Vorwort
Ich liebte es als Kind, vor dem großen Bücherschrank meines Großvaters zu stehen. Mir war, als fände ich immer etwas Neues. Später, als ich längst selber viel las, sprachen wir über Goethe, und mein Großvater eröffnete mir, daß er Schiller viel lieber möge als den Geheimrat. Mittlerweile kann ich das gut verstehen, obwohl Goethe, im Vergleich zu dem viel sensibleren Schiller, schon seines Faustes wegen immer irgendwo in einer Ecke meines Hinterstübchens sitzt und in mir das Gefühl nicht verlöschen läßt, mich hätte da ein Stoff gefangen, der mich wohl mein ganzes Leben nicht mehr losläßt.
Viel später las ich Byron und benutzte Gedichte von ihm, um mein englisches Sprachempfinden noch besser zu schulen. 1995 kamen Freunde von mir zu Besuch. Sie waren als Informatiker an einem Forschungsprojekt beteiligt, und wir wollten so etwas wie eine kleine Konferenz abhalten über philosophische Implikationen der virtuellen Realität, in der sie forschten. Da ich zu dieser Zeit keine Stunde von Hünfeld wohnte und ich mir nichts Schlimmes dabei dachte, rief ich Konrad Zuse an, ob er eine Stunde für uns Zeit hätte. Völlig zuvorkommend und ruhig sprach er mit mir am Telefon, und er bedauerte die Ablehnung, weil er sich zu schwach fühle seiner Krankheit wegen. Vielleicht würde es ja später passen, sagte er. Später ist nichts geworden, denn Zuse starb nach wenigen Wochen. Er war der Vater des Computers. Und Byrons Tochter Ada hatte als Mathematikerin Pläne für eine Rechenmaschine und war die erste Programmiererin auf diesem Planeten.
Wie sich die Kreise schließen, oft über Jahre hin, erschüttert nicht selten Geist und Seele. Daß mich Goethe und Byron später noch einmal bewegten, geschah durch eine Mail eines kroatischen Freundes. Wir hatten über einen freimaurerischen Begriff, und zwar „The Grand Architect of the Universe“ diskutiert, und wahrscheinlich war das der Grund, daß er mir den Link schickte zu dem Artikel von Guiseppe Mazzini, den ich hier in deutscher Übersetzung vorlege. Ja, wieder schloß sich ein Kreis, hatte ich doch vorher einiges von dem wackeren Italiener gelesen, allerdings von mehr erschreckender Art. Seit wenigen Jahren nämlich hat die Idee Feuer erhalten, es gäbe einen Briefwechsel zwischen dem Freimaurer Mazzini und seinem ebenfalls freimaurerischen Bruder Albert Pike, und zwar konkret zu Plänen von drei Weltkriegen. Der geneigte Leser möge nun nicht einfach den Kopf schütteln und hier seine Lektüre beenden, sondern sich selbst auf die Suche manchen, die Suchmaschinen werden mit Sicherheit Wege in erstaunliche Richtungen öffnen. Der sorgfältige Forscher sollte auch nicht die Entgegnungen und Versuche zur Entkräftung der Pikeschen Korrespondenz übersehen, die sehr aufschlußreich sind von Logen vertreten werden, die Öffentlichkeit nicht scheuen. Allerdings finden derartige Erörterungen mit Sicherheit nicht im deutschen Sprachraum statt. Sollte Mazzini das Makel einer tödlichen Verschwörung tragen, die er bewußt durch schöngeistige Erörterungen zu verbergen weiß?
Letztlich war mir das egal. Was ich in „Byron and Goethe“ las, hat mich aufs Tiefste bewegt. Hier strahlt ein Geist hervor, der noch nach anderthalb Jahrhunderten eine Menschenkenntnis und Menschlichkeit offenbart, die gerade in unserer unterkühlten Zeit wie eine Heilkur wirkt – es ist einfach schön, abgrundtief schön! Weil ich selbst als Pfarrer immer mit Trauerfeiern zu tun habe, hat sich mein Blick geschärft über die Jahre, wenn jemand Geschichten entwickelt über andere Menschen, denn das ist die Profession bei Trauerreden, eine Geschichte zu erzählen, die durchdrungen ist von Leben, Interesse und Verständnis, liebevollem Verständnis. Und was für eine Geschichte Mazzini da erzählt über zwei bis heute strahlende Menschen, die manche als Götter sehen, andere als aufgeblasene Egoisten und Lebemänner; wieder andere wissen nicht einmal, welche Botschaft sie enthalten, die auch heute noch den Geschmack nahrhaften Essens verströmen, vielleicht sogar eines leckeren Desserts! Ich sehe in Mazzini eine Stimme aus ferner Zeit, die zur rechten Zeit in mein Leben tönte und mich lachen läßt, weinen, glücklich sein, weil ich merke, daß dies etwas ist, das mich treibt und erreicht. Ich möchte kein Gutmensch sein, aber einer mit Geist und Seele, mit einer lebendigen und guten Seele. Davon zeugt Guiseppe Mazzini mit seinem wuchtigen Aufsatz von 1839, sieben Jahre nach Goethes und 15 Jahre nach Byrons Tod. Aber der interessierte Leser möge auch hier selber schauen und seine Neugier über Mazzini durch die Suchmaschinen in eine gute Richtung lenken lassen.
Noch eine letzte Referenz zur heutigen Zeit. Die Nöte Griechenlands unserer Tage, bei denen Deutschland eine nicht unwichtige Rolle spielt, veranlaßte Mikis Theodorakis, einen großen, griechischen Poeten unserer Tage, zum Schreiben eines Brandbriefes, der durch alle Zeitungen ging und von deutschen Mainstreammedien am liebsten verschwiegen worden wäre. Die Beschäftigung mit der Sache führte mich wieder zu Byron. Der nahm am griechischen Befreiungskampf im 19. Jahrhundert teil und verstarb sogar in Griechenland. Und heute rufen die Griechen wieder nach Freiheit, diesmal von verwegenen und antidemokratischen, weil nicht gewählten EU-Autokraten. Übrigens war Mazzini ein Verfechter eines freien Europas der Völker.
Es wurde alles so übernommen, wie es im Text erscheint, inklusive Fußnoten. Ich habe mir nur erlaubt, einige Namen in Klammern zu ergänzen.
Ob Mazzini den Aufsatz zuerst italienisch schrieb, weiß ich nicht. Die englische Version erscheint mit Quelle als Anhang dieses Büchleins.
U. R. R.
Guiseppe Mazzini, Byron und Goethe
übersetzt von Ulrich R. Rohmer
Ich stand eines Tages in einem Dorf in der Schweiz am Fuße des Jura und schaute das Kommen des Sturmes. Schwere, schwarze Wolken mit pupurnen Rändern von der untergehenden Sonne bedeckten schnell den lieblichsten Himmel Europas, ausgenommen Italien. In der Ferne rollte Donner, und Böen beißenden Windes verteilten riesige Regentropfen über der durstigen Ebene. Mit erhobenen Blicken sah ich einen großen Alpenfalken, einmal steigend, dann fallend, wie er tapfer inmitten des Sturmes schwebte, und ich konnte mir vorstellen, wie er sich zu zu kämpfen bemühte. Mit jedem neuen Donnerschlag erhob sich der edle Vogel höher, wie aus Trotz. Meine Augen folgten ihm eine lange Zeit, bis er im Osten entschwand. Auf dem Boden, etwa fünfzig Schritte unter mir, stand ein Storch; vollkommen ruhig und teilnahmslos stand er inmitten der kämpfenden Elemente. Zwei oder drei Mal drehte er seinen Kopf in Richtung des Windes in einer unbeschreiblich gleichgültigen Neugier, doch endlich zog er eines seiner langen, sehnigen Beine an, verbarg den Kopf unter seinem Flügel und machte sich gleichgültig daran, zu schlafen.
Ich dachte an Byron und Goethe; an den stürmischen Himmel, der beide umgab; an die sturmgepeitschte Existenz, den lebenslangen Kampf des einen und die Ruhe des anderen; und an die zwei mächtigen Quellen der Poesie, die von ihnen erschöpft und geschlossen worden sind.
Byron und Goethe – die beiden Namen, die sich in den Vordergrund drängen, und, komme was wolle, immer im Vordergrund stehen bei jeder Erinnerung der vergangenen fünfzig Jahre. Sie herrschen, die Meister des Geistes, ich möchte fast sagen, die Tyrannen einer ganzen Epoche der Poesie – brillant, und doch traurig, glorreich an Jugend und Kühnheit, doch krebskrank durch den Wurm in der Knospe, die Verzweiflung. Sie sind die zwei repräsentierenden Poeten zweier großer Schulen, und um sie herum sind wir gezwungen, all die kleineren Geister zu zählen, die zum Glanz der Ära beigetragen haben. Die Werte, die ihre Werke schmücken und unterscheiden, müssen gefunden werden; obgleich sie dünner gestreut sind bei anderen Poeten ihrer Zeitgenossen; doch sind es ihre Namen, die unwillkürlich auf unsere Lippen kommen, wenn wir versuchen, die Tendenzen des Zeitalters zu charakterisieren, in dem sie lebten. Ihr Genie verfolgte unterschiedliche, sogar entgegengesetzte Wege, und doch gehen unsere Gedanken sehr selten zu dem einen, ohne daß das Bild des anderen wachgerufen wird als eine Art notwendiger Ergänzung zum ersten. Europas Augen blickten auf die beiden, wie Zuschauer auf zwei mächtige Ringkämpfer in der gleichen Arena; und diese, wie edle und großzügige Widersacher, bewundert und gelobt, reichten sich einander die Hand. Viele Poeten sind ihren Fußstapfen gefolgt, niemand ist so populär gewesen. Andere fanden Richter und Kritiker, die sie ruhig und unparteilich schätzten, nicht aber sie: es gab entweder nur Enthusiasten oder Feinde, Kränze oder Steine; und als sie in die weite Nacht entschwanden, die gleichermaßen Menschen und Dinge umhüllt und verwandelt, herrschte Stille um ihre Gräber. Nach und nach entschwand Poesie aus unserer Welt, und es scheint, als ob mit ihrem letzten Seufzer die heilige Flamme erlosch. Nun hat eine Reaktion begonnen; gut, insofern sie den Wunsch und Verheißung für neues Leben enthüllt; schlecht, insofern sie enge Ansichten verrät, eine Tendenz zur Ungerechtigkeit gegenüber verstorbenen Genies, wenn feste Regeln oder Prinzipien fehlen, unsere Wertschätzung für Vergangenes zu leiten. Menschliches Urteilen geschieht wie beim Proleten Luthers, der bewahrt werden soll vom Fallen auf eine Seite und zu oft auf die andere fällt. Die Reaktion gegen Goethe, vor allem in seinem eigenen Land, begann mutig und gerecht durch Menzel während seiner Lebenszeit und steigerte sich zur Übertreibung seit seinem Tode. Bestimmte soziale Meinungen, welchen auch ich angehöre und denen nicht erlaubt sein sollte, obwohl auf einem heiligen Prinzip beruhend, die Unparteilichkeit unserer Einschätzung zu stören, wiegen schwer in der Waagschale; und viele junge, leidenschaftliche und begeisterte Köpfe unserer Tage haben mit (Ludwig) Börne bekräftigt, Goethe sei der schlimmste aller Despoten; der Krebs im deutsche Körper.
Die englische Reaktion gegen Byron – ich spreche nicht von dieser Mischung aus Überhöhung und Dummheit, die dem Dichter seinen Platz in der Westminster Abbey verweigern, sondern von literarischer Reaktion – hat sich noch weit mehr unvernünftig gezeigt. Ich habe Bewunderer Shelleys getroffen, die Byrons Poetengenie ablehnten; andere gar verglichen seine Gedichte ernstlich mit denen von Sir Walter Scott. Ein sehr überbewerteter Kritiker schreibt, „Byron macht den Mann nach seinem Bilde und die Frau nach seinem eigenen Herzen; der eine ist ein launischer Tyrann, der andere ein ergebener Sklave“. Der erste vergaß die Verse, in denen ihre Lieblinge riefen:
„Der Pilger der Ewigkeit, dessen Ruhm
über seinem lebend Haupt gebogen ist wie Himmel“ (Fußnote: (Shelley,) Adonais),
der zweite, daß nach dem Erscheinen von „The Gaiour“ und „Childe Harold“ Sir Walter Scott darauf verzichtete, Gedichte zu schreiben (Fußnote: Lockhart). Letzterer vergaß, während er ruhig seine Kritiken schrieb, daß Byron für die neugeborene Freiheit in Griechenland starb. Alle beurteilten, viele beurteilen noch heute in jedem Lande die beiden Poeten nach dem Ideal des Schönen, des Wahren oder Falschen, welches sie in ihrem eigenen Geist formten; dabei beachteten sie nicht den Zustand sozialer Beziehungen, wie sie waren oder sind; ohne rechte Vorstellung von Schicksal oder Mission der Poesie oder des Gesetzes, durch die sie und jede andere künstlerische Manifestation menschlichen Lebens geregelt ist.
Den absoluten Typus gibt es nicht auf Erden: das Absolute existiert allein in der Göttlichen Idee; im allmählichen Verständnis, das zu erreichen dem Menschen bestimmt ist; obwohl ihre vollständige Umsetzung unmöglich ist auf Erden; irdisches Leben ist nur eine Phase der ewigen Entwicklung des Lebens, das sich
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 16.12.2012
ISBN: 978-3-7309-0192-2
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