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Ansprache

PPNW International Physicians for the Prevention of Nuclear War

Friedensforum der IPPNW in der Semperoper Dresden
am 05.04.1988

Ansprache von OMR Prof. Dr. med. habil. Klaus Köhler,
Vorsitzender der IPPNW Bezirk Dresden

 

Entdeckungen und Erfindungen verändern die Welt.

 

Kaum eine Erfindung hat die Welt so nachhaltig verändert und späterhin in Schrecken versetzt wie die Kernspaltung, die 1938 Otto Hahn und Fritz Strassmann der Welt offenbarten. 1932 hat Chames Chadwick die Grundlage für die Spaltung des Atoms, das Neutron, entdeckt. Die Physiker jubelten darüber, eine Quelle gefunden zu haben, mit der der Mensch Energie in Überfluss erhalten kann.

 

Wenige Jahre nach der Entdeckung der Kernspaltung wurde der Missbrauch dieser Erfindung mit dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima am 6. August 1945 offenkundig. Zu keiner Zeit in der Geschichte war der Mensch an einer so tragischen Schwelle angelangt, wo es um Sein oder Nichtsein, Untergang oder Fortbestand der Menschheit ging. Der Mensch hat durch seine Fähigkeiten Wunderwerke der Technik vollbracht. Es ist ihm gelungen in die Geheimnisse der Natur einzudringen. Er kann das Leben in der Retorte vorbereiten, kann Organe transplantieren und Krankheiten heilen, die bislang unheilbar waren. Er kann den menschlichen Code entschlüsseln, er kann zum Mond fliegen und Laboratorien im Weltraum positionieren. Menschen können dort längere Zeit leben. Der Mensch hat aber auch in den letzten 50 Jahren seit der Entdeckung der Kernspaltung mehr Möglichkeiten für seine Zerstörung als für seine Erhaltung geschaffen. Durch ein nukleares Inferno kann er unsere Muttererde aus den Angeln heben und für das Weiterleben unbrauchbar machen.

 

In unserem Jahrhundert ist die Weltindustrieproduktion um ein Vielfaches gestiegen, für Erdöl allein um das 100fache. Zurzeit leben etwa 6 Milliarden Menschen auf der Erde und es werden jährlich mehr. Fast 2 Milliarden Menschen werden nicht einmal 60 Jahre alt. Die gleiche Zahl hat keinen Zugang zur elementaren, geschweige denn, hochspezialisierten medizinischen Betreuung oder Zugang zu hygienisch einwandfreiem Trinkwasser. In Südamerika, Ekuador, haben weniger als 12 % der Bevölkerung Zugang zu einwandfreiem Trinkwasser und noch weniger sind an ein sanitäres Abwassersystem angeschlossen. 33% der Männer haben kein festes Arbeitsverhältnis. Heute gibt es auf der Erde mehr als 1 Milliarde Analphabeten. Aller 2 Sekunden stirbt ein Kind an einer beherrschbaren Krankheit oder an Unterernährung. Jährlich sterben nach Schätzung der WHO 50 Millionen Menschen an der Mangelernährung.

 

Es sind die gleichen Opferzahlen, die der furchtbarste aller Kriege, der 2. Weltkrieg, gefordert hat. Rüstung tötet auch ohne Krieg, denn pro Sekunde werden 25Tausend Dollar, pro Stunde 100 Millionen Dollar und pro Tag 2,5 Milliarden Dollar für die Rüstung verschwendet. 3 Stunden Rüstung kosten mehr Geld als der WHO pro Jahr zur Verfügung steht.

 

Nichts rechtfertigt die Verschwendung natürlicher Ressourcen für die militärische Rüstung. Menschliches Wissen wird in Größenordnung für die Rüstung missbraucht. Mehr als ein Drittel der Forscher, Wissenschaftler und Techniker arbeiten heute an der Entwicklung neuer Waffensysteme, die noch schlimmer, schrecklicher und verheerender als die bisherigen sind.

 

Noch besorgniserregender ist die Tatsache, dass der Anteil für die konventionelle Rüstung 3-mal größer ist als der für die atomare Rüstung. Nach UNO-Untersuchungen gibt es gegenwärtig 150000 Panzer, 35000 Kampf-Flugzeuge, 1100 Kriegsschiffe und mehr als 800 U-Boote.

 

Auf der Welt gibt es heute 35 Millionen Soldaten aber nur 4 Millionen Ärzte, in Schwarzafrika sogar nur 35000. Seit dem 2. Weltkrieg hat es auf der Erde etwa 150 militärische Konflikte mit konventionellen Waffen gegeben und über 20 Millionen Tote und doppelt soviel Verwundete und Verstümmelte. Die größten Opfer trugen die Zivilisten.

 

Mit der Entwicklung der Kernwaffen ist die Menschheit an einer Schwelle angelangt, wo Kriege nicht mehr Mittel zur Lösung von Weltproblemen sind. Ein Kernwaffenkrieg lässt keine Differenzierung in Sieger und Verlierer zu, er hat den Untergang der Menschheit zur Folge. Während des 2.Weltkrieges, mit fast 50 Millionen Toten und Verwundeten, wurden 5 Millionen Tonnen Sprengstoff eingesetzt. Beim Abwurf der Atombombe auf Hiroshima starben sofort 100000 Menschen. Eine noch größere Zahl in der 450000 Menschen zählenden Stadt wurde verletzt. Viele litten noch Jahrzehnte lang an den Spätfolgen. Von 298 Ärzten überlebten 18, von 1780 Krankenschwestern 135 und von 45 Krankenhäusern waren gerade noch 5 benutzbar. Der Feuerball der Atombombe soll eine höhere Kerntemperatur als die Sonne gehabt haben.

 

Am 9. August wiederholte sich das furchtbare Ereignis zum 2. Mal in Nagasaki, einer 300000 Einwohner großen Stadt. Die Bombe tötete sofort 70000 Menschen. Die gleiche Zahl wurde schwer verletzt. Wenige Tage später, am 14.August 1945, kapitulierte Japan.

 

Albert Einstein, der fälschlich als Vater der Atombombe
genannt wurde, sagte nach dem Abwurf der Bombe: „Eine neue Art des Denkens ist unbedingt erforderlich, wenn die Menschheit am Leben bleiben und ein höheres Niveau erreichen will. Die Atombombe hat die Beschaffenheit der Welt, wie wir sie heute kennen, von Grund auf verändert und deshalb befindet sich das Menschengeschlecht plötzlich in einer neuen Phase, an die es seine Denkart anpassen muss.“

 

Eine Gewehrkugel kann einen Menschen töten, eine Bombe Häuser zerstören, eine Atombombe Städte vernichten, ein Atomkriege die Erde verwüsten. In den Atomwaffenarsenalen lagern heute 60000 Atombomben mit über 16 Milliarden Tonnen Sprengkraft. Das sind 4 Tonnen Sprengkraft für jeden Menschen, sodass unsere Überlebenschancen bescheiden sind, wenn es zum Supergau kommen sollte.

 

Wenn wir nur jede Sekunde 1 Tonne Sprengstoff zünden würden, bräuchte man 500 Jahre um das angehäufte Potentials zu vernichten. Mit diesem Arsenal könnte man auch 6000 Kriege von der Zerstörungskraft des 2. Weltkrieges führen. Das Potential reicht aus um 155 Milliarden Menschen zu töten. Aber auch das Potential der konventionellen Waffen hat eine Zerstörungskraft, die dem nuklearen Holocaust kaum nachsteht.

 

Zu allen Zeiten, in denen die Bedrohung der Menschen groß war, vereinten sich Ärzte, um die Gefahren abzuwenden, indem sie bei Mängeln und Missständen Vorsorge trafen, Menschen aufklärten und Neues erprobten, oft unter Einsatz ihres Lebens. Die Seuchen der vergangenen Jahrhunderte waren oft schrecklicher als die Kriege. Wir Ärzte, die die medizinischen Konsequenzen eines Nuklearkrieges kennen, wissen, dass eine medizinische Hilfe in einem solchen Konflikt unmöglich ist. Bernhard Lown, der Präsident der 200000 Ärzte zählenden IPPNW, sagte: "Vielleicht wird einmal in den Annalen der Geschichte stehen. dass die größte Errungenschaft der Ärzte der Welt nicht allein darin bestand, Seuchen, Krebsleiden, Herzkrankheiten, Infektionen von der Welt entfernt zu haben, sondern auch der großen Herausforderung unserer Zeit der atomaren Bedrohung getrotzt zu haben."

 

Kaum eine Vereinigung der Ärzte hat in so kurzer Zeit eine so weltweite Verbreitung gefunden wie die IPPNW, die von amerikanischen und sowjetischen Ärzten angesichts der nuklearen Bedrohung gegründet wurde. Ihre Leistung wurde mit Nobelpreis, dem UNESCO-Friedenspreis geehrt. Staatpräsidenten und Regierungschef vieler Länder haben der Organisation vollen Erfolg gewünscht.

 

Eine unpolitische Medizin ist eine Illusion. Dies hat bereits Rudolf Virchow veranlasst, mit politischem Engagement zur Veränderung und Vorbeugung im Gesundheitswesen einzutreten. Von der Tribüne des preußischen Abgeordnetenhauses aus hat er mit Nachdruck gesagt: "Wer an den Dingen seiner Stadt keinen Anteil nimmt ist nicht ein stiller, sondern ein schlechter Bürger, wie Perikles bereits vor 2500 Jahren festgestellt hat."

 

Im Zeitalter der Hochtechnologie, wo Kernkraftwerke und Raumfahrt mit höchstmöglicher Sicherheit betrieben werden, ist es dennoch zu folgenschweren Unfällen gekommen, die durch technisches und menschliches Versagen geschahen. Tschernobyl, Harrysburg, Bhopal, Challenger sind schlimme Beweise dafür. Tschernobyl geschah angesichts eines voll funktionierenden Gesundheitssystems. In kürzester Zeit kamen 230 Einheiten der 1. ärztlichen Hilfe zum Einsatz. 5000 Ärzte und Krankenschwestern wurden in das Katastrophengebiet geflogen. 1100 Busse transportierten in 3 Stunden 100000 Menschen aus der Gefahrenzone. 300 Strahlengeschädigte wurden nach Moskau geflogen und für jeden Geschädigten wurden 3 medizinische Mitarbeiter abgestellt. Alle Moskauer Blutbanken arbeiteten rund um die Uhr, die freiwillige Blutspendenaktion lief auf Hochtouren. Die Knochenmarktransplantation, als aufwendigste und modernste Methode, hat enttäuscht. Neben dem menschlichen Leid bewegte sich der ökonomische Schaden an einer zweistelligen Milliardengrenze.

 

Die medizinischen Folgen ionisierender Strahlen sind seit Conrad Roentgen bekannt. Er starb an den Folgen eines strahleninduzierten Knochensarkoms. Marie Curie, die Entdeckerin der natürlichen Radioaktivität und ihre Tochter Irene Curie, die Entdeckerin der künstlichen Radioaktivität, wurden Opfer ionisierender Strahlen. Beide starben, nach dem Erhalt des Nobelpreises, an einer strahleninduzierten Leukämie. Die Spätfolgen radioaktiver Strahlung sind am grausamsten an den Atombombenopfern von Hiroshima und Nagasaki belegt worden in der Erhöhung der Krebsrate, der Leukämie, der Fertilitäts- und Wachstumsstörungen, der genetischen Störungen, der hohen Mutationsraten und Entwicklungsstörungen, der zerebralen Defekte bei Expositionen im Mutterleib.

 

Die ärztliche Verordnung der IPPNW, der umfassende nukleare Teststopp, ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Einstellung des Wettrüstens. Wir können uns den Worten von Albert Schweitzer nur anschließen, der unser Anliegen treffend so formulierte: „Weil offenbar, was für ein furchtbares Übel ein Krieg in unseren Zeiten wäre, darf nichts unversucht bleiben, ihn zu verhindern.“

 

Helfen und heilen, seit Jahrtausenden das Berufsethos des Arztstandes, ist in den Zeiten der Konfrontation mehr als infrage gestellt. Mit Nachdruck unterstützen wir die weltweite Kampagne der IPPNW für einen umfassenden Nuklear-Stopp. „Cease fire 88“, wo wir zum Ausdruck gebracht haben: Wir Ärzte, die wir von Berufswegen geschworen haben, alles in unserer Kraft stehende zu tun, um die Gesundheit der Menschen zu schützen und zu erhalten, appellieren an die Politiker der Welt, der Sehnsucht der Menschen nach Frieden Rechnung zu tragen.

 

Mit Sorge haben wir von den Kernwaffentests in Semiplatinsk am 6.2.1988 und in Nevada am 15.2.1988 Kenntnis erhalten. Wir sind der Überzeugung dass ein Wetteifern zwischen der SU und der USA auf diesen unheilvollen Gebiet ernste Gefahren in sich birgt. Diese Tests müssen als Verstoß gegen unsere ärztlichen Forderungen auf Nuklearteststopp angesehen werden, wogen wir unsere Stimme erheben.

 

Der Weg der Abrüstungsinitiative über Genf, Reykjavik und Washington zeugt davon, dass sich das neue Denken nicht nur der Hirne bemächtigt hat, sondern inzwischen auch die Weltpolitik beeinflusst. Gute Nachbarschaft muss zur Lebensform der Völker werden. Dies ist eine neue Qualität der immer stärker werdenden Friedenskraft auf dem Weg in ein atomwaffenfreies neues Jahrtausend deshalb müssen wir den atomaren Overkill in den Müllhaufen der Geschichte versenken.

 

Die IPPNW hat in ihre kurzen Geschichte mehr vollbracht als nur 200000 Ärzte aus 56 Ländern der Erde zu vereinigen, sie hat ein wesentliches Stück Zeitgeschichte mitgeschrieben und zum Guten gestaltet, indem sie die Menschen wachrüttelte und in ihrem Denken beeinflusste.

 

Impressum

Texte: Klaus Köhler
Bildmaterialien: pixabay.com
Cover: Wolf Rebelow
Tag der Veröffentlichung: 03.11.2019

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