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Im Grunde war Markus Keller zufrieden mit sich. Es zahlte sich eben doch aus, hin und wieder kleine Risiken einzugehen. Das war der vielgepriesene, innovative niederösterreichische Unternehmergeist! Markus lächelte leise vor sich hin. Ja, als solcher war er bezeichnet worden.

In Grunde genommen hatte das Schicksal einen eigenartigen Sinn für Humor. Noch vor einigen Monaten hätte er es nicht für möglich gehalten, hier und heute in dieser glücklichen Lage zu sein. Denn damals hatte es düster, sehr düster ausgesehen. Markus erinnerte sich noch, als wäre alles erst gestern passiert.

Eines Mittags war ein unscheinbarer Mann mittleren Alters in sein Gasthaus spaziert, hatte sich einmal quer durch die Speisekarte bestellt und war wieder gegangen. So weit so gewöhnlich.

Doch dann!

Eine Woche später erhielt er einen Anruf von Frank Weber, eines Wirten aus der Umgebung, mit dem er freundschaftlich konkurrierte. Markus möge sich doch Seite sowieso in MAGAZIN ansehen. Markus ahnte nichts böses, schlug die Zeitschrift auf und erwartete, Werbung für Wirtshaus Weber zu sehen. Wäre nicht das erste Mal, dass Franz ihm auf diese nicht sehr subtile Art unter die Nase reiben wollte, wie bekannt Wirtshaus Weber sei. Kurze Zeit später allerdings war jeder Gedanke an Franz verschwunden. Vor Markus‘ Augen entfaltete sich sein Schicksal in Form einer Restaurantkritik. Ganz oben rechts das Bild des Verfassers - eben jener unscheinbare Mann mittleren Alters. Paul Frydrych.

Zu sagen die Kritik wäre vernichtend gewesen wäre ein noch zu netter Ausdruck gewesen. Paul Frydrych hatte „Die goldene Rose“ in der Luft zerrissen. Der Service sei langsam und unhöflich, die Speisen fade und ideenlos, die Weine unpassend und qualitativ fragwürdig, das Ambiente veraltet und gänzlich ohne irgend eine Art von Charme, und so weiter und so fort. In dem ganzen Absatz fand sich nicht ein positives Wort.

Zuerst dachte sich Markus nichts dabei. Natürlich, es gab ihm einen Stich, sein Stolz tat weh, allerdings erwartete er nicht, dass sich großartig etwas verändern würde. Immerhin, „Die goldene Rose“ war ein fest etabliertes Gasthaus. Sicherlich könnte sie einen solchen Angriff mit Leichtigkeit wegstecken. Doch dann begannen langsam, schleichend, die Gäste weniger und der Speisesaal leerer zu werden, bis er sich eines Tages eingestehen musste, dass er geradewegs auf einen sprichwörtlichen Eisberg zusteuerte. Sein Gasthaus war ein sinkendes Schiff, und er musste dringend etwas tun, wenn er nicht mit ihm untergehen wollte.

Erstaunlich, wie ihn diese Situation verändert hatte. Niemals hätte er erwartet, solchen Kampfgeist und Innovationsdrang bei sich zu finden! Unzählige Fortbildungen, Recherchen, durchwachte Nächte und angestrengte Tage später wusste er schließlich, was er machen wollte: Themenabende! Abendessen, bei denen die Gäste vorab die Zutaten kennen lernen konnten, deren Geschichte, Verwendungen, Zücht- beziehungsweise Anbauarten, einfach alles. Doch damit nicht genug. Markus nahm sich die Kritik als Leitbild und veränderte alles, was Paul Frydrych bemängelt hatte. Er entließ sein gesamtes Serviceteam, kreierte eine völlig neue und originell-bodenständige Küche, engagierte einen ausgebildeten Sommelier frisch aus WEINFACHSCHULE NÖ, der begierig war, sich zu beweisen, und zu guter letzt dachte er sich noch einen neuen Namen aus. Frisch sollte er sein, spritzig, originell, intelligent. Zur Krönung tat er sich mit NÖ Gestalten zusammen und baute unter der fachkundigen Anleitung der Architekten das gesamte Gasthaus um.

Jetzt konnte sich Markus entspannt zurücklehnen. Sein WirtshausKeller war der einzige, der diese Art von Themenabenden im Ambiente eines luxuriösen Weinviertler Kellers anbot. Es gab nichts Vergleichbares. Nach einer zögerlichen Startphase, die Markus unendlich viele Nerven gekostet hatte, war der WirtshausKeller zu der kulinarischen Attraktion des Weinviertels geworden, von Kritikern gepriesen, so gut besucht, dass Markus mit den Themenabenden nicht nachkam, weil so ein großes G‘riss darum herrschte. Und dieses Wissen beruhigte Markus. Es beruhigte ihn ungemein. Viele Sorgenfalten waren verschwunden, er war ruhig und ausgeglichen. So ausgeglichen, dass er dem heutigen Themenabend gelassen entgegensah. Trotz der angekündigten und bestätigten Anwesenheit von Paul Frydrych.

Paul Frydrych, der Kritiker, der ihn beinahe in den Ruin getrieben hatte. Heute würde er nichts Negatives finden, dessen war sich Markus gewiss. Er hatte alles doppelt und dreifach kontrolliert, er hatte seinem Servicepersonal ein Foto Frydrychs gezeigt und allen mit sofortiger Entlassung gedroht, die am heutigen Abend auch nur den kleinsten Fehler machten. Das gleiche galt auch für das Küchenpersonal.

Markus bewaffnete sich mit dem Bündel Blätter, das er gerade noch gewaschen hatte, und ging in den Saal, um seine Gäste zu begrüßen. Warmer Applaus von dreißig Gästen empfing ihn, als er eintrat. Er verkörperte das Bild des erfolgreichen Kochs und Gastwirten. Lächelnd hob er beide Hände, danke, danke!
„Meine lieben Gäste, ich möchte sie herzlich hier im WirtshausKeller begrüßen. „Bärlauch im Mai erspart das ganze Jahr den Arzt und die Arznei“, so heißt eine alte Bauernregel. In diesem Sinne möchte ich ihnen gern das Programm des heutigen Abends….“
Markus brach ab und sah sich irritiert um. Irgendjemand murmelte vor sich hin. Er begann erneut: „Ja, also, das Programm. Unser Hauptakteur ist heute der Bärlauch. Da wollen wir uns doch einmal ansehen, woher ….“

Da war es schon wieder. Ein Murmeln aus der Menge, genau leise genug, dass es störte. Markus warf einen Blick in die Runde. Wer war das? Sein Blick blieb am Gesicht von Paul Frydrych hängen. Das konnte nicht sein. Er würde es doch nicht wagen… Doch noch während Markus zu ihm hinsah, fing dieser wieder an, angeregt in ein Diktiergerät zu flüstern. Seine Miene sah aus, als hätte er soeben in eine faulige Gurke gebissen. Markus überlief es heißkalt. Genauso hatte Frydrych ausgesehen, als er das Gasthaus beim letzten Mal verlassen hatte. Markus hatte es damals nicht gesehen, aber jetzt war er fast überzeugt davon. Das konnte nicht sein! Nicht schon wieder! Dieser verdammte Kritiker! Er hatte es auf ihn abgesehen, Markus wusste es, er spürte es in den Knochen. Er wollte ihn schon wieder verreißen, wollte aus purer Böswilligkeit sein mühsam aus den Trümmern erbautes Lebenswerk einreißen. Nein. Das würde Markus nicht zulassen. Aber wie sollte er es verhindern?

Markus grübelte kurz vor sich hin, bis ihn ein dezentes Räuspern in die Wirklichkeit zurückholte. Er hatte mit seinen Bärlauchblättern in der Hand vor allen Gästen gestanden und in die Luft gestarrt. Mit einem verkrampften Lächeln nahm er seine Rede wieder auf und begann, den Gästen die Geschichte des Bärlauchs zu erläutern: „Bärlauch ist eigentlich recht weit verbreitet. Er kommt wild in fast ganz Europa in schattigen Auen und besonders an Laubwaldhängen vor. Natürlich haben wir oft nicht die Zeit, ihn dort zu suchen, deshalb ist er mittlerweile auch in unseren Gärten heimisch. Allerdings ganz anspruchslos ist er nicht. Er mag tiefgründige und lockere, immer ein bisschen feuchte Lehmböden, und gar nicht leiden kann er Sandböden. Zu finden ist er oft ausgedicht und dehnt.“

Markus verhaspelte sich und warf einen verstohlenen Blick in Richtung Paul Frydrych. Bildete er sich das ein oder grinste der Kerl? Nein, ganz bestimmt, der grinste ihm ganz unverschämt ins Gesicht, weidete sich an Markus’ Blamage und überlegte sich wahrscheinlich gerade, wie er das am besten zum allgemeinen Gaudium in seine Kritik einbauen konnte. Mit einer gewaltigen Willensanstrengung riss Markus seine Augen weg von Frydrych und setzte erneut an: „Bärlauch ist eine alte Heilpflanze, nicht umsonst gibt es die Bauernweisheit. Aber das Wissen geht noch viel weiter zurück: schon die Germanen, Kelten und Römern wussten von der Heilkraft.“

Nicht hinsehen. Nicht hinsehen. Solange Markus diesen ... Menschen ignorierte, lief alles wie am Schnürchen. Nahtlos durchlief er seinen Vortrag, baute kleine Witzchen ein und konnte, dank seiner ausgezeichneten Vorbereitung, auch die Fragen beantworten, die nichts mit seinem Thema zu tun hatten und die vermutlich dazu gedacht waren, ihn ins Stolpern zu bringen („Woher kommt denn der Name?“). Im Grunde lief es großartig. Bis er die Bärlauchblätter an seine Gäste verteilte und wieder einmal dieses Grinsen sah, dieses diabolische Grinsen, das um die Mundwinkel des Kritikers spielte. Es zermürbte Markus’ Nerven. Was hatte er vor?

Markus riss sich am Riemen und nahm seinen Vortrag wieder auf: „Wenn Sie selbst sammeln wollen, sollten Sie besonders auf feuchten Wiesen Acht geben, denn dort wächst zur selben Zeit auch die Herbstzeitlose, und die sieht für das ungeschulte Auge relative ähnlich aus. Ich werde Ihnen daher nun einige Herbstzeitlosenblätter austeilen, um ihnen zu zeigen, dass der geübte Sammler diese beiden durchaus zu unterscheiden weiß. Ich muss sie allerdings bitten, wenn sei diese Übungen mitmachen wollen, sich danach gut die Hände zu waschen, da die Herbstzeitlose sehr giftig ist.“

Wie vorhergesehen wurde seine Zuhörerschaft nach dieser Aussage unruhig. Ein nervöses Lächeln hier, ein paar unruhige Finger da. Damit hatte Markus gerechnet. Deshalb beeilte er sich zu sagen: “Keine Sorge, die Speisen, die wir später genießen werden, sind schon vorbereitet, und garantiert ohne giftige Bestandteile. Sie stammen alle aus meinem Kräutergarten. Der Garten ist natürlich bei Sonnenlicht jedem Gast frei zugänglich. Diese Blätter hier“, er deutete auf die Herbstzeitlosen, „habe ich extra zu Demonstrationszwecken bei einem Apotheker gekauft, der die Herbstzeitlosen zu Forschungszwecken züchtet.“ Die Minen der Gäste entspannten sich, sie schienen peinlich berührt zu sein, dass sie ihn so verdächtigt hatten.

Mit einem leisen Lächeln fuhr er fort: „Nun wollen wir einmal das Äußere unserer beiden Blätter betrachten.“ Er hob ein Bärlauchblatt. „Die Blätter des Bärlauchs sind lang gestielt, lindgrün und auf der Unterseite ein wenig heller als auf der Oberseite. Außerdem haben sie eine ausgeprägte Mittelrippe und kommen alle einzeln, wenn auch dicht nebeneinander aus dem Boden.“ Er nahm ein Herbstzeitlosenblatt in die andere Hand. „Die Herbstzeitlose bildet mehrere Blätter an einem Stängel aus. Die Blätter des Bärlauchs knicken leicht ab, Herbstzeitlose hingegen haben sehr biegsame, fast gummiartige Blätter.“ Er schwenkte sie durch die Luft. „Die Blätter des Bärlauchs lassen sich sehr leicht verreiben, die von der Herbstzeitlose schwer bis gar nicht. Wer also weiß, wie sich das Zerreiben des Bärlauchs anfühlt, kann kaum einen Fehler machen. Vor allem aber riechen nur Bärlauchblätter beim Zerreiben nach Knoblauch. Das ist die beste Merkregel für Sie: Wenn es nicht nach Knoblauch riecht, ist es kein Bärlauch. Bitte beachten Sie aber, dass nach dem einmaligen Zerreiben von Bärlauchblättern der intensive Knoblauchgeruch an den Fingern haften bleibt und so bei weiteren Proben täuschen kann.“

Alles verlief genauso, wie Markus es tagelang geplant hatte. Bis auf ihn, Paul Frydrych, den Kritiker. Er saß da und lächelte. Was bitte gab es da zu lächeln? Fand er ihn etwa lächerlich?

Reiß dich zusammen, befahl sich Markus streng. Doch es ging nicht. Irgend etwas musste doch sein. Was war es, das Frydrych so dermaßen zum Lächeln anregte? Markus konnte sich nicht zurückhalten. „Kann ich Ihnen helfen? Soll ich Ihnen etwas noch einmal erklären?“ Der Kritiker bedachte in mit einem kühlen Blick. „Das ist ja alles sehr nett, was sie da erzählen, aber ich weiß das doch alles, das ist wirklich sehr grundlegend. Ich würde jederzeit aus einem Haufen Blätter den Bärlauch herauskennen. Das ist doch wirklich einfach.“

Markus bemühte sich um einen gelassenen Gesichtsausdruck. „Nun, dazu gratuliere ich Ihnen, aber ich würde gerne den anderen, die nicht so erfahren sind wie Sie, helfen.“
„Gauben Sie mir nicht? Ich könnte es.“ Herr Frydrych stand entschlossen auf, entriss jedem Teilnehmer die Blätter und warf sie auf einen Haufen. „Ich wette mit ihnen um dieses Abendessen, dass ich alle errate. Mehr noch, sie können von mir aus mein Essen mit den Blättern zubereiten, die ich ihnen gebe.“

Markus überlegte. Wenn Frydrych sich so sicher war, könnte er doch … eine tragische Verwechslung ... Dann würde keine schlecht Kritik erscheinen …
Doch dieser Moment des Wahnsinns verschwand so schnell, wie er gekommen war. Er konnte doch niemanden vergiften! Bei etwaigen Untersuchungen würde das sicher herauskommen. Er konnte nicht schon wieder das Restaurant schließen. Nein, das ging nicht.

„Es tut mir leid, aber das kann ich nicht zulassen. Sie wissen doch sicher, dass alle Pflanzenteile der Herbstzeitlose das außerordentlich giftige Alkaloid Colchicin enthalten, und zwar in reichlicher Menge. Es wäre unverantwortlich von mir, Sie mit dem zu bekochen. Ich werde auch nicht auf Ihre Wette einsteigen, nicht weil ich Ihnen nicht glaube. Sie würden es sicherlich schaffen. Aber schon allein durch das Befühlen von so vielen Blättern können leichte Vergiftungssymptome auftreten.“

Die Augen des Kritikers blitzen ärgerlich. „Dann ist das einer der langweiligsten Abende, die ich jemals erlebt habe. Wenn das Essen auch noch so schlecht ist wie bei meinem letzten Besuch, dann können sie sich auf etwas gefasst machen. Ich bin nicht umsonst zu einem so bekannten Restaurantkritiker geworden.“ Offensichtlich wollte er sich nicht die Gelegenheit entgehen lassen, vor einem aufmerksam zusehenden Publikum zu glänzen, jetzt, da er den anderen Gästen auch noch so plump unter die Nase gerieben hatte, wer er war.

Markus versuchte es noch einmal: „Es wäre wirklich nicht klug …“ Frydrych fuhr ihm unwirsch ins Wort: „Stellen sie sich nicht so an, ich weiß, wovon ich rede; wenigstens ich weiß es, wenn schon nicht alle in diesem Raum…“ Markus fühlte, wie in seinem Inneren die Zorneswogen zu kochen begannen. Das ging zu weit. Diese Beleidigung war eindeutig unter der Gürtellinie. Wie konnte er ihm unterstellen, nicht alles zu wissen? Leichtsinn begann sich in ihm breit zu machen: „Wenn Sie denn unbedingt wollen, bitte, testen Sie den ganzen Haufen. Aber ich übernehme dafür keine Verantwortung, und ich werde auch auf keinen Fall mit Ihren Blättern kochen.“

Der Kritiker warf ihm einen verächtlichen Blick zu und begann seinen großen Auftritt: er nahm ein Blatt, setzte eine fachmännischen Miene auf und begann seine Untersuchung, indem er es hin und her schwenkte. Danach befühlte er es und rieb daran herum, roch an seinen Fingern und legte den Kopf schief. „Bärlauch“, befand er und nahm das nächste Blatt.

Nach fünf Blättern machte sich allgemeine Müdigkeit breit. Die Gäste gähnten, rutschten auf ihren Stühlen herum und begannen, mit ihren Nachbarn zu flüstern, aber keiner wagte es, sich über die gesellschaftlichen Konventionen hinweg zu setzen und die inzwischen lähmend langweilige Demonstration zu unterbrechen. Es war doch wirklich lächerlich, dass er eine solche Show veranstaltete, denn allein der Knoblauchgeruch des Bärlauchs reichte doch schon aus, um ihn als solchen zu erkennen. Doch nach den Mengen an Blättern, die Frydrych schon zerrieben hatte, blieb der Geruch haften und bot keinen Anhaltspunkt mehr. Markus beobachtete gespannt, wie der Kritiker beim Nachdenken immer wieder die Finger an die Lippen führte und daran herumtrommelte. Mehrmals mahnte Markus, nur ja vorsichtig zu sein, und wies auf die extreme Giftigkeit hin. Er habe bewiesen, dass er es könne, niemand würde schlecht über ihn denken, wenn er jetzt aufhörte. Jedes mal erteilte ihm Frydrych eine grobe Abfuhr. Doch das war Markus egal. Alle hörten, wie er sich um die Sicherheit sorgte. Und nur darauf kam es an. Später würden alle bestätigen, dass er ihn gewarnt hatte.

Eine halbe Ewigkeit später hatte Frydrych endlich den Haufen durch. Erleichterung machte sich breit, ein generelles Aufseufzen war zu vernehmen. Markus räusperte sich: „Nun denn, das war sehr, äh, beeindruckend. Hat noch jemand eine Frage?“ Erwartungsvoll sah sich Markus um und wurde von einem dezenten Magenknurren begrüßt. Markus lächelte. „Wenn alles geklärt ist und niemand etwas dagegen hat, würde ich vorschlagen, dass wir uns nun dem kulinarischen Teil der Veranstaltung widmen. Wenn sie mich einen Moment entschuldigen würden… Ich möchte sie bitten, die Pause zu nützen und sich gründlich die Hände zu waschen, wir haben in den Waschräumen Desinfektionsmittel und dergleichen vorbereitet. Es besteht natürlich bei der kleinen Menge absolut keine Gefahr für Sie, aber wir wollen doch auf Nummer sicher gehen.“ Mit diesen Worten streift er die fein säuberlich aufgeschichteten Blätterhaufen vor des Kritikers Nase achtlos mit einem Tuch in einen bereitstehenden Kübel, den ein Kellner, unter den nervös beobachtenden Augen einiger Gäste, auf direktem Weg in den Komposthaufen beförderte.

Es war nur ein kurzer Weg vom Saal in die Küche, doch auf diesem kurzen Weg passierte etwas. Ein Gedanke setzte sich in Markus’ Gehirn fest und ließ ihm keine Ruhe. Er hatte den Kritiker gewarnt. Alle hatten es gehört. Er hatte sich gesträubt, wollte dieses dumme Experiment nicht zulassen. Seine Mitarbeiter konnten bezeugen, wie sorgsam er immer mit potentiellen Gefahrenquellen umging. Sollte dem Kritiker nun tatsächlich etwas passieren, eine kleine Herbstzeitlosenvergiftung ... Ihn würde keine Schuld treffen. Selbstüberschätzung, würde es heißen.

Aber wie viel brauchte es, um eine letale Vergiftung herbeizuführen? Markus schauderte zusammen. So schnell war es gegangen. Es war jetzt nicht mehr: „Das kann ich doch nicht machen!“, jetzt war es: „Wie kann ich es machen?“ Also, wie viel? Markus war sich nicht sicher. Woher sollte er so was auch wissen? Wahrscheinlich mehr, als durch die Finger in den Mund gelangt war. Was also war zu tun? Alles, was er jemals über Bärlauch gehört, gelesen oder sonst irgendwie aufgeschnappt hatte, rotierte in seinem Gehirn. Als er die Küche betrat, hatte er einen fertigen Plan bereit.

In der Küche angelangt, versammelte er seine Angestellten um sich und machte ihnen noch einmal klar, wie wichtig es sei, Paul Frydrych zufrieden zu stellen. Markus ließ dem Kritiker nur speziell von ihm zubereitete und angerichtete Speisen bringen, sorgte dafür, dass die Kellner immer genug zu Trinken am Tisch des Kritikers hatten, um ein eventuelles Durstgefühl oder Kratzen im Hals zu stillen, und unterhielt sich, als sich die Gäste nach dem Dessert zufrieden in ihren Sesseln zurücklehnten und die Weingläser kreisen ließen, liebenswürdig mit den Tischnachbarn Frydrychs über die neue Grippewelle und deren schrecklichen Symptome wie etwa Übelkeit, wobei er nicht vergaß seiner Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass sie alle gesund bleiben mögen.

Es war doch ein gelungener Abend, dachte Markus, nachdem die Gäste gegangen waren und das Personal damit beschäftigt war, den Saal wieder begehbar zu machen. Er überlegte kurz, ob er noch einen kurzen Abstecher zu seinen Blumen machen sollte, um noch einmal nach seiner momentanen Lieblingsblume zu sehen, die er in einem schattig gelegenen, feuchten und kalkreichen Gefäß nicht weit vom Küchenhintereingang wachsen ließ. Er fühlt sich dann aber zu müde und ging stattdessen auf direktem Weg in sein Wohnzimmer, wo er sich mit einem zufriedenen Seufzer neben seine Frau auf das Sofa setzte und die Füße auf einen Hocker legte.

„Und, wie war es?“, fragte seine Frau, den Kopf über ihre Näharbeit gebeugt. Entgegen der Wirtshaustradition, die schon fast gesetzesartig bestimmte, dass alle im Wirtsbetrieb mitarbeiten mussten oder sollten, hatte Johanna Keller nicht das geringste mit dem Gewerbe ihres Mannes zu tun. Nur so hatte es sich Markus leisten können, „Die goldene Rose“ in den WirtshausKeller umzuwandeln.

„Ganz fein“, erwiderte er. Nach dem aufregenden Abend fühlte er sich nun wirklich müde und ausgelaugt und wünschte sich nichts mehr, als sich hier und jetzt auf dem Sofa auszustrecken und zu schlafen. Seine Frau warf nur einen Blick auf ihn, lächelte wissend, legte die Näharbeit zur Seite und ging das Licht abdrehen. Sie war schon aus dem Raum, als sie den Kopf noch einmal ins Zimmer steckte und sagte: „Ach übrigens, ich habe heute bei deinen Blumen eine Herbstzeitlose gefunden, wahrscheinlich hast du sie noch gar nicht bemerkt, sie war in einem kleinen Gefäß im Schatten, das neben dem Küchenausgang, weißt du welches ich meine? Ich weiß gar nicht wie die da hingekommen ist. Jedenfalls, ich hab sie herausgerissen, ich fand das zu gefährlich, falls sich ein Lehrling vertut. Ich habe dir stattdessen einen Bärlauch hineingesetzt, um dich an diesen guten Abend zu erinnern. Gute Nacht, schlaf gut.“


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.11.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Markus den Koch, der garantiert noch nie jemanden vergiftet hat

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