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Einleitung in den Abgrund

 

Neukölln – ein Frontbericht? Ist das nicht übertrieben? Das fragt sich jeder, der noch nie hier war. Jeder, der noch keine dreißig Jahre hier verbracht hat. Jeder, der nicht gesehen hat, wie aus einem bürgerlichen Bezirk ein Sammelbecken für Chaoten wurde – und solche, die Chaoten anhimmeln. Wie die Gründerzeitfassaden verfielen und die alten Optiker und Biergärten verschwanden. Wie Graffiti alles übersäte und wie es statt nach frischem Brot nach Pisse roch. Wie die Alten verdrängt wurden und die Neuen übernahmen. Neukölln ist nicht nur die Frontlinie – es ist der kommende Bürgerkrieg. Und nein, ich bin kein Nazi, danke der Nachfrage. Ich war und bin zum Teil noch Türke. Aber keiner, der sich dahinter versteckt. 1972 kam ich in dieses Land und machte es zu meiner Heimat, mit allen Regeln. Deutschland – Einmal mit Alles.

 

Was guckst du? Niemand will Streit. Aber was passiert, wenn einem das eigene Heim, die Heimat genommen wird? Wie tolerant muss man bleiben, ab wann darf man sich wehren? Wenn im „halal“-Restaurant keiner mehr Deutsch versteht – oder türkisch? Wenn man von schwarzen BMWs zugeparkt wird und die Goldketten drohen einen zusammen zu schlagen? Wenn man abends mit den Kindern nicht mehr im Park spazieren gehen kann, ohne ihnen den süßlichen Gestank von Marihuana erklären zu müssen? Spätestens mit 13 merken die: Das sind nicht die Blüten der wenigen verbliebenen Büsche. Und spätestens dann bekommen sie die falschen Freunde.

 

Ich habe den Bezirk sich erheben und fallen sehen. Von den goldenen Zeiten Westberlins, als ich als Gastarbeiter aus der Türkei kam, über die unheimliche Leere der 90er Jahre, bis hin zu den chaotischen Zuständen nach der Jahrtausendwende. Mobbing, Messerstechereien, Drogen: Die Lehrer der Rütlischule schrien um Hilfe, als der Ausländeranteil an den Schulen schon längst höher war als der in der Bronx. Wie sollte da erst die Zukunft werden? Das hat nichts mit Ausländerfeindlichkeit zu tun, liebe Beschwichtiger und Verharmloser in Politik und Medien, sondern mit Realismus. Deutschland kann nur so viel, wie es kann, ohne seine in aller Welt beneidete Ordnung zu verlieren.

 

So schlimm es war, nichts hat mich und die paar Verbliebenen auf das vorbereitet, was seit den 2010ern geschieht. Nicht nur, dass man zum Fremdling im eigenen, damals neu angenommenen Land wird: Das eigene Land wird fremd. Seit der Flüchtlingskrise platzen Hinterhofwohnungen aus allen Nähten. Finstere Kerle in Plastikjacken stehen am U-Bahnhof und zischen einen an: "Brauchstuwas?" Gruppen von Sonnenbrillenträgern überall. Es wird voller, hässlicher und gefährlicher. Sollte so eine Heimat aussehen? Und nicht nur in Neukölln. Von Duisburg Marxloh, über Frankfurt Bonames, bis zu Hamburg-Harburg: Neukölln steckt an.

 

Zeit, sich anzusehen, was wir uns einbrocken.

 

 

 

Kein Alkohol! – Wie Integrierte zu Ausgrenzern werden


„Habnwirnischt!“ Er muss es dreimal wiederholen, bis ich es verstanden habe. Am Ende ist er wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Er hat einen Ton angeschlagen, als hätte ich seine Familie auf Generationen beleidigt. Da sitzt meine Mehr-als-Freundin Nadal. Mit Mühe und Not habe ich sie überreden können mich aus München zu besuchen. Denn ja, meine Wohnung ist ein Traum. 120 Quadratmeter, zwei Balkone, Naturholztüren. Nur leider mit Blick auf den Albtraum: die Hasenheide. Nach dem Görlitzer Park Deutschlands größter Freiluftdrogenmarkt.


Wir haben gewettet: eine Pizza, zwei Euro. Im Restaurant. Sie hat es nicht glauben können – und verloren. Eine Einladung, so teuer wie ein Drittel Kaffee auf der Königsstraße in München. Zwischen Sonnenallee und Karl-Marx-Straße gibt es das tatsächlich. Mehrfach. Da, wo sich türkisches und arabisches Gebiet treffen, schmeckt die Pizza auch so. Man muss höllisch aufpassen, dass man keine Knoblauchwurst drauf bekommt, oder gleich Datteln. Nicht, dass ich die nicht mögen würde. Ein gutes türkisches Restaurant in Istanbul sucht auf der Welt seines Gleichen. Aber eine Pizza ist kein Shish Kebab. Salz und Pfeffer gibt es nicht, dafür Ketchup. Das sichere Zeichen für das Vertrauen des Kochs in seine Fähigkeiten. Das Ambiente schreit Bahnhof: Neonleuchten, Kühlschränke mit Getränken, eine geschundene Theke. 20 Sitzgelegenheiten für sehr kleine Leute auf 30 Quadratmetern. Ein gestörter Flachbildschirm überträgt live unverständliche Nachrichten aus einem Teil der Welt, wo die Leute ausschließlich mit schreien beschäftigt zu sein scheinen. Trinken kann man Pseudocola, Pseudofanta und schlechten Ayran: Pseudobuttermilch, extra versalzen. Und ganz bestimmt kein Bier. "Hamwirnisch." Als ich in den 70ern nach Westberlin kam, waren meine damaligen Landsleute noch glücklich in einem freien Land verkaufen zu können, was sie wollten. Heute sind sie froh, nicht verkaufen zu können.


Nadal muss schon genug leiden, ohne ein Weißbier hält man Neukölln im Kopf nicht aus. Im Neonlicht ist sie schon grün, normalerweise passiert das erst nach der Pizza. Also ab in den nächsten „Spätkauf“. Das sind Tante-Emma-Läden. Nur, dass sie nichts mehr haben, was man braucht. „Camel Ball“-Kaugummies (damit sind tatsächlich die Genitalien der Kamele gemeint!), Hürriyet und Rolltabak? Tonnenweise. Aber ein Bier? Fehlanzeige. Das ist „haram“, unkoscher auf Arabisch. Der Laden gehört jetzt der gleichen Familie wie die „Pizzeria“. Zum Glück ist um die Ecke ein Lidl. Plastikflaschenbier – das kulinarische Erlebnis kapituliert. Bedingungslos.


Der Koch/Kellner/Dolmetscher guckt zwar maximal unbegeistert, aber sagt nichts. Nadal ist dankbar. Eine Klingel wie ein Feueralarm dröhnt durch den Raum: Die Pizza dürfen wir uns selbst holen. Neben uns sitzen auf einmal zwei junge Zugezogene. Schiefe Mönchsfrisuren, Jeans über den Bauchnabel wie in den tiefsten 80ern, der Jutebeutel sagt: „Wer hat Angst vorm Hermannplatz?“ Der Mann sieht aus wie eine sehr hässliche Frau und die Frau wie ein sehr hässlicher Mann. Gratulation an das Gendermainstreaming. Das haben 30 Jahre Geschlechter wegdiskutieren gebracht. Akademikerkinder, die es hier „hip“ und „voll Berlin“ finden. Sie „instagramen“ die Umgebung. Das heißt, sie fotografieren Tische und Wände und laden die Fotos direkt ins Internet, um sie mit Freunden zu teilen. Geredet wird nicht. Schließlich müssen Sie auf ihre Telefone starren und die Kommentare ihrer Freunde „checken“. Die sind sicher mindestens so interessant wie ihre Neonleuchtenfotos. Dass ihre Umgebung verwahrlost, ist ihnen egal. Eine erfolgsverwöhnte Generation, die nicht mehr zurückschlagen kann – allein schon, weil sie nicht mehr da ist. Statt Familie heißt es „sich selbst entdecken“. Eine Nettoreproduktionsrate von 0,7 oder weniger, wie wir sie seit 40 Jahren haben, bedeutet ja nichts anderes, als dass die Generation der Enkel jeweils halb so groß ist wie die der Großväter. Mit solchen Kandidaten schafft sich Deutschland ab.


Nach einem Bissen von der Pizza wird Nadal grün.


"Das war die zwei Euro doch wert?", fage ich.


"Absolut. Gibt es hier auch was mit weniger Autoreifen?"


Natürlich, gleich um die Ecke. Seit 1972 von der gleichen italienischen Familie betrieben. Kostet ein wenig mehr, aber wer nicht will, kann ja draußen bleiben. Es ist wie mit der Gesellschaft: Wer was möchte, muss was zurückgeben. Immerhin „instagramt“ da niemand die Lampen. Und neben Bier gibt es sogar guten Wein. Ich lege dem Pizzamann des 2€-Ladens mein sorgsam gezähltes Bronzegeld in einem Haufen auf die Theke. Wahrscheinlich mehr Material- als Geldwert.

Das Flaschenpfand geht aufs Haus!


Er glotzt wie eine ganze Schafherde.

Spielstraßen – weil wir alle ja nicht mehr arbeiten müssen!


10 km/h ist doch eine anständige Geschwindigkeit für den neuen Bürger? So schnell fährt man auf immer mehr Seitenstraßen in Neukölln. Nicht 50, nicht 30, nein 10 km/h. Zum Vergleich: Man läuft 6 km/h. Ein lockerer Dauerlauf und man kann das Auto gleich ganz stehen lassen! Und an das andere Ende der Stadt joggen. Berlin misst 45 Kilometer. Keine viereinhalb Stunden und man ist da. Das ist die Zukunft. Zumindest wie sie sich die neuen Neuköllner vorstellen.


Mit Pferdewägen waren wir schneller. Hätte sich Deutschland mit 10 km/h zu einer der größten Industriemächte der Welt entwickelt und Millionen Menschen angezogen? Entspricht das dem Fleiß und der Geschäftigkeit eines der erfindungsreichsten Völker der Erde? Sollen wir mal die Feuerwehr so langsam kommen lassen? Sicher gut für die Ökobilanz, wenn man Menschenleben nicht mit zählt. Die Polizei in Neukölln ist sowieso schon in dem Tempo unterwegs. Die kann kaum einen Meter fahren, ohne einschreiten zu müssen. Die Zeiten, in denen man sich im Kiez kannte und aufeinander verließ, sind vorbei.


Aber der neue „Hipster“ fährt ja mit dem Rad zur Arbeit! Er muss ja nichts mehr transportieren, außer seinem Apfel-Laptop! Wer arbeitet denn noch mit spröden, echten Materialien? Bis der Klempner kommt, sollen die mal versuchen ihr übergelaufenes Klo wegzuprogrammieren. Das Fahrrad mag ja schön und gut sein, solange es nicht friert. Aber wir sind hier nicht in Mallorca, Kleiner. Kleine? Kleines geschlechtsloses Ding. Da sollten die einem eigentlich danken. Mit jedem Meter Autofahrt werden die Winter milder – wenn man geneigt ist, das zu glauben. Gas geben für den Urlaub zu Hause! Und überhaupt – der Neuköllner hat eigentlich gar keine Arbeit mehr. Nur „Projekte“ und die Schätzchen in den schwarzen Jacken „Deals“ und „Dinger“. Und die Polizei kriecht weiter …



Geld auf Jahre zu verschwenden ist schon ein harter Job, liebe Neuköllner SPD. Und Kriechgeschwindigkeit anscheinend noch nicht erniedrigend genug. Tor auf für einen weiteren Verschlimmbesserungsvorschlag – die „Begegnungszone“. Es werden Bänke aufgestellt – auf der Fahrbahn. Wie in einer arabischen Medina muss sich der Motorist durch die „Sitzgelegenheiten“ schlängeln. Man kommt sich vor wie in der Spätphase eines Reichs voll falscher Toleranz. Wer schlängelt sich nicht gerne, wenn er was Gutes für das Gemeinschaftsgefühl des Viertels tun kann? Leider sitzen da von früh bis spät nur die polnischen Alkoholiker. Ab und zu fällt ihnen eine Flasche runter. Das Drama der acht verlorenen Cent hört man noch Straßen weiter. Wenn die Natur ruft, gehen sie auf den Spielplatz nebenan. Der rechtfertigt das Kriechen und auch die stundenlangen Treffen von Muttis und Papis – getrennt, versteht sich. Wo kämen wir denn da hin? Während die Damen der Schöpfung verhüllt wie eine Zeltstadt beieinandersitzen, beratschlagen sich die – sehr viel weniger zahlreichen – Väter auf der Bank gegenüber. Die Kinder können derweil mit den Scherben spielen. Bei einer Begegnungszone muss man sich schon sicher sein, dass man denen wirklich begegnen will.


Der Stau macht das Viertel perfekt – für einen Katastrophenfilm. Es ist, als wolle die bis in die Bürokratieporen linksversiffte Stadtplanung jeden so lange wie möglich hier halten. Seht doch! So schlimm ist es gar nicht! Bleibt doch auf einen veganen halal Kaffee Latte! Am Autobahnkreuz

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 30.05.2017
ISBN: 978-3-7438-1633-6

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Heinz Buschkowsky

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