Cover


Ich ging in mein Arbeitszimmer, zum Schreibtisch. Vielmehr: Ich schlich ins Zimmer und zu meinen letzten Aufzeichnungen. Gestern Abend hatte ich die geschriebenen und ausgedruckten Seiten in meine Manuskriptmappe gelegt und die Mappe geschlossen.
Sie war noch geschlossen, die Mappe lag genauso, wie ich sie zurückgelassen hatte. Alles wie immer. So, wie es sein sollte.
Ich zog die Seiten heraus.
Schon wieder! Und dieses Mal hatte ich mir nichts eingebildet. Kein bisschen.
Ich starrte auf den Text. Das war nicht meiner!
Buchstaben wurden zu Worten, Worte zu Sätze und Sätze zu einem Roman, der auf skurrile Art und Weise gut war – aber eben nicht meiner.
Ich schüttete die zerknüllten Zettel mit angefangenen und verworfenen Ideen aus dem Papierkorb. Keines davon gehörte zu meinen Aufzeichnungen. Shit!
Ich erinnerte mich genau an die letzte Szene und die Protagonistinnen. Keine von ihnen war eine schlaksige Rothaarige gewesen.
Verwirrt überflog ich die neue Episode und versuchte mich an etwas zu erinnern, was in meinem Text vorgekommen war. Da war nichts. Die Worte glitten in eine Erotikszene über, der Held küsste die Rothaarige, wanderte mit seinen Händen über ihren Rücken, strich ihr die Träger von den Schultern und …
Wow!
Die Beschreibung war wirklich sexy. Mehr als sexy. Meine Libido regte sich, beflügelt von meiner Fantasie und der geweckten Vorstellungskraft. Kleine Impulse schossen durch meinen Unterleib und … Ich legte das Papier zur Seite.
Wollte sie mich mit Sinnlichkeit in den Wahnsinn treiben?
Wirklich?
So einfach würde ich es ihr nicht machen!
Tief einatmend heftete ich die neuen Ergüsse zu den Anderen und überflog noch einmal den Gesamttext. Er hatte nichts mehr mit der vom Verlag abgesegneten und vertraglich fixierten Idee zu tun.
Das hier war ein reiner Erotikroman, in dem der Autor von seiner Muse verfolgt wurde. Sie vertrieb alle anderen Frauen und bettete ihn auf Ideen. Verlockte ihn dazu, sich in sie zu verlieben und nur noch für sie zu leben. Früher hatte sich meine Muse wenigstens an mein Skript gehalten. Heute tat sie alles, um Teil meines Lebens zu sein.
Ich setzte mich an den Schreibtisch und starrte meine Schreibmaschine feindselig an. Dann eben anders. Wenn sie es so wollte, würde ich sie eben betrügen. Auf die alte Art und Weise. Und mit Kopie. MEINE Kopie. Ihr Original – zum Ändern.
Musenbetrug.

***

Am nächsten Morgen gab ich mir keine Mühe zu schleichen. Meine Kopie war sicher im Safe versteckt und was mit dem Original konnte sie sich austoben, wie sie wollte. Vielleicht würde ich so sogar zwei Bücher zum Preis von einem bekommen und konnte noch als Erotikautor reich und berühmt werden?
Bei dem Gedanken kam mir das erste Lächeln seit Tagen.
Nein!
Ich starrte fassungslos in meinen leeren Safe.
Weg! Mein Skript!
Stattdessen lag dort eine Fassung des Buches, die ich gestern überflogen hatte. Mit neuen Seiten. Exakt genau so vielen neuen Seiten, wie ich gestern getippt hatte.
Unmöglich!
Wo zum Teufel war MEIN Text?
Wütend überprüfte ich die Sicherheitsvorkehrungen. Nichts. Dabei hatte niemand außer mir die Kombination!
Und ich hatte noch 3 Wochen bis zur Abgabe. Eine Katastrophe.
Aufgewühlt änderte ich die Aufteilung auf meinem Tisch und wechselte an den Computer. Sollte sie doch versuchen, alle Sicherheitskopien, -sticks, externe Festplatten und Online-Speicherorte zu ändern! Ha!

Eine Stunde später saß ich noch genauso da wie zuvor. Und war genauso weit. Zumindest mit meinem Buch. Dem, auf das der Verlag wartete.
Das andere war ja schon halb fertig.
Das andere streng genommen ja auch – es war nur verschwunden. Und fiel mir einfach nicht mehr ein. Lag am Computer. Ich konnte es einfach nicht. Der leere Bildschirm war unerträglich. Weißes Papier auf der Schreibmaschine ging, weil es endlich war. Der Computer war unendlich. Zumindest von meiner Perspektive aus betrachtet. Während dass weiße Papier ein Universum an Möglichkeiten bot, bot der Computer alle potentiellen Universen gleichzeitig an.
„Verdammt!“
„Nicht fluchen!“
Lucy bog mit einem Tablett um die Ecke. Ein großer Krug Apfelschorle, ein Glas und mein Mittagessen (es roch verführerisch nach Linsensuppe mit Würstchen), wurden auf den Beistelltisch gestellt und das Frühstück (nicht angerührt), mit einem vorwurfsvollen Blick (Ich musste Lucy nicht einmal ansehen, um diesen Blick wahrzunehmen) abgeräumt.
„Wieso habe ich gewusst, dass du ausgerechnet in so einem Moment reinkommen würdest?“
„Weil ich dein gutes Gewissen bin“, flachste sie und stellte die Suppe direkt vor mir auf meine Unterlagen.
Was würde ich bloß ohne sie tun?
Nachdenklich sah ich ihr hinterher, wie sie, hüftwiegend, mein Büro verließ und leise, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen, die Tür hinter sich zuzog. Stolz und Zuneigung hielten sich die Waage und tobten auch noch in meinem Inneren, während ich wieder zurück an die Schreibmaschine wechselte. Irgendwie fühlten sich diese Tasten authentischer an. Sekunden später war ich wie im Rausch. Was hatte meine Muse noch gleich fabuliert? Erotik? Die sinnlichen Szenen formten sich fast wie von selbst vor meinem inneren Auge, bannten sich wie von selbst in Buchstaben, Worte, Sätze. Ein Thriller, mit mir in der Hauptrolle und mit einer eifersüchtigen Muse.

***

Zwei Stunden später war ich sehr zufrieden mit mir selbst. Lucy nicht. Ich hatte immer noch nichts gegessen.
Dieses Mal blieb sie einfach stehen. Mitten im Raum. Allein ihre Anwesenheit und ihr mürrischer Blick zwang mich dazu, meine Arbeit zu unterbrechen. Einen Keks in meinen Mund stopfend, sah ich sie an. Doch sie verschwand nicht. Jeder andere Mensch hätte sich vor mir in Sicherheit gebracht. In dieser Laune konnte meine Fantasie wirklich grausam werden – und sich direkt auf meinem Gesicht widerspiegeln.
„Und noch einen!“, forderte Lucy. Kleine, furchtlose Lucy.
Während ich meinen Keks in den Kaffee tunkte, betrachtete ich ihre Gestalt. Anmutig. Ihre Finger feingliedrig, das sptizbübische Lächeln, die Grübchen. Die Augenringe.
Die Augenringe?
„Ist alles in Ordnung?“
Lucy zuckte zusammen. Ihre Aufmerksamkeit hatte bis zu meinen Worten der Welt hinter meinem Bürofenster gegolten. Gar nicht mir.
Sie schenkte mir ein scheues Lächeln. „Ich bin nur ein wenig müde.“
Schlagartig erwachte mein schlechtes Gewissen. Das arme Ding! Wann hatte sie eigentlich ihren letzten freien Tag gehabt? Am liebsten hätte ich mein Gesicht in meinen Händen vergraben, um nachzudenken. Ich kannte Lucy seit sie 15 Jahre alt war und ihre Mutter begonnen hatte für mich zu arbeiten. In all der Zeit hatte sie ihre Schule beendet, eine Ausbildung gemacht, erste Freunde gehabt. Schließlich bei mir angefangen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass sie je nicht dagegewesen war. Selbst als ihre Mutter geheiratet hatte und fortgezogen war. Lucy war geblieben. Mein Fels in der Brandung. Immer. Tag für Tag.
„Möchtest du eine Woche frei haben?“
„Nein, sie brauchen mich doch.“ Ihre Stimme war sanft. Voller Gewissheit. Als erkläre sie einem kleinen, störrischen Kind, warum es nicht allein bleiben konnte.
Ich runzelte die Stirn, aber sie zeigte anklagend auf den Teller mit dem Mittagessen. Er war noch voll.
„Ohne Sie würde ich verhungern und verdursten!“, gab ich zu. Also nur einen Tag frei, höchstens zwei.
Lucys Lächeln verdunkelte sich ein wenig, wurde trauriger.
„Ist wirklich alles in Ordnung?“ Wie gerne hätte ich die Sorge von ihrer Stirn geküsst.
„Jaja!“, behauptete sie und machte eine wegwerfende Geste, bei der sie sich aber schon zum Gehen wandte. Wahrscheinlich um weiteren Fragen und meiner Aufmerksamkeit zu entkommen.
Was für eine Frau!
Ich seufzte.
Unwillkürlich stellte ich mir meine Angestellte als Protagonistin vor. Ich ihr Held. Ich vergrub meine Hände in ihrem rotblonden Haar, während ich sie küsste. Ihre helle Haut unter mir. Große, dunkle Augen statt der Musenbeschriebenen grünen. Welche Augenfarbe hatte Lucy eigentlich?
Wie von selbst floss ihre Beschreibung von meinen Fingern auf das Papier. Das neckende Grinsen, während sie sich irgendeinen Blödsinn ausdachte, um mich zu ärgern und zu aus dem Alltagstrott zu reißen.
Gegen so einen Text hätte ich nichts gehabt. Aber die Muse schien sehr eifersüchtig zu sein. Bisher hatte sie alle Protagonistinnen gelöscht und die wenigen, die noch in „meinem“ Text geblieben waren, starben wie die Fliegen.
Etwas, was ich meiner fantasierten Lucy nicht zumuten wollte. Und meiner echten Lucy schon gar nicht.

***

Der Besuch trat ins große Esszimmer und wirkte dabei so durchschnittlich, als hätte ich Prototypen aus dem 08/15 Katalog bestellt.
„Schön, dass sie Zeit finden konnten.“ Ich gab mir Mühe nicht zu begeistert zu wirken. Begeisterung wurde in jedem Gewerbe der Welt in barer Münze umgerechnet und konnte einen teuer zu stehen kommen.
Ich hatte ein Problem, dass wussten die Mitarbeiter der Matching-Myth. Dass sie vermutlich die einzigen waren, die es lösen konnten, nicht.

***

Wie auch, ich selbst wusste ja nicht, wie ich das alles zum Besseren wenden konnte.
Eigentlich müsste ja ein Vertreter einer übersinnlichen Firma irgendwie übersinnlich aussehen, dachte ich mir, und trotzdem hatte ich ihn sofort erkannt.
Das war schon erstaunlich, denn wenn ich einen Staubsaugervertreter in mein Script einbauen wollte, dann wäre er die ideale Besetzung.
Er hatte einen grauen Anzug an, eine dunkelrote dezente Krawatte, und sein Haar war schon etwas schütter und eher blass, wie auch seine Gesichtsfarbe eher grau war.
„Guten Tag,“ sagte er und machte dabei einen angedeuteten Bückling- mein lieber Mann, alte Schule, schoss es mir durch den Kopf.
Ich wollte ihm die Hand geben, aber er meinte:
„Das ist nicht nötig.“
Dann sah er sich im Zimmer um.
„Sie benötigen nicht zufällig einen neuen Staubsauger?“ fragte er.
Ich war zu perplex um sofort eine sinnvolle Frage zu stellen, sinnvoll wäre gewesen: „Sie sind doch von Myth Matching- der Firma für übersinnliche Liebesanbahnung?“
Doch der Herr (so kam er mir vor) meinte:
„Eine alte Marotte von mir, Sie müssen wissen bevor ich ..äh.. bei MM meine Aufgabe fand, war ich Staubsaugervertreter.“
Ich schreibe gern und viel. Reden ist nicht meine hervorstechendste Eigenschaft.
Ich war sprachlos.
Was ich sehr gut beherrsche, ist mein Gesicht in Form einer oder mehrerer Fragen zu verbiegen.
„Es ist ein interessanter Beruf. Man lernt die verschiedensten Menschen kennen. Man darf sich nur nicht zu sehr an die Staubsauger binden...“
„Aha,“ sagte ich.
„Ja, da gab es mal den Fall, ein Staubsauger verliebte sich in ein Waschmaschine, das war im nachhinein tragisch....“
Die Augen des Herrn in grau, waren grau in diesem Moment, vielleicht ein bißchen traurig grau.
„Nun zu Ihnen, mein Herr,“ sagte er unvermittelt.
Er sah mich nochmals an, noch einmal das Zimmer, zuckte mit den Achseln und holte ein Notizbuch aus seiner Jacke, schlug es auf, blätterte etwas darin herum und sah mich wieder an.
„Schreibt sich ihr Name so wie man es spricht?“
Ich bejahte.
Er versenkte seinen Blick wieder ins Buch.
Dann fragte er in schneller Folge, ohne auch nur den Blick von seinem Büchlein abzuwenden, nach meinem Vornamen, weiteren Vornamen, Geburtsnamen (der gleiche, den ich immer noch trage), Beruf, ehemaliger Beruf, ehemaligen Liebesaffäre Nummer eins bis vier, dann sagte er langsam, „ tut mir leid, ich kann sie nicht finden, Sie scheinen sich nicht nach einem Partner zu verzehren.
Ich fand diese Feststellung zwar impertinent, oder auch unangenehm, na jedenfalls ernüchternd, doch der Herr drückte aus, was ich trotz aller Verwirrung, die in meinem Herzen schlummerte, empfand. Ich war mir eigentlich im Moment, was sich natürlich ändern konnte, ich war mir selbst genug. Arme Lucy.
„Aber warum wurde ich dann gerufen?“ fragte der Herr.
„Möchten Sie einen Kaffee?“ fragte ich.
„Auf keinen Fall, auf keinen Fall,“ antwortete er.
„Welche weitere Wesen gehören denn dem Haushalt an?“
Ich nannte Lucy, sagte aber gleich, dass ich nicht alle Vornamen meiner Angestellten wüsste.
Der Herr winkte ab, „nicht nötig, wer steht Ihnen denn sonst noch Nahe?“
Ich hätte zwar einige nennen können, aber bevor ich meinerseits mein Notizbuch zückte wiederholte der Herr, „so richtig Nahe.“
Daraufhin ließ ich mein Notizbuch liegen wo es war. Ich ließ mein Gesicht antworten.
„Gut, gut,“ antwortete er und schlenderte zum Schreibtisch.
„An was schreiben Sie denn im Moment.?“
Ich sagte es ihm.
„Und kommen Sie voran?“
„Es wird schon,“ sagte ich, aber ich sah den Brief vom Verlag schon vor mir: „...wir leider eine weitere Zusamenarbeit nicht vertreten können...“
„Okay, Sie haben also eine Schreibblockade,“ meinte der Herr.
Das war es nun nicht gerade. Ich berichtete von den sich verändernden Manuskripten und von dem gespannte Verhältnis zu meiner Muse.

***

„Ach, sagte er, „wer ist denn ihre Muse?“
„Wer sie ist? Sie hat keinen Namen, es ist einfach nur eine Muse, wie man so sagt.“
„Ach? Wir kommen der Sache schon näher. Ich möchte ja nicht belehrender sein, als ich es schon bin, aber wenn Sie so herumkommen, wie ich, dann fragt man sich schon... wenn Sie ihr keinen Namen gegeben haben, dann müssen Sie sich nicht wundern, wenn Sie unglücklich ist, meine Herr.“
So wie er das sagte, klang es einleuchtend.
„ Wie sieht sie denn aus?“
Wie sah sie aus? „Ich glaube helle Augen.. ja... leuchtend gelbe Augen, das hat sie- äh, meine Muse.
„Wieviele?“
„Wieviele was?“
„Wieviel Augen?“
„Zwei, was sonst.“
„Das ist nicht zwingend so, aber gut, was wissen Sie sonst noch von ihr?“
„Nun, ihre Stimme ist manchmal ziemlich rechthaberisch, aber manchmal auch einschmeichelnd.“
„Aha, wir kommen der Sache näher.“
„Ihre Muse, ist sie weiblich oder männlich oder sächlich oder nicht?“
Ich verstand die Frage nicht sofort, antwortete aber tapfer, „sie ist weiblich, glaube ich.“
„Und wie sieht sie aus, ich meine etwas genauer, ist sie eine Fee, eine Dschiennie, oder eine Wolkenfürstin, eine sprechende Strohpuppe, oder ein stiller See?“
„Wer?“ Ich war ganz verwirrt von den lyrischen Bildern, die der Herr in grau mir da anbot.
„Na ihre Muse natürlich, wie sieht sie aus?“
„Äh, außer den gelben Augen habe ich sie noch nicht so genau gesehen.“
„Rufen Sie sie herbei.“
„Oh, na ja, sie ist etwas wählerisch, wissen Sie, sie kommt nicht einfach so auf Zuruf.“
„Ja, das kann ich verstehen, warum sollte Sie, wenn Sie ihr so wenig Beachtung schenken.“
Der Herr ging zum Fenster und sagte, „Setzen Sie sich an ihre Schreibmaschine und beschreiben Sie ihre Muse.“
Ich setzte mich, spannte ein neues Blatt Papier ein und starrte darauf.
Dann sah ich zu dem Herrn.
Der stand im Gegenlicht, die Sonne schien durchs Fenster, er sah jetzt richtig dünn aus.
Schreibblockaden sind für mich eher unbekannt, ich schreibe viel, manchmal zuviel, manchmal zuviel unbrauchbares.
Und wenn sich dann der Text auch noch wie von Geisterhand ändert, dann
na, ja.

***

„Hallo, Muse“ tippte ich.
„Na wird auch Zeit“, hallte es in meinen Kopf mit einer rauen Stimme, die zugleich weiblich aber auch rechthaberisch war. War sie denn weiblich, die Stimme?
Ich tippte „Hallo, Muse wie darf ich dich nennen?“
„Wie du willst, aber du wirst keinen Namen für mich finden. Du hast ja nicht mal mich gefunden?“
„Na, da hört sich doch alles auf, ich nenn dich einfach...“
Komisch, ich wollte Lucy als Namen tippen.
„Hah,“ hörte ich meine Muse, „da haben wir es. So kann es nicht weitergehen! Du bist in Lucy verliebt ! Sie verdirbt mir jeden Einfluss auf dich. Entweder sie oder ich. Ich kündige.“
„Du kündigst? Ja, kannst du das denn?“
„Klar,“ sagte die raue Stimme, aber etwas weniger rechthaberisch. „Kündigen kann ich, das kann jeder, jetzt musst du mich nur noch freigeben.“
„Abgesehen davon, dass ich keinen blassen Schimmer habe, wie das gehen soll... du bist meine Muse...wenn ich dich freigebe... ich befürchte , ich werde dann keine Ideen mehr haben.“
„Die hast du jetzt schon nicht mehr. Denn was du Script 1 und Script 2 nennst, ist nur etwas von mir. Wie soll ich dich noch darauf hinweisen?“
„Ich habe keine Ideen mehr? Du selbst bist eine Idee von mir. Eine Eule- wer hat so was schon mal als Muse gehabt?“
„Ich bin eine Eule? Bist du sicher?“
Ja! Plötzlich sah ich sie vor mir. Es war dunkel, und ruhig, nein, nicht ganz ruhig, ein paar knirschende und raschelnde Geräusche, die kamen wohl aus dem Unterholz des Baumes, auf dem meine Muse saß und mich mit großen gelben Augen ansah. Sie sah dabei traurig und enttäuscht aus.
Meine Eulenmuse befand sich auf dem obersten Ast eines verwurzelten, vermosten, breit ausladend gewachsenen Baumes. Jetzt drehte sie ihren Kopf, das rechte Auge war nicht mehr zu sehen, und dann verschwand auch noch das linke, die Eule, meine Muse, drehte ihn immer weiter, bis ich nur noch ihren Hinterkopf sah. Ihr Gefieder war dunkelbraun, durchsetzt mit weißen Federn.

***

„Hah! Meine Vorstellungswelt funktioniert noch, habe ich dich nicht wunderbar erfunden?“ tippte ich ein.
„...du....mich...erfunden? Dass ich nicht lache, du hast mich gerade gefunden, und das hat viel zu lange gedauert. Sicherlich, deine Illusionen sind mein Nährboden, aber dass du mich erfunden hättest, kann man so nicht sagen. Wie lange stehe ich dir schon zur Verfügung? Schon von Kindesbeinen an habe ich dir dies und das einflüstern können.
Ich war selbst noch jung und hatte Hoffnungen. Aber dann nahmst du mich immer mehr in Anspruch- nur was war der Dank? Nicht mal angesehen hast du mich. Ich bin von Haus aus geduldig, aber als dann Lucy immer mehr in deinen Vorstellungen auftauchte, konnte ich nicht mehr still halten.
Ich habe dir zugerufen, dass es so nicht weitergehen kann, ich habe dich angebrüllt, dich beschimpft, dir geschmeichelt, - nichts, du hast nichts bemerkt. Und als alles nichts half, habe ich dir deine Scripts umgeschrieben, aber selbst das hast du nicht bemerkt- ich kündige.“
Es entstand eine kleine Pause, in welcher ich die Worte meiner Muse nachklingen ließ. Dann tippte ich: „Wie kannst du denn die Schreibmaschine betätigen?“
„Du verstehst nicht- du hast noch nie verstanden. Ich bin als Muse nicht einfach nur dafür zuständig, dass du ein paar Ideen hast. Eben nicht!
Die Ideen, die stammen schon von dir, es sind ja nur Ideen, aber dann wenn du es eintippst, dann diktiere ich dir wortwörtlich den Text. Ich kann dabei so laut schreien, wie ich will, du hörst mich trotzdem nicht- du willst mich nicht hören, so ignorant bist du, du denkst es wären deine Gedanken, nun ja...
so läuft das normalerweise...
Aber seit ich beschlossen habe dich zu verlassen, denn eins ist klar, Lucy wird meine Stelle einnehmen, habe ich dir deine Texte eingeflüstert- diesmal nicht laut nicht geschrien, nein, eingeflüstert habe ich es dir, und siehe da, du merkst es wieder nicht, du merkst nicht mal was du schreibst, was du tust, du denkst du hast einen ganz anderen Text in den Safe geschlossen, du hast nichts gemerkt.
Du hast dich quasi selbst betrogen- ich kündige.“
Ich starrte irgendwohin, ich starrte durch die Schreibmaschine auf den Grund meiner Seele.
Dort warteten zwei Fragen auf mich
1. War ich wirklich so ein mieser Typ?
2. Stimmt das mit dem Safe- ich selbst soll das getan haben? Wenn das richtig wäre, dann wäre ich ja schizoid. Das würde mich andererseits gar nicht so sehr überraschen.
„Unser Verhältnis ist zerrüttet,“ hörte ich die Stimme meiner Eulenmuse.
Sie hatte recht, unser Verhältnis war zerrüttet, ich hatte es versaut, ich hatte sie in die Pfanne gehauen, auf dem Grund meiner Seele war es ziemlich dunkel, also starrte ich nicht weiter hinein, sondern auf meine Fingernägel.

***

„Na, also da haben wir ja die Dame, deren Herz so schwer wurde. Armes Ding, Sie sind wirklich nicht freundlich mit ihr umgegangen,“ hörte ich den Herrn in grau. Na klar, schlagt nur alle auf mich ein.
„Also: gelbäugige Muse, Eule, sucht Partner. Warten Sie mal...“
Alles erstarrte, wurde durchsichtig und ich konnte durch die Wand des Hauses auf die andere Strassenseite sehen, und sogar durch dessen Wand in den Hof dahinter ... und alles wurde schemenhaft...
Plötzlich ratterte meine alte Schreibmaschine wie von Geisterhand. Der Herr in grau trat neben mich und beide lasen wir was die Schreibmaschine tippte.
MYTH FAX
...zu Ihrer Anfrage bzgl. Partnersuche Eule, Muse, gelbe Augen ...Ergebnis: Partner: Widibubbel Eulerich, wohnhaft: Luftschlosshausen ...solide Dimension
...Kontakt: JETZT +++ JETZT +++ JETZT +++ JETZT +++ JETZT +++ JETZT +++ JETZT +++ JETZT +++ JETZT +++
Ich musste blinzeln. Ganz eigenartig war mir zumute.
„Nun, das hätte also geklappt,“ sagte der Herr in grau neben mir und rieb sich dabei die Hände- und schmunzelte- andeutungsweise.
„Bliebe nur noch die Vermittlungsgebühr.“
„Die Vermittlungsgebühr, aha, die Vermittlungsgebühr,“ wiederholte ich gleich zweimal.
„Oh, ja, Entschuldigung, das ist immer so ein sonderbarer Effekt, wenn die Zeit für eine Moment angehalten wurde...“
„Die Zeit wurde angehalten?“ Als Papagei hätte ich heute meinen großen Tag gehabt.
„Ja, die Myth Matching Company hat für einen Moment die Zeit angehalten um Ihre Eule und unseren Partnervorschlag, einen zweiwöchigen Kennenlernurlaub zu ermöglichen, mit freundlicher Unterstützung von Friedrich Immergrün, Friedhofsgärtner in 15 Dimensionen.“
„Wollen Sie sagen, das jetzt zwei Wochen vergangen sind?“
„Nein, nur zwei Wochen Illussionszeit. Aber ihre Muse und der Eulerich würden heute Abend gerne heiraten, wenn von Ihrer Seite alles glatt ginge.“
Ich riss das Myth Fax aus der Maschine, spannte ein leeres Blatt ein und schrieb: „Ist das wahr, warst du zwei Wochen mit dem Eulerich zusammen?“
„Ja,“ hallte es in meinen Ohren „es war wunderbar, und heute Abend haben wir schon einen Termin vor dem örtlichen Traualtar, wenn ... alles klappt.“
„Gut, gut, das kommt zwar alles sehr schnell,“ tippte ich, „aber ich möchte eurem Glück nicht im Weg stehen. Was muss ich denn machen?“
„Bezahlen,“ hallte es in meinem Kopf. „wend dich an deinen Besuch.“
Der Herr in grau stand immer noch neben mir. Also fragte ich ihn direkt.
„Meine Eule meinte ich soll bezahlen.“
„Ja,“ sagte der Herr in grau, „die Vermittlungsgebühr wird fällig, dann kann ihre Eule heiraten.“
„Und wie hoch wäre die Gebühr?“
„500 Jahre ihres Lebens.“
Diesmal wiederholte ich gar nichts.
„500 Jahre Ihres Lebens ist die Gebühr, einen Moment ich schreibe gleich den Scheck aus.“
Blitzschnell lag der ausgefüllte Scheck auf dem Schreibtisch.
„Sie müssen dann nur noch unerschreiben,“ sagte er.
„Aber ich denke nicht, dass ich 500 Jahre leben werde, oder werde ich wieder geboren?“
„Das entzieht sich meiner Kenntnis, wir nehmen auch 500 Jahre Illusionsleben, wenn Ihnen das lieber ist.“
„Ich glaube das wäre mir lieber.“
Der Herr in grau drückte mir den gold glänzenden Füllfederhalter in die Hand.
„Hier bitte rechts unten unterschreiben.“
„Aber ich habe keine 500 Jahre Illusionsleben- na ja, manches war in meinem Leben Illusion, ist es noch... aber 500 Jahre, so viel habe ich nicht... äh... vorrätig.“
„Ach, halb so wild, für einen so kreativen Menschen, wie Sie es sind, werden sich doch etliche Jahre in ihren Büchern finden, ihre Helden, ihre Bösewichte, ihre Nebenfiguren, sie haben doch alle ein Leben in ihren Büchern. Die Nebenfiguren bringen die meisten Jahre, das wird kein Problem sein, schätze ich. Es ist ja nur ein Scheck.“
„Aber sie werden den Scheck doch einlösen.“
„Unbedingt.“
„Und wenn er ungedeckt ist.“
„Dann werden Sie niemals mit mir geredet haben.“
„Kann ich Bedenkzeit haben?“
„Tut mir leid, nein, das einzige, was ich Ihnen anbieten kann, dass sie sich von Ihrer Muse verabschieden können, Sie werden sie nie mehr sehen oder hören.“
„Wenn der Scheck gedeckt ist.“
„So ist es, darf ich mich auch schon mal verabschieden.“
„Aber ich habe noch nicht unterschrieben.“
„Wir lösen den Scheck schnell ein, ziemlich schnell.“
„Also gut, auf Wiedersehn mein Herr.“
„Ihnen auch auf Wiedersehen, wie auch immer.“
Ich tippte. „Ich wünsche dir alle gut, meine Muse.“
„Danke , das wünsche ich dir auch,“ hallte es in meinen Ohren. Die Stimme war wahrlich voller Hoffnung, und so fröhlich. So etwas hatte ich schon lange nicht mehr gehört. Weder von meiner Muse, noch von mir selbst.
Dann unterschrieb ich.

***

Der Füller schrieb sich leicht. Meine Unterschrift floss nur so auf das feine Papier, es war goldene Tinte.
Plötzlich war ich allein.
In meinem Arbeitszimmer war es kalt und einsam.
Und ich hatte Hunger.
Ich sollte in die Küche gehen.
Ich ging durch die Tür auf die Diele und stand vor der Eingangstür, öffnete diese, draußen war das Treppenhaus. Ich ging durch die Badezimmertür und sah mich im Spiegel. Ich drehte mich um, ging in die Diele, von dort ins Arbeitszimmer.
Es war keine Küche vorhanden.

***

„Armer kleiner Held.“
Lucy´s Hand fuhr durch meine Haare.
„So sollte es nicht enden,“ sagte sie
„Was meinst du?“ fragte ich, ich hatte nicht bemerkt, dass sie ins Zimmer geschlüpft war.
„Kannst du denn nicht mal ein schönes Ende schreiben?“
„Ein Happy End? Würde ich liebend gerne, aber es fällt mir nichts ein. Ich habe soeben einen teuren Scheck ausgeschrieben. Ich bin leer, platt, ausgepowert.“
„Du musst dir nichts überlegen. Das übernehme ich für dich, ich bin deine neue Muse.“
„Also dann bitte. Wie soll das Ende sein?“
Lucy runzelte ihre hübschen Brauen, zwinkerte leicht mit einem Auge, spannte ihre Lippen und öffnete ihren zarten Mund.
Dann beugte sie sich vor und wir küssten uns.

***

Manchmal muss man verschlungene Pfade zum Ziel gehen.
Gab es Lucy?
Hatte ich eine Küche?
Kann ich überhaupt noch Illusionen erschaffen?

Impressum

Texte: Terxylifax
Tag der Veröffentlichung: 21.10.2012

Alle Rechte vorbehalten

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