie das passiert ist. Ich schwöre, dass ich nicht rede (auch wenn du saumäßigen Mist gebaut hast).
Ohne Worte, Kathi
Ich überlegte gerade, wo ich am besten anfangen konnte zu erzählen, als ich auf dem Flur eine Tür zuschlagen hörte, gefolgt von Schritten. José. Ich verfluchte seine Schnelligkeit und sehnte zugleich seine Anwesenheit herbei. Also ein andermal. Rasch schrieb ich noch ein paar Worte, um Kathi ruhig zu stellen.
Danke, danke, danke! Ich umarme dich ganz doll! Sorry, ich erzähl morgen oder so, ER ist auf dem Weg zu meinem Zimmer, ich muss weg. Was soll ich weiterhin tun?
Bis demnächst. Jenny
Ich klickte auf ‚Senden’ und fuhr hastig den Laptop herunter, in dem Moment, in dem die Tür aufging, schob ich ihn wieder an seinen ursprünglichen Platz. Ja, Kathi würde mich virtuell dafür umbringen, dass ich einfach so off ging, aber damit musste sie eben leben. Ich hatte jetzt Besseres zutun. Erwartungsvoll und (hoffentlich) unschuldig sah ich ihn an, als José mit einem Fuß die Tür aufstieß. Aber irgendwie hatte ich trotzdem das Gefühl, dass er wusste, was ich getan hatte.
„Ich hab uns was mitgebracht“, sagte er lächelnd, setzte sich zu mir und stellte das Tablett, das er getragen hatte, zwischen uns. Ich konnte fast spüren, wie ich mich augenblicklich besser fühlte. Ja, ich hatte echt einen Schaden.
Ich sah auf das Essen herunter und verzog unwillkürlich das Gesicht. „Ich weiß nicht, ob ich schon was essen will. Wahrscheinlich kotz ich das sowieso gleich wieder aus und ganz ehrlich, ich hab nicht wirklich Appetit.“
„Ich versteh dich ja, aber du musst wirklich was essen, sonst kommst du gar nicht wieder zu Kräften. Bitte.“ Und mit diesen Worten zauberte er dieses unwiderstehliche Lächeln aufs Gesicht, das mich einfach willenlos machte. Das war so unfair…
„Na gut“, sagte ich ergeben und lächelte reflexartig zurück.
Und während wir nebeneinander auf meinem Bett saßen und aßen (er war anscheinend fast so erschöpft wie ich, denn das, was ich nicht schaffte, schlang er noch mit runter), dachte ich mir, dass ich vielleicht auch überleben könnte, wenn es einfach so weiterginge und er nicht mir gehörte. Ja, ich weiß, das würde ich sowieso tun müssen, aber es tat gut, so denken zu können.
Obwohl wir schon den halben Tag verschlafen hatten und kaum zwei Stunden wach gewesen waren, spürte ich bald, wie die neue Energie mich irgendwie zur Ruhe kommen ließ und mich müde machte. Erst kämpfte ich noch dagegen an, aber als er mich dann in den Arm nahm geriet mein Wille ins Wanken. Er war so warm. So angenehm. Warum nicht nachgeben und in seiner Umarmung einschlafen? Es schien mir nicht die schlechteste Lösung und so ließ ich die Schläfrigkeit zu, kuschelte mich dichter an ihn und war bald eingenickt.
Manche Umarmungen sind mehr wert als andere…
17. Unbeschreiblichkeit
Aufgeben war noch nie meine Stärke.
Meine dämliche Kotz-Grippe hielt noch etwa vier Tage an. Von morgens bis abends lag ich im Bett, bis José mir endlich erlaubte, aufzustehen (nachdem er mich vorher immer hin- und hergetragen hatte, was auch nicht schlecht gewesen war). Äußerlich hinterließ meine Krankheit nicht die geringste Spur. Innerlich leider schon.
Ich hätte wissen sollen, dass diese erste Nacht nicht gut war. Denn das Problem war, dass ich erst auf den Geschmack gekommen war und mich daran gewöhnte. Jede Nacht sagte ich mir, dass es die letzte sein sollte. Und jede Nacht brach ich meine Regeln wieder. Er tat einfach zu gut. Und dummerweise bereute ich meine Taten erst dann, wenn es schon zu spät war. Okay, genau genommen bereute ich sie selbst dann nicht. Und das war noch sehr viel schlimmer.
Es war genau eine Woche später. Ich saß mit ihm beim Abendessen (in letzter Zeit nur noch leicht verdauliches Essen, um mich ja nicht überzustrapazieren – er bestand darauf) und hatte mich auf meinem Stuhl halbwegs zusammengerollt.
„Die Nacht ist klar heute“, bemerkte er plötzlich ohne für mich ersichtlichen Grund.
„Äh… ja und?“ In meinen Gedankengängen unterbrochen sah ich irritiert auf. Er sah nach oben und ich folgte seinem Blick, erkannte aber nichts Besonderes.
„Komm.“ Bevor ich weiter nachfragen konnte, war er schon aufgestanden und hatte meine Hand gepackt, um mich dann hinter sich herzuzerren, sodass ich beinahe gegen den Tisch gelaufen wäre.
„Muss ich das jetzt verstehen?“, fragte ich atemlos, während ich versuchte, mit seinen riesigen Schritten mitzuhalten. Ich hasste es, nicht Bescheid zu wissen und seine Gedankensprünge überforderten meine Denkgeschwindigkeit immer wieder aufs Neue.
Er lachte nur. „Mir ist nur was eingefallen.“
„Aha.“ Erwartungsvoll sah ich ihn an, aber er sagte nichts weiter. Dann eben nicht. Ich verdrehte die Augen und lief schweigend weiter hinter ihm her, er würde mir sowieso nicht mehr sagen. Aber die Tatsache, dass er meine Hand hielt brachte mich dazu, mehr oder weniger geduldig abzuwarten – er würde mich ganz sicher nicht enttäuschen. Was auch immer er vorhatte.
Mittlerweile waren wir am Strand, er schlug den Weg nach links ein und mir fiel auf, dass ich hier noch nie gewesen war. Ich war eindeutig zu sehr mit meinen Mitmenschen beschäftigt, um auf die Umgebung achten zu können…
Wir liefen einige Minuten schweigend nebeneinander (er hatte seine Gehgeschwindigkeit zum Glück etwas verlangsamt, sodass ich auch mitkam) und irgendwann zog er mich zur Seite, wo ebenfalls die Palmen wuchsen, die den gesamten Strand zu säumen schienen. Ich schwenkte unsere verschlungenen Hände hin und her, teils weil ich zappelig war, teils weil ich das Gefühl einfach nur liebte.
„Wir sind gleich da“, sagte er und obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste ich, dass er lächelte.
„Wo da?“, hakte ich nach.
Er erwiderte nichts und lief stattdessen schneller, sodass ich meinen Atem darauf verschwenden musste, bei dem Versuch mit ihm Schritt zu halten vor mich hin zu keuchen. Das Gelände stieg an und ich merkte erst, dass wir die Palmen hinter uns gelassen hatten, als er stehen blieb. Ich rannte mehr oder weniger unfreiwillig in ihn rein und sah auf.
Ich hatte kaum wahrgenommen, wie unser Weg immer grüner geworden war und stellte jetzt fest, dass wir auf einer grasbewachsenen Fläche inmitten einzelner Bäume standen. Wir befanden uns ein gutes Stück oberhalb des Meeres und zwischen einigen Ästen konnte ich das Meer unter uns vom Sternenlicht glitzern sehen. Eine leichte Brise verursachte ein leises Rauschen in den Baumkronen, aber ansonsten herrschte nahezu perfekte Stille – wenn man von meinem noch immer währenden hastigen Keuchen absah. Auf eine seltsame Weise schien dieser Ort mich selbst mit Ruhe und Frieden zu erfüllen und ich spürte, wie mein Herzschlag wieder seinen gleichmäßigen Rhythmus annahm und meine Atmung sich dem Takt der seinen anpasste.
Erst als er leicht meine Hand drückte, sah ich wieder ihn an und mein Blick wurde augenblicklich wie sonst auch von seinem gefesselt. Und während ich ihn so anstarrte, ging er ein paar Schritte (dicht dahinter mein willenloser Körper natürlich, der ihm auch über die Kante eines Abgrunds gefolgt wäre) und ließ sich auf einer behelfsmäßigen Schaukel nieder, die, bestehend aus einem Holzbrett und zwei Seilen, an einem Baum herunterhing und die ich erst jetzt bemerkte. Bevor ich unschlüssig und verlegen daneben stehen bleiben konnte, hatte er mich schon vorwärts auf seinen Schoß gezogen, sodass unsere Körper einander zugewandt waren und ich ihn immer noch ansehen konnte. Während in meinem Kopf schon die Filmmusik von ‚Titanic’ spielte (mein automatischer Reflex in romantischen Augenblicken), reagierte mein Herz wie immer auf seine verwirrende Nähe und machte die Regelmäßigkeit meiner Atmung von einem Moment zum nächsten zunichte. Meine Fähigkeit zu sprechen versagte und ich war froh, als er meine Frage offenbar in meinen Augen las und von selbst beantwortete.
„Einer meiner Lieblingsplätze. Ich gehe nachts gerne hierhin, wenn der Himmel klar ist.“ Er war so nah, dass ich seine Worte deutlich verstand, obwohl er leise sprach. Ich blieb – noch immer atemlos – stumm und wünschte mir von ganzem Herzen, die Zeit anhalten zu können, um den Moment bis ins Detail genießen zu können. Doch auch er schwieg und gab mir die Chance, es trotzdem zu tun und ich fragte mich zum tausendsten Mal, woher er immer so genau wusste, was ich dachte. Selbst wenn ich meine Muskeln hätte bewegen können, hätte ich nicht nach unten geschaut, um nachzusehen, an wie vielen Stellen mein Körper seinen berührte, denn alles, was meine Augen sehen konnten, war das unvergleichliche Blau der seinen. Abgesehen davon konnte ich seine Berührungen ohnehin deutlicher spüren, als mein Sehvermögen es jemals hätte erfassen können und obwohl mein eigener Herzschlag unüberhörbar und wild pochte, nahm ich seinen als das schönste Geräusch der Welt vollkommen präzise wahr, so als wären meine Sinne nur auf ihn abgestimmt worden.
Ich wurde aus meinem sich um ihn drehenden Universum gerissen und ins nächste Stadium des Verstandverlustes katapultiert, als er mit einer Hand mein Kinn leicht anhob, sodass ich den Sternenhimmel bewundern konnte (der allerdings nicht annähernd an die Schönheit seiner Augen herankam). Er hatte – wie immer – recht, die Nacht wirkte näher als sonst und nur das Gefühl seiner Anwesenheit verhinderte, dass ich mich verloren und einsam fühlte – so war Sicherheit und Perfektionismus alles, was ich wahrnahm. Und als er zu sprechen begann, nahm seine Stimme mich gefangen und alles außer ihm und mir schien unwichtig zu werden.
„Als ich klein war“ – wir lächelten beide automatisch, er bei der Erinnerung, ich, weil ich mir einen kleinen süßen José vorstellte -, „erzählte mir mein Vater manchmal abends eine Geschichte. Er konnte schon immer gut erzählen und ich habe es geliebt, auch wenn ich als ich älter wurde natürlich wusste, dass es nur Märchen waren. Manche Geschichten mochte ich besonders, ich wollte sie immer und immer wieder hören und eine davon handelte von der Entstehung der Sterne. Er sagte, dass es vor langer Zeit ein Stück von der spanischen Nordküste entfernt eine Insel gab. Sie war wunderschön, die Einwohner lebten friedlich und glücklich und der Engel, der die Insel schützte, sorgte dafür, dass es so blieb. Aber eines Tages kamen Fremde über das Meer, um die Bewohner anzugreifen und Besitz von dem fruchtbaren Land zu nehmen. Als der Engel sie bemerkte, war es schon zu spät, um ihre Schiffe kentern oder einen Sturm sie weit weg schicken zu lassen und in seiner Verzweiflung brachte er eine Krankheit unter die Angreifer, die hoch ansteckbar war und jeden innerhalb weniger Minuten umbrachte. Es funktionierte auch – nicht einer überlebte, aber die Hilfe des Engels war spät gekommen und die erste Gruppe der Fremden übertrug die Krankheit auf einige Inselbewohner, die am Ufer standen um ihr Land zu verteidigen, bevor auch sie dem Tod zum Opfer fielen. Unbemerkt verbreitete sie sich unter den Einwohnern, bis schließlich alles Lebende auf der Insel tot war. In seiner Trauer stieg der Engel auf die Erde herunter, um die Zerstörung, die seine eigene Krankheit hervorgerufen hatte, mit eigenen Augen zu sehen. Er sah die Toten, Einheimische und Angreifer, und er sah die vielen Kinder, die gestorben waren. Kinder, deren Leben er beendet hatte, noch bevor sie richtig beginnen konnten, denen er unzählige kostbare Jahre auf dieser Erde und die Chance auf Nachkommen genommen hatte. Und er tat das Einzige, was er ihnen noch geben konnte, denn auch wenn das Leben ihre Körper für immer verlassen hatte, so konnte er sie doch auf eine Weise unsterblich machen. Denn jedes Kind, das von einer seiner Tränen berührt wurde, stieg in den Nachthimmel auf und wurde als Stern für alle Welt sichtbar. Nur sie konnte er so retten, denn nur die Kinder besaßen noch diese Unschuld und hatten unzählige unerfüllte Träume, die sie zum Leuchten brachten. Mein Vater sagte, immer wenn seitdem ein Kind stirbt, kommt ein Stern am Himmel dazu und wenn man sich etwas wünscht, während man hinaufsieht, geht der Wunsch in Erfüllung – denn eines der Kinder wünschte sich einmal das Gleiche und nun kann es für einen anderen wahr werden.“
Im Prinzip war der Sinn seiner Worte egal, allein der Klang versetzte mich in einen geistig von rosa Wattewölkchen umnebelten Zustand. Schon wenige Sekunden nachdem er zu erzählen begonnen hatte, hatten die Sterne meine Augen nicht mehr festhalten können und ich konnte nur noch ihn ansehen – vor allem als er meinen Blick erwiderte und ich glaubte, dass die Welt um mich herum stillstand. Er sah abwesend aus, doch ich wusste, dass er mich trotzdem wahrnahm, genauso wie ich ihn die ganze Zeit über mit all meinen Sinnen spürte und gleichzeitig seiner Geschichte zuhören konnte. Klar, es war nur ein ausgedachtes Märchen, aber es berührte mich dennoch. Vielleicht auch nur, weil ich mir vorstellte, wie er selbst es früher von seinem Vater erzählt bekommen hatte und ich das Gefühl hatte, etwas mit ihm teilen zu dürfen, das ihm wichtig war.
Der abwesende Ausdruck der Erinnerung verschwand aus seinen Augen und er sah mich wieder mit vollkommener Konzentration an (was nicht gerade zu meiner
Konzentration beitrug).
„Das ist eine traurige Geschichte… aber ich find die Vorstellung irgendwie schön“, sagte ich leise, sobald mir wieder eingefallen war, wie ich meine Stimme gebrauchte.
Er lächelte. „Dann sollten wir es tun. Vielleicht klappt es.“ Und noch während er sprach, schloss er die Augen. Ich starrte ihn noch kurz an, um die Gelegenheit, ihn zu betrachten ohne dass er es bemerkte, auszunutzen, und tat es ihm dann nach. Ich glaube, ich hätte alles getan, was er wollte.
Und ich schwöre, es passierte einfach so, ohne dass einer von uns es bewusst tat. Wirklich.
Plötzlich spürte ich seine Lippen auf meinen und selbst wenn der Wille, mich von ihm zu lösen, vorhanden gewesen wäre, so wäre er dann augenblicklich verschwunden. So wie alles verschwand. Alles außer ihm. Er schmeckte noch so viel besser, als er aussah… Unmöglich. Unbeschreiblich. Und doch wahr. Meine Lippen waren dafür geschaffen, dass er sie küsste. Ich
war dafür geschaffen, dass er mich küsste. Meine Existenz konnte keinen anderen Sinn haben. Mein Leben lang musste ich auf diesen Moment hingearbeitet haben, denn dafür lohnte es sich zu leben. Und jetzt war der Augenblick da und war besser als alles, was ich je erlebt hatte. Aber es war nicht so, dass ich mein Leben jetzt einfach aufgeben könnte. Ich wollte mehr, ich wollte so weitermachen. Immer. Ich konnte mir keine bessere Tätigkeit vorstellen und in diesem Moment war mir völlig klar, warum ich mich in ihn verliebt hatte. Er war so unendlich perfekt, dass ich einfach jedes Recht dazu hatte. Es konnte niemanden Besseres als ihn geben.
Meine Hände, die zuvor unschuldig auf seinem Rücken gelegen hatten, bewegten sich von alleine zu seinem Nacken hinauf, während ich gleichzeitig spürte, wie sich seine von den Seilen der Schaukel lösten, eine an meiner Taille liegen blieb und die andere zu meinem Kinn wanderte. Wir wirkten beide sicher und ruhig, jede Bewegung perfekt abgestimmt und unsere Lippen schienen nie etwas anderes getan zu haben, als sich aufeinander zu bewegen. Mein Körper kam seinem automatisch näher und seine Hände drückten mich nur noch fester an ihn.
Zu Anfang küsste er mich sehr sanft und vorsichtig und selbst als wir gleichzeitig leidenschaftlicher wurden, waren seine Lippen doch immer noch weich und passten sich meinen an. Obwohl wir ruhig und mit minimalen Bewegungen dasaßen, war ich einem Herzorgasmus nahe – oder zumindest glaubte ich, dass es mein Herz war, genau wie unsere Atmung vermischte sich auch das unregelmäßige Pochen unserer Herzschläge bis zur Unkenntlichkeit miteinander.
Wir schienen ewig eng umschlungen dort zu sitzen und den nicht enden wollenden Kuss auszukosten, doch viel zu früh wurde er wieder ruhiger.
„Du solltest ins Bett gehen“, flüsterte er an meinen Lippen.
Ich sah ihn an und las in seinen Augen dasselbe, das wohl auch in meinen geschrieben stand. Unendliche Versuchung. Aber trotzdem klang er bestimmt und so gab ich auf und nickte ergeben, mein Kopf schwirrte noch immer in dem Versuch, das Geschehene zu verarbeiten und als logisches Ereignis irgendwie abzuspeichern.
Er hielt mich fest, als er aufstand und ich noch in derselben Bewegung in seinen Armen lag. Wie so oft. Aber ich war froh, nicht laufen zu müssen – ich war mir ziemlich sicher, dass meine Beine mich nicht getragen hätten. Während des Rückwegs, der nicht einmal halb so lang wie der Hinweg wirkte, schrie ich innerlich danach, ihn wieder zu küssen, wieder und wieder und niemals aufzuhören. Aber mein Verstand kam allmählich wieder und hielt mich streng davon ab.
Das Ausmaß des ‚Vorfalls’, wie mein Gehirn es vorsichtig ausdrückte, wurde mir erst bewusst, als ich im Bett lag und noch immer sein Gesicht vor mir sah und glaubte, seine Lippen zu spüren.
Ich hatte ihn geküsst. Oder hatte er mich geküsst? Wie auch immer.
Es kam ungefähr mit Hochverrat an Nico auf eine Stufe. Und mit Naiara, was fast noch schlimmer war. Und wie immer bereute ich es kein Stück, so sehr ich auch versuchte, mich dazu zu zwingen. Ich machte alles falsch. Wie immer.
Das kleine, halbe Herz an meinem Schlüsselbein schien plötzlich zehn Kilo zu wiegen und ich hatte das Gefühl, dass das Silberkettchen mir die Luft abschnürte…
Ich mag dich nur als Freund. Na ja. Eigentlich nicht.
18. Fehler
It’s you when I’m talking about my life.
Ich konnte es nicht glauben. Aber ich wollte es glauben. Und ich wusste, dass es wahr war, weil ich mir so etwas Wunderbares ganz sicher nicht ausdenken konnte. Ich hatte keine Ahnung, was ich zu ihm sagen sollte, aber ich wusste, dass ich ihn sehen musste. Er machte süchtig. Das war das Problem. Ich sagte mir, dass ich die letzte Nacht vergessen sollte. Aber wie konnte ich das Beste vergessen, was mir je passiert war?
Die Logik war sowieso nicht auf meiner Seite, aber das war ich ja gewohnt. Meine Reaktion? Leicht zu erklären. Wenn ich nur daran dachte, wie er schmeckte, hätte ich hier und jetzt in sein Zimmer stürmen und da weitermachen können, wo wir aufgehört hatten.
Seine Reaktion? Hä? Absolut keine Ahnung. Hatte ich mir vielleicht nur eingebildet, dass er mich auch geküsst hatte und nicht nur ich so mehr oder weniger über ihn hergefallen war? Vielleicht war er völlig geschockt und überrascht gewesen und hatte sich nicht sofort wehren können. Aber das wollte und konnte ich nicht glauben. Niemals. Ich hatte es gespürt, ich hatte es in seinen Augen gesehen! Doch es war unmöglich. Nicht im Bereich der Realität, dass José mich geküsst haben könnte. Das war wahrscheinlich allein ich gewesen.
Nein! Er wollte es auch!
, schrie mein Herz mich verzweifelt an.
Bist du verrückt? Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass er auch nur im Geringsten dasselbe für dich empfindet wie du für ihn, oder? Lächerlich
, konterte mein Verstand eiskalt.
Vielleicht war er auch nur irgendwie… nicht ganz da gewesen oder so was. Total geistesabwesend und hatte nur unbewusst gehandelt. Aber wenn er mich unbewusst küsste, dann mochte er mich also doch…? Nein, nein, nein, so was durfte ich mir gar nicht erst vorstellen. Es war ihm bestimmt unangenehm, was vorgefallen war, und ich würde ihm einfach einen Gefallen tun und nicht darauf zu sprechen kommen. So tun als wäre nichts gewesen. Hier lief doch gar nichts. Warum unnötig darüber reden und mich selbst verletzen, wenn er abweisend reagierte (so wie er es zweifellos tun würde).
Dann kam mir ein schrecklicher Gedanke. Was wenn er einfach Naiara so unendlich doll vermisste, dass er bereit war, mit mir Vorlieb zu nehmen, bis sie wieder da war? Nein. Unmöglich. Das würde er nie, nie, nie tun. Klar, er mochte mich nicht annähernd so sehr wie ich ihn, aber mein bester Freund war er trotzdem. Er war so durch und durch gut und ehrlich, dass er nicht einmal auf die Idee kommen würde, mich zu benutzen.
Aber wenn er so gut und ehrlich ist, warum sollte er dich dann geküsst haben?, gab eine leise Stimme in meinem Hinterkopf zu bedenken. Denn damit würde er ja Naiara betrügen und das wäre ganz und gar nicht gut und ehrlich.
Nein. Auch das würde er niemals tun. Er gehörte zu ihr, so war es einfach und es war ganz bestimmt nicht gut, wenn ich den Gedanken, es könnte anders sein, auch nur zuließ. Bestimmt hatte er nicht bewusst gehandelt. Oder er hatte noch nicht mal irgendwie gehandelt und es einfach über sich ergehen lassen, weil ich so erbärmlich und bemitleidenswert war. Und jetzt bereute er es natürlich. Natürlich. Obwohl es ganz logisch und klar war, traf mich dieser Gedanke doch hart. Ich hatte das Gefühl gehabt, dass er es auch gewollt hatte und jetzt sollte sich das alles als Halluzination herausstellen? War es ihm unangenehm gewesen?
Zu meinem Ärger spürte ich, wie mir heiße Tränen die Wangen hinunterliefen. Ich fühlte mich schrecklich. Abgewiesen. Okay, was hätte er auch anderes tun sollen? Das war albern. Ich hätte es wissen müssen und sollte mich jetzt nicht darüber aufregen. Es sollte mir so wie ihm gehen, ich sollte bereuen und mich gedanklich dafür vor einen Zug werfen und jetzt Nico anrufen, um seine Stimme zu hören und ihm zu sagen, wie sehr ich ihn liebte. Ich sollte mir schwören, dass es das Schlimmste und Betrügerischste gewesen war, was ich je getan hatte und dass es nie wieder vorkommen durfte. Dass ich nicht wollte, dass so was irgendwann noch einmal passierte.
Aber noch während ich das dachte, wusste ich schon, dass ich es nicht konnte. Wieder einmal wurde mir schmerzhaft bewusst, dass ich längst zu viel zugelassen hatte und so viel mehr empfand, als ich zugeben wollte. Vielleicht – nein, nicht nur vielleicht, sondern ganz sicher – war es abgrundtief falsch und betrügerisch bis ins Unendliche gewesen, aber es war trotzdem das schönste Erlebnis meiner (armseligen) Existenz. Ja, ich war echt erbärmlich. Aber wenn erbärmlich sein hieß, dass ich ihn küssen durfte, dann kam ich damit super klar. War das noch normal?
Ich atmete tief durch und bereitete mich mental darauf vor, dass er
gleich wie jeden Morgen hereinkommen würde, als mir noch ein schlimmer Gedanke kam. Vielleicht kam er ja nicht. Vielleicht wollte er nichts mehr mit mir zutun haben. Nein! Das würde ich nicht überleben! Was sollte ich nur tun? Ohne ihn, das wäre-
„Guten Morgen!“ Ich zuckte zusammen und fuhr hoch. Er stand in der Tür, sah atemberaubend gut aus wie immer und lächelte dieses Lächeln, das in mir den Drang auslöste, mich auf die Knie zu schmeißen und zu sabbern. Wie dumm von mir, zu denken, er könnte nicht kommen. Er kam immer. Meine Anspannung fiel von mir ab.
Aber nur kurz. Nur bis zu dem Augenblick, in dem ich feststellte, dass zu meinen gewöhnlichen Gedanken und Wünschen, die in meinen Kopf kamen, sobald ich ihn sah (in seine Augen schauen, seine Haare anfassen, seinen supergeilen Körper und seine Wärme spüren, ihn umarmen und nie wieder loslassen,…), etwas Neues dazugekommen war, das dabei war, sich in Rekordgeschwindigkeit an die Spitze meiner Liste zu setzen. Ich krallte meine Hände in die Bettdecke.
Ich wollte ihn küssen. Hier und jetzt. Die Wucht des Gedanken warf mich gedanklich völlig über den Haufen. Ich war mir ziemlich sicher, dass das nicht
normal war. Vielleicht kam so was raus, wenn Perfektionismus (er) und ein völlig verfallenes dummes Mädchen (ich) zusammenkamen. Fasziniert erinnerte ich mich daran, wie gut sich seine Lippen auf meinen anfühlten und vergas fast, dass er darauf wartete, dass ich etwas sagte.
Ich lächelte. Verlegen und verträumt. Na toll. „Morgen“, erwiderte ich einfallslos und konnte spüren, wie ich rot wurde. Verdammt. Ging’s noch auffälliger? Mein Blick wanderte unwillkürlich zu seinem Mund.
„Gleich Frühstück, okay?“ Ich stellte mir vor, ich wäre wieder mit ihm auf der Schaukel und würde ihn küssen… Ich blinzelte schnell, als er etwas sagte und sah ihn wieder an.
„Okay. Wie immer“, entgegnete ich und versuchte es mit dem Lächeln noch einmal. Diesmal klappte es besser.
Er nickte nur. Ich hatte das Gefühl, dass er noch etwas sagen wollte, es aber dann doch ließ. Ich wusste nur zu gut, wie er sich fühlte. Ich wollte ihm so viel erklären und fand die richtigen Worte nicht. Vielleicht später, sagte ich mir. Wir lächelten uns noch einmal an, dann ging er.
Ich sank zurück auf mein Kissen und starrte ratlos an die Decke. Wie sollte ich mit der Erinnerung an gestern jemals wieder normal denken können? Es schien unmöglich. Einerseits wollte ich ihn sehen, andererseits musste ich in jeder Sekunde, die ich ihn ansah, daran denken…
Irgendwie konnte ich doch weiterleben. Mein verdammtes Verlangen schien mich umzubringen, aber auch er war es, der jeden Tag, jeden Moment besonders machte und den ich zum Atmen brauchte.
Ich hatte gedacht, dass wir irgendwann über diese Nacht und das, was passiert war, sprechen mussten, aber ich stellte fest, dass es auch so funktionierte. Wir brauchten keine Worte mehr. Ein Blick in seine Augen. Ein Lächeln. Es reichte aus. Und ja, deswegen fühlte ich mich ein bisschen cool, weil ich Bestätigung dafür fand, dass er mich auch mochte. Er kam lange nicht an meine Gefühle für ihn heran, aber das konnte ich ja auch nicht erwarten.
Und wenn ich nicht andauernd daran hätte denken müssen, wie er mich geküsst hatte (oder ich ihn, wie auch immer), hätte ich es fast vergessen können. Wie schon so oft zuvor stellte ich auch dieses Mal fest, dass es unmöglich war, sich in seiner Nähe nicht wohl zu fühlen.
Das Einzige, was mich wirklich auf die Probe stellte, waren die Tage, an denen Naiara anrief. Jedes Mal, wenn ich mit ihr sprach (was ich so gut es ging vermied), hatte ich ein furchtbar schlechtes Gewissen und schämte mich in Grund und Boden dafür, hinter ihrem Rücken mit ihrem So-gut-wie-Verlobten rumzumachen. Sie hatte ihn verdient und ich nicht, so standen die Dinge nun einmal, doch ich konnte sie einfach nicht akzeptieren. Wann immer José mit ihr redete schwankte ich dazwischen, ganz weit wegzurennen, um ja nichts von dem, was sie besprachen, mitzubekommen, und dem Drang, zu lauschen. Für Letzteres war ich natürlich viel zu feige und er schien nichts Besonderes von uns zu erzählen, denn sie klang wie immer, wenn sie mit mir redete. Hey, sagte ich mir immer wieder, was gibt es auch zu erzählen? Ich zerstör ja nicht ihre kleine glückliche Familie oder so. Sie lieben sich und ich bin nur ein Kind. Sie lieben sich
. Jedes Wort war ein Messer, das ein riesengroßes Loch in mein Herz schnitt. Ich hasste mich selbst dafür, dass mich diese ganz logische Tatsache so sehr traf, aber es half nichts. Die Welt war so unfair…
Es war fast so, als hätten wir uns nie geküsst. Auf den ersten Blick wirkte alles wie vorher. Und doch spürte ich, dass alles dabei war, sich zu verändern. Mittlerweile war es Mitte Juli und ich hatte das Gefühl, dass die Zeit mir davonlief, jeder Augenblick mit ihm schien noch wertvoller zu sein als vorher. Und manchmal spürte ich seinen Blick auf mir ruhen, wenn ich ihn ausnahmsweise mal nicht anstarrte. Doch egal, wie schnell ich zurückschaute, seine Augen waren unergründlich tief und blau wie immer.
Vielleicht bildete ich es mir ein (gar nicht so abwegig), aber es gab diese Kleinigkeiten, die mich aufmerksam werden ließen. Wenn er mich noch ein paar Sekunden länger im Arm hielt, obwohl ich schon auf meiner Matratze lag. Wenn er meine Hand noch einmal fest drückte, bevor er sie losließ. Wenn er etwas sagte, seine Augen aber etwas ganz Anderes erzählten.
Vielleicht war ich mittlerweile verrückt geworden, aber es war mir egal (was wiederum wirklich beängstigend war).
Kathi ging ganz in ihrer Kummerkastenfunktion auf, es stellte sich jedoch, wie schon zu erwarten gewesen war, heraus, dass ich ein schwieriger Fall war. Außerdem hatte ich ihr von der ganzen nächtlichen Kuss-Sache noch gar nichts erzählt, sie würde definitiv austicken.
Feige wie ich war, las ich mittlerweile die meisten SMS von Nico gar nicht mehr. Ich konnte nicht mehr sehen, wie oft er mir geschrieben hatte, dass er mich über alles liebte und vermisste. Nur alle paar Tage antwortete ich, um nicht allzu auffällig zu wirken und redete mich damit heraus, dass ich viel unterwegs war und so weiter. Und jedes Mal, wenn ich mich dazu zwang, unter meiner fast schon beleidigend kurze Nachricht ‚Ich liebe dich’ hinzuzufügen, fragte ich mich, ob man es den Buchstaben nicht ansah, dass sie logen. Aber seine liebevollen Worte zu lesen, war noch viel grausamer. Womit hatte ich das nur verdient, dass dieser wunderbare Junge ausgerechnet mich liebte? Was dachte ich mir nur dabei, mich neu zu verlieben? Klar, ich mochte ihn. Vielleicht liebte ich ihn sogar. Aber ich liebte José mehr. Wie konnte ich ihm das antun? Ich hatte mir manchmal vorgestellt, wie es wohl sein würde, wenn wir nicht mehr zusammen waren. Ich hatte gedacht, vielleicht käme es mit der Zeit. Und ich gebe zu, dass ich im Hinterkopf immer dieses Vorurteil hatte, dass der Junge das Mädchen verlässt und verletzt und nicht andersherum.
Welches Schicksal also hatte sich das ausgedacht? Es war gegen alle Regeln, die ich ganz selbstverständlich immer eingehalten hatte. Aber seit wann kümmerte sich die Liebe um Regeln? Seit wann fragte mich mein Herz vorher um Erlaubnis?
Kennst du dieses Gefühl, wenn du weißt, dass du alles falsch gemacht hast? Wenn du die Menschen, die dir wichtig sind, verletzt und immer weitermachst? Wenn du denkst, dass du eigentlich sterben müsstest, weil du so ein schrecklicher Mensch bist und dich zu hundert Prozent wie die dumme Kuh aus der Foto-Lovestory benimmst, die von allen gehasst wird? Aber man stirbt nie. Man denkt, man erstickt, aber es passiert nichts. Kein Unfall nimmt dir die Last der Verantwortung und Schuldgefühle ab und lässt dich alles vergessen. Irgendwie überlebt man dann doch alles und muss mit den Konsequenzen leben, wird damit bestraft, alles was man falsch gemacht hat, noch ewig mit sich herumzutragen.
Genauso fühlte ich mich in solchen Momenten, in denen das Display meines Handys vor meinen Augen verschwamm und die silberne Kette um meinen Hals mir die Haut wegzubrennen schien.
Natürlich merkte José es, wenn es mir so richtig dreckig ging. Aber er fragte nicht nach und ich war dankbar dafür. So wie ich ihn kannte, konnte er es mir vielleicht auch vom Gesicht ablesen, aber auf jeden Fall tat er – wie immer – genau das, was ich in meiner Situation brauchte: Er war einfach da und hielt mich fest. Nicht nur, dass er mich in seinen Armen hielt, er verhinderte auch, dass mein Pessimismus die Überhand gewann oder ich vollkommen in trübseligen Gedanken und Selbstmitleid versank.
Ich sollte mich wohl allmählich an die Tatsache gewöhnen, dass ich ihn brauchte. Egal aus welcher Perspektive ich es betrachtete, es war und blieb einfach so.
Und plötzlich stelle ich fest, dass ich nicht mehr ohne dich kann.
19. Ohne Worte
Manchmal reichen Worte einfach nicht mehr aus.
Es war schon wieder Abend. Insgeheim hatte ich die Theorie, dass wirklich wichtige Dinge für mich nur nachts passierten und ich sah mich auch an diesem Tag wieder darin bestätigt. Wie so oft lag ich noch wach und wurde ausnahmsweise nicht nur durch meine Gedanken vom Schlafen abgehalten. Denn obwohl das Fenster sperrangelweit offen stand, war es stickig wie im Tropenhaus – ich hatte meine Decke bereits nach wenigen Minuten im Bett weggestrampelt. Wahrscheinlich bekam ich einen Schock, wenn ich wieder nach Deutschland kam und mich dem Klima dort wieder anpassen musste, dabei gehörten die sommerlichen Temperaturen in Galicien eher in die Kategorie ‚mild’. Okay, ich konnte mich auch kaum noch an den letzten wirklich heißen Sommer in Osnabrück erinnern… von wegen Erderwärmung. Ich hatte die Vorhänge nicht zugezogen, um die frische (oder auch nicht frische) Luft von draußen nicht im Geringsten auszusperren, auch wenn das Licht der untergehenden Sonne das Zimmer so noch mehr erhellte. Ab und zu, wenn endlich mal wieder ein leichter Wind aufkam, roch ich das Meer, schmeckte Salz auf der Zunge.
Ich sah zu, wie die Sonnenstrahlen verschwanden und die rötliche Glut vom silbrigen Mondlicht abgelöst wurde, voll und einem runden Stück Käse nicht unähnlich hing der nächtliche Mond wie aufgeklebt am Himmel – umgeben von einem Meer aus Sternen. Das Panorama weckte unwillkürlich die Erinnerung an jene Nacht vor mittlerweile fünf Tagen, ich konnte beinahe wieder seine Stimme hören. Sein Gesicht musste ich schon lange nicht mehr bewusst heraufbeschwören, es kam von alleine, beeinflusste mein Denken und meine Träume und machte es unmöglich, dieses andere Gesicht zu sehen. Das Gesicht, das ich eigentlich sehen sollte
.
Aber so sehr ich mich auch bemühte, es kam nicht. Es war weit weg – mir kam es so vor, als hätte ich es mit seinem Besitzer in Deutschland gelassen. Dieser Gedanke hätte wehtun sollen, aber ich fühlte nichts – die Tatsache nährte nur mein ohnehin schon denkbar schlechtes Gewissen. Ich verscheuchte diese Gedanken rasch und geübt, Vorwürfe würde ich mir schon noch oft genug machen.
Auf der Suche nach einer bequemeren Lage drehte ich mich auf den Rücken, doch die Hitze machte eine erträgliche Position schlichtweg unmöglich. Ich seufzte. Viel zu gerne gab ich der gierigen Stimme in meinem Inneren nach und setzte mich auf. Früher oder später würde ich sowieso einen Grund finden, nach draußen zu gehen – da konnte ich es auch gleich jetzt tun, umso mehr Zeit blieb mir dort… mit ihm.
Eigentlich hoffte ich ja doch nur, ihn am Strand anzutreffen. In letzter Zeit hatte ich jeden Abend mit mir gekämpft (und meistens verloren), ob ich hingehen sollte oder nicht. Im Prinzip war es hoffnungslos. Also gab ich dem Drängen nach, schaltete die vernünftige Seite meines Gehirns ab (was mir nicht allzu schwer fiel) und wandte mich dem um ein Vielfaches größeren Teil zu, der danach lechzte, ihn zu fühlen, seinen Duft einzuatmen und sich in seinen Augen zu verlieren. Dem Teil, der mit jedem Tag stärker und stärker wurde und dem ich weder widerstehen wollte noch konnte. Es war genau der Teil, um den ich mir eigentlich große Sorgen machen sollte, es aber natürlich nicht im Geringsten tat.
Ich suchte mir schnell Badeshorts und ein Top aus dem Kleiderhaufen auf einem Stuhl heraus und zog mich um. Die Hintertür stand offen, was meine Hoffnung, ihn anzutreffen, noch verstärkte. Gleichzeitig redete ich mir sehr vernünftig ein, dass es egal war, ob er da war oder nicht und ich nur der erdrückenden Hitze im Haus entfliehen wollte. Die Überzeugungskraft meiner Lügen war erbärmlich. Aber das war ich ja nicht anders gewohnt.
Der schmale Pfad zum Strand war in reines, weißes Mondlicht getaucht und ich bedauerte, dass ich nicht mutig genug war, um ihn
zu fragen, ob wir nicht abends immer zusammen gehen könnten – ich konnte mir nur zu gut vorstellen, wie viel wunderbarer (und romantischer) er allein diesen Weg schon wieder machen würde…
Barfuß lief ich durch die Palmen zum Meer hinunter und genoss den weichen Sand auf meiner nackten Haut und das leichte Kitzeln der Gräser an meinen Beinen, die am Rand wuchsen. Und als ich aus dem kleinen Wäldchen hinaustrat und freie Sicht über den in helles Licht getauchten Strand hatte, sah ich ihn schon im Sand sitzen. Seine Silhouette zeichnete sich deutlich gegen das mondbeschienene Meer ab und ich blieb einen Moment stehen, um den Anblick zu genießen. Plötzlich regte sich in mir die Erinnerung an den Abend, an dem ich zum ersten Mal hierher gekommen war. Seitdem hatte sich viel verändert. An jenem Tag hatte ich gedacht, wir könnten nur Freunde sein. Wie naiv und dumm ich doch gewesen war… Aber andererseits war er immer noch so. Wunderbar und umwerfend wie immer.
Mein Herz machte kleine, glückliche Sprünge, ich atmete einmal tief durch und ging dann zu ihm hinüber. Obwohl er mich bestimmt schon lange bemerkt hatte, wandte er mir erst den Kopf zu, als ich neben ihm saß (über dieses Wo-soll-ich-in-seiner-Anwesenheit-hin-Problem schien ich allmählich hinweg zu sein). Das Licht der Sterne und des Mondes brachte seine Augen zum Glitzern, aber ich könnte schwören, dass sie auch ohne ihre Hilfe von innen heraus leuchten würden.
„Ich hatte gehofft, dass du heute Nacht kommst. Und ich… hab’s irgendwie gespürt“, sagte er leise und lächelte. Bei jedem anderen hätten diese Worte albern geklungen, aber nicht bei ihm. Er hatte es gehofft… Ich spürte, wie sich die vertraute Hitze in meinem Gesicht ausbreitete und hoffte, dass er es in dem dämmrigen Licht nicht sah. Lächerlich, was so wenige Worte für Reaktionen bei mir auslösten.
„Ich hatte auch gehofft, dass du hier bist“, entgegnete ich mutig. Ich hoffe es jede Nacht, fügte ich im Stillen hinzu. „Aber ich frage mich, ob ich jemals vor dir hier sein werde.“
Er grinste, dann schaute er wieder nachdenklich aufs Meer hinaus, die Wasseroberfläche spiegelte die zahllosen und wie Diamanten funkelnden Sterne und war selbst einem zweiten Himmel nicht unähnlich.
„Es ist eine sehr warme Nacht heute“, meinte er ohne jeden Zusammenhang, ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Hmpf. Warum liefen unsere Unterhaltungen dauernd darauf hinaus, dass er wissend und klug von etwas redete und ich keinen Schimmer hatte, um was es ging? Ich versuchte angestrengt, herauszufinden, auf was er hinauswollte und sah ebenfalls zum Meer, in der Hoffnung, dadurch die Verbindung herstellen zu können, die sein Gehirn schon lange vor meinem erkannt hatte. Natürlich vergebens. Es war echt anstrengend, mit Genies zusammenleben zu müssen.
Er gab mir noch eine Weile Zeit, darüber nachzugrübeln, dann, als er sicher war, dass ich ihm nicht folgen konnte, sah er mich wieder an. Diesmal war ich sicher, dass es nicht nur das Sternenlicht war, das seine Augen zum Funkeln brachte, sondern Tatendrang. Oh-oh. Misstrauisch erwiderte ich seinen Blick.
„Gehen wir uns Wasser? Es ist sicher noch warm.“
Ich starrte ihn an. „Jetzt?“
Er lachte über meinen entgeisterten Gesichtsausdruck. „Was denkst du denn?!“ Er stand auf und zog mich dabei gnadenlos mit hoch, dann zog er rasch sein T-Shirt aus und ließ es in den Sand fallen. Verdammt. Darauf hätte ich vorbereitet sein sollen. Mein Blick glitt seinen Körper hinab, ohne dass ich es verhindern konnte. Oder wollte. Immer wenn ich ihn ohne Oberteil sah, fragte ich mich, warum er sich überhaupt noch die Mühe machte, eines anzuziehen…
Ich spürte seinen erwartungsvollen Blick auf mir, eiste gewaltsam meine Augen von seinem traumhaften Oberkörper los und sah ihn zögernd an. Er seufzte, dann grinste er.
„Menschen wie dich muss man zu ihrem Glück zwingen“, sagte er kopfschüttelnd, kam so rasch auf mich zu, dass meine Augen der Bewegung kaum folgen konnten und hob mich hoch. Im nächsten Moment drehte sich meine Welt und ich sah an seinem Rücken hinunter. Unglaublich. Er hatte mich über seine Schulter geworfen, wie normale Menschen das mit Jacken oder so tun. Zum hundertsten Mal fragte ich mich, wie er das nur machte und atmete automatisch schneller als ich so viel von seiner nackten Haut auf einmal berührte. Nur mein dämliches Top war im Weg…
Meine Faszination hielt nicht lange an, denn er lief nun – durch mein Gewicht scheinbar kein bisschen behindert – mit mir zum Wasser hinunter, einen Arm lässig um meine Beine geschlungen. „Hey! Lass mich runter!“, rief ich erschrocken, traute mich jedoch nicht zu zappeln aus Angst, runterzufallen. Er lachte nur.
Als wir das Meer erreichten, spritzten die ersten Tropfen zu mir hoch und als das Wasser ihm bis zur Hüfte reichte, machte er endlich halt und ließ mich vorsichtig ein Stück herunterrutschen, sodass ich schon dachte, er würde mich auf dem sandigen Grund abstellen. Aber das reichte ihm nicht. Stattdessen hielt er mich auf halber Höhe fest, zog mich an seine Brust (was mein Herz unkontrolliert flattern ließ) und wirbelte mich herum, um mich schließlich loszulassen – sodass ich der Länge nach und nicht sonderlich elegant ins Wasser platschte. Auf einen Schlag war ich von Kopf bis Fuß durchnässt und meine Kleidung klebte mir an der Haut. Prustend tauchte ich auf und sah, wie er bei meinem Anblick anfing zu lachen. Ich warf ihm einen finsteren Blick zu, konnte aber nicht lange ernst bleiben und musste gegen meinen Willen ebenfalls loslachen, was mein Vorhaben, auf ihn wütend zu sein, leider hoffnungslos zerstörte. Es war nicht fair, dass er es immer schaffte, meine Stimmung zu beeinflussen.
Nachtragend war ich aber trotzdem noch. Ich liebte es, wenn er mich so um ihn herum im Kreis fliegen ließ, aber jetzt konnte er was erleben… „Du solltest wissen, dass meine Rache zehnmal so schlimm ist wie die eigentliche Tat!“, brachte ich zwischen zwei Lachattacken hervor (leider nicht so bedrohlich wie ich es geplant hatte) und schwamm in wenigen Zügen zu ihm herüber. Da er nur Shorts trug und diese sowieso schon nass waren, konnte ich nicht auf Kleidungsstücke zielen, um es ihm heimzuzahlen. Stattdessen warf ich mich von hinten auf ihn (sämtliche Berührungsängste durch meinen Racheplan ausgelöscht), sodass wir beide mit einem lauten Platschen ins Wasser stürzten und nach dem Auftauchen noch immer blöd vor uns hinlachend gegeneinandertaumelten.
Es war ein wunderbar befreiendes Gefühl, mit ihm herumzualbern und von ihm zum Lachen gebracht zu werden. Klar, ich zerstörte unsere Freundschaft teilweise, in dem ich mehr wollte. Aber manchmal konnte ich vergessen, wie supertoll er war und wie er mein Herz zum Hüpfen brachte. In solchen Momenten wurde mir klar, wie sehr ich ihn eigentlich mochte.
„Du… Monster!“, stieß er lachend hervor und spritzte mir eine Ladung Wasser ins Gesicht.
„Du hast angefangen!“, verteidigte ich mich keuchend, während ich aus beiden Händen einen kleinen Wasserfall auf seinen Kopf herabströmen ließ. Er hob mich erneut an den Beinen hoch, woraufhin ich kleine-Mädchen-mäßig vor mich hin quietschte, und lief ein Stück mit mir durchs hüfthohe Wasser, wobei er sich so oft um sich selbst drehte, dass ich mich an ihm festklammerte und vor abwechselndem Lachen und Aufschreien kaum Luft bekam.
Irgendwann, als ich nur noch leicht gestört vor mich hin kichern konnte (sein Lachen jedoch wunderschön wie immer klang), blieb er plötzlich stehen und ließ mich langsam an seinem Körper hinabrutschen. Ich erwartete, dass er uns beide sofort wieder unter Wasser stürzen würde, doch als meine Füße den Grund berührten, hielt er mich noch immer fest. Plötzlich wurde ich mir wieder mit voller Wucht seiner Nähe bewusst und fand mich eng an ihn gedrückt in seiner Umarmung wieder. Nicht nur wegen den Spielereien von vorhin atemlos sah ich zu ihm auf. Sein Blick machte es unmöglich wieder wegzuschauen, hielt meinen fest und ließ mich in seinen endlos blauen Augen versinken…
In Momenten wie diesem stellte ich fest, dass ich ihn liebte. Mehr als alles andere. Rettungslos verloren.
Ohne den Blick von meinem zu lösen, hob er eine Hand und strich mir ganz leicht über die Wange. Ich blieb regungslos stehen und spürte, wie die Wärme seiner Haut mein Gesicht mit Hitze überzog. Ich hielt die Luft an. Vielleicht kann man deswegen das, was ich als Nächstes tat, auf Sauerstoffmangel schieben. Oder Überreaktion auf seine verwirrende Nähe.
Sein Gesicht war nur Zentimeter von meinem entfernt und aus einem plötzlichen Impuls heraus stellte ich mich auf die Zehenspitzen, um den Abstand zwischen uns zu überbrücken und küsste ihn vorsichtig (jepp, jeden Verstand ausgeschaltet). Und ich schwöre, er wehrte sich nicht, hielt mich nur noch fester und ich spürte genau, wie sich seine Lippen sehr sanft auf meinen bewegten. Ich unterdrückte einen leisen, glücklichen Seufzer. Es war noch so viel besser als in meiner Erinnerung. Endlich konnte ich das tun, was meinen Kopf schon die ganzen letzten Tage füllte.
Lange standen wir so und ich war mir sicher, dass nicht nur ich das Gefühl in vollen Zügen genoss – behielt diesen Gedanken jedoch tunlichst im Hinterkopf. Ohne Reue konnte ich mir eingestehen, wie unendlich ich ihn doch liebte, wie sehnsüchtig ich darauf gewartet hatte, dass genau das hier geschah. Es fühlte sich einfach richtig an, auch wenn ich wusste, dass es eigentlich absolut falsch war. Der Schmerz dieses Wissens erreichte mich selbst in meinem derzeitigen benebelten Zustand noch. So perfekt es auch war, es sollte nicht sein. Es durfte
nicht sein. Einen sechs Jahre älteren, fast verlobten, megageilen Mann zu küssen, noch dazu wenn man selbst vergeben war, hatte einen Stammplatz unter den Top-Ten auf meiner No-Go-Liste (ganz abgesehen davon, dass es den ersten Platz auf der No-Go-Liste meiner Mutter schon gewonnen hatte).
„Wir sollten das nicht tun“, flüsterte er an meinen Lippen, nachdem er entweder mal wieder meine Gedanken gelesen oder es gerade selbst gedacht hatte. Ich wandte leicht den Kopf, sodass seine Wange an meiner lag und ich nicht sosehr in Versuchung kam, ihn weiterzuküssen.
„Ich weiß.“ Wie sollte ich es auch abstreiten? Er hatte natürlich Recht, aber ich weigerte mich standhaft, Einsicht zu zeigen und es zu akzeptieren. Für mich war es schon lange zu spät, das wusste ich mittlerweile. Ich konnte nichts mehr an meinen Gefühlen ändern, schlimmer noch, hatte den Willen dazu gar nicht. Ich biss mir auf die Lippen. Ich muss es vernünftig sehen, redete ich mir gut zu.
„Ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Wir sind doch… nur Freunde. Und wir sollten… so was nicht zulassen. Wir gehören doch schon zu anderen Menschen. Und du… du bist so jung. Du hast deinen Nico in Deutschland und so sollte es auch sein. Du hast ein Schicksal, eine Zukunft und ich auch. Es ist… falsch. Freunde, nichts weiter. Wir sind einfach Freunde“, sagte er leise, doch sein Körper widersprach seinen Worten. Er zog mich nur noch näher an mich, als wollte er mich nie wieder loslassen (was mir nur recht wäre) und schlang seine Arme fest um mich. Ich spürte seinen Atem an meinem Hals, spürte seinen Herzschlag, spürte den meinen. Und ich könnte schwören, dass unsere Herzen in einem Takt schlugen wie ein einziges.
Er sprach natürlich nur das aus, was auch ich wusste – jedes Wort war so wahr und schrecklich. Ich fragte mich, ob er das mir sagte oder es sich selbst einredete... Aber nein, völlig ausgeschlossen, denn das würde ja heißen, dass… Ich stoppte den Gedankengang an dieser Stelle vorsorglich und mir fiel ein, dass er auf meine Reaktion wartete.
Also nickte ich, stumm, aus Angst, dass meine Stimme versagte. Ich versuchte, mich dazu durchzuringen, mich von ihm zu lösen – seine Nähe, sein Atem, das alles ließ die dumme, dumme Hoffnung in mir viel zu groß werden, neu aufkeimen…
Er hatte so Recht, wir sollten dem Ganzen ein Ende setzen und Freunde sein, so wie es vor wenigen Tagen auch noch gewesen war. Aber im selben Moment, in dem ich das dachte, wusste ich schon, dass es eine Lüge war. Irgendwie waren wir für mich nie ‚nur Freunde’ gewesen, da war schon die ganze Zeit mehr gewesen – und das war gewachsen und dann in dieser einen Nacht vor fünf Tagen an die Oberfläche gestoßen.
Ich schloss die Augen, um die Tränen zurückzudrängen, die verräterisch meine Sicht verschwimmen ließen – ich würde ihn nur traurig machen, das hier war auch ohne meine theatralischen Ausbrüche schon schwer genug (für mich zumindest). Er sollte sich nicht für etwas schuldig fühlen, an dem ich viel mehr Anteil hatte, das könnte ich nicht ertragen. Aber ich wusste natürlich, dass er diesen miesen Versuch durchschaute, er kannte mich zu gut…
Da wandte er den Kopf, seine Lippen suchten und fanden meine und er küsste mich. Zögernd, unsicher. Aber als er bemerkte, dass ich mich seiner Tätigkeit nur zu gerne anschloss, ließ er die Vorsicht endlich fallen und ließ mich seine wahren Kusstalente spüren. Ich merkte erst jetzt, wie sehr er sich beim letzten Mal noch zurückgehalten hatte, wie viel ich verpasst hatte.
Leidenschaftlich und trotzdem weich bewegten sich unsere Lippen gemeinsam aufeinander, meine Hände tasteten sich bis zu seinem Nacken vor.
Wo seine Hände waren, wusste ich nicht – ich spürte ihn überall. Mein Körper loderte unter seinen warmen Berührungen, war so sehr mit seinem verschlungen, dass ich nicht mehr wusste, wo ich anfing und er aufhörte. Aber es war gut so. Nicht falsch, sondern vollkommen und unwiderstehlich richtig. Es war das, was ich wollte. Er
war das, was ich wollte und in diesem Moment war dieser Gedanke mein Einziger.
Ich spürte die seichten Wellen nicht mehr gegen meine Beine schlagen, der Rest der Welt war wie abgeschnitten – da waren nur noch er und ich. Ja, ich liebte ihn. Ich liebte ihn so sehr, dass es fast schmerzte, ich liebte ihn mehr als ich es je zuvor getan hatte.
Und ich liebte die Art, wie er mich küsste. Meine Sinne waren von ihm wie betäubt, seine Haut, sein Geruch, sein Kuss, alles war so endlos perfekt er
, dass ich nichts anderes mehr denken konnte. Die Luft war voll von ihm und ich atmete sie gierig ein, brauchte ihn zum Atmen…
Irgendwo in dem seltsamen System meines Gehirns erinnerte ich mich an seine Worte von eben.
Freunde.
Heute Abend brauch ich ein bisschen mehr als nur Freundschaft…
20. Absolut realitätsfern
Du spielst die Hauptrolle in dem Film, der sich mein Leben nennt.
Ich erwachte davon, dass es hell war. Heller als sonst. Kaum hatte ich die Augen einen Spalt weit geöffnet, kniff ich sie auch schon wieder zu.
Und erst dann kam langsam die Erinnerung an die letzte Nacht zurück… Seine Worte… wie er mich geküsst hatte… Der gleichmäßige Rhythmus meines Herzschlags wich einem unkontrollierten Flattern, als ich daran dachte. Er musste mich später ins Bett gebracht haben, wie schon an so vielen Abenden zuvor, ich glaubte, mich vage daran zu erinnern wie er mich ins Haus trug. Wassertropfen, die von seinen Haaren auf meine Wange tropften…
Ich entschied, mir diese Gedanken für später aufzuheben, um sie möglichst lange auszukosten. Die ungewohnte Helligkeit irritierte mich noch immer. Mein Zimmer lag an der Südwestseite des Hauses, abends konnte ich den Sonnenuntergang beobachten und morgens wurde mein Bett nur durch das zweite, kleinere Fenster leicht beschienen.
Ich blinzelte erneut, drehte mich, um eine halbwegs sitzende Lage zu erreichen – und stieß gegen etwas Warmes, Weiches. Noch verwirrter wandte ich den Kopf.
Begegnete seinem Blick. Auf einen Arm gestützt lag er neben mir, die Haare vom Schlafen noch zerzaust und beobachtete mich aus seinen wunderschönen tiefblauen Augen, die mich jedes Mal an das Meer denken ließen.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Mein erster Gedanke war ‚Warum liegt er in meinem Bett?’ und klang lange nicht so vorwurfsvoll wie es hätte sein sollen. Dann erst registrierte ich allmählich meine Umgebung (ich war eindeutig zu oft damit beschäftigt, ihn anzustarren) und verstand. Die richtige Frage war nicht, was er
in meinem
Bett machte, sondern was ich
in seinem
zu suchen hatte. Denn genau so war es – das hier war das Doppelbett von ihm… und ihr (dieser Gedanke versetzte mir wie gewöhnlich einen Stich) und ich befand mich auch in ihrem Zimmer…
Es lag im Osten, die Sonne schien wie jeden Morgen hinein und überflutete die Bettdecke mit weißgelbem Licht. Die Decke… Hatte ich mit ihm unter einer
Decke geschlafen?! Ohne irgendwas zwischen uns und so? Nein. Ausgeschlossen, sagte mein gesunder Menschenverstand. Doch. Genau so war es, sagten die Tatsachen. Oh mein Gott.
Selbst in dieser Situation ärgerte ich mich darüber, davon nichts mitbekommen zu haben und ohrfeigte mich mental dafür, so tief zu schlafen. Aber wieso war ich überhaupt hier? Nicht dass ich
ein Problem damit hätte…
Allerdings stellte ich fest, dass in diesem Moment nur ich unter der hellblauen Decke lag – er nur auf der Matratze und in T-Shirt und Shorts. Wahrscheinlich hatte ich wie gewöhnlich eng zusammengerollt geschlafen und ihm die Decke mehr oder weniger weggerissen…
Ich wurde rot bei dem Gedanken und schob mit einem Fuß unauffällig ein Bettdeckenknäuel zu ihm hinüber. Dann sah ich ihn wieder an (diesmal mit Grund, wie ich fand). Nach einer Weile, in der wir uns stumm angestarrt hatten, lächelte er schließlich. Es war dieses unwiderstehliche Lächeln, das mich auch heute verlässlich dazu brachte, es zu erwidern.
„Guten Morgen“, sagte er dann.
„Morgen“, entgegnete ich leise. Ich klang verschlafen. Wann waren wir wohl letzte Nacht ins Bett gekommen…? Ich war mir sicher, dass er all die Fragen in meinen Augen sah, so wie er es immer tat, doch er schien bewusst nicht darauf zu reagieren. Na gut. Ich würde meine Antworten schon noch bekommen. Eine seiner unzähligen guten Eigenschaften, dass er mir immer sagte, was ich wissen musste – wenn auch nicht immer sofort. Ich musste einfach darauf vertrauen, dass er wie immer den richtigen Moment abpasste. Abgesehen davon war ich sowieso nicht sicher, ob ich in meinem derzeitigen Zustand ein geistreiches Gespräch führen konnte.
„Ich mach dann schon mal Frühstück, okay? Deine Sachen von gestern“ – ich schwöre, bei diesen Worten zuckte es um seine Mundwinkel – „sind wahrscheinlich noch nass, sie hängen draußen, aber ich hab dir was aus deiner Kommode rausgelegt.“ Er nickte zu einem Stuhl hinüber, aber ich sah gar nicht hin und beobachtete stattdessen, wie er sich aufsetzte.
„Okay, ich… komm dann gleich nach“, sagte ich ohne mich von der Stelle zu bewegen. Lieber noch eine Weile seinen Geruch einatmen, der an der Decke, Matratze – im ganzen Raum hing.
Er sah aus, als wollte er noch etwas sagen, schien es sich dann aber anders zu überlegen (inzwischen war ich ziemlich gut darin, sein Mienenspiel zu deuten). Stattdessen beugte er sich zu mir herunter, sodass ich ohne darüber nachzudenken kurz die Luft anhielt, und küsste mich sanft auf die Stirn. Kaum hatte ich dies registriert, da war die Berührung auch schon vorbei, er stand auf und verließ das Zimmer. Doch ich verstand diese kleine, unbedeutende Zärtlichkeit.
Er hatte die letzte Nacht nicht vergessen.
Ein paar Herzschläge lang blieb ich noch leicht benebelt liegen, entschied aber dann, besser aufzustehen, bevor ich diesem Duft vollkommen verfiel. Wie er gesagt hatte, lagen auf dem Stuhl am Fenster T-Shirt und Shorts und erst jetzt sah ich an mir herunter – was hatte ich dann überhaupt an, wenn er die Sachen von gestern doch zum Trocknen aufgehängt hatte? Wie sich herausstellte, trug ich ein hellgraues Shirt von ihm, das mir eindeutig zu groß war und fast bis zu den Knien reichte, mich aber trotzdem eher unzureichend bedeckte. Fasziniert von der Tatsache, dass er mir etwas von seiner Kleidung gab, lächelte ich versonnen vor mich hin und strich liebevoll über den Stoff.
Dann kam mir ein anderer Gedanken und mein Gesichtsausdruck wechselte von vollkommen traumatisiert zu vollkommen verwirrt und entsetzt. Denn ich konnte mich nicht daran erinnern, mich gestern (oder heute? Wann waren wir wiedergekommen?) noch umgezogen zu haben. Hieß das… Hatte er
mir das durchnässte Zeug aus- und das T-Shirt angezogen, weil ich schon geschlafen hatte? Oh-oh. Ich kramte hastig in meinem Gedächtnis, konnte mich diesbezüglich aber an nichts erinnern. Schlecht.
Aber was wäre mir überhaupt lieber? Einen Augenblick lang stellte ich mir beide Möglichkeiten (hauptsächlich letztere) vor und schüttelte dann den Kopf. Vielleicht wollte ich lieber nicht wissen, was passiert und wie viel er gesehen hatte. Ich würde mit der Ungewissheit leben müssen oder ihn vielleicht irgendwann einmal fragen…
Ich zog mich schnell an, um ihn nicht länger warten zu lassen und blieb dann, als ich mich im Bad fertig gemacht hatte, noch unschlüssig in seinem Zimmer (ich beschloss, es vorläufig als das zu bezeichnen) stehen. Ich musste noch etwas tun.
Ich tastete mit einer Hand in meinem Nacken, bis ich fand, was ich suchte. Meine Finger kämpften kurz mit dem Verschluss, dann hatte ich es geschafft und glaubte beinahe zu spüren, wie ich eine riesige Last von mir nahm. Gleichzeitig machte sich mein schlechtes Gewissen deutlich bemerkbar, wurde von mir allerdings konsequent überhört. Nicht so leicht zu ignorieren jedoch war das Gefühl, das mir sagte, dass es für immer aus und vorbei war und der Schmerz, der mein Herz trotz allem erfüllte. Er hatte so was nicht verdient.
Ich bemerkte, wie meine Sicht verschwamm und gab mir einen Ruck. So war es eben. Dann ging ich in mein Zimmer, öffnete eine der kleinen Schubladen in der Kommode und ließ das silberne Kettchen mit dem halben Herz darin verschwinden. Ich würde es nicht mehr tragen.
Ich musste den ganzen Tag lang warten. Er lenkte mich mit Baden und Einkaufen ab, sodass ich nicht dazu kam, in Ruhe ein Gespräch anzufangen. Also vertraute ich auf die altbewährte Methode, den Abend abzuwarten und machte mich mit der Begründung, schon müde zu sein, sehr viel früher als sonst bettfertig. Stieß dann jedoch auf ein Problem, da ich mich nicht traute ihn zu fragen, ob ich wieder bei ihm schlafen durfte, die Chance aber nicht vergeben wollte, indem ich einfach wie gewöhnlich in mein Zimmer ging. Deswegen trödelte ich eine Ewigkeit im Bad herum, putzte mir so lange die Zähne wie noch nie und verbrachte eine geschlagene Viertelstunde damit, mir die Haare zu kämmen. Danach fiel mir nichts mehr ein und ich war schon bereit, mich ergeben in mein eigenes Bett zu verziehen, als es klopfte.
„Kommst du heute noch?“, fragte er ungeduldig.
Ich erstarrte. Sollte das heißen, dass ich…? „Bin sofort fertig!“, rief ich nervös zurück, checkte noch einmal zur Sicherheit mein Spiegelbild und schloss dann auf, um ihm direkt in die Arme zu stolpern. „Ich, äh, musste noch was erledigen“, log ich wenig überzeugend.
Er verdrehte nur grinsend die Augen, dann sah er mich prüfend und ein bisschen besorgt an. „Es ist doch okay, wenn du bei mir schläfst, oder?“
Ich lächelte. „Ja, das ist… okay.“ Es ist unbeschreiblich, fügte ich in Gedanken hinzu, nahm seine Hand und folgte ihm. Das Zimmer sah genauso aus, wie wir es heute Morgen hinterlassen hatten und kam mir plötzlich so vertraut vor wie mein Eigenes. Vielleicht war das der Grund dafür, dass meine Nervosität sich in nichts auflöste und ich fast das Gefühl gehabt hätte, einfach bei einer Freundin zu übernachten. Fast. Wenn ich nicht immer, wenn ich ihn ansah, daran denken müsste, dass er nicht irgendein Freund war.
Aber als ich dann unter der Decke lag und er sich neben mir niederließ, nachdem er die Vorhänge zugezogen hatte, war es leicht zu vergessen, dass er eigentlich zum Umfallen geil und einschüchternd war und ich ihn total anhimmelte. Er machte es unmöglich, der Versuchung zu widerstehen und so gab ich nach und kuschelte mich dicht an ihn (alles rein freundschaftlich, sagte ich mir in Gedanken).
„Müde?“, fragte er und sah mich an.
„Nicht so besonders“, gab ich zu.
„Ich sollte dich wirklich in deinem Bett schlafen lassen“, meinte er kopfschüttelnd. Ich erstarrte. Nein, nein, nein, bitte nicht, flehte ich stumm.
Er bemerkte meinen entsetzten Gesichtsausdruck. „Keine Sorge, schon zu spät. Ich tue in letzter Zeit viel zu oft das Gegenteil von dem, was ich sage und tun sollte.“
Ich spürte seinen Stimmungswechsel und mir war klar, dass er nicht mehr darüber redete, wo der geeignete Schlafplatz für mich wäre.
„So wie letzte Nacht?“, fragte ich mutig und versuchte seinen Blick mit meinem festzuhalten, so wie er es sonst immer tat. Doch das war gar nicht nötig, denn er schaute mich auch so an.
„Ja. So wie letzte Nacht“, wiederholte er. „Aber so schlimm war’s gar nicht, oder?“
„Nö, ich… fand’s nicht allzu schlimm“, erwiderte ich lächelnd und musste mich gleichzeitig zusammenreißen, um nicht nervös auf meiner Unterlippe herumzukauen. Wie konnte er so normal und sachlich darüber reden?
„Wir können ja noch üben.“ WAS?! Vollkommen sicher, mich verhört zu haben, starrte ich ihn verständnislos an. Er sah ernst aus. Hä?
Ich wollte ihn fragen, was er damit meinte. Ich wollte ihn fragen, warum er ich in seinem Bett schlafen durfte. Ich wollte ihn fragen, warum er das alles letzte Nacht zugelassen hatte. Ich musste so viel wissen. Aber statt einer Antwort beobachtete ich, wie sein Blick weicher wurde und wusste schon bevor er sich zu meinem Gesicht beugte, dass er mich küssen würde. Was nicht hieß, dass ich besser darauf vorbereitet war als sonst.
Seine Lippen auf meinen machten es unmöglich, meinem hastig verfassten Vorsatz, vorsichtig zu sein, treu zu bleiben und so ließ ich mehr oder weniger freiwillig zu, dass die Leidenschaft hervorkam und sich mit seiner zusammentat. Ich verstand nicht im Geringsten, wie es sein konnte, dass das hier passierte, aber es war mir egal. Alles, woran ich denken konnte, war er, er, er und ich bemerkte kaum, wie er mich so nah wie möglich an sich zog und meine Hände von alleine in seinen Nacken wanderten. Er tat einfach zu gut. Ich konnte es nicht lassen. Und wenn er es nicht verhinderte, sondern auch noch unterstützte, dann war er selbst schuld! Ich wollte nur noch mehr und konnte mir nichts Besseres vorstellen, als mit José in seinem Bett rumzumachen (was mal wieder bewies, wie schlimm es um mich stand).
Deswegen sah ich ihn auch mit einer Mischung aus wildem Begehren und Empörung an, als er seine Lippen von meinen löste. Was sollte das denn jetzt?! Er wollte doch nicht aufhören, oder? Nein! Das würde ich nicht überleben!
Erleichtert sah ich, dass nicht gerade so aussah, als ob er es sich anders überlegen wollte. Stattdessen lehnte er seine Stirn an meine und sah mich mit diesem wahnsinnig machenden Blick eindringlich an. „Ich liebe dich“, flüsterte er so leise, dass ich sie kaum verstand. Trotzdem hallten sie einen Moment in meinem Kopf nach, als hätte er sie mir entgegengebrüllt. Dann setzte mein logisches Denken wieder ein. Das konnte doch nicht sein, hier stimmte irgendwas nicht… Verzweifelt versuchte ich, mein jubilierendes Herz zu zügeln, das meinen Gedanken schon ein paar Schritte voraus war und in eine Art Freudentaumel verfiel. Mein Verstand sagte mir wieder und wieder, dass ich hier irgendwas nicht kapierte, aber ich wollte es so gerne glauben…
Ich versuchte in seinen Augen etwas zu lesen, das mir eine verständliche Erklärung gab, aber ich fand nichts. Das heißt, fast nichts. Nichts außer… Zuneigung. Mehr als bloße Zuneigung, es war beinahe so was wie… Liebe?! Nein. Absolut ausgeschlossen. Unmöglich. Ich durfte das gar nicht erst denken. Aber ich tat es schon. Ich malte mir aus, wie wunderbar und perfekt eine Welt wäre, in der er mich liebte und ich ihn. Natürlich war es unrealistisch und nicht wahr. Doch allein die Vorstellung war schön. So schön, dass ich für eine Weile an nichts anderes denken konnte und nichts sah außer seinen blauen Augen.
Und dann hatte ich’s auch. Plötzlich und mit voller Wucht kam die Erkenntnis.
Er liebte mich.
Ich war für ihn nicht nur ein kleines Mädchen oder vielleicht sogar seine beste Freundin. Er liebte mich so wie ich ihn liebte und ich hatte es die ganze Zeit über nicht bemerkt, weil ich, na ja, selbst damit beschäftigt gewesen war, ihn anzubeten. Er liebte mich und es war wahr. Oh Gott. Ich musste jetzt dringend anfangen zu schreien oder so.
Aber ich tat es natürlich nicht, nur innerlich. Und dieses Mal jubelte mein Verstand mit meinem Herzen zusammen. Womit hatte ich dieses Glück nur verdient?
Endlich hatte ich meine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle und konnte ihn anlächeln. Auf einmal war ich unnatürlich ruhig, so als würde ich nur etwas, das ich schon immer vermutet hatte, jetzt bestätigt sehen. Vielleicht kam das Austicken später.
„Ich liebe dich auch“, sagte ich leise und unfähig, das Alles-ist-so-unfassbar-perfekt-Lächeln von meinen Lippen verschwinden zu lassen. Die Worte kamen leicht uns selbstverständlich, so als wäre es nicht das erste Mal, dass ich sie vor ihm aussprach. „Aber das war ja nicht zu übersehen“, fügte ich dann hinzu.
Er hätte jetzt fragen können, was mit Nico war. Er hätte so viel sagen können, tat aber wie immer das Richtige und lehnte sich stattdessen näher zu mir, um mich erneut zu küssen. Was blieb mir also anderes übrig, als der Versuchung zu erliegen und die Intensität seines Kusses bis ins kleinste Detail auszukosten? Es war seltsam – eigentlich war das zwischen uns undenkbar und durfte nicht sein. Und trotzdem genoss ich es.
Ich wollte ihn. Er wollte mich. Das Leben konnte so schön sein…
Mein Herz akzeptiert keine andere Person.
21. Nicht irgendein No-Go, das
No-Go
They call it love…
Am nächsten Morgen konnte ich mich zwar nicht an meine Träume erinnern, war mir aber sicher, dass der Schauplatz mindestens mit Barbieland auf einer Stufe stand. Nur dass mein Ken blond und hundertmal geiler war…
Ich hielt die Augen noch einen Moment geschlossen, für den Fall, dass das, was gestern Abend geschehen war, vielleicht mein Traum war. Die Tatsache, dass es unvergleichlich gut nach ihm roch und ich seine Wärme spürte, ließ mich jedoch hoffen, dass es tatsächlich wahr war. Ich gab mir einen Ruck und schlug die Augen auf. Der Geruch und die Wärme blieben. Ja, das war ein gutes Zeichen. Mein Gesicht war in etwas Weichem vergraben, sodass ich nichts sehen konnte. Noch besser! Wie erhofft stellte sich das Weiche als sein T-Shirt heraus und das Warme als er. Zusammengekugelt lag ich an seiner Brust, seine Arme hatte er selbst im Schlaf um mich geschlungen und so lag ich angenehmer als unter jeder Decke.
Ich hätte gerne glücklich vor mich hin geseufzt, wollte ihn jedoch nicht wecken und wandte nur den Kopf leicht, um sein Gesicht sehen zu können. Wenn er schlief, konnte ich mir kaum vorstellen, wie er mich und mein Herz manchmal in den Wahnsinn trieb. Klar, er sah immer noch aus wie der geilste Typ der Welt (war ja klar), aber er wirkte irgendwie… friedlicher? Ruhiger? Noch süßer? Ich konnte es nicht beschreiben.
Aber natürlich hatte er wieder diesen unmenschlichen Sinn dafür, was ich gerade tat, und wachte auf (wirkte dabei aber nicht annähernd so desorientiert wie ich). Er blinzelte nur kurz, dann hatte er die ganze Situation erfasst und sah mich mit diesem umwerfenden Lächeln an.
„Hey.“ Verrückt, was für Reaktionen ein einziges Wort bei mir auslösen konnte. Und dieser supergeile Typ sollte mich
lieben?! Verrückt.
„Gut geschlafen?“ Ich erwiderte sein Lächeln und gab es auf, darüber nachzudenken, wie seltsam und unrealistisch das alles hier war. Lebe den Augenblick und so.
„Allerdings. Aber jetzt wünschte ich mir, gestern Nacht mehr ausgenutzt zu haben“, entgegnete er. Was sollte das denn jetzt heißen? Er lachte über meinen verwirrten Gesichtsausdruck und ich wünschte mir mal wieder, sein Kommunikations-Deutungs-Talent zu haben. Dann wurde er wieder ernst und sah mich nachdenklich an. Ich erwiderte seinen Blick misstrauisch. Wer wusste, was der jetzt schon wieder vorhatte…
„Legst du Wert auf Romantik?“, fragte er zusammenhangslos.
Hä? „Ist das eine Fangfrage?“
Er verdrehte die Augen. „Sag schon.“
Ängstlich, etwas Falsches zu sagen, verknotete ich die Bettdecke zwischen meinen Händen. „Ähm… ja?“
Er seufzte gespielt dramatisch. „Ich wusste es.“ Dann setzte er sich auf und schwang die Beine vom Bett. Verdammt! Was hatte ich getan?!
„Hey! Bleib hier!“, protestierte ich und hielt seinen Arm fest.
„Zu spät!“ Er schüttelte mich mühelos ab und ging zum Fenster hinüber, verfolgt von meinen forschenden Blicken. Kurz sah er nach draußen und zog dann die Jalousien herunter.
„Was wird das?“, motzte ich ungeduldig – in der Hoffnung, dass er mir so eher eine verständliche Antwort gab. Was natürlich nicht der Fall war.
„Ich schaffe eine romantische Atmosphäre“, erklärte er während auch die anderen Fenster seiner Prozedur unterzogen wurden, sodass es immer dunkler im Zimmer wurde.
„Aha.“ Ich wartete kurz, aber er sagte nichts weiter. „Du machst mich gerade verrückt mit deinen Ideen“, informierte ich ihn dann finster und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Hey, ist alles zu deinem Besten. Okay, wie man’s nimmt…“ Er kam endlich wieder zu mir und ließ sich an meiner Seite nieder. „Aber wenn du nicht willst.“ Er zuckte die Schultern.
Meine Neugierde siegte über meinen Stolz und ich sah auf. „Du bist so unfair“, grummelte ich, „sag schon.“
Er lächelte triumphierend. „Na gut.“ Er legte eine Pause ein und wurde wieder ernst. Ich sah ihn erwartungsvoll an und als er wieder zu sprechen begann, war seine Stimme leise. So wie ich es am liebsten hatte und bei mir verlässliches unerträgliches Verlangen nach ihm auslöste.
„Stell dir vor, es ist schon wieder Abend“, begann er und sah mir in die Augen, sodass ich gezwungenermaßen zurückstarrte.
„Aber der Tag hat gerade erst angefangen“, setzte ich kleinlaut an.
Er verdrehte die Augen. „Ist doch egal! Draußen regnet’s sowieso, dafür lohnt es sich gar nicht aufzustehen“, meinte er wegwerfend.
„Okay, okay, schon kapiert. Also, es ist Abend und…?“
„Genau. Es ist Abend und ich bin total verrückt nach dir“, ging er auf mich ein, nahm sanft mein Kinn in seine Hand und küsste mich.
Von dem Moment an war es mir dann auch egal, was er tat, ich wollte nur, dass er nicht aufhörte. Ich hätte alles getan – den Mond angeheult, Lauras dämlicher Clique beigetreten (na gut, das Letzte vielleicht nicht), alles
. Zu meinem Glück dachte er gar nicht daran, sondern zog mich mit einer Hand auf seinen Schoß. Diese Nähe betäubte meine Sinne und machte mich völlig willenlos, aber es war mir egal. Hauptsache er.
„Ich liebe dich“, flüsterte er. Wie wunderschön er diese Worte aussprechen konnte! Ich hätte mir ewig anhören können, wie er sie nur zu mir
sagte…
„Mhm“, machte ich, um meine Lippen nicht von seinen lösen zu müssen. Was waren Worte auch gegen Berührungen? Ich hatte andere Wege, um meine Gefühle für ihn auszudrücken und ihn zu küssen bot sich als ziemlich gute Möglichkeit an. Ich spürte seine Entschlossenheit, anders als sonst, fand aber nicht die Konzentration um darüber nachzudenken. Aber ich vertraute ihm auch so, denn alles, was er tat, war genau das, was ich wollte. Wieso sollte ich etwas sagen, wenn er doch meine Gedanken sowieso lesen konnte?
Seine Küsse wurden länger, heißer, ich hatte Mühe, meine Atmung unter Kontrolle zu behalten. Woher kam das alles plötzlich? Hätte ich es nicht besser gewusst, wäre es mir so vorgekommen, als hätte ich vor ihm noch nie einen anderen geliebt, nie andere Lippen gespürt. All die Liebe, die ich empfand, war einfach von alleine da und wurde nur noch mehr, mit jeder Minute, die ich mit ihm verbrachte. Ich glaubte, unter der Hitze seiner Berührungen verbrennen zu müssen – aber es war ein angenehmes Gefühl, nein, besser als angenehm…
Und da spürte ich seine Hände unter meinem Top und wusste, was er vorhatte.
Erster Gedanke: Geil, ich will auch! Jetzt sofort!
Zweiter Gedanke: Oh mein Gott. Dafür würde jedes Mädchen sterben, ich eingeschlossen.
Dritter Gedanke: Was, wenn der Extremfall eintritt? Okay, schwanger von José, hm… gar keine schlechte Idee!
Vierter Gedanke: Hey, ich sollte so was auf keinen Fall zulassen, das ist total unverantwortlich. Ältere, supersexy Typen nutzen dich aus, vergewaltigen dich oder so, auf die darf man sich gar nicht erst einlassen! Abgesehen davon bin ich erst 16, Jungfrau und an einen anderen vergeben und hatte eigentlich immer vor, mich irgendwann mal von meinem Freund nach einem romantischen Kinoabend oder so verführen zu lassen. Und José kenne ich noch nicht mal drei Monate… (die Tatsache, dass mir das alles erst dann einfiel, sagte schon eine Menge über meinen derzeitigen geistigen Zustand aus).
Ach, was soll’s, meinte meine unvernünftige, weniger heldenhafte Seite, die dabei war, mein bisschen Verstand einfach niederzutrampeln, gib doch zu, dass dich die Vorstellung schon geil macht und du es kaum erwarten kannst, dich auf ihn zu stürzen…
Ich beschloss, dass letztere Argumente eindeutig besser und verlockender waren – ja, vielleicht (oder eher auf jeden Fall) war es nicht gerade vernünftig und verantwortungsbewusst, sich ohne Vorbereitung und einfach so auf einen Typen einzulassen, dafür aber sehr viel aufregender. Meine Mutter würde austicken, wenn sie es erfuhr. Nico würde noch etwas viel Schlimmeres tun. Aber ich kann nicht immer auf andere Menschen Rücksicht nehmen, sagte ich mir. Okay, ich war eigentlich nie besonders rücksichtsvoll und jetzt hatte ich dazu auch gerade überhaupt keine Lust. Und wie sollte ich noch versuchen zu widerstehen, wenn er es mir schon so verlockend anbot?
Ich hätte gerne etwas Zeit gehabt, mich darauf vorzubereiten, natürlich. Aber wie wollte ich mich denn vorbereiten? Ich wäre nur verrückt vor Nervosität und Angst, etwas falsch zu machen, geworden und hätte mich mental selbst in ein einziges Wrack verwandelt. War es nicht besser, es einfach geschehen zu lassen? Nein, würden alle vernünftigen Eltern und Wissenschaftler sagen, mit unerfahrenen jungen Mädchen schon gar nicht! Vorher darüber sprechen und so weiter. Was dachten die sich eigentlich?! Niemals könnte ich ruhig und sachlich darüber reden, würde total rot werden – typische Pubertierender-Teenager-Reaktion eben. Nicht mehr Jungfrau, das würde ein riesengroßes Tamtam zuhause geben, weil es nämlich nach zwei Stunden alle wissen würden (man kannte das ja, erst erzählt man es nur der besten Freundin, die es auf keinen Fall weitersagen soll, es dann aber doch tut und plötzlich wissen’s alle, sprechen aber nicht darüber, weil es ja keiner erfahren darf).
Kurz überlegte ich, ob ich aus unserer Clique wohl die Erste war – aber von Alicia und ihrem Paul-Freund konnte ich mir irgendwie gut vorstellen, dass sie schon mal… Oh nein, ich sollte aufhören, so was zu denken. Es war doch total egal, ob ich den riesengroßen Schritt ins Erwachsensein (im Moment fühlte ich mich zwar überhaupt nicht erwachsen, sondern ziemlich naiv und unreif, aber vielleicht kam das noch) als erstes tat. Im Endeffekt muss das doch jeder für sich alleine entscheiden, dachte ich. Hauptsache, man will es und wird nicht dazu gezwungen. Und wollte ich es? Ja, verdammt! Dann war mein Jungfrau-Status eben weg, egal. Außerdem musste ich damit ja nicht eine neue Existenz als Schlampe anfangen, José konnte von mir aus ruhig der Einzige bleiben.
All diese Gedanken schossen mir in wenigen Sekunden durch den Kopf, aber er hatte es natürlich trotzdem bemerkt und ließ mir Zeit zum Nachdenken (als ob ich objektiv denken könnte, wenn er mir so nah ist!). Ich hob meinen Blick von meinen Händen zu seinen Augen. Ich hatte eigentlich vor, noch eine Weile unheilvoll zu schweigen und ihn im Unklaren zu lassen, so wie er es bei mir immer tat, aber bevor ich irgendwas tun konnte, umspielte schon ein siegessicheres Lächeln seine Lippen, da er meine Entscheidung bereits von meinem Gesicht abgelesen hatte.
„Das wäre ziemlich unvernünftig“, warnte er mich, aber seine Augen leuchteten und widersprachen seinen Worten.
„Und es ist ziemlich unfair, mich erst auf die Idee zu bringen und dann so anzufangen.“
„Stimmt. Ich wollte nur erwachsen wirken.“
„Zu spät. Ich habe das sexsüchtige Monster in dir längst erkannt!“
„Ach, Mist. Mit so was kennst du dich aus, was?“ Und bevor ich zu einer schlagfertigen Antwort ansetzen konnte, lagen seine Lippen schon wieder auf meinen und ich vergas, was ich sagen wollte. Ich hatte gar keine Zeit dazu, mich von bodenloser Panik und Unsicherheit überwältigen zu lassen und ließ mich von seiner Leidenschaft nur zu gerne mitreißen. Die Sicherheit seiner Bewegungen beruhigte mich und ich entschied, dass ich meine Hände lange genug unschuldig hatte sein lassen. Erst Shorts oder erst T-Shirt?, dachte ich kurz unentschlossen und kam mir dabei selbst dämlich vor. Ich entschied, mich vorsichtshalber erst auf der sichereren und halbwegs bekannten Seite zu halten und meine rechte Hand fand von alleine den Weg unter sein Shirt, während die andere noch in seinem Nacken lag. Ich wurde nicht enttäuscht. Natürlich nicht. Er hatte noch immer den absoluten Traumkörper und dort, wo meine Fingerspitzen (ja, ich war erstmal vorsichtig) seine warme Haut berührten, glaubte ich, ein leichtes Prickeln zu spüren.
Verdammt, das war’s dann wohl mit meinem Verstand. Wenn ich den Tag wegen Hyperventilieren nicht mehr überlebe, bekommt Kathi meinen Kleiderschrank, dachte ich schnell, bevor die restlichen einigermaßen logischen Gedanken verschwanden, betäubt von seinen Küssen und Berührungen.
Vielleicht war ich deswegen zu benebelt, um noch koordinierte Bewegungen zustande zu bringen, auf jeden Fall bekam ich sein T-Shirt nicht aus. Nein! Das darf nicht wahr sein, flehte ich mental. Aber wie sollte das denn auch gehen?!
Ich war unendlich erleichtert, als er sich dazu erbarmte, meine ungeschickten Hände zur Seite zu schieben und es sich in einer einzigen Bewegung selbst über den Kopf zu zog, um es dann achtlos auf den Boden fallen zu lassen. Er lächelte mich an. „Bist du sauer wenn ich jetzt sage, dass du echt süß bist?“
Zu meinem Ärger lief ich rot an. „Ja!“, erwiderte ich und schlug mit einem Kissen nach ihm, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen – allerdings wurde meine Zielgenauigkeit dadurch beeinträchtigt, dass meine Augen jetzt anderweitig beschäftigt waren. Nein, ich konnte nicht wütend auf ihn sein. Er war zu wunderbar. Mein Atem ging noch immer unregelmäßig und ich wollte keine größeren Unterbrechungen mehr. Ich wollte ihn. Jetzt.
Und kaum hatte ich das gedacht, lag ich auch schon eng mit ihm verschlungen auf der Matratze, um die Decke kümmerten wir uns schon lange nicht mehr – sie lag unter dem wachsenden Kleiderberg neben dem Bett. So groß konnte das Verlangen nach einem Menschen sein, wie ich nun feststellte. Meine Sorgen und Ängste erwiesen sich als lächerlich – ich vertraute ihm voll und ganz und wollte nur noch immer mehr und mehr Nähe, kein Zentimeter Abstand zwischen uns.
Eigentlich wollte ich ihm so viel sagen – wie unendlich ich ihn liebte, dass ich vielleicht etwas falsch machen könnte, dass ich total unerfahren war…
Aber er wusste es längst. Und während er in mich eindrang, überwältigten mich die Übermaße meiner Gefühle und alles, was ich fühlte und wahrnahm, war er, er, er.
Bereue nicht, was du getan hast, wenn du in dem Moment glücklich warst.
22. Ein fettes Oh-oh
Und seit ich dich kenne, laufe ich lächelnd durch die Welt.
Irgendwann schlief ich einfach ein – und er offensichtlich auch, denn am frühen Nachmittag wurde ich davon aus meinen Träumen gerissen, dass er sich im halbwachen Zustand unter mir bewegte. Bettsport war eben doch anstrengend…
Blinzelnd sah ich genau ins wunderschöne Blau seiner Augen und ich glaubte beinahe augenblicklich zu spüren, wie mir wärmer ums Herz wurde. Als seine Pupillen etwas anderes fixierten, folgte ich seinem Blick – und wir sahen beide an unseren ineinander verschlungenen Körpern entlang (wobei ich sehr gut unterscheiden konnte, wo sein perfekt gebräunter Superbody begann und mein dagegen eher blasser Körper aufhörte… frustrierend). So sah also das Resultat der letzten paar Stunden aus.
„Oh“, machte ich etwas verlegen und spürte, wie schon wieder ein zartroter Hauch meine Wangen überzog.
„Du hättest mich davon lieber abhalten sollen“, meinte er stirnrunzelnd.
„Hey! Ich bin der hormongesteuerte, seinen Gefühlen ausgelieferte Teenager, das Vernünftigsein war eigentlich deine Aufgabe“, protestierte ich.
Er musste lächeln. „Stimmt. Hat aber nicht besonders gut geklappt, hm?“
„Nein, aber…“ Ich brach zögernd ab.
Er sah alarmiert auf. „Was?“
Ich wusste, dass er mich notfalls solange nerven würde, bis ich es ihm sagte und beschloss, es lieber schnell zu tun. „War’s sehr schlimm für dich?“, nuschelte ich hastig, während ich mit den Fingern nervös die Konturen seiner Haut nachfuhr (ich konnte einfach nicht aufhören, ihn anzufassen). Ich spürte, wie er tief ausatmete, als ich bei seinen Rippen war, wagte aber nicht, aufzublicken. Musste es dann aber doch tun, als er eine Hand unter mein Kinn legte und es hochhob. Sein Blick fesselte mich und machte es unmöglich, wieder wegzuschauen. Mist.
„Glaubst du wirklich
, dass es schlimm für mich war?“
„Ähm…“ Ich brauchte eine Weile, um den Faden wieder zu finden. „Na ja, ich… weiß ja nicht“, fuhr ich unsicher fort und brach wieder ab. Ich riss mich von seinem Blick los und legte meinen Kopf auf seine Brust, damit er nicht sah, wie rot und verzweifelt ich war.
„Jenny?“, fragte er schließlich leise.
„Hm?“, machte ich ohne ihn anzusehen.
„Ich weiß zwar nicht, was dich dazu bringt, so was zu denken, aber für mich war’s das Beste, was ich je erlebt habe, du kleiner Idiot.“
„Das Beste?!“, echote ich misstrauisch.
„Das Beste“, bestätigte er und küsste mich in den Nacken, da mein Gesicht noch immer von ihm abgewandt war.
„Sagst du das, damit ich mich gut fühle?“
„Glaubst du, so eine psychologisch ausgeklügelte Methode könnte ich glaubhaft anwenden?!“, gab er zurück.
Ich musste lächeln und drehte mich wieder zu ihm um. „Nein. Aber jetzt fühl ich mich tatsächlich besser.“
„Gut. Und ich mein’s wirklich, wirklich, wirklich ernst“, bekräftigte er und küsste mich.
„Das lag wahrscheinlich eher an deinem Hammersexappeal und weniger an mir“, sagte ich undeutlich und erwiderte seinen Kuss.
Er lachte. „Nein, das lag ganz sicher an dir. An meinem Hammersexappeal hab ich nur dich teilhaben lassen, davon bekomm ich gar nichts mit.“
„Lügner.“
„Du unterschätzt dich einfach nur“, gab er zurück. Dann sah er zum Fenster. „Denkst du, wir sollten heute noch irgendwann mal aufstehen?“
„Nein“, erwiderte ich sofort und drehte sein Gesicht schnell wieder zu mir, damit er sich nicht länger mit der Möglichkeit auseinandersetzen konnte.
„Ich glaube, ich merke gerade, dass ich gegen dich überhaupt keine Chance habe und sehe mich dazu gezwungen, liegen zu bleiben, da ich dich ansonsten von mir runterschubsen müsste. Monster.“
„Die Einstellung gefällt mir…“ Ich küsste ihn.
„Du kannst es nicht lassen, oder?“
„Ich bin auf den Geschmack gekommen, das war ein Fehler“, teilte ich ihm mit.
„Hast du gar keinen Hunger oder so?“ Er sah mich prüfend an.
Ich warf ihm einen bösen Blick zu. „Jetzt schon… Aber dann müsste ich ja aufstehen und was anziehen und dazu hab ich überhaupt keine Lust…“
„Ja, ja, ich geh ja schon!“ Er hob mich von sich herunter bevor ich zum Protest ansetzen konnte und stand auf. Ich beobachtete ihn fasziniert dabei, wie er sich anzog und konnte nicht glauben, wie unendlich perfekt eine Person sein konnte. Und noch viel unglaublicher war, dass diese Person mich tatsächlich zu lieben schien. Was hieß, dass sie entweder wirklich unendlich verwirrt sein musste oder keine gute Auswahl hatte.
„So willst du gehen?!“, fragte ich entsetzt, als er Anstalten machte, nur mit Shorts bekleidet das Zimmer zu verlassen. Verdammt, da konnte man sich ja nur in ihn verlieben, wenn man ihn so sah!
Er verdrehte die Augen. „Ich werde in meinem eigenen Haus ja wohl noch in Shorts herumlaufen dürfen ohne verdächtig zu wirken, oder?“
Ich sah ihn skeptisch an. Eigentlich war ich eher weniger daran interessiert, dass wild gewordene, sabbernde spanische Mädchen vor den Fenstern hingen – man konnte ja nie wissen, wie die Nachbarschaft so drauf war und ernsthaft, bei diesem Anblick konnte man es ihnen ja auch kaum verübeln.
„Okay, sag nichts!“ Er zog sich sein T-Shirt über und sah mich dann wieder an. „Besser?“
Ich lächelte. „Ja. Beeil dich.“
„Zwei Minuten“, versprach er und war im nächsten Moment schon auf dem Flur.
Ich sah ihm noch nach, dann ließ ich mich zurück aufs Kissen sinken und schaute hinauf zur Decke. Zum ersten Mal seit Stunden hatte ich Zeit, ruhig und klar zu denken und dabei nicht von seiner Anwesenheit abgelenkt zu werden. Fakt: Ich hatte mit José geschlafen. Waaah!!
Das Gute daran:
- es war mit Abstand das geilste Erlebnis der Weltgeschichte
- ich war hundertprozentig sicher, dass er mich auch liebte, ha!
- ich hatte mich noch nie, nie, nie so unendlich gut gefühlt
- meine Theorie, dass er alles perfekt beherrschte, hatte sich mal wieder bestätigt
- mir war bewusst, dass er noch viel toller war, als ich bis jetzt wusste
- ich war endlich diesen dämlichen ‚Nee, ich bin noch Jungfrau’-Satz los
Das Schlechte:
- alle würden austicken, sollten sie es erfahren und das Schlimmste war, dass ich genau wusste, dass ich genauso bei ihnen reagieren würde
- ich hatte endlich die Spitze der Wie-betrüge-ich-meinen-Freund?-Skala erreicht
- ich hatte gleich das Vertrauen von zwei Personen missbraucht und würde das Glück von zwei Menschen zerstören, wenn es rauskam
- ich zog José immer mehr mit in die Sache rein
- ich hatte gedacht, ich würde mich danach reif und erwachsen fühlen, bemerkte aber irgendwie keinen Unterschied
- stattdessen kam ich mir dumm und naiv vor… Mission Erwachsensein auf voller Länge fehlgeschlagen!
- endgültiger konnte ich es gar nicht mehr machen und es machte mir überhaupt nichts aus – im Gegenteil, ich war froh darüber, noch mehr an ihn gebunden zu sein
- er war natürlich immer noch zu alt und reif und sexy und noch tausend Sachen mehr für mich, die Sorte Typ eben, von denen ich die Finger hätte lassen sollen
- alles woran ich im Moment denken konnte, war Wiederholungsbedarf und das war so ungefähr das, was auf meiner Gedankenliste ganz unten stehen sollte
Fazit: Ich hätte es nicht tun sollen - aber nachher ist man eben immer schlauer (okay, ich hatte es ja vorher auch gewusst… aber egal). Was nicht hieß, dass es nicht ganz aus Versehen noch mal passieren könnte.
Ja, damit konnte ich durchaus leben.
„Sagst du mir, woran du denkst oder muss ich raten?“ Ich blinzelte verwirrt und sah ihn gerade ins Zimmer kommen, in den Händen ein Tablett. Er schlug die Tür mit einem Fuß zu und kam dann zu mir herüber.
Ich wurde natürlich wieder rot. „Willst du nicht wissen.“
„Du weißt schon, dass ich mir jetzt das Schlimmste ausmale, oder?“, teilte er mir drohend mit.
„Ich hab nur gedacht, dass wir jetzt ein riesengroßes Problem haben.“
„Das hast du zwar nicht gedacht, aber ich werde mal großzügig darauf eingehen.“
„Es war die Folge aus meinen Gedanken“, erwiderte ich schnippisch.
„Okay, du hast Recht. Wir haben
ein Problem“, gab er nach und sah mich an, was mich total aus dem Konzept brachte. Wie hypnotisiert starrte ich zurück in diese wunderschönen, atemberaubenden, blauen-
„Genau das. Du liebst mich – fast – so sehr wie ich dich“, sagte er leise und ohne den Blick abzuwenden. Aber seine Worte gaben mir die Willenskraft, mich davon loszureißen und ich verdrehte die Augen, dachte mir aber trotzdem, dass er das total süß gesagt hatte…
„Das wird immer komplizierter“, zwang ich mich zu entgegnen, sah aber vorsichtshalber dabei auf den Boden, um nicht der Versuchung seines Anblicks zu erliegen.
„Ich weiß. Aber… denkst du nicht, dass wir es vielleicht akzeptieren sollten?“ An seinem warmen Atem an meiner Wange erkannte ich, wie nah er schon wieder war und musste nur den Kopf leicht zu drehen, um ihn zu küssen.
„Ich tue es längst“, flüsterte ich schnell, bevor er mir meine Fähigkeit zu sprechen mit einem unbeschreiblichen Kuss nahm.
„Ich glaub, ich passe mich an“, murmelte er undeutlich.
„Okay…“ Ich gab meine Konzentration auf und befasste mich stattdessen damit, schon wieder mein Verlangen nach ihm zu stillen. Auch wenn ich wusste, dass ich vielleicht dabei war, die Sache etwas überschwänglich anzufangen, konnte ich es doch nicht lassen. Es war alles seine Schuld, wenn er nicht so verdammt attraktiv und sexy wäre, dann…
„Wollten wir nicht was essen?“ Er löste sich ein Stück von mir, sodass ich gezwungen war, zu ihm aufzusehen und kurz durchzuatmen, um antworten zu können.
„Nein, ich hab keinen Hunger mehr. Du etwa?“
„Nur nach dir“, gab er zurück und zog mich wieder näher an sich.
„Damit komm ich klar“, sagte ich atemlos und zwang mich dazu, meine Hände wenigstens noch eine Weile bei mir zu behalten.
„War ja klar… wie soll das weitergehen, wenn die anderen wiederkommen?“ Ich spannte mich automatisch an und legte besitzergreifend eine Hand auf seinen Arm, während er die Zeit, die ich zum Nachdenken brauchte, dazu nutzte, endlich das Tablett sicher auf dem Nachttisch abzustellen und sich auf der anderen Bettseite neben mich zu setzen. Ich beobachtete ihn abwesend und rechnete schnell nach, wie viele Tage er noch nur mir allein gehörte. Exakt zwei Wochen, dann kamen David und Serena wieder. Okay, das ging noch, die konnten wir anderweitig beschäftigen, aber dann… würde sie
wiederkommen. Verdammt.
„Können sie nicht noch eine Weile wegbleiben?“, schlug ich griesgrämig vor und überlegte dabei schon, ob wir das Haus nicht einfach abschließen und abhauen könnten…
„Wieso? Ich mein, du bist doch froh, wenn Serena wieder da ist und ihr euer Mädchenzeug zusammen machen könnt.“
Ich verdrehte die Augen. „Ich meine ja auch nicht sie
.“
Er warf mir einen wissenden Blick zu und grinste. „Eifersüchtig?“
„Abgrundtief“, gab ich kläglich zu.
„Musst du nicht.“ Er rückte näher zu mir und strich mir fürsorglich eine Haarsträhne aus dem Gesicht (Oh. Da fiel mir ein… wie sah ich eigentlich aus?).
„Das lässt sich leicht sagen“, sagte ich kaum verständlich in sein T-Shirt herein, kuschelte mich aber bereitwillig näher an ihn. Er war so schön warm… und dieser Duft erst!
Er seufzte. „Stimmt. Aber was soll ich denn sagen? Immerhin wartet in Deutschland dein Nico und sobald du wieder dort bist, kann er dich ja wieder mit seinem Charme um den Finger wickeln“, entgegnete er.
Ich starrte ihn einen Moment an. „Du leidest unter Selbstunterschätzung“, sagte ich dann, „als ob Nico nur ansatzweise Konkurrenz für dich wäre.“
„Das könnte ich genauso von dir und Naiara sagen, nur dass du mir nie glauben würdest.“
„Würde ich nicht, aber zu Recht – immerhin hab ich ein paar Gründe mehr, eifersüchtig zu sein“, erwiderte ich siegessicher.
„Die da wären?“
„Also erstmal sind Beziehungen in meinem Alter noch ziemlich unbedeutend, während du schon so gut wie verlobt bist. Außerdem wohnst du mit ihr zusammen, ihr habt ein gemeinsames Zimmer und seid seit Jahren zusammen. Und-“, begann ich aufzuzählen und gab mir Mühe, nicht mit jedem weiteren Argument unglücklich das Gesicht zu verziehen.
„Okay, ich gebe zu, dass das zutreffen würde“, - bevor ich zu einem ‚Sag ich ja’ ansetzen konnte, fuhr er schnell fort –, „aber
nur im Normalfall.“ Mit einem entwaffnenden Lächeln sah er mich triumphierend an.
Ich schaute finster zurück, weil mir dagegen nichts mehr einfiel. „Das gilt nicht“, meinte ich schließlich ausweichend, als meine anderen zurechtgelegten Einwände nicht mehr passten.
„Und wie das gilt. Du weißt nur nichts zu erwidern“, stellte er gnadenlos fest. Ich antwortete nur mit dem bösesten Blick, den ich gegen ihn verwenden konnte ohne lachen zu müssen.
„Aber darüber müssen wir uns ja jetzt noch keine Sorgen machen. Lebe den Augenblick“, fügte er sanft hinzu und küsste mich wieder, sodass mein Protest kampflos unterging…
Did it hurt when you fell from heaven?
23. Er gehört mir, verdammt!
Und dann werden die anderen kommen, um ihn mir wieder wegzunehmen...
14 Tage sind nicht besonders lange, wenn man sie mit dem wunderbarsten Menschen der Welt verbringt. Über 300 Stunden klingen eine Menge, aber in Wirklichkeit kommt es dir vor wie wenige Sekunden. Wie ein unsichtbarer Kalender in meinem Kopf, auf dem jeden Abend ein weiterer, kostbarer Tag weggestrichen wurde, schwebte der Zeitdruck bedrohlich und unignorierbar über mir. Ich konnte kaum glauben, wie viele Tage mit ihm allein ich ungenutzt hatte verstreichen lassen und setzte nun alles daran, das Versäumte wieder aufzuholen. Es war mein Glück, dass er selbst lästige – aber notwendige – Tätigkeiten wie essen und unglaublich zeitverschwenderisches Schlafen zu etwas Besonderem machte und mich wenigstens ab und zu vergessen ließ, dass wir uns bald schon wieder vernünftig und normal verhalten mussten. Aus irgendeinem unersichtlichen Grund hatte ich das beklemmende Gefühl, dass, selbst wenn nur David und Serena wiederkamen, man versuchen würde, uns auseinander zu reißen, was mich, je länger ich darüber nachdachte, immer panischer werden ließ – was ihm selbstverständlich nicht entging.
„So schlimm kann es gar nicht werden“, meinte er aufmunternd, als wir am letzten Abend nebeneinander am Strand saßen und zusahen, wie die Sonne unterging. Ja verdammt, der letzte Abend
. Morgen Mittag kam Serena wieder und David mit der ganzen Mannschaft… Ich sollte mich definitiv mehr für José freuen - wenn ich der Sache schon schaudernd entgegensah, konnte ich wenigstens einsehen, dass er dann immerhin wieder trainieren und seinem Hobby nachgehen konnte. Auch wenn ich ihn dann weniger sah. Nein, angesichts dieser Tatsache konnte
ich mich unmöglich freuen, das war doch verständlich!
„Doch, kann es“, widersprach ich niedergeschlagen, „ich will dich nicht teilen, auch wenn das total egoistisch ist.“
„Du musst mich mit niemandem teilen“, erwiderte er sofort entschieden.
„Wohl.“ Missmutig zeichnete ich mit den Fingern Kreise auf seine Arme.
„Nein. Du wirst immer die Einzige sein, auch wenn die anderen dann auf mich verzichten müssen, versprochen.“ Er stieß mich leicht mit einem Bein an, da ich noch immer seine Arme blockierte.
„Aber das will ich auch nicht! Du sollst nicht dein ganzen Leben für mich verändern, nur weil du so selbstlos bist“, sagte ich seufzend. Ich machte es ihm so schwer…
„Du hast mein Leben schon verändert, dafür ist es zu spät“, teilte er mir sanft mit und schaffte es wieder, mich abzulenken und gegen meinen Willen zum Lächeln zu bringen.
„Okay, aber… hör besser nicht auf mich, wenn ich sage, dass ich dich für mich allein haben will. Ich weiß, dass ich schon wieder übertreibe und grundlos Angst habe, dass du keine Zeit mehr für mich hast. Denn eigentlich möchte ich schon, dass wir weiterhin mit David uns Serena etwas machen und dass du zum Training gehst – ich hab nur diese Szenen im Kopf, in denen alle anderen dich auch beanspruchen, auch wenn ich weiß, dass du das niemals zulassen würdest“, versuchte ich zu erklären und brach dann ab, in der Hoffnung, dass er das, was ich nicht in Worte fassen konnte, trotzdem verstand.
Und natürlich verstand er. Wie immer. „Nein, das würde ich nicht zulassen… wir kriegen das schon hin.“ Jetzt entzog er mir doch einen Arm und strich mir mit der Hand leicht über die Wange. Er wusste so gut, was ich in solchen Momenten brauchte, dass es an hellseherische Fähigkeiten grenzte… aber er war schließlich nicht umsonst zum Umfallen toll.
„Ohne deinen Optimismus wäre ich längst am Ende“, stellte ich lächelnd fest.
„Tja, wie gut, dass du mich hast.“
„Ja“, stimmte ich ernsthaft zu und lehnte mich gegen ihn – nur um seine Wärme, seinen Körper und seinen Duft noch stärker wahrnehmen zu können. Nein, es konnte einfach nicht vorbei sein, auch wenn die anderen wieder da waren. So was konnten andere Menschen nicht zerstören, unmöglich. Selbst wenn sie kam und ihn wieder für sich beanspruchen wollte (zu Recht, wie ich zugeben musste, er war immerhin ihr Freund und nicht meiner). Vielleicht – oder eher ziemlich sicher – würde ich vor Eifersucht sterben, aber er würde einen Weg finden, so wie er immer einen fand und alles zumindest irgendwie erträglich machte. Solange ich ihm vertraute, konnte ich sicher sein, dass alles möglich war und dass er sein Wort halten würde. Beruhigt durch diese Gedanken – und etwas beeinflusst von seiner Nähe – entspannte ich mich und spürte, wie seine Hände meine ein bisschen fester drückten, weil er schon wieder meine Gedanken gelesen hatte.
„Also wird morgen eigentlich alles wie immer?“ Es sollte eine Feststellung sein, klang aber wie eine Frage.
„Ja. Fast. Es gibt keinen Grund, sich nicht zu freuen – David und Serena kommen wieder und wir können wieder was zu viert machen.“
„Und wir benehmen uns ganz normal und locker“, fügte ich hinzu, auch wenn ich nicht sicher war, ob ich das durchhalten würde.
„Wir versuchen es zumindest“, verbesserte er, offenbar hinsichtlich dieser Sache ebenfalls nicht so zuversichtlich wie sonst. „Und du wirst sehen, die Zeit vergeht so schnell, dass es dann schon bald wieder Abend ist und wir das Haus über Nacht wieder für uns allein haben.“
„Okay. Auch wenn ich wünschte, wir könnten es ihnen einfach sagen – und nicht nur ihnen, ich wünschte, es wäre ganz normal und okay, dass ich mich in dich verliebt habe“, sagte ich nach einer Weile leise.
„Ich weiß. Aber das Schicksal hatte andere Wege für uns vorgesehen und wir sollten dankbar sein, dass es trotzdem anders gekommen ist, auch wenn es keineswegs einfach ist.“
Ich seufzte. „Ja, aber ich… würde einfach gerne so reden können, als müsste ich nicht einsichtig und vernünftig sein und dankbar für das, was ich habe und als hätte ich das Recht, gierig nach mehr zu sein.“
„Ich denke, manchmal ist es okay. Wenn man es sich nur theorethisch vorstellt und es nicht wirklich meint.“
Ich drehte leicht den Kopf, um ihn ansehen zu können, das Blau seiner Augen war näher als erwartet und schien trotz dem rötlichen Licht der untergehenden Sonne noch alle anderen Farben in den Schatten zu stellen. „Ich wünsche mir so viel mehr, obwohl ich schon mehr habe als ich verdiene.“ Unbewusst flüsterte ich, während meine Sinne mal wieder alles außer ihm ausblendeten. „Ich wünsche mir, schon 20 zu sein und dich schon mein Leben lang zu kennen. Und in meinen Träumen wohne ich
mit dir zusammen in dem Haus und ich
werde mich bald mit dir verloben und alle wissen es und beneiden mich, weil ich so einen hammergeilen Freund habe, der nur mir gehört und der auf der Straße vor allen Leuten meine Hand hält und mich küsst. Er ist unglaublich gutaussehend und sportlich und wenn ich ihm bei einem Fußballspiel zusehe, sagen die anderen zu mir ‚Das ist doch dein Freund, oder?’ und ich antworte dann ‚Ja, das ist er.’ Und alle wissen, dass wir zusammengehören und niemand uns trennen kann…“
„Das muss ja ein verdammt toller Typ sein, was?“, meinte er lächelnd.
„Oh ja, das ist er. Der Beste von allen. Er ist nicht nur mein Freund, sondern auch die Person, der ich am meisten vertraue und die ich am meisten liebe.“ Ich beugte mich vor um ihn zu küssen.
„Der würde sicher gut zu meiner Freundin passen, weißt du“, flüsterte er an meinen Lippen und schnitt mir die Antwortmöglichkeit mit einem Kuss ab. Und auch als er sich nach einer Weile von mir löste, um stattdessen mit seinem Mund meinen Nacken zu küssen und schließlich zu meinem Ohr hinaufzuwandern, ging mein Atem noch unregelmäßig und schnell. „Ich liebe dich. Und nichts und niemand wird das je ändern können. Du weißt nicht, wie sehr ich mir wünsche, dir all das geben zu können“, sagte er so leise, dass ich es durch meinen laut pochenden Herzschlag und mein Keuchen kaum verstand. Und auch wenn ich in jedem Film bei einer solchen Szene die Augen verdreht hätte, weil es so unsäglich kitschig war – er konnte so was sagen, ohne dabei gestellt und albern und übertrieben zu wirken. Ich glaubte nicht, dass irgendjemand sonst auf diesem Planten etwas Vergleichbares konnte. Da gab es nur ihn. Wenn ich sonst im Kino saß und zusah, wie andere Mädchen sich beim verzweifelten Versuch, die Tränen zu verbergen, das Make-up verschmierten, musste ich fast lachen – verrückt, was manche Filme und Schauspielerei mit den Emotionen des Menschen anstellen kann, wie sehr es sie beeinflusst. Und jetzt hatte ich beinahe selbst Tränen in den Augen und hasste mich dafür. Aber ich konnte nichts dagegen tun und wollte es auch gar nicht. Er tat so gut… woran hatte ich nur immer gedacht, bevor ich ihn kennen lernte? Was hatte ich Sinnloses ohne ihn getan? Wie konnte es sein, dass ich nicht schon mein Leben lang gewusst hatte, dass er
der Richtige war? Vielleicht hatte ich es ja gewusst und es nur nicht bemerkt, weil ich ihn noch gar nicht kannte. Wie auch immer es gewesen war – hier und jetzt wusste ich es und auch wenn noch so viel passieren konnte, so viel passieren würde
, war ich dankbar, dass das Schicksal uns doch zusammengeführt hatte, egal wie vielen Menschen wir dabei das Herz und wie viele ungeschriebene Regeln wir brachen.
„Ich liebe dich auch. Und ich möchte in dieser Nacht einfach vergessen können, dass es ab morgen noch etwas Anderes außer dir und mir geben wird“, sagte ich leise.
Ich hörte an seiner Stimme, dass er lächelte und sah vor mir, wie seine wunderschönen Augen dabei zu leuchten schienen. „Das lässt sich machen.“ Noch bevor ich einen weiteren Gedanken fassen konnte, lagen seine Lippen schon wieder auf meinen und ich ließ zu, dass mein Körper die Kontrolle übernahm und mein Gehirn sich ausschaltete, da es sowieso nur sinnlose Gedanken produzieren würde.
Beinahe synchron fuhren unsere Hände unter das T-Shirt des anderen, seine geübt und zielsicher, meine eher flatterig vor Aufregung und ungeschickt wie immer – bis er sie mit einem leisen theatralischen Seufzer zur Seite schob und sein Oberteil zusammen mit meinem achtlos neben uns fallen ließ. Trotz seines Bemühens, es mir einfach zu machen, war er natürlich lange vor mir fertig und trug nicht gerade zu meiner Konzentration bei, indem er mich küsste, während er mich alleine mit seinem Gürtel und lästigen Knöpfen kämpfen ließ.
„Was?“, fragte er als ich mit den Händen frustriert gegen seine Bauchmuskeln (klarer Fall von Sixpack) schlug.
„Der Reißverschluss klemmt“, nuschelte ich kläglich, bevor ich husten musste, weil er an meinen Lippen anfing zu lachen.
„Nicht sehr komisch!“, fuhr ich ihn wütend an, allerdings ohne in sein Gesicht zu sehen, da ich dann zweifellos ebenfalls würde lachen müssen.
„Doch, gib’s zu!“, brachte er heraus und stieß meine Hände weg. „Alles muss man selber machen… da klemmt überhaupt nichts, du hast es bloß irgendwie geschafft, den Verschluss zu verhaken und beinahe meine gute Hose zu ruinieren“, fügte er dann kopfschüttelnd und noch immer grinsend hinzu.
„Kann ja nicht jeder so geübt wie du sein“, grummelte ich gegen seine Brust, wo ich mein Gesicht und die aufsteigende Röte versteckt hatte – in der Hoffnung, dass meine glühenden Wangen auf seiner ohnehin heißen Haut nicht sosehr auffielen.
„Ich werde demnächst einen Anfängerkurs für dich aufmachen“, versprach er und hob mein Kinn wieder zu seinem Gesicht an, um mich zu küssen.
„Okay, aber… bitte ein Einzelkurs“, erwiderte ich heftig atmend, während ich mich mit einer Hand zu seinem Nacken hocharbeitete.
„Mhm“, machte er nur unbestimmt und fügte nach einer Weile hinzu: „Erinnre mich nächstes Mal daran, dass wir besser ins Haus gehen, am Strand fühle ich mich irgendwie beobachtet.“
Ich schnaubte abfällig. „Hier ist nie jemand!“
„Nein, Leute nicht… aber jede Menge Möwen und so was. Das reicht schon.“
„Es ist dunkel, falls dich das beruhigt“, entgegnete ich und verdrehte die Augen.
„Das lasse ich für heute mal gelten… morgen wieder im Haus.“
„Ja ja“, sagte ich, um ihn ruhig zu stellen und schnitt ihm mit meinen Lippen schnell eine mögliche Erwiderung ab. Sofort spürte ich, wie er mir endlich nachgab und ich war erleichtert, dass er mir die Kontrolle abnahm und ich nur noch fühlen und schmecken musste…
Life is measured by the moments that take your breath away.
24. Mission Geheimnis
Alle Augen sehen, wenige beobachten, die wenigsten erkennen.
„Und du bist dir ganz sicher, dass sie um halb 2 kommen wollten?“, fragte ich zum tausendsten Mal und sah nervös auf die Küchenuhr. Ich hatte nur sehr kurz mit Serena sprechen können und mit David gar nicht, weil beide mit Auspacken beschäftigt waren. José hatte dann vorgeschlagen, dass sie ja mit uns Mittag essen und uns dann alles erzählen könnten.
„Hundertprozentig. Und es sind gerade mal drei Minuten nach, außerdem wird zumindest Serena sosehr darauf brennen, uns stundenlang zuzutexten, dass sie sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen wird, glaub mir“, gab er zurück, während er locker wie eh und je am Herd stand und in einem Topf herumrührte. Wir hatten entschieden, ihm den Kochpart zu überlassen, damit man es später noch essen konnte und wir rechtzeitig fertig wurden. Deswegen saß ich die meiste Zeit untätig am Tisch und sah ihm fasziniert zu (kochen kann extrem sexy aussehen), wenn ich nicht gerade so wie jetzt unruhig auf und ab lief.
„Okay“, sagte ich seufzend und unterdrückte ein Gähnen. Ich hatte nur einige Stunden geschlafen in der vergangenen Nacht – und er wahrscheinlich noch weniger, auch wenn man es ihm nicht im Geringsten anmerkte. Zumindest hatte ich nicht mehr mitbekommen, wie er mich irgendwann in den frühen Morgenstunden ins Haus getragen hatte; ich hätte wissen müssen, dass er mich nicht draußen schlafen ließ. Und bis Serena dann angerufen hatte, war ich schlechtgelaunt gewesen, da ich wegen dem anstehenden Begrüßungsbesuch nicht länger im Bett hatte bleiben können – schließlich war ich nur aufgestanden, weil er es auch getan hatte und ohne ihn wollte ich natürlich auch nicht mehr liegen bleiben; „War die letzte Nacht noch nicht genug?“, hatte er mich nur grinsend gefragt, als ich herummaulte. Aber genug von ihm, das würde ich nie haben.
„Immer noch müde?“ Er warf mir einen belustigten Blick zu.
Bevor ich etwas erwidern konnte, klingelte es an der Tür und ich zuckte zusammen. Automatisch wanderten meine Augen hilfesuchend zu seinem Gesicht und wir starrten uns einige Sekunden schweigend an.
„Das sind sie“, sagte ich dann und wusste nicht, ob ich mich freuen sollte oder nicht. „Ich mach auf“, fügte ich nach wenigen Sekunden hinzu und lief auf den Flur und zur Haustür, um diese dann schwungvoll aufzureißen, bevor ich es mir anders überlegen konnte.
Bevor ich den Mund aufmachen konnte, lag ich schon in Serenas Armen und wurde fest an sie gedrückt. „Jenny! Ich hab dich so vermisst!“, rief sie mir direkt ins Ohr.
„Hey“, gab ich schwach zurück und auch wenn ich schon jetzt die Ruhe der letzten Wochen vermisste, wurde mir nun bewusst, dass ich froh war, sie wieder hier bei mir zu haben.
Nach einer Weile hielt sie mich schließlich ein Stück von sich entfernt, um mich prüfend zu mustern. „Du siehst gut aus“, stellte sie fest und klang dabei ein bisschen überrascht, als hätte sie erwartet, dass ich ohne sie äußerlich dem Untergang geweiht wäre. Sehr schmeichelhaft.
„Ja, du… ihr auch“, verbesserte ich mich und lächelte David an, der vorsichtshalber ein paar Schritte zurückgetreten war. „Kommt rein“, ergänzte ich und umarmte beide noch einmal kurz, bevor ich voran in die Küche ging, betend, dass man mir in Josés Nähe nicht allein am Gesichtsausdruck ablesen konnte, was ich fühlte. Nervös strich ich mir die Haare zurecht und suchte Blickkontakt mit ihm, sobald ich in den mittlerweile nach Essen duftenden Raum trat. Kurz sah er mich ebenfalls an und bevor er auch Serena und David mit einschloss, galt sein entspanntes Lächeln einen Moment nur mir. ‚Wir kriegen das hin’, sagte es beruhigend.
Dann fing das Umarmen und Begrüßen von neuem an und ich war froh, nur daneben stehen zu müssen und brachte ein aufrichtiges Lächeln zustande, bis wir uns endlich alle an den Tisch gesetzt hatten und ich mich damit ablenken konnte, Getränke einzuschenken und Essen zu verteilen.
„Schade, dass ihr alle nicht dabei ward, es hätte euch gefallen! Ich war fast jeden Tag shoppen“, schwärmte Serena.
„Oh ja, das hätte uns sicher gefallen“, stimmte David zu und verdrehte die Augen.
„Mit euch kann man nicht reden“, gab Serena schnippisch zurück, aber sie lächelte dabei. Josés und mein Blick trafen sich, er schüttelte nachsichtig den Kopf und ich wusste, dass er das Gleiche dachte wie ich. Ein Wunder, dass sich die Beiden schon so lange kannten und nie zusammengekommen waren…
„Du hast uns beim Training gefehlt“, wandte sich David nach einer Weile an José und unterbrach so unsere wortlose Kommunikation.
„Das war ja von Anfang an klar, oder?!“ Er grinste.
„Tut mir echt leid, dass du wegen mir hier bleiben musstest“, begann ich verlegen ohne ihn anzusehen. Es tat mir ja auch leid, dass ich der Grund dafür gewesen war. Aber dass er geblieben war – das konnte ich unmöglich bereuen. Und er offensichtlich auch nicht, denn er erwiderte sofort: „Ich hab’s gerne gemacht. Wir hatten ja auch eine tolle Zeit.“ Ich konzentrierte mich nur darauf, sein Lächeln zu erwidern, damit ich nicht rot wurde und sah in dem Blau seiner Augen dasselbe widergespiegelt, was auch mir durch den Kopf ging. Im Bruchteil einer Sekunde lebten wir einige der unzähligen wunderbaren Momente noch einmal durch, dann blinzelte er und es war vorbei. Schnell sah ich zur Seite, hatte aber das Gefühl, noch etwas sagen zu müssen. „Ja, das hatten wir“, echote ich also ziemlich geistreich und war froh, hier nicht allein mit den beiden anderen sitzen zu müssen.
Noch bevor Serena kurz darauf den Mund aufmachte, sah ich diesen Ausdruck in ihrem Gesicht, der mir sagte, dass ich ihre nächste Frage gar nicht gut finden würde und begann rasch, auf einem Stück Brot herumzukauen, um nicht antworten zu müssen. „Und was habt ihr so gemacht?“ Ich wusste es! Hoffnungsvoll sah ich zu José hinüber, der glücklicherweise noch immer sicher wirkte und eine harmlose Antwort parat hatte.
„Alles Mögliche, schwimmen, sonnen – das volle Programm. Da habt ihr
was verpasst.“ Immerhin war es nicht gelogen, also auch kein Grund rot zu werden, sagte ich mir und schaufelte mir schnell noch mehr von dem Brot in den Mund sobald ich das vorherige Stück heruntergeschluckt hatte, für den Fall, dass Serena beabsichtigte, noch weiter nachzuhaken. Aber es kam anders. Schlimmer. Offensichtlich hatte sie entschieden, dass ihre alte Taktik nicht funktionierte.
„Habt ihr miteinander geschlafen?“
Ich verschluckte mich an meinem Essen und wäre wahrscheinlich hustend unter den Tisch gefallen, wenn José mich nicht reflexartig am Arm gepackt hätte. Ich wünschte, er hätte es nicht getan. Verdammt, woher wusste sie das denn jetzt?! Wir hatten doch eigentlich gar nichts gemacht…! Ich sah wohl genauso entsetzt aus wie ich mich fühlte, denn ich spürte unterm Tisch einen leichten Fußtritt aus Josés Richtung und versuchte verzweifelt, mich zusammenzureißen und dem Drang, schreiend aufzuspringen und ganz weit wegzulaufen, zu widerstehen. Die bewährte Methode ‚Ihn ansehen’ funktionierte wenigstens halbwegs, ich sah, wie er sich auf die Lippe biss, um nicht zu lachen und hoffte, dass das ein Zeichen dafür war, dass alles nicht so schlimm war wie ich gerade das Gefühl hatte.
„Wie kommst du darauf?“, fragte er und sah dabei so überrascht aus, dass ich es ihm fast abgenommen hätte. Wenn ich nicht genau gewusst hätte, wie richtig Serena lag. Konnte man es mir so leicht am Gesicht ablesen?
„Ach, komm, gib’s zu. Ich hätte gedacht, du vertraust mir mehr, das ist enttäuschend“, entgegnete sie jetzt und seufzte. Ich starrte sie entgeistert an. Wahrscheinlich war sie Katastrophen gewohnt. Ich
wäre zumindest an die Decke gesprungen vor Schock. Oder hätte mindestens etwas runtergeschmissen.
„Das überrascht mich jetzt irgendwie gar nicht.“ David verdrehte die Augen und ich hätte am liebsten laut ‚Hallo?! Ich hab mit eurem besten, fast verlobten Freund geschlafen!’ gebrüllt, um ihre Reaktion zu überprüfen. Vielleicht war man hier bei diesem Thema nicht so empfindlich… ich jedenfalls war es und nicht besonders scharf darauf, daraus eine längere Diskussion entstehen zu lassen. Ich war am Essen, verdammt! Hilfesuchend suchte ich Josés Augen, doch er zuckte nur die Schultern und lächelte mich aufmunternd an. In dieser Hinsicht war echt auf keinen Verlass…
„Und was gedenkt ihr jetzt zu tun?“, erkundigte Serena sich geschäftig als ob es um ein gewöhnliches Alltagsproblem ging.
„Wir hatten eigentlich noch nicht so viel geplant“, antwortete José ausweichend.
Serena nickte, offensichtlich hatte sich eine Theorie von ihr bestätigt. „Tja, deswegen sollte man seine Freunde in solche Themen einweihen. Zumindest von dir hätte ich ein bisschen mehr Vertrauen erwartet, Jenny.“ Sie sah mich tadelnd an.
„Ähm…“, machte ich wenig aufschlussreich und ohne ihren Blick zu erwidern. Konnte sie jetzt nicht bitte verstehen, dass ich dringend alleine
mit ihm
sprechen musste?! Sie könnte ja zumindest taktvoll das Thema wechseln, flehte ich in Gedanken.
„Ja, ja.“ Sie wedelte meine unausreichende Entgegnung mit einer Hand beiseite und wandte sich wieder José zu, offenbar hatte sie erkannt, dass sie im Moment aus ihm mehr herausbekam. Auch wenn ich sicher sein konnte, dass mir noch ein ausführliches Gespräch mit ihr bevorstand. Leider. Freunde konnten echt anstrengend sein… „Es sind noch 10 Tage“, fuhr sie bedeutungsvoll fort und obwohl ich gerne abgeschaltet hätte, hörte ich zu.
„Ich weiß.“ Er nahm unterm Tisch meine Hand und drückte sie das-wird-schon-mäßig, bevor ich mich verkrampfen konnte. Dankbar hielt ich sie fest und versuchte, mich nur auf diese Wärme zu konzentrieren. Natürlich wusste er, was ich dachte.
„Was so viel heißen soll wie ‚Wir haben keine Ahnung, was wir dann machen sollen’.“
„Müsst ihr nicht langsam nach Hause?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, stand er auf und warf demonstrativ einen Blick auf die Uhr. Ich wusste, dass er normalerweise nie jemanden so wegschicken würde, doch ich war dankbar dafür.
David schaltete schneller als Serena und zog sie hoch. „Ja, komm, ich wollte dir sowieso noch zeigen, was ich für dich hab“, sagte er, während er sie in Richtung Haustür zerrte.
„Und uns hast du nichts mitgebracht?!“, fragte José grinsend. „Das trifft uns tief!“
David verdrehte die Augen und wollte zu einer Erklärung ansetzen, als ich ihn unterbrach: „Ja, ja, schon okay. Bis morgen!“ Mit diesen Worten schob ich sie nach draußen und schlug mit einem letzten halbherzigen Winken die Tür hinter ihnen zu. Und bevor ich mich zu ihm umdrehen und mich verzweifelt in seine Arme werfen konnte, war er schon an meiner Seite und noch während er mich mehr oder weniger in die Küche trug – da ich mich nur wenig hilfreich an ihn klammerte und keine Anstalten machte, mich zu bewegen – küsste er mich sanft (was zur Folge hatte, dass ich noch viel orientierungsloser als vorher war). Schließlich setzte er mich auf einem Stuhl ab, löste sich von mir und sah mich erwartungsvoll an, begann dann aber selbst zu reden, weil ich noch dabei war, meine Atmung zu regulieren.
„Wie lautet das Urteil?“
„Schlecht“, sagte ich düster und das Hochgefühl von seinem Kuss verschwand wieder.
„Na ja, also immerhin sind sie nicht ausgetickt“, gab er zu Bedenken, ganz der Optimist.
„Das hätte ich aber wenigstens normal gefunden! Und stattdessen… das
. Eigentlich sollte ich froh sein, aber ich bin es nicht. Eher noch nervöser.“
„Wir haben noch mehr als eine Woche“, erinnerte mich sanft, „und dass David und Serena Bescheid wissen, macht vieles leichter zu erklären.“ Ich wandte den Kopf, um ihn ansehen zu können und fragte mich, womit ich dieses Glück verdient hatte. Nicht dass ich ihn je wieder hergeben würde, aber normalerweise machte das Schicksal bei solchen Geschenken einen großen Bogen um mich. Plötzlich musste ich daran denken, wie ich ihn im Flughafen zum ersten Mal gesehen hatte, wie er mir schon dort sofort aufgefallen war und wie ich einfach gewusst hatte, dass er der war, den ich suchte. Er sah jetzt noch immer genau so atemberaubend toll aus wie damals, aber es hatte sich viel verändert und vielleicht sah ich ihn deswegen mittlerweile mit anderen Augen. Mit Augen, die es gewohnt waren, ihn anzusehen und von seinem Anblick weich wurden. Mein Blick fuhr über seine perfekt gebräunte Haut und ich dachte daran, wie warm und gut sie sich unter meinen Händen anfühlte. Ich musterte seine dunkelblonden Haare und dachte daran, wie süß sie ungekämmt aussahen und wie lange manche Jungs vorm Spiegel standen und Gel verbrauchten, um exakt das richtige Maß an wie zufällig zerzauster Frisur zu treffen. Ich betrachtete seine unzähligen Sommersprossen und die Stellen auf seinen Wangen, wo sie besonders zahlreich waren und ich dachte daran, wie verrückt es doch war, auf solche unwichtigen Details zu achten. Aber für mich sind sie nicht unwichtig, dachte ich noch im gleichen Moment, es sind diese Kleinigkeiten, die ihn noch wunderbarer und schöner machen. Seine Augen hatte ich mir zum Schluss aufgehoben, zum einen, weil sie es waren, die ihn so vollkommen machten, und zum anderen, weil ich wusste, dass ich, wenn ich erst einen Blick in das tiefe Blau erhascht hatte, mich nicht mehr würde losreißen können. Ich behielt Recht und wurde augenblicklich in den Bann dieses umwerfenden Anblicks gezogen, auch wenn er im Moment nach draußen aufs Meer sah und gar nicht zurückschaute.
Und ohne es bewusst vorzuhaben, stand ich auf und ging zu ihm ans Fenster, um sofort nach seiner Hand zu tasten, allerdings ohne den Blick von ihm zu lösen. Jetzt sah er mich doch an und für einen Moment war es, als könnte ich auch in seinen Augen lesen, was er dachte, so wie er es sonst immer bei mir tat. Instinktiv wusste ich, dass er dasselbe dachte wie ich.
Und während wir dort am Fenster standen und die Sonne uns von der Seite beschien, trafen unsere Lippen aufeinander, weich und leidenschaftlich zugleich und mir fiel ein, wie sehr ich ihn doch liebte.
Heute brauch ich ein bisschen mehr als nur Freundschaft.
25. Abschluss
Die Hoffnung, dass es für immer so sein wird, war vergebens.
Es war noch immer warm, aber der Sommer ging trotzdem zu Ende. Mein Sommer zumindest. Und ich hatte das Gefühl, dass dann auch die Kälte kommen würde – auch wenn ich wusste, dass es hier noch eine Weile warm bleiben würde, immerhin hatten wir erst August und José hatte selbst gesagt, dass es in diesem Jahr besonders heiß war.
Auch wenn ich es niemals laut zugeben würde, war ich doch irgendwie froh, dass Serena und David wieder da waren, sie machten zwar beide ein riesiges Tamtam um José und mich, aber ich bemerkte erst jetzt, wie sehr mir die Zeit mit ihnen gefehlt hatte. Alles wäre unendlich perfekt, wenn die zehn Tage nicht so schnell verstreichen würden. Wir spielten Volley- und Wasserball (und weil ich mit José in einem Team war, verlor ich durch sein Talent, für uns beide gut zu spielen, nicht mehr so oft), gingen unzählige Male baden und erzählten uns von dem, was wir in den letzten Wochen erlebt hatten, José ging mit David wieder zum Training und plötzlich waren nur noch vier Tage verblieben.
„Okay, aber dann kochst du morgen alleine.“ Es war Nachmittag und ich hatte eingewilligt, mit ihm einkaufen zu gehen, damit wir Zeit zu zweit hatten. Wir waren auf dem Rückweg und verhandelten darüber, wer heute mit Essenmachen dran war.
„Ja, ja“, gab er leichthin nach. Leider machte es ihm immer sehr viel weniger aus als mir, wenn er mit Kochen dran war und ich konnte ihn nicht mit einem ‚Wenn du jetzt noch mal mit nach draußen kommst, übernehme ich deinen Part in der Küche morgen’ erpressen – er mich jedoch schon. Und jetzt hatte er es mal wieder geschafft, mich dazu überreden, dass wir uns heute Abend die Arbeit teilten, was auch dazu beitrug, dass mich die Tatsache, dass er meiner Forderung für den nächsten Tag so kampflos zustimmte, nicht besonders erfreute – immerhin konnte er mich morgen mit denselben unfairen Mitteln umstimmen. Okay, mit ihm kochen war nicht so schlimm, um genau zu sein sogar sehr angenehm, aber ich musste wenigstens symbolischen Widerstand leisten, wie ich fand. Ich mochte es, wenn ich mich so blöd anstellte, dass er mir helfen musste, damit man es später noch essen konnte (und wenn ich das nicht so wie meistens von alleine hinbekam, konnte ich Ungeschicklichkeit auch vortäuschen) und wenn ich dann am Tisch saß, ihm dabei zusah, wie er das machte, was ich hätte tun sollen und zuhörte, wie er mir irgendwas erzählte bzw. zusah, wie er konzentriert arbeitete. Aber ich hütete mich davor, ihm das zu sagen und er wusste es wahrscheinlich sowieso schon selbst.
Ich blieb stehen, um ein Plakat an einer der Straßenlaternen zu mustern und zwang ihn so ebenfalls zum Anhalten, da wir sehr altmodisch und sehr romantisch Hand in Hand gingen. Ich sah ihn fragend an, um eine professionelle Erklärung einzufordern, nachdem ich selbst halbherzig versucht hatte, die Worte auf der Pappe mit etwas in Verbindung zu bringen, was ich in letzter Zeit gehört hatte. Seine Augen funkelten, was hieß, dass a) ich ihn auf eine Idee gebracht hatte, b) diese mich wahrscheinlich beinhaltete, c) er alles tun würde, um mich von der bescheuerten Idee zu überzeugen. Oh-oh.
„Das“, - er machte eine komplizierte Handbewegung, die wohl die Wichtigkeit seiner Aussage demonstrieren sollte -, „ist eins der Plakate zum jährlichen Sommerfest.“ Er sah mich erwartungsvoll an, als müsste mir jetzt etwas einfallen und ich wissen, wovon er redete.
Was aber nicht der Fall war. „Ach so, na dann…!“
Er lachte über meinen Tonfall. „Du hast keine Ahnung worum es geht“, stellte er fest.
„Nein“, stimmte ich zu.
„Also, ich weiß ja nicht, wer dir in den letzten Tagen den Kopf so verdreht hast, dass du das nicht mitbekommen hast“, begann er und setzte einen strengen Blick auf, „aber ich werde es dir mal netterweise erklären. Hier gibt es jedes Jahr im Sommer dieses Fest, es wird zwar viel getanzt und so, aber ich würde es nicht als Ball bezeichnen, weil es eigentlich immer draußen ist… Wir könnten zusammen hingehen.“ Beim letzten Satz konnte er ein motiviertes Lächeln nicht zurückhalten.
Ich runzelte die Stirn und zog ihn sicherheitshalber weiter, damit ich nicht noch weiter die verlockenden Buchstaben auf dem Plakat ansehen musste. Eigentlich musste ich zugeben, dass mich der Gedanke seiner Idee reizte, in Osnabrück war ich mit den anderen immer gerne zum Jahresball gegangen und obwohl meine aktuellste Erinnerung daran ein Tanz mit Nico war, lösten Josés Worte nur positive Gefühle und ein bisschen Vorfreude in mir aus. Und trotzdem zögerte ich.
„Du würdest gerne mit mir hingehen. Ich sehe es in deinen Augen“, philosophierte er nachdenklich. „Aber du sagst nichts.“
„Alle würden uns zusammen sehen“, sagte ich nach einer Weile leise und sah auf den Gehweg. „Das ist genau das, was ich mir wünsche – mit dir in der Öffentlichkeit zusammen sein, als ob es normal wäre. Aber es geht nicht.“
Er drückte meine Hand kaum merklich fester. „Du wohnst bei mir und alle wissen, dass Naiara zurzeit nicht da ist. Keiner würde auf die Idee kommen…“
„Und wenn doch?“ Ich zwang mich dazu, die Bilder nicht zuzulassen, die sich vor meinem inneren Auge abzuzeichnen drohten. Bilder von mir in einem traumhaften Kleid, an meiner Seite er
… Nein. Ich musste einsehen, dass manche Dinge einfach nicht möglich waren und es wäre egoistisch, es zu tun, nur um mir einen mädchenhaften Traum zu erfüllen.
„Es ist hier so Tradition, alle gehen hin. Und man erwartet von mir, dass ich auch komme, so wie jedes Jahr. Und… es wäre ein guter Abschluss für unsere Zeit zu zweit. Am nächsten Tag kommt sie
wieder und ich bin mir sicher, dass es dir gefallen würde“, erwiderte er. Ich wusste, dass es ihm genauso schwer fiel wie mir, von einem ‚Abschluss’ zu sprechen und ich bewunderte ihn dafür, dass er trotzdem fest entschlossen war, das Beste daraus zu machen.
„Ich denke darüber nach“, sagte ich, obwohl ich eigentlich nur vorhatte, jeden Gedanken daran aus meinem Kopf zu verbannen, um gar nicht erst in Versuchung zu geraten. Öffentlichkeit war nicht gut und ich durfte nicht im Geringsten nachgeben, sosehr ich es auch wollte. Er könnte viel mehr Probleme bekommen als ich, wenn die Leute erstmal anfingen, Gerüchte zu verbreiten. Das konnte ich nicht zulassen.
Er seufzte, über mein Denken mal wieder besser informiert als ich selbst, sagte aber nichts weiter. Vielleicht, weil er wusste, dass mit mir im Moment nicht besser darüber zu reden war und er beschloss, mir Zeit zu geben. Ich biss die Zähne zusammen, um nicht mit ‚Okay, wir können gehen!’ herauszuplatzen. So gerne würde ich es tun und ihn so glücklich machen, aber ich konnte einfach nicht. Ich seufzte ebenfalls und wir gingen in stummer Zweisamkeit weiter die Straße entlang, allerdings nicht ohne dass ich noch einen kurzen Blick zurück warf.
„Moment, ich hab noch eins! Warte… ach, hier ist es.“ Serena holte ein ordentlich zusammengefaltetes Stoffbündel aus den Tiefen ihres Koffers und strich vorsichtig darüber, als könnte es zerbrechen. Ich hatte nicht mitgezählt, aber es war bestimmt schon das zehnte. Sie schüttelte das Kleid geschickt auseinander und hielt es dann hoch, damit ich es in seiner ganzen Pracht bewundern konnte.
„Wow“, sagte ich aufrichtig, denn obwohl wir jetzt schon eine geschlagene Stunde damit verbrachten, Serenas Errungenschaften aus ihrem Urlaub zu bestaunen, wurde es nicht langweilig – vielleicht weil sie mir nebenher noch jede Menge anderen Kram erzählte, vielleicht auch einfach nur weil jedes einzelne ihrer neuen Kleidungsstücke unglaublich toll aussah (mit so was Sinnlosem können wohl nur Mädchen Zeit verbringen). Bei jedem Einzelnen konnte ich mir genau vorstellen, wie perfekt es an Serenas superschlankem Körper aussah und bewunderte sie für ihren Geschmack. Das Kleid, was sie mir jetzt zeigte, war mal wieder einfach atemberaubend, türkisgrün und trägerlos – so eins, was man sich als kleines Mädchen in rosa wünschte.
„Es ist toll, nicht wahr? Gefällt es dir?“ Serenas Augen leuchteten vor Stolz und Enthusiasmus, während sie das Kleid in ihren Händen betrachtete, als wäre es ihr Baby.
„Ja“, gab ich zu und musste einfach einmal über den weichen Stoff streichen.
„Probier es doch mal an!“, schlug Serena vor und hielt es schon prüfend vor mich. „Es würde dir bestimmt stehen.“
„Nein, es ist doch deins“, widersprach ich, obwohl ich es sehr gerne angezogen hätte. Eigentlich hatte ich gedacht, ich wäre über diese kindliche Begeisterung für schöne Kleider hinweg, aber anscheinend wohl doch nicht.
„Sei nicht so, nur einmal ganz kurz, ja? Ich helfe dir auch, das geht ganz schnell!“, versprach sie und zog schon den Reißverschluss auf. Seufzend gab ich nach und steckte durch ihre Hilfe innerhalb weniger Minuten in den Massen aus blaugrünem Stoff und wurde von Serena vor den Spiegel gezerrt.
„Siehst du? Es sieht echt super an dir aus“, stellte sie zufrieden fest und zupfte noch ein bisschen an mir herum. „Du solltest es mal zu einer Veranstaltung anziehen… hey, am Wochenende ist doch das Sommerfest, als wie wär’s? Ich stelle es dir zur Verfügung.“
Ich erstarrte. Meine Gesichtsmuskeln spannten sich erst an und wurden dann wieder lockerer, als ich seufzte und Serena einen missbilligenden Blick zuwarf. „Er hat mit dir gesprochen“, stellte ich finster fest und wandte mich zum Fenster um.
Sie schwieg einen Moment und beschloss dann wohl, dass es keinen Zweck hatte, etwas abzustreiten. „Du würdest ihn damit sehr glücklich machen. Es bedeutet ihm viel.“ Das war gemein. Sie brachte gar nicht erst andere Argumente, weil sie wusste, dass nur dieses mir zusetzte. Dass sie nur mit diesem den Hauch einer Chance hatte.
„Was sollen die Leute denn denken?!“, entgegnete ich abwehrend.
„Da ist doch nichts dabei, ich mein, wer würde schon annehmen, dass ihr zusammen seid? Du musst zugeben, dass das nicht sehr realistisch ist, allein schon vom Altersunterschied her. Und bevor du kamst, waren Naiara und er auch immer irgendwie unzertrennlich. Außerdem könntet ihr beiden mit David und mir gehen, so als Freunde. Das machen viele, das ist voll normal.“ Sie stellte sich neben mich und fügte noch hinzu: „Und du weißt ja gar nicht, wie unglaublich toll er tanzen kann, das würde ich mir nicht entgehen lassen…“ Obwohl ich mir das auch selbst hätte denken können, war die Vorstellung doch verlockend. Zu verlockend. Ich wollte etwas sagen wie ‚Dann geh du doch mit ihm!’, biss mir dann aber auf die Lippe. Sie würde das natürlich niemals tun, doch ich konnte es noch nicht einmal scherzhaft sagen. Nein. Wenn er ging, dann mit mir und keiner anderen.
„Er würde sowieso nur mit dir gehen“, sagte Serena nachdenklich, als wüsste sie, was ich hatte sagen wollen. „Bitte.“
Sie versucht nur, mir ein schlechtes Gewissen einzureden, sagte ich mir, musste aber trotzdem feststellen, dass es auch noch funktionierte. Toll. Ich fühlte mich jetzt schon schuldig, dabei wollte ich nur einmal das Richtige tun!
„Schön, dann gehen wir eben hin, aber es ist deine
Schuld, wenn danach alles in Chaos endet!“, rief ich wütend und funkelte sie an.
„Ich wusste, dass du es im Grunde auch willst“, entgegnete sie nur triumphierend und umarmte mich.
„Ja, ja“, grummelte ich muffelig. In Gedanken jedoch war ich schon viel weiter und malte mir aus, wie glücklich er darüber sein würde. Vielleicht war es doch das Richtige. Wenn es ihn glücklich machte…
„Warum hab ich noch mal Ja gesagt?“
„Du warst genervt von mir und konntest der Versuchung nicht widerstehen“, teilte Serena mir gutgelaunt vom Beifahrersitz aus mit.
„Hört sich realistisch an“, seufzte ich.
Ich spürte, wie José neben mir sanft über meine Hand strich. „Es wird dir gefallen“, prophezeite er und als er mir sein schönstes Lächeln schenkte, fiel mir wieder der wahre Grund ein, weswegen ich das hier alles mitmachte. Für ihn.
„Okay, aber nur, weil ich alle anderen mental auslachen werde, weil ich den tollsten Tanzpartner von allen habe.“ Ich hob den Kopf ein Stück und küsste ihn.
„Könnt ihr das nicht woanders machen?!“, fragte David theatralisch und hielt den Rückspiegel zu.
„Nein, ich muss noch den ganzen Abend ohne das aushalten“, gab José zurück, ohne sich von mir zu lösen. Damit hatte er Recht, aber mittlerweile glaubte ich, dass ich es auch so in vollen Zügen genießen konnte. Ich mochte Bälle noch immer und mit ihm als Begleiter konnte ich gar nicht anders, als mich zu freuen. Ich hatte mir erst ein bisschen Sorgen gemacht, wie er wohl im Anzug aussah – immerhin kannte ich ihn fast nur in Shorts und T-Shirt. Aber kaum dass er mir dann entgegengekommen war, nachdem ich endlich mit Serenas Hilfe das Kleid richtig angezogen hatte, hatte ich gewusst, dass meine Zweifel völlig umsonst waren. Wie hatte ich auch nur im Geringsten denken können, dass ihm so was Elegantes nicht perfekt stand?! Ich dachte mir nur, dass er wahrscheinlich einer dieser Menschen war, die selbst in einem Kartoffelsack sexy aussehen. Sehr frustrierend.
Außerdem beschloss ich, mir einfach möglichst wenig Gedanken darum zu machen, wie wir wohl zusammen auf die anderen wirkten und zuzulassen, dass dieser Abend die Erinnerungen an die Bälle in Deutschland um Einiges übertraf.
„Da sind wir.“ Serena strahlte uns an und stieg dann aus (sie selbst sah in einem langen tiefblauen Kleid noch viel besser aus als ich).
„Du siehst wunderschön aus“, sagte José leise zu mir, als er mir aus dem Auto half, und lächelte mich an.
„Das würdest du sowieso sagen“, gab ich zurück, aber ich spürte trotzdem, wie sich meine Wangen vor Freude über das Kompliment von ihm leicht rosa färbten.
„Es ist eine Tatsache.“ Er nahm meinen Arm. „Fertig?“
Ich atmete tief durch und erinnerte mich plötzlich daran, wie ich als kleines Mädchen ‚Cinderella’ an Weihnachten immer geguckt hatte und mir gewünscht hatte, auch so schön zu sein. Ich dachte daran, wie ich an Karneval jedes Jahr als Prinzessin gegangen war und wie stolz ich auf mein weißes Kleid gewesen war, das meine Mutter mir genäht hatte. Ich dachte an meinen ersten Tanz, es war die Hochzeit meiner Tante gewesen und mein Vater hatte mit mir getanzt – oder mich zumindest die ganze Zeit zum Lachen gebracht, weil er mich in der Luft herumwirbelte. Ich musste auch an meinen ersten Schulball denken, an dem ich ein Kleid von Kathi getragen hatte und der Abend damit geendet hatte, dass ich heulend aus der Schule gerannt war, weil ich zuvor die Aufforderung zum Tanzen vom damaligen Mädchenschwarm Tom, der zwei Jahrgänge über mir gewesen war, vor Überraschung abgelehnt hatte und dann hatte mit ansehen müssen, wie er mit einem wunderschönen Mädchen aus seiner Klasse getanzt hatte. Den ganzen Abend hatte ich einsam am Rand gesessen und mich schlecht gefühlt, bis mich schließlich eine Lehrerin fragte, ob ich gar nicht tanzen wolle und mir den Rest gab. Es war der schlimmste Abend meines Lebens gewesen, aber das war jetzt Vergangenheit. Niemals hätte ich gedacht, jemals mit jemandem wie José an meiner Seite tanzen gehen zu dürfen.
„Ja“, sagte ich kaum hörbar und wir folgten David und Serena, die schon losgegangen waren.
Mich erinnerte das ganze Anwesen eher an eine Art Gartenparty als an ein gewöhnliches Sommerfest, Veranstalter war eine reiche Familie, die das Ganze jedes Jahr organisierte, wie José mir erklärte. Im Haus gab es Getränke und Essen und hinter dem Gebäude befanden sich eine gepflasterte Fläche zum Tanzen und der Garten.
Ich war extrem stolz auf mich, als ich feststellte, dass ich tatsächlich alle Gespräche um mich herum verstehen konnte und mir nicht mehr wie abgeschnitten vorkam – denn auch wenn ich schon früh angefangen hatte, hier nur noch Spanisch zu reden, hatte ich den Verdacht, dass José und die anderen noch immer rücksichtsvoll deutlich und etwas langsamer sprachen. Sicherheitshalber schaute ich mich vorsichtig um, ob nicht vielleicht erstaunte bzw. empörte Blicke auf uns ruhten, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. Ungeduldig stand ich daneben, während José mit den Gastgebern sprach (und sie mit seinem unwiderstehlichen Charme sofort um den Finger wickelte), aber obwohl ich nur mit halbem Ohr zuhörte, blieb ich neben ihm stehen, um sicherzugehen, dass keines der zahlreichen Mädchen versuchte, sich an ihn heranzuschmeißen (nicht dass ich das derjenigen wirklich übel nehmen könnte, aber ich wollte ein Auge darauf haben). Ich horchte nur auf, als er meinen Namen erwähnte und wurde rot, als ich den stolzen Unterton in seiner Stimme hörte.
„Was hast du gesagt?“, fragte ich ihn kurze Zeit später, nachdem ich ihn endlich von seinen Gesprächspartnern losgeeist hatte.
„Ich hab dich nur vorgestellt und so… du hättest ruhig auch mal was sagen können.“ Er warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Dann hätte es ja noch länger gedauert und ich hätte dich an diesem Abend gar nicht mehr für mich allein haben können“, gab ich zurück und widerstand der Versuchung, mich auf die Zehenspitzen zu stellen, um ihn zu küssen. Zu viele Leute, sagte ich mir streng.
„Stimmt, das wäre sehr schade… dann müsste ich nämlich neidisch zugucken, wie du mit einem anderen tanzt, sobald du genug von mir hast. Deswegen sollte ich jetzt klarmachen, dass du leider für den gesamten Abend schon einen Partner hast.“ Er zog mich in Richtung Tanzfläche, wo ich zwischen einigen anderen Paaren schon Serena und David sehen konnte.
„Wenn du meinst…“, sagte ich zögern, folgte ihm jedoch widerstandslos – die Vorstellung mit ihm zu tanzen, war einfach zu verlockend und ich hatte das Gefühl, sehr blöd zu sein, wenn ich diese Chance verpasste. Nur ein paar Lieder, dachte ich, dann kann ich mich wieder unauffällig an den Rand stellen.
„Es ist aber schon zwei Jahre her, dass ich den Tanzkurs gemacht habe“, warnte ich ihn nervös und versuchte, mich auf die Schnelle an irgendwas zu erinnern, das mich professionell und elegant aussehen ließ.
Er verdrehte die Augen und legte mir eine Hand an die Taille. „Nicht denken, nur genießen“, erinnerte er mich dann lächelnd.
„Das krieg ich hin“, erwiderte ich, leicht atemlos von seiner plötzlichen Berührung, nachdem ich mir in den letzten 30 Minuten Mühe gegeben hatte, meine Hände bei mir zu behalten. Allmählich sollte ich solche Reaktionen eigentlich unter Kontrolle bekommen, aber ich war anscheinend ein hoffnungsloser Fall.
Das nächste Lied begann und mit dem Einsetzen der Musik gesellten auch wir uns zu den anderen tanzenden Paaren und wirbelten im Takt herum. Serena hatte noch untertrieben, als sie gesagt hatte, dass er ein hervorragender Tänzer wäre und vielleicht wurde mein Körper ja von ihm inspiriert oder so – auf jeden Fall fiel es mir auf einmal ganz leicht und ich versuchte, ihn nicht allzu bewundernd anzustarren.
„Was hab ich gesagt?“, fragte er nach einer Weile.
„Ja, ja, du hattest wie immer Recht. Gehört tanzen zu einem deiner zahlreichen Naturtalenten?“, erwiderte ich.
Er lachte. „Meine Mutter hat es mir beigebracht, das ist meine deutlichste Kindheitserinnerung – wie sie manchmal abends Musik anstellte und mir mit jedem Mal etwas mehr zeigte. Sie war schon immer so musikalisch, sie singt auch und kann so ziemlich jedes Instrument spielen. Du solltest sie mal kennen lernen, sie ist eine wunderbare Person. Sie würde dich mögen.“
„Letzteres bezweifle ich eher, den Rest glaube ich dir gerne. Deine Eltern müssen einfach unbeschreiblich tolle Menschen sein, ich kann es mir gar nicht anders vorstellen. Aber von mir wären sie bestimmt weniger begeistert – Naiara war da wohl die bessere Wahl.“ Bei den letzten Worten konnte ich spüren, wie sich meine Gesichtsmuskeln verkrampften und mein Lächeln gezwungen wirkte.
„Sie mögen sie schon, das ist wahr. Aber du kennst sie einfach nicht, meine Mutter war immer davon überzeugt, dass ich mir die Richtige aussuche. Sie sagte mir oft, dass ich nicht immer auf die erste Wahl vertrauen sollte und erst Erfahrungen sammeln müsste. Damit hatte sie Recht. Mein Vater war sowieso schon immer der Meinung, ich würde alles überstürzen und wird sich in seiner Theorie bestätigt fühlen. Er hat manchmal seltsame Ansichten, was gut für mich ist und hat in den ersten Wochen wie ein Luchs darauf geachtet, dass Naiara mich auch ja gut genug behandelt. Das war… peinlich.“ Er verdrehte die Augen.
„Nein, wenn ich deine Mutter wäre, würde ich es ganz genauso machen. Dein Vater gefällt mir immer mehr, du bist ihm sehr wichtig. Und… ich bin irgendwie froh, dass du in den letzten Jahren immer Naiara hattest – und sie auch noch jetzt hast. Sie kümmert sich gut um dich und sie liebt dich. Wenn ich nicht so unglaublich egoistisch und dämlich wäre, würde ich dich hübsch mit ihr allein lassen.“ Ein langsameres Lied begann und ich ließ zu, dass unsere Körper sich näher kamen – sollen die anderen denken was sie wollen, dachte ich trotzig.
„Und ich
bin froh, dass du das nicht getan hast…“ Er führte unseren Weg hinter einer Säule entlang und küsste mich in dem Moment, in dem sie uns vor Blicken verbarg, flüchtig auf die Lippen. Das hätte er besser nicht tun sollen, so viel hielt meine Selbstdisziplin dann doch nicht aus und ich löste mich rasch von ihm, um nicht in Versuchung zu geraten.
„Essen wir was?“ Ohne auf seine Antwort zu warten, zog ich ihn hinter mir her ins Haus und ans Buffet, wo auch schon Serena und David standen.
Den restlichen Abend schaffte ich es, mich zusammenzureißen und sobald es nicht mehr allzu unhöflich wirkte, verabschiedeten wir uns und fuhren zum Haus zurück.
Vielleicht wäre es vernünftiger gewesen, in der letzten gemeinsamen Nacht mit Hinblick auf den morgigen Tag jegliche allzu leidenschaftliche Gefühle zurückzuhalten, aber ich konnte es natürlich nicht. Die letzte Nacht mit ihm allein, geisterten die Gedanken in meinem Kopf herum, das solltest du noch einmal nutzen.
Also nutzten wir es.
‚Was hast du schon zu verlieren?’ – ‚Ihn.’
26. Erwachen
Die Realität ruiniert mal wieder mein Leben.
Der Tag fing schon schlecht an. Aber was sollte man auch anderes erwarten? Nein, es war schon ganz richtig so. Wenn sie heute schon wiederkommen musste, konnte der Tag auch ruhig von vorne bis hinten versaut sein und sich meinem Gemütszustand anpassen. Und dieser war extrem schlecht von dem Moment an, als ich morgens von der ungewohnten Kühle aufwachte.
Wann war mir zum letzten Mal kalt gewesen, als ich die Augen aufgeschlagen hatte? Ich erinnerte mich nicht – oder wollte mich nicht erinnern. Die Zeit vor der Wärme war Vergangenheit. Wärme bedeutete José. Und Kälte bedeutete… kein José. Nicht gut. Ich hatte mich so sehr daran gewöhnt, morgens in seinen Armen aufzuwachen, seinen Körper neben mir zu wissen, ohne die Augen öffnen zu müssen. Und obwohl draußen die gleichen Temperaturen herrschten wie in den letzten Tagen, kam es mir vergleichsweise kühl war.
In der Hoffnung, mich vielleicht im Schlaf von ihm weggewälzt zu haben (was an sich schon widersprüchlich war, da es für meinen Körper nur eine einzige Richtung gab: zu ihm hin) und ihn nur deswegen nicht zu bemerken, schlug ich – die Augen noch immer halb geschlossen – mit einer Hand suchend auf das Bettlaken. Aber er war nicht da.
Jegliche morgendliche Behaglichkeit verschwand sofort, ich setzte mich auf und blinzelte. Das Bett wirkte ohne ihn viel zu groß… Jetzt hörte ich auch das Klappern aus der Küche – er war schon auf. Unschlüssig und noch nicht bereit, dem Tag entgegenzutreten, blieb ich inmitten dem Deckenknäuel hocken und drückte sein Kissen, das wie immer verlässlich nach ihm roch, gegen mein Gesicht.
Das Klappern verstummte und nur Sekunden später ging die Tür auf und er kam herein, obwohl ich nun wirklich nicht laut gewesen war. Er war bereits geduscht und vollständig angezogen, nur um seine Haare hatte er sich zu meiner Zufriedenheit noch nicht gekümmert, josémäßig zerzaust fielen ihm einige blonde Strähnen in die Stirn. Trotz dem, was uns heute bevorstand, wirkte er bewundernswert locker und entspannt, auch wenn sein Blick, als er mich ansah, leicht besorgt war und in seinen Augen dieser Geht’s-dir-auch-gut?-Ausdruck lag. Ich vergrub mein Gesicht wieder in dem Kissen und inhalierte seinen Duft.
„Du hättest mich wenigstens wecken können“, sagte ich anklagend in den Stoff hinein.
„Ich wollte dich noch schlafen lassen, du sahst so friedlich aus. Und beim Frühstückmachen hättest du sowieso nur daneben gesessen“, gab er zurück, kam näher und nahm mir ohne jegliche Anstrengung das Kissen weg. Ich gab einen unwilligen Laut über den Verlust meiner José-Duftquelle von mir, legte stattdessen meinen Kopf auf seinen Schoß und kuschelte mich gegen seinen warmen Körper, was ein mehr als angemessener Ersatz war.
„Ja, ich war
auch friedlich, als du noch neben mir gelegen hast. Danach dann nicht mehr. Und außerdem sehe ich dir gerne beim Frühstückmachen zu“, teilte ich ihm mit, während er eine meiner Haarsträhnen um seine Finger wickelte und auf mich herabsah.
„Mir ist klar, dass du gerne zuguckst, wie ich
arbeite.“ Er verdrehte die Augen, dann wurden sie wieder sanft. „Tut mir leid.“ Er küsste mich, was extrem unfair war, weil er genau wusste, dass ich ihm dann alles verzeihen würde.
„Mhm-hm“, machte ich ohne noch zu wissen, was er eben gesagt hatte. Was hatte ich früher nur den ganzen Tag gemacht? Woran hatte ich gedacht? Ich glaubte, in seinem Kuss etwas von der unbändigen Leidenschaft zu spüren, die er sich sonst für die gemeinsamen Nächte aufhob, aber vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil ich selbst versuchte, all meine Gefühle für ihn (und das waren eine Menge) zum Vorschein zu bringen. Seine Lippen passten so unglaublich perfekt auf meine…
„Wir schaffen das Frühstück nicht mehr, wenn wir jetzt nicht aufhören“, flüsterte er, ohne sich auch nur einen Millimeter von mir zu lösen.
„Mir egal“, brachte ich schwer atmend hervor und fuhr ihm mit einer Hand durch seine Haare, während ich meinen Mund wieder auf seinen drückte. Mit einem leisen Seufzen ergab er sich, anscheinend fehlte auch ihm der Willen, den Moment mit einem primitiven Bedürfnis wie Nahrungsaufnahme zu zerstören. Er zog mich aus seinem Schoß sanft hoch in eine sitzende Position, nur um mich dann wieder vorsichtig nach hinten zu drücken, sodass ich rückwärts auf die Matratze sank.
Und so blieb das Frühstück, für das er extra aufgestanden war, in der Küche unberührt…
Unruhig sah ich aus dem Fenster, wo die Landschaft vorbeiflog und fragte mich, ob ich lieber wollte, dass die nervenaufreibende Fahrt endlich hinter mir lag oder eher dass sie noch so lange wie möglich andauerte. Ohne dass es mir so recht bewusst war, klammerte ich meine Hände an den Stoff meines T-Shirts, sodass die Knöchel weiß hervortraten.
Er warf mir einen kurzen Seitenblick zu und löste meine verkrampften Finger mit seinen warmen, drückte sie kurz und ließ unsere verschlungenen Hände dann auf meinem Bein liegen. Ich wusste, was das bedeuten sollte: Mach dir keine Sorgen, das wird schon. Aber ich wusste ebenfalls, dass er nicht so zuversichtlich war, wie er tat und mich nur beruhigen wollte. Doch obwohl es in dieser Hinsicht nichts half, sorgte seine Berührung trotzdem dafür, dass mein Herz ein bisschen schneller schlug und es mir im Auto nicht mehr ganz so kalt vorkam.
Dennoch zwang ich mich dazu, seine Finger wegzuschieben und bestimmt wieder ans Steuer zu legen. „Du musst dich aufs Fahren konzentrieren.“
Er verdrehte nur die Augen, hielt meine Hand fest, bevor ich sie zurückziehen konnte und legte sie diesmal auf sein Bein, um sie auch ja im Blick haben zu können. Jetzt war ich es, die die Augen verdrehte, doch insgeheim war ich froh, ihn berühren zu können und zeichnete unsichtbare Linien auf seiner Jeans nach.
So fuhren wir eine Weile schweigend, bis er schließlich anmerkte: „Wir sind gleich am Bahnhof. Ihr Zug kommt in einer knappen Viertelstunde.“
Ich senkte den Blick und biss mir auf die Lippe. „Ja.“ Es sollte fest und neutral klingen, doch selbst ich hörte den niedergeschlagenen Unterton heraus.
Und er nahm ihn natürlich auch wahr, ich spürte seinen Blick einige Sekunden lang auf mir ruhen, bevor er sich wieder der Straße zuwandte und auf den Parkplatz fuhr. Ich dachte schon, er würde etwas sagen, doch er schwieg, während er zwischen den vielen Autos eine Lücke suchte, einparkte und den Motor ausstellte.
Doch als ich die Tür aufmachen und aussteigen wollte, legte er mir plötzlich eine Hand auf den Arm und sagte leise: „Wir machen es anders, okay? Wir sagen es ihr, egal, was das dann für eine Reaktion und Probleme auslöst. Es wäre falsch, sie in dem Glauben zu lassen, alles wäre wie immer und uns in den nächsten Wochen aus dem Weg zu gehen. Du willst es nicht und ich auch nicht, wir sollten-“
„Nein“, unterbrach ich ihn scharf. „Nein“, wiederholte dann ich leiser und ließ mich tiefer in meinen Sitz sinken. Natürlich hatte ich selbst auch schon über diesen Weg nachgedacht, es jedoch stets für mich behalten, da wir in stiller Übereinkunft beschlossen hatten, zunächst gar nichts zu sagen – aber jetzt, wo er es so vorschlug, war es allzu verlockend und ich wusste, wenn ich ihn weiter auf mich einreden ließ, würde ich früher oder später nachgeben. Aber genau das durfte ich nicht und eigentlich sollte er wissen, dass wir es unmöglich auf diese Weise lösen konnten. Trotzdem war es einfach total süß von ihm, dass er – sosehr er behauptete, es selbst so zu wollen und das vermutlich auch wahr war, vor allem mir zuliebe – bereit war, Schock, Entsetzen, Wut - was auch immer zu riskieren, indem er vorhatte, ihr unser Verhältnis gleich jetzt zu erklären. Das war so typisch er, dass er versuchte, mir jeglichen Schmerz zu ersparen, dass es mir fast die Tränen in die Augen trieb. Mühsam blinzelte ich sie weg und sah ihn an.
„Wir machen es so, wie wir es besprochen haben. Es wäre dumm von uns, ihr, sobald sie wieder da ist, so was zuzumuten. Wir müssen einfach den richtigen Moment dafür abpassen und jetzt ist er noch nicht gekommen“, erklärte ich ihm fest, ich war entschlossen, ihn keine einzige Träne sehen zu lassen – auch wenn er meine Gefühle vermutlich in meinen Augen lesen konnte.
„Aber es würde so oder so auffallen, genau, wie es bei Serena und David aufgefallen ist. Und wir würden uns die ganze Schauspielerei sparen und nicht dann, wenn wir es ihr dann irgendwann sagen, bei ihr den Eindruck erwecken, dass sie seit ihrer Ankunft belogen wurde“, gab er zurück, auch er schien entschlossen – und doch wusste ich dieses eine Mal, dass ich die Diskussion gewinnen würde.
„Wir müssen uns eben ein bisschen mehr Mühe geben und glaubwürdig rüberkommen. Unmöglich, ihr jetzt sofort mit so einer Neuigkeit entgegenzutreten.“ Obwohl ich gerne weggeschaut hätte, um nicht länger vor ihm verbergen zu müssen, wie gerne ich es genau so machen wollte, wie er vorschlug, hielt ich seinem Blick stand.
Er runzelte die Stirn. „Glaubwürdig rüberkommen?! Das würde bedeuten, dass ich mich ihr gegenüber so verhalte wie vorher. Und du müsstest zuschauen und könntest nichts dagegen tun, weil es dich verraten würde. Du würdest leiden und ich auch. Nein. Das kann ich nicht.“ In seinen Augen stand eine einzige Frage: Wieso bist du bereit, so etwas vorzuschlagen, wenn du genau weißt, dass es dir wehtun wird?
„Doch, kannst du.“ Und mit diesen Worten stieß ich die Tür auf und stieg aus, ich wusste, dass er mir folgen würde. Ich atmete die warme Luft tief ein und drehte mich um, wie erwartet stand er ebenfalls draußen und sah mich an, in seinen Augen eine Mischung aus Schmerz und Verständnis. Ich starrte zurück und versuchte ihm allein dadurch das zu vermitteln, was ich nicht in Worte fassen konnte, dass ich für ihn auch leiden würde und dass ich einfach dieses Bauchgefühl hatte, das mir sagte, dass hier nicht der richtige Ort und Zeitpunkt für ein solches Geständnis war.
Wahrscheinlich lag es einfach an ihm, dass er nicht weiter nachfragte und nur um den Wagen herum zu mir kam, mich in die Arme nahm, sich kurz umschaute und mich dann noch einmal küsste. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, nahm sein Gesicht in meine Hände und erwiderte seinen Kuss einige Sekunden lang fest und leidenschaftlich, dann löste ich mich wieder von ihm, bevor es zu spät war und ich der Versuchung, hier einfach stehen zu bleiben und ihn ewig so weiterzuküssen, unterlag.
„Der Zug kommt gleich.“ Meine Stimme war unbewusst zu einem kaum verständlichen Flüstern geworden und ich verschränkte meine Finger mit seinen. „Gehen wir.“
Schweigend durchquerten wir die Bahnhofshalle, mal schien er mich hinter sich herzuziehen, dann wieder ging ich voran, schnell, damit meine Beine nicht auf die Idee kamen, stehen zu bleiben. Trotzdem waren wir, als die Durchsage für die Einfahrt des Zuges ertönte, noch nicht beim Gleis und mussten die Treppe hinauf rennen, um dann genau dann oben einzutreffen, als in der Ferne die Scheinwerfer auftauchten und unerbittlich näher kamen.
„Ich liebe dich, vergiss das nicht, egal was ich tue. Nur dich.“ Er sagte es so schnell, dass ich die einzelnen Worte kaum verstand und gerade so laut, dass ich es über den Lärm des einfahrenden Zuges hören konnte, und obwohl das eben eigentlich unser Abschiedskuss gewesen war, drückte er noch einmal flüchtig seine Lippen auf meine – so rasch, dass die anderen Leute es nicht bemerkten und ich nur für den Bruchteil einer Sekunde seinen unvergleichlichen Geschmack wahrnehmen konnte.
„Ich dich auch. Mach dir keine Sorgen um mich, spiel deine Rolle überzeugend. Mir macht das nichts“, entgegnete ich, obwohl wir beide wussten, dass der letzte Satz gelogen war.
„Okay“, sagte er, auch wenn er es, wie ich vermutete, nicht wirklich vorhatte und mir nicht einen Moment lang glaubte, dass ich einfach unbeteiligt und gleichgültig daneben stehen könnte ohne den geringsten Schmerz zu spüren.
Dann hielt der Zug vor uns und ich ließ hastig seine Hand los, die ich die ganze Zeit festgehalten hatte. Nicht sicher, ob ich sie eher früh oder spät bemerken wollte, glitt mein Blick über die Menschen, die aus den Türen auf den Bahnsteig strömten und mir mit ihren Köpfen im Weg waren. Es kam mir vor, als hätte der Zug die Hälfte der Einwohner Spaniens transportiert und ich hatte schon die leise Hoffnung, sie vielleicht gar nicht mehr zu entdecken, weil sie aus irgendeinem Grund erst später kommen würde.
Aber dann sah ich sie. An dem Ausstieg, nur wenige Meter von uns entfernt. In einer Hand trug sie ihren Koffer, mit der anderen schirmte sie ihre Augen vor der blendenden Sonne ab. Das dunkle Haar fiel ihr leicht gewellt über die Schultern, sie trug es jetzt kürzer, und sie hatte ein schlichtes Top an, das wahrscheinlich nur existierte, um mich daran zu erinnern, dass ich eben einfach nur 16 Jahre alt war und mein Körper auch noch nicht der einer erwachsenen Frau war. Die Gefühle loderten wie Feuer in mir hoch und alles, was ich denken konnte, war: Gegen sie hast du keine Chance. Ich hatte sie in den letzten Wochen die ganze Zeit erfolgreich verdrängt, aber jetzt wurden mir mit voller Wucht alle grausamen Tatsachen wieder bewusst. Ich erinnerte mich wieder daran, warum er schon so lange ausgerechnet mit ihr zusammen war und mit keiner anderen.
Und dann hatte ich keine Zeit mehr, mich von ihrem Anblick fertigmachen zu lassen, denn sie hatte uns entdeckt (oder ihn, wie ich in Gedanken düster hinzufügte) und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, während sie sich durch die Menschenmenge zu uns vorankämpfte. Ich gab mir Mühe, locker zurückzulächeln und zwang mich dazu, nicht aus Reflex hilfesuchend nach Josés Hand zu tasten. Schließlich hatte sie uns erreicht und bevor ich den Mund aufmachen konnte, fand ich mich dicht an sie gedrückt wieder – sie hatte uns beide gleichzeitig in die Arme geschlossen. Ich erinnerte mich an meine soziale, gerechte Seite und dachte daran, dass sie ja eigentlich diejenige war, die mich nicht mögen durfte und dass sie – abgesehen von der Tatsache, dass sie seit Jahren mit dem supertollen Typen zusammen war, in den ich mich blöderweise verliebt hatte und dass sie Konkurrentin No.1 war – eigentlich total nett und liebenswürdig war und dass ich sie mochte. Und wenigstens war sie nicht erstmal über José hergefallen, sondern hatte sich uns beiden zugewandt, das war ja schon mal ein Fortschritt. Also drückte ich sie auch an mich und musste ein bisschen lächeln, als ich feststellte, dass sie noch immer nach Sonne und Meer roch, wie vorher auch (zwar nicht annähernd vergleichbar mit seinem
Geruch, aber das konnte man ja auch von keinem erwarten).
Meine ganze aufgebrachte Zuneigung wurde aber wieder zunichte gemacht, als sie den Kopf José zuwandte und ihn küsste, stattdessen überkam mich der starke Drang, sie anzuschreien, dass das jawohl so was von meiner war. Als sie sich – zum Glück schnell – von ihm löste, spürte ich seinen besorgten Blick auf mir ruhen, aber ich sah nur zu Boden, da ich nicht sicher war, was ich tun würde, wenn ich ihn ansah und las, was auch immer in seinen Augen geschrieben stand.
„Endlich bin ich wieder bei euch! Geht’s euch auch gut?“ Naiara trat ein Stück zurück und musterte uns prüfend, bevor sie wieder in unsere Mitte kam und wir uns langsam auf den Weg zurück zum Parkplatz machten.
„Das sollten wir dich fragen, immerhin bist du diejenige, die wochenlang in der Kur war“, entgegnete José, während er ihr den Koffer abnahm. Ich erinnerte mich wieder an das, was er mir irgendwann kurz nachdem sie gefahren war erzählt hatte, warum sie diese Kur machen musste und so. Irgendeine Krankheit, die sie längere Zeit gehabt hatte, dessen Namen ich aber schon wieder vergessen hatte – allzu ernst war es jedoch wohl nicht gewesen.
„Ich bin vollkommen auskuriert, sie hätten mich auch ruhig schon zwei Wochen früher nach Hause lassen können.“ Sie verdrehte die Augen. Wir hatten mittlerweile das Auto erreicht und ich dachte wehmütig daran, wie ich hier noch wenige Minuten zuvor mit ihm gestanden hatte. Als die Welt noch aus uns beiden bestanden hatte…
„Hauptsache, alles ist wieder okay“, warf ich wenig begeistert ein, um nicht allzu desinteressiert zu wirken, und stieg ein, diesmal natürlich auf die Rückbank.
„Stimmt… ich hab euch vermisst! Und ihr müsst mir unbedingt alles erzählen, was ihr am Telefon vergessen habt“, antwortete sie und lächelte mir im Rückspiegel zu.
In dem Moment hatte ich beinahe ein bisschen Mitleid mit mir, wenn sie wüsste, was alles passiert war – aber nur fast, denn ich sah ganz genau, wie sie seine Hand nahm und fest drückte. Ich biss die Zähne zusammen und sah weg.
Draußen schien noch immer die Sonne, als hätte das Wetter noch nichts davon mitbekommen, wie sich in wenigen Augenblicken alles geändert hatte.
Keine Lust, so was Tolles wie dich mit jemandem zu teilen.
27. Selbstbeherrschung
Eigentlich willst du nichts lieber, als wegzurennen. Aber du kannst einfach nicht. Du kannst nur daneben stehen und spüren, wie es dich von innen kaputt macht…
Ich könnte schwören, dass die Rückfahrt mindestens dreimal so lange dauerte wie der Hinweg. Die Straßen wollten einfach kein Ende nehmen und immer wenn ich auf die Uhr schaute, musste ich feststellen, dass mal wieder nur maximal zwei Minuten vergangen waren. Ich war gleichzeitig stolz und wütend auf mich, weil ich Naiaras Erzählungen zuhörte – stolz darauf, als aufmerksame und nette Person rüberzukommen und wütend, dass ich es wirklich interessant fand, was sie sagte. Es war so schwer, irgendeinen Makel an ihr zu finden, beinahe unmöglich, sie nicht zu mögen. Vielleicht solltest du dann einfach aufhören, es so krampfhaft zu versuchen, sagte ich mir streng und konnte es doch nicht lassen, ihr ab und zu halb eifersüchtige, halb bewundernde Blicke zuzuwerfen.
Ich spürte, wie José mich ab und zu besorgt ansah und Augenkontakt suchte, doch ich wich ihm aus, weil ich meine eigene Reaktion nicht wirklich einschätzen konnte. Wenn sie mich etwas fragten, gab ich mir allergrößte Mühe, locker zu wirken und nicht allzu knapp zu antworten – ansonsten hielt ich mich aus dem Gespräch heraus, bekam jedoch trotzdem jedes Wort mit.
Und obwohl ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, an diesem Tag noch mal irgendwo anzukommen, sah ich schließlich das Haus in der vertrauten Straße auftauchen – und ich fühlte einen leichten Stich im Herzen, als mir klar wurde, wie selbstverständlich ich es als mein Zuhause wahrnahm. So als hätte ich nie woanders gelebt.
Ich stieg aus und während ich hinter José ins Haus ging, erwog ich für einen Moment, einfach zu sagen, dass es mir nicht so gut ging und mich dann für den Rest des Tages in meinem Zimmer zu verziehen, um auf den Morgen zu warten. Auf den Morgen, an dem er hoffentlich wie auch in meinen ersten Wochen hier zu mir kam, um mir mitzuteilen, dass es Frühstück gab, obwohl ich längst selbst wusste, wann es ungefähr soweit war. Aber ausnahmsweise siegte mal meine vernünftige Seite, die mich pflichtbewusst daran erinnerte, dass er sich dann nur Sorgen machen würde und ich ganz nebenbei ziemlich feige wäre. Es war erst der erste Tag, wenn ich nach zwei Wochen das Bedürfnis hatte, allein zu sein, okay, aber jetzt noch nicht. Nur ein bisschen durchhalten, das würde ich jawohl noch hinkriegen. Es war bereits früher Abend und ich könnte nach dem Essen auch bald schlafen gehen.
Also lief ich übertrieben geschäftig im Haus herum und tat so als würde ich etwas tun, räumte Naiaras Waschzeug weg, um hilfsbereit zu wirken, und ordnete die Handtücher im Badezimmerschrank sinnloserweise nach Farben. Aber auch wenn ich vielleicht in gewisser Hinsicht geistesabwesend war, achtete ich doch stets darauf, mich in seiner Nähe aufzuhalten und ihn im Auge zu behalten. Nur zur Sicherheit.
„Und was habt ihr so gemacht?“, fragte Naiara gutgelaunt beim Abendessen und ich biss mir auf die Lippe vor Nervosität. Bis jetzt war alles vergleichsweise harmlos verlaufen, aber gerade erinnerte mich die Situation ein bisschen zu sehr an das gemeinsame Mittagessen mit Serena und David. Ich beschloss extrem optimistisch, selbst einmal die Verantwortung über die Antwort zu tragen und rutschte auf meinem Stuhl herum, meine Finger malten abwesend unsichtbare Linien auf die Tischdecke.
„Nichts Besonderes“, antwortete ich schwach und kam mir bei dieser Lüge schlecht vor wie lange nicht mehr. Es war eine so unglaublich gigantische Untertreibung, dass es einfach auffallen musste – aber das war es kaum, was mir zu schaffen machte. Mehr störte mich das Wissen, meine wahren Gefühle verbergen zu müssen, so tun zu müssen, als wäre José einfach ein guter Freund oder so. Es war falsch und ich tat unserer perfekten Zeit zusammen Unrecht, indem ich sie in diesem Ausmaß herunterstufte. Ich hatte ihn eigentlich kurz ansehen wollen, aber ich konnte nicht. Stattdessen starrte ich feige auf meinen Teller.
„Spiel, Spaß und Abenteuer, wie immer“, ergänzte José und ich hätte ihm seine aufgesetzte Gelassenheit sogar abgenommen, wenn seine Hand auf dem Weg zur Milch nicht zufällig meine gestreift hätte.
„Ach. Na ja, dann erzählt mir eben später mehr.“ Ohne aufzuschauen wusste ich, dass sie dabei lächelte und ich fragte mich, wer von uns dreien sich wohl am grausamsten benahm, José weil er seine Fast-Frau anlog, Naiara weil sie meine schöne Welt kaputt machte oder ich weil ich ununterbrochen vor mich hinlog und ihn nicht einfach ihr überlassen konnte. Wahrscheinlich ich, aber ich war fest entschlossen, sie nicht als unschuldig abzustempeln.
„Klar“, entgegnete ich und schaffte es, sie anzulächeln. Wow, ich wurde besser.
Und damit war die Unterhaltung dann auch so ziemlich gelaufen, aber ich konnte das Resultat trotzdem nicht als positiv betrachten – warum auch immer. Ich musste mich nicht vor abendlichen Fernsehrunden drücken, weil Naiara müde von der Reise und so weiter war und konnte mich rasch in mein Zimmer verabschieden.
Als ich im Bett lag und an die Decke starrte, versuchte ich, den Tag auszuwerten – aber ich konnte es nicht. Alles was ich tun konnte, war warten. Warten darauf, dass meine Tür ohne jedes Geräusch aufging und er wider Erwarten hereinkam, mit dem Vorwand, die Vorhänge zuziehen zu müssen. Ich wusste, dass er heute nicht kommen konnte, aber tief in mir hoffte ich trotzdem, hoffte darauf, dass ich mich irrte und dass er zwei Zimmer weiter schlaflos wie ich im Bett lag und sich jeden Augenblick dazu entschließen würde, bei mir vorbeizukommen. Ich setzte mich auf und schaute nach draußen, um wach zu bleiben, auch wenn ich wusste, dass das dumm war und ich besser schlafen sollte. Fest entschlossen, ihn auf keinen Fall zu verpassen, sah ich hinaus in den Himmel – und irgendwann wurden meine Augenlider gegen meinen Willen schwerer und schwerer, bis ich schließlich aufgab und zuließ, dass der Schlaf mich überwältigte, mit den Gedanken schon beim nächsten Tag.
Ich weiß nicht, was mich später noch aufwachen ließ – ich würde gerne behaupten, seine bloße Anwesenheit, aber wahrscheinlich eher seine Berührung, als er meinen Kopf von der Fensterbank hob und wieder aufs Kissen legte. Aber ich wachte auf, alles was ich in der Dunkelheit sah, waren seine Umrisse und seine Augen und ich fragte mich, wie spät es wohl schon war. Er sagte nichts, sondern wickelte die Decke erst wieder richtig um mich herum – obwohl mir nicht kalt war – und setzte sich neben mich auf die Matratze. Einen Moment lang schwieg ich ebenfalls, um den Augenblick zu genießen, dann brach ich die Stille.
„Du bist gekommen“, sagte ich leise und drückte seine Hand, die er in meine geschoben hatte.
„Ja.“ Er küsste mich.
Menschen haben seltsame Angewohnheiten, mit ihren Gefühlen umzugehen. Eifersucht zum Beispiel. Ich denke, dass viele dem Schmerz aus dem Weg gehen oder sich ablenken, um nicht daran denken zu müssen. Ich gehörte nicht zu der Sorte, ich hatte meine eigene Methode. Denn irgendwie, wenn es richtig schlimm ist, kannst du es sowieso nicht vergessen, warum sollte ich es also versuchen? Wenn schon, denn schon – das Motto zog ich in den nächsten Tagen erstmal durch. Mitleidlos und egoistisch wie ich mich kannte war ich froh darüber, dass Naiara schon wieder arbeiten musste und ich mich den Vormittag über vollkommen meinem Bedürfnis Nummer eins namens José widmen konnte. Ja, ich sollte dankbar sein, dass ich wenigstens das hatte, ich weiß – aber stattdessen musste ich auch den endlosen Nachmittag ertragen, an dem sie leider fast immer da war.
Ich wurde Stammzuschauer von Josés und Davids Fußballtraining und ungewohnt hilfsbereit, wenn es darum ging, mit einkaufen zu gehen oder so – solange ich etwas mit ihm machen konnte, war es mir egal, was. Manchmal könnte ich es fast vergessen. Vergessen, dass sie wieder da war und in meinem perfektes Leben im Weg stand, von Zeit zu Zeit funktionierte es. Wenn ich schon am frühen Mittag an seiner Seite aufwachte, weil er zu mir gekommen war, sobald sie morgens weggefahren war. Wenn wir abends zusammen kochten und er sich darüber aufregte, dass ich in einer Küche eigentlich Hausverbot verdient hätte. Wenn ich im Liegestuhl neben Serenas Pool lag und halb am Schlafen war wenn er kam und mich ins Wasser schubste. Dann konnte ich für kurze Zeit vergessen, dass es außer uns noch jemand anderen auf dieser Welt gab.
Aber ansonsten war es die Hölle. Zusehen zu müssen, wie sie ihn küsste und all das tun durfte, was ich wollte, schien jedes Mal wieder elektrische Schläge durch meinen Körper zu senden. Ich hätte eigentlich nicht gedacht, dass ich jemals so ein Mädchen sein würde, das mörderisch eifersüchtig ist, aber ich hatte das wohl falsch eingeschätzt. Die Schwierigkeit bestand nur darin, dass ich Naiara einfach nicht hassen konnte – nicht dass ich so ein Mensch war, der in allen was Gutes sieht und so, nein, ich hasste einen Haufen Leute, aber bei ihr konnte ich es nicht. Abgesehen von der Tatsache, dass ich sie eigentlich sogar mochte, liebte sie ihn eben. Und wie konnte ihr das vorwerfen? War es nicht mehr als verständlich? War es nicht mehr als angemessen, wenn man bedachte, was für eine atemberaubend tolle Persönlichkeit er hatte?
Es war ein Mittwochnachmittag, an dem ich im Wohnzimmer auf dem Teppich saß und Fotoalben durchblätterte. José war mit der Mannschaft, die er trainierte, auf ein Turnier in eine Stadt in der Nähe gefahren und hatte mich schließlich davon überzeugen können, dass es für mich unendlich langweilig sein und er sowieso nur gehetzt in der Gegend herumlaufen würde – nur deswegen war ich zuhause geblieben. Naiara war nebenan in der Küche und räumte lautstark auf, aber mich störte der Lärm nicht. Ich war vollkommen gefangen in den Bildern der Vergangenheit und blätterte eine Seite nach der anderen um. Es hatte nicht wirklich einen Sinn, aber es war meine Art, mit dem Ganzen umzugehen – ich konnte dem Schmerz nicht einfach ausweichen und so ließ ich ihn zu. Um mich nicht vollkommen in Depressionen zu stürzen, machte ich es abwechselnd – ein Album aus seiner Kindheit, dann wieder eins von der Zeit, in der er und Naiara schon zusammen gewesen waren und meine Gefühle wechselten mit den Fotos.
Zum einen war es unglaublich, wie niedlich er als Kind gewesen war – wenn ich sah, wie er als kleiner Junge zur Schule gegangen war und draußen gespielt hatte, ging mir im wahrsten Sinne des Wortes das Herz auf. Andererseits schien es mich innerlich zu zerreißen, wenn selbst auf Fotos, blassen Abbildern der Wirklichkeit, die Liebe zwischen Naiara und ihm spürbar war. Sie waren einfach das perfekte Paar und ich war auf dem besten Weg, die ganze Harmonie zu zerstören. Aber trotzdem gelang es mir nicht, mir die ganze Schuld zu geben, ich konnte es einfach nicht. Für den Moment erlaubte ich mir, mich selbst zu bemitleiden und mir zu überlegen, wie wunderbar und hinterhältig das Schicksal manchmal doch sein konnte – wunderbar, weil ich ihn kennen durfte und hinterhältig, weil ich mich ja ausgerechnet in ihn verlieben musste, obwohl es mir ganz sicher nicht zustand.
Und plötzlich, zum ersten Mal seit scheinbaren Ewigkeiten, vermisste ich meine Mutter. Auf einmal wünschte ich mir nur, mich von ihr in den Arm nehmen zu lassen und einfach zu weinen, zuzuhören, wie sie mir tröstende Worte zuflüsterte, obwohl sie gar nicht wusste, was mit mir los war. Ich denke, für so was braucht man einfach Eltern – da reichen selbst die besten Freunde nicht aus…
„Warum tust du dir das nur an?“ Seine Stimme war die Einzige, die es fertig bringen konnte, mich aus meinen Gedanken zu reißen und mir gleichzeitig auf eine seltsame Art ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Schweigend sah ich ihn an, während er mir sanft das Album aus den Händen nahm und es zur Seite legte. Er wirkte erschöpft und trotzdem glücklich, was ich als sicheres Zeichen dafür interpretierte, dass seine Mannschaft gewonnen hatte – wahrscheinlich nachdem er am Spielrand beinahe wahnsinnig geworden war und sich gewünscht hatte, mitspielen zu können.
Vorsichtig ließ er sich neben mir auf dem Teppich nieder, warf einen schnellen Blick in Richtung Küche und zog mich dann halb auf seinen Schoß, wir wurden sowieso fast vollständig vom Sofa verdeckt. Dankbar lehnte ich mich gegen ihn und ließ zu, dass seine warme Hand eine verirrte Träne aus meinem Augenwinkel wischte, während ich seinen beruhigenden Duft einatmete und kurz vergas, wo wir uns befanden.
„Danke“, flüsterte ich kaum hörbar in sein T-Shirt hinein.
„Wir schaffen das schon“, erwiderte er nur, „hast du selbst gesagt.“
Ich hob leicht den Kopf, um ihn misstrauisch ansehen zu können. „Wann soll ich das denn gesagt haben? Ich war bestimmt nicht bei vollem Bewusstsein.“
Er lächelte. „Irgendwann gestern zwischen 7 und 11 Uhr morgens.“
Ich schnaubte verächtlich, wandte mein Gesicht jedoch so, dass er nicht sehen konnte, wie ich ebenfalls lächeln musste. „Nicht bei vollem Bewusstsein, ich sag’s ja. Das gilt nicht… vor allem kann ich mich sowieso nicht daran erinnern, überhaupt sonderlich gesprächig gewesen zu sein“, meinte ich.
„Gesprächig schon, nur nicht besonders vielseitig-“
„Ich will’s gar nicht genauer wissen“, unterbrach ich ihn schnell.
Er lächelte nur und spielte eine Weile schweigend mit meinen Haaren.
„Du hattest aber trotzdem Recht“, sagte er dann.
Wo ist denn dein Herz geblieben? – Bei ihm.
28. Limit
Wieso muss alles irgendwann enden?
Ich lag im Bett, als es mir wieder einfiel. Die ganze Zeit war es völlig offensichtlich gewesen und doch hatte ich es erfolgreich verdrängt. Aus gutem Grund.
Mir fiel ein, dass wir September hatten. Und dass nach dem September zwangsläufig der Oktober folgte. Und dass der Oktober mein Ende bedeutete. Im Oktober ging mein Flug zurück. Im Oktober waren sechs Monate um.
Minutenlang blieb ich unfähig mich zu bewegen liegen und untersuchte in Gedanken die Erkenntnis von allen Seiten. Zählte wieder und wieder die verbliebenen Tage nach. Konnte es einfach nicht glauben, dass die Zeit so schnell und unbemerkt an mir vorübergezogen war. Ich denke, ich war zu überrascht, um den absoluten Hammer-Schock zu bekommen, denn er wäre auf jeden Fall angebracht gewesen. Plötzlich wurde meine ganze (einigermaßen) heile Welt durchgewirbelt, meine Träume, Hoffnungen und Wünsche zerplatzten gleichzeitig. Ein Teil von mir hatte irgendwie angenommen, dass ich für immer hier bleiben würde, wie ich jetzt feststellen musste – dabei war das natürlich total unrealistisch, ich war hier nur auf einem sechsmonatigem Auslandsaufenthalt bei einer Gastfamilie und würde selbstverständlich wieder nach Hause, nach Deutschland, zurückkehren. Dort, wo ich hingehörte.
Aber das stimmt nicht, wusste ich tief in meinem Inneren. Hier ist jetzt dein Zuhause. Hier sind deine neuen Freunde. Hier gehst du zur Schule. Und hier ist er. Wo immer er ist, musst du auch sein, an seiner Seite ist dein einzig richtiger Platz in dieser Welt und du weißt es. Jetzt erst wurden mir die katastrophalen Ausmaße dieser Tatsache bewusst. Ich würde zurückfliegen müssen. Nur ich. Ohne ihn. Er würde hier bleiben und dann wieder hunderte Kilometer von mir entfernt sein. Alles könnte ich ertragen, ich würde überallhin reisen, alles in Kauf nehmen – wenn ich nur bei ihm bleiben durfte. Was sollte ich ohne ihn machen? Das, was ich vorher auch getan habe, gab ich mir selbst die Antwort. Aber was war das gewesen? Wie sollte ich Nico gegenübertreten, wenn ich doch die ganze Zeit nur an einen anderen denken konnte? Wie sollte ich mit meinen Freundinnen die glückliche, normale Jenny spielen, wenn ich doch viel lieber woanders wäre?
Ich wusste auf keine der Fragen eine Antwort. Ich hatte das Gefühl, als würde mir plötzlich die Luft zum Atmen genommen, als würde irgendwas Schweres auf mir lasten und mich niederdrücken. Vielleicht kam der Schock jetzt doch so langsam…
Ohne richtig darüber nachgedacht zu haben setzte ich mich auf und schlug die Decke zurück. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber es war mir egal – ich musste zu ihm, und zwar jetzt. Meine nackten Füße machten leise Geräusche auf dem Holzboden, während ich mein Zimmer durchquerte, die Tür aufstieß und über den Flur tappte. Es war ruhig im Haus, kein Geräusch außer meinem Atem und dem leisen Tippen meiner Finger, die sich langsam an der Wand entlang tasteten. Als ich vor der Tür ihres Zimmers stand, hielt ich kurz inne. Ich überlegte, vielleicht doch besser zurückzugehen und morgen mit ihm zu reden… Nein. Es musste jetzt sein und er würde es verstehen, so wie er immer verstand.
Ich drückte die Türklinke herunter, bevor ich es mir anders überlegen konnte, machte ein paar Schritte hinein und schloss die Tür schnell wieder. Dann drehte ich mich zum Bett um und wartete kurz, bis meine Augen sich an die Dunkelheit hier gewöhnt hatten, auf dem Flur war es heller gewesen. Für einen Moment konnte ich nur Naiara anstarren, die still und friedlich schlief, an seiner Seite, dort, wo mein Platz war. Ich unterdrückte einen Anflug von Eifersucht und ging auf Zehenspitzen zu dem joséförmigen Deckenknäuel auf der anderen Seite hinüber.
Vor ihm blieb ich stehen und konnte mich für eine Weile nicht dazu durchringen, die ruhige Harmonie zu stören. Nur ein Arm, sein halbes Gesicht und einige blonde Haare waren von ihm zu sehen und ich überlegte erneut, ob mein Anliegen nicht bis zum nächsten Morgen Zeit hatte. Doch dann dachte ich wieder daran, wie wenige Tage mir nur noch blieben…
Ich setzte mich vorsichtig neben ihn und strich ihm mit den Fingern sorgfältig das Haar aus der Stirn, bis es wieder einigermaßen ordentlich lag. Ich schob die Bettdecke ein Stück herunter, sodass ich sein Gesicht komplett sehen konnte und fuhr leicht über seine Wangen, sein Kinn, seine Stirn, versuchte jede einzelne Sommersprosse zu berühren.
Er war wahrscheinlich schon früher aufgewacht und hatte nur einige Sekunden mit geschlossenen Augen dagelegen, als er mich schließlich ansah. „Brennt das Haus gerade ab?“, fragte er verschlafen und blinzelte.
Ich musste lächeln, obwohl mir eigentlich überhaupt nicht danach war. „Nein.“
„Was gibt’s dann so Wichtiges? Ich dachte, wir sind immer bei dir verabredet…“ Er nahm meine Hand und verschränkte sie mit seiner.
Ich dachte eine Weile schweigend darüber nach, wie ich es am besten ausdrücken sollte. Er wartete geduldig und beobachtete mich nur. „Wir haben bald Oktober“, sagte ich dann nur und erwiderte seinen Blick, erleichtert sah ich, wie er sofort verstand.
„Ich weiß.“
Ich wollte ihn fragen, was wir machen sollten, wollte fragen, wie ich hier bleiben konnte. So viele Fragen, aber keine kam über meine Lippen. Meine Stimme gehorchte mir nicht, aber gleichzeitig war ich froh, dass er dieses unverständliche Talent hatte, in meinen Augen zu lesen und das zu erkennen, was ich nicht in Worte fassen konnte.
„Zunächst musst du zurück. Zu deiner Familie. Zu deinen Freunden. Es geht nicht anders. Aber wir finden einen Weg, ich verspreche es dir, okay? Nur für kurze Zeit. Wir telefonieren jeden Tag und dann bin ich bald wieder bei dir, irgendwie.“ Ich starrte das Blau seiner Augen an, während er sprach. Und ich wusste, dass er so was niemals von mir verlangen würde, wenn er es verhindern könnte. Die Tatsache, dass es als offensichtlich sein musste, machte mir Angst. Wenn er keinen anderen Weg sah, gab es keinen.
„Ich weiß nicht, ob ich das kann.“ Ich war nicht sicher, ob er meine Worte überhaupt verstand, es ging mir mehr darum, nicht an Ort und Stelle in Tränen auszubrechen. Wie konnte die Welt nur so unfair sein?
„Wenn ich das schaffe, tust du es erst recht. Ich weiß, dass es alles andere als einfach wird, aber ich weiß auch, dass wir das hinbekommen. Das zwischen uns ist anders als der Normalfall und was auch immer es ist, es kann die Entfernungen überwinden. Es ist stark genug, ich bin sicher.“ Er drückte meine Hand fester.
„Das hast du schön gesagt.“ Ich lächelte und spürte gleichzeitig, wie mir die Tränen über die Wangen liefen und auf die Decke tropften.
„Ich meine das ernst. Wirklich. Und jetzt solltest du schlafen gehen“, entgegnete er leise und richtete sich ein Stück auf, um mich zu küssen. Meine zurechtgelegte Antwort löste sich automatisch in Luft auf und ich war noch viel mehr abgeneigt, jetzt wieder zu gehen. Er gab mir noch eine Minute, dann löste er sich von mir. „Gute Nacht.“
„Ich kann sowieso nicht schlafen“, gab ich zurück.
„Du musst aber. Für mich.“
Ich verzog das Gesicht. „Das ist unfair.“
„Aber die einzige Begründung, die du akzeptierst. Und jetzt geh schlafen, ja? Wenn du aufwachst, bin ich bei dir.“
„Damit komm ich klar.“ Ich küsste ihn schnell noch einmal, dann richtete ich mich wieder auf, sah ihn noch eine Weile an und ging zur Tür. Als ich schon auf dem Flur war, glaubte ich noch immer seinen Blick auf mir ruhen zu spüren und lächelte versonnen vor mich hin. Ich sollte mich wirklich glücklich schätzen, ihn kennen zu dürfen.
Wann immer man einen Menschen zu sehr liebt, macht man Fehler. Man gibt einfach so sein Herz fort, offenbart Gefühle, tut alles, um den anderen glücklich zu machen. Eine Weile geht das gut. Man schwebt im siebten Himmel, kann an nichts anderes denken…
Aber irgendwann wird einem auch klar, dass der Mensch, den man liebt, gleichzeitig derjenige ist, von dem man von nun an abhängig ist. Vielleicht für immer. Liebe bedeutet immer Freude und Enttäuschung, Zuneigung und Sehnsucht, Perfektion und Verzweiflung. Natürlich kann man das nicht ändern, es ist einfach so und man muss damit leben – man kann nicht erwarten, im Leben etwas geschenkt zu bekommen. Eines Tages wird man selbst etwas dafür tun müssen und das ist auch gut so. Eine Liebe macht verletzlich, anfällig für Eifersucht, Kummer und Wut. Aber wenn man vor der Entscheidung steht, würde man nicht all das in Kauf nehmen, wenn man doch weiß, wie viele glückliche Momente man dabei erleben darf? Würde man sich nicht denken, dass es das wert ist?
Ich hatte es nicht selbst entschieden, es war einfach passiert. Aber ich bereute es nicht, auch wenn mir in den folgenden Tagen nur allzu bewusst wurde, was für einen riesigen Teil meines Lebens aus ihm bestand. Wie sehr ich mich daran gewöhnt hatte, dass ich abends in der Küche am Tisch saß und ihm beim Kochen zusah, dass wir nebeneinander am Strand saßen und den Sonnenuntergang beobachteten, dass er mich küsste, sooft ich wollte. Ich ging nicht davon aus, dass ich mich auf irgendeine Art auf das vorbereiten konnte, was kam, aber ich versuchte es trotzdem. Nur gibt es natürlich mehrere Möglichkeiten – einerseits kann man anfangen, sich die Gewohnheiten abzugewöhnen, andererseits kann man sie nur noch öfter ausüben, um sich dann später daran erinnern zu können. Ich hatte nicht wirklich die Wahl, es war sowieso klar, was ich wollte – so viel von ihm, wie möglich.
Das gestaltete sich schwierig, vor allem, weil ich jetzt wieder zur Schule musste und den Vormittag mit ihm verpasste. Ich hätte auch geschwänzt, aber das ließ sein Pflichtbewusstsein leider nicht zu und so beschränkte ich mich darauf, morgens mit ihm zu frühstücken und mich dann von ihm zur Schule fahren zu lassen. Mit ein bisschen Glück hatte ich ihn mittags dann noch für ein oder zwei Stunden für mich, aber oftmals kam Naiara bald von der Arbeit und alles, was mir blieb, war ein stummer Blickkontakt mit ihm beim Mittagstisch. Konnte so eine Beziehung aussehen? Ständig darauf bedacht, nicht aufzufallen, immer auf Abstand. Oft sagte ich mir, dass ich das nicht lange so weitermachen konnte. So ging es einfach nicht, ständig von ihm wegzubleiben, das konnte ich nicht, so stark war ich nicht und würde es nie sein. Ich dachte, geh zu ihm hin und sag es ihm so – und dann kann er entscheiden, was er dazu meint. Aber eigentlich wusste ich, dass ich das niemals tun würde. Für ihn würde ich alles durchmachen, wenn ich nur bei ihm sein durfte. Im Moment war es das Beste für alle, wenn wir weiterhin schauspielerten, auch wenn ich es hauptsächlich seinetwillen durchmachte.
Und – okay, es klingt seltsam – auf verrückte Weise fand ich es sogar irgendwie aufregend. Es erinnerte mich ein bisschen an Romeo und Julia, dass man die Beziehung geheim halten musste und so weiter. Natürlich war ich nicht sosehr daran interessiert, dass wir am Ende beide tot waren, aber romantisch war es trotzdem. Und seltsam wie ich war, fand ich irgendwie Gefallen daran, die Sache im Hintergrund abzuziehen und immer darauf zu achten, dass auch ja keiner etwas mitbekam.
Ich sagte ihm das aber besser nicht, aus Angst, er würde es albern finden – auch wenn ich in meinem Herzen wusste, dass er höchstens lächelnd die Augen verdrehen würde, um mich kurz darauf dann in den Arm zu nehmen. Wie viele Menschen können schon behaupten, so jemanden zu haben? Einen anderen, dem sie in jeder Situation blind vertrauen können, so was gibt es einfach viel zu selten auf dieser Welt…
Eigentlich fand ich diese Beziehungen albern, in denen vor allem das Mädchen immer Selbstbestätigung sucht und hören muss, wie ihr Freund ihr sagt, dass er sie liebt, obwohl sie es selbst wissen sollte. Aber allmählich schien ich mich selbst zu so einer Freundin zu entwickeln, genau so wie ich mittlerweile ein paar Kleinigkeiten nachvollziehen konnte, die ich nie verstanden hatte. Alles solche total kitschigen (und total schön romantischen) Floskeln, denen ich nie Glauben geschenkt hatte und es nur für gut klingende, erdachte Worte gehalten hatte – auf einmal schienen sie gar nicht mehr so weit hergeholt und das machte mir ein bisschen Angst, ich war nicht sonderlich scharf darauf, mich demnächst zu der Clique der geistig umnebelten, ihren Freund anbetenden Mädchen zu gesellen.
Die folgenden Tage schienen allerdings noch ganz andere Wirkungen zu haben, manchmal kam es mir vor, als würde ich vor Erleuchtungen gar nicht mehr denken können. Zum Beispiel gelang es mir ungefähr zum ersten Mal in meinem Leben Prioritäten zu setzen. Ich stellte fest, dass ich lieber jahrelang zusehen würde, wie José völlig unerreichbar für mich ein glückliches Leben mit Naiara führte und ich dann hier bleiben könnte, als dass ich in wenigen Wochen ohne ihn zurückfliegen wollte, was schon eine ziemliche Leistung von mir war wenn man bedachte, wie deutlich ich die unverkennbare Eifersucht jedes Mal spürte – bei jeder seiner zärtlichen Berührungen, die ich fühlen wollte, bei jedem sanften Blick.
Die Gedanken an meine Abreise holten mich immer ein, egal wie sehr ich abgelenkt wurde. Spätestens wenn ich abends im Bett lag (und genau wusste, dass sie jetzt bei ihm sein durfte, wofür ich am liebsten aufgesprungen, in ihr Zimmer gerannt und ihn ein für alle Mal für mich beschlagnahmt hätte), kamen die Ängste wieder. Die Angst, das alles hier zurücklassen zu müssen. Die Angst vor dem Abschied. Die Angst vor einer Fernbeziehung, die ich aber trotz aller unheilvollen Vorurteile eingehen würde – besser das als gar nichts, sagte ich mir. Es ist grausam, aber wahr: Je mehr man versucht, nicht an etwas zu denken, desto mehr tut man es. Und ich bekam schon Panikzustände, wenn ich nur daran dachte – in gewisser Weise war ich natürlich froh, Kathi, meine anderen Freunde und selbst meine Schwester wieder sehen zu können, aber das war nichts gegen den Haufen an Nachteilen, die mir einfielen.
Es war, als würde ich all die Theorien über unglückliche Beziehungen auf einmal bestätigt sehen, bei anderen im Kino oder so ist das vielleicht ganz nett, aber bei mir selbst wollte ich das alles überhaupt nicht haben.
Und ich hatte das Gefühl, dass mein wunderschöner Traum der letzten Monate vorbei war.
Alles, was ich wollte, war bei dir zu sein. Für immer.
29. Ende
…und aus irgendeinem Grund habe ich gedacht, dass ich nie wieder aufhören müsste zu träumen…
Unaufhaltsam verstrichen die letzten Wochen, die letzten Tage und wenn ich nicht vollkommen gesund gewesen wäre, hätte ich vermutet, dass sich eine monstermäßige Grippe anbahnte, denn genauso fühlte ich mich. Ich brauchte mir nicht irgendeinen blöden Kalender zu schreiben, damit ich mir merken konnte, wie lange ich noch hatte – jeden Morgen hatte ich das Gefühl, schon mit der Anzahl der verbleibenden Tage im Kopf aufzuwachen. Ich weigerte mich außerdem meine Sachen zu packen oder auch nur darüber zu sprechen, auch wenn das nicht gerade leicht war, wenn mich alle damit zuquatschten und nicht kapierten, dass das so ungefähr das Allerletzte war, worüber ich reden wollte.
Aber ich hatte trotzdem das Gefühl, vor meiner scheinbar unvermeidlichen Abreise noch einige Kleinigkeiten erledigen zu müssen, in Gedanken machte ich eine Liste der wichtigsten Punkte und arbeitete sie mehr oder weniger systematisch ab, wenn José nicht da war. Schließlich, es waren nur noch zwei Tage, beschloss ich dann, mein letztes wichtiges Vorhaben zu verwirklichen. Ich hatte es bisher vor mir her geschoben, war mir aber bewusst, dass ich es einfach wissen musste. So nutzte ich die Gelegenheit, als José bei seinem Training war (er hatte es in den letzten Tagen ausfallen lassen wollen – was ich echt unglaublich süß von ihm fand -, aber ich hatte beteuert, dass es mir wirklich nichts ausmachte und auch wenn er mir wahrscheinlich nicht ein Wort abgenommen hatte, war er hingegangen) und machte mich auf den Weg in die Stadt. Ich hatte kein bestimmtes Ziel, war mir aber sicher, dass ich die Person, die ich suchte, früher oder später treffen würde, wann immer ich unterwegs war, schien er mir zumindest über den Weg zu laufen.
Heute schien dieses Zusammentreffen eher später stattzufinden, aber ich war fest entschlossen, nicht umzudrehen. Ich wollte ihn aus einem mir unbekannten Grund noch einmal sehen und mit ihm reden, auch wenn es völlig verrückt war.
Und als ich dann zum dritten Mal an derselben Bank vorbeiging, sah ich ihn plötzlich. Er saß da, als hätte er dies auch die vergangenen drei Stunden getan, aber ich war mir sicher, ihn beim letzten Mal nicht gesehen zu haben. Zögernd blieb ich stehen und betrachtete ihn eine Weile von hinten, musterte sein dunkles Haar und die schmale Gestalt. Sollte ich ihn vielleicht doch nicht ansprechen? Nachher bildete er sich noch ein, ich würde ihn mögen…
„Was ist?“ Ich fuhr ertappt zusammen, als er mich aus den Gedanken riss und sah, dass er sich lautlos zu mir umgewandt hatte. Auf seinen Lippen lag das vertraute, unverschämte Grinsen und ich kam mir augenblicklich kein bisschen unsicher und hilflos mehr vor. Trotzdem bemühte ich mich um einen nicht allzu unfreundlichen Tonfall.
„Ich wollte dich nur noch etwas fragen.“ Ich starrte auf meine Schuhspitzen, um mich nicht von seinem Gesichtsausdruck provozieren zu lassen. „Bevor ich weg bin“, fügte ich hinzu – ich gebe zu, das tat ich absichtlich, um ein bisschen mitleiderregend zu wirken.
Der Straßenjunge schwieg eine Weile, dann stand er auf und klopfte sich seine Hosen ab. Als ob das etwas bringen würde, dachte ich insgeheim, sagte aber nichts. Stattdessen erinnerte ich mich etwas ungern daran, wie ich ihm das erste Mal begegnet war – als ich direkt vor seiner Nase der Länge nach hingefallen war. Ich war froh, als er jetzt etwas sagte und mich so davon ablenkte, es war nicht gerade einer meiner besten Tage gewesen.
„Du reist bald wieder ab, hm?“ Auch er sah mich nicht an und ich dachte hoffnungsvoll, dass ich mich vielleicht nicht als Einzige total dämlich fühlte.
„Ja. Sechsmonatiger Auslandsaufenthalt“, gab ich zurück. Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: „Äh… wie heißt du eigentlich?“ Ich hätte mich am liebsten geohrfeigt, weil ich genau hörte, wie zusammenhangslos und überhaupt nicht intelligent es klang. Aber irgendwie wollte ich es unbedingt wissen, ich hatte das Gefühl, dann beruhigter von hier abreisen zu können.
„Pablo. Hi.“ Ohne aufzuschauen wusste ich, dass er grinste und ich nahm die Hand, die er mir hinhielt und lächelte zurück.
„Hey. Ich bin Jenny“, erwiderte ich wenig geistreich und noch immer versonnen lächelnd. Schnell bemühte ich mich um einen ernsten Gesichtsausdruck, war aber nicht sicher, ob es mir besonders gut gelang.
„Sehr erfreut.“ Er hielt meine Hand noch kurz fest, dann ließ er seine wieder sinken, aber er grinste noch immer und ich hätte gerne gewusst, was er jetzt wohl von mir dachte. Oder auch lieber nicht. Ich war schon kurz davor mich mit einer Ausrede aus dem Staub zu machen, als er noch hinzufügte: „War schön, dich kennen zu lernen. Du kommst doch wieder, oder?“
Ich schluckte und sah wieder weg. „Klar.“ Zumindest hatte ich das vor. Ich musste einfach. „Äh, ich muss dann auch los, weißt du. Vielleicht sehen wir uns ja mal… irgendwann“, erklärte ich ziemlich lahm und unterstrich meine Rede mit einer unverständlichen Handbewegung.
„Okay. Wiedersehen.“ Er rührte sich nicht und so nahm ich an, dass er von mir erwartete, dass ich wegging. Also nickte ich ihm noch einmal zu, wandte mich um und ging den Weg, den ich gekommen war zurück. Einerseits war ich erleichtert. Andererseits irgendwie… traurig. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, würde ich denken, dass die Zeit vor einem Abschied beinahe noch schlimmer ist als der Abschied an sich.
Die letzten Tage bzw. Stunden waren so schlimm, dass ich sie am liebsten in meinem Leben überspult hätte – alle wünschten mir einen schönen weiteren Lebensweg, würden mich vermissen und so weiter. Ich glaube, am meisten schockierte mich die Tatsache, dass sie alle so mit mir redeten, als würden wir uns nie wieder sehen und vor allem hatte ich Angst, dass sie vielleicht Recht haben könnten. Aber ich weigerte mich, das zu glauben und war zumindest etwas beruhigt, dass ich wenigstens José auf meiner Seite hatte.
José. Jeder Abschied war schlimm, von hier wegzugehen war schlimm genug, aber ihn zurücklassen zu müssen, bei ihr, das war das mit Abstand Schlimmste. Widersprüchliche Gefühle kämpften in mir, wenn ich ihn ansah, Schmerz, Sehnsucht, Angst, Liebe, Glück. Was sollte man in meiner Situation auch fühlen? Ich glaube, am meisten hatte ich Angst. Angst vor dem was kommen würde, vor dem, was ich nicht kontrollieren konnte und nicht kannte, vor der Zukunft. Genau genommen vor der Zukunft ohne ihn. Eigentlich wollte ich noch nicht daran denken, aber ich konnte nicht anders, wenn es doch die ganze Zeit in meinen Gedanken war und mich von morgens bis abends beschäftigte…
„Du stellst dir einfach vor, dass ich bei dir wäre wenn wir telefonieren. Und sobald ich kann, sorge ich dafür, dass das auch so ist.“ Es war am Abend vor der Abreise. Er hatte es irgendwie geschafft Naiara dazu zu überreden, für diese Nacht zu einer Feier von ihrer Arbeit zu gehen und dort zu übernachten und ich merkte erst jetzt, wie dankbar ich ihm dafür war. Diese letzte Nacht wenigstens wollte ich ihn noch einmal für mich allein haben und nicht ständig darauf bedacht sein müssen, leise zu sein. Ich fand ausnahmsweise, dass ich mir das wirklich verdient hatte – wochenlang war ich (meistens) auf Abstand geblieben und hatte das Wir-sind-natürlich-nur-gute-Freunde-Theater mitgemacht, jetzt konnte ich nicht mehr. Und jetzt lag ich dicht an ihn gekuschelt in seinem Bett, draußen war es mittlerweile abends zu kalt zum am Strand liegen.
„Ich weiß, aber wann wird das sein? Wer garantiert mir, dass ich nicht warten muss bis ich erwachsen bin und zu dir kann?“ Es fiel mir schwer, den hysterischen Tonfall zu unterdrücken und nicht allzu nervös mit seiner Hand herumzuspielen.
„Vielleicht muss man einfach daran glauben.“
„Ja, vielleicht. Aber wenn ich nur daran denke, dass das hier vielleicht unsere letzte Nacht für immer ist, wird mir schon schlecht“, erwiderte ich verzweifelt. Diese Ungewissheit machte mich einfach rasend und das würde sie auch wohl noch eine Weile tun.
„Und wenn ich daran denke, dass das hier ganz sicher unsere letzte Nacht für jetzt ist und du fast weinst, wird mir
ganz schlecht.“ Er küsste mich und mein Herz fiel verlässlich ins doppelte Schlagtempo. Verrückt, wie beeinflussbar der menschliche Körper doch ist. Aber auch irgendwie schön.
„Vergiss nur noch für ein paar Stunden, was in der Zukunft alles passieren wird, ja?“ Seine Lippen wanderten meinen Hals hinab, meine Atmung wurde unregelmäßiger. Und auf einmal fiel es mir sehr leicht, alles außer ihm und mir zu vergessen.
Wenn ich später versuchte, mich daran zu erinnern, was ich am folgenden Vormittag gemacht hatte, konnte ich es nicht sagen. Alles verschwamm zu einem einzigen Strom aus mechanischen Tätigkeiten, duschen, Koffer packen, Sachen suchen, essen, mit meiner Mutter telefonieren, Smalltalk mit Aileen und einigen anderen hinter mich bringen, von José in den Arm genommen werden. Und dann kamen schon David und Serena, die mir mitteilten, dass sie auf Josés Rat hin keine Party zum Abschied organisiert, mir aber dennoch ein Geschenk organisiert hatten – auf ihr Drängen hin musste ich es an Ort und Stelle öffnen und tatsächlich stiegen mir Tränen in die Augen, als ich das Album mit Fotos der letzten Monate bewunderte.
„Danke, das ist so toll!“, sagte ich zum zehnten Mal und wischte mir wild an den Augen herum, meine Sicht war verdächtig wässrig.
„Damit du nichts vergisst.“ Serena umarmte mich, was sie eigentlich schon die ganze Zeit in regelmäßigen Abständen zu tun schien. Ich drückte sie fest an mich, wir standen in der offenen Haustür und ich war noch nicht bereit, mich endgültig von meinen Freunden zu verabschieden und ins Auto zu steigen. Irgendwie ging mir gerade alles zu schnell, ich hatte das Gefühl, dass die Zeit noch schneller verging als sonst.
„Wie könnte ich?!“, gab ich verspätet zurück, als ich wieder sprechen konnte ohne total verheult zu klingen. Das Ganze erinnerte mich an eine ähnliche Szenerie vor 6 Monaten in Deutschland, als sich alle von Kathi und mir verabschiedet hatten. Nur hatte ich da genau gewusst, dass ich zurückkommen würde…
„Wir sollten wirklich fahren, Jenny.“ José drückte mich kurz mit seinem Arm, den er schon vor einer Weile um meine Taille gelegt hatte, an sich. Ich hielt einen Moment inne, um zu genießen, wie er meinen Namen aussprach und wandte mich dann halb zu ihm um. Eigentlich wollte ich jetzt noch lange nicht fahren, aber ich wusste, dass meine Zeit mit ihm am Flughafen dann länger sein würde, also nickte ich.
Von der Seite kam Naiara zu mir und umarmte mich ebenfalls noch einmal fest – und ich konnte nicht anders, als auch sie fest an mich zu drücken. Im Grunde konnte ich einen so wunderbaren, netten Menschen wie sie einfach nicht hassen und ich wünschte, ich könnte wirklich mit ihr befreundet sein, könnte die unsichtbare Mauer aus meinen Lügen zwischen uns irgendwie überwinden. Aber das würde niemals möglich sein. Sie liebte José und ich tat es auch und deswegen konnte ich sie nie richtig lieben.
„Ich hoffe wirklich, dass wir uns wieder sehen. Die Zeit mit dir war wunderschön“, sagte sie so aufrichtig und herzlich zu mir, dass ich mir schrecklich schuldig vorkam und verlegen auf meiner Unterlippe kaute. Sie hatte eigentlich auch mit zum Flughafen kommen wollen, José hatte sie jedoch glücklicherweise davon überzeugt, hier zu bleiben – mit der tiefsinnigen Begründung, dass mir dann die Trennung leichter fallen würde und so.
„Ja, das war sie.“ Ich schaute zu Boden, unfähig, ihr dabei in die Augen zu schauen. Menschen wie ich gehörten eingesperrt oder umgebracht.
José schien zu merken, dass ich langsam am Ende war und zog mich hinter ihm her zum bereit stehenden Wagen. „Komm.“
Benommen ließ ich mich von ihm zur Beifahrerseite führen, er hielt mir die Tür auf und drückte mich sanft auf den Sitz, bevor er selbst auf der anderen Seite einstieg und den Motor anließ. Als sich das Auto in Bewegung setzte, wandte ich den Blick vom Haus ab, um nicht sehen zu müssen wie Serena, David und Naiara winkten.
Die Fahrt verlief schweigend, obwohl ich das Gefühl hätte, die Zeit nutzen und ihm noch irgendwas erzählen zu müssen. Aber ich konnte nicht, meine Kehle war sowieso schon wie zugeschnürt und so schaute ich starr geradeaus, ohne wirklich etwas zu sehen. Der Weg zum Flughafen war kurz und wir waren viel zu früh dort angekommen, er parkte, stieg aus und öffnete auch dieses Mal wieder meine Tür – ansonsten wäre ich wohl auch nicht ausgestiegen. Ohne ein Wort holten wir mein Gepäck aus dem Kofferraum und gingen nebeneinander auf das Gebäude zu, nur unsere Hände waren ineinander geschlungen, es war die Art, wie wir den Moment teilten und das ausdrückten, wofür es keine Worte gab.
Ich dachte an meine Ankunft hier, wie ich ihn zum ersten Mal im überfüllten Flughafen gesehen und angestarrt hatte und ich wollte gleichzeitig lächeln und weinen bei der Erinnerung. Sechs Monate lag es zurück und doch kam es mir vor, als wäre es erst gerade eben geschehen.
Heute war der Flughafen nicht voller Leute, die wenigen Gespräche waren gedämpft und unsere Schritte hallten laut als wir von Schalter zu Schalter, durch die Sicherheitskontrollen und zur Gepäckabgabe gingen. Und schließlich endeten wir in diesem großen Raum, in dem man auf das Flugzeug wartet – eine furchtbare Beschäftigung wie ich fand. Noch immer schwiegen wir beide, aber er hatte mich auf seinen Schoß gezogen und hielt mich nicht einen Moment lockerer.
Ich glaube, es war sein Geschenk, das meine Betäubung dann brach. Es waren nur noch wenige Minuten bis mein Flugzeug betretbar sein würde, da begann er plötzlich, in seiner Tasche herumzukramen.
„Ich hab auch noch was für dich. Zum Abschied“, sagte er dabei leise und ich biss mir nervös auf die Lippen, erwiderte jedoch nichts. Wäre ich selbstlos, hätte ich beteuert, dass ich nichts von ihm annehmen wollte, weil ich ja auch nichts für ihn hatte. Aber ich war es nicht, ich war egoistisch und so wollte ich sehr gerne etwas von ihm mitnehmen.
Dann richtete er sich wieder auf, seine rechte Hand versteckte er so, dass ich nicht sehen konnte, was darin war. „Augen zu“, ordnete er streng an und hielt sie mir mit der anderen Hand zu, bevor ich reagieren konnte. Ich spürte, wie er meine Finger mit seinen warmen auseinander bog und sie dann um etwas Hartes schloss, etwas mit Kanten. Plötzlich spürte ich schon wieder Tränen in meinen Augen brennen, auch wenn ich noch gar nicht wusste, was es war. Vielleicht wollte ich es auch nicht wissen, weil es mich traurig und glücklich zugleich machen würde.
Aber als er die Hand von meinen Augen nahm, blinzelte ich trotzdem und sah hinab zu unseren Händen – und ich hielt unbewusst den Atem an.
Sehr lange betrachtete ich den schlichten Rahmen und das Foto darin. Und die Personen auf dem Foto. Ich erinnerte mich noch genau, wann es aufgenommen worden war, es war noch nicht lange her, an einem der Tage, kurz nachdem Serena und David wiedergekommen waren. Wir waren vorher baden gewesen, unsere Haare waren noch feucht – meine ziemlich unordentlich, seine perfekt zerwuselt – und wir hatten uns zu zweit auf einen Liegestuhl gequetscht, weswegen es so aussah, als würden wir beide jeden Moment herunterfallen. Ich hatte leider erst danach gemerkt, dass Serena uns fotografierte, darum schaute ich ihn nur von der Seite leicht benebelt an, während er natürlich modelmäßig in die Kamera lächelte. Dadurch war das Bild noch gerettet worden und man konnte es durchaus als schön bezeichnen – auch weil es mich glücklich machte, uns zusammen zu sehen, so eingebildet das auch klang.
Ich sah zu ihm auf und das Erste, was ich sagte, war: „Hättest du mich nicht rausschneiden können?!“ Aber das, was ich meinte, war: „Es ist perfekt.“ Und er lächelte, weil er mich wie immer verstand und weil er natürlich genau gewusst hatte, dass es mir gefallen würde.
Ich umklammerte den Rahmen so fest, dass es wehtat und spürte, wie meine Tränen jetzt doch noch überliefen. Ich weinte, weil ich sein Abschiedsgeschenk in den Händen hielt und weil ich feststellen musste, dass ich im Grunde tief in mir drin die ganze Zeit nicht wirklich realisiert hatte, dass ich ihn verlassen musste. Irgendwie hatte ich gehofft, dass ein Zufall meine Abreise verhindern würde, was auch immer. Und jetzt wurde mir klar, dass das nicht eintreten würde, dass nichts mich davon abhalten würde, abzureisen. Das Wissen schnürte mir die Kehle zu, schluchzend holte ich Luft und hatte dennoch das Gefühl, an meinen Tränen zu ersticken.
Sein Gesichtsausdruck wurde besorgt und als ich den Schmerz in seinen Augen sah, weinte ich noch mehr und versuchte gleichzeitig, ihn anzulächeln, was mir aber kläglich misslang. Und in diesem Moment kam die Durchsage, die Aufforderung, das Flugzeug jetzt zu betreten.
Ich spürte, wie mich Panik überkam, wie mich die ganze Anspannung, der ganze Schock verspätet doch noch überwältigte. Weinend und keuchend ließ ich mich von ihm fest in den Arm nehmen, seine Lippen fanden meine. Der Kuss schmeckte hauptsächlich nach Tränen, zum Großteil nach meinen, aber auch nach seinen, und das machte mich nur noch trauriger. Ich versuchte, ihm nur mit diesem Kuss meine ganze Liebe zu vermitteln und mir war es mehr als egal, wer uns zusah und was die Leute denken sollten. Da waren nur er und ich und das grausame Abschiedsgefühl, in dem ich ertrank.
„Ich will bei dir bleiben“, brachte ich heraus, ich erkannte meine eigene Stimme nicht wieder, so verweint und außer Atem klang sie.
„Du musst jetzt ins Flugzeug, du verpasst noch den Abflug“, erwiderte er und durch den Tränenschleier hindurch sah ich, wie schwer es ihm fiel, das auszusprechen – wie gerne er etwas anderes gesagt hätte.
„Gut.“ Er war aufgestanden und noch immer klammerte ich mich fest an ihn, von Weinkrämpfen geschüttelt und voller unendlicher Verzweiflung, wie ich sie noch nie verspürt hatte. Dieser Abschied war so viel schlimmer als alles, was ich erlebt hatte. Wie konnte es sein, dass Menschen so was durchmachen mussten?
„Du musst. Ich werde zu dir kommen. Bald. Versprochen.“ Er küsste mich noch einmal, leidenschaftlich und hingebungsvoll.
Und das ließ mich schließlich erschlaffen, von einem Augenblick zum nächsten war all meine Kraft verschwunden und ich war nicht mehr in der Lage Widerstand zu leisten, als er meine Finger von ihm löste und sie stattdessen um die Koffer schloss.
„Ich liebe dich.“ Mit diesen Worten ließ er mich los, als er sicher war, dass ich nicht zusammenbrechen würde und ich hatte das Gefühl, meinen ganzen Halt zu dieser Welt zu verlieren. Trotzdem blieb ich aufrecht stehen. Ich wollte ihm sagen, dass ich ihn auch liebte, mehr als alles andere auf dieser Welt, aber ich fand meine Stimme nicht und war erleichtert, als er leicht nickte. Er hatte verstanden.
Und als ob das mein Kommando gewesen wäre, sah ich ihn noch einen letzten Augenblick an, dann drehte ich mich wie in Trance um und ging marionettengleich durch den tunnelartigen Gang zum Flugzeug.
Mir liefen Tränen über die Wangen, während mein Herz lautlos brach.
Ich dachte, wenn man sagt, dass man innerlich stirbt, wäre das bildlich gemeint.
Ich lag falsch.
30. Déjà-vu
Where is the good in goodbye?
Als ich mich endlich bis zu meinem Platz vorgekämpft hatte, ließ ich mich erschöpft in den Sitz sinken – ich machte mir gar nicht erst die Mühe, mein Handgepäck zu verstauen so wie die anderen Fluggäste es taten. Stattdessen sah ich aus dem kleinen Fenster und starrte hinüber zum Gebäude, doch es war unmöglich, Menschen darin auszumachen. Eigentlich war alles, was ich wollte, zu ihm zurückzulaufen, egal was das für Konsequenzen haben würde. Aber ich wusste, dass ich das nicht machen konnte und außerdem musste ich irgendwann wohl damit anfangen, stark zu sein. Bisher gefiel es mir überhaupt nicht, aber was konnte ich schon tun? Ich fühlte mich seltsam ausgelaugt, so als wäre ich gerade eben einen Marathon gelaufen (was an sich schon ziemlich unlogisch war, ich war nie die große Sportlerin gewesen), doch das war noch eins der geringeren Probleme.
Vielmehr hatte ich noch immer das Gefühl, keine Luft zu bekommen, auch wenn ich nicht mehr weinte – irgendwie waren keine Tränen mehr da, aber ich war sicher, dass man mir die vorangegangenen dennoch deutlich ansah. Zu meinem eigenen Erstaunen war es mir egal. Denn was zählte es noch, wie ich aussah?! Die Gewissheit, dass ich ihn zum letzten Mal für einen unbestimmten Zeitraum gesehen hatte, ließ mich keinen Augenblick lang los und es fühlte sich an, als hätte sie sich in meinem Kopf eingebrannt.
Ich bekam kaum mit, wie sich eine ältere Dame geräuschvoll neben mir niederließ und ignorierte die Sicherheitsanweisungen über den Gebrauch von Schwimmwesten. Still saß ich da, bis das Flugzeug startete und schließlich abhob. Erst dann spürte ich wieder etwas, mein Magen verkrampfte sich bei dem Gedanken, ihn jetzt völlig hinter mir zurückzulassen, den Ort zu verlassen, der mein Zuhause geworden war. War das normal, dass man nach sechs Monaten gar nicht mehr fort wollte?
Mit zusammengebissenen Zähnen schaute ich zu, wie der Ort unter mir kleiner wurde und wandte auch dann den Blick nicht ab, als ich gar nichts mehr erkennen konnte.
„Ist alles in Ordnung, Kind?“ Erschrocken fuhr ich zusammen, als die Frau neben mir mich ansprach, mein Kopf fuhr zu ihr herum. Ihr Blick war besorgt und mitleidig und ich bemerkte, dass mir wieder Tränen über das Gesicht rannen. Schnell wischte ich sie weg. Ich wollte kein Mitleid, ich wollte nicht reden. Aber ich wusste auch, dass sie es im Grunde nur gut meinte und nichts dafür konnte.
Also versuchte ich ein Lächeln und sagte: „Ja. Es geht schon.“ Ich hörte mir die Lüge deutlich an und ich war sicher, dass sie es auch bemerkte, aber sie schien sich damit zufrieden zu geben und wandte sich wieder ihrer Zeitschrift zu. Ich beobachtete sie noch einige Sekunden für den Fall, dass sie plante, mir übertrieben unauffällige Blicke zuzuwerfen, aber ihre Aufmerksamkeit galt zum Glück nicht länger mir.
Beruhigt drehte ich mich wieder zum Fenster um und lehnte den Kopf gegen die kühle Scheibe. Draußen zog die wenig abwechslungsreiche Wolkenlandschaft vorbei und ich glaubte beinahe zu spüren, wie meinem ohnehin schon wunden Herzen schmerzhafte Stiche versetzt wurden, je weiter ich mich von ihm entfernte, auch wenn mir bewusst war, dass ich mir das wahrscheinlich nur einbildete. Aber für Einbildung tat es ziemlich weh.
Ich hatte nicht wirklich Lust über das, was unvermeidlich auf mich zukam, nachzudenken – sprich: Zusammentreffen mit Freunden und Familie, speziell Nico; so gut es geht eine Fernbeziehung führen ohne das jemand etwas davon mitbekommt; mich irgendwie wieder in meinem alten Leben einordnen, das ich nicht mehr haben wollte. Ich versuchte also zu schlafen, wurde aber durch sinnlose Durchsagen und die Filme, die auf den kleinen Bildschirmen in der Mitte des Ganges liefen, zuverlässig wach gehalten. Als irgendwann von einer Stewardess das Essen gebracht wurde, schien mein Magen dann wieder Lust auf ein paar Saltos bekommen zu haben – nur beim Anblick wurde mir schlecht und die Stewardess bedachte mich mit einem bösen Blick, als ich das Gesicht verzog und hastig ablehnte.
Alles in allem hatte ich schon bessere Reisen erlebt und ich dachte dabei automatisch an meinen Hinflug vor sechs Monaten. Eine fast vollkommen gleiche Szene erlebte ich jetzt, nur das trotzdem alles anders war. Mein Leben war in der Zwischenzeit gründlich auf den Kopf gestellt worden und ich hatte Gefallen daran gefunden. Sehr viel Gefallen sogar. Und ich war ganz und gar nicht begeistert davon, mein Leben jetzt wieder hübsch aufzuräumen und alles in Ordnung zu bringen, was heißen würde, als Allererstes zu vergessen, was zwischen José und mir passiert war. Dieser Punkt überforderte mich bereits enorm – wie sollte ich bitte die beste Zeit meines Lebens vergessen, die ich mehr genossen hatte, als vielleicht (oder sehr sicher) gut für mich war. Natürlich sah ich ein, dass das für die meisten Personen das Beste wäre, aber dieses eine Mal wollte ich einfach selbstsüchtig und auf mich fixiert sein und ihn für mich behalten.
Außerdem war ich bereit, die Konsequenzen dafür zu tragen – okay, im Moment fühlte ich mich nicht so besonders danach, irgendwelche Probleme zu lösen, aber ich war dennoch fest entschlossen, das hinzubekommen, egal wie. Eingenommen von ihm wie ich definitiv war, glaubte ich ganz fest an dieses ganze Zusammen-sind-wir-stark-und-können-das-schaffen-Zeug – wenn ich so darüber nachdachte, traf sich das ganz gut, im Aufgeben war ich sowieso noch nie besonders gut gewesen.
Außer in einem Fall natürlich, erinnerte mein Gewissen mich streng. Oh ja. Mein Unterleib zog sich schmerzhaft zusammen. Konnte man sagen, dass ich Nico und mich aufgegeben hatte? Okay. Ja. Ich wollte realistisch bleiben und die Realität sagte mir ganz klar, dass es das alte ‚wir’ von uns beiden nicht mehr geben würde. Die Frage war nur, wie lange ich ihm noch das Gegenteil vorspielen sollte, denn etwas, wofür ich sicherlich noch nicht bereit war, war, mich seiner Enttäuschung und Trauer zu stellen, die höchstwahrscheinlich eintreten würde, wenn ich ihm das von José und mir eröffnete. Allein bei dem Gedanken bekam ich schon höchste Panikzustände, ich zählte es nicht zu meinen Talenten, mit verletzten Freunden zu kooperieren, die mir womöglich völlig berechtigte Vorwürfe machten und meine kaum vorhandene Selbstdisziplin auf die Probe stellten.
Mit diesen heiteren Gedanken schlief ich schließlich wohl doch irgendwie ein, denn später wachte ich von einer weiteren Durchsage wieder auf – in einer knappen Viertelstunde würden wir in Münster landen. Verdammt. War ich wirklich schon so weit weg von ihm?, dachte ich niedergeschlagen.
Ein Gutes hatte mein Schlaf jedoch, schlafen und weinen ging nicht so gut zusammen und so machte ich mir doch Hoffnungen, nicht mehr allzu verheult auszusehen. In der Scheibe konnte ich mein Spiegelbild leider kaum erkennen und so musste ich wohl oder übel darauf vertrauen, mit der Ausrede Ich-habe-eine-lange-anstrengende-Reise-hinter-mir durchzukommen.
Abgesehen davon hatte ich im Moment echt Besseres zu bedenken, zum Beispiel wie ich Nico gegenübertreten sollte. So wie ich ihn kannte und wie seine SMS mich auch vermuten ließen, hatte er darauf bestanden, mich beim Flughafen mit abzuholen. Großartig. Ich beschloss feige, in der kommenden Konfrontation mit ihm zu improvisieren und mit der positiven Kein-Plan-vorhanden-Einstellung ins Rennen zu gehen.
Als schließlich der Flughafen sichtbar wurde, hatte ich schon wieder dieses Déjà-vu-Gefühl, war nicht genau das vor sechs Monaten auch passiert, einige hundert Kilometer von hier entfernt? Ich kämpfte mühsam die Tränen zurück und rutschte nervös auf meinem Sitz herum, bis wir endlich auf der Landebahn zum Stehen kamen und alle Leute aufstanden.
Keinen Gedanken über José, nicht bis heute Abend im Bett, handelte ich mit mir aus, auch wenn es mir schwer fiel. Ich musste jetzt voll bei der Sache sein, wenn ich der versammelten Mannschaft gegenübertrat.
Mitten in der Menschenmasse lief ich durch den langen Tunnelgang zum Flughafengebäude, passierte einige Kontrollen und holte mein Gepäck (was ich eigentlich auch mit den anderen machen könnte, es jedoch schon jetzt tat, um das Zusammentreffen noch ein bisschen vor mir her zu schieben), dann fiel mir nichts mehr ein, was ich tun konnte. Minutenlang stand ich unschlüssig bei der Gepäckabgabe und rang mich schließlich dazu durch, in die große Halle zu gehen, in der meine Eltern und die (hoffentlich nicht allzu große) Begleitung auf mich warteten, bevor sie mich noch suchen gingen.
Jetzt hätte ich mir ganz gerne gewünscht, nicht so schnell entdeckt zu werden (so wie bei José und Naiara, dachte ich, bevor ich mich davon abhalten konnte) – aber das wäre ja auch Zufall gewesen, wenn ich so ein Glück gehabt hätte.
„Jenny! Da ist sie! Jeeeeeenny!“ Ich überlegte ganz kurz, vorzutäuschen, dass ich die Rufe nicht gehört hatte, entschied mich dann aber sehr erwachsen und pflichtbewusst dagegen und wandte mich mit einem leisen Seufzer zur Quelle des Übels um (in diesem Fall namens Betty).
Ich musste mich noch nicht einmal bewegen, denn da sprang mir meine kleine Schwester schon in die Arme, gefolgt Kathi (die ein paar Tage vor mir zurückgekommen war), meinen Eltern und – verdammt – Nico. Alles endete in einer Massenumarmung und ich sagte hin und wieder „Hey“ und „Mir geht’s gut“ und damit war mein Part erledigt.
Zumindest vorübergehend. Alle wollten mich natürlich noch einzeln erdrücken und ich hielt unwillkürlich die Luft an, als Nico mir wieder um den Hals fiel.
„Ich hab dich so vermisst“, flüsterte er mir ins Ohr und küsste mich ohne jede Vorwarnung, was vielleicht ganz gut war, weil ich sonst womöglich ausgewichen und aufgefallen wäre. So versuchte ich, seinen Kuss so minimal wie möglich zu erwidern, um nicht allzu distanziert zu wirken – trotzdem war es mir furchtbar unangenehm und ich wusste nicht, was mein schlechtes Gewissen mehr nährte, einen anderen als José zu küssen oder Nico etwas vorzuspielen. Ich wünschte mir so sehr, dass es José sein könnte, der mich küsste, aber allein daran, dass es nicht seine warmen weichen Lippen waren, die auf meinen lagen, erkannte ich, dass mir der Wunsch nicht erfüllt wurde…
Na toll. Das war’s dann wohl mit dem nicht an ihn
denken. Egal.
„Ich euch auch“, erwiderte ich schließlich, darauf bedacht, nicht nur Nico anzusprechen.
„Du musst uns alles erzählen, Schatz, ich bin so froh, dass du endlich wieder bei uns bist! In letzter Zeit hast du gar nicht mehr so oft angerufen und wir dachten uns, dass vielleicht was los ist“, redete meine Mutter auf mich ein, während sie mir das Gepäck abnahm und mich in Richtung Ausgang schob.
„Ja, du musst uns wirklich eine Menge erzählen“, fügte Kathi hinzu und warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu. Ich tat so, als würde ich es nicht bemerken.
„Äh, ja, also es war nichts los, keine Sorge… ich hatte nur mit packen zutun und so“, log ich ohne jemanden dabei anzusehen. Zum Glück waren alle viel zu abgelenkt, um das zu bemerken und auf dem Weg zum Auto musste ich die meiste Zeit einfach nicken und lächeln. Was an sich leicht gewesen wäre, wenn man denn in der Lage gewesen wäre, aufrichtig zu lächeln, dachte ich düster und schlug die Wagentür etwas fester zu.
Ich schaffte es irgendwie, Betty zwischen Nico und mir zu arrangieren, damit ich nicht die ganze Fahrt über neben ihm sitzen musste – ich spürte wieder Kathis Blicke auf mir ruhen, beschloss aber, sie weitestgehend zu ignorieren. Was wollte sie auch von mir hören? Okay, ich hatte ihr nicht so wirklich alles mit José und mir erzählt – genau genommen wusste sie nur, dass ich ihn heiß fand und das war ja kein Verbrechen. Manche Schauspieler fand ich schließlich auch ziemlich scharf und die Tatsache, dass er mit einer anderen zusammen und außerdem viel älter als ich war, sollte sie eigentlich beruhigen, oder?!
„Wie war’s denn so? Erzähl schon.“ Irgendwie schaffte Nico es trotzdem, mich über Betty hinweg mit seinem intensivsten Blick zu mustern und gleichzeitig dieses supersüße Lächeln aufzusetzen. Verdammt.
„Ähm… na ja, es war schon richtig cool da. Nette Leute und so, tolle Umgebung, alles was man sich wünschen kann.“ Und noch mehr, ergänzte ich in Gedanken wehmütig.
Es war mein Vater, der mich dann rettete. „Du bist sicher müde, nicht wahr? Du kannst in den nächsten Tagen ja immer noch erzählen, das ist sicher eine Menge.“
„Genau!“, sagte ich fast etwas zu enthusiastisch und gab mir Mühe, erschöpft und geschafft auszusehen – nach dem Flug fiel mir das auch nicht schwer.
Vollkommene Ruhe gönnte mir natürlich während der Fahrt trotzdem keiner und ich war froh, als ich das Gesprächsthema erfolgreich auf Kathis Englandreise gelenkt hatte und ich nur noch zuhören und zwischendurch ein „Hm“ oder „Wow“ von mir geben zu müssen.
Als endlich unser Haus in Sicht kam, war es schon relativ spät und ich entschied, mich am besten direkt in mein Zimmer zu verkrümeln. Mein altes Zimmer. Ich hielt unwillkürlich den Atem an, als das Auto vor dem Haus zum Stehen kam – ich hatte es lange nicht mehr gesehen, aber ich war doch irgendwie erleichtert, dass es mir vertraut vorkam. Trotzdem machte mich der Gedanke, dass mein Zuhause bei Naiara und José jetzt wieder durch mein Altes ersetzt werden würde, traurig.
„Ich würde am liebsten sofort ins Bett gehen, okay?“, kündigte ich vorsichtig an, während wir meine Sachen hineintrugen – ein kurzes Glücksgefühl durchströmte mich, als mir der Geruch des Hauses entgegenschlug und ich die Möbel betrachtete, es kam mir plötzlich vor, als wäre ich nur für ein paar Tage fort gewesen.
„Ich dachte, ich könnte vielleicht noch ein bisschen bleiben…“ Nico sah mich an und sein liebevoller Blick bereitete mir wieder ein schlechtes Gewissen. Zwei Freunde auf einmal waren echt nicht gut, vor allem, wenn man genau wusste, dass man den einen früher oder später enttäuschen musste – und in meinem Fall war auch klar, wer von beiden das sein würde.
„Sorry, ich bin echt kaputt… morgen, okay?“ Ich wusste, dass es nicht fair war, aber ich setzte meinen besten bittenden Gesichtsausdruck auf und sah sogleich, dass ich gewonnen hatte, sein Blick wurde verständnisvoll. Dabei verstand er eigentlich gar nichts…
Mehr um mein Schuldgefühl etwas zu dämpfen, als ihn zu trösten, ging ich zu ihm und küsste ihn so flüchtig wie möglich. Dass es so schnell ging, verwirrte ihn zwar offensichtlich, doch er schien versöhnt. „Ich hab dich so vermisst, weißt du. Ich liebe dich.“
Oh-oh. Ich biss mir auf die Lippen. Für falsche Liebesbekundungen war ich definitiv nicht bereit, also lächelte ich nur (auch wenn ich mir dabei selbst gemein vorkam) und machte mich hastig auf den Weg nach oben.
Sobald ich meine Zimmertür hinter mir geschlossen hatte, ließ ich mich daran herabsinken und die Tränen überlaufen. Schon wieder.
Keiner bemerkt es. Das falsche Lächeln.
31. Ein schlimmer erster Tag
Und mit jeder Sekunde vermisse ich dich mehr.
Es war warm. Schön warm, es fühlte sich vertraut an. Und es war nicht nur die Wärme der Umgebung, sondern vielmehr die des Körpers, der dicht neben mir lag. Ich wandte den Kopf, auch wenn ich schon vor dem Blick in sein Gesicht wusste, dass er es war. Er beobachtete mich und ich starrte zurück – vollkommen gefesselt von seinen blauen Augen. Ich hörte von draußen das Meer rauschen, doch eigentlich waren da nur er und ich auf der Welt, gar keine schlechte Vorstellung. Eher das Gegenteil.
Wie von alleine musste ich lächeln, als ich spürte, wie glücklich ich im Moment war – nur weil er da war, er, der mein Leben mehr als perfekt machte. Jeden Tag. Eigentlich müsste das jeder Mensch einmal erleben dürfen, fühlen, wie es ist, richtig geliebt zu werden.
Als ob er schon wieder meine Gedanken gelesen hätte, beugte er sich zu mir herüber und küsste mich, lange und sanft. Adrenalin schoss durch meinen Körper, ich spürte seinen Herzschlag und meinen eigenen, der in rekordverdächtigem Tempo alles andere zu übertönen schien. Trotzdem war ich auf seltsame Weise ganz ruhig – vielleicht weil er diese Sicherheit ausstrahlte und sie irgendwie auf mich übertrug.
Aber im Moment war das egal. Alles war egal. Außer ihm.
Ich blinzelte. Es war dunkel. Und gar nicht mehr warm… wo war er nur? Suchend tastete ich mit einer Hand neben mich, doch ich fand ihn nicht. Verwirrt setzte ich mich auf. Wo war er denn so schnell hingegangen?! Aber er war nicht hier, egal wie lange ich suchte. Er war einfach nicht mehr da…
Meine Bewegungen wurden hastiger, panischer. Ich musste doch wissen wo er war…! Eben hatte er doch noch neben mir gelegen, hatte er mir denn nicht gesagt, dass er wegging? Vielleicht ist er gerade im Bad, dachte ich wenig überzeugt. Warum war die Stelle neben mir so kalt? So kalt, dass man denken könnte, er hätte in dieser Nacht nie dort gelegen…
Meine Atmung ging unregelmäßig. Wo war er? Wo? Irgendetwas war nicht in Ordnung, ich spürte es. Was war es? Er würde es mir sagen… wenn er da wäre…
Tränen liefen mir die Wangen herunter, als es mir plötzlich wieder einfiel. Natürlich. Natürlich war er nicht da. Er war doch weg. Nein, ich war weg. Er war noch immer dort, wo er hingehörte und wartete auf mich.
Ein Schrei. Schluchzend, atemlos. Mein eigener. Erschrocken verstummte ich, meine Finger umklammerten die Bettdecke. Nur ein Traum. Es war doch nur ein Traum, sagte ich mir und versuchte, wieder normal zu atmen. Nur ein Traum. Nur ein Traum.
… aber sehr realistisch für einen Traum. So konnte das doch jetzt unmöglich jede Nacht gehen, oder?! Ich beschloss, lieber nicht darüber nachzudenken und legte mich wieder hin, auch wenn ich wusste, dass ich nicht mehr wieder würde einschlafen können. Ich hatte zu große Angst vor dem, was mein Unterbewusstsein mich glauben machen wollte.
Es war eine grauenhafte Nacht gewesen. Obwohl ich gedacht hatte, dass mir das Einschlafen nach der Reise nicht schwer fallen müsste, hatte ich scheinbar ewig wach gelegen – glücklicherweise war Wochenende. Aber das war es eigentlich gar nicht gewesen. Denn sobald ich dann endlich eingeschlafen war, kamen die Träume. So glaubwürdig, so wünschenswert.
Und ich wollte es ja – während ich träumte, fühlte ich mich rundum wohl, nur wenn ich aufwachte, war der Schmerz noch schlimmer als vorher. Aber ich war bereit, den Schmerz, die Erkenntnis, dass er nicht da war, zu ertragen, denn die Träume taten so gut, dass ich nicht darauf verzichten wollte. Ich hatte das Gefühl, ihn so nicht verlieren zu können, mich so immer wieder an sein Gesicht erinnern zu können. Denn das war die größte Angst – zu vergessen, wie es war, ihn an meiner Seite zu spüren und zu berühren, etwas, was ich in nächster Zeit nicht würde tun können.
Naiara schon, flüsterte es in mir und ich biss mir auf die Lippe. Nicht daran denken.
Ich hatte ihn gestern Abend unglaublich gerne noch angerufen, doch ich war so durch den Wind gewesen, dass ich es dann bei einer SMS belassen hatte – auch wenn ich viel lieber seine Stimme gehört hätte. Aber er würde merken, dass es mir schlecht ging und dann würde es ihm auch schlecht gehen, weil er nichts dagegen tun konnte.
Jetzt. Jetzt könntest du ihn anrufen, dachte ich hoffnungsvoll. Mein Blick glitt automatisch zu meinem Handy auf dem Nachttisch. Es war so ziemlich das Einzige, was ich schon ausgepackt hatte – mein restliches Gepäck lag unberührt in einer Ecke, ich hatte mich nicht wirklich dazu in der Lage gefühlt, in Erinnerungen zu versinken.
Oh, und das Bild hatte ich schon aus meiner Tasche herausgeholt. Das Bild von uns beiden in dem Rahmen. Ich wusste, früher oder später würde ich es meinen Eltern und vor allem Nico erklären können – nur so freundschaftlich sah es nicht wirklich aus. Aber es einfach irgendwo verstauben lassen konnte ich noch weniger und deswegen stand es jetzt ebenfalls auf dem kleinen Tisch, griffbereit.
Ich betrachtete es, Josés Lächeln und das war’s dann. Ich musste jetzt mit ihm sprechen, ich hatte schon viel zu lange gewartet. Bevor mich noch irgendein Rest Vernunft davon abhalten konnte, nahm ich entschlossen mein Handy in die Hand, mit traumwandlerischer Sicherheit flogen meine Finger über die Tasten und wählten seine Nummer. Dann hielt ich es an mein Ohr und wartete. Ungeduldig trommelte ich mit den Fingerspitzen der anderen Hand auf die Bettkante, auf der ich saß und ich fragte mich, ob ich vielleicht noch etwas hätte warten sollen – es war noch ziemlich früh und-
„Jenny?“ Ich konnte einen erleichterten Seufzer nicht unterdrücken, als ich er meinen Namen sagte. Es war eine gute Entscheidung gewesen, ihn anzurufen.
„Ja“, erwiderte ich nur, hauptsache er sagte etwas, damit ich ihm zuhören konnte.
„Wie war der Flug? Wie geht’s dir jetzt?“ Er klang besorgt und ich gab mein Bestes, diesen Unterton aus seiner Stimme zu vertreiben.
„Ich bin gut angekommen, alles okay. Eigentlich wollte ich gestern Abend anrufen, aber es war dann doch ein bisschen viel… mit Nico und so. Ich wünschte, du wärst hier.“ Geschickt umging ich die Antwort auf seine Frage nach meinem Befinden.
„Ja, das… dachte ich mir.“ Ich stellte mir vor, wie er die Stirn runzelte und sich mit einer Hand durchs Haar fuhr. „Ich hatte dir noch eine SMS geschickt, wegen der Reise und so. Ich wäre auch gerne bei dir, du weißt nicht wie sehr… Ist mit deinen Eltern alles okay? Nico?“
„Hab ich gesehen, aber ich wollte dich jetzt einfach anrufen und hab sie gar nicht gelesen.“ Ich biss mir auf die Lippe. „Nico hat mich ziemlich vermisst, glaube ich. Ihn muss das wesentlich mehr mitgenommen haben als ich und er ist so froh darüber, dass ich wieder da bin…“ Ich seufzte.
„Das kann ich gut nachvollziehen.“ Er seufzte ebenfalls, klang nur im Gegensatz zu mir viel besser dabei. „Schon okay, den Anruf hatte ich nötig.“
„Ja, ich auch. Ich vermisse dich jetzt schon.“ Ich wollte eigentlich noch mehr sagen, brach aber ab aus Angst, dass ich weinen müsste.
„Ich dich erst. Aber du musst dich jetzt wieder auf dein Leben konzentrieren, okay? In sechs Monaten ist bestimmt auch bei deinen Freunden viel passiert und jetzt haben sie dich endlich zurück – also mach dir nicht so viele Sorgen und denk nicht dauernd an mich.“
Ich schnaubte verächtlich. „Das mit dem nicht an dich denken kannst du schon mal vergessen. Und das mit meinen Freunden… ich versuch’s.“ Ja, und mir graute jetzt schon davor.
„Gut. Wenn was ist, dann… ruf einfach an. Ich bin erreichbar und Serena würde sich bestimmt auch über einen Anruf freuen. Aber ansonsten sprechen wir heute Abend wieder.“
„Versprochen?“ Ich musste einfach diese Absicherung haben, damit ich auf den Abend hinarbeiten und mich darauf freuen konnte. Wie sollte ich sonst den Tag überleben?
„Ja. Ich ruf dich an.“
„Okay“, sagte ich nur, weil ich noch nicht auflegen wollte.
Er schwieg kurz. „Ich liebe dich“, sagte er dann zärtlich und mein Herz machte einen kleinen, aufgeregten Sprung vor Freude.
„Ich liebe dich auch.“ Zu spät bemerkte ich, dass meine Stimme tränenerstickt klang.
„Nicht weinen. Ich bin da.“
„Hm-hm“, machte ich schwach.
„Bis heute Abend.“
„Bis heute Abend.“ Und ich zwang mich dazu, aufzulegen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass das hier alles noch schlimmer werden würde als ich befürchtet hatte.
Ich stellte mal wieder fest wie nah ich am Wasser gebaut war, als ich mich irgendwann dann doch dazu überwinden konnte, meinen Koffer auszupacken. Denn mitten zwischen meiner Kleidung (alles viel zu dünn und sommerlich) fand ich schließlich noch mein Lieblings-T-Shirt von ihm – er hatte es oft getragen und es hatte an ihm, wie alles was er trug, einfach nur unfassbar gut ausgesehen. Er musste es unbemerkt von mir eingepackt haben und es roch noch wunderbar nach Sonne, Meer, Strand und vor allem nach ihm.
Minutenlang saß ich weinend und doch lächelnd auf dem Boden meines Zimmers und hörte erst dann abrupt auf, weil ich zu meinem Entsetzen bemerkte, wie meine Tränen auf den Stoff tropften. Sorgfältig faltete ich es zusammen und legte es vorübergehend unter mein Kissen – auch wenn ich es am liebsten direkt angezogen hätte.
Ich schrieb ihm zum Dank eine lange SMS und schloss sie schließlich mit einem hastigen Abschiedsgruß ab, weil meine Augen schon wieder verdächtig feucht wurden.
Irgendwie war ich heute zu überhaupt nichts zu gebrauchen – und ausgerechnet dann rief Kathi mich an und fragte (oder eher befahl mir), ob ich zu ihr kommen wollte. Ich sagte nur zu, weil sie ansonsten zu mir gekommen wäre und mein Zimmer womöglich inspiziert hätte und ich verbrachte eine geschlagene Viertelstunde vor dem Spiegel, um mich mit Make-up zuzukleistern, bis der größte Schaden einigermaßen unsichtbar war. So machte ich mich mit ungutem Gefühl im Bauch auf den Weg zu ihr und stand schließlich vor ihrer Haustür.
Ich hob gerade die Hand um zu klingeln, als sie auch schon aufmachte – vermutlich hatte sie seit sie mich angerufen hatte auf mich gewartet.
„Hi.“ Ich lächelte und merkte selbst, wie unecht es wirkte. An meinen schauspielerischen Fähigkeiten musste ich wohl noch dringend üben.
Sie verdrehte die Augen. „Komm rein.“
Ich merkte ihr an, dass sie halb wütend und halb neugierig war und ich war nicht gerade in der Stimmung, sie zu beruhigen. Zögernd folgte ich ihr in ihr Zimmer und erwartete fast, dass sie die Tür zuschloss und mich irgendwo festband, damit ich mich ihrem Verhör stellen musste. Stattdessen drehte sie sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu mir um und versperrte den Fluchtweg zur Tür.
„Dann mal los.“
Ich stellte mich dumm. „Was denn?“
Keine so gute Idee. „Was denn?! Du hast mir in deinen letzten zwei Monaten auf der anderen Seite Europas vielleicht vier SMS geschrieben und in dem einzigen vernünftigen Mail-Austausch vor ich-weiß-nicht-wie-vielen Wochen ging es darum, wie unglaublich scharf dieser Gastfamilientyp ist. Gestern verschwindest du dann nach oben, sobald Nico auch nur ein Mal was Liebevolles zu dir gesagt hast und im Auto hast du lieber neben deiner kleinen Schwester gesessen als neben ihm! Und dann fragst du ‚was denn’?!“ Kathi atmete einmal tief aus, während ihrem Vortrag war sie wie ein gefangener Löwe durch ihr Zimmer gestapft und ich hatte es nicht gewagt sie zu unterbrechen.
Jetzt stand ich auch auf. „Das konnte man eben nicht mal so eben per Mail klären! Du verstehst gar nichts und bildest dir schon deine Meinung, obwohl du nur einen Bruchteil der Geschichte kennst.“
Sie sah mich an. „Dann erklär mir den Rest.“
Ich drehte mich um und ging zum Fenster, ich konnte ihren intensiven Blick nicht länger ertragen. Kathi war meine beste Freundin hier. Wenn ich es jemandem erzählen konnte, dann ihr. Und ich musste es dringend jemandem erzählen, der nicht völlig in die Sache verstrickt war…
„Es ist ziemlich kompliziert“, fing ich schließlich an und beobachtete die leere Straße draußen. Und dann erzählte ich ihr alles. Ja, sie hatte wirklich nur einen minimalen Teil mitbekommen, wie ich jetzt erneut feststellte, während ich ihr meine ersten Wochen dort beschrieb. Wie ich José vom ersten Augenblick im Flughafen an angehimmelt hatte und wie es immer schlimmer geworden war. Wie ich dann erfahren hatte, dass ich wochenlang mit ihm allein sein würde und wie ich von morgens bis abends Zeit mit ihm verbracht hatte, jeden Tag neue, wunderbare Seiten an ihm entdeckt hatte. Wie ich dann diesen Grippeinfekt hatte und er die ganze Nacht bei mir geblieben war und wie wir zusammen am Strand gesessen hatten. Wie er viel mehr wurde als mein bester Freund und mich schließlich in jener Nacht zum ersten Mal geküsst hatte. Wie ich festgestellt hatte, wie sehr ich ihn wollte und wie ich eines Morgens neben ihm in seinem Bett aufgewacht war. Wie ich endlich begriffen hatte, dass er mich auf wundersame und verrückte Weise auch liebte und wie ich schließlich mit ihm geschlafen hatte (okay, hier ließ ich die Details aus, aber ich hörte trotzdem, dass Kathi scharf die Luft einzog). Den Rest fasste ich hastig in wenigen Sätzen zusammen und dann war ich endlich fertig.
Es dauerte einige Zeit, bis ich es wagte, mich zu ihr umzudrehen und eine weitere halbe Ewigkeit bis auch sie mir ins Gesicht sah. Sie hatte sich aufs Bett gesetzt und ihr Gesicht zeigte eine seltsame Mischung aus Unglauben, Schock und Faszination.
„Sag doch was“, flehte ich sie leise an. Besser ich brachte es schnell hinter mich.
Und das Erste, was sie sagte, war: „Ich glaub’s nicht, du bist wirklich keine Jungfrau mehr!“ Auch wenn mir überhaupt nicht danach war, musste ich lachen und es dauerte eine Weile bis ich wieder ernst wurde. „Ist das alles?“
Sie funkelte mich an. „Nein, aber ich kann nicht in Worte fassen, wie abgefahren das alles klingt. Wenn ich nicht wüsste, dass so was haargenau zu dir passt und wenn ich nicht gestern gesehen hätte, wie du dich dementsprechend verhalten hast, würde ich dich wahrscheinlich einweisen. Was hast du dir nur dabei gedacht?!“
Ich seufzte. „Gar nichts. Vielleicht bin ich einfach meinen Gefühlen gefolgt?!“
„Ich mein’s ernst, wie soll das denn jetzt weitergehen? Machst du Schluss?“
Entsetzt, dass sie überhaupt auf die Idee kam, starrte ich sie an. „Auf keinen Fall!“
„Und was soll aus Nico werden?“, konterte sie, jetzt wieder im Stehen.
„Ich weiß es noch nicht, aber da fällt mir schon noch was ein.“
Sie fuhr wieder zu mir herum. „Mit anderen Worten, du willst es vor ihm geheim halten. Ist dir klar, dass du ihn total ausnutzt?!“
Ich spürte, wie ich wirklich wütend wurde und zurzeit hatte ich echt nicht die Kraft, es zu verhindern. „Oh ja, klar, du
würdest natürlich direkt zu Nico gehen und ihm alles gestehen – oder vorher am besten den, in den du dich verliebt hast, abservieren, um ihn nicht zu verletzen!“ Ich wurde lauter.
„Ja, das würde ich!“, fauchte sie zurück.
„Na großartig, dann wärst du vielleicht die bessere Freundin für ihn!“
„Vielleicht wäre ich das ja, wer weiß!“
Okay, das hätte sie nicht sagen sollen. „Weißt du was? Dann geh doch zu ihm hin, erzähl ihm alles und dann hast du freie Bahn und kannst dich an ihn ranschmeißen, wenn du dich doch so sehr um seine Gefühle kümmerst“, giftete ich, stolzierte aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu.
Sekunden später wurde sie wieder aufgerissen. „Das wäre typisch du, wenn ich mich jetzt plötzlich um deinen
Freund kümmern soll!“, schrie Kathi mir hinterher.
Aber ich war schon unten angelangt, unterdrückte das Verlangen, ihr noch ein paar Schimpfwörter an den Kopf zu werfen und verließ das Haus. Noch den ganzen Heimweg über hielt meine Wut an – es tat gut, wütend sein zu können und damit alle anderen lästigen Emotionen zu überdecken.
Doch sobald ich wieder in meinem Zimmer auf dem Bett lag, brach meine schützende Fassade ebenso schnell in sich zusammen, wie sie erschienen war.
Das war so ungefähr das gewesen, was ich am wenigsten gebrauchen konnte. Ich hatte mich mit meiner Freundin gestritten und sie wie ein kleines Mädchen angeschrien und wenn ich ultimativ viel Pech hatte, erzählte sie Nico wirklich alles und dann hatte ich ein riesengroßes Problem. Und noch nicht einmal José war da, um mich zu trösten. Wunderbar.
Und manchmal frage ich mich, warum mich nicht alle Menschen so verstehen können wie er es tut …
32. Unstillbares Verlangen
Egal wo ich bin, mit meinem Herzen bin ich immer bei dir.
„Und, wie lautet das Fazit nach der ersten Woche?“ Ich hörte ihm an, dass er mich aufmuntern wollte, aber in dieser Situation schaffte das noch nicht einmal er.
„Ich würde ja sagen, dass es mit der Zeit irgendwie besser wird, aber das wäre eine Lüge“, erwiderte ich seufzend und malte mit den Fingern Herzen an die beschlagene Scheibe des Fensters in meinem Zimmer.
Er schwieg eine Weile und ich vermutete, dass er überlegte, ob er lieber weiterhin optimistisch tun oder lieber realistisch sein sollte.
„Nein, es wird kein bisschen besser. Es wird schlimmer“, teilte er mir schließlich niedergeschlagen mit und es versetzte mir einen Stich, dass er wegen mir unglücklich war. Menschen wie er hatten so was einfach nicht verdient, warum machte das Schicksal also bei schlimmen Sachen keinen Bogen um ihn?
„Ja. Wir könnten uns vergiften, um im Himmel dann vereint zu sein oder so“, schlug ich düster vor.
Er lachte über meinen Tonfall. „Keine schlechte Idee, aber wer garantiert uns, dass das tatsächlich zutrifft? Dann warte ich lieber noch ein bisschen ab, bis ich dich wieder sehen kann. Bald.“
„Bald“, echote ich matt. Waren solche Versprechen eigentlich die einzigen Illusionen, die mir noch Hoffnung gaben? Das konnte unmöglich gesund sein.
„Kommst du in der Schule vernünftig mit?“, fragte er, bevor ich endgültig zusammenbrechen konnte. Er war ziemlich gut darin, meine Stimmung abzuschätzen und versuchte immer, das Schlimmste zu verhindern – was mich dann meistens noch viel mehr zum Weinen brachte, weil er so unfassbar gut zu mir war.
„Klar, das geht alles. Aber wen interessiert Schule?!“ Tatsächlich fiel es mir gar nicht so schwer, wie ich gedacht hatte – auch wenn ich natürlich lange nicht so gut war wie Kathi, die sich schon wieder den Posten als Klassenbeste zurückerobert hatte. Ich hatte allerdings Glück, dass sie mir ein bisschen geholfen hatte, nach unserem Streit hatten wir uns dann doch wieder vertragen, aber ich wusste immer noch, dass sie es besser fände, wenn ich Nico das mit José beichten würde. Und sie wusste, dass ich das in nächster Zeit nicht vorhatte. Aber wenigstens herrschte nicht mehr eisiges Schweigen zwischen uns, so wie vorerst am Montag, was mir an dem sowieso schon schlimmen Tag endgültig den Rest gegeben hatte.
„Na ja, es geht immerhin um deine Zukunft und du solltest das nicht in den Hintergrund rücken, schon gar nicht wegen mir.“
Ich musste lächeln. „Wow, das klang erwachsen.“
„Danke.“ In seiner Stimme klang ebenfalls ein Lächeln mit und ich hielt inne, um den Augenblick zu genießen. Manchmal – so wie jetzt – kam es mir so vor, als stände er direkt neben mir und alles war wie im Sommer. Ein schöner Gedanke.
„Du solltest jetzt schlafen gehen, es ist schon spät“, sagte er dann fürsorglich.
„Ich will aber noch mit dir reden.“ Jede Sekunde von diesen Gesprächen war so kostbar…
„Ich weiß. Morgen. Ich liebe dich.“ Ich stellte mir vor, wie er mich an sich drücken und dann die Bettdecke zurechtzupfen würde, wenn er hier wäre. Seine Stimme machte es unmöglich, ihm zu widersprechen.
„Okay. Ich dich mehr. Gute Nacht“, gab ich nach.
„Gute Nacht.“ Und dann hatte er aufgelegt und es war vorbei. Ich ließ das Telefon erst nach einigen weiteren Sekunden sinken, seufzend legte ich es auf meine Kommode und schlug die Decke auf meinem Bett zurück.
Ungefähr so ging unser tägliches Abendritual, es war das, was mich morgens mehr oder weniger motiviert aufstehen ließ und wenigstens einen winzigen Lichtschein auf den Alltag warf. Und dann folgte die Nacht. Und mit der Nacht kamen die Träume. So realistisch, farbig und wunderschön. Es war, als würde mein Herz in Sekundenschnelle von allem Schmerz geheilt wurde und für den Moment war ich glücklich.
Bis ich aufwachte. Jedes Mal dauerte es wieder quälend lange, bis ich mich erinnerte und jedes Mal musste ich erneut feststellen, dass er nicht da war. Jedes Mal rissen die Wunden in meinem Herz doppelt so schmerzhaft wieder auf und jedes Mal fiel ich erneut in ein tiefes, schwarzes Loch ohne je irgendwo aufzuschlagen. Es hatte etwas von einem Adrenalinkick – einerseits erschrak man sicht total dabei, andererseits tat man es immer wieder, nur um das Gefühl zu erleben. Man entwickelte eine gewisse Abhängigkeit, wie ich mittlerweile feststellte. Ziemlich armselig.
Insgesamt konnte man mich nicht gerade als kämpferisch bezeichnen, den größten Teil des Tages verkroch ich mich in mein Zimmer, wo ich ungewöhnlich sauber meine Hausaufgaben machte oder etwas anderes tat, um mich abzulenken. Alle Beschäftigungen hatten gemein, dass sie meistens so endeten, dass ich meine Arbeit vergas und vollkommen versunken aus dem Fenster starrte.
Meine Mutter war überzeugt davon, dass es mir einfach nur schwer fiel, mich nach einem halben Jahr wieder hier zurechtzufinden und es verging kein Tag, an dem sie mir nicht vorhielt, dass ich irgendwann wieder anfangen müsste, mein Leben zu leben. Sie behauptete, ich würde meine Freunde vernachlässigen und so weiter. Okay, vielleicht hatte sie in dem Punkt sogar Recht – wenn auch meine Gründe dafür andere waren. Natürlich hatten alle darauf gebrannt, dass ich ihnen meine Zeit in Spanien bis ins Detail schilderte (vor allem nachdem Kathi genau das getan hatte) und ich wusste, dass sie enttäuscht waren, weil ich kaum etwas erzählte – wie auch, wenn ich sowieso in jedem Satz José erwähnte. Ich hatte noch die Hoffnung, dass sie mir ein wenig Zeit geben wollten und mich deshalb weitestgehend in Ruhe ließen, aber irgendwann würde meine Schonfrist vorbei sein. Und ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich dann tun sollte.
Am schlimmsten war – wie zu erwarten – Nico. Er machte sich unübersehbar Riesensorgen um mich und ich musste ihn jedes Mal erneut davon überzeugen, dass mir der plötzliche Wechsel jetzt nicht so leicht fiel. Ich war eine miserable Lügnerin, hatte aber den Vorteil, dass Nico, der mich natürlich gnadenlos durchschaute, insgeheim dachte, dass ich ein anderes Problem hatte, das ich nur noch nicht erzählen wollte. Nur war er so naiv zu glauben, dass das nichts allzu Schlimmes sein konnte – dabei hatte er nicht einmal eine geringe Vorstellung davon, wie schlimm alles vor allem für ihn sein würde.
Ich hasste mich dafür, dass ich ihn anlog und ich hasste mich noch viel mehr dafür, dass ich sein blindes Vertrauen in mich ausnutzte – aber ich war noch lange nicht bereit, ihm die Wahrheit zu sagen. Meine anderen Freunde waren sowieso schon misstrauisch und alles zu beichten würde bedeuten, dass ich den Einzigen, der noch hundertprozentig hinter mir stand, am meisten verletzen musste. Dann würde ich wahrscheinlich ganz alleine dastehen, mal abgesehen von Kathi, die mich mit einem Ich-hab’s-dir-doch-gleich-gesagt-Blick vorwurfsvoll anschauen würde.
Einerseits erwartete ich Hilfe von meinen Freundinnen – andererseits konnten sie mir gar nicht helfen, weil sie nicht alles wussten oder eher so gut wie gar nichts. Wie ich es auch drehte und wendete, es lief darauf hinaus, dass ich daran schuld war und das Ganze nur beenden konnte, wenn ich endlich mit der ganzen Geschichte herausrückte. Was wiederum bedeutete, dass ich riskierte, sie alle auf einmal zu verlieren, weil ich es ihnen nicht früher gesagt hatte und sie fanden, dass ich eine schreckliche Person wäre und die grausamste Freundin der Welt, die Nico nie im Leben verdient hatte.
Ich hätte schreien können vor Wut über all das und das Wissen, dass ich mir das alles selbst zuzuschreiben hatte, hob meine Laune nicht gerade. Seltsamerweise war ich felsenfest davon überzeugt, dass alles besser werden würde, wenn José hier bei mir wäre (ich übertrug wohl meine Bedürfnisse auf die der anderen, denn eigentlich war ich höchstwahrscheinlich die Einzige, der es dann besser gehen würde), ich vertraute darauf, dass er zumindest den weiblichen Anteil meiner Freunde mit seinem Charme irgendwie gut stimmen würde, sodass sie mir unmöglich böse sein konnten. Nico wäre wohl eher nicht so begeistert, aber von der Möglichkeit, je wieder ehrlich und vertrauensvoll mit ihm befreundet sein zu können, hatte ich mich sowieso schon verabschiedet. Das hatte ich schon in dem Moment vermasselt, als ich vom ersten Tag an José angebetet hatte.
Die Wochen vergingen trotzdem – zwar quälend langsam, aber sie taten es – und mit dem Wetter draußen wurde meine Stimmung immer trüber und düsterer. Viel zu früh kam in diesem Jahr der erste Schnee, über den sich alle außer mir abgöttisch zu freuen schienen und der die Welt nicht besser machte, sie jedoch unter einer watteweißen Puderschicht bedeckte.
Zu allem Überfluss fing ich mir so ungefähr den grausamsten Grippeinfekt der Weltgeschichte ein (den ich ja auch mehr als verdient hatte) und ich stellte fest, dass meine kurzzeitige Krankheit im Sommer dagegen gar nichts gewesen war. Auch wenn ich natürlich der Meinung war, dass ich wesentlich schneller gesünder werden würde, wenn er hier bei mir wäre und sich um mich kümmern würde. José machte sich wie zu erwarten gewesen war unendliche und völlig unnötige Sorgen, was meine Mutter jedoch dazu bewog endlich zu glauben, dass er total nett war – ich hatte meine Eltern davon überzeugt, dass er ein guter Freund von mir war, da meine Dauertelefongespräche allmählich auffielen. Auf die Idee, dass da mehr als Freundschaft hinterstecken könnte, kamen sie nicht einmal, was mir einmal mehr bewusst machte, dass wir einfach nicht im Entferntesten auf einer Ebene spielten. Den einzigen Vorteil, den meine Krankheit mit sich brachte, war dass ich jetzt eine gute Ausrede dafür hatte, im Haus und ungestört sein zu wollen – außerdem hatte ich so bei meinen Freunden diesen Mitleidsbonus, der das Misstrauen mir gegenüber um ein gutes Stück abschwächte.
Ich war selbst irgendwie überrascht, dass mich das ganze Gerede über Weihnachten dieses Jahr total ankotzte, vor allem dieses ‚Weihnachten ist das Fest der Liebe’ – das mochte ja stimmen, aber warum konnte ich dann nicht bei meiner Liebe sein, verdammt?! Außerdem war ich mir ziemlich sicher, dass Nico mir etwas schenken würde, etwas unglaublich Süßes, was mir wohl die Sprache verschlagen würde vor Entsetzen. Und ich musste ihm auch was schenken, keine Frage. Irgendwas von Herzen. Bääh. Mein Herz war gar nicht hier.
Umso mehr Freude bereitete es mir, über ein Geschenk für José nachzudenken – und das wollte schon was heißen, denn normalerweise war ich nicht so selbstlos. Ich schenkte eigentlich prinzipiell nie etwas, das ich selber auch haben wollte und es fiel mir auch nicht leicht, mich für andere zu freuen, so gemein das auch klang. Bei ihm war das ganz leicht, es kam einfach von alleine… wieder ein Beweis, dass ich ihn liebe, dachte ich dabei zufrieden. Ich hatte allerdings die Befürchtung, dass er was unendlich Wunderbares für mich hatte, was mein Geschenk ziemlich armselig aussehen lassen würde – auch wenn er natürlich beteuerte, dass er alles von mir mögen würde.
Alles, was ich mir von Herzen wünschte, war endlich wieder bei ihm sein zu können – fast zwei Monate waren vergangen, seit ich ihn das letzte Mal berührt und geküsst hatte, ihn vor mir stehen hatte sehen können. Und nein, telefonieren half da nur soweit weiter, dass ich nicht völlig aufgab und dass ich genau wusste, wie es hätte sein können, machte es nur noch schlimmer.
Ich war auf dem besten Weg, die Auszeichnung der schlimmsten Tochter des Jahres zu bekommen – auf verlässliche Weise entwickelte ich mich mehr und mehr in Richtung hoffnungsloses Stadium des pubertierenden Teenagers. Seine Wut an anderen auszulassen, ist vielleicht kein fairer Weg, dafür tut er aber für den Moment ziemlich gut und meine Mitmenschen mussten gezwungenermaßen unter meinen heftigen Stimmungsschwankungen leiden.
Manchmal gab es diese Tage, an denen ich einfach nur wütend war – das war die beste Sorte, denn neben Wut spürt man dann nicht mehr so viel. Dann schrie ich Menschen und Gegenstände gleichermaßen an, knallte Türen und zerriss irgendwas, bloß um das Gefühl zu haben, etwas zu zerstören. Man fühlte sich danach nicht wirklich besser, aber es gab einem wenigstens etwas zutun.
Etwas schlimmer waren da schon meine extrem melancholischen Phasen, an Tagen wie diesen saß ich stundenlang auf meinem Bett und weinte, verbrauchte dabei massenweise Taschentücher und Make-up, um danach wieder einigermaßen öffentlichkeitstauglich auszusehen. Ich rief ihn dann meistens nicht an, damit er nicht merkte, dass ich weinte, hatte aber das Gefühl, dass er es meinen SMS trotzdem anmerkte. Ich musste dann oft besorgte Anrufe von Nico auf meiner Mailbox (feige wie ich war, nahm ich bei ihm oft gar nicht ab) beantworten – ihn davon überzeugen, dass ich noch halbwegs am Leben war und das Ganze nichts mit ihm zutun hatte (hatte es ja auch nur indirekt).
Die schlimmste Kategorie stellten jedoch unangefochten diese Tage des Nichtstuns dar, die sich mit der Zeit häuften. Es war einer von diesen Tagen, an dem meine Mutter mich besorgt fragte, ob ich vielleicht zum Arzt gehen wollte. Es war einer von diesen Tagen, an dem ich in der Schule gefragt wurde, ob jemand gestorben sei. Ich kam mir selbst dabei eigentlich gar nicht gruselig vor, wie auch, ich tat schließlich – nichts. Wobei es das war, was es so schlimm machte. Es kam dann, wenn ich nicht mehr konnte, wenn keine Tränen mehr da waren, wenn gar nichts mehr da war. Wenn man sich (bildlich) vorstellte, dass ich ansonsten in einem monstergroßen schwarzen Loch versank, dann wären diese Tage der Zeitpunkt, an dem ich selbst zu einem schwarzen leeren Loch wurde. Irgendwann kommt man einfach an den Punkt, an dem man nicht mehr kämpfen kann und aufgibt, ob man es will oder nicht. Es fühlt sich an, als würde man alleine gefangen in einer Kugel aus Panzerglas sitzen, man sieht wie die anderen sich bewegen und sprechen, aber man hört gar nichts. An diesen Tagen dachte ich nicht an ihn. Ich dachte gar nicht mehr und das war gut so. Denn auch die Gedanken machten mich schwach, die Erinnerungen an ihn. Dabei wollte ich stark sein.
Meistens folgten meine Phasen in dieser Reihenfolge aufeinander, aber etwas hielt mich trotzdem davon ab, vollkommen daran zu zerbrechen. Klar hatte ich nicht gerade angenehme Gedanken, aber ich dachte nicht im Entferntesten daran, so was wie Selbstmord zu planen – wie konnte ich auch, wenn ich doch wusste, dass ihn das verletzen und traurig machen würde. Und obwohl ich mir immer wieder gerne sagte, dass ich mich damit abgefunden hatte, ihn auf unbestimmte Zeit nicht wieder zu sehen, wusste ich doch, dass ich insgeheim hoffte. Ich tat es gegen meinen Willen, denn wer hofft, wird nur allzu leicht enttäuscht, aber ich tat es ganz automatisch – wie konnte ich auch nicht, wenn ich seine Stimme und die Liebe darin hörte, die mir die Kraft gab, wieder einen neuen Tag zu überleben?
Nein, mein Herz hoffte auf ein Wunder und es war überzeugt davon, dass es nur eine Weile warten müsste bis es belohnt werden würde. Dagegen kam mein Verstand (der sowieso ziemlich unter der Sache litt) einfach nicht an und so stellte ich mir oft vor, dass es schon feststand, dass ich ihn bald wieder sehen würde und ich bis dahin nur überleben musste.
Und ich wusste, ich würde immer weiterhoffen – wie unwahrscheinlich es auch erscheinen mochte.
Egal, wohin ich gehe, ich hoffe immer, dich dort anzutreffen.
33. Weihnachtliche Gefühle
Jemandem Freundschaft zu geben, der Liebe will ist wie jemandem Brot zu geben, der verdurstet.
„Du könntest es mir auch einfach so geben“, schlug ich vor, während ich mit den Händen wild herumfuchtelte.
„Dann wäre es keine Überraschung mehr“, gab er zurück.
„Hey, das… wäre gar nicht schlimm, weißt du. Ich mag Überraschungen nicht so sehr und ich hätte da wirklich überhaupt kein Problem mit. Bitte.“ Ich hasste es, dass er so ein Riesendrama um mein Geschenk machte, vor allem nachdem ich ihm meins ganz schnell ohne Tamtam übergeben hatte und er mir erstmal um den Hals gefallen war. Was ich eine ziemlich übertriebene Reaktion fand, da ich ihm nur ein Poster von irgendeiner mir unbekannten Band mit einem „Weltklassedrummer“ geschenkt hatte – nicht besonders einfallsreich, aber seine Freude schien zumindest echt.
„Okay, ich gebe es dir gleich in die Hände, ja?“ Nico klang so aufgeregt, dass man hätte meinen können, er würde gleich ein Geschenk bekommen und nicht ich. Das ist Liebe, dachte ich sarkastisch und versuchte mich schon mal an einem ehrlichen Lächeln. Ich würde es gleich brauchen, damit er nicht dachte, dass es mir nicht gefiel.
„Das heißt, dann darf ich das Tuch abnehmen?“, fragte ich zurück und gab mir alle Mühe, nicht mürrisch zu klingen.
Er lachte nur und ich hörte ein Klicken – der Feueranzünder. Was mich zu der Befürchtung führte, dass ich deshalb die ganze Zeit nicht ins Wohnzimmer gedurft hatte, weil er es mit viel Liebe hergerichtet hatte. Mist. Nervös zappelte ich hin und her, was er wohl meiner Neugierde zuschrieb. Man, er war echt naiv.
„Gut. Hier.“ Und ich spürte, wie er mir ein Stück Papier zwischen die Finger schob. Während ich mit der anderen Hand an dem blöden Tuch vor meinen Augen rumfummelte, versuchte ich, mir darunter etwas vorzustellen um ein bisschen vorbereitet zu sein. Leider war ich in letzter Zeit nicht gerade kreativ.
Ich atmete noch einmal inhaliermäßig durch. Okay. Dann ließ ich das Tuch fallen und blinzelte ein paar Mal, bevor sich meine Augen an das Kerzenlicht gewöhnt hatten. Oh, es war nicht so schlimm wie ich befürchtet hatte. Es war viel schlimmer. Ich hatte ja gedacht, es wären nur zwei, drei Kerzen, aber offensichtlich waren welche ausgegangen, denn insgesamt waren es mindestens zwanzig, die er im ganzen Raum verteilt hatte. Nicht dazu gerechnet die Teelichter, die er zu einem Herz aufgestellt hatte. Oh Gott. Glücklicherweise stand das Sofa in der Nähe, sodass ich mich in meinem Schock, den ich gekonnt als positive Überraschung tarnte, darauf sinken lassen konnte.
Das Papier in meiner Hand hatte ich fast vergessen und so senkte ich schnell den Blick darauf. Ich brauchte einen Moment, um die Schrift darauf im schwachen Licht zu entziffern, dann hatte ich es. Riesengroßer Mist. Es war eine Karte für das Musical von einem meiner Lieblingsbücher in Hannover – und er hatte natürlich auch eine, damit wir zusammen reingehen konnten. Und natürlich war es eine total romantische Geschichte. Die waren bestimmt irre teuer gewesen. Verdammt!
„Wow, das ist echt großartig… total süß von dir“, brachte ich heraus, den Tränen nahe. Oh ja, es war unglaublich süß. So süß, dass ich mich übergeben könnte. Warum musste er so gut zu mir sein?! Ich hatte einen Menschen wie ihn einfach nicht verdient, es war wie mit José…
„Ich dachte mir, dass es dir bestimmt gefallen würde.“ Er war sichtlich zufrieden mit sich und ich konnte nicht anders, als ihn zu umarmen. Wie gerne hätte ich ihm aufrichtig danken und ihn küssen wollen, wie gerne wäre ich eine gute Freundin für ihn gewesen! Von meinem armseligen Geschenk ganz zu schweigen…
„Danke, Nico“, flüsterte ich an seiner Schulter. „Das wäre doch nicht nötig gewesen.“ Ich hatte mich schon bei Josés Geschenk so schuldig gefühlt, als es pünktlich zum Heiligabend per Post gekommen war – nur ein kleines Kästchen mit einem wertvollen Inhalt, ein goldener Ring mit seinem Namen eingraviert, er hatte einen mit meinem. Ich dagegen hatte nach ewigem Hin- und Herüberlegen eine von diesen wunderschönen alten Taschenuhren zum Aufklappen an einer Kette besorgt und auf der Seite, wo nicht das Zifferblatt war, ein kleines Bild von uns beiden eingeklemmt. Er war mir unendlich dankbar gewesen und ich hatte mir verkniffen zu bemerken, dass sein Geschenk viel schöner und garantiert auch teurer als meins war, weil das Protest von ihm hervorgerufen hätte.
Himmel, wie ich das hasste, mich zu schämen, weil sich diese Jungen immer was Megageiles ausdachten und mich daneben alt aussehen ließen! Das war einfach nicht fair, man hätte mich vorwarnen müssen oder so…
„Doch, natürlich. Die wichtigste Person in meinem Leben hat das sehr wohl verdient“, sagte Nico sanft. Autsch. Machte er das absichtlich, damit ich mich noch schlechter fühlte?! Ich war kurz davor loszuheulen, doch er schien meine Sprachlosigkeit es als gutes Zeichen anzusehen.
Ich hatte auch nicht die Kraft, es irgendwie zu verhindern, als er den Kopf wandte um mich zu küssen. Anscheinend konnte es sehr wohl noch schlimmer kommen.
Halbherzig erwiderte ich seinen Kuss und spürte dabei selbst, dass es nicht mehr annähernd das Gleiche war wie früher. Und es lag an mir. Natürlich. Wie auch sonst, er legte schließlich seine ganze Leidenschaft und Liebe hinein und schien kaum zu merken, dass ich kurz davor war, mich dagegen zu wehren.
Ich fragte mich schon, ob ich mich jetzt vielleicht von ihm lösen konnte, ohne abweisend zu wirken, als ich plötzlich seine Hand an meinem Gürtel spürte. Geschickt öffneten seine Finger den Verschluss, tasteten sich zum Knopf meiner Jeans. Oh-oh. Nicht das. Das konnte ich einfach nicht tun.
Ich hatte mich reflexartig angespannt und schob hastig seine Hand zur Seite, dann rückte ich unauffällig ein Stück von ihm ab. „Hey, ich muss jetzt echt los – ich hab versprochen, meiner Mutter noch beim Kochen zu helfen, weil morgen doch die Verwandten kommen und so“, sagte ich ohne ihn anzusehen, obwohl es noch nicht einmal gelogen war. Morgen, am zweiten Weihnachtstag würden wirklich sämtliche Tanten und so weiter kommen, nur hatte ich nicht wirklich vorgehabt, beim Essen zu helfen.
Er sah mich an, seine Miene war unergründlich. „Ich dachte, du könntest die Nacht über hier bleiben, du bist doch noch gar nicht lange hier.“ Damit hatte er natürlich Recht. Ich hatte schon ein schlechtes Gefühl gehabt, als er mich für den Abend des ersten Weihnachtstages zu sich eingeladen hatte – aber mit welcher Begründung hätte ich das abschlagen sollen?
„Es tut mir leid, aber ich muss echt weg“, wiederholte ich verzweifelt. Das hier wurde zuviel, ich hätte vielleicht ahnen sollen, dass er so was in der Art vorhatte – die Kerzen, die dadurch geschaffene Atmosphäre waren eigentlich ein deutlicher Hinweis.
„Jenny, vergiss einfach, was ich eben gemacht habe, ich hab das vielleicht ein bisschen überstürzt. Das ist okay, hörst du? Aber du kannst doch trotzdem hier bleiben.“ Dabei zog er mich an einem Handgelenk wieder nah zu sich, doch ich erhob mich.
„Nein, es… wirklich. Bitte.“ Ich sah ihn flehend an. Ich musste hier weg. Jetzt. Das war alles, was mein Bauchgefühl mir sagte.
Er zog die Augenbrauen zusammen, wie immer wenn er etwas nicht verstand. „Was ist los in letzter Zeit? Du wirkst immer so… abwesend. Als wärst du in Gedanken ganz woanders. Sag es mir, bitte. Ich versuche doch nur, dich glücklich zu machen.“
Oh Gott. Ich schloss die Augen, um sein Gesicht nicht länger sehen zu müssen. Jedes Wort bohrte sich wie eine Nadel in mein Herz, er hatte ja so Recht…
„Ja, ich bin einfach… ein bisschen neben der Spur. Aber jetzt muss ich los. Danke für dein Geschenk, das ist echt unglaublich!“ In Wahrheit hätte ich es fast vergessen, jetzt steckte ich es schnell in die Tasche meines Mantels, den ich eilig überzog. Bevor er etwas sagen konnte, machte ich mich schon auf den Weg in den Flur und zog mir meine Stiefel über, die Hand auf der Türklinke.
„Jenny, es tut mir Leid…“ Seine Stimme versagte und mein Herz zog sich vor Mitleid schmerzhaft zusammen. Er hatte das nicht verdient, wirklich nicht.
Um ihn ein bisschen zu entschädigen, drehte ich mich zu ihm um und umarmte ihn noch einmal. Umarmen ging gut, dabei konnte ich mir vorstellen, dass er mein bester Freund wäre oder so. Aber das reichte nicht und ich wusste es. Ich nahm mich zusammen und küsste ihn noch kurz auf den Mund. „Dir braucht gar nichts leid zutun, okay? Merk dir das. Es ist kein bisschen deine Schuld“, sagte ich leise und versuchte ihn mit meinem Blick so zu fesseln, wie José es oft bei mir getan hatte. Na gut, ich war anscheinend lange nicht so talentiert wie er, aber einen Versuch war es wert gewesen und Nico sah halbwegs überzeugt aus.
„Ja. Ich liebe dich“, sagte er, als ich schon draußen stand.
„Ich dich auch“, erwiderte ich schweren Herzens und ohne mich zu ihm umzudrehen. Dieser Junge würde mich noch eines Tages umbringen.
Gerade so schnell, dass es noch kein Rennen war, hastete ich durch das Treppenhaus, meine Schritte hallten noch lauter als ich schließlich zwei Stufen auf einmal nahm. Und als ich dann endlich draußen stand, war ich sicher, noch nie so froh über frische Luft gewesen zu sein. Vielleicht hatte Kathi Recht. Irgendwann würde er es sowieso erfahren und das sollte auf keinen Fall durch jemand anderen als mich erfolgen.
Eigentlich hatte ich mich von meinem Vater abholen wollen lassen, aber ich beschloss, besser zu Fuß zu gehen – ich brauchte jetzt ein bisschen Ruhe und außerdem würde es dann eher so wirken, dass ich nicht so auffallend kurz bei Nico gewesen war. Es lagen einige Zentimeter Schnee, perfektes Weihnachtswetter. Der Wind war kalt und schneidend, aber auf gewisse Weise tat es mir gut. Den ganzen Weg über spürte ich meine Karte für das Musical tonnenschwer in meiner Jackentasche und fragte mich, warum er mir gerade so ein wundervolles Geschenk machen musste. Es würde mir so viel leichter fallen, wenn er nicht so schrecklich gut wäre, wenn er mir geben würde was ich verdiente – allein schon nachdem ich ihn in den letzten Wochen so vernachlässigt hatte. Er musste völlig verwirrt sein und die Welt nicht mehr verstehen, ich verstand mich ja selbst schon nicht mehr.
Seine Liebe setzte mir mehr zu, als ich es je vermutet hätte, denn ich wusste, dass er mir immer noch etwas bedeutete. Sehr viel sogar. Aber ich war trotzdem für immer in einen anderen verliebt und ich konnte es einfach nicht ändern, so gerne ich es auch für ihn getan hätte. Es wäre besser, wenn er mich nicht sosehr lieben würde, aber ich brauchte bloß seine Blicke sehen – er war wirklich blind vor Liebe und wollte gar nicht bemerken, dass mit mir etwas nicht stimmte.
Das musste aufhören. Plötzlich wusste ich es ganz sicher. Es musste bald aufhören, ich musste es ihm sagen. Nach fast zwei Monaten war ich doch noch an den Punkt gelangt, an dem ich ihn lieber verlieren als weiterhin anlügen wollte – vielleicht konnte man dieser Zeit ja doch etwas Gutes abgewinnen und sie hatte mich auf seltsame Weise zu einem besseren Menschen gemacht, der nicht mehr so selbstsüchtig war. Okay, ich war es natürlich immer noch, denn sonst würde ich José nicht mehr wollen. Aber wenn ich je zu einer Person hätte sagen können, dass sie mein Leben wäre, dann zu ihm. Ich brauchte nicht mehr warten. Es würde sich nichts an meinen Gefühlen ändern.
Auf einmal ging ich schneller, ich musste jetzt nach Hause und ihn anrufen. Ihm davon erzählen, was ich beschlossen hatte. Und gleich morgen Vormittag würde ich zu Nico fahren, je früher desto besser.
Ich rannte den Rest des Weges, rutschte viermal aus und sprintete dann ohne einen Gruß hoch in mein Zimmer, sobald ich daheim war. In Rekordgeschwindigkeit hatte ich seine Nummer gewählt (ich war mittlerweile soweit, dass ich ihn nicht auf dem Handy anrief und so auch manchmal mit Naiara sprach, zu meiner eigenen Überraschung tat ich das sogar ganz gern) und er nahm schon nach dem ersten Klingeln ab – sicher hatte er meine Nummer angezeigt gesehen.
„Was gibt’s?“ Er klang besorgt und ich verstand warum – gestern hatten wir ewig geredet, nachdem wir die Geschenke des anderen gleichzeitig ausgepackt hatten und die meiste Zeit gleichzeitig geredet hatten, weil wir uns überschwänglich dankten. Während ich bei Nico gewesen war, hatte ich den Ring in meiner Hosentasche getragen, ich schleppte ihn seit gestern immer mit mir herum, damit ich ihn ja nicht verlor und tastete alle paar Sekunden danach. Und heute war es noch gar nicht so spät, dass es Zeit für unser abendliches Gespräch wäre, ich war wirklich sehr früh von Nico wiedergekommen.
„Ich muss es ihm sagen“, platzte ich heraus, zu ungeduldig, um die ganzen Umstände zu erläutern, wie so oft knüpfte ich einfach direkt an meine Gedanken an.
Er schwieg eine Weile und ich dachte erst, dass er überlegte, was ich damit meinte, aber als er dann sprach wurde mir bewusst, dass er es sehr wohl verstanden hatte (dieses Gedankenlesertalent war echt nicht mehr menschlich – okay, wenn jemand verdächtig nach einem Gott aussah, dann er) und nur darüber nachgedacht hatte. „Ja. Ich werde es ihr auch sagen. Ich habe schon die letzten Tage darüber nachgedacht, aber ich wollte es dir nicht sagen, damit du dich nicht dazu gezwungen fühlst, es mit Nico auch so zu machen.“
Na toll. Dann war er also so einfühlsam gewesen und ich sagte es ihm einfach so entgegen, ohne darüber nachzudenken, dass er sich zu irgendwas gezwungen fühlen könnte. Ich seufzte leise, musste aber dabei lächeln – er war einfach unvergleichlich.
„Okay. Gut. Ich glaube, dann fühle ich mich auch besser. Mehr so, dass du vollkommen und ganz offiziell mir gehörst“, sagte ich von ganzem Herzen und war mir bewusst, wie egoistisch das klang. Aber es war wahr – bis jetzt hatte er irgendwie immer noch zu Naiara gehört, zumindest in der Öffentlichkeit.
„Ich habe immer dir gehört, Dummerchen“, gab er zurück und ich hörte das Lächeln in seiner Stimme. „Aber es ist wahr, es fühlt sich dann richtig an, denke ich.“
„Ja. Verrat mir besser nicht, wie du es ihr beibringen willst, denn dann wird meine Taktik mir dämlich vorkommen und ich werde versuchen, deine zu kopieren und alles vermasseln.“
Er lachte. „Na gut, dann halten wir unsere Methoden streng geheim und tauschen und morgen aus, wenn wir es hinter uns haben, ja?“
Ich seufzte. „Wenn er mich dann noch nicht umgebracht hat, okay.“
„Wird er nicht. Er liebt dich“, erinnerte er mich sanft.
„Das ist das Problem“, brummte ich.
„Ich weiß. Viel Glück, du schaffst das schon.“ Er klang so endlos optimistisch! Na gut, er musste es ja auch für uns beide sein.
„Dein Vertrauen in mich will ich haben.“
Ich stellte mir vor wie er die Augen verdrehte. „Sprich mir nach. Wir schaffen das.“
Jetzt verdrehte ich auch die Augen. „Nur dir zuliebe sage ich es, weil es nämlich eh nichts bringt“, konnte ich mir nicht verkneifen. „Wir schaffen das.“
„Gut!“, rief er aus, als ob mein gelangweilter Tonfall irgendwas mit Motivation zutun hätte. „Ich liebe dich. Gute Nacht.“
„Ich liebe dich mehr. Gute Nacht.“
„Ich liebe dich am meisten.“ Und dann legte er auf, bevor ich es noch steigern konnte. Ich lächelte über unser tägliches Spielchen und legte das Telefon vorsichtig wie einen wertvollen Diamant auf meinem Nachttisch ab.
Jetzt wo ich so halbwegs einen Plan vor Augen hatte fühlte ich mich schon besser, ich würde es endlich hinter mich bringen und vielleicht würde dann wenigstens Kathi ein kleines bisschen mit mir zufrieden sein.
Aber traurig war es irgendwie auch – denn etwas sagte mir, dass ich danach nie wieder richtig mit Nico befreundet würde sein können, nicht in einer Freundschaft, die wir beide als das und nicht mehr akzeptierten. Ich hatte meine Wahl getroffen.
Übers Ende der Welt gehen. Für einen Traum.
34. Geständnisse
Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass ich ihn aus meinem Leben streichen würde wenn ich könnte – aber das wäre eine Lüge…
Der kalte Wind trieb mir Tränen in die Augen als ich am nächsten Tag mit dem Fahrrad (ich hätte wissen müssen, dass das keine gute Idee ist wenn Schnee liegt) erneut zum Wohnblock fuhr, in dem Nico wohnte. Ich hatte ihm kurz eine SMS geschrieben, dass ich mit ihm reden wollte und er hatte wie zu erwarten gewesen war begeistert zugestimmt – als ob ich ihm damit ein Geschenk machen würde oder so.
Ich wusste, dass ich Mitleid mit ihm haben würde, viel zu viel. Ich hatte es ja jetzt schon und mir war klar, dass ich ihn verletzen würde, dass er das nicht so einfach verkraften würde. Trotzdem wollte ich diejenige sein, die es ihm sagte – ich könnte es nicht ertragen wenn er es von Kathi oder einer anderen erführe. Alles, was ich noch für ihn tun konnte, war ehrlich zu sein und dazu gehörte, dass ich ihm gegenübertreten musste.
Minutenlang stand ich vor dem großen Haus und tat so, als ob ich mein Rad anschließen würde, bevor ich mich endlich dazu durchringen konnte, hineinzugehen. Von einem Moment zum nächsten war ich auch schon im richtigen Stockwerk und stand vor seiner Tür.
Ich atmete tief durch und hätte wahrscheinlich gekniffen, wenn ich nicht genau gewusst hätte, dass José das nicht tun würde. Und dann stände ich ja alleine da und müsste es Nico sagen ohne im Hinterkopf zu haben, dass José das Gleiche durchmachte. Außerdem hatte er es eigentlich viel schwerer als ich – er war mit Naiara schon viel länger zusammen und sie kannte mich ja auch.
Schnell drückte ich auf den Klingelknopf, bevor ich es mir wieder anders überlegen konnte, stocksteif stand ich da und wartete, bis Nico schon nach wenigen Augenblicken öffnete. Er lächelte und mir wurde fast schlecht – wahrscheinlich dachte er, dass ich ihm erzählen würde, was mich so bewegte und dass dann alles so sein würde wie früher. Verdammt.
„Hi.“ Mein Lächeln wirkte etwas zu gezwungen, ich wusste es.
„Hey. Komm rein.“ Er war neugierig. Oh-oh.
Ich kam seiner Bitte nach und ging hastig an ihm vorbei, bevor er mich zur Begrüßung küssen konnte. Das würde er später nur bereuen, dachte ich finster und setzte mich mal wieder auf die Couch. Wie gestern und schon unzählige Male zuvor.
„Du wolltest mit mir reden?“ Er sah mich erwartungsvoll an, ich wich seinem Blick aus und wartete, bis er sich neben mich gesetzt hatte – ich achtete sorgfältig darauf, dass zwischen uns einige Zentimeter Abstand waren.
„Ja. Ich hätte es dir eigentlich schon früher sagen sollen, aber… ich hab mich nicht getraut. Es tut mir leid“, fing ich an – dabei wusste ich, dass auch tausend Entschuldigungen nicht ausreichen würden. „Ich hab dir deswegen auch nicht viel von meiner Zeit in Spanien erzählt. Ich habe dort viel mehr erlebt, was ich keinem von euch erzählen wollte, obwohl du es wissen solltest.“ Ich sah hinab auf meine Finger, mit denen ich am Reißverschluss meiner Jacke herumspielte. Ich hatte mir gestern Abend im Bett genauestens überlegt, was ich sagen wollte – aber jetzt brach es trotzdem ganz anders aus mir heraus. Ich redete schnell, um nicht einfach abbrechen zu können und auch wenn ich mich unglaublich schlecht dabei fühlte, konnte ich nicht ändern, dass meine Stimme sanfter, liebevoller wurde als ich zu José kam. Es war grausam, vor seinem Freund so von einem anderen zu sprechen und ich versuchte, gleichgültig zu klingen – erfolglos.
„Ich hatte gedacht, wir wären stärker. Wirklich. Ich wollte mich nicht in ihn verlieben, aber es ist trotzdem passiert. Es tut mir so leid…“ Meine Stimme versagte. Warum musste ich ihm das nur antun?! Ich wagte es nicht, ihn anzusehen und so hielt ich den Blick feige gesenkt.
Er war sehr still. Ich sah auch seine Hände, zu Anfang hatte er noch sie noch mit meinen verschränkt, während meiner Erzählung hatte er sie dann zurückgezogen. Seine Hände waren ganz ruhig, sein ganzer Körper war furchtbar ruhig. Reglos. Und er schwieg sehr lange. Ich hätte gerne die Stille gebrochen, aber ich hatte das Gefühl, es damit nur schlimmer zu machen. Falls das überhaupt noch möglich war.
„Was habe ich falsch gemacht?“ Er klang heiser, nicht so als würde er gleich weinen – eher so, als hätte er vergessen, wie man spricht. Und seine Worte trafen mich hart. Ich hatte ihm gerade erzählt, dass ich eigentlich einen anderen liebte (ich hatte eine Menge ausgelassen, um ihn ein wenig zu verschonen, aber diese Tatsache war schon schlimm genug) und er fragte mich, was er falsch gemacht hatte. Vielleicht war es ganz gut, dass das zwischen uns vorbei war – er war einfach zu gut für mich. Das war mir nie wirklich klar gewesen.
„Du hast nichts falsch gemacht. So darfst du nicht denken, bitte. Kannst du nicht lieber wütend auf mich sein und mich anschreien?“, fragte ich schwach.
Er lachte kurz, aber es klang nicht echt. „Ich werde dich niemals anschreien, Jenny. Ich liebe dich. Noch immer. Es ändert nichts.“
Oh nein. Dieser Junge…! „Sag das nicht. Es ändert alles. Ich habe mich schrecklich benommen, ich habe dich die ganze Zeit angelogen, weil ich dich noch nicht verletzen wollte – aber in Wahrheit wollte ich mich
nicht verletzen, indem ich dich verliere.“ Ich musste ihn einfach anschauen, ich musste wissen, was in ihm vorging. Aber sein Gesicht war überraschend gefasst und ruhig. Wie eine Maske. Aber vielleicht war das noch schlimmer.
Jetzt kamen jedoch Emotionen in seine Stimme. „Rede nicht so, als würde dir das etwas ausmachen. Du brauchst nicht mehr zu lügen.“ Er klang hart und schroff, ganz anders als sonst. Das lag ihm einfach nicht und es konnte auch nicht seinen Schmerz verbergen.
Aber das, was er da sagte, war nicht wahr und das sollte er auch wissen. „Du verstehst nicht. Du bist mir immer noch wichtig, nicht weniger als vorher – kein bisschen. Ich dachte, ich würde dich lieben und ich hatte auch Recht. Aber ich habe José getroffen und ich stellte fest, dass ich ihn mehr liebe – ich wusste nicht, dass das möglich ist. Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben, sonst würde ich dir das alles nicht sagen. Ich habe mich geirrt, als ich dachte, es wäre vielleicht die Liebe meines Lebens, ich habe erlebt, wie sich die Liebe meines Lebens anfühlt und es ist anders. Und ich kann es auch nicht einfach vergessen, das geht nicht mehr“, versuchte ich ihm zu erklären ohne allzu verletzend zu werden. Aber natürlich tat ich ihm trotzdem weh. Mit jedem Wort.
Er war kurz still und dachte über meine Worte nach. Er verstand es, ich konnte es in seinen Augen sehen. Aber er wollte es nicht wahrhaben. „Wie ist er so?“, fragte er dann.
Ich sah ihn verwirrt an, in Gedanken war ich noch ganz bei dem Ich-liebe-dich-aber-ihn-nochmehr-Thema. „Wer?“
Er hielt meinem Blick stand, das rechnete ich ihm hoch an. „Er. Dieser José.“ Er klang nicht abwertend, als er den Namen aussprach und das überraschte mich ein bisschen.
Ich schluckte. „Hey, das muss nicht sein. Ich will dich nicht noch mehr ver-“
„Nein“, unterbrach er mich scharf und ich zuckte zusammen. Sofort wurde er wieder ruhiger. „Nein. Sag nicht, du willst mich nicht noch mehr verletzen. Du hast es schon getan und du weißt es.“
Ich sah ihn nur an. Dann schweifte mein Blick zum riesigen Fenster, die Sonne schien hinein. „Ich weiß nicht. Es ist schwer ihn zu beschreiben. Er ist der wunderbarste Mensch, den ich je getroffen habe, man muss ihn einfach mögen. Es ist seine Art, er… schenkt dir seine ganze Aufmerksamkeit, wenn du mit ihm redest. Er gibt mir das Gefühl, dass ich etwas ganz Besonderes, Einzigartiges bin, er liest aus meinem Gesicht ab, was ich denke und er weiß immer, was mir gut tut. Und er ist so warm… immer. Wenn er lacht, lacht man einfach mit ohne zu wissen warum und er gibt einem dieses Gefühl von Sicherheit, dass man ihm sofort sein Leben anvertrauen würde. Aber – ich weiß auch nicht – das was ihn eigentlich ausmacht, kann ich nicht ausdrücken. Er ist so ein Mensch, für den Gott sich zwei Tage Zeit genommen hat, als er ihn schuf.“ Als ich hörte, wie sehr ich ins Schwärmen geraten war, brach ich verlegen ab. Konnte ich nicht einfach mal den Mund halten?!
„Wer weiß, vielleicht macht selbst er mal einen Fehler. Ich gebe nicht auf.“ Ich sah Nico wieder an, als ich seinen entschlossenen Tonfall hörte.
„Nein. Es geht nicht darum weiterzukämpfen, weißt du. Es ist nicht fair, aber ich weiß, dass er es ist. Das wird sich nicht ändern.“ Ich wünschte sosehr, dass er einfach aufgeben könnte – doch ich wusste auch, dass das nicht zu ihm passen würde, das war nicht seine Art. Aber was musste noch passieren, damit er kapierte, dass zwischen uns nie wieder etwas so sein konnte wie früher?
„Vermisst du ihn sehr?“, wollte er wissen. Er war wieder ganz ruhig, so als könnte ihn nichts erschüttern. Ich glaubte ihm nicht, aber ich antwortete trotzdem.
„Ja. Jede Sekunde vermisse ich ihn – es klingt komisch für dich, aber so ist es. Ich wünsche mir sosehr, beim ihm sein zu können, dass ich schreien könnte. Ich frage mich jeden Tag, warum das nicht möglich sein kann. Aber ich warte. Auch wenn er nie kommt, werde ich warten und wenn ich alt genug bin, werde ich zu ihm reisen. Selbst wenn er mich dann nicht mehr wollen würde, würde ich es tun – aber ich vertraue ihm. Ich weiß, dass er mich liebt. Ich habe lange gebraucht, um das zu kapieren, aber es ist so.“
Auf seltsame Weise tat es gut, Nicos sachliche Fragen zu beantworten, das hier war so anders als das ‚Gespräch’ mit Kathi. Natürlich war er der letzte Mensch, dem ich all das erzählen sollte, aber er hatte sich nicht geändert – er konnte noch immer gut zuhören.
„Du liebst ihn“, sagte er da und ich sah ihn erstaunt an, zum ersten Mal zeigte sein Gesicht Schmerz und ich versuchte nicht daran zu denken, dass das meine Schuld war.
„Ja. Es tut mir leid. Du verdienst eine bessere Freundin als mich.“
„Nein“, gab er sofort zurück. „Du wirst immer die Einzige für mich bleiben. Immer.“
Ich musste wieder wegschauen. Das hoffte ich nicht für ihn. „Das dachte ich bei dir auch und es hat sich trotzdem geändert“, bemerkte ich leise.
„Was ist mit den Musicalkarten?“ Jetzt hörte er sich echt enttäuscht an. Verdammt. Ich hatte mal irgendwo gelesen, dass sich statistisch gesehen die wenigsten Paare direkt nach Weihnachten trennten – dann waren wir wohl die Minderheit…
„Ich finde sie trotzdem echt toll, auch wenn ich es nicht verdiene. Du kannst sie vielleicht zurückschicken, oder? Ich kann dir das Geld auch geben“, schlug ich vor, aber er schüttelte den Kopf.
„Kannst du nicht trotzdem mit mir gehen? Als Freunde?“
Ich biss mir auf die Lippe. Ich glaubte nicht, dass er von uns als Freunde denken würde, aber wie konnte ich ihm diesen Wunsch abschlagen? „Wenn du darauf bestehst…“, gab ich vorsichtig nach – wahrscheinlich würde ich das später bereuen.
„Danke.“ Es hörte sich aufrichtig an und ich dachte erneut, dass er eigentlich der perfekte Freund war – er war einfach so lieb… Der perfekte Freund für jedes Mädchen außer mir.
Wir schwiegen und nach einer Weile hielt ich es nicht mehr aus, es war fast schlimmer als wenn er etwas sagen würde. „Ich sollte besser gehen, glaube ich.“ Eigentlich hatte ich erwartet, dass er mich irgendwann rauswerfen würde, aber das würde wohl nicht eintreten.
„Okay.“ Zumindest versuchte er nicht mich davon abzuhalten. Er stand auf und folgte mir zur Tür, das Ganze erinnerte mich an gestern. Nur dass jetzt irgendwie alles anders war. Besser oder schlechter?
„Ich fand die Zeit mit dir echt schön, Jenny. Ich weiß, dass du nicht so denkst, aber vielleicht bist du eines Tages wieder soweit und wir können noch mal neu anfangen. Ich werde für dich da sein, versprochen“, sagte er, gerade als ich gehen wollte. Warum musste er mir gerade das versprechen, was ich nicht gehalten hatte?
„Nein. Ich werde nie wieder soweit sein. Und du sollst dich nicht wegen mir von allen anderen Mädchen abkapseln, nur weil du wartest. Bitte.“ Ich musste schließlich nicht auch noch daran schuld sein, dass er sein Leben lang alleine blieb.
Darauf erwiderte er nichts und ich seufzte und trat ins Treppenhaus. „Ich fand unsere Zeit auch schön. Es tut mir Leid“, wiederholte ich zum hundertsten Mal, dann drehte ich mich um und ging. Ich hatte das Gefühl, dass ich so bald nicht wieder herkommen würde und der Gedanke machte mich traurig. Aber ich wurde nicht langsamer – meine Entscheidung war getroffen und er wusste es. Irgendwie fühlte ich mich jetzt besser.
Während ich durch den tiefen Schnee zu meinem Fahrrad stapfte, holte ich Josés Ring aus meiner Hosentasche und steckte ihn an, ich musste lächeln. Ich hatte einmal gelesen, warum der Ring immer ausgerechnet an dem Finger, am Ringfinger, getragen wird – es ist der einzige Finger, von dem eine Ader direkt zum Herzen führt. Eine schöne Vorstellung.
Ich überlegte, ob ich wissen wollte, was mit Naiara war oder nicht – ich hatte mein Mitleid für heute eigentlich echt schon verbraucht, aber dennoch…
José nahm mir die Entscheidung ab, denn sobald ich zuhause war, kam mir meine Mutter entgegen, am das Telefon. „Oh, sie ist gerade gekommen. Moment“, sagte sie als sie mich sah und kam mir entgegen.
Fragend streckte ich die Hand aus, doch sie gab mir den Hörer nicht gleich. „Er ruft schon zum sechsten Mal an!“, flüsterte sie mir verschwörerisch zu und hielt dabei das Telefon zu, sodass man ihre Worte am anderen Ende der Leitung nicht hören konnte.
Ich verdrehte nur die Augen und nahm es ihr ab. „Ja?“
„Ich glaube, deine Mutter hasst mich“, teilte José mir mit.
Ich lachte, während ich nach oben in mein Zimmer ging. „Dich kann man gar nicht hassen. Sie mag dich, sie wundert sich nur… ein bisschen. Und jetzt sag schon, was ist Schlimmes passiert, dass du alle paar Minuten bei uns anrufst?“ Ich ließ es vorwurfsvoll klingen, aber eigentlich freute ich mich darüber.
„Ich hab eigentlich angerufen, damit du
erzählst, aber okay. Wenn ich erst soll… sie ist jetzt gerade zu Freunden gefahren, dort bleibt sie erstmal. Ich kann verstehen, dass sie nicht bleiben wollte.“ Er seufzte und ich hörte ihm an, dass ihn das auch mitnahm. „Sie hat es nicht gesagt, aber ich glaube, sie hat sich schon irgendwas gedacht – sie war so gefasst. Sie ist stark, sie schafft das. Aber verdienen tut sie es nicht. Ich hoffe, sie findet einen neuen, besseren Mann…“
„Es tut mir leid. Das ist alles wegen mir“, sagte ich leise, als er geendet hatte. Es war okay, wenn ich einen Menschen verlor – es war ganz und gar nicht okay, wenn er einen Menschen verlor und dabei noch nicht mal etwas falsch gemacht hatte. Und wäre ich eine gute Person, würde ich ihm sagen, dass er lieber sie nehmen sollte als mich, doch das konnte ich nicht tun und ich verachtete mich dafür.
„Nein. Niemals. Denk nicht so“, unterbrach er meine Gedanken.
„Aber es ist wahr. Sie hasst mich zu Recht.“
„Sie hasst dich nicht. Wirklich nicht“, sagte er sanft. Super. Dadurch fühlte ich mich nicht gerade besser, ich hatte sie ja in meinen letzten Wochen dort schon nicht wirklich gemocht und sie hasste mich noch nicht einmal jetzt. Diese Menschen waren alle zu nett, eindeutig.
So kurz wie möglich erzählte ich ihm von Nico, ich hatte keine große Lust, mir noch einmal vor Augen zu führen, wie sehr ihn meine Worte getroffen hatten.
„…aber es ist trotzdem irgendwie gut. Jetzt kann ich wenigstens immer deinen Ring tragen“, endete ich und drehte ihn ein paar Mal herum.
„Und bei mir ist alles für dich bereit, hier ist jetzt Platz“, erwiderte er.
„Ich würde kommen – wenn ich könnte.“
„Ich weiß. Ich vermisse dich.“
„Ich dich auch. Sosehr, dass ich bestimmt jede Nacht deinen Namen vor mich hin spreche.“
Er lachte. „Das würde ich gerne mitbekommen, allein dafür würde ich zu dir kommen.“
Ich musste lächeln. Er war so unendlich süß.
„Ich liebe dich.“
Es tat weh und es würde noch lange wehtun. Aber für dich würde ich noch viel mehr Schmerzen ertragen.
35. Licht am Ende des Tunnels
Wunder passieren immer dann, wenn du am wenigsten mit ihnen rechnest.
„Vielleicht solltest du ihn mal anrufen“, schlug meine Mutter sehr hilfreich beim Mittagessen vor und nahm sich noch Nudeln nach.
Ich seufzte genervt. „Könntest du mich das bitte auf meine Weise regeln lassen?“
„Er klang echt niedergeschlagen, als er gestern angerufen hat. Apropos, warum hast du ihn nicht zurückgerufen?“
„Das würde überhaupt nichts bringen, wenn wir reden. Ich weiß doch, was er will und meine Antwort würde ihn nur noch mehr enttäuschen. Es ist zurzeit eben alles nicht so einfach“, versuchte ich zu erklären. Ich verstand wirklich nicht, warum Nico noch dauernd bei uns anrief und allmählich war mein Mitleid auch aufgebraucht und es nervte nur noch. Okay, vielleicht war es nicht so nett, dass ich kein einziges Mal mit ihm gesprochen hatte – in der Schule war ich auch diejenige gewesen, die sich von ihm weggesetzt hatte.
Meine Mutter, die schon immer begeistert von ihm gewesen war, verstand die Welt nicht mehr und versuchte jetzt nach vier Wochen immer noch, uns irgendwie wieder zu versöhnen. Man sollte meinen, dass das genau das war, was ich auch wollte – aber ich hatte festgestellt, dass das gar nicht der Fall war. Natürlich hatte ich im Grunde Schluss gemacht und ich brauchte irgendwie Abstand von ihm, ich fand das ziemlich verständlich. Er dagegen schien fest davon überzeugt zu sein, dass wir wieder zusammen kommen würden und dass er dafür nur sooft wie möglich in meiner Nähe sein musste.
„Du machst es dem Jungen auch echt nicht leicht“, verteidigte meine Mutter ihn.
Ich stand auf und brachte meinen Teller weg. „Bitte lass mich einfach damit in Ruhe, ja?!“ Es gibt kaum etwas Schlimmeres als Eltern, die sich für deinen Exfreund einsetzen.
Mit der Zeit hatten natürlich auch Alicia & Co von der ganzen Geschichte gehört und nach anfänglicher Empörung hatte ihre Neugierde gesiegt – jetzt konnten sie es gar nicht abwarten, José eines Tages kennen zu lernen, was mir ein bisschen Angst machte, da ich ihn nicht gerade an eine meiner Freundinnen verlieren wollte.
Der ganze Schnee war zum Glück schon wieder geschmolzen und wir hatten einen ungewöhnlich milden Januar – was meine Stimmung allerdings nur unerheblich besserte. Auch wenn natürlich David und Serena bei ihm waren, hatte ich irgendwie Angst, dass José einsam sein könnte, Naiara war zum neuen Jahr fürs Erste zu ihren Eltern gezogen und ich fühlte mich schrecklich schuldig. Dank mir hatte sie ihre Liebe und ihr Zuhause verloren und ich war aus ihrer Sicht nur ein junges Mädchen, das musste echt frustrierend sein.
Ich verbrachte die meisten Tage allein in meinem Zimmer und versuchte die Zeit herumzubringen ohne dabei allzu viel nachzudenken.
Mit jedem Tag ging mein Leben weiter, es veränderten sich Dinge – aber eigentlich blieb alles gleich. Ich wartete auf die Abende, auf seine Anrufe, aber das war alles. Ansonsten hatte ich nur Bilder zur Erinnerung, sein T-Shirt roch schon lange nicht mehr nach ihm und das Einzige, was mich ihm immer wieder ganz nahe brachte, waren meine nach wie vor höchst realistischen Träume. Ich hatte Angst, dass sie eines Tages aufhören würden, dass ich mich irgendwann nicht mehr daran erinnerte, wie er sich anfühlte, aber ich schätze, ich hielt mit solcher Kraft an den Erinnerungen fest, dass ich es gar nicht vergessen konnte.
Und es war dieser Tag, an dem meine Mutter mir zum hundertsten Mal schlaue Ratschläge zum Thema Nico gegeben hatte, an dem sich plötzlich wirklich etwas veränderte. Wenn man jeden Tag auf dem Kalender mit einem schwarzen Kreuz durchstreichen würde, dann hätte ich für diesen Tag rot genommen.
Es war Abend und sprach mit ihm, so wie jeden Tag. Als er auf einmal davon anfing.
„Jenny?“ Sein Tonfall ließ mich aufhorchen.
„Ja?“ Ich war gerade vollkommen in Gedanken bei ihm gewesen.
„Ich hab Mitte Februar ein Testspiel“, informierte er mich zögernd.
Hä? Ich überlegte schnell ob ich irgendwas Wesentliches nicht mitbekommen hatte, kam aber zu keinem Ergebnis. „Du hast dauernd ein Testspiel“, sagte ich schließlich sehr geistreich.
„Ich weiß, aber… nicht da
.“ Er klang nervös, was mich automatisch auch nervös machte. Normalerweise brachte ihn kaum etwas aus der Ruhe.
„Amerika? Australien? Komm, jetzt sag schon“, erwiderte ich ungeduldig.
Er musste lachen. „Nein. Wir haben ein Spiel in Bremen.“ Und jetzt war er auf einmal ganz ruhig. Er sprach langsam, als wäre er nicht sicher, ob ich ihn auch verstand.
Ich konnte nicht sprechen. Ich wollte es nicht hoffen, aber…
„Reden wir vom gleichen Bremen?“, fragte ich schließlich. Meine Stimme zitterte und ich ärgerte mich, dass ich so leicht zu beeinflussen war. Wahrscheinlich war das nur ein Missverständnis.
„Bremen. Deutschland. Vielleicht eine Stunde von dir entfernt.“ Wie konnte er das einfach so dahinsagen, als wäre nichts dabei?!
„Aber das…“ Jetzt versagte meine Stimme vollkommen.
„Ja. Du könntest dorthin kommen, es ist am Wochenende. Wenn du willst.“ Ich glaubte zu hören, wie er versuchte, die Hoffnung zurückzuhalten, aber ich war zu beschäftigt mit dem Sinn seiner Worte um mir darüber Gedanken zu machen.
„Wenn ich will?! Das ist… wow! Ich weiß nicht, ich finde kein passendes Wort, aber… das ist genau das, worauf wir die ganze Zeit gewartet haben und du erzählst es mir erst jetzt?!“, sprudelte es aus mir heraus – ich konnte es einfach nicht glauben. Mir sollte so eine Gelegenheit einfach so vor die Füße geworfen werden?!
„Irgendwie so was habe ich erwartet“, bemerkte er mit einem Lächeln in der Stimme. Dann wurde er ernst. „Ich habe erst überlegt, ob ich es dir gar nicht sagen soll.“
„Was?! Wieso nicht?“ Wollte er vielleicht nicht, dass ich kam? Im Bruchteil einer Sekunde ging ich alle Möglichkeiten durch, die mir einfielen und sie waren alle nicht besonders erfreulich – bis er weitersprach.
„Ich dachte mir, dass… ich weiß nicht, aber wenn wir dann eine wunderbare Zeit haben, ist es danach vielleicht noch schwerer, wenn ich wieder wegmuss. Auf lange Sicht wäre es wohl das Beste, uns nicht zu treffen, aber ich möchte es selbst so gerne, dass ich es dir nicht verschweigen konnte“, erklärte er und ich war höchst erleichtert, dass er am Ende genauso hoffnungsvoll klang wie ich mich fühlte.
„Du denkst doch nicht ernsthaft, dass mich das Argument jetzt davon abhält, hinzufahren, oder?!“ Ich wollte streng klingen, aber vor Erleichterung, dass sein Zögern keinen anderen Grund hatte, musste ich fast lachen. Es war zwar absolut irrational, aber typisch er, dass er sich über so was Sorgen machte.
„Nein, deswegen wollte ich es dir ja nicht sagen, weil ich mit so einer Reaktion gerechnet habe“, gab er zurück.
„Ha, der Plan wäre dir aber misslungen. David hätte es mir schon erzählt.“
„Ich hätte ihn bestochen, dass er es nicht tut“, konterte er und ich war viel zu glücklich, um mich darüber angemessen aufzuregen.
„Aber Serena hättest du nicht bestechen können – sieh’s ein, sie hätte zu mir gehalten.“
„Ja, da hast du wahrscheinlich Recht. Aber weil ich selbstsüchtig und verrückt nach dir bin, musste ich es dir sowieso erzählen, weil ich viel zu sehr hoffe, dass du kommst und wir uns treffen können.“
„Ich fahre hin, da gibt’s nichts zu diskutieren. Himmel…“ Ich schloss die Augen und öffnete sie wieder. Wenn das ein Traum war, dann war er verdammt gut. Allein die Vorstellung, ich könnte ihn endlich wieder sehen… nicht nur auf einem Bild, sondern wie er vor mir stand und ich könnte ihn anfassen und umarmen. Whoa.
„Aber du musst das erst mit deinen Eltern klären und so“, unterbrach er meine Traumvorstellungen sehr vernünftig.
Ich verdrehte die Augen. So wie ich meine Eltern kannte, würde das wohl ihrer Meinung nach viel zu gefährlich für ihr kleines Mädchen sein. „Mir fällt schon was ein“, entgegnete ich ausweichend, um nicht zu sagen, dass ich ihnen ganz bestimmt nicht die Wahrheit erzählen würde. Wo ich es doch selbst kaum glauben konnte.
„Okay.“ Er klang nicht überzeugt. „Du solltest diese Informationen erstmal verarbeiten, du hörst dich immer noch so überwältigt an“, fügte er dann hinzu, aber er versuchte nicht zu verbergen, dass er ebenfalls vollkommen überwältigt war.
„Ja, wahrscheinlich glaube ich es erst, wenn du vor mir stehst. Es kommt mir fast schon verdächtig vor, dass ich so ein Riesenglück haben soll – das ist so… ungewöhnlich“, entgegnete ich, noch immer damit beschäftigt, den Satz ‚Ich werde ihn treffen’ auseinander zu nehmen und seine Bedeutung zu erfassen.
„Ich weiß, aber wenn es jemand verdient hat, dann du.“
Ich schnaubte verächtlich. „Pah! Es wird dein Verdienst sein, keine Frage.“
„Wir sprechen morgen wieder. Ich liebe dich“, erwiderte er mit einem Lächeln in der Stimme und beendete so die Diskussion darüber, wem wir das alles denn jetzt zu verdanken hatten.
„Ich dich sowieso.“ Und als er aufgelegt hatte, stellte ich fest, dass ich mich zum ersten Mal nach einem Anruf von ihm nicht schlechter fühlte, sobald das Gespräch vorbei war. Zum ersten Mal war ich wieder richtig glücklich und das nicht nur, weil ich im Kopf noch einmal die letzten Minuten durchlebte und seine Stimme wie ein Echo zu hören glaubte. Ich war glücklich, weil sich mein größter Wunsch zu erfüllen schien – und das in wenigen Wochen. Das Warten hatte sich doch gelohnt.
Er würde nach Deutschland kommen und ich konnte mit dem Zug nach Bremen fahren. Ich könnte dort irgendwie übernachten und dann beim Spiel zusehen. Ich könnte ihn berühren und wirklich ihn
sehen und nicht irgendwelche Fotos. Ich könnte seine Stimme hören und
gleichzeitig in seinen Armen liegen. Wahrscheinlich würde ich total austicken, aber das wäre okay. Denn er würde da sein und mit ihm war die Welt einfach tausendmal besser…
Wie betäubt ging ich zu meinem Computer und schaltete ihn ein, um Zugverbindungen nachzuschauen. Ich würde dort hinkommen, egal zu welchem Preis. Im Moment hätte ich es gern jemandem erzählt um demjenigen danach um den Hals zu fallen, aber ich bezweifelte, dass irgendwer meine Begeisterung auch nur annähernd teilen konnte.
Wahrscheinlich brauchte ich Kathis Hilfe, damit ich meinen Eltern erklären konnte, dass ich bei ihr übernachtete oder so – sie würde das sicher für eine ziemlich dämliche Idee halten, jedoch nach gutem Zureden bestimmt einwilligen. Hoffte ich zumindest. Aber meine Sorgen darüber waren sowieso nur beschränkt, während ich nebenbei im Kopf durchging, was ich alles regeln musste, war mein Gehirn hauptsächlich damit beschäftigt, sich in schönster Fantasie auszumalen, wie unglaublich perfekt alles werden würde.
Seit drei Monaten hoffte ich auf genau so eine Chance und jetzt war sie plötzlich da, ohne dass ich besonders viel dafür getan hätte. Vielleicht hatte die Zukunft entschieden, mir doch noch etwas Glück zu bescheren – oder wenn schon nicht mir (immerhin hatte ich vor wenigen Wochen erst meinen Freund abserviert), dann wenigstens José, das war schon viel leichter vorzustellen. Wer könnte sich schon die Möglichkeit entgehen lassen, ihn glücklich zu machen? Ihn, der vom Aussehen und Charakter her gut und gerne als Gottheit durchgehen würde und bei dessen Lächeln man einem Herzinfarkt näher kam als möglich sein sollte…
Ich merkte selbst jetzt schon wie gut mir die Aussicht auf ein Wiedersehen tat. Und ich stellte fest, dass ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte und mich die letzten Wochen mehr mitgenommen hatten als ich gedacht hatte. Und nachdem ich schon so lange gewartet hatte, würde ich es jetzt auch noch ein paar Wochen mehr aushalten – und diesmal in dem sicheren Wissen, dass er kommen würde. Bald. Er würde meine Welt und mich wieder komplett machen und mich alle Sorgen vergessen lassen, so wie er es immer getan hatte.
Natürlich wussten wir immer noch nicht, wie es danach weitergehen würde, aber wir taten den ersten Schritt in eine gemeinsame Richtung und das war das Wichtigste. Vielleicht würde es auch der Anfang für eine Zukunft zu zweit sein, eine Zukunft, in der wir nicht hunderte Kilometer auseinander lebten und in der ich ihn nicht jeden Tag nur in meinen Träumen sehen konnte.
Das alles waren natürlich nur Wünsche, Wünsche, die sich vielleicht niemals erfüllen würde. Aber es war, als hätte mein Leben wieder etwas Farbe, als würde sich etwas verändern.
Meine Welt hatte wieder einen Sinn.
Ich kann auch ohne dich glücklich sein. Okay. Na ja. Nein.
36. Wie ein Traum
Und dann ist da dieser eine Mensch, der dich sprachlos macht.
Ich stellte schnell fest, dass es sich mit einem Ziel wesentlich leichter lebte. Es tut gut, nicht mehr so abhängig von einem bestimmten Anruf zu sein, dass man jedes Mal beim Klingeln des Telefons hinsprintet und dann enttäuscht sehen muss, dass die Nummer eine andere ist. Die ganze Zeit über hing das Wochenende im Februar wie eine überdimensionale Sonne nur für mich über mir und nichts und niemand war in der Lage, meine gute Laune (die bei einigen Menschen für einen ziemlichen Schock sorgte) zu trüben – nicht einmal Nicos leidender Gesichtsausdruck, den er in der Schule immer noch jeden Tag zur Schau trug.
Und auch wenn die Zeit unendlich langsam verstrich, war irgendwann dann doch Freitag und ich ließ mich von meiner Mutter zu Kathi bringen, um mein Alibi zu verstärken.
„Viel Spaß, ihr zwei“, wünschte sie uns und umarmte mich kurz.
„Danke!“ Ich strahlte bei dem Gedanken, dass ich in knapp zwei Stunden ihm in die Arme fallen konnte und sie lächelte gut gelaunt zurück. Ich war froh, dass sie zu einer der wenigen Personen gehörte, denen es relativ egal war wo meine plötzliche Motivation jeden Tag herkam, denn so musste ich sie nicht unnötig anlügen. Ich konnte ihr ja schlecht erzählen, dass ich nach mittlerweile fast vier Monaten endlich meinen superscharfen, etwa sechs Jahre älteren spanischen Freund wieder sehen würde.
„Ich glaube wirklich nicht, dass das eine gute Idee ist“, grummelte Kathi, sobald meine Mutter weggefahren war. Ihr hatte ich wohl oder übel genau das beichten müssen, was sonst keiner wissen sollte, denn ich brauchte ihre Hilfe. Wie erwartet fand sie meinen Plan alles andere als brillant. „Du hättest wenigstens Nico sagen können, dass du nicht zu mir gehst.“
Ich verdrehte die Augen. Jetzt ging das schon wieder los. „Ja, damit er ausrastet und dann womöglich ganz als eifersüchtiger Exfreund eine Handykamera in meiner Handtasche installiert?! Nein, danke.“ Ich versuchte wirklich, nicht allzu schnippisch zu klingen, aber ich war einfach extrem ungeduldig und außerdem verstand ich überhaupt nicht, warum Nico selbst jetzt noch hinter mir her war. So langsam müsste ihm doch klar sein, dass zwischen uns Schluss war, aus und vorbei.
Sie seufzte genauso genervt. Ja, ich kannte ihren Standpunkt sehr gut. Ihr wäre es am liebsten, wenn ich wenigstens ihm die Ich-verbringe-das-Wochenende-mit-Kathi-Geschichte ersparen würde, aber für mich war er so ungefähr der Letzte, dem ich die Wahrheit sagen würde. So hart es auch klang, in Sachen José traute ich Nico nicht wirklich, wer wusste schon wozu mein Exfreund fähig sein könnte!
„Ich muss jetzt los zum Bahnhof. Sonst verpasse ich den Zug und muss zu Fuß gehen“, sagte ich nach einer Weile des Schweigens und grinste sie an. Sie wusste, dass sie mich nicht davon abhalten konnte.
„Ich find das überhaupt nicht gut, nur damit du’s weißt. Aber hab eine schöne Zeit mit ihm. Du musst ihn wirklich lieben und ich schätze, das zählt.“
Gerührt sah ich sie an. Ich hätte nicht gedacht, dass sie für so eine Erkenntnis fähig war. „Ja, ich denke, das tue ich. Danke. Für alles. Wir sehen uns morgen Abend, okay?“
„Klar. Bis dann.“ Und mit diesen Worten umarmte sie mich noch einmal und ging dann ins Haus, ohne sich noch einmal zu mir umzudrehen.
Auch ich blieb nicht noch länger stehen. Zeit, sich den erfreulichen Dingen zuzuwenden. Es war nicht weit bis zum Bahnhof, sodass ich ohne Probleme zu Fuß dorthin gehen konnte und ich lag hervorragend in der Zeit – nichts wäre schlimmer, als wenn ich tatsächlich den Zug verpassen würde und so hatte ich mich schon früh zu Kathi bringen lassen.
Mein Gepäck bestand nur aus einem Rucksack und meiner Tasche, das Wichtigste war sowieso das Ticket. Auch wenn es nicht besonders teuer gewesen war, hatte José es bezahlen wollen, doch ich hatte dankend abgelehnt, immerhin sorgte er schon dafür, dass ich beim Spiel zusehen durfte. Klar, es war kein wichtiges Spiel, die Mannschaften beide ziemlich unbekannt, aber ich freute mich darauf. Immerhin hatte ich nur deswegen dieses Glück.
Zwanzig Minuten später saß ich dann auch im Zug – ich war erleichtert, dass alles geklappt hatte, auch wenn es albern war. Was hätte denn schief gehen können? Natürlich machte ich mir unnötige Sorgen, denn die Vorstellung, dass ich ihn wegen einer Kleinigkeit aus irgendeinem Grund doch nicht treffen konnte, brachte mich fast um. Die Fahrt sollte etwa eine Dreiviertelstunde dauern und trotzdem saß ich von Anfang angespannt auf meinem Platz, bereit jeden Augenblick aufzuspringen. Ich gehörte nicht zu den Menschen, die dauernd irgendwelche Städte besuchen und sich die Welt anschauen und wenn ich es mir so recht überlegte, war dies meine erste Zufahrt alleine. Und sie diente dazu, mich mit meinem Freund zu treffen, von dem meine Eltern nichts wussten. War das ein gutes oder schlechtes Omen?
Als der Zug endlich in Bremen hielt, hatte ich die Hoffnung, irgendwann noch mal anzukommen, schon fast aufgegeben und es wurde draußen sogar schon dunkel, obwohl es gerade erst vier Uhr war. José, der sich hier ja nun mal überhaupt gar nicht auskannte, hatte mir unzählige Male den Weg zu dem Hotel erklärt, in dem sie übernachten sollten und wo ich ihn treffen wollte. Es war mir ein bisschen peinlich, aber ich war eben noch nie hier gewesen und mein Orientierungssinn war nicht gerade der Beste.
Ich lief den anderen Leuten hinterher und fand so aus dem riesigen Bahnhofsgebäude heraus, von hier aus hatte er mir den Weg beschrieben und das Wissen, dass mich nur noch wenige Minuten von ihm trennten, ließ mich schneller gehen und gab mir nicht einmal die Gelegenheit, mich zu verlaufen. Auch wenn ich nicht richtig wusste wieso, war ich irgendwie nervös – vielleicht weil ich ein bisschen Angst hatte, dass er sich in der Zwischenzeit sehr verändert haben könnte. Dass er nicht mehr so aussah wie in meinen Träumen. Natürlich war das dumm und eigentlich egal, ich wusste einfach selbst nicht so richtig, wie ich mich fühlen sollte. War das ein schlechtes Zeichen?
Ich wusste schon, dass es das richtige Hotel war, bevor ich den Namen las. Ich konnte nicht sagen woher, ich wusste es einfach. Ich redete mir gerne ein, dass ich es gespürt hatte, weil er dort war, aber wahrscheinlich erkannte ich es nur, weil ich es auf der Internetseite gesehen hatte, die er mir geschickt hatte. Schade. Doch keine telepathischen Fähigkeiten.
Ich blieb davor zögernd stehen. Sollte ich reingehen oder hier draußen warten? Vielleicht waren sie noch gar nicht da. Vielleicht wollte er nicht, dass die anderen mich sahen, weil sie das mit uns nicht wissen sollten. Ich bin schließlich nicht die optimale Freundin für ihn, dachte ich und konnte nichts dagegen tun, dass mich das ein bisschen frustrierte. Vielleicht war er aber auch-
Im nächsten Moment wurde ich schon von hinten hochgehoben und herumgewirbelt. Ich gab einen kleinen, überraschten Laut von mir, aber ich hatte die Hände, die um meine Taille lagen, längst erkannt. Er war da. Endlich.
Er setzte mich ab und ich konnte mich zu ihm umdrehen und ihn ansehen. Wie dumm es doch gewesen war, nervös zu sein. Wie dumm von mir zu denken, er könnte sich verändert haben. Natürlich waren seine Haare ein bisschen länger, aber er war trotzdem noch genau so wie ich ihn in Erinnerung hatte. Nein, er war besser. Fotos waren eben nur eine blasse Kopie von seinem unglaublichen Aussehen, kein Vergleich zu seinem Live-Anblick. Seine blauen Augen waren noch schöner als ich sie mir immer vorgestellt hatte, seine Sommersprossen irgendwie… noch mehr? Und seine Hände, die jetzt mit meinen verschränkt waren, noch wärmer als in meiner Erinnerung, noch angenehmer. Stundenlang könnte ich nur ihn anschauen ohne dass es langweilig werden würde.
Er lächelte mich an, in seinem Gesicht lag der gleiche Ausdruck von der Freude, die auch ich verspürte und nicht in Worte fassen konnte. Er war einfach zu schön um wahr zu sein, aber hier stand er direkt vor mir und sah mich an, mit diesem Blick, der es mir unmöglich machte wegzuschauen. Nicht dass ich das gewollt hätte.
„Hi“, sagte er. Und ich stellte fest, dass seine Stimme einfach noch viel angenehmer und besser klang als am Telefon. Unglaublich.
Statt einer Antwort drückte ich ihn nur fest an mich, ich konnte jetzt nicht sprechen. Er ist da, er ist da, er ist da, jubelte mein Herz und ich glaubte zu spüren, wie das Glück mir durch den ganzen Körper fuhr. Und er hielt mich fest und mit einer Hand drehte er meinen Kopf leicht um mich zu küssen. Endlich wieder. Wie bei unserem ersten Kuss schien es in meinem Inneren ein Feuerwerk der Gefühle zu entfachen und ich spürte seine unbändige Freude, seine Leidenschaft. Das hatte mir so gefehlt. Gegen ihn kam Nico einfach nicht an. Keiner kam gegen ihn an, er war schlichtweg der Beste.
„Kalt ist es hier in Deutschland“, flüsterte er an meinen Lippen.
Ich musste erstmal zu Atem kommen. „Du bist da“, erwiderte ich dann atemlos.
„Natürlich bin ich da. Ich muss mich doch versichern, dass es dir gut geht.“ Und während er sprach genoss ich einfach nur den Luxus, ihn dabei ansehen und seinen Körper dicht an meinem spüren zu können. Er musste einfach ein Geschenk des Himmels sein.
„Das klingt gut. Man sollte einen Film von uns drehen, das hier wäre dann die wunderbar romantische Wiedersehensszene.“ Ich konnte einfach nicht anders als so oberflächliches Zeug zu reden. Vielleicht tut man das, wenn man nicht in Worte fassen kann, was man eigentlich ausdrücken will.
„Das würde aber ein ziemlich kitschiger Film werden, findest du nicht?“, fragte er zurück und strich mir mit den Fingern eine Haarsträhne zurück. Mein Herz raste noch schneller.
„Ich mag kitschige Filme.“ Ich musste ihn noch einmal küssen, ich konnte nicht genug von ihm kriegen. Er erwiderte meinen Kuss nur allzu bereitwillig und ich dachte gerade daran, wie gut es doch war, dass er hier war, als uns eine Stimme unterbrach.
„Das ist sie? Deine Freundin?“ Ein junger Mann kam vom Hoteleingang her langsam näher, einer der anderen Spieler.
Ich rechnete es ihm hoch an, dass er mich nicht für Josés kleine Schwester oder so hielt, das wäre sehr deprimierend. Okay, wir sahen gerade vielleicht auch nicht wie Geschwister aus, immerhin fielen wir mehr oder weniger übereinander her. In jeder anderen Situation wäre es mir unendlich peinlich gewesen, wenn jemand uns beim Rummachen erwischt hätte und ich hätte mich ein bisschen von ihm gelöst. Aber nicht jetzt. Ich hatte ihn so lange nicht mehr nah bei mir gehabt, ich konnte nicht einen Zentimeter von ihm abrücken. Und so beschränkte ich mich einfach darauf, ein bisschen rot zu werden und wegzuschauen.
„Ja, das ist sie.“ José klang stolz und mir wurde ganz warm ums Herz.
„Er hat eine Menge von dir erzählt, du bist mir im Sommer beim Training und so nie so richtig aufgefallen“, sprach der Mann mich an. Er hatte von mir erzählt. Es war ihm nicht peinlich oder so. Er gehörte wirklich zu mir. Der Gedanke brachte mich dazu, einfach nur dumm und überglücklich zu lächeln.
„Wir sollten reingehen, es ist kalt hier.“ José schien zu merken, dass ich jetzt nichts entgegnen konnte und ersparte mir ein verlegenes Schweigen, er nahm wieder meine Hand und wir gingen hinein – auch wenn mir auf jeden Fall warm genug war. Mein ganzer Körper fühlte sich heiß an, meine Wangen brannten ja sowieso schon. Aber alles was ich spürte waren seine Finger, die mit meinen verschlungen waren und ich konnte einfach nicht aufhören wie ein Vollidiot zu lächeln, während wir die Eingangshalle des Hotels betraten.
Bevor ich irgendwas sagen konnte, lag ich schon wieder in zwei starken Armen – nur war es diesmal David. Also an so was könnte ich mich gewöhnen, von gut aussehenden jungen Spaniern erdrückt zu werden hatte schon was.
„Ich hab mir schon Sorgen gemacht, dass du gar nicht kommst, Jenny. Dann wäre wahrscheinlich ich das Opfer von Josés Aggressionen geworden und das wäre nicht so nett“, begrüßte er mich gut gelaunt.
Ich lächelte ihn an – er hatte sich kaum verändert und ich war froh, auch ihn wieder zu sehen. „Ja, ich musste die Chance doch nutzen um euch zu sehen. Wie geht es Serena?“
„Sie ist sauer, weil sie dich als Einzige nicht treffen kann und hat sich mit einem Mörderblick von uns verabschiedet. Sie wünschte, sie könnte auch hier sein – sie vermisst dich sehr“, erwiderte er.
Ich seufzte leise. Auch ich hätte mich noch mehr gefreut, wenn sie hier gewesen wäre und ich fühlte mich ein bisschen schuldig, weil ich mit ihr lange nicht so oft telefoniert hatte wie mit José. Dabei war sie in Spanien meine beste Freundin gewesen. Aber trotzdem wollte ich mir davon nicht meine gute Laune verderben lassen – immerhin war ich hier bei ihm.
„Du kannst deine Sachen hoch in unser Zimmer bringen“, schlug José jetzt vor als hätte er meine Gedanken gelesen.
„Ja, aber denk ja nicht, dass ich dir mein Bett überlassen werde.“ David boxte mich spielerisch gegen die Schulter und grinste.
„Ich schau mal“, entgegnete ich lächelnd und ging neben José zu einem der Fahrstühle. Ich war David dankbar, dass er uns Zeit für uns gab und nicht mitkam – ich würde ihn die ganze Zeit anfassen und umarmen müssen, um zu glauben, dass er wirklich da war und ich nicht träumte.
„Die Couch wäre noch frei zum Schlafen, das ist leider nur ein Doppelzimmer und ich kann David nicht woanders unterbringen. Aber es ist ja nicht so, dass wir zwei Betten bräuchten, im Sommer hat auch oft genug eins gereicht.“ Er lächelte. Wir standen mittlerweile in dem Zimmer, das größer war als ich gedacht hatte – eher eine kleine Wohnung. Aber es war ja irgendwie klar gewesen, dass Fußballer solchen Luxus bekommen.
Ich nickte und legte meinen Rucksack neben dem Bett ab, auf dem ein paar T-Shirts von José lagen. So war ich vollkommen unvorbereitet als ich plötzlich seinen Atem im Nacken und seine Hände um meine Taille spürte.
Ich drehte mich vorsichtig in seiner Umarmung zu ihm um und im nächsten Moment lagen seine Lippen schon weich auf meinen. Dieser Kuss war anders als der vor dem Hotel – dort hatten wir einfach nur ohne nachzudenken drauflos geküsst, voller Freude über die Gegenwart des anderen. Jetzt hatte sich der anfängliche Unglauben allmählich gelegt und er verlegte sich wieder darauf, mich einfach nur verlässlich um den Verstand zu bringen. Es war einfach so wunderbar – allein für diesen Kuss wäre ich überall hingekommen.
„Ich hab dich so vermisst.“ Sein Atem strich bei den Worten über meinen Hals, was es mir nicht gerade leichter machte, klar zu denken.
„Ich erst“, keuchte ich ziemlich überwältigt – ich war so lange nicht mehr in den Genuss seiner Fähigkeiten der Verführung gekommen, dass ich mich erst wieder daran gewöhnen musste. Wobei es eigentlich nichts war, das man jemals gleichgültig über sich ergehen lassen konnte.
„…aber das hier war die ganze Warterei allemal wert“, fuhr er fort. Ich bekam kaum mit, wie wir langsam rückwärts auf die harte Matratze (typisch Hotel) sanken, mein Herz pochte wild.
Und dann klopfte es und die ganze Stimme war auf einen Schlag dahin. Alarmiert schauten wir synchron auf, aber die Tür blieb geschlossen.
„Ich habe Angst davor, mein eigenes Hotelzimmer zu betreten und das nur wegen euch“, beschwerte sich David lautstark, José und ich lächelten beide. „Und glaubt mir, ich unterbreche euch nur ungern bei was-auch-immer, aber wir haben in zehn Minuten Training.“
José seufzte. „Ja… wir kommen gleich“, rief er etwas lauter, dann wandte er sich wieder mir zu. „Später.“ In seiner Stimme lag ein Versprechen, er löste sich von mir und stand auf.
„Schon okay.“ Es war überhaupt nicht okay. Aber was konnte ich schon tun? „ Ich schaue euch zu, wenn das geht.“
„Klar. Auch wenn das vielleicht etwas langweilig ist.“ Er suchte aus seinem Koffer Trikot und Trainingshose heraus.
Ich wollte noch etwas darauf erwidern, aber dann zog er sich sein T-Shirt über den Kopf und ich musste den Atem anhalten. Himmel, er war so unendlich… sexy. Und heiß. Und scharf. Und whooooa. Nein, es könnte einfach nicht sein, dass ich mit diesem atemberaubenden Mann zusammen sein durfte. Unauffällig stützte ich mich mit einer Hand an der Kommode hinter mir ab, um nicht in Ohnmacht zu fallen.
„Können wir?“, fragte er als er fertig war und überging geschickt meinen wahrscheinlich ziemlich dämlichen Gesichtsausdruck.
Ich nickte nur, noch immer atemlos. Er lächelte, kam wieder zu mir und küsste mich noch einmal. „Ich liebe dich.“
Dann nahm er meine Hand und zog die vollkommen von ihm benebelte Ausgabe meiner selbst hinter sich her zur Tür hinaus.
Glück ist, wenn du nicht schlafen willst, weil die Realität schöner ist als jeder Traum.
37. Marmeladenglasmomente
Liebe, das ist zwei Herzen und ein Takt.
Vielleicht lag es daran, dass ich nicht besonders viel von Fußball verstand, aber auf mich wirkte das alles ziemlich professionell. Es war schon jetzt stockdunkel, obwohl es erst früher Abend war und deswegen wurde der Platz auch noch in gleißendes Flutlicht getaucht, was dem Ganzen irgendwie eine magische Atmosphäre verlieh. Ich war irgendwie froh, dass ich die Einzige war, die zusah (insgeheim fragte ich mich, ob man das einfach so überhaupt durfte und ob da nicht vielleicht Josés Überredungskunst im Spiel war), denn so hatte ich den Anblick ganz für mich alleine.
An die Bande gelehnt stand ich etwa in der Mitte einer der langen Seiten, abwesend stapfte ich zwischendurch mit den Füßen ein paar Mal auf, um sie warm zu halten. Meine ganze Aufmerksamkeit wurde jedoch von den Spielern (okay, eher von einem Spieler) gefesselt, die sich über das gesamte Feld bewegten und allerhand Übungen machten, von denen ich mindestens die Hälfte ganz bestimmt niemals hingekriegt hätte. Und auch wenn ich meistens nicht verstand, wozu das gut sein sollte, wurde ich nicht müde, hauptsächlich José zu beobachten, der (natürlich) sämtliche Trainingseinheiten unendlich sexy und atemberaubend absolvierte. Na gut, nicht dass der Rest das nicht auch gut machte (für sie hatte ich nur flüchtige Blicke übrig) und ich hatte ihnen im Sommer ja auch schon einige Male zugesehen, nur um in seiner Nähe zu sein – aber ich war noch immer dabei die Unglaublichkeit seiner Anwesenheit zu erfassen und vielleicht war es ganz gut, ihn so aus der Ferne zu betrachten, denn wenn er direkt bei mir war, konnte ich meine Gedanken kein bisschen sortieren und schon gar nicht zwischen Einbildung und Realität unterscheiden.
Und genau das hatte ich jetzt nötig – ich war so lange von ihm getrennt gewesen, hatte mich irgendwie an seine Abwesenheit gewöhnen müssen und jetzt war er einfach da. Es war zu schön um wahr zu sein und doch sollte es genau das sein.
Während ich dort so stand und nachdachte und ihn nicht für einen Moment aus den Augen ließ, stellte ich fest, dass wir beide trotz allem irgendwie auf einer Wellenlänge waren. Natürlich kam ich in Sachen Aussehen und Talenten nicht wirklich an ihn heran (das konnte man ja auch von keinem menschlichen Wesen erwarten, fand ich) und doch war es so. Wenn man sich vorstellt, dass alle Menschen verschiedenfarbige Punkte sind, dann hätten wir die gleiche Farbe – Blau vielleicht. Nur hätte ich ein dunkles, eher mattes Blau, unscheinbar, er dagegen ein wunderschönes strahlendes Blau (wie seine Augen), das einfach nur bezaubernd war. Der Gedanke war auf seltsame Weise tröstlich, es tat gut zu wissen, dass wir in gewisser Hinsicht eben doch zusammengehörten.
Ich wurde aus meinen höchst tiefsinnigen Überlegungen gerissen, als ich sah, dass José sich jetzt in meine Richtung wandte – die ganze Zeit über hielt ich meine Augen nur auf ihn gerichtet. Er stand immer noch bestimmt 20 Meter von mir entfernt, doch plötzlich hob er einen Arm und winkte mir zu, sein Lächeln erkannte ich auch von meinem Standort aus. Meine Beine wurden ganz weich vor Freude und ich musste mich an der Bande festklammern, damit sie nicht nachgaben.
Wie hatte ich nur von ihm denken können, dass er vielleicht nicht wollte, dass seine Freunde von mir erfuhren?! Dort stand er und bekannte mit dieser Geste vor allen anderen, dass er zu mir
gehörte. Er war einfach nicht so einer, dem das peinlich war und ich liebte ihn dafür.
Mit einem riesigen Lächeln, das die anderen wahrscheinlich an meiner geistigen Gesundheit zweifeln ließ (zum Glück konnten sie mich aus der Entfernung nicht so gut erkennen), winkte ich wild zurück und war einfach nur überglücklich dabei – auch wenn ich mich aufführte wie eine Elfjährige mit ihrem ersten Freund.
Offensichtlich war das Training beendet, denn sie verschwanden nacheinander vom Platz in Richtung der Duschen und Umkleiden. Ich stellte gerade überrascht fest, dass ich hier tatsächlich schon eineinhalb Stunden gestanden hatte, als ich bemerkte, dass José noch nicht gegangen war und jetzt zu mir herüberjoggte.
„Du solltest mich jetzt vielleicht nicht umarmen, ich bin ziemlich-“, fing er an, als er meine Absichten durchschaute, doch ich drückte ihn trotzdem fest an mich. Für mich roch er selbst jetzt noch immer besser als jeder andere – und wie konnte ich auch die Finger von ihm lassen, nachdem ich die ganze Zeit nur daneben gestanden hatte?
Er schien es mir allerdings auch nicht sonderlich übel zu nehmen, denn er umarmte mich genauso. „Ich hatte die ganze Zeit, dass du dich langweilst. Ganz ehrlich, so interessant ist es nicht“, sagte er dann und sah mich prüfend an, um mich zu durchschauen falls ich vorhatte zu lügen. Was ich nicht einmal nötig hatte.
„Ich mag das. War’s gut?“ Ich erwiderte seinen Blick.
„Abgesehen davon, dass ich von dir abgelenkt war und darüber nachgedacht habe, wie ärgerlich es ist, meine Zeit mit dir mit Training zu verschwenden, ja“, gab er zurück. „Ich sollte jetzt auch duschen und umziehen gehen, du kannst ja schon mal-“
„Ich warte lieber“, unterbrach ich ihn schnell und er lächelte über meinen Tonfall.
„Okay. Bis gleich.“
Ich küsste ihn. „Bis gleich.“
Und dann sah ich zu wie er im Laufschritt den anderen folgte, bis die Dunkelheit ihn schließlich verschluckte und ich an dem großen Platz allein war.
Ich atmete tief durch und wärmte mir die Hände in den Taschen meines Mantels während ich langsam den Weg außen herum zu dem Gebäude mit Duschen und Umkleiden nahm. Auch wenn das hier nur ein beliebiger Fußballplatz und kein Stadion war, machte die Anlage schon irgendwie Eindruck auf mich – jetzt im Dunklen konnte man sich leicht vorstellen, es wäre eine riesige Arena.
Mittlerweile war ich bei dem niedrigen Haus angekommen, selbst hier draußen hörte ich das Rauschen von Wasser und ich setzte mich zum Warten auf eine Bank. Verrückt, für ein einziges Fußballspiel von Spanien nach Deutschland zu fliegen, dachte ich. José hatte mir erklärt, dass das nur eine Ausnahme war, aber ich konnte es trotzdem nicht wirklich nachvollziehen – auch wenn es mir natürlich sehr gelegen kam.
„Jenny!“ Ich drehte mich um, als ich ihn meinen Namen aussprechen hörte. Noch immer fand ich, dass er aus seinem Mund schöner klang als sonst.
Er kam auf mich zu, seine Haare feucht vom Duschen und er war noch dabei, seine Jacke zuzumachen – offensichtlich hatte er sich beeilt. Für mich. Der Gedanke zauberte automatisch ein Lächeln auf mein Gesicht und er erwiderte es ebenso (nur tausendmal hinreißender).
„Das ging schnell“, sagte ich, weil mir nichts anderes zu sagen einfiel.
„Ich bin ja nicht gerade ungeübt. Hast du Hunger? Im Hotel gibt’s so ein Restaurant und ich muss noch die deutsche Küche testen.“ Er nahm meine Hand und zog mich bereits hinter sich her. Der Weg zum Hotel war kurz, sodass wir zu Fuß gehen konnten.
„Ja, okay. Aber ich warne dich, das Essen wird dir vergleichsweise langweilig vorkommen“, entgegnete ich und versuchte nicht vor Freude darüber, dass wir wie ein richtiges filmreifes Paar händchenhaltend an einem kalten Winterabend durch die Straßen gingen, herumzuhüpfen.
„Ich werd’s überleben. Hauptsache, wir beide sind zusammen.“ Er sah mich an und ich hoffte, dass er in meinen Augen auch immer so viel Liebe sehen konnte, wie in seinen lag.
„Ja.“ Zu meinem eigenen Ärger klang ich sofort atemlos.
Er schwieg eine Weile. „Weißt du, warum ich Naiara unbedingt von uns erzählen musste und mich auch viel weniger schlecht gefühlt habe als ich es vielleicht hätte tun sollen? Ich wollte, dass wir das nicht länger geheim halten als wäre es irgendwie verboten oder etwas, was man nicht erzählen will. Dabei ist es das größte Glück meines Lebens“, sagte er dann plötzlich und steuerte damit nicht gerade zu meiner regelmäßigen Atmung bei.
„Das ist… ich hatte immer irgendwie Angst, dass es für dich nicht so toll ist. Wegen mir und so.“ Ich starrte verlegen zu Boden, doch ich ging automatisch dichter neben ihm.
„Du unterschätzt dich“, sagte er leise und bevor ich etwas darauf erwidern konnte, küsste er mich schon sanft, was mir augenblicklich den Willen zum Sprechen nahm. Er
unterschützte hier wohl eher sich
, sonst würde er mir und meiner Atmung vielleicht nicht so viel zumuten. Nicht dass ich mich daran irgendwie störte.
Doch dann löste er sich wieder von mir. „Wir sollten jetzt wirklich was essen.“ Ich bewunderte ihn dafür, dass er unwichtige Dinge wie essen in solchen Momenten noch im Kopf hatte – okay, wahrscheinlich lag es eher daran, dass er meine Sinne sehr viel mehr in Anspruch nahm als ich seine.
Einen Moment noch blieben wir stehen, mein Blick hoffnungslos von seinem gefesselt, dann ging er weiter und ich lief widerstandslos mit. So wie ich ihm überallhin folgen würde. Aber es war nicht mehr weit zum Hotel und bevor ich eine Aktion wie Ihn-um-die-Ecke-zerren-und-ohne-Vorwarnung-überfallen verwirklichen konnte, waren wir schon am hell erleuchteten Eingang angekommen. Und hier waren zu viele Zeugen.
Während wir hineingingen und José gleich das Restaurant rechts ansteuerte, stellte ich mich also auf ein abendliches Dinner zu zweit mit ihm ein – auch keine schlechte Aussicht. Ich lächelte automatisch, als er mir den Stuhl an einem Doppeltisch zurecht schob, bevor er sich selbst setzte, überhaupt schien ich in seiner Gegenwart die meiste Zeit mit lächeln beschäftigt zu sein. Er gab mir ja auch genügend Anlass dazu.
Das bestellte Essen kam schnell und auch wenn es zweifellos gut schmeckte, sah ich ihn die ganze Zeit an. Ich wollte jetzt noch nicht an einen Abschied denken, aber sein Anblick sollte sich in mein Gedächtnis einbrennen, damit ich mich noch viele Wochen daran erinnern konnte. So viele Wochen wie ich überleben musste, bis… bis ich eine andere Chance erhielt und ihn sehen konnte.
Ich war nicht in der Lage, ein vernünftiges Gesprächsthema anzufangen, aber wie immer war das Reden mit ihm leicht, die Unterhaltung floss dahin und ich konnte locker antworten, ohne lange nachzudenken. Auch wenn er zweifellos darauf brannte, alles zu hören, was in meinem Leben während der letzten Monate geschehen war (was nicht viel war, außerdem hatte ich ihm das Meiste sowieso am Telefon berichtet), erzählte er bereitwillig von den Ereignissen in seiner Heimat – und obwohl er beteuerte, dass es auch dort jetzt kälter war, hatte ich das kleine Haus und seine Umgebung noch immer in strahlendem Sonnenschein und unter einem makellos blauen Himmel in Erinnerung. Ich hatte das beängstigende Gefühl, viel verpasst zu haben und wenn ich wiederkommen würde (und ich war sicher, dass das der Fall sein würde), vielleicht verwirrt zu sein und nicht mehr in die Welt dort hineinzupassen. Vielleicht hatte sich dort schon eine Menge verändert und ich bekam es nicht einmal mit.
„Wenn du kommst, wird alles für dich bereit sein. Du könntest sofort anfangen, dein Leben weiterzuführen“, sagte er, als hätte er meine Gedanken gelesen.
Ich seufzte sehnsüchtig. „Ich wünschte, ich könnte morgen mit dir mitfliegen.“
„Das wünschte ich auch. Aber das solltest du deinen Eltern wirklich nicht antun und die Schule…“, erinnerte er mich.
„Ich weiß.“ Einen Moment noch gab ich mich der verführerischen Vorstellung hin, wie wunderbar es wäre, dann hellte sich mein Gesicht wieder auf. „Gehen wir hoch? Es ist schon ziemlich spät.“ Tatsächlich hatten wir hier länger gesessen als ich gedacht hatte.
Auch er lächelte und stand auf. „Gut.“ Wir zahlten – er bestand darauf, die Kosten zu übernehmen und ich war sicher, dass er mir mein Geld hinterher unbemerkt zurückgeben würde, wenn ich einen Cent ausgeben würde. So seufzte ich nur ergeben, jedoch war ich nicht in der Lage, ein kleines Lächeln zu unterdrücken, ich hatte einfach eine Schwäche für Gentlemen. Ganz besonders für ihn.
Ich hatte ein bisschen gehofft, dass das Zimmer leer sein würde, aber als wir es betraten, war David schon da. Er hatte mit einigen anderen bereits etwas gegessen und war jetzt dabei, einige Sachen aus seinem Koffer heraus- und wieder hineinzupacken.
Er sah vom Boden zu uns auf und musterte mich kritisch. „Schläfst du auf der Couch?“
„Wie kannst du erwarten, dass ich ihr nur das zur Verfügung stelle?“, fragte José zurück bevor ich den Mund aufmachen konnte.
„Ich hab so was befürchtet.“ David seufzte theatralisch und ich musste grinsen.
„Ein bisschen Verständnis, bitte“, sagte ich und ging zu Josés Bett hinüber, um mein bisschen Gepäck zu begutachten, das hauptsächlich aus den klassischen Übernachtungsutenisilien bestand. Ich brauchte schließlich auch kaum etwas anderes als ihn.
Es wurde jedoch noch später, bis wir schließlich ins Bett gingen, da David uns noch zu Kartenspielen überredete – bei denen ich immer verlor, wenn José mich nicht absichtlich gewinnen ließ. Mich störte das nicht besonders, ich saß gerne daneben, sah zu wie die anderen beiden sich gegenseitig aufheizten und trank dabei eine Cola nach der anderen. Irgendwann merkte José dann sehr vernünftig an, dass es schon spät war und die beiden Jungs bestanden darauf, dass sie die Spiele aufräumten, während ich mich als Erste im kleinen Bad umzog.
Als ich wiederkam, hatten sich beide jedoch schon dort bettfertig gemacht und das wahrscheinlich in wenigen Sekunden – ich dagegen hatte erst noch meine Haare kämmen und mich ein bisschen waschen müssen. Nicht dass ich mir neben José jetzt irgendwie ebenbürtiger vorkam.
Mit wenigen Schritten durchquerte ich das Zimmer und kroch schnell zu ihm unter die warme Decke, die er mir fast vollkommen überließ, auch wenn ich sie angesichts seiner angenehmen Körperwärme gar nicht gebraucht hätte. Ich lächelte glücklich, weil es mich so sehr an den Sommer erinnerte, an die vielen Nächte an seiner Seite, auch die, in denen wir noch nur Freunde gewesen waren. Ich wusste, heute würde ich endlich wieder gut schlafen können und am nächsten Morgen an seiner Seite aufwachen können. Mir war nie klar gewesen, was für ein großes Glück das eigentlich war. Umso mehr würde ich es jetzt auskosten.
„Jeden Abend habe ich es mir vorgestellt und jetzt bist du endlich wieder bei mir.“ Er flüsterte, auch wenn David sich demonstrativ die Stöpsel seines iPods in die Ohren gesteckt und sich zur Wand gedreht hatte.
„Ich versuche das zu glauben, seit ich dich heute Nachmittag gesehen habe“, erwiderte ich ebenso leise, während ich noch nach der bequemsten Position dicht an seinem Körper suchte. Mir war nie bewusst gewesen, wie sicher und geborgen ich mich bei ihm fühlte, wie gut seine um mich geschlungenen Arme doch taten.
„Ich liebe dich und ich habe in den letzten Monaten nicht eine Sekunde aufgehört dich zu lieben. Nur dich.“ Ich wünschte, ich könnte seine Worte aufnehmen, um sie jederzeit wieder abspielen und spüren zu können, wie mein Herz einen kleinen, glücklichen Sprung vollführte.
„Mhm“, machte ich nur, denn er küsste mich und ich hatte vergessen, was ich hatte entgegnen wollen – es war auch nicht mehr wichtig. Endlich konnte ich alles um mich herum vergessen und mich nur auf ihn konzentrieren, damit war ich sowieso rundum beschäftigt.
Das Bettgestell knarrte bedenklich als er sein Gewicht etwas verlagerte, um mein Gesicht zwischen seinen warmen Händen zu halten, aber ich nahm es kaum wahr. In mir explodierten zuverlässig meine Gefühle und verwischten zu einem einzigen Impuls aus unendlicher Zuneigung. Solche Momente ließen mich keine Sekunde daran zweifeln, dass ich zu ihm und zu keinem anderen gehörte. Mein Körper schien die ganze Zeit gewartet und alle Energie, die ich nicht verwendet hatte, nur für jetzt aufbewahrt zu haben, ich fühlte mich wieder so lebendig, so vollkommen ich selbst wie seit dem Ende des Sommers nicht mehr. Und dieses Gefühl hatte mir keiner vor ihm geben können, dieses deutliche Gefühl, am Leben zu sein und seine Sinne etwas wahrnehmen lassen zu können, was man sonst nicht bemerkte.
Es war so eine Erleichterung zu spüren, dass er noch er selbst war, noch der Mann, den ich vor vielen Wochen verlassen musste und den ich die ganze Zeit über vermisst hatte. Sein Duft war noch immer derselbe, er roch nach Salz und Sonne als wäre er der personifizierte Sommer. Das Blau seiner Augen wirkte beruhigend und fesselnd zugleich und jetzt endlich konnte ich der Intensität seines Blickes nachgeben und mich vergessen.
Mit der Situation mal wieder vollkommen überfordert, hatte sich meine Atmung in ein unregelmäßiges keuchendes Luftholen zwischen seinen Küssen verwandelt. Ich hatte gedacht, dass ich mich in Davids Nähe nicht so mit José verhalten könnte, aber stellte fest, dass es mir egal war. Ich hatte zu lange gewartet, um das noch als peinlich einstufen zu können und irgendwann sah ich aus den Augenwinkeln, wie er samt Decke und Kissen in Richtung Couch abzog. Mir blieb nicht einmal Zeit für ein Grinsen, ich wurde zu sehr von Josés Händen und Lippen abgelenkt.
Ich dachte an so manchen Abend im Sommer, an dem er mich scheinbar ewig hatte zappeln lassen bis er mich endlich an sich heranließ. Heute Nacht war anders. Keiner von uns hatte noch die Geduld für solche Spielchen und im Hinterkopf hatten wir schon den Gedanken an den Abschied morgen. Die kurze Zeit gemeinsam musste genutzt werden, ich spürte es in seinen sicheren Bewegungen, die mich wie immer ebenfalls sicher machten und daran, dass sein Herzschlag, der gegen meinen pochte, beinahe genauso schnell ging wie meiner.
Überwältigt von den ungewohnten Gefühlen, die so lange nicht zum Einsatz gekommen waren, gab ich mich der Versuchung hin und mein letzter Rest Widerstand löste sich in nichts als Liebe und Lust auf.
Manchmal frage ich mich, was die Welt für einen Sinn hat. Dann sehe ich dich und weiß es wieder.
38. Ein Tag für die Ewigkeit
Liebe bedeutet nicht, einander anzuschauen, sondern gemeinsam in die gleiche Richtung zu blicken.
Ich versuchte mich daran zu erinnern, wann das Aufwachen zum letzten Mal etwas Schönes gewesen war. Irgendwann vor etwa vier Monaten.
Aber am nächsten Morgen war es, als hätte man mich wieder in den Sommer zurückversetzt – wenn man davon absieht, dass die Sonne nicht warm herein schien und die Matratze ungewohnt hart war. Sekundenlang war ich verwirrt, doch der warme Arm um meine Taille konnte nur einem gehören und ich blieb einen Moment stumm und glücklich liegen, um das Wunder des Augenblicks in mir aufnehmen und mich später daran erinnern zu können.
Wir frühstückten wenig später mit den ganzen anderen Spielern unten im Hotel, David jammerte die ganze Zeit vor sich hin, dass wir ihn aus seinem schönen Bett vertrieben hatten und gab sich Mühe, besonders wütend zu gucken – erfolglos. Erstaunlicherweise schüchterte es mich gar nicht sosehr ein, mit einem Haufen Fremder an einem Tisch zu sitzen, ich musste nur auf meinem Platz sitzen und ab und zu nett lächeln. Einige Male sprach einer José auf mich an und ich lief zartrosa an (vor allem wenn sie so schnell und gedämpft redeten, dass ich es nicht verstand und ich wusste, dass es um mich ging), doch Josés Tonfall blieb nach wie vor stolz und sah mich an als wäre ich der Mittelpunkt des Universums, was mir jedes Mal aufs Neue ein überglückliches Lächeln entlockte und mich einen Augenblick lang vergessen ließ, wo wir waren und wer um uns herum saß und uns vielleicht gerade ansah.
Gleich danach stand erneutes Training an – ich fand das ein bisschen übertrieben, immerhin war das Letzte erst einige Stunden her, aber ich verkniff mir jeden Kommentar und verzog nicht einmal das Gesicht. Im Grunde wusste ich selbst, dass ich nur ungeduldig war und so viel wie möglich mit José unternehmen wollte, doch ich erinnerte mich daran, dass ich von Anfang an gewusst hatte, was auf mich zukam. Unzählige Male hatte er mir ängstlich erklärt, dass es für mich ein bisschen langweilig werden würde und ich war fest entschlossen, mir nichts anmerken zu lassen und auf keinen Fall seine Befürchtungen zu bestätigen.
„Du kannst wirklich
shoppen gehen oder so, du musst doch nicht die ganze Zeit daneben sitzen“, schlug er vor, während die anderen sich schon aufwärmten.
Ich verdrehte die Augen – glaubte er wirklich, dass ich meine Zeit mit ihm so verschwenden würde? „Ich sitze gerne daneben. Und jetzt geh schon und mach mit, dein Trainer mag mich bestimmt schon jetzt nicht, weil ich dich ablenke.“ Ich gab ihm einen kleinen Schubs in Richtung des Feldes, er bewegte sich nicht einen Zentimeter.
„Wer lenkt hier wen ab?!“ Er küsste mich, dann wandte er sich lachend über meinen überrumpelten Gesichtsausdruck um und lief zu seiner Mannschaft hinüber.
Unfähig, ihm böse zu sein, musste ich ebenfalls lächeln und stellte mich darauf ein, die Zeit wie gestern hinter mich zu bringen. Ich nahm mir vor, bescheiden zu sein und möglichst nicht daran zu denken, was wir stattdessen hätten tun können.
Und es klappte sogar – fasziniert beobachtete ich ihn und schwankte dazwischen, mich zu beglückwünschen, weil ich so unendlich stolz auf ihn sein konnte, und mich zu bemitleiden, weil ich neben ihm noch untalentierter wirkte als ich eigentlich war. Doch egal, wie ich dachte, es lief immer darauf hinaus, dass ich mir sagte: Er ist hier. Und die Tatsache konnte mich selbst nach einigen Stunden mit ihm noch glücklich machen.
„Was willst du machen? Die meiste Zeit wirst du nur mit meinem Hobby konfrontiert und jetzt können wir bis zum Spiel heute Nachmittag etwas unternehmen, was dir
gefällt.“ Wir waren im Hotelzimmer, wo er seine Trainingssachen verstaute. Aus der über seine Tasche gebeugten Position sah er jetzt zu mir auf, um mir allein durch seinen Blick keine Ausflüchte zu erlauben.
Ich seufzte. „Ich werde gerne mit etwas konfrontiert, das mit dir zutun hat“, gab ich zurück. Wann würde er endlich damit aufhören sich Sorgen darüber zu machen, dass er mich langweilte? Es war vollkommen unmöglich und er wusste es.
„Das spielt keine Rolle.“ Er richtete sich auf und warf mir einen weiteren erwartungsvollen Blick zu.
„Ich kenne mich hier weniger aus als du, wir können also einfach rumlaufen und später was essen oder so.“ Ich hätte sowieso alles getan, bei dem er und ich zusammen waren.
Wie ich erwartet hatte, war er von meiner wenig kreativen Idee begeistert und wenige Minuten später fanden wir uns in der überraschend gut besuchten Innenstadt wieder – ich hatte bereits nach einigen Malen abbiegen die Orientierung verloren, während er sich nicht die geringsten Sorgen zu machen schien, dass wir nicht zurückfinden würden. Es war fast unheimlich, wie leicht er überall zurechtkam und mir alles erklärte, als wäre er schon oft hier gewesen. Ich nickte immer nur und hatte doch keinen Blick für die Schaufenster und Häuser, ich prägte mir sorgfältig seine Mimik ein und hätte gegen eine Laterne laufen können ohne es zu bemerken. Seine Hand hielt meine umschlossen und wenn er sie zwischendurch sanft drückte wusste ich, dass er mit den Gedanken nicht sosehr mit der Umgebung beschäftigt war wie es den Anschein hatte.
Irgendwann setzten wir uns in ein Café um etwas zu essen und ich war froh, eine Entschuldigung dafür zu haben, dass ich ihn ununterbrochen ansah – immerhin saßen wir uns gegenüber.
„Wenn es irgendwie möglich wäre, würde ich heute Abend mit zu dir nach Hause kommen und noch ein paar Tage bleiben“, sagte er plötzlich, nachdem wir minutenlang darüber spekuliert hatten, was wir machen würden wenn ich wieder zu ihm kommen konnte. Irgendwann. Hoffentlich sehr bald.
Ich stellte meine Tasse Cappuccino vorsichtig ab und sah ihn dann an. Ich versuchte, ihn mir in unserem absolut durchschnittlichen Haus vorzustellen, in meinem unaufgeräumten Zimmer oder auf einem der Esszimmerstühle. Wir hatten nicht so was wie die Aussicht aufs Meer zu bieten, in der Nähe gab es keinen Strand und die Sonne schien auch nicht.
„Nein, lieber nicht. Ich komme lieber mit zu dir“, sagte ich schließlich, nachdem er interessiert mein Gesicht beobachtet hatte während ich überlegte.
„Wieso? Du warst monatelang bei mir, da wäre es nur fair, wenn ich auch zu dir darf. Ich muss doch wissen, wie du lebst.“ Prüfend sah ich ihm in die Augen, doch seine Neugierde schien echt zu sein.
„Vielleicht ist es nicht so wie du es dir vorstellst. Es ist ganz normal und langweilig. Nichts Sehenswertes“, versuchte ich ihn zu überzeugen.
„Aber es ist dein Zuhause“, konterte er.
„Irgendwann zeige ich es dir mal. Wenn wir schon längst zusammen leben und zu Weihnachten meine Familie besuchen oder so.“ Einen Moment lang stellte ich mir vor wie es wäre – er und ich in unserem Wohnzimmer und es war ganz selbstverständlich, dass wir ein Paar waren und zusammengehörten.
„Nein. Wenn ich zu euch komme, um als dein Freund oder Verlobter oder wie weit wir dann auch immer sind einfach etwas Zeit mit dir zu verbringen, vielleicht weil wir deine Eltern besuchen“, widersprach er und ich hielt einen Moment lang den Atem an. Die Vorstellung, dass ich jemals mit ihm verlobt sein könnte, machte mich auf einmal unfassbar glücklich und die Tatsache, dass er es einfach so dahinsagte als wäre es ihm jetzt schon klar, brachte mein Herz zum Rasen. Ich war schließlich erst 16, nicht einmal erwachsen. Und er zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass wir zusammen glücklich werden konnten.
Plötzlich musste ich daran denken, wie Nico früher, vor dem Sommer, oft über unsere gemeinsame Zukunft geredet hatte. Auch er hatte zuversichtlich geklungen, während ich stets skeptisch geblieben war. Ich hatte immer daran gedacht, wie viel von meinem Leben noch vor mir lag und was sich alles ändern konnte.
Ich hatte Recht gehabt. Es hatte sich viel geändert und die beste Veränderung saß gerade vor mir und sah mich aus den schönsten blauen Augen der Welt geradewegs an. Und ich spürte, dass ich seine Zuversicht teilen konnte, dass ich fest daran glaubte, dass uns nichts trennen würde. Es war mir nie wirklich bewusst gewesen, aber in all meinen Zukunftsüberlegungen spielte er die Hauptrolle, wie selbstverständlich sah ich ihn darin neben mir.
„Äh… ja“, erwiderte ich viel zu spät in dem Versuch, meine unbändige Freude über meine Erkenntnis zu verbergen. Er wusste ja gar nicht, wie sehr seine locker dahingesagten Worte die Gefühle in mir toben ließen.
Doch dann lächelte er mich auf diese Art an, dass ich mich fragte, ob er es nicht doch ganz genau wusste. Ich war dankbar, dass er nichts dazu sagte oder nachfragte, sondern auf sein wunderbares und extrem nützliches Talent zurückgriff mit mir allein durch Blicke zu kommunizieren.
Der Rest des Tages verschwamm zu einem einzigen gelungenen Ereignis, ich wusste kaum noch in welchen Läden wir gewesen waren, aber ich hatte das befriedigende Gefühl, seine Anwesenheit so gut wie möglich ausgenutzt zu haben. Kleine Gesten, wie wenn er mir eine Haarsträhne zurückstrich oder ohne Grund den Arm um mich legte, zeigten mir, dass nicht nur ich glücklicher war als es Worte hätten ausdrücken können.
Das Spiel am Nachmittag hätte ich einfach vergessen wenn er mich nicht rechtzeitig daran erinnert hätte, dass wir allmählich zurück zum Hotel mussten und ich verbot mir den Gedanken daran, dass er danach abreisen müsste…
Es war keine große Sache und ich war erneut verwirrt darüber, dass man wegen 90 Minuten eines nichts bedeutenden Spiels mal eben ins Flugzeug stieg und von Spanien nach Deutschland flog. Die Zuschauer waren, soweit ich das beurteilen konnte, größtenteils Angehörige der Spieler von der gegnerischen Mannschaft und vereinzelt einige Leute, die man vielleicht großzügig als Fans bezeichnen konnte. Trotzdem hoffte ich, dass es am Ende dann auch nicht so was wie Trikottausch geben würde – ich fand, dass ich sehr wohl das alleinige Recht, ihn oberkörperfrei zu sehen, beanspruchen durfte.
Mir wäre es ehrlich gesagt ziemlich egal gewesen, wie das Endergebnis aussah (wenn es sowieso nicht zählte, was war daran dann wichtig?), aber José zuliebe hoffte ich natürlich auf einen glanzvollen Sieg und war höchstzufrieden als ich feststellte, dass seine Mannschaft ganz offensichtlich die Bessere war. Deswegen waren die vier Tore, die insgesamt fielen, auch nicht gerade hart erkämpft, aber ich klatschte trotzdem jedes Mal wie wild – vor allem beim Tor, das zu meiner großen Freude José schoss – und erntete damit böse Blicke der deutschen Anhänger. Ich bemerkte es kaum.
Auch wenn ich wusste, dass es eingebildet und albern war, hatte ich am Ende das Gefühl, dass er das Spiel für mich gespielt hatte, für uns beide. Ohne darauf zu achten, dass er schweißüberströmt war, umarmte ich ihn fest und ließ mich herumwirbeln, nachdem ich ihn abgefangen hatte, bevor er in der Umkleide verschwinden konnte.
„Es war echt toll!“ Oder er war toll gewesen. Wie auch immer.
„Freut mich, wenn es dir gefallen hat. Aber es war nicht sehr schwer, ein Sieg war eigentlich sowieso Pflicht“, wandte er ein und setzte mich ab. „Ich muss schnell noch duschen, ja?“
Ich holte tief Luft. „Wann fahrt ihr ab?“ Ich starrte zu Boden, obwohl ich ihm in die Augen hatte sehen wollen.
„Wir müssen bald danach los, vorher noch Sachen packen und vielleicht was Kleines essen“, sagte er sanft.
„Okay“, erwiderte ich, den Blick noch immer auf den Boden gerichtet. Es war überhaupt nicht okay und wir wussten es beide. „Bis gleich“, setzte ich hinzu. Ich wollte noch so viel Zeit mit ihm haben wie möglich.
Er sah aus als wollte er noch etwas sagen, schien es sich dann aber anders zu überlegen und ging. Schweigend blieb ich stehen und lehnte mich gegen die Wand, um auf ihn zu warten. Auf einmal fühlte es sich nicht mehr so an als hätte ich das Beste aus dem Tag mit ihm gemacht. Die Zeit war zu schnell vergangen, man würde ihn mir wieder wegnehmen. Ich erinnerte mich an seine Worte, seine Warnung, dass der Abschied jetzt noch schwerer fallen könnte. Ich biss die Zähne zusammen und nahm mir fest vor, nicht zu weinen – nicht vor ihm. Ich würde es ihm nicht noch schwerer machen, diesmal würde ich stark und gefasst sein, sodass er stolz auf mich war. Ich würde einfach daran denken, dass wir uns sicher bald wieder sehen konnten, dass es erneut so sein könnte wie jetzt.
Als er nach einer Weile zurückkam, war meine Miene unbewegt und ich hoffte, dass man mir nicht ansah, worüber ich nachgedacht hatte. Wahrscheinlich vermutete er dennoch richtig, wir gingen schweigend nebeneinander zurück zum Hotel, aber ich lief dichter neben ihm als sonst. Ich musste seine Nähe irgendwie in mir aufnehmen, mir seinen Geruch und seine Wärme merken, damit der Vorrat an Erinnerungen, den ich mir zulegte, so lange reichen konnte wie nötig.
Wir packten beide unsere Sachen zusammen, ich war schnell fertig und sah ihm zu, beobachtete, wie der Mann, den ich liebte, sich bereit machte, mich zu verlassen. Er setzte sich aufs Bett als er fertig war und machte keine Anstalten zu gehen. Er sah mich an. Ich wusste, wenn wir heruntergingen, würden dort schon einige der anderen sein, startklar und mit ihrem Gepäck. Und ich wusste, dass wir den richtigen Abschied vorher hinter uns bringen mussten, wenn wir noch unter uns waren. Es war soweit.
Im selben Moment als ich einen zögernden Schritt auf ihn zumachte, kam er auch auf mich zu – wir lächelten beide kurz über das gleiche Vorhaben, dann wurden unsere Gesichter ernst. Ich blieb vor ihm stehen, unsicher, was die beste Art war, ruhig und ohne Theater von ihm Abschied zu nehmen.
Doch bevor ich mich zu einer Möglichkeit entschließen konnte, beugte er sich schon zu mir herunter und küsste mich, so vorsichtig als hätte er Angst, ich könnte unter der Berührung zerbrechen. Ohne darüber nachzudenken schlang ich die Arme um ihn und verschränkte meine Hände auf seinem Rücken. Ich erwiderte seinen Kuss heftiger, leidenschaftlicher, ich war sicher, dass ich diese kleinen Zärtlichkeiten jetzt nicht ertragen konnte. Ich musste noch einmal mit aller Kraft spüren, wie es sich anfühlte ihn im Arm zu halten und zu küssen.
Er gab mir nach ohne Widerstand zu leisten, umarmte mich fester und küsste mich noch einmal lang und innig, bis ich Luft holen musste. Dann löste er sich von mir, unsere Blicke noch immer hoffnungslos miteinander verschmolzen.
Vor der Tür erklangen Schritte. „José?“ David klang vorsichtig, er wollte uns eigentlich nicht stören. „Wir müssen gleich los.“
„Ich liebe dich“, flüsterte José mir ins Ohr, sein Atem strich warm über meine Wange.
„Ich liebe dich sowieso“, gab ich zurück, meine Stimme klang heiser.
Er lächelte mich eine Sekunde länger an, dann nahm er seinen Koffer und wir gingen zur Tür, wo David gerade die Hand hob, um erneut zu klopfen. Wir stiegen zu dritt in den Fahrstuhl, es wurde eine schweigsame Fahrt. Ich wollte die Stille mit Worten füllen, wusste aber nicht was ich sagen sollte. Und so drückte ich nur seine Hand fester und perfektionierte die neutrale Maske auf meinem Gesicht.
Ich hatte das Treiben in der Eingangshalle erwartet und doch blieb ich kurz wie erstarrt stehen, als die Fahrstuhltür sich öffnete. Sanft schob José mich heraus, wir gingen zu den anderen hinüber. Alles deutete darauf hin, dass sie jeden Moment aufbrechen wollten und noch während ich das dachte, traten die Ersten hinaus auf die Straße. Draußen stand ein Bus bereit, die Türen waren schon geöffnet und das Gepäck wurde eingeräumt. Man nahm José seinen Koffer ab.
„Mach’s gut, Jenny.“ David umarmte mich ungeschickt, er hatte beide Hände voll.
„Klar. Grüß Serena von mir.“ Ich zwang mich zu einem Lächeln, ließ es aber bleiben als ich bemerkte, wie unecht es war. Er zwinkerte mir betont fröhlich zu und stieg in den Bus, nachdem auch sein Gepäck verstaut war.
Ich atmete tief durch und wandte mich zu José um. Es ist nur ein Abschied für jetzt, sagte ich mir, während er mich in eine sanfte Umarmung zog. Seine Lippen trafen weich auf meine und ich schloss die Augen und wünschte mir, für immer so stehen bleiben zu können. Dann war der Moment vorbei, er trat zurück und sah mich an.
„Wir sehen uns bald wieder.“
„Bald“, nickte ich, in meinen Augen standen die Tränen, die ich hatte zurückhalten wollen. „Bald“, wiederholte ich als würde mich allein das Aussprechen des Wortes diesem Wiedersehen näher bringen.
Er nickte ebenfalls und für den Bruchteil einer Sekunde sah es so aus, als wollte er mich noch einmal umarmen, mich noch einmal küssen. Doch dann besann er sich, drehte sich um und stieg als Letzter in den Bus. Die Tür schloss sich und trennte mich von ihm, durch die Scheibe beobachtete ich, wie er sich den Gang entlangschob und zu David auf seinen Sitz am Fenster zwängte. Als er mich ansah, lächelte er, um seine Trauer zu verstecken, doch ich sah sie trotzdem. Aber auch ich lächelte, lächelte während mir die Tränen nun über die Wangen liefen. Im Regen bemerkte ich sie nur, weil ich plötzlich den salzigen Geschmack im Mund hatte. Salzig wie das Meer.
Der Bus setzte sich in Bewegung, mein Herz schrie danach, nebenher zu laufen, nur um ihn noch etwas länger zu sehen. Aber ich spürte meine Beine nicht und so blieb ich steif stehen. Bald konnte ich sein Gesicht nicht mehr sehen und ich spürte das vertraute Stechen in meiner Brust. Dann entfernte sich auch die Rückseite des Busses immer weiter. Noch ein Stich. Ich glaubte, an meinen Tränen ersticken zu müssen.
Der Bus verschwand hinter einer Biegung der Straße. Und ich war wieder allein.
Allein sein zu müssen ist das Schlimmste, allein sein zu dürfen das Schönste.
39. Eiskalt
Nichts ist so leer wie eine Welt ohne dich.
Den Weg zum Bahnhof legte ich wie im Traum zurück. Meine Sicht war durch Regen und Tränen verschleiert und es war eigentlich ein Wunder, dass ich den Weg intuitiv fand. Mir war nicht kalt, es war eben nur… nass. Manchmal glaubte ich, noch immer seine Hand um meine zu spüren und ich musste hinschauen um mich zu vergewissern, dass es nicht so war. Aber meine Erinnerungen waren frisch und auf meinen Lippen fühlte ich seine, als wäre er genau jetzt bei mir und würde mich küssen.
Ich musste zum Glück nicht lange warten und der bequeme Sitz im Zug, die vorbeifliegende Landschaft, all das beruhigte mich irgendwie. Trotzdem zwang ich mich dazu, wach zu bleiben – ich brauchte nicht unbedingt sofort wieder allzu realistischen Träumen erliegen. Die Fahrt ging schnell vorbei und ich machte mich direkt auf den Weg nach Hause, obwohl ich eigentlich erst bei Kathi hatte klingeln wollen. Doch ich war nicht sicher, ob ich die Kraft für ein Gespräch mit ihr jetzt noch aufbringen würde, sie würde das hoffentlich verstehen.
Meine Mutter öffnete mir, sie lächelte, allerdings nur bis sie sah, wie durchnässt ich war. „Wir hätten dich doch abgeholt!“, rief sie statt einer Begrüßung und zog mich ins Haus.
„Frische Luft tut gut“, verteidigte ich mich schwach.
Sie hörte es gar nicht und half mir aus meiner Jacke. „War’s gut mit Kathi?“
„Klar.“ Ich hoffte, dass das fürs Erste reichte und ich nicht noch mehr erzählen musste.
„Äh, Jenny?“, fragte sie plötzlich in verändertem Tonfall.
Ich drehte mich alarmiert zu ihr um. Sie stand mit dem Rücken zu mir. „Ja?“
„Nico ist in deinem Zimmer. Ich hab ihm gesagt, dass du noch nicht da bist, aber er wollte auf dich warten und dann hab ich ihn reingelassen.“
„Was?!“ Es kam lauter heraus als ich beabsichtigt hatte, aber ich konnte nichts dagegen tun. Warum um alles in der Welt war ausgerechnet Nico hier?!
„Jetzt sei doch nicht sauer, Schatz“, versuchte meine Mutter mich zu beruhigen. Zumindest klang sie schuldbewusst.
„Ich will nicht mit ihm reden“, fauchte ich. Meine Müdigkeit war auf einen Schlag verschwunden und statt abzuwarten, was sie erwiderte, hastete ich die Treppe hinauf. Ich wollte es schnell hinter mich bringen, außerdem war ich im Vorteil – ich konnte ihm vorwerfen, dass er einfach bei uns hereinspazierte und überhaupt, es gab nichts zu bereden. Ich hatte in den letzten Wochen ja wohl unübersehbar klar gemacht, dass es vorbei war und naiv wie ich war hatte ich sogar schon gehofft, dass er es vielleicht akzeptiert hatte. Offensichtlich hatte er es nicht. Na toll.
Ohne zu zögern riss ich die Tür auf – das fehlte noch, dass ich an meinem eigenen Zimmer anklopfen musste. Mit einem schnellen Blick erfasste ich die Situation. Nico saß auf meinem Bett, in der Hand das eingerahmte Foto, das José mir nach dem Sommer geschenkt hatte. Was fiel ihm ein?! Wenn auch nur ein Kratzer zu sehen war, würde er Riesenärger bekommen, soviel war sicher.
„Stell das wieder hin.“ Vielleicht war mein Tonfall etwas zu scharf, aber dass er einfach in meinem Zimmer herumschnüffelte, gab mir den Rest.
Er sah zu mir auf und zu meinem großen Ärger blickte er nicht einmal schuldbewusst. Reglos und ohne meiner Aufforderung nachzukommen, blieb er sitzen und sah mich nur an.
Ich atmete gereizt aus, ging zu ihm hin und nahm es ihm aus der Hand. Ich betrachtete es schnell, soweit ich es erkennen konnte, war es unversehrt. Zu seinem Glück. Aber das war ja auch das Mindeste, wie ich fand. Er verletzte gerade immerhin erfolgreich meine Privatsphäre. Vorsichtig legte ich das Foto auf meinen Schreibtisch, damit es für ihn außer Reichweite war.
Schweigend beobachtete er mich. Gut, dann würde ich eben anfangen. „Was willst du hier? Kannst du nicht wenigstens warten, bis ich dich hereinlasse?!“ Ich verschränkte die Arme. Dass er den Sitzplatz auf meinem Bett hatte, gefiel mir gar nicht.
„Du hast gelogen. Du hast allen erzählt, dass du das Wochenende bei Kathi verbringst und in Wirklichkeit warst du bei ihm
.“ Seine Stimme war nicht eine Nuance wärmer als meine.
Für eine Sekunde entglitt mir meine Disziplin, dann hatte ich meinen Gesichtsausdruck wieder neutralisiert. Ich wollte ihn fragen, woher er das wusste, aber es gab nur eine Möglichkeit. „Kathi hat es dir gesagt.“ Oh, sie konnte etwas erleben. Sie hatte versprochen, nichts zu sagen und dann erzählte sie es ausgerechnet Nico?! Auch wenn ich vielleicht schuldbewusst hätte sein sollen, fühlte ich nur noch mehr Wut in mir aufsteigen und ich musste mich dazu überwinden, seine Antwort geduldig abzuwarten.
„Es spielt keine Rolle, von wem ich es weiß“, sagte er, doch an seinem kurzen Zögern bemerkte ich, dass ich richtig lag. Super. Tolle ‚beste Freundin’. „Aber du hättest es mir sagen sollen“, fuhr er härter fort.
Das sah ich ja jetzt mal überhaupt gar nicht ein! „Wieso? Damit du dich darüber aufregst und ich darum fürchten muss, dass du versuchst es zu verhindern?!“
„Steh doch wenigsten zu dem, was du machst! Ich dachte, wir könnten uns die Wahrheit sagen, auch jetzt noch.“ Unverwandt bohrte sich sein kalter Blick in meinen, doch es machte nicht mehr soviel her, als seine Stimme bei dem letzten Satz leiser wurde. Wut war einfach nicht sein Ding, er stritt nicht gerne.
Aber ich war zu wütend, um gnädig zu sein – streiten war mein Spezialgebiet. „Und ich dachte, du hättest allmählich kapiert, dass es zwischen uns aus ist.“ Ich sah wie er zusammenzuckte, doch ich war zu aufgebracht. Sollte es ihn ruhig verletzen, es war immerhin nur eine Tatsache.
„Du hast gesagt, du magst mich immer noch.“ Jetzt klang er nur anklagend.
„Und das stimmt auch. Ich kann verstehen, wenn du wütend auf mich bist, aber merkst du denn nicht, dass ich es ernst meinte? Es tut mir leid, dich zu verletzen, aber ich habe mich geändert und es bringt nichts, wenn du andauernd anrufst und auf meine Mailbox sprichst. Hör auf damit, besser als er sein zu wollen, es hat keinen Zweck. Ich bin im Moment echt nicht in der Stimmung dafür, dich immer wieder neu davon überzeugen zu müssen“, sagte ich kalt. Er verdiente das hier nicht, doch die Worte sprudelten nur so aus mir heraus, Worte, die ich sonst nur gedacht hatte. Ausgesprochen klangen sie noch härter, aber es tat mir nicht leid.
„Ich würde aufgeben, wenn ich damit aufhören würde“, entgegnete er leise. Keine Spur von Wut mehr. Und es machte keinen Spaß mit jemandem zu streiten, der nicht wütend war.
„Aber das wäre das Beste. Es wird sich nichts an meinen Gefühlen ändern.“ Auch ich war plötzlich ruhig.
„Doch, es könnte doch noch einmal so kommen. Du könntest dich in einen anderen verlieben. Du könntest dich noch einmal in mich verlieben“, widersprach er hoffnungsvoll und ich befürchtete, dass er das wirklich glaubte. Verdammt.
„Nein.“ Wie aus der Pistole geschossen kam es aus mir heraus. Sanfter fuhr ich fort: „Ich weiß nicht, warum ich mir so sicher bin, aber er ist der Richtige. Es ist so vollkommen anders als es mit dir war…“
Er schwieg eine Weile und ich wollte gar nicht wissen, worüber er nachdachte. „Du warst über Nacht bei ihm.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, aber an seinem flehenden Unterton bemerkte ich, dass er dennoch hoffte, ich würde es abstreiten.
„Das war ich schon oft“, rutschte es mir heraus und ich hätte mich am liebsten selbst geschlagen. Warum hatte ich das gesagt?!
Nico sah noch entsetzter aus als ich es erwartet hatte und ich fragte mich erschrocken, ob ihm der Gedanke denn gar nicht gekommen war. Steif stand er auf, sein Blick war leer.
„Ich sollte gehen.“
„Ja.“ Kurz sah ich Schmerz in seinen Augen, wahrscheinlich hatte er gehofft, dass ich ihn aufhalten würde. Aber dafür hatte er zu viel getan. „Komm nicht wieder her. Bitte“, fügte ich hinzu. Es war das Beste.
Er starrte mich an. „Das kann ich nicht versprechen.“
„Dann wirst du mit den Konsequenzen leben müssen. Meine Geduld ist begrenzt“, sagte ich fest. Vielleicht half es ja, wenn ich ihm das so ins Gesicht sagte, auf indirektem Wege erreichten ihn meine Nachrichten wohl nicht.
Ich brachte ihn nicht zur Tür und war mir deutlich bewusst, wie unhöflich das war. Ich überlegte, ob ich Kathi jetzt gleich anrufen und zur Rede stellen sollte, entschied mich dann aber dagegen. So wie ich sie kannte, würde sie sowieso bald mich ansprechen und sie konnte ruhig noch eine Weile in Ungewissheit leben, auch wenn es mich reizte, mich gleich jetzt mit ihr zu streiten, wenn meine Wut noch frisch war.
Seufzend setzte ich mich aufs Bett, allerdings nicht bevor ich das Foto wieder an seinen Platz auf meinem Nachttisch gestellt hatte. Das war so ungefähr die Begrüßung nach dem wundervollen Wochenende gewesen, auf die ich am wenigsten Lust gehabt hatte. Ich konnte einfach nicht alle glücklich machen – wenn ich mit José zusammen war, waren Kathi und Nico nicht einverstanden, wenn ich ohne ihn hier war, waren er und ich unzufrieden. Normalerweise würde ich möglichst dafür sorgen, dass die anderen gut gestimmt waren, aber in diesem Fall stand Josés Wohl eindeutig höher und somit auch meins, so unfair es auch sein mochte. Ich stritt mich lieber hier mit allen, wenn ich dann mit ihm zusammen sein durfte und das war erschreckend. Er hatte mich mehr verändert als ich gedacht hatte. Ich wollte es selbstverständlich so, aber es war trotzdem… ungewohnt. Nie hatte jemand mein Leben und meine Gefühle derart heftig beeinflusst und nie hatte ich mich dabei so gut gefühlt. Aber ich hatte auch nie meine Freunde annähernd so sehr verletzt, ihnen nie so viel vorenthalten.
Und jetzt würde alles wieder so sein wie vor zwei Tagen. Ich hatte die Zeit mit ihm gehabt, ich hatte sie so gut es ging genutzt, aber jetzt musste ich mein Leben hier wieder überleben. Ohne ihn. Und ich hatte wieder keine Ahnung, wann ich ihn wieder sehen würde, was bedeutete, dass Hoffnung und Unwissen mich erneut in den Wahnsinn treiben würden. Es war einfach nicht fair vom Leben, mich in diesem Zustand auf unbestimmte Dauer warten zu lassen, warten, dass alles besser werden würde.
Man könnte meinen, es würde mir jetzt leichter fallen – jetzt, wo ich gerade ein Wochenende mit ihm hinter mir hatte und wusste, was in naher Zukunft auf mich zukam. Aber so war es ganz und gar nicht, ich war nur schmerzhaft daran erinnert worden, wie sehr ich ihn liebte und wie sehr ich ihn schon jetzt wieder vermisste.
Nachdenklich drehte ich den Ring an meinem Finger und fuhr über die Eingravierung seines Namens. Ich hatte bereits gestern seinen Ring mit meinem Namen bei ihm gesehen, ihn aber nicht darauf angesprochen. Es machte mich glücklich, dass so für alle Welt sichtbar war, dass er zu mir gehörte, aber ich fragte mich auch, ob Naiara es wohl schon gesehen hatte… Wir hatten kaum über sie gesprochen und ich konnte nicht recht einschätzen, wie ihr Verhältnis zu José jetzt war. Ich hoffte, dass sie bald einen anderen finden würde, einen Mann, der sie glücklich machen konnte und den ihr keiner mehr wegnehmen würde. Sie hatte es nicht verdient, José zu verlieren, schon gar nicht an jemanden wie mich.
Ich versteckte den Ring vor meinen Eltern noch immer und allmählich kam ich mir albern dabei vor. José war jemand, auf den ich unendlich stolz war und eigentlich war es egal, was andere von uns hielten. Ich wollte nichts mehr geheim halten müssen, wo er mich doch so glücklich machte und ich wollte ihm beweisen, dass ich dazu stand, dass auch ich mich nicht dafür schämte. Ich würde es ihnen bald sagen, nahm ich mir vor. Alle konnten es wissen.
Aber für jetzt brauchte ich eine Absicherung. Ich musste wissen
, dass ich ihn bald wieder sehen konnte, ich brauchte etwas, auf das ich warten konnte und von dem ich wusste, dass es eintreten würde. Damit könnte ich leben, damit könnte ich über
leben.
Und ich wusste auch schon, was ich tun konnte. Ich musste es ja letztendlich nicht benutzen, wenn sich mir eine bessere Gelegenheit bot, aber ansonsten… hätte ich eine Chance.
Zögernd stand ich auf und ging zu meinem Schreibtisch hinüber, auf dem mein Computer stand. Es war natürlich unverantwortlich und vielleicht auch eine Überreaktion, aber ich war sicher. Je früher, desto besser.
Ich schaltete den Computer an und trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte, während er hochfuhr. Ich hatte die richtige Seite schnell gefunden und bevor ich es mir anders überlegen konnte, erledigte ich es lieber schnell.
Danach fühlte ich mich besser. Ich hatte ein Ziel. Ich konnte darauf warten. Vielleicht würde ich es gar nicht brauchen und ich musste José auch gar nicht davon erzählen, er würde sich nur unnötig Gedanken machen. Es war ja nur eine Möglichkeit.
Und ich hatte das Gefühl, dass ich sie brauchen würde.
Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen als man umgeworfen wird.
40. Eine lange Zeit
Bis wir irgendwann aneinander vorbeigehen wie Fremde.
Ich musste nicht lange warten, um mit Kathi zu sprechen. Gleich am Montag in der Schule kam sie noch vor dem Unterricht zu mir, ich lehnte an den Schließfächern und sah ihr entgegen. Ich fragte mich, was wohl ihre Entschuldigung sein würde, aber ich war fest entschlossen, sie nicht so einfach davonkommen zu lassen.
„Hey“, begrüßte sie mich betont fröhlich.
Ich erwiderte nichts, um ihr gleich jetzt klarzumachen, dass sie das Getue auch einfach lassen konnte. Es verfehlte seine Wirkung nicht.
„Ich musste es ihm einfach sagen“, platzte es aus ihr heraus.
„Du hast versprochen, nichts zu sagen“, gab ich zurück. Oh ja, ich war noch immer wütend, wenn ich daran dachte, dass mir der ganze Ärger am Samstagabend hätte erspart bleiben können. In den wenigen Stunden, in denen wir noch nebeneinander sitzen mussten, schwiegen Nico und ich uns eisern an, doch seine vorwurfsvollen Blicke spürte ich trotzdem. Es war zum Verrücktwerden.
„Aber ich hab dir gesagt, dass ich das nicht gut finde – er hat ein Recht darauf, so was zu erfahren und du hättest es ihm auch einfach sagen können.“ Kathi mit ihrem Sinn für Ehrlichkeit und Loyalität.
„Wieso?! Er ist mein Exfreund und wenn du es ihm nicht gesagt hättest, wäre ihm jede Menge Enttäuschung erspart geblieben. Außerdem war es nur ein Treffen, monatelang war ich hier allein, dann bekomme ich endlich die Möglichkeit und dir fällt nichts anderes ein als es sofort Nico zu erzählen!“ Ich hörte wie ich lauter wurde und versuchte ziemlich erfolglos meine Stimme zu dämpfen.
„Und jetzt hast du vor, wieder in den alten Rhythmus zu verfallen oder wie?! Willst du wieder die ganze Zeit in deinem Zimmer verbringen und sein Foto anstarren?“
Das war zu viel. „Du verstehst davon einfach kein bisschen, merkst du das nicht? Und weißt du was? Wenn mein Verhalten dich sosehr stört, dann lass mich doch einfach in Ruhe. Ist schon okay – ich meine, wenn du schon unsere Abmachungen brichst, ist das ja fast gar nichts. Du kannst ja immer noch zu Nico gehen und was mit ihm machen, mich brauchst du bestimmt gar nicht mehr“, sagte ich frostig.
„Schön.“ Und dann drehte sie sich um und ging in den Klassenraum, den unser Lehrer mittlerweile aufgeschlossen hatte.
Den ganzen restlichen Tag über wechselten wir kein Wort mehr miteinander, in den Pausen unterhielten wir uns beide demonstrativ mit dem Rest der Clique. Ich ärgerte mich im Nachhinein darüber, ihr nicht einmal eine Entschuldigung entlockt zu haben und gab mir besonders große Mühe, bloß nicht traurig über unseren Streit zu sein. Bisher hatte ich immer noch zu ihr kommen können, wenn ich reden musste – das war dann wohl auch vorbei.
Und im Grunde wusste ich, dass alles meine Schuld war. Hätte ich mich nicht in José verliebt, dann würde ich mich jetzt nicht mit Nico totschweigen müssen, wir wären wahrscheinlich noch immer zusammen und ein glückliches Paar. Selbst wenn einer von uns Schluss gemacht hätte, wäre es nicht passiert, weil ich ihm zwei Monate lang verschwiegen hatte, dass ich eigentlich mit einem anderen zusammen sein wollte und wir wären vielleicht noch Freunde. Ich hätte auch keinen Stress mit Kathi und müsste meinen Eltern nicht erzählen, dass José nur ein guter Freund war. Alles wäre einfach.
Das Problem war nur, dass ich mein einfaches Leben nicht mehr wollte und dass es mir selbst angesichts der ganzen Verluste die Sache wert war. Solange ich José hatte, konnte ich eine Menge verlieren und es trotzdem überleben.
Zumindest sagte ich mir das immer wieder und es ging mir ja auch gut – körperlich. Ich war dazu übergegangen, mir jetzt sogar am Tag einzubilden, dass er hier wäre und ich ertappte mich immer häufiger dabei, dass ich vor mich hin träumte anstatt Hausaufgaben zu machen. Dennoch waren meine Noten weiterhin gut, insgeheim hatte ich die Hoffnung, dass mir das irgendwann weiterhelfen würde, wenn ich die Chance bekam, für einen möglichst großen Zeitraum in meiner Schulzeit noch einmal nach Spanien zu fliegen.
Ich wollte mich von meinen Gedanken ablenken, aber andererseits hatte ich zu nichts Lust. Keine Gesellschaft konnte mich aufheitern und die Tage wurden länger und länger, doch ich wurde besser darin so zu tun als wäre nichts. Ich musste es auch können, denn gegenüber meinen Eltern konnte ich mich nicht weiterhin wie eine lebende Tote verhalten wenn ich nicht wollte, dass sie in mein Benehmen Drogen oder Alkohol hineininterpretierten. Ich versuchte normal zu wirken, etwas mit meinen übrig gebliebenen Freunden zu unternehmen (was sich schwierig gestaltete, da meistens Kathi dabei war und ich in ihrer Nähe automatisch zum kalten Schweigen überging) und einfach alltägliche Dinge zu machen.
Nur wenn ich abends mit José sprach und er mich in Nebensätzen beiläufig aber ohne Zweifel besorgt fragte, ob es mir gut ging, merkte ich, dass ich meine Rolle nicht perfekt spielte. Neben diesem Telefonat war da jedoch neuerdings noch etwas, das ich jeden Abend tun musste. Denn jetzt lag in meiner Nachttischschublade ein weißer Umschlag, von dessen Inhalt ich mich jeden Tag neu überzeugen musste, dass er noch da war. Ich sagte mir oft, dass es eigentlich kein realistischer Plan war, doch wenn ich ehrlich zu mir war, setzte ich meine ganze Hoffnung hinein.
Innerhalb von den darauf folgenden Wochen gab es nur zwei Vorfälle, die mich für kurze Zeit wieder richtig lebendig werden ließen.
Der Erste war Josés Geburtstag Mitte März, der mich automatisch daran erinnerte, wie unglaublich süß er meinen 16. Geburtstag im Sommer organisiert hatte. Ich kam mir schlecht vor, weil ich ihm nicht annähernd so was Tolles bieten konnte, ja, dass ich noch nicht einmal bei ihm sein konnte. Er versicherte mir zwar, dass ich das schließlich nicht ändern konnte und dass ich ihm auch so alles geben würde, was er sich wünschte, aber die Entfernung zwischen uns machte mir trotzdem noch mehr zu schaffen als sonst.
Außerdem sagte er mir schon vorher, dass ich ihm auf keinen Fall etwas schenken sollte – mit der armseligen Begründung, dass er mir im Sommer auch nichts Richtiges geschenkt hatte. Stattdessen meinte er, könnten wir uns einfach beide wünschen sollten, dass wir bald wieder zusammen sein konnten, was eine ziemlich blöde Alternative war, wie ich fand, da wir das ja sowieso schon taten und es nicht im Geringsten ein Ersatz für ein Geschenk war. Ich hielt dagegen, dass wir ja auch – was sein Hauptargument betraf – an meinem Geburtstag noch gar nicht zusammen gewesen waren und dass ich deshalb jetzt sehr wohl Grund hatte, ihm ein Geschenk zu machen, aber keine Chance.
Dummerweise hatte ich zu dem Zeitpunkt auch noch nichts, sodass ich nicht sagen konnte, dass es schon zu spät war und ich bereits etwas besorgt hatte, das er dann auch gefälligst annehmen musste. Und leider war ich nicht in der Lage, gegen seine absolut unfairen Bestechungs- und Überredungskünste anzukommen und gab nach einer Weile alles andere als einverstanden auf.
„Wenn ich bei dir wäre, könnten wir die ganze Zeit etwas Schönes machen, was immer du willst“, jammerte ich als der Tag schließlich gekommen war und ich ihm ausführlich gratuliert hatte.
„Allein dass du mit mir sprichst verschönert meinen Geburtstag schon enorm – du weißt gar nicht wie sehr“, widersprach er sanft.
„Ha!“, rief ich verächtlich aus. „Das ist etwas ganz Anderes und du weißt es ganz genau.“
„Wir holen das alles nach, wenn du da bist, versprochen.“
Und wann wird das sein?, wollte ich fragen, hielt mich aber zurück. Ich wollte heute nicht davon anfangen. Außerdem kann es schon sehr bald sein, erinnerte mich eine kleine Stimme in meinem Inneren. „Ja“, stimmte ich ihm stattdessen nur zu und dachte daran, was für ein Glück David und Serena doch hatten, dass sie bei ihm sein durften. Und Naiara. Auch wenn er es mir nicht gesagt hatte und ich ihn nicht gefragt hatte war ich sicher, dass sie ihm gratuliert hatte. Persönlich.
„Wir sollten jetzt besser aufhören, die anderen warten bestimmt schon auf dich. Ich weiß, dass Serena was geplant hat und sie wird sauer sein, wenn du auf dich warten lässt“, sagte ich dann, obwohl ich nur zu gerne den ganzen Tag mit ihm telefoniert hätte. Aber ich hatte mir fest vorgenommen, an seinem Geburtstag dafür zu sorgen, dass er Spaß hatte und nicht Zeit damit verschwendete, mit seiner hunderte Kilometer entfernten Freundin zu sprechen.
Er wusste, dass Protest keinen Sinn hatte und seufzte nur ergeben. „Okay. Ich werde zwar ununterbrochen nur an dich denken, aber-“
„Geh jetzt!“, schnitt ich ihm lachend das Wort ab.
Eine Sache gab es allerdings noch, die mich an diesem Tag störte – mehr als die Tatsache, dass ich nicht bei ihm sein konnte. Er war jetzt 23. Jetzt waren es auf dem Papier sieben Jahre zwischen uns. Eigentlich zwar sechs Jahre und einige Monate, aber dennoch. Ich hütete mich davor, ihm gegenüber auch nur die geringste Anspielung auf den Altersunterschied zu machen, aber es traf mich härter als er vielleicht dachte. Ich hatte von Anfang an gewusst, dass er nicht in meiner Liga spielte, aber der heutige Tag machte es noch deutlicher als sonst. Und das Schlimmste war, dass diese Differenz zwischen uns sich nie verringern würde – später achtete man da vielleicht nicht mehr sosehr drauf, aber man würde wohl noch einige Zeit lang befinden, dass ich zu jung für ihn war.
Es hätte mich gar nicht sonderlich stören müssen, es war mir nicht sehr wichtig, was die anderen von uns dachten, und doch. Es machte mir einmal mehr bewusst, dass Naiara schlicht und ergreifend die Bessere für ihn wäre und dass ich gegen sie noch ein junges Mädchen war. Auch wenn ich es nicht wollte, dachte ich viel darüber nach, verbot mir es immer wieder und fing doch wieder an.
Es war ein Kampf mit mir selbst, den ich noch viele Male ausfechten würde und das Frustrierende war, dass ich nie eine Lösung finden würde, die nicht darin bestand, mich von ihm zu trennen.
Das zweite Ereignis, das sich in mein Gedächtnis brannte, war eigentlich gar nicht so besonders. Es war an einem Wochenende kurz nach Josés Geburtstag und ich war bei Alicia. Es war eher die Ausnahme, dass ich mich mit jemandem traf und ich wusste gar nicht recht wie es dazu gekommen war, aber auf jeden Fall saßen wir am Nachmittag zusammen auf dem Balkon der Wohnung von Alicias Eltern. Es war ungewöhnlich warm für Ende März und wir saßen in stiller Zweisamkeit da und genossen die Sonnenstrahlen.
„Du warst bei ihm, oder?“, fing Alicia plötzlich an.
„Hm?“ Ich hatte vor mich hingeträumt, mich zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Ich beugte mich ein bisschen vor und blinzelte. Ich war müde – wahrscheinlich weil mich letzte Nacht wieder meine Gedanken wach gehalten hatten.
„An dem Wochenende. Im Februar. Da warst du gar nicht bei Kathi, sondern bei diesem José“, präzisierte Alicia und beobachtete mein Gesicht.
Ich war zu überrascht, um es leugnen zu können, ich starrte sie erstaunt an. „Woher…?“
„Du warst vorher anders. Glücklich. Und danach warst du dann plötzlich mit Kathi und Nico zerstritten und wieder genau wie vorher.“
Ich runzelte die Stirn. „Wie war ich denn vorher?“
„Irgendwie…abwesend.“ Sie machte eine Pause. „Nicht verträumt abwesend, sondern eher so als wäre dein Geist woanders und nur dein Körper hier. Einmal hatten wir doch Videoabend und haben dann bei mir geschlafen, weißt du noch? Du hast seinen Namen im Schlaf vor dich hingemurmelt.“
Ich wurde rot. Mist. „Oh.“
„Aber vor dem Wochenende…“, fuhr sie bedeutungsvoll fort.
Ich überlegte, was ich ihr sagen sollte. Sie wusste es ja sowieso schon. „Ja. Ich war in Bremen, er hatte da ein Spiel – er spielt ja Fußball – und war eine Nacht über dort. Ich bin mit dem Zug hingefahren und hab allen gesagt, dass ich bei Kathi übernachte.“
Alicia lächelte und ich verstand nicht sofort, warum. „Er muss ja echt heiß sein, wenn du so hinter ihm her bist.“
„Ja“, pflichtete ich ihr bei, „der heißeste Typ, dem ich je begegnet bin.“
Jetzt wurde sie wieder ernst. „Du wärst am liebsten bei ihm, nicht wahr?“
„Ja, das wäre ich. Ich weiß, es ist schwer nachzuvollziehen, aber er ist der wunderbarste Mensch der Welt.“ Ich fragte mich, ob meine anderen Freundinnen wohl auch so durchschaut hatten, es überraschte mich, dass ausgerechnet Alicia dieses Feingefühl besaß – auch wenn sie sich zweifellos mit Beziehungen auskannte.
„Ich bin froh, dass du ihn kennen gelernt hast“, sagte sie dann.
„Wieso?“, fragte ich verständnislos. Ich hatte gedacht, dass das für meine Umwelt ganz und gar nicht schön war.
„Er verändert dich. Klar, du vermisst ihn und bist nicht so gut drauf, aber als du im Februar wusstest, dass du ihn sehen würdest, da warst du so… glücklich. Das ist gut. Es war was Anderes als wenn man normalerweise die Aussicht darauf hat, einen Tag mit seinem Freund zu verbringen. Für dich aber war es das Beste, was dir passieren konnte. Du liebst ihn sehr und ich hoffe, dass er dich genauso liebt. Auch wenn ich ihn nicht kenne, ihr seid etwas völlig Anderes als Nico und du. Da war es nur eine Beziehung. Aber das, was du jetzt hast… das ist irgendwie mehr.“ Sie hatte weggeschaut, während sie sprach, doch jetzt sah sie mich an und grinste. „Aber sag Nico nicht, dass ich das gesagt habe.“
„Klar.“ Ich lächelte zurück, aber ich war noch vollkommen gefangen von ihren Worten.
Scheinbar kannte Alicia mich sehr viel besser als ich gedacht hatte und es war verwirrend von ihr das zu hören, was ich selbst fühlte und niemandem erzählt hatte. Und erst als ich an diesem Abend im Bett lag dachte ich daran, dass ich meine Freunde vielleicht unterschätzte. Vielleicht verstanden sie mehr als ich ihnen zugetraut hatte, auch wenn ich mit Kathi zurzeit ziemlich Stress hatte.
Und vielleicht waren nicht sie es, die Dinge nicht verstanden. Sondern ich.
Der beste Weg, einen Freund zu haben, ist der, selber einer zu sein.
41. Entscheidung
Jemand hat mir mal gesagt, die Zeit würde uns wie ein Raubtier ein Leben lang verfolgen. Ich möchte viel lieber glauben, dass die Zeit unser Gefährte ist, der uns auf unserer Reise begleitet und uns daran erinnert, jeden Moment zu genießen, denn er wird nicht wiederkommen. Was wir hinterlassen ist nicht so wichtig wie die Art, wie wir gelebt haben. Denn letztlich sind wir alle nur sterblich.
Die Tage vergingen, auch wenn sie unendlich schienen. Kathi und ich fingen an, wieder miteinander zu reden, doch wir blieben beide auf Distanz und ich fragte mich, wann es wohl wieder so sein würde wie früher – früher, als ich José noch nicht kannte.
Und schließlich begannen auch die Osterferien. Und ich wusste, dass ich mich entscheiden musste – für oder gegen den weißen Umschlag in meiner Nachttischschublade. Mir fielen viele Gründe ein, die ganz klar dagegen sprachen, alle würden sich fürchterliche Sorgen machen und ich würde wahrscheinlich jede Menge Ärger bekommen, außerdem war ich ganz und gar nicht darauf vorbereitet.
Aber der Zufall spielte mit und so waren meine Eltern mit Betty direkt am letzten Schultag zu einer Tante gefahren, ich war allein zuhause. Und als ich in mein Zimmer kam, meine Tasche ablegte und mein Blick als Erstes auf das eingerahmte Foto von José und mir fiel, wurde mir klar, dass ich schon entschieden hatte. Ich hatte es bereits gewusst, als ich es an dem Samstagabend zum ersten Mal in Betracht gezogen hatte, nur hatte ich mir die ganze Zeit über eingeredet, dass ich mich immer noch dagegen entscheiden konnte. Dabei gab es gar nichts zu entscheiden. Es gab nur eine Möglichkeit. Ich wollte gar keine Wahl haben.
Mechanisch ging ich zu meinem Kleiderschrank. Ich musste meine Sachen packen. Und ich musste mich beeilen, ich hatte noch nicht einmal angefangen, weil ich bis zum letzten Moment mit mir gehadert hatte. Ich wusste nicht, für wie lange ich Sachen brauchen würde und so nahm ich einfach einige Kleidungsstücke mit, ohne genauer nachzuzählen. Eigentlich brauchte ich gar nicht viel, nur die wichtigsten Sachen – viel mehr passte auch nicht in meinen kleinen Koffer. Und das Allerwichtigste war der Umschlag und sein Inhalt, den ich jetzt herausholte und sicher in der Innentasche meiner Jacke verstaute.
Ich überlegte, ob ich meinen Eltern einen Zettel schreiben sollte, damit sie sich nicht solche Sorgen machten – aber was sollte ich schreiben? Macht euch keine Sorgen, mir geht es gut
. Dann würden sie sich nur noch mehr Sorgen machen und würden vermuten, ich wäre weggelaufen oder so. Was ich ja eigentlich nicht tat. Sie würden früh genug davon erfahren, sobald sie mich nämlich nicht mehr davon abhalten konnten. Schließlich schrieb ich nur, dass sie mich anrufen sollten, damit ich ihnen alles erklären konnte. Das würde ein langes Gespräch werden… Aber ich wollte jetzt nicht daran denken – außerdem würde ich dann bereits da sein und nichts sonst zählte.
Im Moment allerdings musste ich mich beeilen, es würde meine finanzielle Lage zwar bedeutend verschlechtern, aber ich entschied, ausnahmsweise ein Taxi zu rufen. Ich kam mir vor wie in einem Film – nur dass ich niemanden verfolgen musste und dem Fahrer nicht ein paar Scheine in die Hand drückte, damit er schneller fuhr – als ich einstieg und den Ort nannte, zu dem ich möglichst bald gelangen musste. Ich betete, dass es noch nicht zu spät war…
Glücklicherweise stellte der Fahrer mir keine Fragen oder trödelte herum, er fuhr sofort los und ich lehnte mich im Sitz zurück, in dem Wissen, dass ich jetzt alles getan hatte, um rechtzeitig zu kommen. Wenn es nicht genug war, konnte ich nichts machen – aber daran wollte ich lieber nicht denken, stattdessen stellte ich mir vor, dass alles reibungslos klappte und ich in einigen Stunden dort war, wo ich hinmusste.
Während die Landschaft also an mir vorbeizog, erinnerte ich mich an das, was vor beinahe genau einem Jahr geschehen war. Damals hatte schon eine Weile festgestanden, dass ich nach Spanien fliegen würde und Alicia und die anderen hatten eine Abschiedsparty für Kathi und mich veranstaltet.
Ich hatte keinem von ihnen gesagt, was ich vorhatte, aus Angst vor ihrer Reaktion. Ich hätte meine Meinung zwar nicht geändert, aber ich wollte nicht wissen, was sie dann von mir hielten und wie sie mir sagten, dass ich es nicht tun sollte. Das wusste ich selbst schließlich am besten, ich war ziemlich unorganisiert und baute vollkommen darauf, dass sich alles irgendwie der Situation anpassen würde – es musste einfach.
Doch im Grunde konnte alles schief gehen, wenn José nur einverstanden war. Ich hatte ihm nie etwas verschwiegen und es war nur ein kleiner Trost, dass er der Erste war, der gezwungenermaßen davon erfahren würde. Er kann gar nicht wütend sein, sagte ich mir ängstlich, aber was, wenn doch? Ich konnte doch dann nicht einfach so zurück, das ging nicht. Das würde er niemals verlangen. Niemals, dachte ich fest. Ich musste darauf vertrauen, dass er ganz einfach so wunderbar sein würde wie immer, was blieb mir auch anderes übrig?! Vielleicht hätte ich es ihm erzählen müssen, doch ich hatte zu viel Angst davor gehabt, er könnte vernünftig sein und mich daran hindern…
„Da wären wir“, riss der Taxifahrer mich aus meinen Gedanken.
„Wie bitte?“ Verwirrt blickte ich auf.
„Wir sind da“, wiederholte er höflich.
Überrascht stellte ich fest, dass wir hielten – ich sah aus dem Fenster und da war er. Der Flughafen Münster.
Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich gut in der Zeit lag, die Fahrt hatte nicht so lange gedauert wie ich gedacht hatte. Erleichtert atmete ich aus und gab dem Fahrer das Geld. Dann stieg ich aus und holte mein Gepäck aus dem Kofferraum, kaum hatte ich die Klappe geschlossen, brauste das Taxi schon wieder davon und ich stand allein auf dem Parkplatz vor dem großen Gebäude.
Ich schien mich in letzter Zeit irgendwie öfter in Flughäfen zurechtfinden zu müssen und meine Erinnerung an meinen Abflug von hier nach Spanien vor dem Sommer war sofort wieder da als ich die Eingangshalle betrat. Es hatte sich nichts verändert, alles war genau wie damals – Menschen liefen durcheinander, Durchsagen und Gespräche schwollen zu einem geschäftigen Lärm an. Ich ging im Kopf meinen letzten Aufenthalt hier durch und holte das Flugticket aus meiner Jackentasche, das ich fast zwei Monate sorgfältig in meinem Zimmer aufbewahrt hatte.
Glücklicherweise hatte ich noch eine Weile Zeit, um zur Gepäckaufgabe zu finden und die Kontrollen zu durchlaufen, trotzdem sah ich unnötigerweise alle paar Minuten auf die Uhr. Plötzlich wünschte ich, jemanden bei mir zu haben und nicht alleine hier zu sein – aber es wusste ja noch nicht einmal jemand davon.
Vollkommen nervös und durch den Wind wartete ich also schließlich darauf, das Flugzeug betreten zu können, dabei dachte ich an die beiden Male, an denen ich genau das auch getan hatte. Dort waren immer andere bei mir gewesen, beim ersten Mal vor fast einem Jahr auch Nico und Kathi, und dann im Herbst José. Jener Tag war eine meiner schlimmsten Erinnerungen, da hatte ich ihn nach sechs Monaten tränenreich verlassen müssen und genau da hatte auch diese Leere in mir angefangen, die sich seitdem verlässlich durch mich hindurchfraß, wenn ich ihn vermisste.
Die Durchsagen hatte ich zu einem Hintergrundgeräusch ausgeblendet und ich sprang nur auf, weil das Paar neben mir sich erhob und sich auf den Weg in Richtung Flugzeug machte. Während ich ihnen folgte, beobachtete ich sie neidisch – bestimmt flogen sie zu zweit in den Urlaub, sie konnten sich sehen, wann immer sie wollten und alles gemeinsam machen. Wie gerne würde ich das auch tun können, dachte ich wehmütig.
Aber ich bin ja auf dem Weg, erinnerte ich mich dann mit neuer Energie. Bald würde auch ich denjenigen in die Arme schließen können, den ich liebte und alles wäre wieder perfekt (abgesehen davon, dass meine Eltern sich, wenn sie in vier Tagen nach Hause kamen, schreckliche Sorgen um mich machen würden und ich sie dann irgendwie beruhigen musste). Ich könnte mein Leben dort da weiterleben, wo ich es hatte unterbrechen müssen, nur dass Naiara jetzt nicht mehr da war – das war einerseits erleichternd, andererseits machte es mir erneut klar, dass ich zweifelsohne schuld an ihrem Unglück war. Ich hoffte inständig, sie nicht treffen zu müssen, auch wenn mir klar war, dass ich dem auf Dauer nicht aus dem Weg gehen konnte. José hatte gesagt, sie würde mich nicht hassen, aber irgendwie machte das alles nur noch schlimmer. Was sollte man zu einer sagen, der man gerade ihren jahrelangen Freund weggenommen hat?!
Ich beschloss, diese Sorgen auf später zu verschieben und ließ mich auf meinem Sitz im Flugzeug nieder. Fliegen war etwas Seltsames – entweder bedeutete es für mich das größte Glück oder aber das größte Unglück auf Erden und daran musste ich auch jetzt wieder denken. Glücklicherweise war im Moment Ersteres der Fall.
Und eigentlich wurde mir erst jetzt klar, dass ich es tatsächlich geschafft hatte. Ich war rechtzeitig hergekommen und würde bald unweigerlich in Spanien sein und den tollsten Menschen dieses Universums sehen. Der Plan war zwar noch immer dämlich und verantwortungslos, aber er funktionierte. Noch. Ich musste nur noch diesen Flug überleben und dann irgendwie zu dem Haus gelangen, in dem er ja jetzt alleine wohnte.
Es kam mir enorm romantisch vor, dass ich so etwas für meine Liebe tat, aber es fühlte sich nicht wirklich so an. Es war irgendwie… blass, wie in einem Traum – so als würde ich jeden Moment aufwachen, weil das nicht ich war, die das tat. Und das stimmte auch eigentlich, ich war normalerweise kein Mensch, der ohne es jemandem zu erzählen in ein Flugzeug stieg und in ein anderes Land unterwegs war. Aber Alicia hatte Recht – José hatte mich verändert. Er veränderte mich noch immer. Und vielleicht war es das, was unsere Beziehung so neu und faszinierend für mich machte, man möchte nicht immer so sein wie man es immer ist, man will sich weiterbewegen, selbst die Veränderung sein und nicht nur zusehen, wie sich um einen herum alles ändert. Wer weiß, vielleicht ist das ja das Geheimnis der Liebe.
Ich schloss die Augen als ich spürte, wie das Flugzeug sich in Bewegung setzte. Irgendwie fand ich immer noch, dass die Menschen das Fliegen besser Tieren überlassen sollten. Nico hatte mir oft erzählt, dass es etwas Schönes war – wie Achterbahn fahren, nur etwas ruhiger.
Nico. Ich fragte mich, ob wir wohl je wieder im Unterricht ganz normal nebeneinander sitzen konnten, ohne diese Mauern zwischen uns. Als ich Schluss gemacht hatte, hatte ich daran gedacht, dass wir nie wieder Freunde sein konnten – wegen ihm. Ich hatte ihm das nicht übel genommen, nein, es war verständlich. Aber allmählich stellte ich fest, dass wir auch wegen mir nicht einmal mehr befreundet sein konnten. Es war falsch. Ich wusste nicht, inwiefern, aber ich konnte es nicht mehr.
Vielleicht gibt es ganz einfach solche Menschen, die nicht zusammen passen, die sich zwar grundsätzlich mögen, aber deren Beziehung nicht funktioniert – ganz gleich, welche Art. Doch mir wäre nie der Gedanke gekommen, dass Nico und ich dazugehören könnten, eigentlich waren wir immer ein gutes Team gewesen. Nur war es irgendwie nichts Besonderes gewesen, nur so was nebenbei. Das war nicht richtig, das wusste ich mittlerweile. Wir hatten uns beide in gewisser Weise geliebt, doch es war eher eine Art Leerlieben gewesen, bei dem sich Mühe gibt, all seine Liebe dem anderen zu geben.
Schade war nur, dass ich
diese wunderbare Erkenntnis hatte, er jedoch ganz offensichtlich nicht. Er wollte nicht verstehen, dass es mit uns einfach nicht ging und ich konnte das sogar nachvollziehen. Trotzdem hoffte ich inständig, dass er es irgendwann akzeptieren würde. Wir würden nicht wieder zusammenkommen. Nicht nächstes Jahr, nicht wenn wir älter sind, nicht eines Tages, nicht vielleicht. Niemals. Ich hatte es eine lange nicht geschafft, einen Schlussstrich zu ziehen, aber jetzt war es mir zu meiner eigenen Überraschung gelungen. Ich war endlich bereit, aufzugeben.
Ich musste eingeschlafen sein, denn ich wurde wach als wir gerade einige Turbulenzen durchfolgen – ich war heilfroh, auch vom Essen nichts mitbekommen zu haben, denn ansonsten wäre es mir jetzt wahrscheinlich hochgekommen. Der Mann neben mir sah ebenfalls nicht besonders gut aus und ich rutschte so weit es ging von ihm in ab, sodass ich halb im Gang saß, sollte er sich übergeben, konnte ich hoffentlich noch zur Seite hechten.
Überrascht stellte ich bei der nächsten Durchsage fest, dass wir in weniger als einer halben Stunde schon landen würden, anscheinend war ich eine ganze Weile weg gewesen. Dann werde ich ihn sehen
. Mein Herz schlug schneller vor Aufregung und es blieb kein Platz mehr für Sorgen und Ängste – da war nur dieser Gedanke, nein, das sichere Wissen
, dass ich bald wieder seine Arme um mich spüren konnte, dass mein persönliches Märchen endlich weitergehen konnte, weil ich wieder bei meinem Traumprinzen sein durfte.
Und ich hatte es tatsächlich fast geschafft. Ich war einfach hergeflogen, ohne lange nachzudenken, ich hatte ein einziges Mal in meinem Leben das getan, was ich wirklich wollte. Vielleicht war das ja auch was wert.
Dann setzte das Flugzeug auf der Landebahn auf und ich wusste, dass ich endlich wieder dort war, wo ich hingehörte.
Der Verstand kann uns sagen, was wir unterlassen müssen. Aber das Herz kann uns sagen, was wir tun müssen.
42. Für immer
Nie war mehr Anfang als jetzt.
Ich nahm einen Bus in Richtung von Josés Haus. Ich hatte überlegt, ihn anzurufen – er würde mich sicher abholen –, aber irgendwie wusste ich nicht recht, was ich sagen sollte, wie konnte ich auch erklären, dass ich nur noch wenige Kilometer von ihm entfernt war, er von der ganzen Sache aber gar nichts mitbekommen hatte?!
Das letzte Stück ging ich kurzerhand zu Fuß, mein Gepäck war dank des begrenzten Gewichts bei Flügen nicht besonders sperrig oder schwer. Zu meiner großen Freude und Überraschung schien alles größtenteils noch genauso zu sein, wie ich es in Erinnerung hatte – nur schien die Sonne nicht so warm und der Himmel war dunkler. Aber darauf achtete ich nicht. Um mich herum hörte ich wieder die mittlerweile vertraute Sprache und ich stellte fest, dass mich noch genau an den Weg zu dem Haus erinnerte.
Ich hatte lange befürchtet, er könnte vielleicht aus irgendeinem Grund nicht zuhause sein, aber es war Abend und ich sah schon von weitem, dass das Auto auf dem kleinen Hof stand. Mein Herz schlug automatisch schneller, als ich näher kam – so oft hatte ich mir vorgestellt, hier zu sein und jetzt war ich es wirklich. Beinahe erwartete ich, jeden Moment aufzuwachen und feststellen zu müssen, dass das hier alles nur ein Traum war. Aber dann es war ein schöner Traum.
Vor der Haustür blieb ich stehen. Ich war ungeduldig, und doch zögerte ich, zu klingeln. Ich wusste nicht, was mich erwartete, wie er es aufnehmen würde. Viele Male hatte ich im Sommer schon vor dieser Tür gestanden und es schien mir nur wenige Tage und nicht Monate her zu sein.
Schließlich siegte jedoch meine Ungeduld, ich wusste nicht wie viel Zeit ich hier hatte und dann wollte ich sie auch nicht verschwenden. Bevor ich aufgeben konnte, drückte ich schnell auf den Klingelknopf.
Angespannt wartete ich, nichts war zu hören. Vielleicht war er doch nicht da… doch dann war da ein Geräusch. Schritte. Näher kommende Schritte. Seine
Schritte. Himmel. Gleich würde ich ihn in die Arme schließen können. Ich schloss die Augen, riss sie aber wieder auf als ich hörte, wie er von der anderen Seite aufschloss – er hatte wohl nicht mehr mit Besuch gerechnet. Die Tür begann sich zu öffnen, ich hielt den Atem an.
Und da stand er. Besser aussehend als irgendeinem Menschen erlaubt sein sollte und so sexy, dass einem die Luft wegblieb. Und er starrte mich aus wunderschönen blauen Augen verständnislos an als wäre ich nur ein Geist. Es war tatsächlich leichter, ihn jetzt wieder zu sehen, nachdem wir uns im Februar nach langer Zeit schon mal getroffen hatten – aber das machte es nicht weniger unglaublich.
Ich starrte zurück. Er war da. Und ich war bei ihm.
„Hi“, brachte ich schließlich sehr geistreich heraus.
Im nächsten Moment lag ich schon in seinen Armen, meine Füße schwebten in der Luft und er drückte mich so fest an sich, dass ich kaum Luft bekam.
„Was machst du denn hier, verdammt?!“ Er küsste mich ohne mir die geringste Chance zum Antworten zu geben. Es tat so unendlich gut, ihn wieder wirklich spüren zu können, mir nicht nur vorstellen zu müssen, dass er da war.
„Ich besuche dich“, beantwortete ich seine Frage schließlich als er mich ein Stück von sich weg hielt, um mich prüfend zu mustern.
„Und warum hast du mir das nicht vorher gesagt?!“ Aber sein erleichtertes Lachen widersprach seinen tadelnden Worten und ich fühlte die Freude, die sich in mir ausbreitete, die viel zu groß für meinen Körper war. Er war nicht böse.
„Du hättest versucht, es mir auszureden.“
„Stimmt. Lass mich raten, wahrscheinlich weiß keiner davon, nicht wahr?“, fragte er.
Ich sah verlegen zu Boden und er stöhnte in gespieltem Entsetzen. „Deine Eltern werden mich noch anklagen, weil ich ihre Tochter entführe.“ Doch er musste noch immer Lächeln.
„Du schickst mich jetzt also nicht wieder weg?“ Ich musste es zur Sicherheit einfach fragen.
Er starrte mich irritiert an, dann schüttelte er den Kopf. „Als ob ich dich gehen lasse, wo du doch schon mal hier bist. Ich fass es nicht, dass du einfach so herkommst…“ Er nahm mir meinen Koffer ab und schloss die Haustür, die die ganze Zeit über offen gestanden hatte. Dann zog er mich an einer Hand in Richtung Küche – es roch gut, ich hatte ihn wohl beim Kochen gestört.
„Ich musste es tun. Ich musste wissen, dass ich dich bald wieder sehe, nachdem du in Bremen abgefahren warst“, gestand ich leise, während ich ihm folgte.
„Das kann unmöglich gesund für dich sein“, seufzte er, drehte sich zu mir um und küsste mich erneut. „Ich bin so froh, dass du da bist“, flüsterte er an meinen Lippen.
„Hm-hm“, machte ich hilflos. Ich war auch froh, dass ich hier war. Unendlich froh. Und ich wusste schon jetzt, dass es eine gute Idee gewesen war.
„Du hast bestimmt Hunger, oder?“ Und schon stand er am Herd und zog einen dampfenden Topf von der Platte.
Ich setzte mich an den Tisch und beobachtete, wie er Teller und Besteck für mich holte und alles vor mir hinstellte. Es erinnerte mich sosehr an den Sommer, dass es fast wehtat. Ja, ich hatte Hunger. Aber mehr auf ihm als auf Essen…
Ich kam auch nicht besonders viel dazu, etwas von dem Gericht (das übrigens wie zu erwarten gewesen war köstlich schmeckte) zu essen, denn er wollte natürlich haarklein erfahren, wie es genau dazu gekommen war, dass ich jetzt hier war. Bereitwillig erzählte ich ihm alles und beobachtete, wie er beim Zuhören mal die Augen verdrehte oder lächelte. Ich war überzeugt davon, dass seine Mimik die Allerschönste auf Erden war – manchmal brach ich ab, um sein Lachen zu hören und dann drängte er mich dazu, weiterzureden.
„Du bist bestimmt müde, oder?“, fragte er schließlich als ich geendet hatte – allerdings erst nachdem er mir noch einmal vorgehalten hatte, dass ich ihm alles viel besser vorher hätte erzählen sollen. Doch seine Augen leuchteten und zeigten dieselbe unfassbare Freude, die auch ich verspürte. Diese Freude, die nur er verursachte.
„Klar“, log ich, seine Nähe hatte mich vollkommen wachgerüttelt und ich fühlte mich wie mit Adrenalin voll gepumpt.
Er verdrehte die Augen über meine allzu leicht durchschaubaren Absichten, nickte aber. Ich half ihm noch dabei, die Küche aufzuräumen, dann traten wir wieder hinaus auf den Flur, um mein Gepäck mitzunehmen. Langsam ging ich voran, atmete den Duft des Hauses ein, der mir sofort wieder vertraut war. Aber vor der Tür des Zimmers, in dem ich offiziell immer untergebracht gewesen war, blieb ich stehen. Zögernd sah ich ihn an und versuchte, seine Absichten zu durchschauen. Zu gerne würde ich mit zu ihm kommen, doch ich war nicht sicher, wie er es aufnehmen würde, wenn ich einfach so mitging…
„Nicht dein Ernst, oder?!“ José runzelte die Stirn, dann musste er lächeln. „Das kannst du knicken.“ Und mit diesen Worten zog er mich weiter mit sich, bis wir an der Tür zu dem Zimmer angekommen waren, das er jetzt alleine bewohnen musste.
Als wir hineingingen, schloss ich kurz die Augen. Allein am Geruch wusste man sofort, dass es sein Zimmer war – man sollte sich diese Luft in ein Glas füllen, um ab und zu genießerisch daran riechen zu können. Auch diesen Raum hatte ich gut in Erinnerung behalten, nur waren jetzt Naiaras Sachen weg (dass das meine Schuld war, verdrängte ich schnell).
Ich drehte mich einmal um mich selbst, dann blieb ich zu ihm gewandt stehen. „Alles zu Ihrer Zufriedenheit, Ma’am?“, fragte er grinsend.
Ich lächelte nur.
Nur kurze Zeit später war ich in meinem persönlichen Paradies – dicht an seinen warmen Körper gekuschelt lag ich neben ihm und lauschte seinem Herzschlag. Ein wunderschönes Geräusch. Ich könnte Tage nur so verbringen… na gut, könnte ich nicht, irgendwann würde ich der Versuchung seines bloßen Anblicks zweifellos erliegen.
„Gut, dass du gekommen bist“, murmelte er plötzlich. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen und wandte leicht den Kopf. Er sah mich an. „Hier fehlt was ohne dich.“
Ich wurde rot von solchen Komplimenten. Verlegen schlug ich die Augen nieder, spürte jedoch noch immer, dass sein Blick auf mir ruhte. „Tja. Ich liebe dich eben“, sagte ich dann, „für immer und ewig.“
„Für immer ist eine ganze Weile. Dinge können sich ändern, wir haben es beide erlebt.“ Seine Stimme war sanft und dennoch ernst. Nachdenklich.
Ich sah ihn wieder an. „Ich weiß. Über solche Sachen hab ich lange nachgedacht. Aber ich meine es trotzdem genau so.“
Er lächelte. „Ich auch.“ Und er beugte sich zu mir herunter, um mich zu küssen.
In der Nähe eines Menschen man selbst sein zu können, ist eins der größten Geschenke, die einem dieser Mensch machen kann.
Nachwort
Ich weiß nicht genau, wie lange ich für dieses Buch gebraucht habe, aber es hat mir Einiges abverlangt. Andauernd hab ich wach gelegen, weil ich über eine Idee nachdachte, habe Sätze unzählige Male geändert. Und ich hätte das niemals geschafft, wenn ich nicht die beste Unterstützung der Welt gehabt hätte - deswegen gibt es einige Menschen, denen ich unbedingt danken muss.
Ohne Jenny wäre ich erstmal überhaupt nicht in der geistlichen Verfassung, so etwas zu schreiben. Sie ist immer für mich da und einfach das größte Geschenk, das das Leben mir machen konnte.
Natascha gilt ebenfalls mein besonderer Dank, wenn ich meine eigene Geschichte nicht mehr sehen konnte und zu viele Gedanken hatte, gab es da immer die Welt ihrer Geschichte, in die ich schlüpfen konnte.
Dann sind da noch Linda und Jasmin, die das Buch gelesen haben und mir Lob und Kritik gegeben haben, was für einen Autor unverzichtbar ist.
Außerdem muss ich noch Tabea, Julia und Valerie danken - einfach fürs Dasein und für ihre Freundschaft.
Tina, Uyen, Hannah und Mery sind einfach die beste Gesellschaft zum Fernando Torres anbeten, danke für alles!
Zu guter letzt sind da natürlich noch meine zuverlässigen Leser, die mir Rückmeldung gegeben haben und mich dazu motivierten, weiterzuschreiben. Danke!
Tag der Veröffentlichung: 24.07.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Jenny, die ich über alles liebe. Sie ist nicht nur meine beste Freundin, sie ist mein Mädchen.