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Kapitel 1

Kapitel 1

 

Ich: Gernot Zeunert,

damaliges Alter: 21

damaliger Berufswunsch: Lehrer

damalige Tätigkeit: Auszeit

Es war still in den inneren Bereichen, also im Garten, in den Wandelgängen, und einigen anschließenden Räumen- fraglos. Alles war alt und die Zeit kroch nur langsam um die Ecken.

Ich hatte die Ruhe und Langsamkeit gesucht, doch das brachte mir nicht die geringste Linderung. Vielmehr kehrte sich alles ins Gegenteil um.

Meine inneren Dämonen fühlten sich hier besonders wohl, sie hatten jede Menge Freiraum, wurden von keinerlei Ereignissen in ihre Schranken gewiesen. Das hatte ich mir wirklich und wahrhaftig anders vorgestellt.

Dabei hatte ich immer gedacht ich wäre stinknormal. Es hätte mir nichts ausgemacht, wenn alles seinen vorgezeichneten Weg gegangen wäre, wenn ich mein Studium durchgezogen hätte, wenn ich dann die Referendarzeit hinter mich gebracht hätte, vielleicht hätte ich eine liebenswerte Studentin kennen gelernt und vielleicht hätten wir dann geheiratet und ich als Beamter hätte genügend Einkommen gehabt. Das wäre in Ordnung gewesen.

Im Allgemeinen kennt man von Weikenburg nur seine Biermarke. Ich würde sagen die Stadt ist durchschnittlich, nicht groß, nicht klein, nicht hübsch, nicht hässlich, sie hat jedenfalls eine Pädagogische Hochschule und ein Stadtkrankenhaus.

Auf der Hochschule studierte ich, am Krankenhaus arbeitete meine Schwester.

Es war mein erstes Semester, ich stürzte mich voller Enthusiasmus in die Einführungsveranstaltungen und Seminare und schloss mich einer Volleyballgruppe an.

Hätte es mich stutzig machen sollen, dass ich äußerst beliebt war? Jeder kannte mich offenbar und ständig wurde mir auf die Schulter geklopft. Ich war gerade mal 3 Wochen auf der Hochschule und schon war ich der beliebteste Student.

Jeder fühlte sich berufen mir etwas mitzuteilen. Dabei ging es um Studium, Liebe, Professoren, Existenzängste, Studentenbude, Fußball, Kommilitonen, Kumpel, Freunde, Feinde, Mode, Politik, Essen, Drogen, Autos, Macken, Spülmittelflaschen, Haartrockner, Duschmittel, Deos, Sportkleidung, London, England, Amerika, Spielregeln, Grammatik, schuppige Haut, trockne Haut, laute Nachbarn, verstörte Kinderfantasien, laute Kinderfantasien, Schulmißstände, dumme Lehrer, dumme Schüler, dumme Studenten, dumme Professoren, blöde Sportler, blöde Professoren, dumme Spieler, dumme Sprüche, das Problem Ersatzteile zu finden für englische Oldtimer, die Gründe warum man morgens nicht fit sei, die Gründe warum man abends nicht fit sei, die Gründe warum man kein Fleisch essen sollte usw. usw.

Sogar bei den Dozenten war ich hochwillkommen, jeder war beglückt, wenn ich sein Seminar besuchte! Und die Mensa-Kantinenfrau gab mir die Portionen umsonst und berichtete, dass ihr Mann sie schlug.

Ein Kommilitone, ich kannte ihn überhaupt nicht, erzählte beiläufig über seinen Marathonlauf, wie er nach 10 km würgen musste, dann auf der Hälfte der Strecke dehydrierte und nach dreißig km in eine Art Trance geriet.

Nicht besonders ausgeschmückt, nur so dahin geplaudert während wir uns zum Sporttraining umzogen. Und doch erlebte ich den Marathonlauf fast physisch, ich durchlebte in den drei Minuten, die es brauchte die Geschichte zu erzählen, alle Höhen und Tiefen, mir wurde schlecht, ich dehydrierte und fiel in Trance.

„Geht´s dir gut?“ wurde ich danach gefragt.

Ich antwortet „ja, ich habe wohl was komisches gegessen.“ Aber ich zog mich wieder an und verzichtete auf das Training.

Nach diesem Gespräch wurde ich stutzig, aber es war mir noch nicht klar wo das Problem lag.

Die Erleuchtung kam mir nachdem ich meine Schwester besucht hatte. Sie wollte natürlich wissen wie ich mich eingelebt hätte, und wie mir das Studium gefalle.

Ich sagte: „Eigentlich läuft alles super. Aber irgendwie läuft etwas falsch, mir ist oft ziemlich übel, und ich esse so viel Schokoriegel, wie noch nie.“ Sie gab mir den Rat genau darauf zu achten wann ich was für ein Gefühl oder körperliche Reaktion hätte. Und dann erzählte sie fröhlich von ihrer neuen Stelle in der Pathologie. Und ich bekam danach einen Heißhunger auf Pizza. Ich verabschiedete mich so schnell wie möglich, lief durch die dunkle Nacht und spürte und hörte in mich hinein.

Wollte ich wirklich Pizza?

Eher nein.

Aber in meiner Magengegend drückte und zerrte es. Ich blickte in den dunklen Nachthimmel, ich setzte mich auf eine Bank.

Leichenteile segelten durch die Nacht.

Ich musste mich beinahe übergeben.

Ein Mann rannte mit einem Stock hinter der Mensa- Kantinenfrau her.

In mir zerrte eine böse Leere.

Alle möglichen kleinen und großen Monster bevölkerten den Himmel. Aus allen Geschichten, Erzählungen und Berichten der letzten Zeit stürzten sich die Figuren auf mich, oder bildeten vor mir einen Wettkampf ab. Selbst ein harmloses Deo mutierte zu einem gefährlichen Science-Fiction Monster.

Wie gebannt musste ich dem Treiben zusehen, ob Höllenhund oder Professor, sie wollten sich gegenseitig an den Kragen, und dann tauchten noch riesige Mengen Pizzen auf, die von allen gierig verschlungen wurden.

Mir wurde kalt und in meinen Ohren rauschte es, als ob mein letztes Stündlein geschlagen hätte.

Aber niemand griff mich an, kein Ungeheuer richtete mich zu Grunde, ich überlebte den Abend.

Auch wenn ich mir keinen Reim darauf machen konnte, warum es sich so verhielt, konnte ich die Tatsachen nicht weiter ignorieren.

Auf irgendeine Weise ermunterte ich jeden, der mir näher als 10 Schritte kam, mir all das was ihn gerade beschäftigte mitzuteilen. Er fühlte sich besser und erleichtert danach.

Denn offenbar hatte ich alles geschluckt. Ich war nichts anderes als ein schwarzes Loch-, sobald mir etwas erzählt wurde, löste es sich vom Erzählenden , dadurch wurde dieser leichter glücklicher, freier - aber bei mir kam das alles an, mein Geist schluckte alle Erzählungen und legte sie offenbar in meine Erinnerungen ab, und dort traf jedes Erzählsubjekt auf schon andere dort hausenden Erzählmonster und sie feierten zusammen Halloween.

Ich brauchte eine Auszeit.

Am nächsten Morgen bummelte ich durch den Morgen, lies Vorlesungen ausfallen und war dünn wie ein Rasierklinge.

Dann lief mir Kurt Molden über den Weg.

Kurt ist ein Dozent. Auch er hatte sich sehr darüber gefreut, als ich in seiner Vorlesung (ziemlich wenig Teilnehmer) aufgetaucht war und, natürlich, hatte er mir von seinen aktuellen Sorgen und Nöten berichtet und dabei erwähnte er Bernhausen, ein ehemaliges Kloster, in welchem er ab und an Wochenend- Seminare veranstaltete, jedenfalls die Atmosphäre wäre einmalig, ruhig und besinnlich, einzigartig, was genau sein Problem daran war, hatte ich allerdings nicht erfahren.

Ich sprach ihn auf Bernhausen an. Er war einigermaßen überrascht als er hörte, dass ich, 15 Jahre jünger als er- gerade erst mit dem Studium angefangen, eine Auszeit bräuchte.

Also erzählte ich ihm von dem sonderbaren Fluch, der mich heimgesucht hatte, berichtete davon plötzlich „everybodys darling“ zu sein, und jedermanns Probleme zu inhalieren, und vergaß nicht meine Monster zu erwähnen.

Als er eine Vorstellung von meiner Verzweiflung gewonnen hatte, meinte er kurzentschlossen, Bernhausen sei eine gute Idee, und er wolle sich gleich am Nachmittag um ein Zimmer für mich kümmern.

„Das werde ich mir nicht leisten können“ wandte ich ein.

Er gab mir Recht und dann fiel ihm noch etwas Besseres ein.

So kam es, dass ich am Nachmittag eine Motorradtour durch kleine Dörfer und winklige Straßen unternahm.

Als ich Bernhausen unter mir sah beschien die Sonne mit ihrem goldenen Licht Dächer und Türmchen. Im Gegensatz zu Weikenburg gab es hier keine Schornsteine und wohl auch keine Industrie, nur ein in der Zeit steckengebliebenes Städtchen, so jedenfalls war mein erster Eindruck, und das war mir durchaus willkommen.

Neben der Klosteranlage, befand sich eine Jugendherberge, und dort konnte ich ein Einzelzimmer beziehen, ja, so etwas gibt es, und ist eben bezahlbar. Der Eintritt zu den Klosteranlagen, inklusive der von mir favorisierten inneren Bereiche, war im Preis enthalten, das erfuhr ich aus einem Prospekt, dort hieß es weiter: Nonnen, Äbte und Priester gäbe es schon lange nicht mehr, das Kloster Bernhausen sei nun ( neben der touristischen Attraktion) ein Tagungs- und Entspannungshotel, nebst Restaurant.

Am Abend machte ich einen Spaziergang und aß eine Kleinigkeit in einem gemütlich Lokal, das nicht allzu besucht war, und dennoch waren mir die Gespräche der Menschen zu nah, und ich hätte nur die Frau am Nachbartisch zwei Sekunden länger ansehen müssen, dann hätte sie sich zu mir gesetzt und mir ihre Lebensgeschichte erzählt.

Einsamkeit war die Karte, die ich spielen musste. Also wenigstens ziemlich alleingelassen wollte ich sein, keine Gespräche führen müssen.

Der erste Morgen in Bernhausen brach an. Es regnete in Strömen. Doch für einen Motorradfahrer gibt es kein schlechtes Wetter.

Ausgerüstet mit Regenjacke und einem Handtuch startete ich meine Expedition in die inneren Bereiche- auf der Suche nach Stille- in der Hoffnung auf Ruhe- auf innere Ruhe.

Die Regenrinnen blubberten und es tropfte von Vordächern, als ich den Garten betrat. Tatsächlich schritt ich freiwillig auf feuchtem Kies oder über grauroten rutschigen Sandstein durch den Regen.

Zwischen Hecken, Blumen, Kräutern, oder auch ein paar kleinen ungepflegten Grasstücken bewegte ich mich raschelnd in meiner Regenjacke, aber der Regen war lauter.

Den Vögeln gefiel das Wetter, sie pfiffen und sangen fröhlich um mich herum

Nach weniger als zehn Minuten hatte ich sämtliche Wege beschritten. Klar, der Klostergarten war nicht der englische Garten von München. Ich begab mich unter die Arkadengänge, verlangsamte mein Tempo und starrte irgendwann nur ins Nirgendwo, das sich hinter dem Regen verborgen hielt.

Das war es was ich suchte, aber es war nicht das was ich bekam, denn hinter den Regenschauern- oder: einfach in meinen Gedanken- saßen die hässlichen Geier und Ungeheuer, sie lachten und schlugen sich auf die Schenkel über meinen ungeschickten Versuch sie loszuwerden.

Der Regen wurde schwächer und schließlich hellte sich der Himmel auf, während sich zwischen den Sträuchern der Dunst zu Nebel ballte. Ein Sonnenstrahl belegte für einen Moment die Szenerie mit einem Hoffnungsschimmer. Ich schlenderte- jetzt kapuzenfrei- zum zentralen Brunnen. Er plätscherte verhalten vor sich hin, und eh ich mich versah war ich umgeben von einer Nebelwand.

Und plötzlich stand vor mir ein Kind.

Sein Gesicht ragte aus dem Nebel wie ein auf Pappe gemalter Mond.

Ein Mädchen oder ein Junge? Der Bubischnitt und das rundliche Gesicht ließen beides zu.

Dann war es verschwunden, verschluckt im grau-weißen Dunst.

War das Kind wirklich vorhanden? Oder handelte es sich nur um ein weiteres Trugbild meiner geschunden Vorstellungskraft?

Sogleich machte ich mich auf die Suche, allerdings war der Nebel so dicht, dass ich die Orientierung verlor und zweimal in den Hecken landete. Aber auch dort war das Kind nicht zu finden.

Dann lichtete es sich. Die Sonne war wieder vorhanden, und mit ihr tauchten die ersten Touristen auf, und ich verdrückte mich.

Das fing ja gut an!

Konnte ich nicht mehr zwischen Wirklichkeit und Wahn unterscheiden? Mit entschiedenen Schritten lenkte ich meinen Weg in die Weinberge. Ich verbrachte den ganzen Tag in der Natur.

Aber was mir normalerweise gut tat, half mir hier nicht viel, meine Laune und meine Zuversicht fielen unter den Gefrierpunkt. Am Abend hatte ich Kopfschmerzen und Hunger.

Es ist wohl ein Naturgesetz, dass man nie Kleingeld für einen Automaten hat, wenn man es bräuchte.

Weil ich vor dem Lärm und den Gesprächen im Frühstücksraum der Jugendherberge geflüchtet war, war ich einerseits zu früh dran, das Tor zum Klostergarten war noch abgeschlossen. Andererseits knurrte mein Magen. So stand ich also vor einem Heißgetränkeautomaten und betrachtete sehnsüchtig die Zeichnung des duftenden Kaffees, hatte aber kein passendes Kleingeld zur Hand.

In dem Moment tauchte das Mädchen auf.

Das beruhigte meine Nerven, hatte ich also doch jemanden aus Fleisch und Blut gesehen, und keine Fata Morgana.

„Hallo, entschuldige, hast du vielleicht Kleingeld, ich bräuchte zwei Fünfziger“, sprach ich es an.

Das Mädchen blieb stehen und sah mich an, als ob ich ein Marsmensch wäre, jedenfalls war das mein Eindruck.

Dann flog ein Schatten Furcht über ihr kindliches Gesicht, und sie sah sehr verstört aus, aber vielleicht interpretiere ich zu viel hinein, sie schüttelte den Kopf und ging zwei Schritte weiter, doch da rief jemand „warte, Cleo.“

Am anderen Ende des Ganges tauchte eine Person auf.

Als das Licht auf sein Gesicht fiel erkannte ich Kurt Molden.

Er hatte einen schillernden schwarzen Pullover an.

„Ach, hallo Gernot, du bist schon da?“, begrüßte er mich, „ich habe dich nicht gleich erkannt.“

Dann wandte er sich an das Mädchen.

.„Alles in Ordnung?“

Das Mädchen nickte- langsam, so als ob es sich nicht sicher sei.

Kurt sah genauso langsam zum Kind und reagierte auch nicht schneller. Die beiden sahen sich nur an.

Ich hatte keine Ahnung um was es hier ging.

Ich sagte, „ ich hätte mir gerne einen Kaffee rausgelassen, aber leider habe ich kein Kleingeld.“

Langsam lösten sich beide aus ihrer Erstarrung.

„Ach so, “ antwortete Kurt, als ob das jetzt alles erkläre.

Dann gab er mir seine Hand.

„Guten Morgen, offenbar hat es geklappt mit dem Zimmer.“

„Ja, ich habe tatsächlich ein Einzelzimmer bekommen, es sei nicht so viel los in der Nachsaison hat man mir erklärt, aber der Frühstücksraum ist rappelvoll.“

„Gut.“

Pause.

Der Regen plätscherte, und der Kaffeeautomat fing an zu brummen. Der Regen blubberte, der Kaffeeautomat hörte auf zu brummen, als Kurt sagte: „Das ist Cleo, und das ist Gernot, er ist einer meiner Studenten, und er... nun ja... vielleicht sollte er selbst beschreiben was ihn hierher getrieben hat.“

Das Kind sah mich interessiert an, genau wie Kurt.

„Erst brauche ich mal einen Kaffee“ sagte ich.

„Ach so, lass mal sehen.“ Kurt zog eine Geldbörse heraus.

„Ja, hier habe ich etwas Silbergeld.“

Ich versuchte den Automaten zu bedienen, aber der war störrisch.

Kurt probierte es, aber auch bei ihm kam das Geld wieder heraus. Da nahm das Kind die Münze und ein Pappbecher wurde mit schwarzer dampfender Flüssigkeit gefüllt.

„Kannst du noch einen für mich machen?“ fragte Kurt das Kind mit dem Namen Cleo.

Ein zweiter Pappbecher wurde gefüllt.

„Willst du auch was Cleo?“

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

Dann verbrannten wir uns beide den Mund an dem überraschend heißen Getränk.

„Ist Cleo ... deine Tochter?“ fragte ich

Kurt Molden antwortete nicht sofort, sondern sah Cleo an, das ihrerseits interessiert zusah.

„Nein“, sagte er, und dann sagte niemand etwas.

Plötzlich öffnete sich die Tür, und zusammen mit Wind und Regen erschien ein Mann im Regenmantel.

„Guten Morgen, wollen Sie bei diesem Wetter in den Klostergarten?“ fragte er.

„Eigentlich hatte ich das vor“, sagte ich.

„Na gut, ich mache gleich auf.“

Der Mann verschwand.

„Wir wollten auch in den Garten, aber bei dem Wetter nicht unbedingt, was meinst du Cleo?“

Cleo schüttelte den Kopf.

Wir blieben also vor dem Getränkeautomaten stehen.

„Cleo ist meine Patientin“, sagte Kurt.

Das Kind sah mich an, ich sah Kurt an, Kurt sah das Kind an, der Kaffee war immer noch heiß, wurde aber langsam trinkbar.

Ich setzte mich auf eine kleine Bank.

„Ich bin erste seit drei Wochen Student...“ begann ich, und dann berichtete ich alles, so wie ich es schon mal Kurt gegenüber zusammengefasst hatte.

Das Kind hörte zu, intensiv und sehr interessiert.

Wie ein Insekt saugte es die Worte aus mir heraus, das war völlig umgekehrt zur bisherigen Situation, na, ich sagte was zu sagen war.

Dann war ich am Ende mit meinem Bericht.

„Ich glaube wir gehen wieder hinauf auf dein Zimmer“, sagte dann Kurt.

Das Mädchen gab mir seine Hand.

Kurt meinte, „wir sehen uns noch“,

Dann verschwanden beide in dem dunklen Gang, der irgendwie ins Hotel führte.

Ich hatte also tatsächlich einem Kind erzählt was mich plagte. Cleo hatte zugehört und genickt ohne ein einziges Wort zu sagen.

Da ich nichts anderes vorhatte, suchte ich den Klostergarten auf, allerdings begnügte ich mich damit vor dem Regen geschützt unter einem Arkadendach zu sitzen.

Allein war ich deswegen noch lange nicht.

Immer mehr Stimmen quatschten Kommentare zu den jüngsten Ereignissen. Ich half mir mit einem Vergnügen der besonderen Art: ich zählte die Tropfen, die sich neben meinem Schuh zu einer Lache sammelten, es dauerte 78 Tropfen bis ich den Schuh wegrücken musste.

Auf diese Weise überhörte ich was mir meine Monster erzählten- was alles Schreckliches (oder schrecklich langweiliges) gäbe auf der Welt (in der Welt meiner Mitmenschen...)

Dann zählte ich rückwärts, von 200 abwärts.

Das brachte meine Monster kurzzeitig zum Schweigen, und dann multiplizierte ich jeden Regentropfen und gerade als ich anfangen wollte die Wurzeln zu ziehen stand Kurt vor mir.

„Was für ein Mistwetter“, sagte er.

„Woher wusstest du, dass du mich hier antreffen würden“, fragte ich.

Er zuckte die Schulter.

„Jedenfalls hast du Cleo überzeugt... sie meinte, man könne dir vertrauen...“

„So ganz komme ich noch nicht mit, Cleo ist also deine Patientin.“

„Ja.“

„Dumm gefragt, was hat sie für Probleme?“

„Du meinst weil sie erst zehn ist sollte sie keine Probleme haben?“

„Ich weiß nicht, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie auf der Couch liegt und dir von ihren Komplexen oder was auch immer berichtet.“

„Es wäre schön, wenn sie das täte, das wäre dann nämlich schon ihre Heilung.“

„Aha.“

„Ist es dir entgangen, dass sie nicht spricht?“

„Sicher, sie war stumm wie ein Fisch, aber vielleicht ist sie gehemmt.“

„So ist es, irgendetwas hemmt sie zu sprechen. Du würdest also gerne wissen, was es mit Cleo auf sich hat?“

„Ja.“

„Dürfte ich dir eigentlich nicht erzählen wegen meiner ärztlichen Schweigepflicht aber Cleo hatte gemeint man können dir vertrauen,

wobei wir beim Thema wären..

Vertrauen...

du solltest wissen, dass du ihr und mein Vertrauen nicht verspielen darfst.“

„Und das heißt?“

„Stillschweigen. Niemandem etwas von Cleo´s Krankheit zu berichten. Ist das für dich in Ordnung?“

„Ja, ich werde zu niemandem etwas sagen.“

„Okay.“

„Kannst du etwas mit dem Begriff Mutismus anfangen?“

„Nein, noch nie gehört.“

„Nun, ich muss zugeben, für mich ist es auch neu gewesen, bevor ich mit Cleo bekannt wurde. Schade dass wir keinen Kaffee haben. Also..

Vor etwa einem halben Jahr ist es gewesen, als Cleo aufhörte zu sprechen.

Vorher war alles normal, also in dem Sinne, das Cleo sprechen konnte und in der Schule eher sehr gute Noten hatte, sie ist glaube ich sowieso außerordentlich intelligent, außerdem sehr sensibel, jedenfalls hörte sie quasi von einem Tag auf den anderen auf zu sprechen..“

„Ist irgendetwas passiert?“

„Das mit der Psyche ist so eine Sache, bis man wirklich Probleme bekommt brodelt es... ich konnte bisher keine Auslöser der Krankheit dingfest machen, aber wenn man der Literatur glaubt scheint es sich eher um ein Bündel von Problemen zu handeln , ich bin auch nicht der erste Therapeut, der mit Cleo arbeitet, es waren schon andere vor mir am Werk, also Mutismus ist eine im sozialen Umfeld angelegte Krankheit, überspitz gesagt ist es ein Protest gegen ihr Umfeld, und darum hat man auch versucht sie in ein Heim zu bringen, aber da ist sie sofort getürmt, und gegen ihren Willen wollte sie niemand abschieben, jedenfalls habe ich Kontakt zur Familie aufgenommen und nun ja, wie in jeder Familie gibt es Spannungen- vielleicht ein bisschen mehr, aber der Ansatz Abstand zur Familie ist auch mein Ansatz, das Problem ist nur sie möchte – übrigens ähnlich zu dir- keinen Kontakt zu anderen, es bringt sie geradezu in Panik- die ganze Sache ist eigenartig ähnlich zu deinem Fall.“

„Na ja, ich spreche immerhin.“

„Du bist auch erwachsen, du kannst mit der ganzen Sache umgehen, mit deinen Monstern, aber stell dir vor du wärst zehn Jahre jünger, was meinst du...“

„Da ist was dran, und du meinst sie sieht auch Monster.“

„Ich habe keine Ahnung, es ist wirklich schwierig über ihren Mutismus zu sprechen, das wird auch nicht empfohlen als Heilungsansatz. Ich denke es könnte für euch beide hilfreich sein, wenn ihr etwas Zeit miteinander verbringen würdet.“

„Es käme auf einen Versuch an. Aber nochmal zum Mitschreiben. Cleo ist stumm?“

„Ja.“

„Aber wie kann ich dann mit ihr kommunizieren?“

„Ja, das ist eine Schwierigkeit. Aber die alltäglichen Dinge wie, wo gehen wir hin essen wir was oder so, kannst du leicht mit ihr aushandeln, sie kann ja nicken oder auf etwas deuten, und wenn es besonders schwierig wird kann sie dir einen Zettel schreiben“

„Aha.“

„Ich muss jetzt wieder zurück nach Weikenburg, wir könnten morgen Abend telefonieren, ich bin spätesten übermorgen wieder da.“

Wir verabschiedeten uns und er spannte seinen Regenschirm auf und ging in Richtung Ausgang. Dann blieb er stehen, drehte um und setzte sich wieder neben mich und starrte in den Regen.

„Also alles schön und gut, aber ich beiße, wie alle meine Vorgänger bei Cleo auf Granit. Sie ist kommunikativ bis zu einem gewissen Grad, aber dann gibt es eine Grenze, von da an geht nichts mehr. Ich vermute, sie bewahrt ein für sie großes und schweres Geheimnis.“

„Ja, das ist möglich, hast du irgendwelche Vermutungen, was Cleo so standhaft verleugnet?“

„Der erste Gedanke ist sexueller Missbrauch, aber ich glaube das ist es nicht.“

„Sondern?“

„Ich sage dir was, aber das ist nun wirklich ein Geheimnis, das muss unter uns bleiben, dann das ist eine sonderbare Spekulation. Du versprichst mir, niemandem davon etwas mitzuteilen, streng vertraulich.“

„Ich verspreche es.“

„Gut. Manchmal wenn ich mit Cleo zusammen bin, dann habe ich das Gefühl, wir wären nicht allein. Als ob noch eine Person im Raum wäre.

Aber dies ist nur ein verrücktes, sonderbares Gefühl, ohne einen einzigen Anhaltspunkt.“

Danach ging er wirklich.

Ich begann mit Wurzelziehen.

Am Nachmittag besuchte ich Cleo in ihrem Hotelzimmer

Ich begrüßte sie mit einer Tafel Schokolade bewaffnet.

„Hallo, Cleo, Herr Molden hat gemeint, ich könne einfach so bei dir vorbeischauen“ sagte ich.

Cleo nickte, und grinste. Ich hatte den Eindruck sie freue sich mich zu sehen.

Ich gab ihr die Schokolade.

Sie legte sie achtlos auf einen Tisch.

„Schönes Zimmer, jedenfalls viel schöner als meines in der Jugendherberge", sagte ich.

Hier in ihrem Hotelzimmer kam sie mir größer und irgendwie erwachsener vor.

Sie hatte, wenn ich es richtig sah, den Bubischnitt abgelegt, also die Haare irgendwie gewaschen oder gelegt oder so. Auch nahm ich erst jetzt ihre quietschbunte Kleidung wahr.

Eine rote Hose, ein blaues Hemd und ein gelber Schal.

Hier konnte sie sich wohl richtig austoben.

Ich glaube die Situation war für uns beide nicht ganz einfach, ich empfand es sogar etwas peinlich, sich nicht mit Small Talk in die Gemeinsamkeit hineinzuarbeiten.

Irgendwie musste ich ständig auf Cleo´s Mund starren und erwartete, dass er aufginge und sie beginnen würde zu erzählen, zu plappern oder irgendein Quitschgeräusch von sich gebend.

Cleo schaltete das Radio aus und lud mich mit einer damenhaften Bewegung ein mich zu setzen. Jetzt tickte nur noch der Wecker und von draußen wehte der Wind an die Scheiben. Ich saß also an einem etwas ungemütlichen Stuhl am Beistelltisch und die Tafel Schokolade lag drauf und der Prospekt, den ich schon kannte.

Cleo setzte sich an den Schreibtisch, ließ ihren Blick langsam durch den Raum gleiten, und, ja, wenn man so will, weil Kurt mich mit der Nase drauf gestoßen hatte, es könnte so sein als ob sie jemand drittes suchen würde.

Aber dann blieb ihr Blick auf mir hängen. Manchmal sehen Kinder eine ja so an, ein direkter Blick, der meistens mit etwas Süßem vergolten wird. Aber ich hatte meine Tafel Schokolade schon aus der Hand gegeben.

Ich wusste nicht was in diesem Blick enthalten war

Dann setzte sie sich mit dem Rücken zu mir an den Schreibtisch und schrieb etwas.

Dann drehte sie sich um und gab mir einen Zettel.

Nur eine Frage stand dort in kindlicher Schrift.

„Wie sehen deine Monster aus?“

Eigentlich eine leichte Aufgabe dachte ich

Meine Monster sehen nämlich aus wie...

plötzlich verflüchtigten sie sich, sahen überhaupt sehr ungenau aus und gar nicht mehr so gefährlich

Darum sagte ich: „Eigentlich kann ich sie gar nicht beschreiben, jedenfalls dunkel, wie solche Albtraume, die man hat, manchmal sind es grimmige Gesichter, manchmal groteske Fabelwesen, aber meistens eher große dunkle Wolken hinter der sich Stimmen verstecken“.

Ob ich sie malen könne?

Na ja ich setzte mich hin und ich muss sagen, meine zeichnerischen Fähigkeiten waren schwach, es sah eher witzig aus, wie eine Karikatur.

„Und sie sind schwarz?“ war die nächste Frage auf dem Zettel

„Einigermaßen.“

„Wie groß?“

Cleo deutet eine Größe an die zwischen ihren Daumen und Zeigefinger passte, als zehn Zentimeter,

„Nein viel größer", sagte ich, aber manchmal auch kleiner, die hängen eigentlich nur in meiner Vorstellung herum, jetzt gerade verstecken sie sich- das ist ja eigenartig.

Cleo nickte, als ob das alles vollkommen verständlich wäre.

Dann malte sie einen Kreis. Auf ein weißes Papier und deutete mit dem Zeigefinger darauf.

Ich sah einen leeren Kreis.

Ich sagte: „ich sehe ein leeren Kreis.“

Dann nahm sie das Papier und zog es vorsichtig und langsam zu sich hin und deutet dabei immer noch auf den Kreis, ich erhaschte einen Blick auf ihr Gesicht, dabei wurde es mir ganz anders,

höchst konzentriert, voller Furcht und Angst, als sie meinen Blick bemerkte lächelte sie plötzlich und sah mir in meine Augen.

Dieses zehnjährige Kind blickte in meine Seele.

Ich konnte ihren Blick nicht länger aushalten und ließ meine Augen vielmehr durchs Fenster schweifen, über die Dächer Bernhausens bis hin zu den Hügeln mit ihren Obstbäumen oder auch Weinberge.

Cleo fing an zu zeichnen, mit einem schwarzen Filzstift.

Ich stand hinter ihr und nach einer Weile beugte ich mich hinunter, quasi über ihre Schulter, an ihrem Kopf vorbei.

Ein wüstes Szenario entstand da auf dem Blatt.

Schwarz auf weiß. Düster auf weiß.

Das Blatt hatte sich mit sonderbaren Figuren gefüllt, dickbäuchige Strichmännchen.

Ich beugte mich noch weiter vor um überhaupt erkennen zu können was Cleo abbilden wollte und- sah plötzlich nichts mehr.

Völlige Dunkelheit umgab mich.

***

Aber nicht nur Dunkelheit.

Auch Stille umgab mich.

Oder doch nicht?

Ein kurzer Ausruf des Schreckens, der aber sofort an Klang verlor und schnell verwehte.

Doch geschrien hatte wohl jemand, was die darauffolgende Diskussion bewies.

„Da ist einer abgestürzt...“

„Au weia...“

„Herr Kussnowsky, da ist einer abgestürzt.“

„Ja, ja, ich hab es gehört, junge Herrschaften. Also zunächst ein bisschen aufpassen, es geht tief hinunter.“

„Und wie sieht es unten aus, Herr Kussnowsky?“

„Gelblich.“

„Entschuldigung, ich meinte nicht die Farbe, wird der Kamerad es überleben?“

„Seinen Absturz meinst du?“

„Ja, das meinte ich.“

„Denkt nicht weiter darüber nach, bleibt zusammen und folgt mir.“

Wie ein nicht endender Sturzbach schlugen die Worte bei mir ein, was war los?

Ich sah immer noch nichts. Wo war ich, wo war Cleo, hatte ich mein Augenlicht verloren, oder einen Schlag auf den Kopf erhalten?

Plötzlich erhielt ich tatsächlich einen Schlag, von irgendwoher wurde ich geschubst und ich spürte wie ich den Boden unter den Füßen verlor, gleichzeitig kamen aus alle Ecken graue Punkte, die sich zu einem grauen Gesamtbild zusammensetzten.

Und dann lag ich auf dem Boden, oder auch auf einem Teppich, einem hellen Teppich.

Um mich herum trappelten verschieden Schatten, die ganze Szenerie war ziemlich düster, dunkelgrau in dunkelgrau.

Die Schatten gingen an mir vorbei. Es waren Säcke, schwarze Säcke, die sich unterhielten.

„Das wird interessant“

„Was soll das für eine Veranstaltung sein?“

„Meinst du er ist tot?“

„Hat er schon einen Namen gehabt? Wenn nicht macht ihm der Tod nichts aus.“

„Heh, nicht stehen bleiben.“

Vielleicht gewöhnten sich meine Augen an das Zwielicht, aber es schälte ich heraus, dass auf den Säcken Köpfe saßen, und dass die Säcke irgendwelche Kutten waren, so ähnlich wie Mönche sie tragen.

Dann erhielt ich den nächsten Stoß, aber diesmal war die Wirkung ungleich stärker und kurioser. Ich segelte nämlich durch die Luft. Hinzu kam, dass ich jetzt viel mehr Details erkennen konnte. Mehr als mir lieb war.

Ich befand mich selbst in so einer Mönchskutte und schwebte mit der Brust nach vorne über dem hellen „Teppichboden“, wie ein Flughörnchen. Dabei umgab mich eine frische Leichtigkeit und ich fühlte mich wie ein Frühlingshauch, wie eine Pusteblume im Wind.

Und alles nur weil ich einen Schubs bekommen hatte?

So war es offenbar.

Ich überholte fliegend eine Gruppe „Mönche“ und betrachtete staunend eine Landschaft, die sich jemand ausgedacht haben musste, ich war in den Kulissen einen schlechten Sci-Fi Film gelandet.

Der „Teppich“ unter mir war ein langgestreckter nicht enden wollender „Damm“.

Rechts und links wurde es abschüssig, ich konnte nicht sehen wie tief es hinab ging, aber es sah wirklich tief aus.

Über mir und zu beiden Seiten gab es ähnliche „Dämme“, aber wenn ich sie jetzt betrachtete waren es doch eher Schläuche. Jemand hatte sehr viele Schläuche durch die Luft gezogen.

Sie hingen freischweben und führten von Horizont zu Horizont, aber Horizont war das falsche Wort, sie führten in die Unendlichkeit. Zwei Schläuche sah ich, welche ziemlich schlapp herunter hingen, sie sahen ein bisschen zerzaust aus. Vergeblich suchte ich nach ein bisschen blau, oder ein paar Wolken, oder einen Sonnenstrahl. Hoch über mir versperrte eine Unzahl Schläuche den Blick in den Himmel.

Ich schwebte immer noch. Es trieb mich sanft über den Damm hinaus, doch, als ob die Schwerkraft erst jetzt gemerkt hätte, dass es ein Opfer gäbe, das man in die Tiefe reißen könne, gewann ich Fahrt, und zwar abwärts.

„Ade, du schnöde Welt, “ dachte ich.

Aber dann musste ich grinsen- denn das Ganze war so absurd, dass es sich nur um einen Traum handeln konnte, in welchem ich mich befand.

Das war ein tröstlicher Gedanke, denn er erklärte vieles. Vor allem entschärfte er die Gefahr auf dem Boden aufzuprallen und umzukommen. Die schlimmste Konsequenz würde sein, dass ich aufwachen würde

Nochmal zu meiner eigenen Gestalt. Es ist schon eigenartig wie schnell man Dinge erkennt, und wie schnell man sie lieber nicht erkannt haben wollte. Dass ich genauso in einer „Mönchskutte“ steckte wie all die anderen, hatte ich schon erwähnt.

Ich sah also aus wie ein Strichmännchen aus Cleos Zeichnung.

Aus den Kutten ragten die Gliedmaßen, also Arme und Beine.

Sie waren so schwarz wie die Kutte, vielleicht sogar noch dunkler, jedenfalls behaart wie ein Bär, nun ja, es waren zwar keine Pranken aber es fehlte jeweils eine Fußzehe, bzw. ein Finger.

Immerhin hatte ich keine Krallen.

Mein Kopf sah aus wie die Köpfe der anderen, nämlich am ehesten mit dem eines Teddybären zu vergleichen, aber doch noch- ein bisschen- menschlich.

So stand es als ich mit zunehmender Geschwindigkeit in den unendlichen Abgrund gerissen wurde.

Ein Traum!

„Hallo, mein Freund“, schreckte mich eine Stimme auf.

Neben mir flog einer der „Mönche“, ich vermutete es wäre Kussnowsky, jedenfalls rasten wir parallel auf ein noch ziemlich weit entferntes aber auch ziemlich hart aussehendes Stück Gelände zu. Es wäre jetzt der passende Moment gewesen aufzuwachen.

„Du solltest deine Arme etwas weiter spreizen“, meinte mein Flugpartner.

Ich begriff nicht sofort.

„Andernfalls wirst du demnächst auf dem Boden zerschellen“, setzte er hinzu. „Mach es wie ich.“

Er spreizte die Arme und- schwupp- blähte sich die Kutte auf, und- schwupp- blieb er fast stehen in der Luft, während ich weiter in die Tiefe brauste.

Ich war zu verblüfft um sofort zu reagieren, doch dann, gerade noch rechtzeitig, ließ auch ich meine Kutte im Wind blähen- und die rasende Fahrt verlangsamte sich.

Mein Begleiter holte wieder auf und setzte sich neben mich.

„Bremse noch ein bisschen mit den Beinen“, meinte er und ich bremste mit den Beinen.

Dann fragte ich ihn ob er Kussnowsky sei.

„Ja, „ antwortete er, „aber dich kenne ich noch gar nicht.“

Dann tauchten weiter Mitflieger neben uns auf, und Kussnowsky wandte sich ihnen zu.

„Hallo ihr Grünschnäbel, klappt alles mit der Fliegerei?“

„Ja..ja..prima..dort drüben ist aber einer ziemlich schnell.“

„Ach, noch ein ungeübter, dann will ich mal schnell rüber düsen“, sagte er und weg war er. So trudelten wir alle langsam tiefer.

Ich entspannte mich und plötzlich machte es mir Spaß so herum zu flattern, die Fliegerei schien nicht allzu schwer zu sein.

Ich überblickte eine weite Ebene, hellgelb erschien mir der Boden. Eine Wüste vermutete ich.

Als ich dann sanft aufsetzte und mein Flug durch die Luft unbeschadet beendete, merkte ich dass es jedenfalls keinen Sand gab, und das war immerhin das Hauptkriterium für eine Wüste, also stand ich auf etwas anderem.

Der Boden war nicht hart, er gab nach. Es war kein Geröll, es war kein Sand, und er fühlte sich auch nicht kalt an.

Ein anderer Kuttenträger war dicht neben mir gelandet.

„Was tust du da?“ fragte er.

„Ich untersuche die Bodenbeschaffenheit, was ist das für Material?“

„Keine Ahnung. Hast du schon einen Namen?“.

„Ja, klar, ich bin Gernot Zeunert.“

„Ach, du hast einen Doppelnamen, das ist ja toll.“

„Nein, es ist mein Vor- und Nachname.“

„So was habe ich ja noch nie gehört.“

„Wie heißt du denn?“

„Ich überlege gerade ob ich mich Seyfried oder Zahnpasta nenne soll, was meinst du?“

„Ich wäre für Seyfried.“

„Okay, ich bin also Seyfried.“

„Was ich fragen wollte... wo kommt ihr denn her...“

„Na, die meisten sind im Brut Raum gewesen, aber jetzt sind wir Frischlinge, frische Orudaner sozusagen, aber manchmal weiß man ja nicht so genau ob wir wirklich frisch sind, Findlinge sind wir schließlich alle. Wo kommst du her?“

„Na ja, ich könnte sagen direkt aus dem Kloster, aber ich bin mir im Moment nicht so sicher.“

„Ich denke, das wird sich alles geben, ich bin gespannt auf die Veranstaltung, jetzt lass uns Kussnowsky folgen, der wird schon ungeduldig.“

Also setzte ich mich- genau wie Seyfried und alle anderen in Bewegung und folgte Kussnowsky.

Bald trafen wir auf eine etwa gleich große Gruppe Kuttenträger. Sie sahen nicht so gleichförmig aus wie die Frischlinge unter denen ich mich befand. Die Kutten waren besser geschnitten, einige hatten sogar Anzüge an, viele waren dicker, aber die Grundfarbe der Gesichter und der Haut war bei allen gleich dunkel. Sie standen schwatzend beieinander, und als sie Kussnowsky erkannten gab es gleich ein großes „Hallo.“ Kussnowsky war offenbar wohl bekannt.

Neben der Gruppe saßen ein Schwan und ein schmaler Reiher, der stocksteif auf einem Bein stand.

Die Frischlinge umringten die beiden Tiere und ein besonders mutiger ärgerte den Reiher indem er ihn anstieß.

Aber der Reiher fiel nicht um, vielmehr setzte er das zweite Bein auf den Boden und schnappte in einer flinken Bewegung nach der Hand des Frischlings. Ehe man sich versah hatte er den gesamten Arm des Frischlings im Maul.

Dieser schrie entsetzlich auf.

Alle waren erstarrt.

Doch als ob nichts gewesen wäre, stellte sich der Reiher wieder auf sein Standbein und ließ den Arm achtlos zu Boden fallen.

Kussnowsky eilte hinzu.

„Aha, “ sagte er, hob den Arm auf und wandte sich an den immer noch schreienden Frischling, „das war wohl deiner, der wächst wieder, ihr geht jetzt aber besser. Geht dort rüber, ... seht ihr den Mann dort drüben? Geht jetzt hinüber, die Veranstaltung fängt gleich an, jetzt geht endlich, du auch mein Junge, tut es denn weh?“

„Äh, nein, eigentlich nicht, ich war nur so erschrocken.“

„Ja, ja immer dasselbe Spiel. Keinem tut was weh, aber dann plötzlich ist man tot, ihr müsst aufpassen.“

***

Stille.

Nichts.

Gar nichts.

Plötzlich, befand ich mich in einer Blase aus Nichts.

Im Dunkeln.

Im Nirgendwo.

Ganz langsam ruckelten sich meine Gedanken zurecht, aber dann gab es doch etwas im Nichts.

Geräusche.

Kein Rufen der Frischlinge und keine Fragen oder Antworten von Kussnowsky, eher... Kratzgeräusche, und...

ein gleichmäßige Auf und Ab...

Atemgeräusche.

Und dann sah ich doch wieder einige Orudaner im Mönchskleid. Sie befanden sich auf den Blättern, die vor Cleo lagen, es waren nur ihre Zeichnungen. Und die Geräusche waren das Atmen von Cleo, und vielleicht mein eigenes Atmen, und dann gab es noch einen Reisewecker, der tickte, und draußen hörte ich einen Rasenmäher, und ich freute mich solche normalen Geräusche zu hören.

Was war passiert?

Ich verstand es nicht.

Verzweifelt versuchte ein Teil meiner Gehirnwindungen eine Erklärung zusammen zu basteln, aber mein aktuelles Ich war der Meinung noch keine Meinung zu haben wäre die beste Meinung.

Hatte ich mich überhaupt bewegt? Es war fast so als ob ich genauso dastehen würde wie vor dem – nun- was war das gewesen? Vor dem Tagtraum.

Mein Kopf war dicht an Cleo´s Kopf, ein paar Haare berührten meine Wange

Sie bewegte aber ihren Kopf nicht um mich anzusehen

Und jetzt?

Cleo war ganz vertieft in ihre Zeichnung.

Und was zeichnete sie?

Strichmännchen mit ... vier Fingern!

Uuuh!

Na ja.. es war so deutlich gewesen in meinem Tagtraum.

Es hatte mich voll erwischt.

So was wie einen Tagtraum hatte ich noch nie gehabt, gedankliche Abschweifungen klar, aber noch nie so ein detailliertes, abgeschirmtes Erlebnis.

Meine Monster hatten ganze Arbeit geleistet.

Man könnte sich fragen- war in meinem Oberstübchen der Wahnsinn ausgebrochen?

Möglich- aber kampflos wollte ich mich nicht in die Psychiatrie einweisen lassen. Ich schüttelte den Kopf und setzte mich aufs Bett.

Das war doch ganz einfach, die Dinge, die Mönchskuttenträger, die sich Orudaner nannten, und speziell die Frischlinge unter ihnen, das hatte ich in Cleo´s Zeichnung aufgeschnappt und war dann ... äh für einen Moment weggetreten...

so irgendwie

man darf nicht vergessen, meine Monster machten mir das Leben doch schon schwer genug vielleicht so schwer, weil mein bisheriges Leben völlig ohne jede Nebenwirkung war ich denke ich habe sämtlich Probleme oder Problemchen immer in Schubfächer wie <irgendwann darüber nachdenken>, <Blödsinn> oder <geht mich nichts an> abgelegt.

Zunächst musste ich heraus bekommen ob ich wirklich für einen Moment oder für ein paar Sekunden weggetreten war. Aber was sollte ich sagen? Cleo war immer noch vertieft. Wie lange wollte sie denn noch kritzeln?

„War etwas?“ fragte ich.

Aber Cleo sah mich nur spröde an.

„Ich meine, war ich gerade, als ich neben dir gestanden habe, war ich da... irgendwie weggetreten?“

Cleo zuckte die Schultern.

Ich setzte mich auf das Bett.

Von dort aus betrachtete ich die Wand, die Tapete, die Decke .

Cleo saß auf einem Holzstuhl, das Holz war hell.

An der Wand hingen Drucke. Van Gogh und Bilder von irgendwelchen Heiligen, das passte nicht zusammen aber es beruhigte meine angespannten Nerven und alles was so herrlich normal.

Alles darf normal und langweilig sein, das war doch mein Lebensmotto, ich hatte keine Lust auf überraschende Ereignisse, auf fliegende Monster in der Nacht und mit Verlaub, am liebsten wäre ich durch die Tür verschwunden und hätte das zehnjährige Mädchen und ihre Probleme samt Zeichnungen hinter mir gelassen.

Ja, nun, es kommt meistens anders.

Mein Blick verfing sich auf dem Schreibtisch, folgte einem Schatten, der sich gebildet hatte. Ein Schatten, der unentwegt seinen Aufenthalt änderte, er war vielleicht 7cm groß und 4 cm breit und etwas rundlich.

Ich erhob mich um mir die Sache genauer anzusehen, aber ich hätte zur Tür gehen und diesen Ort verlassen sollen.

Aber im Nachhinein ist man immer klüger.

Es waren nur wenige Schritte vom Bett zum Schreibtisch, aber der Weg war lang, denn unterwegs schwante es mir, -ich sah es- aber noch wollte ich es nicht sehen.

Doch irgendwann musste ich zugeben was ich sah.

Ein 7cm großes dickliches, schwarzes, kuttentragendes Männchen stolzierte vor Cleo auf dem Schreibtisch herum.

Es war eine Miniversion eines Orudaners.

Es sah genauso aus wie ich und alle anderen im „Tagtraum“ ausgesehen haben.

Aber ich hatte keine Zeit mich nur mit dieser Ungeheuerlichkeit auseinanderzusetzen, denn ein zweites und ein drittes Männchen tauchten auf, sie waren von Cleo´s Haar heruntergepurzelt.

Cleo wandte den Kopf zu mir, sie sah wohl mein entgeistertes Gesicht

Sie hob ihren Finger und deutete auf ein Wesen, das gerade über ihren Arm lief, Nummer vier.

Sie sah mich dabei an.

Ich nickte.

Und sie lächelte.

 

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Tag der Veröffentlichung: 05.11.2013

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