Und alles nur wegen Kopfschmerzen. Kopfschmerzen und kein Aspirin im Haus. Damals hatte sie sich noch glücklich geschätzt. Kein Aspirin, also schwingt sich der Gatte ins Auto und rauscht schnell in die Apotheke, um ihr welches zu besorgen. Das liebe Töchterlein fragte artig, ob es in Ordnung wäre, wenn sie mitkommt und er sie bei ihrer Freundin absetzt. Das artige Söhnchen fragte lieb, ob der Herr Papa ihn eventuell an der Ecke soundso absetzen könnte. “Weil wenn du ohnehin das Aspirin holen fährst, spare ich mir den Bus, der braucht immer so ewig ...”. Die ganze Familie verlud sich ins Auto und fuhr los, die ganze Familie minus ihr. Die ganze Familie krachte in einen Baum und wurde von einem LKW eingeklemmt und erdrückt, die ganze Familie minus ihr.
Jetzt stand sie da, der Schmerz in ihrem Kopf vom allumhüllenden, alles erstickenden Schmerz des Verlustes, der Schuld, der Trauer erstickt, bis nichts mehr übrig ist als eine abgestorbene, taube Hülle dessen, was früher Margarete Gießer geheißen hatte. Ihre ganze Familie war ums Leben gekommen, und mit ihrer Familie war ihr Lebensmut gestorben. Fast wünschte sie, auch in dem Auto gewesen zu sein.
Sie saß auf dem Balkon und starrte dumpf vor sich hin. Die Freunde und Verwandten, die sich anfänglich noch erdrückend um sie gesorgt und gekümmert hatten, waren in ihre Leben zurückgekehrt, in denen für sie kein Platz mehr war. Was bedeuteten sie ihr noch, die kleinen Freuden des Lebens, wenn sie niemanden mehr hatte, mit dem sie etwas teilen konnte? Jegliches Leben war aus ihr verschwunden. Sie konnte sich nicht über die ersten Schritte des Nachbarkindes freuen, der Skandal des Cousins, der in Frauenkleidung erwischt worden war, ging spurlos an ihr vorbei, ja sogar die Ankündigung, dass ihr Taufkind demnächst heiraten werde, erweckte in ihr keine Gefühle. Nichts, kein Kribbeln, kein Funken Freude. Nicht einmal Neid. Nichts.
Die pure Sonne, das saftige Grün des wild wuchernden Grases und die ungebändigt wachsenden Blumen schienen sie zu verspotten. Was machte sie hier draußen, bei den Lebenden? Sie traf Anstalt, sich aus dem Gartenstuhl hochzuhieven, doch die Anstrengung war zu viel. So blieb sie sitzen, hüllte sich in einen Mantel aus Trauer und blockte die hellen Strahlen der Sonne ab. Stumpf starrte sie vor sich hin, auf einen unbestimmten dunklen Fleck im grellen Gras. Es passte, dass sie den einzigen toten Fleck im ganzen Garten anstarrte.
Doch der Fleck bewegte sich. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte genauer zu sehen. Warum sollte sich totes Gras bewegen? Sie griff nach ihrer optischen Sonnenbrille, die neben ihr lag, und drückte sie sich auf die Nase. Der dumpfe Schmerz, als sie sich in ihre Nasenwurzel bohrte, erinnerte sie daran, dass sie immer noch lebte.
Die Brille verwandelte den abgestorbenen Fleck Gras in eine Katze. Margarete legte den Kopf schief. Ein kleines Kätzchen, ganz getigert, mit weißen Flecken um die Augen, ganz so als trüge es eine weiße Brille. Mit starrer Miene beobachtete Margarete das kleine Wesen, das offenkundig seinen Mittagsschlaf beendet hatte. Es riss das kleine Mäulchen auf und gähnte herzhaft, leckte sich mit der kleinen rosa Zunge das Schnäuzchen und hüpfte plötzlich auf. Margarete brauchte eine Weile, bis sie erkannte, dass der Kleine seinen eigenen Schwanz jagte. Er kullerte kreuz und quer durch den Garten, bis er einen Satz nach vor tat und hinter dem wild wuchernden Schneeball verschwand.
Zwei Tage später saß sie wieder auf dem Gartenstuhl. Sie konnte das Telefon nicht ausstecken, sonst machte sich ihre überbesorgte Freundin Sorgen. Margarete hatte sich von der Welt abgeschottet. Sie konnte und wollte niemanden sehen. So flüchtete sie sich in den Garten, um dem Klingeln zu entkommen. Die Sonne schien hell, also hatte sie ihre Brille auf. So sah sie es sofort, das kleine Kätzchen. Anscheinend hatte sie den Mittagsschlaf verpasst, denn diesmal legte der kleine getigerte Kerl einen tollkühnen Auftritt - vom Baum fallend - hin und jagte los, diesmal einem Schmetterling hinterher. Er musste wirklich sehr jung sein, alle paar Meter stolperte er, über seine eigenen Pfoten, einen kleinen Ast, oder einfach über seine Begeisterung. Margaret sah ihm zu, wie er wie ein Tennisspieler auf und ab rannte, so voller Lebenslust und Tatendrang. Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Es fühlte sich fremd an, als hätten ihre Muskeln schon vergessen, wie Lächeln ging.
Am nächsten Tag setzte sie sich bewusst hinaus. Sie musste nicht lange warten, und der Kleine schlich sich an. Wie eine Raubkatze duckte er sich tief ins hohe Gras, visierte einen herumhüpfenden Vogel an und pirschte sich voran, bis er nahe genug war, einen Satz tat und den Vogel um gut zehn Zentimeter verfehlte. Laut tschilpend flatterte der Vogel davon und ließ das kleine Kätzchen verdutzt schauend zurück. Es erholte sich allerdings schnell von seiner Niederlage, putzte sich kurz die Ohren und sah sich um. Irgend etwas im Gras direkt vor dem Näschen lenkte seine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Es stellte die Ohren auf und ging in Pirschstellung.
Diesmal tollte der kleine Tiger direkt neben dem Balkon herum und kämpfte todesmutig mit einem Käfer. Am folgenden Tag begutachtete es einen Regenwurm, um am Tag danach schlief es friedlich. Margaret fand es mittlerweile entspannend, diesem kleinen Fellknäuel zuzusehen. Das leise Lächeln blieb auf ihren Lippen, wenn sie ihn beobachtete. Sie konnte sich nicht überwinden aufzustehen und ihn zu locken, doch als sie eines Tages hinausging und der Tiger nicht da war merkte sie, dass sie unruhig wurde und nach ihm Ausschau hielt. Erst als er sich wie ein Zirkusclown tollpatschig auf die Bildfläche trollte, beruhigte sie sich, dabei tat er nichts weiter, als sich gründlich die Pfote zu lecken und wieder zu verschwinden.
Sie schüttelte die Milchpackung. Ihre Freundin bestand darauf, dass sie normal und regelmäßig aß, und brachte ihr Vorräte. Sie war fest davon überzeugt, dass Margaret durch alltägliche Arbeiten wie Kochen und Abwaschen wieder zu sich zurückfinden würde. Geduldig hatte sie die verdorbenen Lebensmittel weggeworfen und das vor sich hin schimmelnde Geschirr abgewaschen, bis es Margarete zu dumm wurde. Wenn Kochen und Abwaschen das Mittel waren, um allein zu bleiben, dann würde sie eben Kochen und Abwaschen. Prüfend schwenkte sie die Packung erneut. So gut wie leer. Damit konnte sie nichts mehr anfangen. Sie wollte es gerade wegleeren, da besann sie sich und schüttete es in den Untersetzer der vertrockneten Topfpflanze auf dem Fensterbrett. Den Untersetzer trug sie vorsichtig hinaus und setzte ihn in der Mitte des Gartens ab. Als sie das nächste Mal hinaussah, war er leer.
So ging das einige Wochen unverändert, bis eines Tages das Kätzchen zu ihr kam und seinen Kopf an ihrem Bein rieb und das so lange tat, bis sie sich hinunterbeugte und sachte über seinen Kopf strich. Es fühlte sich so flauschig, warm und weich an, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Das Kätzchen schüttelte sich kurz, sah einen Schmetterling und weg war es. Margarete blieb zurück und weinte. Zum ersten Mal seit dem Unfall weinte sie.
Das Kätzchen hüpfte auf ihren Schoß, rollte sich ein und schlief. Margarete bewegte sich nicht, um es nicht zu stören, und strich nur sachte mit dem Finger über das weiche Fell des Kopfes. Wie einfach, wie leicht, wie geradlinig dieses kleine Geschöpf war. Offen, zutraulich, liebesbedürftig. Ohne eine Sorge in der Welt außer dem aktuellen Schmetterling, ohne böse Erinnerungen außer diesem lauten Vogel. Margarete lächelte sacht auf den kleinen warmen Körper hinab.
So ging es bald jeden Tag. Das Kätzchen holte sich sein Schälchen Milch ab, schlief ein bisschen auf Margaretes Schoß und spielte, bis ihm langweilig wurde und es verschwand. Es stimmte Margarete traurig, wenn es verschwand, doch sie wusste, am nächsten Tag würde es wiederkommen.
Eines Tages fragte sie sich, woher das Kätzchen eigentlich kam. So wartete sie, bis es ausgespielt hatte und wieder verschwand, dann stand sie schnell auf und folgte ihm. Sie sah, wie es arglos unter den Schneeball marschierte und durch ein Loch im Zaun verschwand. Das steil aufgerichtete Schwänzchen hüpfte auf und ab, als es auf eine größere Katze zustürzte und leidenschaftlich mit der Pfote der anderen zu raufen anfing. Die große Katze ließ es mit der geduldigen Miene einer erfahrenen Mutter geschehen und sah dabei direkt auf das Loch zu, hinter dem Margarete kauerte, als wollte sie sagen: “Du weißt ja wie die kleinen Kinder sind.” Margarete lächelte, ja, das wusste sie, und kroch wieder unter dem Busch hervor. Als sie sich aufrichtete, fand sie sich Aug in Aug mit der Nachbarin. Margarete grüßte freundlich, gratulierte zum bereits munter laufenden Nachbarskind und ging wieder in ihr Haus.
Sie hatte gesprochen. Die ersten Worte, die ihr seit dem Unfall über die Lippen gekommen waren.
Tag der Veröffentlichung: 10.08.2010
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Widmung:
Für meine liebe Katze, die jetzt bei den Engeln spielt