Der Kegeldoktor
Mit einem Knall wachte Heinz auf. Genauer gesagt hatte es nicht geknallt, aber so schnell erwachte er sonst nur, wenn es in der Wohnung über ihm knallte. Deshalb dauerte es einige Zeit bis er erkannte, dass sonst generelle Ruhe herrschte. Das verwirrte ihn. Es war Samstag, er musste also nicht aufs Amt. Heinz war Beamter, und zwar – soweit man das bei Beamten sagen kann – mit Leib und Seele. Außerdem war er der Ehrenvorstand seines Kegelklubs, was ihn mit großem Stolz erfüllte. Dieses Amt nahm er mit großem Ernst wahr, er hatte noch nie eines der samstäglichen Treffen verpasst. Sein Leben war so, wie es sich für einen respektablen Mittfünfziger gehört: gänzlich ohne Aufregung und ohne unvorhergesehene Ereignisse. Weshalb also sollte er eine Stunde vor seiner üblichen Samstag-Aufstehzeit aufwachen? Das alles beschäftigte ihn jedoch nur kurz. Viel dringlicher war etwas anderes.
Die Erkenntnis, dass sein Leben so gut wie vorbei war.
Nein, er war nicht krank. Er litt auch nicht an einer Midlifecrisis, weder gingen ihm auf einmal büschelweise die Haare aus - die verdufteten still heimlich, aber sehr stetig, von seinem Schädel -, noch hatte er eine jugendliche Geliebte, noch eine untreue Ehefrau. Es gab also nicht den geringsten Grund, derart aus der Routine zu schlagen, denn Heinz liebte seine Routine. Und doch, sein Leben war so gut wie vorbei. Wenn er erst einmal tot war, wer würde sich an ihn erinnern? Seine Frau? Die machte es auch nicht mehr lange. Seine Kegelkameraden? Die schon eher, aber auch nur, weil er ständig anwesend war. Wenn er einmal nicht mehr da war, wenn ein anderer seinen Platz als Ehrenvorstand innehatte, und Heinz hatte schon einen dringenden Verdacht, wer sich da anbieten würde, dann würde er auch dort in Vergessenheit geraten. Auch in der Arbeit würde er nicht ewig vermisst werden, er war einer von vielen. Ein sehr wichtiger Bestandteil, zugegeben, aber irgendwann würde auch er ersetzt werden, wenn, und da war er sich sicher, es auch nie einen vollkommenen Ersatz für ihn geben konnte. Nein, das alles reichte ihm nicht. Er hatte auf einmal das dringende Bedürfnis, von der Nachwelt in Erinnerung behalten zu werden.
Aber wie sollte er das machen? Heinz setzte sich auf und dachte angestrengt nach. Er war so in Gedanken vertieft, dass er nicht einmal den fehlenden Knopf auf seiner blau-weiß gestreiften Pyjamajacke bemerkte. Was war schon so eine unbedeutende Kleinigkeit, die ihn sonst über die Maßen erregt hätte, im Vergleich zu den unendlich dringlicheren Problemen, die er angestrengt wälzte? Er musste etwas tun. Etwas außergewöhnliches. Etwas erinnernswertes. Etwas, das noch nie ein Mann vor ihm gemacht hatte. Heinz war ein Anti-Feminist, das hatte er von seinem Vater gelernt, und wenn es der Vater sagt, dann müsse es doch stimmen, oder etwa nicht? Aber was sollte er tun? Was wäre so genial, dass er unvergessen bliebe? Heinz dachte angestrengt nach. Er dachte so angestrengt nach, dass ihm nicht einmal die Spinnwebe auf dem Leuchter auffiel, obwohl ihm so etwas sonst nie entging. Er könnte … oder vielleicht…?
Plötzlich überfiel es ihn siedend heiß: was, wenn schon jemand anderes seine geniale Idee vor ihm verwirklicht hatte? Heinz hatte zwar noch keine, aber das war bestimmt nur noch eine Frage von Minuten, bei seiner Intelligenz doch kein Problem. So ging das nicht, er würde doch nicht etwas nachmachen! Außerdem, wenn schon jemand anderes auf die Idee gekommen war, dann war sie bestimmt nicht so gut. Aber wie sollte er verhindern, dass er jemanden unwissentlich nachmachte? Er wippte mit dem rechten Fuß und kratzte sich das linke Ohr. Doch auch das half ihm nicht weiter.
Halt! Mit einem Ruck warf er die Bettdecke von sich. Natürlich! So einfach war es! Er würde es nachlesen. Er würde, ganz entgegen seiner Gewohnheiten, in eine Bibliothek gehen und nachlesen, ob schon jemand das getan hatte, was zu tun er beabsichtigte. Er wusste sogar wo die Bibliothek war, obwohl er noch nie drin gewesen war. Was sollte ein Mann von seiner Intelligenz noch mit Büchern? Wie viele Bücher dort wohl stehen mochten? Heinz wanderte im Schlafzimmer auf und ab, während er seine Unsterblichkeit plante. Ein paar hundert könnten es schon sein.
Aber wann sollte er das tun? Nicht unter der Woche, schließlich musste er ja arbeiten; wer weiß was sonst auf dem Amt passieren könnte, wenn er nicht da war, das totale Chaos würde ausbrechen. Am Sonntag ging es auch nicht, da fuhr er immer zu seiner Mutter, von der erbte er schließlich, wenn sie endlich einmal starb. Seine sonntäglichen Besuche waren nicht so sehr, um Zeit mit seiner Mutter zu verbringen. Er wollte vielmehr sehen, wie lange sie es noch machen würde. Das ärgerte ihn plötzlich. Konnte sie nicht einfach sterben? Die Pflegekosten fraßen allmählich sein ganzes Erbe auf, und früher oder später starb sie ja doch, warum also nicht früher? Doch auch von diesem Gedanken, mit dem er sich sonst stundenlang unterhalten konnte, riss er sich los und wandte sich seiner neuen Zukunft entgegen, in der er sich bereits mit Anzug und Krawatte in der Bibliothek sitzen sah, umgeben von bewundernden Bücherfeen. Er ging zu seinem Kleiderschrank und überprüfte, ob seine Anzüge noch alle da waren. Diese Idee gefiel ihm außerordentlich. Sie gefiel ihm sogar so sehr, dass er beschloss, künftig nicht mehr kegeln zu gehen, sondern seine Zeit lieber mit sinnvollerem zu füllen, wie etwa der Bibliothek. Denn wenn er es genau bedachte, waren seine Kegelfreunde kein wirklicher Umgang für ein Genie wie ihn. Er würde die ganzen Bestände lesen. Er würde alles wissen. Er würde …
Da kam ihm eine Idee. Wenn er schon alles wusste, dann konnte er doch auch noch, wenn er schon dabei war, seinen Doktor in Geschichte machen. Das konnte doch nicht lange dauern, schließlich wusste er dann ja alles. Würde sich auch auf seinem Grabstein nett machen. „Doktor Heinz Obermoser“, murmelte er vor sich hin, als er seine Krawatten begutachtete. Hm, ja, gar nicht schlecht. Er ging im Schlafzimmer umher und besah sich die Wände. Wo er wohl sein Diplomen hinhängen würde? Probehalber nahm er ein paar Bilder herunter, hänge sie wieder auf, seufzte, nahm sie wieder herunter, doch es gefiel ihm nicht ganz. Da kam ihm die glorreiche Idee: er würde im Eingangsraum einen Nagel einschlagen und es dort hinhängen, damit es auch jeder Besucher sehen konnte. Sofort machte er sich ans Werk. Schnell war die passende Stelle ausgewählt und der Nagel versenkt. Zufrieden betrachtete Heinz sein Werk.
Wer weiß, vielleicht käme er sogar in die Zeitung als der am schnellsten fertige Doktor. Was hieß vielleicht, ganz sicher sogar. Er würde auf jeden Fall bei der Zeitung landen, schließlich war es ja deren Pflicht, jemanden wie ihn dem breiteren Publikum vorzustellen. Diese Ausschnitte müsste er sammeln. Am besten in einem schönen Album. Das würde er dann in seinem Kasten aufbewahren. Aber im Kasten sah es doch keiner. Hm, was tun? Da fiel ihm das Festtagsgeschirr seiner Frau ein, das in einer gläsernen Vitrine im Esszimmer stand. Das war sowieso überflüssig, da sie nie davon aßen. Die konnte er entfernen. Sofort ging er seinen Plan in die Tat umsetzen und warf das Geschirr weg. Es war doch nur ein Staubfänger, sein Album wäre hier viel besser aufgehoben, denn es würde sicherlich so oft bestaunt werden, dass es nie Staub ansetzen würde.
Als alles Geschirr weg war, wischte sich Heinz über die Stirn. Puh, es war viel von dem unnötigen Zeug dagewesen. Aber jetzt war ja Platz für sein Album, das seinen herausragenden Aufstieg dokumentierte. Hochzufrieden über seine Erfolge ließ er den Blick durchs Zimmer schweifen. Was sollte er als nächstes tun? Er könnte ja einmal wieder in den Kegelklub gehen, sehen was seine alten Freunde so machten. Sicher würden sie sich sehr freuen, ihren erfolgreichen, bekannten alten Freund wieder zu sehen. Beschwingt zog er sich an und machte sich auf den Weg, seine alten Bekannten mit seiner Anwesenheit zu ehren.
Texte: Coverbild: http://www.ultimate-kid-birthday-parties.com/image-files/bowlingposter3.jpg
Tag der Veröffentlichung: 11.03.2009
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