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Kapitel 1

Es war Montag. Ein ganz normaler Tag am Anfang der Woche.

Mein Wecker klingelte zum fünften Mal. Vorsichtig schob ich meine Hand unter der Decke hervor und schaltete ihn endgültig aus. Vielleicht vergaß meine Mutter mich ja, wenn sie ihn nicht hörte.

Ich zog mir erneut die Bettdecke über den Kopf und drückte mich ganz nah an die Wand.

Schritte waren auf dem Flur zu hören.Die Zimmertür öffnete sich, ich hielt die Luft an. Am besten sollte sie verschwinden und sich den Rest des Tages nicht mehr blicken lassen!

Sie setzt sich stumm an mein Bett und ich merkte, wie ihre Hand sich unter die Bettdecke stahl und meine Schulter rieb. Ihre Finger waren eiskalt, ich bekam eine Gänsehaut.

"Guten Morgen, meine Maus", flüsterte sie. Ihre Lippen waren ganz nah an meinem Ohr. "Ich wollte dich extra etwas früher wecken, damit du noch genügend Zeit hast, um dich fertig zu machen."

"Ich will mich nicht fertig machen", antwortete ich und kauerte mich zusammen.

Meine Mutter schwieg. Ich schwieg. Mittlerweile war ich wach und starrte die hellrote Wand an.

"Bitte. Du hast es mir und deinem Vater versprochen. Ich weiß, wie schwierig es ist, Emma."

Du hast es versprochen.

Du hast es versprochen.

Du hast es versprochen!

Ich kniff die Lippen zusammen und drehte mich ganz langsam um.

Meine Mutter lächelte traurig. Meine Kopf bewegte sich mechanisch auf und ab.

"Ja, Mama. Ich habe es euch versprochen."

Sie drückte mich an sich und ich konnte den Duft von Kamille in ihrem dunklem welligen Haar erkennen.

"Es wird alles gut." Sie küsste mich leicht. "Du hast zwei Stunden, um dich fertig zu machen. Ich habe dem Direktor gesagt, dass du erst zur dritten Stunde kommst. Er hat Verständnis dafür."

Meine Mutter erhob sich und ihr Morgenmantel aus Seide glitt wieder bis zu ihren Füßen.

In der Tür drehte sie sich noch mal um. "Ich habe das Badewasser schon eingelassen. Wenn du fertig bist, sag Bescheid, dann setzte ich dir einen Tee auf."

Leise zog sie die Tür hinter sich ins Schloss.

Ich atmete tief ein und aus, bis ich mich schließlich aufrichten und die Daunendecke von meinen Beinen schieben konnte.

Meine schmalen Füße berührten den kuscheligen dunkelroten Bettvorleger und gedankenverloren zeichnete ich Muster mit meinen Zehen. Meine Mutter wusste, dass ich Zeit brauchte, um mich fertig zu machen, dass ich jeden Morgen ein heißes Bad benötigte, um meine Haut einweichen zu können.

Einweichen, einweichen, einweichen. Immer wieder. Jeden Tag.

Vorsichtig verlagerte ich das Gewicht meines Körpers auf meine Füße, erst auf den linken, dann auf den rechten. Schließlich schaffte ich es bis zu meiner Zimmertür und ergriff die kalte Türklinke.

Meine Mutter war bestimmt schon wieder nach unten gegangen, um mir das Frühstück vorzubereiten. Ich war mir nicht sicher, ob ich den Gang in das Badezimmer schräg gegenüber von meinem Zimmer ganz alleine schaffen würde.

Mit geschlossenen Augen verließ ich mein Zimmer, tastete mich an der Raufasertapete bis zur Badezimmertür und traute mich erst wieder die Lider zu öffnen, als ich vor der Badewanne stand und das Wasser plätschern hörte. Meine Mutter hatte Vanilleschaum dazu gegeben. Wie lieb von ihr.

Aber vermutlich war das auch nur dafür da, um den strengen Geruch der Medizin zu überdecken.

Trotzdem war es nett von ihr, es mir so leicht zu möglich zu machen.

Mein Gehirn lief im Leerlauf, während ich mir Unterhose und T-Shirt auszog und mich in die Wanne gleiten ließ. Das Wasser schwappte angenehm über meine Beine, über meinen Bauch, bis es schließlich auch meinen Hals bedeckte. Bald würde es anfangen zu brennen, das wusste ich, doch bis dahin musste ich es aushalten. Ich griff nach der Shampooflasche auf dem Badewannenrand, wusch mir die Haare und rutschte so tief ins Wasser, bis nur noch mein Gesicht frei war.

Die Zeit verging, das Wasser kühlte sich immer mehr ab und ich begann zu frösteln, als ich mich aufsetzte, um den Stöpsel raus zu ziehen. Der Schaum bedeckte meinen Körper noch immer und so konnte ich meine Haut vom Hals abwärts nicht sehen, darüber war ich sehr froh. Vielleicht hatte meine Mutter auch extra deswegen viel Schaum dazu gegeben.

Vor einem halben Jahr hatte mein Vater den großen Spiegel an der Tür abgehängt und so konnte ich nur mein Gesicht in dem runden Spiegel über dem Waschbecken erkennen. Dennoch warf ich keinen Blick hinein, sondern nahm direkt meinen Bademantel und verließ das Bad.

Es war ein Ort, wo ich mich wie gefangen fühlte und den Schäden restlos ausgesetzt war.

 

Meine Mutter stand tatsächlich in der Küche vor dem Fenster und trank ihren Kaffee.

Ich klopfte leicht an den Türrahmen, doch sie erschreckte sich trotzdem und wirbelte herum.

"Ach, du bist's", murmelte sie und deutete auf den gedeckten Esstisch. "Ich habe dir ein Croissant aufgebacken und einen Erdbeertee gekocht, war doch richtig, oder?"

Ich nickte und rutschte auf die gemütliche Eckbank. Das Croissant war noch warm und auch der Tee dampfte noch und verbreitete einen süßlichen Duft.

"Hast du das Bad genossen, meine Kleine?" Sie setzte sich mir gegenüber und verknotete ihre Finger.

"Natürlich, Mama. Danke für den Schaum." Ich ließ drei Zuckerwürfel in meine Tasse plumpsen und rührte um.

"Das habe ich doch gerne gemacht. Hast du dich schon eingecremt?"

Ich schüttelte stumm den Kopf und biss von dem Croissant ab.

Nein, eincremen konnte ich mich noch nicht alleine. Das schaffte ich einfach noch nicht.

Das Frühstück verlief weiterhin schweigend. Ich hatte gar keinen Hunger, dennoch aß ich etwas, um meine Mutter zu beruhigen. Sie regte sich ohne hin schon zu sehr auf. Dennoch verstand ich sie. Sie hatte einfach nur Angst.

Sie folgte mir in mein Zimmer, griff zu der großen Dose mit der gelblichen Creme und ich ließ den Bademantel auf den Boden gleiten, um mich von ihr einreiben zu lassen. Ihre Hände waren noch immer kalt, aber diesmal verursachte es bei mir keine Gänsehaut. Es war angenehm und beruhigte meine brennende und juckende Haut.

"Das tut gut, nicht wahr?". Ihre Hände wanderten über meine Schulter. "Deine Haut ist schon viel weicher als vor einem viertel Jahr. Du machst Fortschritte, Emma, das wird Maria beruhigen, dass du dich nicht mehr so unter Druck setzt."

Ich atmete tief durch und verzog das Gesicht. "Mama, die haben einfach nur sauber gearbeitet und deshalb verheilt es so gut und außerdem ist das nicht meine Haut." Meine Stimme versagte, doch meine Mutter hatte mich verstanden. Ihre Hände wurden schneller und sie sagte kein Wort mehr, bis sie schließlich die Dose zuschraubte und mich wieder allein ließ.

Ich schlurfte zu meinem Schrank, zog irgendwas zum Anziehen heraus und ließ mich auf mein Bett fallen. Meine Mutter hatte etwas vergessen. Nein, ich traute mir nicht zu, diese Aufgabe zu übernehmen, ich wollte nicht schon wieder, wie so oft, die Kontrolle verlieren und mich auf dem Boden wieder finden, es war einfach zu riskant.

Ich rief nach meiner Mutter und zwei Sekunden später stand sie schon in der Tür.

Sie warf mir einen entschuldigenden Blick zu, während ich frische Unterwäsche aus der Kommode holte.

Sie griff zu den ordentlich aufgewickelten elastischen Binden und fing an meine Beine einzuwickeln. Ihre Griffe wurden von Mal zu Mal geschickter. Sie brauchte nicht lange, um auch meinen Oberkörper einzuwickeln und das Ende fest zu stecken.

"Jetzt kannst du wieder die Augen öffnen". Sie strich mir kurz über das Gesicht. "Alles ist bedeckt. Soll ich dir beim Anziehen helfen?"

Ich schüttelte den Kopf. "Nein, Mama, das schaffe ich alleine. Aber danke". Ich rang mir ein Lächeln ab, stieg in die dunkelblaue Jeans und knöpfte die einfache rote Bluse zu. Jetzt konnte ich wieder mit offenen Augen durch die Welt laufen. Ich seufzte. Meine Haare machte ich zu einem einfachem geflochtenen Zopf, das Make-Up ließ ich weg.

 

Auf den Straßen in der Innenstadt war nicht viel los. Meine Mutter fluchte über keinen Stau und das Radio dudelte fröhliche Sommerlieder. Stumm schaute ich aus dem Seitenfenster, die Schultasche mit einem Schreibblock und der Stiftmappe fest an meine Brust gepresst. Die Läden hatte schon alle geöffnet und stellten ihre Werbeschilder auf den Bürgersteig.

Die Sonne wärmte und lockte die Menschen auf die Straßen, der Himmel war blau und ließ so den Vögeln freie Bahn. Meine Mutter kurbelte das Fenster runter und setzte sich die Sonnenbrille auf die Nase. Es waren bestimmt schon über 24 Grad draußen und das, obwohl wir erst kurz vor elf hatten.

Sie bog um die letzte Ecke, bremste vor dem großen Schultor ab und setzte die Blinker. Hier war Parkverbot. Ich musste mich beeilen, damit sie wieder los konnte. Mit wackeligen Knien öffnete ich die Tür und ließ mich vom Sitz gleiten.

Meine Mutter beugte sich zu mir und gab mir einen Kuss. "Du schaffst das! Sie kennen dich nicht, das heißt, sie wissen nicht, was passiert ist. Fang von vorne an."

Ich nickte und schlug die Tür zu.

Sie hupte ein letztes Mal und brauste davon.

Kapitel 2

Sie befanden in der Pausenhalle. Zu dritt. Lässig hatten sie sich auf die breite Fensterbank gehockt und baumelten mit den Beinen.

Die Tür schlug laut hinter mir zu und die drei Augenpaare hefteten sich auf mich. Ihre Mimik blieb stumm. Ich wusste nicht, dass sie noch hier waren. Hatte Mama mir nicht gesagt, sie hätten die Schule verlassen müssen? Anscheinend nicht. Ich schluckte krampfhaft und wandte den Blick ab. Die anderen Schüler hatten mich nicht bemerkt und unterhielten sich weiterhin in ihren kleinen Gruppen. Ich schlängelte mich zu einer der Holzbänke durch und ließ mich erleichtert nieder. Ein großer Junge mit breitem Kreuz versperrte den Blick auf mich, darüber war ich sehr froh, dennoch kauerte ich mich zusammen und starrte auf meine Fingernägel.

"Na, Emma?"

Ich erschreckte mich so sehr, das ich mir mit Wucht den Kopf an der Steinwand stieß.

"Nicht so schreckhaft!". Sie kicherte.

Zentimeter um Zentimeter hob ich den Kopf und starrte in große braune Augen. Merle war es. Die langen Haare hatte sie hell blond gefärbt und zu einem wirren Dutt zusammen gesteckt.

"Was machst du hier? Ich dachte deine Eltern hätten dich weg gebracht!" Das Mädchen auf ihrer linken Seite grinste breit und ließ ihr Kaugummi laut zerplatzen.

"Nein.", erwiderte ich mit fester Stimme, "Ich bin auf dem Weg der Besserung und wieder reif für die Schule."

Die drei lachten höhnisch. "Na dann! Such dir mal wieder nen Platz hier und lass dich nicht unter kriegen". Lara schlug mir feste auf die Schulter, hakte sich bei ihren Freundinnen unter und sie verschwanden wieder in der Menge.

Meine Augenlider begannen zu flattern. Ich atmete stoßweise ein und aus, versuchte mich zu beruhigen und legte meinen Kopf auf die Knie.

Ich war mir nicht sicher, ob sie mich in Ruhe lassen würden. Sie würden auf mir rum hacken und mich so lange fertig machen, bis ich die Schule verlassen würde.

Keine von ihren war mehr wie früher. Warum waren sie so anders geworden? War ich es Schuld? Vor einem halben Jahr hatten wir ja noch gemeinsam die Nächte durchgefeiert.

Damals.

Damals.

Damals.

Ich merkte, wie ich unter der Bluse und den Binden, die meine Mutter mir bis unter die Achseln gewickelt hatte, zu schwitzen begann. Ein großer, großer Fehler!

Der laute Gong riss mich aus meinen Gedanken. Die Schüler tauchten in verschieden Gängen ab und ich versuchte wieder meinen Kopf frei zu bekommen, indem ich mit weichen Knien in den ersten Stock zum Sekretariat stieg.

Es hatte sich nichts geändert, in der Zeit, in der ich zu Hause gewesen war. Die Wände waren nach wie vor blass blau gestrichen, einige Schüler erkannte ich wieder und auch einige alte Klassenkameraden stießen auf mich. Sie blickten mich ausdruckslos an, wie ich an ihnen vorbei lief. In langer Hose, Jeansjacke und einem breitem Seidenschal. Und das im Hochsommer. Natürlich war ich eine außergewöhnliche Erscheinung, doch die anderen wussten es vermutlich, sagten jedoch nichts, sondern schnappten nur vereinzelt nach Luft.

Ich war froh, als ich endlich in den Lehrerflur abbiegen konnte, es leiser wurde und ich nur noch vereinzelt einem Lehrer begegnete, der mir freundlich zunickten.

Frau Petrie, die Sekretärin, brachte mich sofort zu einem jungen Lehrer, den ich in meinen letztem Schuljahren noch nicht im Unterricht hatte. Er stellte sich mir als Herr Lux vor. Er war groß und hager und mit seinen langen Fingern hielt er eine abgewetzte dunkelbraune Ledertasche an die Brust gepresst.

Mein neuer Klassenraum befand sich im zweiten Stock und ich hielt die Augen nach den drei Gören offen, ob ich sie irgendwo entdecken konnte, doch sie blieben wie vom Erdboden verschluckt. Man hatte mich eine Klasse zurück gestuft und so befand ich mich nun in einer zehnten Klasse.

Herr Lux schloss die Tür auf und meine Mitschüler stürmten herein. Ich sicherte mir einen Einzelplatz am Fenster, dennoch beäugten mich die anderen neugierig. Ihre Blicke bohrten sich in meinen Rücken und ließen mich nicht mehr los, bis der Lehrer mit der flachen Hand auf das Lehrerpult schlug.

"So, meine Leute! Erst mal einen schönen guten Morgen."

Allgemeines Gemurmel, meine Lippen bewegten sich lautlos.

"Ich hoffe, ihr habt euch in den Sommerferien schön erholt und die schönen Temperaturen genossen. Doch es ist jetzt euer letztes Jahr in der Mittelstufe und diesmal könnt ihr es euch auch nicht erlauben, einfach den Kopf in den Sand zu stecken, habt ihr verstanden?"

Kopfnicken in den ersten Reihen, gequältes Brummen in den hinteren.

"Jetzt aber zu einem ganz anderem Thema", Herr Lux setzte sich auf sein Pult und deutete auf mich.

"Das ist Emma. Sie musste das Schuljahr wegen Krankheit wiederholen. Ich will euch bitten, sie freundlich bei euch aufzunehmen."

Ich verdrehte die Augen. Immer das gleiche Gerede.

Meine Mitschüler nickten wortlos und erneut wurde mein Rücken von Blicken durchbohrt.

"Ich verlasse mich auf euch, Leute!", Herr Lux wand sich zur Tafel, "Ich unterrichte euch weiterhin in Deutsch und Geschichte. Heute fangen wir mit dem Kommunismus an, schreibt das bitte ab."

Er gestattete mir, in der Pause drin zu bleiben. Ich wollte mich nicht in der Hitze quälen müssen und vermutlich noch den Dreien begegnen.

Da lehnte ich mich lieber aus dem offenen Fenster und schaute dem bunten Treiben von oben zu.

Mein Herz beruhigte sich langsam und da die anderen Schüler alle in die Sonne geflohen waren, traute ich mich, vorsichtig meinen Schal zu lockern, um Luft an die juckende Haut zu lassen.

Doch mit dem Jungen, der plötzlich neben mir stand, hatte ich nicht gerechnet.

Ich wirbelte herum und zog den Schal wieder ruckartig zu. Doch zu spät.

Er hatte es schon gesehen.

"Was guckst du so?", fuhr ich ihn an und wandte mich ab.

"Was ist mir dir passiert?", flüsterte er und seine Augen starrten unentwegt  auf meinen nun bedeckten Hals.

"Nichts, was dich interessieren könnte!" Unruhig rieb ich mit den Händen über meine Jeans.

Er legte den Kopf schief. "Wir haben Sommer! Warum bist du so warm angezogen?"

Ich zuckte mit den Schulter. "Mir ist schnell kalt."

Natürlich glaubte er mir nicht.

Unbeirrt von meiner abweisenden Art streckte er mir seine Hand entgegen. "Ich bin übrigens Jan."

Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und ignorierte seine Hand.

Sein Blick wanderte über meine Oberkörper, hoch und runter.

Er trat etwas näher. "Die anderen haben erzählt, deine Brüste seien ver..."

Ich schrie. Schrie und schrie.

Jan wich zurück und floh aus dem Klassenraum.

Schluchzend ließ ich mich auf dem Boden fallen und begann zu kratzen. Es juckte immer mehr. Ich sah Blut an meinen Fingernägeln. Tränen liefen mir über das Gesicht und ich rollte mich auf dem Boden hin und her.

Jemand hatte Herrn Lux gerufen. Bestimmt dieser Jan!

Er packte mich und schüttelte meinen Kopf hin und her.

"Beruhige dich, Emma! Was ist denn passiert?!"

Ich antworte nicht, sondern bohrte mir die Nägel in den Nacken.

Er schleifte mich aus dem Raum und runter zum Sekretariat.

Frau Petrie rief sofort meine Mutter an und ich setzte mich mit angewinkelten Knien auf die harten Holzstühle.

"Deine Mutter kommt gleich, Emma." Die kleine Frau hielt mir eine Packung Taschentücher hin.

Wortlos wischte ich mir die Tränen ab und drückte mein Gesicht in den Schal.

Sie rieb mein Knie. "Was ist denn passiert?"

Ich schüttelte den Kopf.

Frau Petrie erhob sich und nickte langsam.

Ich sprach so lange kein Wort, bis meine Mutter die Tür öffnete und ich mit weichen Knien aufstand.

Sie bedankte sich bei der Sekretärin und führte mich raus. Der Unterricht hatte mittlerweile wieder begonnen und wir begegneten auf dem Weg zum Auto keiner Menschenseele.

Meine Mutter öffnete mir die Tür und schnallte mich an. Wortlos startete sie den Motor und reihte sich in den Verkehr ein.

"Was war los mit dir?"

Es war eine rein rhetorische Frage und ich war auch nicht in der Lage zu antworten. Mit zusammengepressten Lippen schob ich die Hände unter die Oberschenkel und ließ den Kopf auf die Brust sinken.

Es juckte noch immer, jedoch hatte meine Mutter den Schal so gebunden, das ich nicht mehr an meine nackte Haut kam.

Mit tiefen Atemzügen versuchte ich mich zu beruhigen und die Zeit bis nach Hause zu überstehen.

Meine Mutter brachte mich auf mein Zimmer. Ich zog mich aus und verkroch mich unter der Decke. Die kühle Bettdecke tat gut auf meiner gereizten Haut.

Kurz darauf kam meine Mutter mit einer Schale kaltem Wasser und einem weichen Tuch zurück.

Sie setzte mich neben mich, schob die Decke zurück und löste meine Binden.

Ich seufzte erleichtert und legte mir die Hand über die Augen.

"Du hast wieder geschwitzt, nicht wahr?"

Ich nickte. Sie schwieg.

"Warum musstet du grade deinen Hals wieder aufkratzen? Alles ist wieder offen."

"Weil ich da nicht diese scheiß Binden habe", flüsterte ich.

Ich hörte, wie sie das Tuch ins Wasser tauchte und spürte, wie sie vorsichtig meine Hals abtupfte.

Der Juckreiz ließ endlich nach. Endlich!

Mein Atem ging ruhiger und als die Salbe einmassiert wurde, schloss ich meine Augen und wurde immer müder. Ich merkte nur noch, wie meine Mutter meine Hände in meine Samthandschuhe steckte, damit ich keine neuen Wunden kratzen konnte, und leise hauchte. "Es war einfach noch zu früh", dann war ich eingeschlafen

Kapitel 3

 

Die Eisbahn war so voll, dass Merle und ich unser schnelles Tempo nicht mal für eine Runde beibehalten konnten.

"Immer diese kleinen Kinder!", beschwerte sie sich und packte meine Hand. "Komm, wir wärmen uns etwas auf."

Sie zog mich quer über die Fläche und bremste vor der Bande, wo Lara mit vier Tassen heißem Glühwein stand.

"Meine Knochen sind komplett eingefroren", lachte ich und wärmte mir die Hände an meiner Tasse. Die Kälte war mittlerweile auch durch die dicken Handschuhe gekrochen.

Gina boxte sich zwischen zwei dicken Männern durch und schwenkte eine große Packung Kekse hin und her.

Merles Augen strahlten, sie klatschte begeistert in die Hände.

"Komm!", sie zog mich vom Eis. "Meine Füße tun schon weh von diesen verdammten Schlittschuhen."

Es dauerte eine Weile, bis ich endlich wieder in meinen warmen Pelzstiefeln stand und wackelig, mit meinen und Merles Schlittschuhen im Arm, zum Ausleihstand ging.

Meine Freundinnen warteten schon vor einem der vielen Süßigkeitenständen auf mich und gemeinsam zogen wir ein weiteres mal über den Weihnachtsmarkt.

 

Es war schon seit Anfang November so bitterkalt und der Weihnachtsmark war, mit den vielen kleinen Ständen und der Eisbahn als Treffpunkt junger Leute, wie immer sehr beliebt.

Die Weihnachtsferien begannen in einer Woche und die meisten Familien wollten, bevor es in den Skiurlaub ging, noch einmal den riesigen geschmückten Weihnachtsbaum auf der Mitte des Marktplatzes sehen.

Dieses Jahr blieben all meine Freundinnen in den Ferien zu Hause und sogar Gina konnte ihre Eltern davon abhalten, den traditionellen Urlaub in die Alpen anzutreten. Schließlich war in vier Tagen mein 16. Geburtstag und den wollten wir alle zusammen mit einer mächtigen Party feiern.

"Lasst uns zum Fluss gehen. Da müssen wir nicht schreien, damit der andere uns versteht."

Am Fluss hatten wir vor einem halben Jahr ein gemütliches Eckchen gefunden, wo wir ungestört für uns waren.

Wir leerten unsere Becher und bogen kichernd in eine der Seitenstraßen ab.

 

Unser Trupp zog immer zu viert los. Konnte eine mal nicht, wurde die Verabredung abgesagt, oder die Eltern so lange bequatscht, bis auch die Vierte konnte.

Meine Eltern waren froh, dass ich so gute Freundinnen gefunden hatte und waren begeistert von Merles erwachsener

Art und ihrer Vernunft.

 

Der Fluss war zugefroren und lag still und einsam da.

Lachend ließen wir uns den Hang hinunterrutschen und landeten in einem Bett aus Laub und Blättern.

Lara schaltete Musik auf ihrem Handy an und gierig naschten wir die Kekse.

"Noch vier Tage, dann wird unsere Emma endlich sechzehn! Juhu!". Merle schlang den Arm um mich und gab mir ein Küsschen.

Ich lachte. "Wird ja auch endlich mal Zeit." 

Die anderen waren schon sechzehn geworden und ihre Feiern hatten immer mit reichlich Alkohol stattgefunden.

Angefangen mit Bier, geendet mit Weingemischen und Wodka.

Die Stimmung hatte regelmäßig das erwartete Maß überschritten, doch es waren die besten Erlebnisse des Jahres.

"Ich habe dafür gesorgt, dass meine Eltern bei meiner großen Schwester in Wien sind und auch Lars ist bei einem Kollegen." Lara ließ sich von uns bejubeln.

Natürlich konnte ich mein Geburtstag nicht zu Hause feiern! Meine Eltern würden ausflippen, wenn wir das Haus so verwüsten würden, wie regelmäßig bei Lara.

Ihr Bruder war zweiundzwanzig und ließ sich regelmäßig von seiner kleiner Schwester für Geld bestechen, uns Alkohol zu besorgen. Für Ginas Geburtstag musste sie sogar 50 Euro zahlen, damit er loszog.

"Aber ich habe noch nicht mit meinen Eltern geredet", gab ich leise zu.

"Das wird schon kein Problem". Merle zwinkerte mir zu. "Wir haben das bis jetzt immer geschafft, nicht wahr?"

Die anderen johlten und nickten bestätigend.

Ich war mir da nicht so sicher, doch irgendeine gute Ausrede würde mir noch einfallen.

Im Laufe der nächsten halben Stunde löste sich die Gruppe auf. Gina musste noch ihre kleine Schwester von der Oma abholen, Merle wollte unbedingt vor Ladeschluss noch bei ihrem Lieblingsgeschäft vorbeischauen und ich hatte meiner Mutter versprochen, pünktlich zum Abendessen zu Hause zu sein.

 

Sie saßen schon am Esstisch, als ich die Haustür schloss.

"Das Essen ist gerade fertig geworden!", rief mein Vater aus der Küche.

"Schön, dass du so pünktlich bist, Emma", begrüßte mich meine Mutter und schaufelte mir Reis auf den Teller.

"Natürlich", erwiderte ich gelassen und goss mir ein Glas Orangensaft ein.

Unser Familienleben war mehr als besinnlich und ich war auch immer die liebe, brave Tochter und eine gute Schülerin.

Von den Rumhängereien mit meinen Freundinnen wussten sie nichts. Auch die anderen drei gaben zu Hause ein fabelhaftes Bild ab.

Je lieber wir waren, desto mehr Spaß konnten wir draußen haben.

"Was habt ihr gemacht?" Meine Mutter setzte sich an den Tisch und rührte die Soße auf ihrem Teller unter.

"Wir sind ein bisschen auf dem Weihnachtsmarkt gewesen und haben ein paar Runden auf der Einfläche gedreht", antworte ich mit vollem Mund. Das Essen schmeckte vorzüglich!

"Wie schön", rief sie erfreut und schenkte meinem Vater ein Lächeln, "es ist doch toll, das sie sich so gut mit denen versteht, nicht wahr, Franz?"

Mein Vater nickte, vertiefte sich dann aber wieder in seine Zeitung.

Sie waren zufrieden mit mir und schenkten mir ihr ganzes Vertrauen. Das machte einiges leichter.

 

Es war schon spät, als ich mich aus dem Wohnzimmer verabschiedete, um mich auf mein Zimmer zu verziehen.

Ich machte einige Kerzen an, ließ das Radio leise dudeln und griff zu meinem Buch. Grad mal zwei Seiten schaffte ich, als mein Handy klingelte.

Eine SMS von Merle. "Morgen ist bei Felders im Garten 'n Lagerfeuer. Kommst du? Ginas Eltern sind nicht da ;)"

Ich grinste. Es war mal wieder Party angesagt!

Meine Eltern würden mich bestimmt für zwei Stunden abends weglassen, es war ja schließlich Samstag.

 

Ja, meine Eltern ließen mich weg. Die Sache war schon beim Frühstück geklärt. Mein Vater musste sowieso bei einem Freund das Dach reparieren und meine Mutter wollte einen gemütlichen Nachmittag mit Tante Birgit in der Teestube verbringen und so hatte keiner etwas dagegen, dass ich so gegen elf Uhr abends zurück kommen würde.

 

Lara hatte für Getränke gesorgt.

Das merkte ich direkt schon, als Gina mir die Tür öffnete. Es roch durchdringend nach Glühwein.

Ich zog den Geruch tief ein. Gina lachte und nahm meinen Mantel entgegen. "Meine Eltern haben nichts dagegen einzuwenden, wenn eine Flasche fehlt."

"Du hast sogar gefragt?" Lara streckte den Kopf aus der Kochnische, "Das ist ja mal was ganz Neues! Ach, hallo Emma."

Ich nickte zur Begrüßung und folgte meiner Freundin ins Wohnzimmer. Der Fernseher lief, zusätzlich kam laute Tanzmusik aus der Küche.

Lara kam zu uns getänzelt und umarmte mich.

"Weißt du schon das Neueste?"

Ich schüttelte den Kopf.

"Merle bringt Jungs mit!", rief Lara vergnügt und hüpfte um mich herum. Ich blickte sie erstaunt an. Ich hatte mich ganz normal für einen Mädelsabend angekleidet. Jeans, Pullover, die Haare unspektakulär hochgesteckt und etwas Wimperntusche aufgetragen. Und jetzt sollten Jungs hier antanzen?

"Warum hat mir das niemand gesagt?" Entgeistert guckte ich an mir herunter.

"Hey, Jungs schätzen Natürlichkeit." Gina hatte meinen Blick bemerkt und kniff mir in den Arm, "Du siehst super aus!"

"Haha", machte ich trocken und ließ mich auf das weiße Sofa fallen. Ja, ein bisschen eingeschnappt war ich schon.

Kurz darauf schellte es an der Tür. Ich schreckte hoch. Das konnten nur Merle und ihre beiden Freunde sein. Schnell strich ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und zog den Pullover zurecht, Gina zwinkerte mir zu und verschwand im Flur.

"Habt ihr schon alles vorbereitet?". Merles Stimme.

"Natürlich!", antwortet Lara aus der Küche und kam mit einem Tablett gefüllter Tassen ins Wohnzimmer.

Gina brachte die drei zu uns. Merle sah reichlich verfroren aus und ihre Haare saßen vom Wind auch etwas schief, aber sie strahlte.

Die beiden Jungs folgten ihr mit ein wenig Abstand.

Beide groß und kräftig gebaut. Der eine hellblonde Haare, der andere sehr kurze schwarze. 

Etwas verlegen standen sie herum, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Ich musterte sie neugierig.

Sie sahen nett aus, waren aber bestimmt schon Anfang zwanzig. Zu alt für mich, beschloss ich schnell.

"Setzt euch". Lara deutete auf die beiden Korbsessel gegenüber des Sofas. Die beiden nickten und setzte sich.

Merle kletterte über die Rückenlehne und quetschte sich neben mich.

"Das ist übrigens Phil", sie deutet auf den linken, "und der andere ist Max. Sie waren mal gute Freunde von meinem ältesten Bruder."

Die beiden schwiegen und grinsten nur etwas schief.

"Jetzt sitzt hier nicht wie Hühner auf der Stange!". Lara griff zu einem der Becher und hob ihn hoch. "Lasst uns auf den Abend anstoßen!"

Schnell lockerte sich die Stimmung etwas, Gina drehte die Musikboxen auf und Lara zog mich hoch, um zu tanzen.

Bald kamen auch Phil und Max hinzu und wir hüpften herum.

Es wurde viel gelacht, viel Glühwein getrunken und als es dann eindeutig zu warm in der Bude wurde und wir Kopfschmerzen von den Bässen bekamen, zogen wir unsere Jacken an und verkrochen uns nach draußen.

Jetzt wurde es romantisch. Deswegen hatte Merle also die beiden Freunde mitgebracht! Ich half Merle dabei, die Liegestühle zusammen zu schieben, Gina holte Decken von oben und Lara versuchte mit den Jungs das Feuer zu entfachen.

"Die beiden sind übrigens noch Singles", flüsterte Merle mir ins Ohr, als wir uns auf den Stühlen nieder ließen und uns in die Decken einwickelten.

Ich prustete los. "Spinnst du? Die sind doch viel zu alt!"

Merle schaute mich verwirrt an. "Die sind achtzehn."

Ich schwieg. Oh, da hatte ich mich wohl verschätzt. Naja, dann konnte ja doch noch was daraus werden.

Gina und Lara, gefolgt von den Jungs, kamen nun auch zu uns unter die Decken und wir kuschelten uns alle an einander, um es schön warm zu haben.

Das Feuer knisterte und schlug hohe Flammen und irgendwer  ließ plötzlich eine Flasche Jägermeister kreisen.

Bestimmt hatten Phil oder Max die besorgt.

Kapitel 4

Im Laufe des Nachmittags erwachte ich wieder und setzte mich auf die Bettkante. Meine Mutter hatte die Vorhänge zugezogen, dennoch trafen einige Sonnenstrahlen auf den Bettvorleger und wärmten meine Füße.

Ich stand auf und durchkämmte kurz mit bloßen Fingern meine Haare, bevor ich in meinen Bademantel schlüpfte und die Treppe hinunter stieg.

Meine Mutter und Tante Birgit saßen auf dem Sofa und unterhielten sich. Einen Moment lang blieb ich stehen und lauschte ihrem Gespräch.

"Sie hatte wieder so Kratzattacken, weißt du. Ich glaube, dass mit der Schule war einfach zu viel." Meine Mutter nippte an ihrem Kaffee.

Ihre Schwester nickte. "Vielleicht. Vielleicht war es aber auch genau richtig. Es muss ja schließlich irgendwann weiter gehen."

Ich wollte das Gespräch so schnell es ging beenden und räusperte mich.

Meine Mutter drehte sich um. "Oh, Emma!". Sie lächelte und deutete neben sich. "Setz dich doch zu uns. Wir haben gerade über dich gesprochen."

Ich zog eine Augenbraue hoch.

"So", sagte ich langsam und setzte mich neben sie. "Was gibt es denn über mich zu erzählen?"

"Ach, Mäuschen", meine Mutter drückte mich an sich, "das weißt du doch! Möchtest du einen Tee?"

Ich schüttelte den Kopf.

Eine Weile war es still und unbehaglich in dem großen hellen Wohnzimmer. Tante Birgit schaute in den Garten und trank große Schlucke von ihrem Kaffee. Meine Mutter drehte nervös ihren Ring am Zeigefinger hin und her.

"Dann lasst euch nicht stören", versuchte ich das Ganze wieder in Gang zu bringen. "Redet doch weiter über mich."

Meine Mutter schaute gequält auf und atmete tief durch.

"Biggi, wie geht es denn deinem Schwiegersohn?"

Meine Tante schien froh über den Themenwechsel. "Dem geht es super. Er hat jetzt eine neue Arbeitsstelle und will bald mit Karin zusammen ziehen. Er ist ein guter und fleißiger Junge."

"Er ist ja leider nur einmal hier gewesen", erwiderte meine Mutter bedauernd und schon waren die beiden wieder in ein neues Gespräch vertieft.

 

Das erste Mal an diesem Tag dachte ich an diesen Jan.

Er war neugierig gewesen. Für meinen Geschmack zu neugierig. Aber was hätte ich gemacht, wenn ich an seiner Stelle gewesen wäre? Ich hätte doch natürlich auch nachgefragt. Es muss doch ein Schock für ihn gewesen sein.

Aber meinte er nicht, die anderen hätten ihm was davon erzählt? Deswegen hatte ich ihn doch angeschrien und die Kontrolle verloren. Wer hatte ihm da etwas erzählt? Die drei Mädchen? Nein, ganz bestimmt nicht. Die hatten doch nichts mit so einer Bohnenstange mit langen Zottelhaaren eine Klasse unter ihnen  zu schaffen. Hatte die Schulleitung etwas damit am Hut? Hatte sie vielleicht eine Durchsage gemacht und alles...

Ich hielt mir den Kopf. Oh Gott, das wollte ich mir gar nicht vorstellen!

Ich erhob mich. "Mama, ich geh mal kurz raus, ein bisschen frische Luft schnappen."

Sie nickte abwesend, doch als ich schon die Terrassentür aufschob, rief sie mir hinterher. "Halt dich bitte im Schatten auf! Du hast keine Binden an und Sonne ist nicht gut, das weißt du."

Ich antworte nicht, sondern trat nach draußen und zog die Tür hinter mir zu. Der helle Steinboden war angenehm warm unter meinen nackten Füßen, obwohl zwei Sonnenschirme die Veranden komplett mit Schatten überzogen. So kräftig war die Sonne also schon. Jetzt, wo ich nicht mehr als Slip und Bademantel trug, war die Hitze angenehm und ich schwitzte nicht. Ich hörte Vögel zwitschern, im Nachbargarten kreischten Kinder und ein Rasenmäher war zu hören. Normalerweise hasste ich bei diesen Temperaturen den Gang nach draußen. War dick eingepackt, damit auch kein winziger Sonnenstrahl meine Haut treffen konnte. Seufzend streckte ich mich auf einer der Holzliegen aus und schloss die Augen.

Ein leichtes, warmes Lüftchen wehte und strich mir die kitzelnden Härchen aus dem Gesicht.          

Woher wusste Jan das?

Und wie viel wusste mein Klassenlehrer, Herr Lux? Hatte man ihm mehr erzählt, als dass ich nur wegen Krankheit vom Unterricht fern geblieben war?

Ich beschloss, wenigstes Jan zur Rede zu stellen.

 

Meine Mutter war erstaunt, als ich ihr beim Abendessen mitteilte, dass ich morgen wieder in die Schule wollte.

Unschlüssig kaute sie auf dem Krautsalat herum. Sie wiegte den Kopf hin und her. "Also, ich weiß nicht", grummelte sie. "Das war doch ein ziemlicher Schock für dich, die ganzen neuen Schüler und Lehrer und deine Klasse und die ganzen Fragen..."

"Soll ich dann gar nicht mehr hingehen?", unterbrach ich sie in ihrer sinnlosen Argumentiererei, auch wenn sie den Nagel genau auf den Kopf getroffen hatte.

Sie seufzte und warf einen hilfesuchenden Blick zu meinem Vater. "Sag du doch auch mal was, Franz!"

Er zuckte mit der Schulter. "Lass sie doch, wenn sie möchte. Und sie will ja wirklich. Vielleicht fehlt ihr der ganze Schulstoff und das Lernen." Er lachte und zwinkerte mir zu. Ich grinste schief. Ja ja, so war mein Papa.

Meine Mutter schnaubte und knallte die Gabel auf ihren Teller. "Wie kannst du das bloß so auf die leichte Schulter nehmen? Siehst du denn gar nicht, wie schwer das für sie ist?!"

Mein Vater legte in Ruhe sein Besteck beiseite und wischte sich den Mund mit der Serviette ab. "Sonja, sie hat doch gerade selbst gesagt, dass sie wieder hin möchte."

Ich nickte bestätigend, doch meine Mutter beachtete mich gar nicht. Sie stieß ihren Stuhl zurück und begann den Tisch aufzuräumen. "Sie will doch nur so tun, als ob ihr das alles gar nichts aus macht! Merkst du denn gar nichts?"

Mein Vater schmunzelte belustigt und ging wortlos ins Wohnzimmer.

"Tut mir leid, Mäuschen, dass das immer alles im Streit enden muss". Meine Mutter warf mir einen traurigen Blick zu und schob die Spülmaschine zu.

Ich zuckte mit den Schultern, doch als ich auf der Treppe stand, drehte ich mich nochmal um. "Wenn du mich morgen nicht zur Schule fährst, geh ich zu Fuß!"

 

Mein Wecker klingelt schon um sechs Uhr früh, doch ich war sofort hellwach. Diesmal hatte ich ihn mir selbst gestellt, denn ich war noch immer der festen Überzeugung, dass meine Mutter mich nicht zur Schule fahren würde, nach dem Ausbruch gestern.

Ich ging ins Bad, ließ Wasser ein, suchte mir Klamotten zusammen und stieg in die Wanne, nach wie vor mit geschlossenen Augen, und wieder spürte ich, wie das Wasser über meine Beine und meinen Bauch bis zum Hals schwappte. Es war angenehm und ich dachte, ich würde zerfließen, doch dieses Gefühl war ganz schnell wieder vorbei, als alles wieder anfing zu brennen.

Stöpsel raus, abtrocknen, Bademantel an, das Übliche.

Ich staunte nicht schlecht, als meine Mutter neben meinem Bett stand. Sie sah unausgeschlafen aus. Ihre Augen blickten müde und sie war blass.

"Geht es dir nicht gut, Mama?", fragte ich, als ich den Bademantel zu Boden gleiten ließ und sie mich eincremte.

"Ich habe nur ein bisschen zu wenig geschlafen, mach dir keine Sorgen". Sie versuchte zu lächeln.

Die Binden engten mich wieder ein, mir wurde warm und die Haut spannte. Es war so unangenehm! Ich versuchte das Gefühl zu ignorieren und aß brav mein Frühstück und trank meinen Tee aus. Meine Mutter brachte mich tatsächlich zur Schule. Sie fuhr schnell und war leicht reizbar, dennoch gab sie mir bei der Verabschiedung einen Kuss, lächelte mir zu und wünschte mir viel Glück. Ich wusste, dass sie sich Sorgen machte. Ich hatte ja auch Angst davor, dass ich wieder die Kontrolle verlieren würde.

 

Sie passten mich kurz vor dem Unterricht ab. Ich hatte nicht mit ihnen gerechnet. Auf dem Schulhof hatte ich sie nirgends gesehen und ich hatte schon gehofft, sie hätten einen Ausflug mit ihrer Klasse unternommen. Aber so knapp nach den Sommerferien war das ja auch nicht sehr wahrscheinlich.

Sie waren wie immer zu dritt. Gina, Lara und Merle. Stumm standen sie vor mir und musterten mich.

"Es geht dir wohl wieder gut, nicht wahr?" Merle stieß mir ihren Zeigefinger vor die Brust.

"Ja, den Umständen entsprechend", entgegnete ich, etwas zu aufgeregt.

Die anderen beiden Mädchen nickten.

"Du weißt, was wir wegen dir machen mussten, Emma, oder?"

Ich schüttelte den Kopf.

Gina grinste. "Hat deine liebe Mami dir das nicht erzählt?"

Wieder schüttelte ich den Kopf. Meine Mutter hatte die drei seit einem halben Jahr nicht mehr erwähnt.

"Sozialstunden haben sie uns aufgebrummt!", fauchte Lara giftig.

Doch bevor ich etwas erwidern konnte, kam mir jemand zuvor.

"Ach, hier bist du, Emma. Ich habe dich überall gesucht. Wir haben Vertretung." Das war Jan. Er stand hinter den Dreien und schaute etwas verwirrt.

Merle musterte meinen Mitschüler skeptisch und hakte sich bei den Freundinnen unter.

"Na, dann sind wir mal wieder weg. Wir hoffen, du hattest ein frohes Neues Jahr!" Sie lachten höhnisch und ich konnte sie sogar noch hören, als sie schon um die Ecke gebogen waren.

Krampfhaft schluckte ich und scharrte mit der Schuhspitze auf dem Boden herum.

"Danke", murmelte ich etwas verlegen. Schließlich hat Jan mich aus einer echt bösen Situation befreit.

Er schien nicht zu verstehen, was ich meinte.

"Was wollten die denn von dir?", fragte er mich, als wir die Treppe hoch stiegen.

"Keine Ahnung", antwortet ich knapp und entfernte mich, denn ich sah den Rest meiner Klasse im Musikraum verschwinden und wollte nicht die Letzte sein.

Herr Kiefer war ein kräftiger Mann, mit kurzen Beinen und einem dicken Bauch. Er war Musiklehrer und sollte uns in Mathe vertreten, hatte jedoch keinen blassen Schimmer von Gleichungen und Formeln und so ließ er uns leise unterhalten und sortierte seine Notensammlung.

Ich hatte mir wieder einen Platz in der ersten Reihe am Fenster gesichert. Doch ich blieb nicht lange alleine, Jan rutschte neben mich.

Ich stöhnte auf. "Was willst du?"

"Warum nimmst du dir immer einen Einzelplatz?"

Ich drehte mich zu ihm, um ihm besser ins Gesicht schauen zu können. Seine Augen waren eine Mischung aus Grün und Braun, irgendwie Schlammfarben. Neugierig und offen blickte er mir ins Gesicht.

"Ich kenn hier ja keinen", antworte ich nur und schaute an ihm vorbei.

"Aber du könntest uns kennen lernen."

Darf wusste ich keine Antwort. Ich biss die Lippen zusammen.

"Fühlst du dich -?"

Ich unterbrach ihn. "Ich will noch was mit dir wegen gestern klären und dann lass mich bitte wieder alleine."

Er nickte bereitwillig. "Ja gut, dann tu das."

Schnell versuchte ich meine Gedanken zu ordnen und spürte gleichzeitig, wie mir wieder der Schweiß ausbrach. Er kribbelte auf meinem Rücken. Verkrampft ballte ich meine Hände und löste sie wieder.

"Woher weißt du das, was du gestern gesagt hast?"

Jan überlegte kurz. "Meinst du das mit den Brü -"

"Sprech' es nicht aus", zischte ich.

"Hier gingen Gerüchte rum. Welchen schenkte man Glauben, anderen nicht. Dass, was wirklich jeder wusste, war das, was ich dich gefragt habe."

Das was jeder wusste? Ich erschrak und ließ kurz den Blick über meine Klasse schweifen. Wussten sie es alle? Jeder Einzelne?

"Wer hat das rum erzählt?" 

Jan hob die Schultern. "Jeder hat es jedem erzählt. Wo die Quelle war, weiß ich nicht."

Ich nickte knapp und wand mich wieder ab. "Danke."

 

Den Schultag überstand ich ohne weitere Zwischenfälle. In der Pause verließ ich das Gebäude nicht, sondern lehnte mich einfach nur aus dem Fenster, und auch Jan ließ mich in Ruhe. Er sprach mich in keiner einzigen Stunde an, selbst dann nicht, als der Biologielehrer uns neben einander setzte, weil Jan seiner Meinung nach zu viel mit seinem anderen Banknachbarn redete.

Nach der letzten Stunde verabschiedete er sich nicht von mir und ich konnte zum Auto meiner Mutter eilen. Sie strahlte über das ganze Gesicht und gab direkt Gas, als ich eingestiegen war.

"Was ist los, Mama? Du siehst so glücklich aus."

"Du hast es geschafft, nach einer so langen Zeit." Sie lächelte mich an und gab mir einen Kuss, als sie vor einer roten Ampel abbremsen musste. "Maria wird das auch freuen."

Heute war Dienstag und um vier Uhr hatte ich einen Termin zur Massage, wie jede Woche.

Maria war eine große, schlanke Frau mit schwarzen Locken bis zur Hüfte und immer in bunte Gewänder gehüllt. Bei ihren Massagen mit herrlich duftenden Ölen wurde ich immer ganz schläfrig und da sie ruhige Musik im Hintergrund laufen ließ, konnte ich es manchmal kaum vermeiden, dass ich ein Weilchen in den Schlaf sank.

 

"Du hast extra Nudelauflauf gekocht?". Begeistert drehte ich mich zu meiner Mutter um, als sie die Haustür aufsperrte. Den Geruch erkannte ich sofort.

Sie nickte. "Ich bin heute extra früher von der Arbeit gekommen, um dir mal wieder eine Freunde zu bereiten."

Gemeinsam setzten wir uns an den Tisch in der Küche und meine Mutter genehmigte sich sogar ein Glas Rotwein.

 

Doch ihr Gesicht wurde wieder ausdruckslos, als sie sich eine Stunde später in mein Zimmer schlich und ich die Hausaufgaben beendete, um mich wieder einmal eincremen zu lassen.

Allerdings legte sie mir nicht sofort wieder die Binden an. Ihre Hände ruhten auf meinen Schultern.

"Möchtest du dich nicht mal im Spiegel betrachten, meine Hübsche?"

Ich schaute sie entgeistert an und schüttelte so heftig den Kopf, dass mir ganz schwindelig wurde. "Nein, Mama!"

Sie seufzte traurig und bückte sich, um die erste Binde anzulegen.

"Bald schaffe ich auch das." Ich hatte es mit Absicht nicht als Versprechen formuliert.

Kapitel 5

Am nächsten Vormittag trafen wir Mädels uns bei Görretz in der Kaffeestube.

Die gestrige Nacht war lang geworden, jedoch hatte ich es pünktlich nach Hause geschafft und da meine Eltern schon schliefen, merkten sie gar nicht, dass ich sicher drei Anläufe machen musste, um den Schlüssel ins Schloss zu bekommen.

Mit den Jungs lief nicht mehr viel. Später setzten sie sich etwas von uns weg und rauchten ein paar Zigaretten. Zur Verabschiedung nickten sie uns kurz zu und verschwanden dann mit der lachenden Merle um die Häuserecke.

"Ich bin dafür, dass wir sie zu Emmas Geburtstag einladen!", rief Lara bestimmt und nahm sich erneut einen Keks vom Teller.

Ich verzog das Gesicht. "Ich kenn die doch gar nicht!"

Auch Gina und Merle waren skeptisch.

Doch Lara ließ sich nicht unterkriegen, sie schien die beiden zu mögen. "Ey, Ihr seid Langweiler! Da kann doch gar nichts starten, wenn wir nur zu viert sind, und außerdem muss ich dann mal ausnahmsweise kein Geld an Lars heraus rücken, wenn die uns das alles besorgen."

Die anderen schwiegen.

Heute war es rappelvoll in dem kleinen Café mitten auf dem Marktplatz. Schnatternde junge Leute hatten in Grüppchen vor der Theke Platz genommen, während die älteren Damen und Herren lieber die Ohrensessel vor dem alten Kamin bevorzugten. Wie jeden Sonntag versammelten wir uns hier um spätestens halb eins, um über bevorstehende Ereignisse zu sprechen.

Jedoch war die Planung meines Geburtstags schnell erledigt, denn die Jungs hatten Merle einen großartigen Tipp gegeben:

Das Kostümfest im Club in der Einkaufspassage.

Wir jubelten, als Merle uns davon berichtete. Am letzten Schultag vor den Ferien sollte es um zehn Uhr abends beginnen. Wir grübelten. Welche Kostüme waren geeignet?

Nach einer weiteren Tasse Kaffee einigten wir uns auf zwei Hexen, ein Teufelchen und Gina als Katze. Mein Geburtstag in drei Tagen war schon längst wieder vergessen. Vermutlich würde es dabei bleiben, dass die Jungs dazu kamen, jedoch musste ich meine Eltern noch dazu überreden, bei Lara feiern zu dürfen.

 

Gegen die Mittagszeit trennten wir uns wieder. Gina und Merle machten sich auf den Weg zur Straßenbahn. Sie wollten noch kurz etwas essen, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machten.

Langsam schlenderten Lara und ich durch die Straßen und nahmen den Umweg um den See herum, um nicht all zu früh zu Hause zu sein.

Zwei Uhr sollte reichen, um sich noch genug auf die Schule morgen vorzubereiten.       

"Denkst du, dass Merle ihre Freunde mitbringt?" Ich kickte einen Stein vor mir her, bis ich ihn in einem der Vorgärten verlor.

Meine Freundin überlegte. "Ich weiß nicht. Aber ich fand beide schon echt nett und sie besorgen uns bestimmt was." Sie boxte mich in die Seite.

Lachend wich ich aus. "Sehr witzig! Aber dann können wir nicht so verrückt drauf sein wie sonst, das stört mich."

Mit großen Augen schaute sie mich an. "Warum das denn nicht?"

Ich zuckte mit den Schultern.

Lara schüttelte den Kopf und hakte sich bei mir unter. "Aber natürlich können wir so viel Mist bauen wie immer! Es sind doch nur Jungs! Und wenn es ihnen nicht gefällt, sollen sie wieder gehen."

Ich war etwas beruhigt.

"Bis Morgen, Emma." Sie gab mir ein Küsschen auf die Wange und winkte mir noch einmal zu, bevor sie kurz darauf um die Ecke des letzten Häuserblocks verschwunden war.

 

Meine Mutter saß auf dem Sofa und telefonierte.

Ich wollte sie nicht stören, zog nur meine Schuhe aus und verschwand in meinem Zimmer.

Es war kühl hier drin. Sofort drehte ich die Heizung auf und rückte mir den Sessel unter die Stehlampe und griff zum Chemiebuch .

Wie gesagt, ich war eine gute und fleißige Schülerin. Um so besser und braver ich zu Hause war, desto toller und lustiger wurden die Partys.

 

Meine Eltern waren es, die mich auf den Geburtstag ansprachen, als ich herunter gekommen war, um mir eine neue Flasche Saft zu holen. Sie lehnten beide an der Küchentheke und schauten mich erwartungsvoll an.

"Wollt ihr irgendwas von mir wissen?", fragte ich verwundert und nahm mir ein Glas aus dem Schrank.

"In drei Tagen bist du sechzehn. Wie kommt's, dass du dir noch keine Gedanken darüber gemacht hast?". Mein Vater goss sich ein Glas Bier ein.

Mist! Ich schwieg.

"Das hat sie bestimmt schon alles mit ihren Freundinnen geplant", antworte meine Mutter für mich. Ich schenkte ihr ein dankbares Lächeln.

"So, so". Mein Vater stellte die leere Flasche zu den anderen. "Und was habt Ihr geplant?"

"Nichts Großes", versuchte ich mich heraus zu reden. "Ich wollte Euch nur fragen, ob ich am Dienstag nach der Schule zu Lara kann, da mit den Anderen übernachte und wir am Mittwoch gemeinsam zur Schule gehen."

Kurzes Schweigen. Natürlich mussten sie erstmal überlegen, denn das war die erste Feier, die in der Schulzeit statt fand. Doch erstaunlicherweise ging meine Mutter gar nicht auf den Dienstag, sondern eher auf den eigentlichen Tag meines Geburtstages ein, den Mittwoch.

"Dann können wir dich ja morgens gar nicht sehen", beschwerte sie sich und schaute ziemlich skeptisch.

Mein Vater beruhigte sie. "Ach, Sonja! Das können wir doch morgens sowieso nicht. Ich muss schon um sieben Uhr aus dem Haus und du stehst erst auf, wenn Emma schon lange in der Schule ist."

"Dann würde ich natürlich früher aufstehen!", rief sie empört, doch mein Vater unterbrach sie schon wieder. "Dann verlegen wir das Ganze doch einfach auf den Mittag, dann ist auch kein Stress drin. Emma kommt von der Schule, ich von der Arbeit, Tante Birgit ist dann bestimmt auch schon da und du kannst ihr einen schönen Kuchen backen."

Damit waren ihr die Argumente ausgegangen. Sie grummelte Unverständliches vor sich hin, nahm ihre Kaffeetasse und verschwand.

Ich grinste. "Danke, Papa!"

Übermütig umarmte ich ihn. Er lachte und schob mich wieder von sich weg.

"Aber baut nicht zu viel Mist". Grinsend hob er den Zeigefinger und zwinkerte mir zu.

Kapitel 6

Irgendetwas war anders bei Maria. Meine Mutter verabschiedete sich wie gewöhnlich schon an der Tür von mir und ging ein bisschen Geschäfte gucken, bevor sie mich eine Stunde später wieder abholen wollte.

Heute trug die ältere Dame ein gelbes Gewand, das ihr bis zu den Füßen ging und schräg über die Schulter ein pinkes Tuch, das sie mit einem lockeren Knoten an der Hüfte zusammen gebunden hatte.

Sie umarmte mich und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

"Geht es dir gut, Emma?". Sie schloss den Vorhang hinter mir.

Ich nickte. "Joa, den Umständen entsprechend ganz gut."

"Den Umständen?". Maria runzelte die Stirn. "Deine Mutter hatte am Telefon erzählt, dass du nun wieder zur Schule gehst."

Wieder nickte ich. "Kann ich mich kurz ausziehen?". Ich deutete auf die kleine Umkleidekabine aus weißem Stoff.

"Aber klar doch!". Sie schien ganz überrascht.

Natürlich. Sonst fragte ich sie auch gar nicht. Ich wollte vom Thema abkommen. Mit Maria konnte ich über alles sprechen, was ich zu Hause lieber verschwieg, das wusste ich. Dennoch war mir die ganze Geschichte mit Jan ziemlich unangenehm und ich war mir noch nicht ganz sicher, ob ich Maria davon erzählen sollte.

Als ich den schmalen Raum mit der Liege in der Mitte und den vielen Ölfläschchen in den Regalen betrat, wusste ich, was anders war: Am Kopf der Liege stand an der Wand umgedreht ein Spiegel.

Ich schnappte nach Luft. Maria stand sofort hinter mir und hielt meine Handgelenke fest.

"Beruhige dich". Ihre Lippen waren an meinem Ohr. "Ich wollte dir nur einen Vorschlag machen."

Ich schüttelte den Kopf. "Ich will das nicht sehen!"

Maria schwieg. Dann schob sie schließlich den Spiegel beiseite. Ich nahm das Handtuch ab und strecke mich auf der Liege aus.

Ich hätte eigentlich erwartet, das sie jetzt die CD mit den beruhigenden Walgesängen anstellte, doch sie setzte sich nur auf den Hocker neben meinem Kopf und hielt meine Hand.

"Warum möchtest du das nicht?"

Ich schloss die Augen. "Mama kam vorhin auch schon damit an, das ist einfach zu viel."

Sie machte sich daran, meine Binde abzuwickeln. "Aber du hast so viele Fortschritte gemacht, Emma!"

"Ich habe mich seitdem noch nie ganz im Spiegel angesehen, deswegen kann ich auch keine Fortschritte erkennen."

Maria war mittlerweile an meinen Beinen angelangt.

"Als wir mit der Massage angefangen haben, hatte ich keinen blassen Schimmer, dass das alles so gut heilen würde und vor allem nicht, dass das so schnell geht!"

"Ich will mich erst wieder sehen, wenn ich komplett geheilt bin." Ich wollte das Thema beenden.

Sie antworte nicht, sondern stellte leise die CD an.

Ich wusste ihre Antwort. Ich würde niemals komplett geheilt sein.

 

Damals hatte ich meine Mutter gefragt, warum ich zur Massage müsste. Dass die Haut durch die Salbe und das Baden geschmeidig werden sollte, verstand ich.

"Damit die Narben nicht wuchern", hatte meine Mutter leise gesagt und angefangen zu weinen.

Sie hatte am Anfang oft und viel geweint, doch als sie merkte, wie sehr mich das deprimierte, hatte sie es versucht zu unterdrücken.

 

Marias Hände waren warm und weich. Dieses Mal verwendete sie Olivenöl. Mit leichtem Druck schien sie etwas Unsichtbares von den Füßen bis zum Hals zu schieben. Sie knetete mal leichter, mal fester, doch ich hatte mich seit langem nicht mehr so wohl gefühlt.

Die Musik drang in mein schläfriges Gehirn ein und ließ Bilder von Meer und sonnigem Strand in meinem Kopf entstehen, die erst wieder verschwanden, als Maria ihre Hände auf meine Wangenknochen legte und zu mir sprach.

"Deine Gesichtsmuskeln sind ganz verspannt, Liebes. Du beißt wohl oft die Zähne zusammen, nicht wahr?"

Ich seufzte, mehr gequält als genießerisch.

Sie spürte es. "Lass alles aus dir raus, Emma. Sprich mit mir, es wird dich befreien."

Sie hatte es wieder geschafft. Sie war die einzige, die mich so schnell zum Reden bringen konnte.

"Vorgestern hat Mama mich das erste Mal wieder zur Schule gefahren. Sie hatte mir nie wieder etwas über die drei von damals erzählt, doch in der Pausenhalle traf ich sie."

Ich atmete tief durch und spürte ihre Finger auf meiner Stirn und die Schläfen hinunter gleiten.

"Sie haben mich wieder erkannt und mich angesprochen. Alle drei waren total feindselig. Ich glaube, sie werden mich mit ihren Sprüchen nie wieder in Ruhe lassen." Abermals gönnte ich mir eine Pause.

"Sie wollen sich rächen, für das, was dir und ihnen damals zugestoßen ist, und Mitgefühl passt nicht dazu", führte Maria meinen Gedankengang aus.

Ich nickte. "Ja, das denke ich mir auch. Aber ich frage mich einfach, warum sie sich so verändert haben. Das kann doch nicht alles meine Schuld sein!"

"Du trägst gar keine Schuld, Emma. Sie hatten die Idee und kannten auch die Gefahr. Du hast einfach nur mitgemacht, weil du Spaß haben wolltest."

"Aber sie hassen mich!", rief ich und riss die Augen auf. "Sie hassen mich für das, was ich mir und ihnen angetan habe". Ich schnappte nach Luft, "Und dass ich sie verraten habe."

Marias grüne Augen ruhten auf meinem Gesicht. Sie strich mir über die Wange.

"Sie hassen dich nicht. Sie hassen sich selber, aber sie können es nicht zeigen. Jetzt mach wieder die Augen zu und schlaf ein wenig, wir haben noch eine halbe Stunde."

Kapitel 7

Sie standen im Flur, dir beiden roten Koffer. Ich bemerkte sie sofort, denn ich war die erste, die darüber stolperte, als wir herein kamen.

Verwundert blieb ich stehen und drehte mich zu meiner Mutter um, doch die zuckte ahnungslos mit den Schultern.

Aus dem Wohnzimmer kamen Stimmen.

Die meines Vaters. Und eine andere.

Ich jubelte auf und rannte durch den Flur.

"Tante Mia!". Ich fiel ihr um den Hals. Ihre Stimme hatte ich sofort erkannt. Ich drückte mein Gesicht in ihren Schal. Er roch nach Lavendel.

"Was machst du denn hier, Mia?". Meine Mutter war inzwischen hinzu gekommen und hatte sich neben meinen Vater gestellt. Meine Tante schob mich lachend von sich weg.

"Nun, ich wollte einfach mal meinen lieben Bruder und seine Familie besuchen. Wir haben uns doch jetzt schon ein halbes Jahr nicht mehr gesehen."

Das letzte Mal war sie Silvester hier gewesen, als ihr Mann auf Geschäftsreise in Amerika war und sie nicht alleine zu Hause sitzen wollte.

"Das stimmt. Aber warum hat mir denn keiner Bescheid gesagt? Dann hätte ich Kuchen mitgebracht". Meine Mutter schaute etwas beleidigt.

Mia und mein Vater lachten. "Ach, Sonja". Mein Vater legte ihr einen Arm um die Schultern. "Ich wusste es doch auch erst, als es an der Tür geschellt hat."

Jetzt wurden die Augen meiner Mutter noch größer.

"Ich wollte euch einen Überraschungsbesuch abstatten! Ich habe mir vom Bahnhof aus ein Taxi genommen und dachte mir, ich könnte vielleicht zwei Tage bei euch bleiben." Mia drückte mich an sich und strahlte. "So viel Platz nehme ich auf dem Sofa auch nicht weg". Sie zwinkerte mir zu.

"Du bleibst für ein paar Tage?". Ich freute mich so sehr, dass ich ihr gleich noch einmal um den Hals fiel.

Meine Mutter gab sich geschlagen. "Na gut, dann setzt ich mal Kaffee auf". Mit diesen Worten verschwand sie in der Küche.

 

Die Schwester meines Vaters war eine kleine, attraktive Frau mit hellen blauen Augen und vielen kleinen Fältchen im Gesicht. Vor einigen Jahren hatten wir ihren 50 Geburtstag gefeiert, aber wie lange das genau her war, wusste ich nicht mehr. Sie hatte in ihrem kleinen Haus an der Nordsee, wo sie seit drei Jahren mit ihrem Mann Ludwig wohnte, ein großes Nähzimmer, wohin sie sich zurück ziehen konnte.

Als ich noch klein gewesen war, hatte sie mir oft etwas genäht oder gestrickt. Der kleine blaue Handschuh, den ich als Säugling bekommen hatte, hing am Rückspiegel in unserem Auto.

Als Mia noch in der Großstadt, ganz in unserer Nähe, gewohnt hatte, brachte sie mich oft von der Schule nach Hause. Wir spielten mit meinen Stofftieren Verstecken oder sie las mir eine Geschichte aus dem dicken Bilderbuch vor.

Es war die lockere und freundliche Art, die ich so sehr an ihr liebte. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, das sie so oft Streit mit meinem Vater gehabt hatte, wie er immer erzählte. Auf mich war sie auf jeden Fall noch nie sauer gewesen.

 

Nachdem die erste Tasse Kaffee getrunken war, machten wir es uns auf der Terrasse bequem und redeten über Gott und die Welt. Doch es dauerte nicht lange, bis Mia zu einem ernsten Thema kam.

"Fritz hat immer von dir erzählt, als wir telefoniert haben. Er meinte, du hättest dich wirklich tapfer geschlagen und seiest auf dem Weg der Besserung, Emma."

Jetzt war Ruhe. Ich sagte nichts.

Meine Tante musterte mich neugierig, ihre Augen hefteten sich auf meinen Hals.

Ich zog ihn ein, als könnte sie ihn dadurch nicht mehr sehen. 

"Ich möchtet nur einmal gucken", bat sich mich und rückte näher.

Ich atmete ein, lockerte den Schal und atmete wieder aus. Mias lange Fingernägel berührten mich leicht, als sie ihn weg zog.

Sie blieb ruhig, doch ihr Gesicht war ernst.

Nach einigen Sekunden lächelte sie jedoch und wandte sich wieder ab. "Es sieht viel besser aus als noch vor einigen Monaten", sagte sie zu meinem Vater, der sie ein wenig verschreckt anschaute.

Meine Mutter traute sich wieder zu atmen und auch ich fühlte mich wieder wohl, als ich den Schal festziehen konnte.

"Ach ja", Mia streckte ihre Füße aus und ließ ihre rot lackieren Zehen in der Sonne spielen. "Mein Ludwig ist ja im Moment in China und vergnügt sich auf den voll gestopften Straßen."

Ich war meiner Tante dankbar für den Themenwechsel und die Stimmung lockerte sich sofort.

 

Doch schon beim Abendessen erzählte sie uns den eigentlichen Grund für ihr Kommen.

Meine Mutter hatte noch schnell Brot und etwas Aufschnitt im nächsten Supermarkt besorgen können und so den Esstisch gut füllen können.

"Ich glaube, es ist an der Zeit, dass Emma die Bilder sieht. Es sind ja schließlich ihre." Mia stand auf und verschwand im Flur.

Meine Eltern wechselten einen alarmierten Blick und meine Mutter atmete tief durch, während sie das Geschirr ein wenig zusammen schob.

"Welche Bilder?", fragte ich.

Sie griff nach meiner Hand, als sich meine Tante wieder setzte und einen Stapel Fotos verkehrt herum auf den Tisch legte.

Ich war verwirrt. "Mia, was sind das für Fotos? Wann habt ihr sie gemacht?" Mein Gefühl sagte mir, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte und ich sie niemals sehen wollte, doch da war es schon zu spät.

Sie drehte das erste um. "Das hat dein Vater damals geschossen, kurz nachdem du in die Notaufnahme gebracht wurdest."

Das Foto war dunkel. Eine Gestalt lag auf einer Trage, den kompletten Oberkörper voller Blut, die Haut an den Beinen war schwarz und man konnte an manchen Stellen sehen, wie zerfetzt sie war.

"Wer ist das?", stieß ich schockiert hervor.

Meine Mutter hatte ihren Stuhl neben mich gerückt und strich mir mit zitternder Hand über das Haar. "Das bist du!"

"Nein!", rief ich, "Nein, das bin ich nicht! Das kann ich nicht sein."

Mia schob das Bild zur Seite und drehte das nächste um.

Ein Mädchen lag darauf in einem großen, weißen Krankenbett. Sie hatte viele grüne Schläuche in den Armen und einen Sauerstoffschlauch in der Nase. Sie schlief. Ihre Arme und ihr Hals waren mit weißen Verbänden umwickelt.

"Das hat der Arzt nach deiner ersten Operation gemacht." Mia wollte das nächste Foto umdrehen, doch diesmal hielt mein Vater sie davon ab.

Tränen liefen mir über das Gesicht und tropften mir auf den Pullover. Meine Mutter schlang beide Arme um mich und wiegte mich sanft hin und her.

"Es reicht!". Mein Vater schob die Bilder zusammen und wollte auch das letzte seiner Schwester aus der Hand nehmen, doch sie hielt es fest.

"Nur noch das letzte, Fritz. Sie soll sehen, wie sie damals aussah und wie gut es ihr jetzt geht. Wie schnell das alles in einem halben Jahr geheilt ist. Lass es mich ihr zeigen, dann höre ich auch auf."

"Ich will gar nichts mehr sehen!", schrie ich und vergrub das Gesicht in der Schulter meiner Mutter. Das war nicht ich!

Doch, natürlich war das mein Körper gewesen. Diese Gewissheit schmerzte so sehr, das ich dachte, ich würde keine Luft mehr bekommen. Als ich meinen Kopf wieder hob, lag das letzte Foto vor mir. Ein dünner Arm war darauf zu erkennen. Weiß, rot und rosa gefleckt, überall dort wo genäht worden war, erkannte ich schwarze Fäden. Es war nicht eine Stelle, es waren bestimmt zehn oder mehr. Sie zogen sich kreuz und quer über diesen dünnen Arm.

Weinend sank ich auf meinem Stuhl zusammen. Jedoch hatte Mia immer noch etwas auf der Seele. Sie schob meinen rechten Pulloverärmel hoch. "Und jetzt schau, Emma, wie sehr es sich gebessert hat."

Völlig aufgelöst, schockiert und wütend, schlug ich ihren Arm weg, stieß den Stuhl zurück, rannte stolpernd die Treppe hoch und warf mich schluchzend auf mein Bett. Niemand sah in der nächsten Zeit nach mir, noch nicht mal meine Mutter.

 

Mein Wecker klingelte. Verwirrt schlug ich die Augen auf. Ich lag angezogen auf meiner Bettdecke, dort, wo mein Kopf lag, war sie nass. Mühsam rappelte ich mich auf und machte ihn aus. Die Vorhänge waren offen und auch die Zimmertür stand einen Spalt breit auf. Seufzend erhob ich mich auf die wackeligen Beine, streckte mich und rieb mir die Augen. Sechs Uhr war es. Noch kein einziges Mal war ich so müde in dieser Woche gewesen. Trotzdem konnte ich mich an den gestrigen Abend erinnern. An das Abendessen und an diese Fotos. Ich schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben, und taumelte zu meinem Kleiderschrank.

Die Binden waren über Nacht etwas verrutscht, doch für einen Tag würde das jetzt nicht so schlimm sein.

Ich musste mich sogar hinsetzen, als ich mir frische Klamotten anzog, denn ich lief die ganze Zeit Gefahr, wieder einzuschlafen.

Auf Socken schlich ich die Treppe hinunter. Im Erdgeschoss war alles dunkel, doch bei genauerem Hinsehen erkannte ich Mia, die in eine Wolldecke eingewickelt auf dem Sofa schlief.

Wo war meine Mutter? Schlief sie noch? Als ich eben am Schlafzimmer vorbei gegangen war, war die Tür noch fest verschlossen und das Badezimmer leer gewesen. Komisch, sie war doch sonst immer so früh wach und kümmerte sich um alles.

Ich schob die Küchentür hinter mir zu und knipste das Licht über der Anrichte an. Sie tauchte die beigen Fliesen in grelles Licht, so dass ich die Augen zusammen kneifen musste, während ich mir eine Schale Obstsalat mit Müsli machte. Danach schlenderte ich ins Wohnzimmer.

"Guten Morgen, Emma". Erschrocken fuhr ich herum. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich unbemerkt ins Zimmer zu schleichen und an den Esstisch zu setzen, aber anscheinend hatte das nicht geklappt.

"Setz dich doch zu mir". Mia richtete sich auf und rückte zur Seite. Ich hockte mich neben sie und legte mir die Decke über die Knie.

Eine Weile schwiegen wir beide. Ich aß mein Frühstück und sie schaute aus der Fensterfront in den Garten.

Draußen war es schon hell und ein paar Singvögel flatterten durch unsere Garten, suchten nach Regenwürmern zwischen den Grashalmen und erhoben sich danach wieder in die Luft.

Meine Tante räusperte sich. "Das mit gestern Abend tut mir leid. Ich hätte auf deinen Vater hören sollen."

Ich seufzte, schob den letzten Löffel in den Mund und stellte die Schale auf den Glastisch. "Früher oder später hätte es sowieso sein müssen."

Sie war sichtlich erleichtert darüber, dass ich ihr nicht böse war.

"Warum habt ihr die Bilder eigentlich geschossen?" Ich zog mir die Decke bis zu den Schultern und legte meinen Kopf auf die Armlehne.

"Der Doktor hatte uns von Anfang an gesagt, dass du Transplantationen brauchst. Viele Transplantationen. Er konnte uns sogar schon im Krankenwagen mitteilen, das es mindestens ein Jahr dauern würde, bis alle Stücke einwandfrei miteinander verwachsen sind. Dein Vater wollte deinen damaligen Zustand festhalten, damit du dich über die Besserung zur jetzigen Zeit freuen kannst."

"Aber ich brauche meine Zeit, bis ich wieder in den Spiegel gucken kann."

"Das verstehe ich", Mia erhob sich und gähnte. "Soll ich dir auch einen Kaffee machen?"      

Ich nickte und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, die auf dem Tisch lag. Ich hatte noch eine gute Stunde.

 

Meine Tante war es, die sich die Autoschlüssel von der Kommode im Flur nahm und mich im Wagen meiner Mutter zur Schule fuhr.

Während ich mir im Badezimmer die Zähne geputzt hatte, hatte sie einen kurzen Blick ins Schlafzimmer meiner Eltern geworfen. Meine Mutter schlief noch tief und fest. Sie brauchte ja schließlich auch mal ihren Schlaf. Da mein Vater schon längst in der Firma war, blieb Mia nichts anderes übrig, als sich schnell etwas anzuziehen, sich frisch zu machen und ins Auto zu steigen.

 

Die Pausenhalle war wie immer voller Schüler, doch diesmal drängten sich die meisten um das schwarze Brett neben den hohen Fenstern mit den Bänken davor.

Neugierig bahnte ich mir einen Weg durch die Menge, um auch einen Blick auf die Sensation zu erhaschen - und erstarrte.

"Die Arme."

"Das ist doch schon total lange her!"

"Selber Schuld!"

"Bestimmt wird die nie wieder gesund."

Das waren die Sätze, die ich von den Leuten hinter mir wahrnahm.

Ich musste einige Male blinzeln, um wieder klar sehen zu können. In dem Glaskasten hing ein Zeitungsartikel, der das Datum des 1.1. diesen Jahres trug.

"16-jährige in der Silvesternacht lebensgefährlich verletzt, Polizei sucht nach der Ursache", lautete die dicke, schwarze Schlagzeile.

Der Boden unter mir schwankte, doch ich trat noch näher heran, um die Unterschrift unter dem großen Bild  in der Mitte des Artikels entziffern zu können.

"Emma W. wurde gegen halb eins morgens mit einem Krankenwagen in das nächste Krankenhaus gebracht und von dort aus mit einem Hubschrauber in eine Spezialklinik geflogen."

Mir wurde schlecht. Ich merkte, wie meine Hände zitterten, dann fiel mein Blick auf das Bild.

Da lag jemand auf einer Trage, an jeder Seite standen Notärzte mit ernsten Gesichtern, einer hatte seine Handschuhe blutverschmiert, ein anderer stülpte der Gestalt, die auf der Trage lag, eine Atemmaske über.

Es war ein Schnappschuss irgend eines dummen Fotografen.

Ich musste weg hier!

Würgend rannte ich quer über den Schulhof zu den Toiletten und übergab mich geräuschvoll.

Kapitel 8

 

Merle klingelte wie immer um halb acht an der Haustür. Meine Mutter ließ sie herein und unterhielt sich mit ihr, während ich mit der Zahnbürste im Mund im Bad stand.

"Ich habe gehört, ihr wollte Emmas Geburtstag bei Lara feiern?"

Die beiden hatte sich vom ersten Tag an gut verstanden.

Merle bejahte, und als meine Mutter einen Moment schwieg, setzte sie hinzu: "Ihre Eltern sind zwar nicht da, aber sie wissen Bescheid. Sie sind ganz in der Nähe und können sofort kommen, wenn etwas sein sollte."

Das schien die beruhigende Antwort auf die unausgesprochene Frage meiner Mutter zu sein.

Ich grinste und spuckte die restliche Zahnpasta ins Waschbecken.

Laras Eltern wussten von nichts und es dauerte auch eine halbe Stunde mit dem Flugzeug, bis sie von Wien aus bei uns waren, aber Vertrauen war der Schlüssel zur Freiheit.

 

Unterwegs sammelten wir Gina und Lara ein und kamen wie immer als Quartett in der Schule an.

Der Unterricht wurde zum Glück so kurz vor den Ferien locker gestaltet. In Kunst malten wir die Dekoration für den Weihnachtsmarkt fertig, in Musik übte die Lehrerin mit dem Chor das letzte Mal, nur in Deutsch und Englisch lief noch einigermaßen ernster Unterricht.

Der Schultag ging schnell vorbei und wir machten uns gemeinsam auf dem Weg zur Imbissbude in der Innenstadt, um etwas zu Mittag zu essen.

Kaum waren alle versorgt, fing Lara mit meinem Geburtstag an. "Meine Eltern sind von Dienstagmorgen bis Mittwoch mittags um zwei nicht da. Lars schwirrt am Dienstag zu Toni ab, die beiden haben Semesterferien und wollen feiern gehen, also kommt der auch nicht vor Mittwochabend wieder. Das heißt, wir können richtig was starten."

Wir anderen nickten anerkennend und klopften ihr auf die Schultern.

"Meine Eltern sind einverstanden". Das war der Teil, den ich dazu beitragen konnte.

Unsere Blicke wanderten zu Merle, die in ihre Zeitschrift vertieft war.

"Sind die Jungs eingeladen?", fragte Gina.

Merle schaute nur kurz auf, nickte lächelnd und verkroch sich wieder hinter den bunten Blättern. Alles war perfekt! Um die Getränke und den Rest würden die Mädels sich kümmern, das wusste ich. Wir verabschiedeten uns an der Kreuzung und unsere Wege trennten sich.     

 

Wie im Flur verging der Dienstagvormittag. Frau Klöschner gab uns den Französischtest zurück. Eine glatte Zwei stand auf der Rückseite meines Blattes. Meine Mutter würde sich freuen. In den letzten beiden Stunden bereiten wir die Aula für die Weihnachtsfeier am Freitag vor, mit weißen Tischdecken und allem Drum und Dran. Die ersten beiden Stunden hatten wir frei gehabt. Was für ein toller Tag!

Das Wetter war kalt und klar und in der letzten Nacht hatte es noch mal ordentlich Neuschnee gegeben. Wie kleine Kinder stecken wir uns das Eis in den Nacken und warfen als Rache die anderen mit Schneebällen ab.

Als wir schließlich bei Lara zu Hause angekommen waren, hatten wir alle nasse Füße und waren ganz außer Atem, vom vielen Rennen und Lachen.

Es war fast genau das gleiche Reihenhaus, wie wir es auch hatten, nur dass es noch einen zusätzlichen Dachboden gab, den Lara als ihr Zimmer nutzte.

Die Schuhe wurden ordentlich auf die extra dafür vorgesehene Plastikschale im Flur gestellt und die Mäntel sorgfältig auf Bügel gehängt. Lara sprintete sofort in die Küche, um Kaffee aufzusetzten.

In der hinteren Ecke des Wohnzimmers war eine gemütliche Sitzecke aus bunten Kissen, wo wir uns sofort niederließen und anfingen zu quatschen.

"Die Jungs kommen heute Abend um sieben, Getränkebesorgung haben wir ihnen überlassen und zu Essen hat Lara alles hier". Merle lehnte sich zurück und seufzte lächelnd. "Jetzt können wir noch ein bisschen chillen, Mädels."

Gestern Nachmittag hatte ich noch schnell mein Lieblingskleid bei Lara vorbeigebracht, damit ich nicht in meinen langweiligen Schulsachen die Jungs begrüßen musste.

 

Die Zeit verging langsam. Wir tranken Kaffee und aßen Baumkuchen, zwischendurch wurde eine kleine Flasche Sekt herumgereicht, aber noch gab es nichts Großes. Gegen halb fünf verabschiedete ich mich für ein Stündchen von den anderen und richtete mich im Badezimmer ein. Meine Freundin hatte hier wirklich alles, was man brauchte: Glätteisen, Lockenstab und einen Schminkkoffer, der die doppelte Größe von meinem hatte. Ich machte mich gleich an die Arbeit, denn ich hatte keine Ahnung, wie lange ich brauchen würde. Gina hatte mir heute morgen Tipps für das Styling gegeben, das zu meinem hautengen, knielangen, mit silbernen und goldenen Glitzerfäden durchzogenem Kleid passte. Zuerst einmal musste ich duschen gehen, dann schnell die Haare föhnen, zum Lockenstab greifen und dann erst kam das ganze Make-up dazu.

Pünktlich um sieben Uhr klingelte es an der Tür. Ich hörte Gekreische aus dem Wohnzimmer, doch niemand schien die Gäste rein lassen zu wollen.

Wackelig stieg ich auf meinen hohen Lackschuhen die Treppe runter.

Anerkennendes Pfeifen aus dem Wohnzimmer ließ mich laut los lachen. Die anderen saßen noch immer in der Sitzecke, doch nun standen große Schalen mit Chips und anderen salzigen Leckereien auf dem Tisch. Eine große Sektflasche zog für einen kleinen Augenblick meine Aufmerksamkeit auf sich, dann klingelte es wieder.

"Das Geburtstagskind macht auf!", riefen sie im Chor und schlugen sich vor Lachen auf die Schenkel.

"Wie gemein", gab ich zurück und riss die Tür auf.

Phil und Max hatten wirklich viel mitgebracht. Zur Begrüßung umarmten sie mich kurz, warfen mir einen bewundernden Blick zu und schoben sich an mir vorbei ins Wohnzimmer.

Jetzt stand da nicht nur Sekt, sondern auch zwei Flaschen Jägermeister, eine Packung Klopfer und eine Flasche Korn.

"Ob das reicht?". Lara zog eine Schnute. Die Jungs musterten sie entgeistert, doch da fing sie an zu lachen und drehte den Verschluss der Kornflasche auf. "Natürlich reicht das! Auf Emma!"

Das scharfe Zeug drehte zwei Runden, dann wurde erstmal Kuchen gegessen und ein paar Gläser Cola getrunken, um noch lang genug durch halten zu können.

Irgendjemand legte Tanzmusik auf und wir hüpften wie verrückt auf dem weißen Teppich umher.

Gegen neun Uhr kam die Pizza, die Max bestellt hatte, und unsere Gemüter wurden erstmal wieder ein wenig runter geschraubt, bis der Jägermeister an der Reihe war.

Es wurde lustiger, es war wirklich eine Mega-Party. Gina und Phil schienen sich wirklich gut zu verstehen, denn sie saßen ewig zusammen auf der Treppe und Ginas Augen leuchtete, als hätte man ein Licht dahinter angeknipst.

"Gina ist verliebt!", brüllte Lara und erhob sich schwankend.

"Kommt Leute, wir haben gleich Mitternacht und müssen doch auf unsere Emma anstoßen!" 

Auch wir anderen erhoben uns ein wenig unsicher auf die Beine und standen nun im Kreis zusammen.

"Fünf, vier, drei...". Wir schauten alle gespannt auf die Uhr an der Wand. "Zwei, eins... NULL!" Der Korken der Sektflasche flog in die Luft und Schaum lief den Flaschenhals hinunter. Ich bekam als erste die Flasche in die Hand gedrückt, während die anderen schief "Happy Birthday to you..." sangen.

 

Ein Handy klingelte. Klingelte und Klingelte. Murrend hob ich den Kopf und ließ ihn wieder sinken. Er war schwer wie eine Tonne Beton. Ich stöhnte und schloss die Augen. Es dauerte keine zwei Sekunden, da ging das Handy schon wieder.

"Kann nicht mal einer ran gehen?", brüllte ich, doch es kam nur gedämpft, wenn mein Gesicht lag immer noch auf dem Kissen. Plötzlich verstummt der nervige Ton. Es schien jemand ran gegangen zu sein. Nein, es war nur die Mailbox.

"Guten Morgen, Lara. Wir haben sieben Uhr, Zeit zum Aufstehen und euch für die Schule fertig zu machen. Richte Emma doch bitte alles Gute von uns aus. Bis Morgen." Klack. Aufgelegt. Na endlich. Ich wälzte mich auf die andere Seite. Jetzt war wieder Ruhe.

Doch im nächsten Moment setzte ich mich so schnell auf, das mir ganz schlecht wurde. Sieben Uhr?! Heute war doch Mittwoch! Scheiße. Unsicher stand ich auf und atmete tief durch. Das Wohnzimmer war zu einem Matratzen- und Schlafsacklager umgebaut worden. Ich erinnerte mich dunkel daran, dass Merle gestern eine Matratze vom Dachboden holen wollte, weil sie meinte, sie könnte sonst nicht schlafen. Das unbezogene Ding lag halb auf der Treppe, halb auf dem Boden. Merle hatte wohl den Teppich doch ganz bequem gefunden, denn da lag sie nun wie ein Käfer auf dem Rücken und schnarchte. Die anderen hatten es halb in ihre Schlafsäcke geschafft. Nur Lara lag mit dem Gesicht an das Sofa gelehnt und grunzte Unverständliches vor sich hin.

Doch das war noch lange nicht das Schlimmste, denn als ich tief einatmete, merkte ich erst, wie sehr es hier drin stank. Es roch nach etwas Saurem. Als ich auf Phil blickte, wusste ich auch schon, was es war. Er lag mit seiner Schulter halb auf dem Teppich und halb auf dem Erbrochenem auf seinem Schlafsack. Ich kreischte auf.   

Damit weckte ich die Anderen.

"Willst du mich verarschen?". Lara richtete sich schwankend auf und hielt sich die Hand vor dem Mund, dann rülpste sie laut.

Ich verzog das Gesicht und deute auf Phil. Meine Freundin drehte den Kopf und lachte laut.

"Ihr Schweine."

Sie stellte sich neben mich und rieb sich den Kopf. "Ist dein Kopf auch total für'n Arsch?". Sie grinste, ich nickte.

"Chillt doch mal!". Das war Merle. Sie krabbelte auf allen Vieren zu uns und setzte sich neben mich wie ein Hund. Dann wanderte ihr Blick von mir zu Lara und wieder zurück.

"Scheiße". Sie zog sich an meinem Arm hoch. "Wir haben Mittwoch, oder?" Ich nickte langsam.

Gina rappelte sich auf, blickte prüfend in unsere Gesichter und verschwand in der Küche.

"Ab ins Bad mit euch", rief sie. "Ich mach euch leckere Tomaten-Eier-Cocktails."

Wir verzogen angewidert das Gesicht und Lara rülpste erneut, bevor wir uns die Treppe ins Bad hoch hangelten. Mehr als das verschmierte Make-up abwaschen und einmal mit der Bürste durch die Haare gehen gab die Zeit nicht her, aber zum Glück lagen meine Sachen noch ordentlich bei Lara auf dem Bett. Dreimal knöpfte ich die Bluse verkehrt zu, bis ich es schließlich satt hatte und einfach nur den blauen Pulli anzog. Die anderen hatten es nicht so schnell geschafft wie ich, wieder in der Küche zu sein.

Stöhnend ließ ich mich auf den Barhocker fallen und griff zu dem Glas, das Gina mir reichte. "Eins, zwei und drei. Runter damit!", kommandierte sie und leer war das Glas. Ich würgte erneut und bekam einen schrecklichen Hustenanfall.  

"Stell dich nicht so an". Sie reichte mir ein Butterbrot. "Iss. Dann ist dir nicht mehr schlecht."

Sie hatte recht. Es dauerte keine zehn Minuten, dann ging es mir schon besser. Wir hatten noch fünf Minuten, verriet mir ein schneller Blick auf die Uhr. Die anderen beiden kamen in die Küche getorkelt und machten ebenfalls ihre Gläser leer und aßen ihre Brote.

"Warum bist du so gut drauf?". Ich hatte mich gegen die Küchentür gelehnt, während Gina gewaltsam die Jungs wachrüttelte. Der Geruch hing immer noch in der Luft und ich stellte das Fenster auf Kipp.

Meine Freundin warf mir einen verächtlichen Blick zu. "Während ihr euch eure Cola-Korn reich gepfiffen habt, habe ich nur die Cola getrunken. Ich wusste, dass das so endet. Aber mit nur einem Kotzenden können wir ja zufrieden sein."

Sie hatte immerhin Max wach bekommen, der auch sofort aufsprang, als er den Geruch einordnen konnte und das Desaster auf dem Schlafsack seines Freundes sah.

"Du Penner!", schrie er und schlug ihm auf den Hinterkopf, was zur Folge hatte, dass der auch endlich mal den Kopf hob. Verschlafen blickte er in die Runde und schien anscheinend gar nicht zu wissen, wo er war. Er wollte sich gerade wieder hinlegen, als er die feuchte Stelle an seiner Schulter bemerkte. Er lief rot an, wir lachten.

"Mach das sauber. Jetzt!" Gina warf ihm einen Lappen zu. "Und seht zu, das ihr weg kommt. Wir haben verschlafen und ihr habt heute frei, also könnt ihr euren Kater auch zu Hause ausschlafen."

"So gastfreundlich seid ihr also", grummelte Phil und hielt sich den Kopf.

"Halt dein Maul. Es war so abgemacht. Von mir aus kannst du dich gleich in irgendein Gebüsch legen und pennen". Max machte sich an dem Fleck zu schaffen.

"Ich geh erst mal pissen", nuschelte sein Freund und taumelte die Treppe hoch.

"In einer halben Stunde seid ihr hier verschwunden, ist das klar?" Gina hatte uns in den Flur geschoben und öffnete die Tür. Keine Antwort.

"Ob das klar ist, habe ich gefragt!"

"Jaja!", gab Max zurück. Gina zog die Tür hinter uns ins Schloss.

Kapitel 9

 

Erschöpft ließ ich mich auf den Fliesenboden fallen und lehnte den Kopf gegen die Kabinentür. Mein Herz raste und ich schwitze wie verrückt, aber viel schlimmer waren dieses Bild in meinem Kopf. Wer wollte mir so etwas antun? Wer wollte mich so sehr quälen? Waren Merle, Lara und Gina zu so etwas grausamen im Stande? Natürlich wusste ein Großteil der Schule, was passiert war, oder glaubte die Gerüchte, die umher liefen, aber jetzt hatte man mich bloß gestellt. Ich hatte noch nie von einem Zeitungsartikel gehört, bei dem ich auf der Titelseite stand. Hatten meine Eltern ihn gelesen? Hatten sie ihn vielleicht, genauso wie die Bilder, aufbewahrt?

Ich würgte erneut und erbrach mich in die Toilette.

Die Tür öffnete sich. Jemand rief nach mir, ich antworte nicht. Ich wusste gar nicht, ob ich in der Lange war, zu sprechen.

Meine Beine, die schlaff auf dem Boden lagen hatten mich verraten, denn plötzlich stand ein kleines pummeliges Mädchen in der Kabinentür.

"Oh Gott, Emma", sie bückte sich, ich blinzelte. War das nicht diese Lizzy oder Larissa aus meiner Klasse?

"Geht es dir nicht gut?"

Was für eine dumme Frage! Ich schüttelte den Kopf.

Sie reichte mir die Hand. "Komm, ich helf dir beim aufstehen."

Widerwillig ließ ich mich von ihr auf die Füße ziehen. Ich war einen guten Kopf größer als sie.

Völlig ausgelaucht taumelte ich zu den Waschbecken und ließ mir kaltes Wasser über die Hände laufen.

"Herr Willig hat nach dir gefragt und Jan hat sich zu den Toiletten rennen sehen", erklärte das Mädchen ihr Kommen.

Dieser Jan schon wieder, da könnte ich mich gleich nochmal übergeben! Konnte der sich nicht einfach aus meinem Leben raus halten?

"Soll ich dich im Sekretariat abmelden?" Sie stand unschlüssig in der Tür.

Ich nickte dankbar und fuhr mir mit den Fingern durch die Haare.

Immer noch müde und etwas unsicher auf den Beinen setzte ich mich draußen auf die Bank und wartete darauf, das mich jemand abholte.

 

Ich konnte den großen Wagen meiner Mutter schon von weitem erkennen und macht mich auf dem Weg zum Tor. Auf dem Schulhof war außer mir keine Menschenseele. Mein Blick schweifte über die vielen hohen Fenster, hinter denen Schüler saßen und dem Unterricht folgten. Irgendwo da saßen auch die drei. Sie würden sich nichts anmerken lassen, das musste ich, aber jetzt wusste jeder Bescheid. Hatten sie den Bericht extra aufbewahrt, weil sie wussten, das ich zurück kommen würde?

Im Auto saß meine Tante, nicht meine Mutter.

"Sonja muss arbeiten und da bin ich schnell eingesprungen", erklärte Mia und fuhr aus der Parklücke. Meine Finger zitterten, als ich mich anzuschnallen versuchte und mein Kopf sank sofort an die angenehm kühle Scheibe. Hatten sie überhaupt irgendwas gefühlt, als sie das Bild gesehen hatten?

"Du bist ganz weiß, Emma. Frau Petri meinte nur, eine Klassenkameradin hätte ich auf der Toilette gefunden, ist das wahr?" Mia setzte den Blinker und gab Gas, als sie endlich von der 30ger Zone weg war.

Ich nickte.

"Was ist denn passiert?"

Ich wollte es so kurz wie möglich halten. "Der Zeitungsartikel vom 1.1 hing am schwarzen Brett. Jemand hat ihn ausgeschnitten und dort aufgehängt." 

Sie zog scharf die Luft ein und bremste etwas zu knapp vor der roten Ampel, der Gurt schnitt mir in den Hals.

"Wer tut so etwas? Man kann dich doch nicht so bloß stellen!"

Ich antwortete nicht. Sie hatte sich verraten. Sie hatten ihn gelesen und jetzt lag er vermutlich irgendwo rum.

Bis wir in die Parke vor dem Haus fuhren sprach ich kein Wort.

Mia sperrte mir die Tür auf. Ich stürmte nach oben ins Badezimmer und übergab mich erneut.

Die Tränen liefen einfach so, ich konnte sie nicht aufhalten.

"Emma? Kann ich dir irgendwie helfen?"

Mia stand vor der Tür und trommelte leise mit den Fingerknöchel gegen den Rahmen.

"Nein!", rief ich erstickte und bekam einen solchen Hustenanfall, das ich nicht antworten konnte, als sie fragte, ob sie rein kommen könnte und so schob sie langsam die Tür auf.

Ich drehte mich weg und wischte mir mit dem Ärmel das Gesicht trocken.

"Du musst dich vor mir nicht verstecken, Liebes." Mia setzte sich neben mich und reichte mir ein Glas Leitungswasser. "Hier, trink. Es wird dir gut tun."

Widerwillig nahm ich es und lehrte es mit einem Schluck.

Danach konnte ich wieder sprechen.

"Ich wusste nicht, das ihr den Artikel auch gelesen habt. Liegt er hier irgendwo?"

Mia schüttelte den Kopf. "Dein Vater hat ihn sofort vernichtet, er wollte nicht, das man so etwas über seine Tochter ließt. Er war so wütend, das er ihn in kleine Teile verrissen hat."

Ich sagte nichts. Meine Tante strich mir das Haar aus der Stirn und streichelte meine Wange. "Weißt du wer so etwas machen könnte?" 

Langsam nickte ich. "Die drei von damals."

Erschrocken starrte sie mich an. "Die sind auf deiner Schule? Weiß deine Mutter das?"

"Keine Ahnung."

"Das lässt sich schnell klären." Sie rappelte sich auf. "Mir ist das jetzt ziemlich egal, ob ich sie in der Firma an rufe oder nicht. Sie kann ihre Tochter doch nicht so einer Gefahr aussetzten!" Wütend rannte sie die Treppe runter.

Ich stützte mich am Badewannenwand ab und schlürfte in mein Zimmer.

Mein Bett war noch ungemacht, doch ich zog nur meine Klamotten aus und war so erschöpft, das ich es noch nicht einmal schaffte, mich zu zudenken.

Es dauerte nicht lange, da hörte ich, wie Mia sich neben mich setzte.

Sie legte mir einen kalten Waschlappen auf die Stirn, nahm behutsam meine Binden ab und deckte mich zu.

Ich träumte von Blut und Narben.

 

Ich wurde wach, weil mein Kopfkissen nass war.

Der Lappen war von meiner Stirn gerutscht und lag nun auf der Matratze. Jemand hatte das kleine Fenster über meinem Kopfende geöffnet, ich drehte mich auf den Bauch. 

Es regnete. Ein leichter Schauer an heißen Sommertagen. Etwas angenehmes.

Mir war nicht mehr übel und so traute ich mich in Bademantel und nackten Füßen ins Erdgeschoss zu schleichen.

Sie hatten sie Terrassentür geöffnet, um die stickige Luft im Haus etwas zu erfrischen. Mein Vater und Mia schauten Fernsehen, meine Mutter bemerkte mich als erstes. Sie kam zu mir und drückte mich an sich. "Es tut mir so leid", flüsterte sie. "Ich wusste nicht, das die noch da sind. Es tut mir so leid."

Ich schob sie von mir weg. "Ist schon gut."

Mia hatte sich vom Sofa erhoben und stand jetzt neben meiner Mutter.

"Schön, das du wach bist, Emma. Du kommt heute Abend für ein paar Tage zu mir."

Ich riss die Augen auf. "Echt?"

Meine Mutter nickte.

"Du brauchst einfach mal ein paar Tage Auszeit und das Meer wird dir gut tun."    

"Und was ist mit der Schule?", ich hob eine Augenbraue.

"Wir haben dich beurlauben lassen", meine Mutter warf Mia einen schnellen Blick zu.

Mir war klar, das sie das nicht ganz freiwillig in die Wege geleitet hatte.

"Für wie lange?"

"So viel Zeit, wie du brauchst." Meine Tante deute in den Flur. "Deine Sachen habe ich schon zusammen gepackt. Der Flieger geht um sechs."

Sie hatte recht, neben den beiden roten stand mein etwas kleinerer Rollkoffer.

"Warum habt ihr meine Sachen gepackt? Das kann ich auch alleine." Ich war empört.

Warum machte ich Spontanausflüge?

Wieso durfte ich meine Tasche nicht mehr selbstständig einpacken?    

"Komm, Emma ich helfe dir beim anziehen. Wir haben noch eine halbe Stunde." Meine Mutter begleitete mich die Treppe hoch.

 

Wir brauchten keine viertel Stunde bis wir am Flughafen war. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch kein Flugzeug betreten und war deshalb froh, das Mia sich so gut auskannte. Staunend betrachtete ich durch die Fenster die dickbäuchigen Vögel, die abflogen und landeten.

Ich war so dermaßen abgelenkt, das ich noch nicht einmal bemerkt hatte, das meine Tante mich in einer der vielen Sitzecken alleine gelassen hatte, um unser Gepäck weg zu bringen. Das bemerkte ich erst, als sie wieder vor mir stand und mit den Boardkarten vor meiner Nase herum wedelte.

"Los geht’s", sie nahm meine Hand. "Du bist noch nie geflogen, oder?"

Ich schüttelte den Kopf und ließ mich von ihr durch die Menschenmasse ziehen.

Unser Flieger war groß und wir waren so ziemlich die letzten in der Schlange.

"Hoffentlich bekommen wir noch Plätze", zischte ich.

Meine Tante lachte. "Aber natürlich. In einem Flugzeug musst du immer reservieren."       

Ich muss zugeben, ich war schon aufgeregt, als wir auf der Treppe standen und schließlich eingelassen wurde.  

Mia überließ mir den Fensterplatz und es dauerte auch nicht lange, da tönte eine helle weibliche Stimme aus den Lautsprechern. Ich verstand nur teilweise was sie sagte und so schnallte meine Tante mich an, den das hatte ich ausgerechnet nicht mitbekommen.

Wir fuhren an und als wir in die Luft hoben war mein Magen irgendwo, nur nicht da, wo er sein sollte. Mia zwinkerte mir zu. "Sobald wir ruhiger fliegen wird das wieder", sie hielt meine Hand.

Ich musste wohl einen ziemlich passenden Gesichtsausdruck zu meiner Lage gemacht habe. Aber sie hatte recht, sobald wir nur noch leicht schaukelten war das unangenehme Gefühl verschwunden und ich konnte wieder etwas ruhiger atmen.

"Wir brauchen ungefähr eine halbe Stunde bis nach Hamburg. Vielleicht machst du einfach mal ein bisschen die Augen zu. Bei dem leichten Schaukeln schläfst du wie ein Baby", Mia zwinkerte mir zu, setzte ihre Lesebrille auf und kramte eine Zeitschrift aus ihrer Handtasche. "Ich wecke dich, bevor wie landen, versprochen."   

 

Die Zeit verging wortwörtlich wie im Flug, denn ich hatte den Eindruck, ich hätte meine Augen noch nicht ganz geschlossen, als Mia schon leicht an meiner Schulter rüttelte.

"Wir landen gleich", sie verstaute das Brillenetui in ihrer Tasche.

Mein Magen hing in der Höhe meines Kopfes, aber bevor ich dachte ich müsste würgen, rollten wir schon aus und ich sah die Flugbahn an mir vorbei rasen.

 

Hamburg war eine große und laute Stadt und mir fiel sofort Berlin ein, wo ich zweimal mit meinen Eltern als kleines Kind gewesen war.

Mia und ich stiegen in eines der vielen Taxis, die vor dem Eingang standen und ließen uns durch die überfüllten Straßen kurven.

Es war der typische Feierabendverkehr mit fluchenden Leuten, hupenden Autos und rücksichtslosen Jugendlich die einfach so über die Straßen liefen.

Ruhiger wurde es erst, als wir die Innenstadt verlassen hatten, durch Wohngebiete fuhren und ich vereinzelt hinter den Bäumen das Meer erkennen konnte.

 

Ich war noch nie in dem Haus gewesen, das Mia und Ludwig gekauft hatten und so war ich erstaunt darüber, das es so klein war.

Der freundliche junge Fahrer stellte uns die Koffer vor die Haustür, verabschiedete sich mit einem schiefen Lächeln und brauste davon.

Der Vorgarten war üppig mit Rosen bepflanzt und als ich den Blick hob, sah ich, das die komplette Vorderfont mit Efeu zugewachsen war.

"Jetzt komm schon rein", meine Tante hatte die Tür aufgeschlossen und keine Hand mehr frei, um meinen Koffer auch noch zu nehmen.

Schnell eilte ich zu ihr und zog mein Gepäck in den kleinen hellen Flur.

Es gab eine Etage und den ausgebauten Dachboden.

Im Erdgeschoss reichte eine offene Küche in das große Wohnzimmer mit Kamin und einer breiten Tür zum Garten hinaus.

"Hast du eine Putzfrau?"

Es roch frisch nach Putzmittel, obwohl meine Tante die letzten beiden Tage gar nicht hier gewesen war.

Sie nickte. "Ja, meine Nachbarin kümmert sich um das Haus, wenn keiner da ist. Ich habe sie heute Mittag noch angerufen und gesagt, sie solle das Gästezimmer für dich fertig machen. Du kannst ruhig schon mal hoch gehen und dich einrichten. Der komplette Dachboden steht dir zur Verfügung. In der Zwischenzeit versuche ich uns etwas leckeres zum Essen zu Kochen."

Kapitel 10

 

Der Schultag verging im Schneckentempo. In den großen Pausen verkrochen wir uns auf den Toiletten, denn hier war es wenigstens ruhig, bis auf die Kabinentüren, die aufgingen und wieder zuschlugen.

Wir sprachen kaum miteinander und im Unterricht saßen wir träge auf unseren Plätzen, doch das machte nicht viel aus. Als gute Schülerin konnte man sich halt mal einen etwas entspannteren Tag gönnen.

Doch was mich zu Hause erwartete, war überhaupt nicht entspannt. Meine beiden Tanten waren angereist und sogar Mias Lebensgefährte Ludwig hatte es mal geschafft, mitzukommen.

Sobald ich die Tür aufschloss, flogen mir Luftschlangen um die Ohren und bunte Girlanden hingen über dem Tisch mit den Geschenken. War ich hier aus versehen in der Kinderstube gelandet, oder was war los?

"Alles, alles Liebe, meine Maus!" Meine Mutter erdrückte mich fast und setzte mir ein Geburtstagshütchen auf, dann klatschte sie zweimal in die Hände und stimmte "Viel Glück und viel Segen" an.

Ich musste mich wirklich zusammenreißen, um mir nicht anmerken zu lassen, wie kindisch ich das alles fand.

"Na los, pack' deine Geschenke aus." Meine Mutter rückte mir einen Stuhl zurecht, doch ich wollte lieber stehen bleiben. Meine restliche Verwandtschaft hielt sich im Hintergrund, nur meine Mutter quiekte bei jedem Päckchen auf. In Mias Päckchen verbarg sich ein langer roter Seidenschal, der mit goldenen Mustern durchzogen war. "Damit du in den Herbsttagen etwas schönes für deinen schlanken langen Hals hast", sie war nun doch hinter mich getreten und ich gab ihr einen Kuss auf die Wange.

"Danke Mia."

Ich hätte fast damit gerechnet, das sich das Geschenk meiner Eltern als ein springender Clown oder so etwas in der Art entpuppen würde, so wie meine Mutter sich benahm, doch es kam ein langes schwarzes Kleid zum Vorschein. Es war schlicht, doch als ich es umdreht, sah ich erst, das der gesamte Rücken offen war. Ich staunte und bekam zuerst gar kein Wort heraus, doch dann fiel ich meiner Mutter um den Hals.

"Du hast dir doch etwas schönes für Silvester gewünscht, nicht wahr?"

Ich nickte und Freudentränen bildeten sich in meinen Augen, mein Vater lachte und streichelte meine Schulter. "Das freut uns, das es dir gefällt."     

Für einen kurzen Moment waren die Kopfschmerzen und der trockene Hals vergessen und ich stellte mir vor, wie ich damit zu der Silvesterparty gehen würde. Den anderen würden die Augen ausfallen, da war ich mir sicher.

Tante Birgits Geschenk waren die passenden hochhackigen Schuhe dazu, auf deren Spitzen kleine Glitzsteinchen klebten.

Ich war so gerührt von meiner Familie, das ich mich bedingungslos hochleben ließ und mich sogar ziemlich lange dazu setzte, um Kaffee und Kuchen zu trinke, obwohl mein Kopf nach wie vor zu platzen drohte.

Doch schließlich meldete ich mich doch mit der Ausrede ich hätte noch viele Schularbeiten zu machen, ab und schlief ein bisschen.

 

Die letzten Schultage wurden lange, da wir bis nachmittags bleiben mussten, um den Weihnachtsmarkt zu betreuen und anschließend als zehnte Klassen für das Aufräumen zuständig waren.

Meine Eltern hatten sich so kurz vor Weihnachten Urlaub genommen, um das Haus von innen und außen zu schmücken und einen großen Tannenbaum zu kaufen.

Am letzten Schultag verabschiedeten wir uns vor dem Schultor nur kurz, denn Abends würden wir uns ja bei der Kostümfete wieder sehen. Ob die Jungs diesmal auch dabei waren?

Ich hatte mir das Teufelchen ausgesucht und meine Mutter war begeistert von meinem selbst zusammengestelltem Kostüm. Sie erklärte sich sogar bereit, mich in die Innenstadt zu fahren, denn es war doch noch kälter geworden, als ich erwartet hatte.

Die Mädels traf ich vor dem Eingang des Club, doch wie waren so wild gestylt und geschminkt, das ich sie kaum erkannte. So bald ich meiner Mutter zum Abschied gewunken hatte und sie um die Ecke gebogen war gab Merle eine Runde Klopfer zum Aufwärmen aus.

Doch bei dem einen Fläschchen blieb es. Der Türsteher war ein mürrischer Typ mit Glatze und einem sehr guten Blick, was die genaue Altersangabe anging. Ein Grüppchen zu junger Mädels drehte sich mit wütenden Gesichtern wieder um und stapften davon. Es war eben erst ab 16 Jahren Einlass. Stand aber auch auf den Werbeplakaten drauf, die überall an den Wänden in der Stadt klebten.

Die Musik war dröhnend laut und man konnte sich nur durch Handzeichen verständigen. Lara besorgte uns Bier und wir fanden einen Platz in der ersten Etage, von wo aus wir das ganze Geschehen überblicken konnten. Bei den Kostümen waren einige wirklich kreativ gewesen. Wilde Löwenmähnen, lange Vampirmäntel und krumme Koboldnasen.

Phil und Max entdeckten wir auch, jedoch waren sie mit ihren Freunden gekommen und so begrüßten sie uns nur mit einer kurzen Umarmung und tauchten wieder unter.

Das Bier war zu kalt und zu teuer, der Saal zu voll, die Toiletten zu dreckig und die Musik zu laut. Vor Mitternacht rief ich noch meine Mutter an und bat sie uns abzuholen.

"Das war ja mal ein totaler Reinfall", stöhnte Lara, als wir im Auto saßen und uns langsam von der Musik entfernten.

"Kann ja mal passieren", versuchte ich sie zu trösten. "Aber bald ist ja auch schon Silvester, da haben wir wieder unsere eigene Feier und können alles so machen wie wir es haben wollen." Als meine Mutter grade keinen Blick in den Rückspiegel warf, zwinkerte ich meinen Freundinnen zu. Ja, an Silvester würden nicht nur die Raketen, sondern auch unsere Stimmung in die Luft gehen.

 

Es war mal wieder diese typische Vorweihnachtsstimmung, die mir mittlerweile zum Hals raus hing. Meine Mutter regte sich über die vollen Supermärkte auf und mein Vater schimpfte über den Weihnachtsbaum, weil er soviel Dreck verursachte.

Am 23. Dezember machte ich mich alleine auf den Weg in die Stadt, um für meine Familie Geschenke zu kaufen. Es war ungewohnt ohne die Freundinnen in den Läden zu stöbern.

Ich hielt mich nicht lange auf den vollen Straßen auf. Für meine Mutter kaufte ich eine schöne Tasse, weil ihr erst vor kurzem eine kaputt gegangen war und mein Vater würde sich bestimmt über ein neues Buch in seinem Regal freuen.

Der letzte Tag vor heilig Abend endete mit einem gemütlichem zusammen sitzen  vor dem Fernseher. Meine Mutter hatte den Baum zu Ende geschmückt und Plätzchen gebacken, während mein Vater das letzte mal den Staubsauger geschwungen hatte.

 

Die Geschenke waren bis jetzt in keinem Jahr groß ausgefallen und taten es dieses Jahr auch nicht. Sie schenkten mir Geld und einen Shopping-Gutschein und über meine Geschenke freuten sie sich sehr. Vormittags hatten wir eine gute Bekannte meiner Eltern im Krankenhaus besucht, weil sie grade heute ihr zweites Kind auf die Welt gebracht hatte. "Ein Jesuskind", hatte mein Vater lachend gerufen und den kleinen Fynn über den Kopf gestreichelt.

Es wurde ein ruhiger Abend, mit Tee und Plätzchen.

Der Duft nach Kerzen breite sich aus und auf der Terrasse bildete sich eine leichte Schneedeck.

Ein Weihnachten wie jedes Jahr.

Still und Besonnen und im engsten Kreis der Familie.

Kapitel 11

 

Den Morgen begannen meine Tante und ich mit einem Frühstück im Garten.

Sie besaß sogar einen Strandkorb und hatte ihn in ein sonniges Eckchen gestellt, gegenüber der blühenden Obstbäume.

"Hat dich das hier nicht ein Vermögen gekostet?", fragte ich mit vollem Mund und schmierte mir ein weiteres Brot.

Mia lachte. "Aber nein. Ludwig hat es einem guten Freund für die Hälfte abgekauft, nur mussten wir viel Energie in die Renovierungen stecken und der Dachboden war damals auch noch voll mit alten Möbeln."

Ich seufzte. "Ich hätte auch gerne so ein schönes Haus."

Wenn ich ganz leise war, konnte ich sogar das Meer rauschen hören. Ich hatte es noch nie gesehen.

"Können wir heute vielleicht zum Strand gehen, Mia?"

"Aber natürlich. Allerdings habe ich noch etwas anderes mit dir vor, aber wir bekommen das schon beides hin. Dann zieh dich mal an und dann machen wir uns sofort auf den Weg."

Ich schaute an mir herunter. Ja, ich sollte nicht in Bademantel raus gehen.

"Nimm Badezeug mit", rief sie mir, nach als ich schon auf der Treppe war. Badezeug? Meine Mutter hatte mir nie erlaubt schwimmen zu gehen, sie meinte immer Salzwasser sei der größte Fehler den man machen könnte und ungeschützt in der Sonne zu liegen, ohne Binden und Kleider genauso.

Warum ich meine Sachen nicht alleine packen durfte, merkte ich, als ich den Koffer öffnete und mir sofort Kleidung entgegenkam. Kurze Hosen und T-Shirts, Tops und Kleider. Keine lange Hose oder eine langärmlige Bluse! Ich erschrak.

"Mia, wo sind die Binden?", rief ich und hoffte, das ich laut genug war, dass sie mich hörte.

Ein weites mal durchwühlte ich den Stapel aber ich bekam nur schließlich meinen Bikini und eine Jeansjacke ohne Ärmel in die Finger.

"Die brauchst du nicht mehr." Meine Tante war ins Zimmer gekommen und stand lächelnd in der Tür.

"Natürlich brauche ich die! Zuhause darf ich niemals ohne raus und außerdem, warum hast du mir nur kurze Klamotten eingepackt?" Ich war so aufgeregt, das ich den Stapel umstieß und auf und ab lief. 

Mia versperrte mir den Weg. "Beruhige dich doch. Hier bist du zuhause und brauchst das Ganze nicht. Ich habe mit den Ärzten gesprochen, deine Mutter übertreibt."

Skeptisch wanderte mein Blick von meinem Koffer und wieder zu ihr. Hatte sie recht? Ich kannte nichts anderes, als das tägliche eincremen und einwickeln.

"Und was ist mit der Creme? Hast du die auch bei Mama gelassen?"

Sie schüttelte den Kopf. "Nein. Aber du musst dich nur noch eincremen, wenn du gebadet oder geduscht hast."

Ich verstand sofort, was sie eigentlich mit diesem Satz sagen wollte. Ich musste mich eincremen. Von ihr konnte ich keine Hilfe erwarten.

"Du hast mich ausgetrickst!", langsam wurde ich wütend. "Wenn ich keine Binden hier habe und auch keine langen Hosen, sehen sie es alle! Und ich auch."

"Mensch, Emma", meine Tante zog mich neben sich auf das breite Bett. "Was hat deine Mutter bloß mit dir gemacht, das du so sehr aus dem eigentlichem Leben ausgetreten bist?"

Aus dem eigentlichem Leben ausgetreten? Was wollte sie denn damit sagen? Ich stand morgens auf und ging zur Schule, kam mittags wieder, erledigte meine Hausaufgaben, wir aßen zusammen zu Abend und ich ging schlafen. Ganz normal.

"Wann hast du dich das letzte Mal mit einer Freundin getroffen, Emma?"

"Vor einem halben Jahr, an Silvester."

"Wann bist du das letzte mal feiern gegangen?"

"Vor einem halben Jahr, die Silvesterparty."

"Wann bist du das letzte mal in die Stadt gefahren, um unter Leute zu kommen?"

Ich überlegte kurz. "Kurz vor Weihnachten, als ich die Geschenke gekauft habe."

Mia legte mir eine Hand auf das Knie. "Merkst du denn gar nichts?"

Ich schwieg. Erst jetzt wurde mir klar, wie einsam ich in letzter Zeit einfach nur zu Hause gesessen hatte. Wieso hatte meine Mutter mich so sehr von der Öffentlichkeit abgeschirmt?

Hatte meine Tante recht und ich könnte mich wieder raus trauen?

Sie hielt mir eine kurze Hose und eine gelbe tief ausgeschnittene Bluse hin. "Das sieht bestimmt toll aus. Probiere mal an, ich warte unten auf dich."

Im Gästezimmer befand sich kein Spiegel, das war gut, doch ich hatte gestern einen in dem kleinen Badezimmer gesehen.

Ein Kloß setzt sich in meinem Hals fest, als ich den Bademantel ablegte und in die kurzen Sachen stieg.

Mit geschlossenen Augen tastete ich mich an der Wand entlang zum Bad und verriegelte die Tür.

Ein blasses, schlankes Mädchen mit langen Beinen stand mir gegenüber. Das Gesicht von hellen braunen Wellen umrandet, die bis zu den Schultern gingen.

Von da an war die Haut fleckig weiß und rosa, getrennt von blassen Narben, die sich leicht dunkel hervorhoben.    

Die Bluse lag flach an meiner Brust, keine Erheben zu erkennen. Die Beine sahen genauso aus wie die Schultern und der Ausschnitt, nur viel blasser zwei etwas dickere Narben an den Knien. Mehr war es nicht.

Es sah ungesund aus, ja natürlich, aber sie hatten recht gehabt. Das Bild mit dem dünnen Arm schlich sich in meinen Kopf, es war besser geworden, viel besser, dennoch wandte ich mich vom Spiegel ab, ich hatte erstmal genug gesehen.

Meine Haare steckte ich locker hoch, ging mir kurz mit einem kalten Waschlappen durch das Gesicht und stieg die Treppen runter.

Mia stand schon im Flur und schlüpfte in offene Sandalen.

"Du hattest recht", ich zog mir die Jeansjacke über. "Es hat sich gebessert. Danke, das du mir das Bild von damals, von meinem Arm, wie er im Krankenhaus aussah gezeigt hast."

Meine Tante schaute mich eine Weile schweigend an. "Ich bin so froh Emma, das du es geschafft hast. Jetzt ist der erste Schritt gemacht."

Sie schulterte ihre Tasche und nahm den Autoschlüsse.

"Trotzdem fahren wir jetzt zum Strand, den nächsten Schritt können wir morgen machen. Stimmt's?"

Ich nickte, ja für heute reichte es erst mal.

Ihr roter Mini fuhr schnell durch die vollen Straßen.

Lange waren es nur weite Wiesen mit Kühlen, Pferden und Windmühlen, die ich sah, wenn ich aus dem Seitenfenster schaute, doch sie wurden zu schmalen Straßen, mit Restaurants, offenen Cafés und Supermärkten, als wir in den nächsten Ort fuhren.

Sie öffnete das Verdeck und warmer Wind zerzauste unsere Haare und ich konnte das Rauschen des Wassers hören, als wir dem Deich immer näher kamen.

Es roch nach Tang und Salzwasser, als wir die schmale Treppe zu den Dünen hinaufstiegen.

Familien mit kleinen Kindern und Bollerwagen kamen uns entgegen und ihre Blicken fielen nur kurz auf mich.

Ich nahm sie wahr, jedoch wandten sie sich schnell wieder ab, machten uns freundlich Platz und gingen weiter. Es war nicht so extrem, wie ich vermutet hatte.

Die grelle Sonne tat gut, als wir uns auf einer Holzbank nieder ließen und mit den Händen die Augen abschirmten, um das Geschehen am Strand zu beobachten. Strandkörbe in verschiedenen Farben standen mit dem Rücken zur Sonne, Kinder spielten nahe am Wasser und kannten kreischend vor den kleinen Wellen weg, ältere Leute hatten es sich mit Liegestühlen und Sonnenschirmen im Sand bequem gemacht.

Der Geruch des Meeres und das Rauschen der Wellen setzte sich in meinem Kopf fest und ich seufzte erleichtert.

Ich hatte es so weit geschafft. Ich war froh darüber.

Mia sagte lange nichts, bis sie sich schließlich wieder erhob und mit den Schlüsseln klapperte.

"Komm, Emma. Wir können noch oft hier hin gehen, aber jetzt haben wir noch etwas anderes vor."

Sie schien gemerkt zu haben, das es mir hier sehr gefiel.

Wir gingen zum Parkplatz zurück, aber Mia nahm nur die Tasche mit unseren Badeanzügen und den Handtüchern aus dem Kofferraum und wir stiegen erneut zu den Dünen hoch. 

Wollte sie mit mir im Meereswasser schwimmen gehen? Würde das nicht meine Haut zu sehr schädigen?

Wir gingen nicht zum Strand runter, sonder weiter auf den Dünen, bis zu einem breitem Abgang zu einem Glasgebäude.

Auf dem Schild über dem Eingang stand in geschwungenen Buchstaben "Therme".

"Wie gehen in ein Schwimmbad, Mia?"

Ich hatte noch nicht wirklich darüber nachgedacht, was das bedeutete.

Das hieß Badeanzug an, und so waren meine Arme und meine Beine für alle sichtbar, ich schluckte. Würde ich auch das schaffen?

"Es ist ein Kur-Bad, Emma. Ich habe es oft meinen Patienten empfohlen."

Meine Tante hatte mal eine Weile als Physiotherapeutin gearbeitet und sogar eine kleine Praxis hier gehabt.

Doch das beruhigte mich auch nicht wirklich. Auch wenn es ein Kur-Bad war, hier waren trotzdem Menschen, die mich sahen, auch wenn sie selber mit ihrem Körper Probleme hatten.

"Aber Chlorwasser ist ganz bestimmt nicht gut", versuchte ich den Besuch noch irgendwie abzuwenden, doch sie schob mich schon durch die automatische Tür zur Kasse.

"Hier ist kein Chlorwasser, da kannst du beruhigt sein. Viele Menschen mit Hautschäden kommen hier hin."

Ich schwieg, ließ sie die Eintrittskarten kaufen und als wir durch das Drehkreuz gingen, gab es wirklich keinen Weg mehr zurück.

Das Schwimmbad war kleiner, als ich erwartet hatte. Durch die Glasscheiben sah ich ein recht großes Schwimmerbecken, ein etwas kleineres rundes, wo alte Leute sich entspannten und drei blubbernde Whirlpools. Viel schien ja nicht los zu sein.

Die Kabinen hatten die übliche Größe, aber bei den Duschen hatte jeder seine eigene Nische mit einer Tür zum verriegeln.

Hier hielt ich mich lange auf.

Ich ließ das warme Wasser über meinen Rücken rieseln und neben mir stelle Mia schon ihre Dusche ab.

"Bist du fertig, Emma?"

"Gleich", das Wasser prasselte auf mein Gesicht und ich schloss die Augen, während ich langsam mit der Hand über meinen Körper fuhr. Es war glatt, nur die Narben fühlten sich etwas hart an. Würde das durch die Massagen noch verschwinden? Wie sähe ich ohne Marias Hände aus? Ich wollte es mir gar nicht vorstellen, denn meine Mutter hatte mir einmal ein Bild von wuchernden Narben gezeigt.

Meine Tante stand vor der Tür und wickelte mich in mein Handtuch ein. Eine ältere Frau mit lauter Knubbeln auf den Schultern kam uns entgegen und unsere Blicke trafen sich kurz.

"Patienten mit Hautkrankheiten empfehle ich oft hier einen Aufenthalt. Das Meer entspannt sie und die Salzluft ist gesund. Hauterkrankungen entstehen oft auf Grund von Stress", erklärte meine Tante mir. Wir gucken uns zwei Liegestühle auf der Sonnenseite aus und Mia sprang mit einem eleganten Köpper in das Schwimmerbecken.

Zögernd setzt ich mich an den Beckenrand und ließ mich in das kühle Wasser gleiten.

"Lass uns ein paar Bahnen ziehen, entspannen können wir gleich", sie tauchte ab und glitt mit tiefen Kraulzügen durch das Becken.

Wir waren alleine, das machte es leichter.

Sie schien zu merke, das ich nicht reden wollte.

Jeder hing den eigenen Gedanken nach, während wir unser eigenes Tempo fanden und uns vom anderen unabhängig machten.

Das auspowern hat mir gut und ich merkte schnell, das mir die Beine schwer wurden.

Kapitel 12

 

Meine Eltern ließen mich ausschlafen und als ich gegen zehn Uhr von selber aufwachte, stand eine heiße Tasse Kaffee auf meinem Nachtisch und eine kleine Karte daneben.

"Liebe Maus", hatte meine Mutter mit ihren kleinen geschwungenen Buchstaben darauf geschrieben, "Wie wünschen dir einen wunderschönen guten Morgen! Deine Vater und ich sind zu Oma ins Altenheim gefahren, aber zum Mittagessen sind wir wieder zu Hause. Obst steht im Kühlschrank, mach dir ein leckeres Frühstück! Kuss, Mama."

Es war nicht das erste mal, das ich sie nicht zu Oma begleitete. Die Dame hatte mittlerweile ein Alter von 98 Jahren erreicht und war eine dünne Gestalt in einem viel zu großen Krankenbett. Ihre zitternden Hände, ihre müden Augen und das sprechen ganzer Sätze, das sie sehr anstrengte, verkrafte ich nicht gut und war ich schon oft daheim geblieben. Natürlich hatte ich sie lieb und gerade deswegen wollte ich sie in diesem Zustand nicht sehen.

Der Kaffee war jetzt nur noch lauwarm und so konnte ich ihn mit einem Schluck runter kippen und die Tasse in die Küche bringen.

Es war ein leicht unangenehmes Gefühl so alleine zu sein. Der Himmel hatte sich zugezogen und Schneeflocken glitten an den Fenstern nach unten, eine Stille die sich wie Watte auf meine Ohren legte. Eine Weile lehnte am Kühlschrank und fühlte mich taub, bis ich schließlich den Kopf schüttelte und mich vor den Fernseher setzte. Meine Freundinnen hatten heute auch alle keine Zeit, da sie bestimmt zu Besuch bei der Familie waren die Telefonnummern der Jungs hatte nicht. Das klang mir nach ein paar sehr entspannenden Tagen.

Sie hatten Pommes von der Imbissbude in der Stadt mitgebracht und es wurde auch nicht über Oma geredet. Anscheinend hatte sich ihr Zustand wieder einmal verschlechtert.

 

In den nächsten Tagen stieg meine Vorfreude auf Silvester immer mehr. Meine Eltern würde wie immer für jedes Familienmitglied eine Rakete in den Himmel schicken und ich hatte mir vorgenommen mit den Mädels den Himmel komplett bunt zu gestalten.

Am 30. Dezember rief Merle mich aufgeregt an und erzählte irgendwas von Experiment, Rakete, ausprobieren und super Stimmung.

Jetzt war ich erst recht aufgekratzt und schlief die Nacht kaum.

 

Der eigentliche Silvestertag verging im Schneckentempo. Auf ein vernünftiges Frühstück hatte ich keinen Hunger und auch das Mittagessen ließ ich ausfallen, da meine Eltern sowieso einkaufen waren. Ich war unglaublich aufgeregt!

 

Am Nachmittag lenkte ich mich etwas ab, indem ich meiner Mutter beim Vorbereiten des Essens half und den Tisch festlich deckte. Danach hatte ich nichts mehr, was erledigt werden musste und konnte mich endlich im Bad einschließen und das Wasser in die Wanne laufen lassen.

Das Kleid fühlte ich herrlich auf meinen nackten Schultern an. Knielang war es und hinten sogar bis zum Ende der Wirbelsäule offen! Sie würde bestimmt total neidisch sein, da war ich mir sicher.

Meine Eltern brachten mich beide zu Merle nach Hause, sie wollten mich unbedingt nochmal in den Arm nehmen, bevor das neue Jahr begann.

"Du rufst uns um Mitternacht an, versprochen?", Meine Mutter konnte gar nicht aufhören meine Arme zu streicheln und mich leicht hin und her zu wiegen.

"Jaha", wiederholte ich jetzt zum dritten mal, Gina kicherte.

Die Hupe unseres Autos forderte meine Mutter erneut dazu auf ein zu steigen.

Sie seufzte: "Na macht euch mal einen schönen Abend und morgen Nachmittag holen wir dich wieder ab."

Ich gab ihr einen Kuss auf die Wange, drehte mich um und Gina schloss hinter mir die Haustür.

"Deine Mutter hängt aber ziemlich an dir, oder?" Merle kam die Treppe runter, in einem langen dunkelrotem Flatterkleid.

Ich zuckte mit den Schulter. "Kann sie ja ruhig, so lange sie uns in Ruhe feiern lässt. Und Merle, du siehst toll aus!"

Sie lief leicht rot an und fuhr sich verlegen durch die offenen Haare. "Musst du grade sagen, hast du nicht von dem Kleid erzählt?"

Ich nickte stolz und setzte mich auf den noch freien Barhocker in der Küche, Lara war damit beschäftigt ihre Fingernägel zu lackieren und bemerkte mich erst, als ich sie leicht anstupste.

Ich hörte die große Wanduhr immer lauter ticken, je öfter ich einen Blick darauf warf.

"Naaa, seit ihr schon alle aufgeregt?", Merle kam auf ihren hohen Schuhen leicht ins wackeln, als sie uns ein großes Tablett mit Rohkost auf die Theke stellte.

"Aber sicher doch", ich ließ meinen Zeigefinger über die Tomaten, Radieschen bis zu den Gurken wandern, bis ich mir schließlich ein Melonenstück in den Mund schob. "Und jetzt sag schon, was meintest du denn gestern am Telefon?"

Einen Moment lang schauten Merle und Lara sich fragend an, dann kicherten sie und warfen sich verschwörerische Blicke zu.

"Wirst du schon noch sehen!", Lara holte eine Packung Klopfer aus dem Kühlschrank und wedelte mit dem Fläschchen vor meiner Nase herum. "Willst du auch was?"

"Natürlich!", kichert drehte ich das kleine Fläschchen auf und ließ die kühle Flüssigkeit meine Kehle hinab laufen. Gänsehaut breitete sich auf meinen Armen aus.

"Mädels!", Gina klatschte feierlich in die Hände, "Das wird ein mega super hammer geiler Abend!" Wir lachten und applaudierten. Der Abend schlich dahin, Gespräche über Jungs und Schule verwanden mit jedem Fläschen Alkohol mehr und plötzlich kam Merle auf die Idee die Playstation an den Flachbildfernseher anzuschließen und Sing-Star zu spielen.

"Nee", protestierte Lara und kramte Chipstüten aus dem Regal über dem Herd, "Das ist doch nun wirklich zu kindisch!"

Einen Moment lang schwiegen wir, dann streifte sich Merle die hochhackigen Schuhe von den Füßen, um schneller die steile Treppe in ihr Zimmer auf dem Dachboden zu kommen, um die Konsole runter zu holen. Damit war Lara überstimmt.

Lange Diskussionen über die Lieder folgten, bis Gina schließlich genug hatte, den Stecker raus riss und in der Küche verschwand.

"Spielverderber!", rief ich ihr hinterher und die anderen nickten bestätigend.

Tänzelnd drehte sie sich um die eigene Achse, schob die Kühlschranktür mit dem Fuß zu und schwenkte eine Flasche Sekt hin und her.

Ich erschrak, war es wirklich schon so spät?

Merle fing an zu strahlen und flitze in den Keller.

Gina warf Lara einen viel sagenden Blick zu und versuchte den Sekt möglichst gerecht auf die vier Gläser aufzuteilen.

"Könnt ihr mir nicht endlich mal sagen, was hier abgeht?" leicht genervt stapfte ich hinter den beiden anderen in den Flur um mir den Mantel an zu ziehen. Ein Blick auf die Küchenuhr verriet mir, das wir noch genau zehn Minuten hatten.

"So besonders kann es doch gar nicht sein!"

"Oh doch", Merle hatte sich hinter mich gestellt und wedelte mit einem langem, dicken hölzernem Stab vor meinen Augen herum.

Einen Moment brauchte ich, um zu erkennen was es war. Ein Feuerwerkskörper an einem etwas zu langem Holzstab.

Ich verstand nicht ganz.

"Eine Rakete? Aber die haben wir doch zusammen gekauft." 

Merle verdreht die Augen, während sie in ihre Jacke schlüpfte und das Sektglas entgegen nahm, die Lara aus dem Wohnzimmer geholt hatte.

Gina legte mir einen Arm um die Schultern, sie war nicht mehr so ganz sicher auf den Beinen. "Das ist eine selbstgebastelte, du Dummi. Von den Jungs, als Geschenk."

Ich lachte, "Achso, jetzt hab ich verstanden. Ist ja genial!"

"Jetzt aber raus mit euch, die Knallerei fängt gleich schon an und das ganz bestimmt nicht ohne uns!", Lara schob uns aus der Haustür auf den Bürgersteig und stellte eine leere Weinflasche auf den Boden.

Merle reichte die Sektgläser rum und nun standen wir in einem engen Kreis zusammen, grinsten und warten.

Es war ein kalter Wind aufgekommen, der sich durch meine Jackenärmel fraß, Gänsehaut breitete sich aus.

"Drei", Lara hob ihr Glas an, ihre Augen blitzen, sie stahlt über das ganze Gesicht.

"Zwei", auch wir anderen hoben die Gläser.

"Eins!", klirrend stießen wir an.

Merle hatte als erstes ausgetrunken, feierlich nahm sie uns einen nach dem anderen in den Arm, gab uns ein Küsschen auf die Wange und im Chor wünschten wir uns ein frohes neues Jahr.

Was meine Eltern wohl grade machten? Bestimmt standen sie Arm in Arm auf der Straße und bestaunten den dunklen Himmel. Direkt neben uns gingen direkt zwei Raketen in die Luft, zischten, es knallte und roserne und blaue Funken tauchten unsere Gesichter kurz in Licht. Lara kicherte und hackte sich bei mir unter.

"Ist das nicht schön, Emma?"

Ich nickte. Ja, es war wunderschön. Über dem Kirchturm, dessen Spitze man schwach erkennen konnte, fraß sich ein gelb roter Feuerball in den Himmel, "Aaah's" und "Ooooh's" folgten. Kichernd warfen zwei Jungs Böller vor uns in den Gosse und als sie knallten und Funken spuckten, sausten die beiden ziemlich erschrocken wieder davon.

Merle grinste. "So kleine Rotznasen sind ja manchmal schon ganz süß."

"Wir wollen uns aber jetzt nicht länger über den Himmel oder Rotznasen unterhalten", Gina stellte sich vor mich und drückte mir das selbstgebastelte Ding in die Hand.

Erstaunt schaute ich die anderen an. "Warum ich?"

"Tja", Lara schob mich zu der Flasche, die auf dem Boden stand und reichte mir ein Feuerzeug. "Du bist die jüngste von uns."

Ich lachte. "Das ist doch kein Auswahlkriterium."

"Jetzt diskutier nicht", Merle nahm mir den Stab aus der Hand, steckte ihn in die Flasche und die anderen traten hinter mich.

Unsicher drehte ich das rosa Feuerzeug in den Händen, ich hatte noch nie einen Feuerwerkskörper angezündet. Ein paar mal ließ ich den Daumen über das Rädchen schnippen, in der Hoffnung eine der anderen würde es mir abnehmen und selber versuchen.

"Jetzt steh da nicht wie ein Angsthase, es beißt nicht." Sie schoben mich noch näher dran, jetzt berührte meine Stiefelspitze die Flasche. Vorsichtig ging ich mit der kleinen Flamme leicht in die Hocke und hielt es unter die Packung mit dem Zündstoff. So ähnlich wie mein Vater das immer gemacht hatte.

Nichts passierte. Es war einfach zu dunkel, um etwas vernünftiges erkennen zu können und das ganze laute Knallen und zischen um uns herum erschreckte mich jedes mal.

Leicht genervtes Seufzen hinter mir.

Einen Versuch würden sie mir noch lassen, das wusste ich.

Mit der linken Hand umfasste ich jetzt den Stock, um eine bessere Kontrolle über das Ding zu haben, mit der anderen ließ ich erneut eine Flamme auf dem Feuerzeug tanzen.

Etwas zischte und kleine Funken waren zu sehen.

Triumphierend drehte ich den Kopf. "Seht ihr! Ich habs doch noch hin bekommen."

Doch das einzige was ich sah waren erschrockene Gesichter und Merles Mund war geöffnet, wie zu einem Schrei.

Erneut zischte es. Hatte ich es etwas noch immer nicht geschafft? Die anderen gingen doch viel schneller in den Himmel.

Meine Gedanken wurden abgeschnitten. Ich stand zu nah an der Flasche, viel zu nah.

Es sauste auf mich zu, das Ding. Spuckte Feuer und Funken.

Jemand schrie. Schrie und schrie. Von diesem Geräusch bekam ich Kopfschmerzen. Und plötzlich war da ein Schmerz. Ein Schmerz der sich in dem rein fräste. Immer Tiefer. Ich fiel hin, merkte rauen Stein unter meinen Händen. Sah rot, viel rot. War das Blut? Wer schrie verdammt nochmal so laut? Er sollte aufhören! Ich presste mir die Hände auf die Ohren, doch es wurde nicht leiser.

"Holt Wasser!", eine panische Stimme, eine zuschlagende Tür, laute Absätze auf hartem Boden, immer wieder.

Immer noch Schmerz. Heiß und brennend aber plötzlich schluckte eine kalte Flüssigkeit die rote Farbe.

Es war still und dunkel. Endlich hatten diese Schreie aufgehört.

Kapitel 13

 

Die Wochen bei Mia verstrichen. Ich hatte viel Zeit für mich – und den Spiegel. Um mich daran zu gewöhnen, dennoch erwischte ich mich zwei mal dabei, wie ich den Spiegel mit meinem großen Badehandtuch verdeckte. Irgendwie half das ein wenig.

An diesem Morgen, saß meine Tante nicht wie üblich, nach ihrer täglichen Jogging-Runde, frisch geduscht in Bademantel am Tisch, sondern trug eine weiße Bluse und eine dunkle Jeans.

"Haben wir heute noch etwas vor?" Ich goss mir Kaffee ein.

Sie schmunzelte. "Vielleicht. Aber frühstücke du erst mal in Ruhe."

Ich wurde unruhig. Ich hasste Geheimnisse!

Einen Toast bekam ich runter und kippte den heißen Kaffee einfach hinterher, in der Hoffnung Mia würde mir jetzt eine vernünftige Antwort geben. Doch sie legte nur ihre Zeitung bei Seite und räumte den Tisch ab.

Ich griff nach dem Besteck, um ihr zu helfen, doch sie schob mich nur in Richtung Treppe. "Zieh dir mal etwas an, Emma."

Auf dem oberem Treppenabsatz drehte ich mich wieder um. "Verrätst du mir dann was los ist, Mia?"

Keine Antworte. Auch nach einer halben Minute nicht, nur das klappern von Geschirr war zu hören.

Seufzend nahm ich die nächsten Stufen.

Geheimnisse hatten bei mir noch nie etwas gutes bedeutet.

 

Es dauerte keine viertel Stunde, bis wir im Auto saßen und über die Landstraße fuhren. Mia wirkte gelassen und hatte den Blick ruhig auf die Straße gerichtet.

Selbst als ich ihr vorhin auf dem Flur gedroht hatte, nicht mit zu fahren, wenn sie nicht mit der Sprache raus rückte, hatte sie nur gegrinst und mir über den Kopf gestrichen. "Mach dir keinen Kopf, Kleines. Es wird schon nichts schlimmes passieren."

Dieser Satz hatte mich so misstrauisch gemacht, das ich jetzt die ganze Zeit mit den Fingern auf meinem Oberschenkel rum klopfte.

"Du musst nicht aufgeregt sein", meine Tante bog in die zwei- spurige Straße ein, die in die kleine Stadt führte.

Ich schwieg und kaute auf meiner Unterlippe herum. Wir fuhren nicht mehr lange. Schließlich setzte Mia ein letztes mal den Blinker und fuhr auf einen großen Parkplatz. Sie nahm die Lücke direkt neben dem Eingang. Durch das Seitenfenster konnte ich eine große automatische Tür erkennen und einige Menschen, die im Rollstuhl oder mit Krücken, die auf dem Bänken rechts und links davon saßen.

"Ein Krankenhaus?", ich schlug die Tür zu und schaute Mia fragend an. Sie nickte.

Mir wurde flau und plötzlich bekam ich eine Gänsehaut.

Krankenhaus war für mich kein gutes Stichwort. Ganz und gar nicht.

Meine Narben hatten sich, seit ich hier war, verändert. Dicke geschwollene Knubbel auf heller Haut. Vielleicht hatte es damit zu tun, das ich mich öfters in den Sonne auf hielt, ohne jeglichen Schutz. Schließlich hatten wir den Strandkorb in den Schatten geschoben und ich ging nur noch mit langärmligen Oberteilen und Seidenschal nach draußen. Es hatte sich gebessert, etwas. Mia hatte mir, wie erwartete, beim eincremen kein einziges Mal geholfen. Noch nicht mal als ich sie darum gebeten hatte. Also schlich ich mich nach jedem Bad, in ein Handtuch gewickelt, auf den Dachboden. Hier oben gab es keinen Spiegel.

Aber das sie nur deswegen mit mir zum Krankenhaus fahren würde, hätte ich nicht erwartet.

"Du erinnerst dich nicht mehr, oder?" Mia führte mich durch die Tür, an der Theke vorbei zu den Aufzügen. Ich schüttelte den Kopf. Woran genau sollte ich mich erinnern? Krankenhäuser sahen für mich alle gleich aus. Weiß und steril. Großer Wartebereich mit Stühlen, Empfangstheke, Aufzüge und viele lange Gänge. Meine Mutter sagte immer, hier könnte man die Sauberkeit riechen. Wie recht sie hatte.

Wir begegneten auf unserem Weg nicht vielen Leuten.

Eine junge Schwester, die uns freundlich anlächelte. Ansonsten war es im Aufzug und den Gängen leer. Mia schien genau zu wissen, wo wir hin mussten.

"Was wird das hier?", zischte ich, als wir mich meine Tante bei mir einhackte und mich einen Gang entlang führte. Er sah nicht viel anders aus, als die anderen. Grauer Boden, weiße Wände, breite Türen, manche geschlossen, andere gaben den Blick auf Krankenbetten frei.

Mir wurde immer mulmiger zu Mute und in meiner Kehle bildete sich ein Klos. Krampfhaft versuchte ich ihn runter zu schlucken.

"Wirst du schon gleich sehen", Mia blieb stehen und klopfte an der Tür. Zwei mal. Keine Antwort. War Ludwig vielleicht etwas passiert?

Sie drückte die Klinke runter und trat ein. Ich folgte ihr zögernd. Wir standen in einem Büro. Ein großer Schreibtisch in der Mitte. Die linke Wand komplett voll mit Bücherregalen. Dicke und dünne Bücher. Lexika und Aktenordner. Es erinnerte mich an das Arbeitszimmer meines Vaters. Vollgestopft, aber trotzdem ordentlich. Auf dem Tisch in der Mitte zwei Grünpflanzen, rechts und links von dem Computerbildschirm.

Ein Mann, ungefähr in Mias Alter, erhob sich von dem Drehstuhl. Ich versuchte mich hinter meiner Tante zu verstecken. Was wollten wir hier? War es etwas schon zu spät, um Ludwig... ich konnte den Gedanken nicht zu ende führen. Das große Fester stand offen, ich fröstelte, obwohl es gar nicht kalt war.

"Frau Wieners, schön Sie zu sehen!" Der Mann trug einen weißen Kittel, er sah aus wie ein Arzt.

Groß und kräftig, kurze hellbraune Haare, er lächelte.

Auf seinem Namensschild stand Dr. Groger.  

Träge klickten Synapsen in meinem Hinterkopf.

Ich kannte diesen Namen...

Meine Tante schüttelte seine große Hand und drehte sich zu mir um. "Meine Nichte begleitet mich heute mal."

Sachte schob sie mich neben sich. Der Kloß in meinem Hals wurde fester.

"Wie schön!", er lächelte mir offen ins Gesicht. Ich senkte den Kopf und starrte auf seine Schuhspitzen. Das Blut schien sich in meinen Kopf zu pumpen. Immer mehr.

Ich ergriff nicht seine ausgestreckte Hand. Meine Arme hingen kraftlos an mir runter.

Ich kannte diese Hände, dieses Lächeln, diese großen braunen Augen, die buschigen Augenbrauen.

Warum hatte ich ihn nicht vergessen?

"Kann ich euch etwas zu trinken anbieten? Nehmt doch bitte Platz."

"Aber gerne", Mia schob mich zu den beiden Stühlen, gegenüber von dem Schreibtisch des Arztes, "Für mich einen Kaffee, und für sie -", sie stieß mir sanft mit dem Ellbogen in die Seite.

"Ein Wasser", krächzte ich und räusperte mich. "Bitte."

"Setzt euch ruhig", er deutete auf die beiden Sitzgelegenheiten. "Ich kümmere mich eben um die Getränke."

Da ich ohnehin das Gefühl hatte, meine Beine würden mich nicht länger tragen, ließ ich mich auf den Stuhl direkt am Fenster fallen. Ein leichter Wind ließ ein paar Härchen an meinen Schläfen kitzeln. Meine Hände vergrub ich im Schoß, den Kopf hatte ich nach wie vor gesenkt.

"Du erinnerst dich, stimmt's?", Mia strich mir leicht über den Kopf. Ich warf einen schnellen Blick durch den Raum, der Arzt hatte uns alleine gelassen. Ich schwieg, kaute auf meiner Unterlippe.

Zum Glück roch es hier nicht nach Desinfektionsmittel, sonst wäre mir auch noch schlecht geworden.

"Emma, du brachst keine Angst du haben."

"Hab ich nicht", stieß ich hervor, "Mir ist nur – kalt."

Meine Tante schien bemerkt zu haben, das ich zitterte. Mir war tatsächlich kalt, dennoch merkte ich wie mir der Schweiß den Rücken hinunter lief.

Die Tür öffnete sich wieder.

Durch meine Ponyfransen sah ich wie er ein Glas und einen Pappbecher vor uns auf den Tisch stellt und sich dann setzte.

Niemand sagte etwas, bis schließlich Mia tief durch atmete und meine nasse Hand nahm.

"Ich habe Mia mitgebracht, um Ihnen die Fortschritte zu zeigen."    

Mein Mund öffnete sich, mein Kopf schnellte in die Höhe. Nein!

Hastig verschränkte ich die Arme vor der Brust und kauerte mich zusammen. Ich hatte mich langsam an mein Spiegelbild gewöhnt, aber das gab noch lange keinen Grund, mich dem Arzt vor zu führen!

"Ich habe schon an ihrem Hals gemerkt, wie schnell alles verheilt ist. Das freut mich sehr für sie", Dr Groger stütze die Arme auf den Tisch und ich merkte, das er mich anschaute. Mich musterte.

"Sie hat sehr gutes Heilfleisch. Aber natürlich ist es auch Ihrer guten Arbeit zu verdanken", Mia lächelte. "Emma, zeig dem Doktor doch mal deinen Arm."

Langsam hob ich den Kopf, schaute zwischen meiner Tante und dem Doktor hin und her.

Der Klos in deiner Kehle war plötzlich verschwunden, ich schluckte.

Dann legte ich vorsichtig meinen rechten Unterarm auf den Tisch.

"Darf ich?"

Ich nickte einmal, dann schaute ich aus dem Fenster. Der Himmel war wolkenlos und der Wind kühlte meine grühenden Wangen.

Langsam strichen seine Finger über meinen Arm. Bedächtig. Über jede einzelne Narbe, bis zu meinem Ellbogen.

Mia war bestimmt stolz auf mich, das ich das zu ließ.

War ich auch stolz auf mich?

Der Arzt zog seine Hand wieder zurück.

"Ich bin wirklich stolz auf Ihre Nichte, Frau Wieners. Sie ist sehr stark."

Ich blinzelte, dann zog ich schnell wieder die Ärmel runter und versteckte mich erneut hinter meinem Pony.

Wann war das hier überstanden?

"Sie hatte es nicht immer leicht, aber sie wird es schaffen." Ich spürte, das Mia bei diesem Satz lächelte, erneut strich sie mir über den Kopf.

"Davon bin ich überzeugt", Dr Groger lehnte sich zurück und stütze die Arme auf die Lehne. "Und ich glaube, sie ist jetzt für noch etwas bereit."

Meine Hände fingen an zu zittern, ich schob sie unter meine Oberschenkel, den Blick auf die Tischkante geheftet. Ich wusste genau wovon er redete! Allerdings schwieg ich.

"Emma, möchtest du ihm erzählen - "

"Silvester. Diesen Jahres", es war eine kleine leise Stimme, die da redete. Sie klang komisch, als würde man ihr die Luft weg nehmen.

"Wenn du nicht möchtest, musst du - "

"Hatten einen schönen Mädels Abend zu viert. Alkohol. Jungs hatten uns eine selbst gebastelte Rakete geschenkt. Ich sollte sie in den Himmel schicken, kam mit dem Feuerzeug nicht zurecht. Brauchte zwei mal. Es fing an zu zischen und Funken waren zu sehen." Kurze, abgehackte Sätze. Tränen rannen über meine Wangen, sammelten sich in meinem Mund. Schmeckten salzig.

"War abgelenkt, sah nicht, das ich viel zu nah dran stand und das Ding schoss auf mich zu. Irgendwer sollte Wasser holen. Ich spürte nur noch einen fürchterlichen Schmerz auf meinem Oberkörper."

Plötzlich wusste ich wer so Geschrien hatte.

Das war ich gewesen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 28.10.2013

Alle Rechte vorbehalten

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