Freiheit
Eigentlich war ich nie besonders zufrieden mit mir. Mein Körper gefiel mir nicht. Meine Familie interessierte mich nicht und die Schule konnte mich mal. Ich wusste nicht, warum ich das alles so fand. Am Anfang tat ich das als Macke der Pubertät ab. Aber mit der Zeit wurde es immer schlimmer. Ich wollte mich doch ändern! Doch ich konnte nicht. Es war als, würde man mich an den Händen packen und auseinander reißen wollen. Niemals hätte ich das wirklich gewollt, dieses einsame Leben. Doch jetzt ist es doch eh schon zu spät... Es ist immer zu spät, um irgendwas tun zu können! Immer!
~Nelly~
Es ist nicht die Tür, die krachend ins Schloss fällt, die mich weckt. Es ist nicht das laute Stimmengewirr auf der zweiten Etage, das mich weckt. Es ist nicht das wütende Schimpfen aus dem Bad, das mich weckt. Eben so wenig ist es das Trampeln mehrerer Fußpaare auf der Treppe. Rauf und runter laufen sie. Immer wieder. Langsam drehe ich mich auf den Bauch und drücke mein Gesicht in das zerknautschte Kissen.
Es ist die Gewohnheit, die mich weckt. Halb sieben morgens. Ich brauchte noch nie einen Wecker. Ich bin immer von selbst wach geworden.
Eine Dreiviertelstunde bleibe ich so liegen, die Augen geschlossen, ruhig atmend.
Und dann endlich kommt das Zeichen, auf das ich die ganze Zeit gewartet habe.
Die Haustür fällt zu und nichts ist mehr zu hören.
Ich bleibe noch zwei Sekunden in meinem warmen Bett liegen, dann schleiche ich in die Küche. Das Bild, das sich mir bietet, schockt mich nicht sehr. Der ganze Esstisch ist mit dreckigen Tellern und Tassen, Messern, Marmeladenflecken und den Überresten eines Brötchens voll. In der Spüle stehen drei Stapel mit Tellern, und auf der Abtropffläche sehe ich nur einen Haufen verdreckter Gabeln und Löffel.
Ich nehme mir ein Käsesandwich aus dem Kühlschrank und gehe zurück in mein Zimmer. Mittlerweile ist es zwanzig nach sieben.
Eigentlich will ich mir die doppeltgeklappten Toastscheiben gar nicht mit so einem Heißhunger in den Mund schieben. Doch auch daran hat sich mein Körper gewöhnt. Um Punkt viertel vor sieben knurrt er los. Wie eine innere Sirene.
Ist es wirklich erst drei Monate her? Ich kann es kaum fassen. Erst drei Monate...
Es kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit.
Doch der Gang ins Schlafzimmer meiner Eltern ist erst im letzten halben Jahr fest in meinen Tagesablauf eingebaut.
Das Bett ungemacht. Wie immer.
Die Gardinen verschlossen. Wie immer.
Der Schrank offen. Wie immer.
Kein einziger Sonnenstrahl kommt durch die dicken, nach Rauch stinkenden Vorhänge. Langsam tastete ich mich am Bett vorbei, zum Nachttisch meiner Mutter. Nach einigem Ruckeln, Zerren und Ziehen gibt die oberste Schublade ächzend nach.
Routinemäßig fahre ich mit den Händen durch die ordentlich gefalteten Seidenschals. Zwischen zwei Lagen hellblauem Stoff stoßen meine Finger auf einen rechteckigen Gegenstand. Meine Hand greift so gierig danach, dass ich ein paar der Schals mit heraus rupfe, aber ich stopfe sie achtlos wieder zurück.
Da ist es. Das Portemonnaie.
Eigentlich legt es meine Mutter immer in das oberste Fach des Küchenschranks, doch natürlich ließ sich das Verschwinden von 50 Euro in einer Woche nicht von selbst erklären.
Seitdem bewahrt sie es hier auf. Aber selbstverständlich fand ich das neue Versteck schon bei meiner ersten Suche.
Mit rasendem Herzen wühle ich im Scheinfach nach einem Zehner. Doch da ist keiner.
Da ist verdammt noch mal kein Zehner!
Meine Hände zittern. Immer wieder schüttle ich das Portemonnaie, doch nicht mal Münzen klappern. Es ist kein Geld mehr im Haus! Fassungslos lasse ich mich auf das ungemachte Bett meiner Mutter sinken.
Was mache ich denn jetzt? Das darf doch nicht wahr sein! Das ist eine Katastrophe!
Ich rase in mein Zimmer, durchwühle meine Schreibtischschubladen, wo ich normalerweise mein Taschengeld aufbewahre. Doch außer angekauten Stiften und meinem Tagebuch finde ich nichts. Absolut nichts!
Seit drei Monaten bekomme ich kein Taschengeld mehr.
Und die 30 Euro, die ich mir von meinem Vater gemopst hatte, sind auch wie vom Erdboden verschwunden.
Verzweifelt wühle ich in meinem Bücherregal nach einer letzten Zigarette, doch außer jeder Menge Staub bekomme ich nichts in die Finger. Mein Atem geht mittlerweile nur noch stoßweise.
Ich sause die Treppe ins Erdgeschoss herunter und durchsuche in der Garderobe meine Lederjacke. Als mir schon die Tränen in die Augen stiegen, weil in den Taschen nur Müll zu finden ist, taste ich nochmal die Brusttaschen ab.
Und da spüre ich es. Glatt und dünn.
Mit geschlossenen Augen ziehe ich den Geldschein raus und streiche immer wieder darüber. Mein Leben ist gerettet! Auf einmal muss ich lachen. Richtig laut los lachen. Ich bin so glücklich! Das kann sich kein Mensch vorstellen! Wirklich! Als nächstes stelle ich meine Anlage auf volle Lautstärke und tanze, immer noch lachend, ins Badezimmer.
Erst als ich auf etwas trete, das sich nicht nach dem flauschigen Teppich anfühlt, öffne ich die Augen.
Was war denn hier los? Hat hier ein Tornado getobt? Warum musste immer ICH den Mist sehen, den die Knirpse hinter sich lassen? Die Knirpse sind meine sechs Geschwister. Zwei Mädchen und vier Jungen. Vier, sechs, neun, fünfzehn und die Zwillinge elf Jahre alt. Ich bin die Älteste, mit siebzehn. Ist ein cooles Gefühl, die Größte zu sein.
Genervt hänge ich die nassen Handtücher auf die Heizung, schraube drei verklebte Zahnpastatuben zu, sammle das Haarknäuel aus dem Abfluss der Badewanne ein und schmeiße es in den überquellenden Mülleimer.
Und dann lasse ich es mir endlich mal gutgehen.
Ich strecke mich in der Wanne aus und lasse heißes Wasser einlaufen.
Hach, es tut so gut, zu nichts mehr verpflichtet zu sein!
Denn genau gestern vor drei Monaten hat meine Mutter mir den Krieg erklärt.
Ich könne froh sein, das sich mich nicht auf die Straße setzt und so ein Blabla hat sie mir vorgelabert. Sie wolle nichts mehr von mir wissen, mache nichts mehr für mich. Und sie raste bei nichts mehr aus, weil sie mich nicht mehr wahrnehme. Ich sei Luft für sie. Ein Nichts! Ich müsse mich an nichts mehr halten, müsse nichts mehr tun. Ich könne so lange weg bleiben wie ich wolle, ich brauchte nicht mehr in die Schule gehen. Aber dafür bekäme ich kein Essen mehr, kein Taschengeld und keine Antworten, wenn ich eine Frage stelle.
Meine Mutter hält meine Geschwister von mir fern und lässt sie nicht mit mir reden. Ich bin ja aus ihrer Sicht nicht mehr da und ihre Kinder sollen sich ja nicht mit einem Geist unterhalten.
Ist schon krass, was hier abgeht!
Ich massiere mir die schwarze Tönung in meine Haare, lasse sie einwirken, wasche den Rest aus und steige aus der Badewanne. Ich liebe dunkle Farben. Letzte Woche habe ich mein Zimmer schwarz gestrichen und die Kommode grau lackiert. Sieht echt cool aus. Finde ich zumindest.
In der Schule bin ich ebenso unsichtbar und unwichtig wie zu Hause. Ich habe kein Freunde, geschweige denn eine beste Freundin, mit der man über alles reden kann. Ich plaudere mit meinem Tagebuch, das reicht mir.
Meine Klassenkameraden halten mich auf Grund meiner crazy Klamotten für einen Vampir und laufen schreiend davon, wenn sie mich auf dem Schulhof erblicken. Das ist kein Scherz, echt! Selbst die Jungens mustern mich mit argwöhnischen Blicken und verziehen sich mit ihren Kumpels in eine andere Ecke.
Dann verkrümele ich mich meistens aufs Klo und rauche in aller Ruhe meine Zigarette. Die läuft mir wenigstens nicht davon.
Doch das alles ist finstere Vergangenheit, über die ich nicht mehr nachdenken möchte. Denn jetzt wird sich alles ändern, das habe ich mir und meinem Tagebuch geschworen. Welcher Affe geht denn noch in die Schule, wenn er frei ist? Ich auf jeden Fall nicht, so viel ist klar.
Die Bässe dröhnen so laut aus meinem Zimmer, dass ich mir die Ohren zuhalten muss, während ich in meinem Schrank nach geeigneten Klamotten suche. Ein schön durchlöchertes T-Shirt mit der weißen Aufschrift: „Was interessiert mich deine Scheiß Meinung?!“
Ja, ich trage so ein Zeug und es gefällt mir.
Vor meinem verstaubten Spiegel neben meinem Bett male ich mir zwei fette schwarzen Balken unter die Augen. Sieht krass aus.
Und wie es schon auf dem T-Shirt steht, interessiert mich eure Meinung einen feuchten Dreck.
Denn das, was ich trage, das trage ich und nicht Ihr.
Also denkt euch euren Teil und lasst es dabei.
Das ist vermutlich auch der Grund, warum ich mir solche, manchmal echt harten Beschimpfungen auf meine T-Shirts pinsle (Ja, Ihr habt richtig gelesen: Ich male die Sachen selber auf meine T-Shirts. Das gibt meinem ausgeflippten Style noch mehr Pepp. Dann kommt noch die Schere zum Einsatz, schneide einfach irgendwo große Löcher rein, die ich manchmal noch ein bisschen aufreiße, weil das echt Hammer aussieht. Und meine Jeans fallen ihr auch meistens zum Opfer. Zumindest die langen).
Meine Mitschüler haben mich ganz komisch angeschaut, als ich meinen neuen Style entdeckte und immer öfter schwarze Armstulpen über den zerrissenen T-Shirts trug. Und die schauten noch komischer, als ich dann auch im Sommer bei über 27 Grad die Stulpen trug. Ich fand die Dinger einfach total abgezockt. Das ist meine Meinung.
Sie lästerten über mich und spekulierten darüber, ob ich die schwarzen Dinger nur trug, weil ich keinem zeigen wollte, dass ich mich ritze. So ein Schwachsinn! Ich ritze mich nicht und werde es auch niemals tun. Basta!
Nach zwei Wochen fühlte ich mich richtig wohl in meinen schwarzen Sachen, doch die anderen hatten sich noch nicht daran gewöhnt.
Selbst die Lehrer schauten mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, wenn ich die Klasse betrat.
Mein Englischlehrer kam sogar einmal zu meinem Tisch und fragte halblaut, ob ich irgendwas mit den Klamotten beabsichtige.
Ich zuckte die Schultern und schrieb an meinem Aufsatz weiter. Er meinte, ich solle mir mal meine Klassenkameraden anschauen und vielleicht die dunkle Schminke und die schwarzen Armstulpen weglassen.
Ausdruckslos schaute ich ihn an, dann sprang ich von meinem Stuhl auf, schmiss meine Schulsachen in die Tasche, warf sie mir über die Schulter, deutet mit dem Zeigefinger auf meine Brust (ich trug zufälligerweise das „Was interessiert mich deine Scheiß Meinung?“-T-Shirt), nahm mit großer Geste die Zigarettenpackung aus der Jackentasche, zog mir in Gemütsruhe eine davon heraus, steckt sie mir cool in den rechten Mundwinkel und rauschte auf dem Klassenzimmer. Nicht ohne die Tür hinter mir krachend ins Schloss zu ziehen (auf diese Aktion bin ich immer noch unheimlich stolz)!
Am nächsten Tag ging ich natürlich wieder in die Schule, damals war ich ja noch da und meine Mutter konnte mich mit den Knirpsen auf den Weg schicken.
Den Vortag hatte ich in der Stadt verbracht und mir jede Menge einfache schwarze T-Shirts gekauft. Na ja, gekauft stimmt nicht ganz, die Hälfte habe ich bezahlt, der Rest ist heimlich unter meinen „Was interessiert mich deine Scheiß Meinung?“-Shirt mit nach draußen gewandert.
Den ganzen Abend hatte ich damit verbracht, meine Gedanken in weiß und rot aufzupinseln. War eine ganz schöne Arbeit.
Als ich am nächsten Tag alleine auf dem Schulhof stand und rauchte, beobachtete ich das Vierergrüppchen aus gackernden Mädchen, das nicht weit von mir entfernt stand. Sie schauten immer wieder zu mir rüber und lachten.
Ich ignorierte sie. Ich kannte solche Blicke gut.
Doch plötzlich löste sich eine von ihnen aus der Gruppe und schlenderte mit ihren Entenbeinen zu mir. Sie ging in meine Klasse. Eine von den Tussen.
Einige Meter vor mir blieb sie stehen und musterte mich von oben bis unten. Ihr Blick wurde immer komischer und sie ließ ein abfälliges Schnauben hören. Mir reichte es.
„Kannste nicht lesen?“, keilte ich sie an.
Die Blonde starrte mich aus ihren Glubschaugen erschrocken an. Vermutlich hatte sie nicht gedacht, dass ich sprechen kann.
Tja, Pech gehabt, würde ich dann mal sagen, denn ich kann ziemlich gut sprechen. Besonderes wenn mich etwas aufregt.
„Also soll ich's dir buchstabieren, ja?“
Sie zog scharf die Luft ein. Dann lachte sie laut los und glubschte mich hasserfüllt an.
„Okay. Ich buchstabier's dir, aber nur weil du es bist. Du kannst froh sein, dass ich ein Herz für Kinder mit Glubschaugen und unterqualifiziertem Hirn habe.“
Sie ließ ihrer Kaugummiblase platzen und sah mich herablassend an.
„Wusste gar nicht, dass Nellys sich zickig stellen können. Na, dann lass mal deine Versuche hören. Ich bin gespannt!“. Sie lachte schallend.
„Hier steht“, ich zog mir mein neu bemaltes T-Shirt straff über die Brust und deutet mit dem Finger auf jeden einzelnen Buchstaben, „wenn du nix zu sagen hast, halt die Fresse!“.
„Ich halte aber nicht meine Fresse!“, fauchte sie und spuckte mir ihr Kaugummi vor die Füße.
„Dann geb' ich's dir gleich auf die Fresse, du Miststück!“, brüllte ich zurück, drehte mich auf dem Absatz um, zeigte ihr den Mittelfinger und verzog mich wieder auf Klo.
Doch jetzt geh ich nicht mehr in diese beschissene Schule, wo mich alle dissen, ich geh auf überhaupt gar keine Schule mehr! Fertig!
Hab ich eben keinen Abschluss. Mir doch egal! Ich werde mich schon irgendwie durchfuttern.
Ein drittes Mal grabe ich meinen Schrank nach einer Jeans durch. Doch ich finde keine, die mir heute gefällt und ich habe keine Lust, mich wieder beim Klauen unauffällig an einer Alarmanlage vorbei schleichen zu müssen. Nee, hab ich jetzt echt null Bock drauf.
Lieber durchwühle ich den Kleiderschrank meiner Schwester. Die hat eh immer Sachen, die sie nicht mehr anzieht.
Unter einem Berg von Pullovern finde ich eine dunkelblaue fransige Jeans. Die sieht cool aus. Großzügig schneide ich die Beine ab (die Hose dürfte mir jetzt nur noch bis knapp über den Po gehen), schnipple ein paar kleine Löcher rein und ziehe sie über meine schwarze Netzstrumpfhose. Sieht echt abgefahren aus! Krass.
Jetzt nur noch in meine Lieblingsschuhe schlüpfen (die sind schwarz, gehen bis zum Knöchel und ich habe abwechselnd schwarze und rote Schnürsenkel eingefädelt) und raus aus der Tür.
Draußen atme ich erst einmal tief durch. Die Sonne scheint und an den Büschen neben der Straße sprießen fleißig Knospen. Es ist Anfang März und das Wetter spielt dauert verrückt. Manchmal friert es nachts auch noch und am nächsten Tag ist es bitter kalt. So wie heute.
Aber dann kommen auch Tage, wo meine Mutter ernsthaft darüber nachdenkt, die Gartenstühle wieder auf die Terrasse zu stellen.
Echt krass, wie die Natur uns manchmal an der Nase herumführt.
Doch ehrlich gesagt, ist mir der Winter eh lieber. Besonders dann, wenn es abends schnell dunkel wird und auf den Straßen Schneematsch rumliegt. Denn dann rennen alle in schwarzen Klamotten rum, den Mantel bis zum Kinn gezogen und ich falle in meinem Style gar nicht so auf.
Doch im Sommer, wenn die alle in ihren hellen Sommerkleidchen und den Riemchensandalen umher springen wie Bambi, bekomme ich immer wieder Seitenblicke zugeworfen.
Besonders alte Omis, die sich mit ihrem Rolli, der bis oben mit den Einkaufstüten vollgepackt ist, an mir vorbei schieben, schauen mich irritiert an und murmeln irgendwas von Tradition und der Jugend von heute.
Wenn sie nicht leise genug genuschelt haben, rufe ich ihnen meistens meinen Standardspruch: „Ja, da haben Sie aber recht! Die Jugend von heute hält sich an keine Tradition mehr!“ hinterher.
Dann schauen sie mich erschrocken an und stammeln irgendwas. Ich lächle dann honigsüß und ein Glanz kommt in meine grauen Augen, die die meisten Omis zum Schmelzen bringen.
Und dann kommt mein Lieblingssatz eiskalt heraus geschossen, und da ist dann überhaupt kein Glanz mehr in meinen Augen: „Denn die Jugend von heute trägt ihren eigenen Style und der sieht immer besser aus, als das altmodische Zeug von damals, über das jetzt nur noch die letzte Generation nachdenkt! Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag! Auf Wiedersehen!“ Aus weit aufgerissenen Augen starren sie mich dann an und versperren mit ihren Rollis den Weg.
„So leid es mir auch tut. Ich muss jetzt leider los! Mich mit Teenies treffen, die ihren eigenen Style vertreten!“. Und weg bin ich.
Ich glaube, man merkt, was ich von auch nur ganz kleinen Provokationen halte. Ist mir doch dann egal, ob die recht haben. Ich fühle mich angesprochen und damit Basta!
Mein Hals fühlt sich trocken und kratzig an. Ich brauch‘ jetzt dringend was zum Entspannen.
Ich laufe zum Kiosk, an der nächsten Ecke.
Jetzt kann ich nur noch hoffen, dass Benny da ist, sonst kann ich mir meine Zigaretten sonst wo backen.
Benny ist da und begrüßt mich mit lautem Hallo.
„Mensch, Nelly!“. Er kommt um die Theke herum und umarmt mich. „Mit dir hätt' ich jetzt echt nicht mehr gerechnet!“. Er lacht und strahlt mich an.
„Ja, ich weiß, ich hätt' dich auch gerne mal besucht, aber ich komm‘ halt nur her, wenn ich mal wieder 'ne Entspannung brauche“. Ich ziehe den 5-Euro-Schein aus meiner Tasche und drücke ihn in seine Hand.
„Jaja, ne Entspannung!“. Er klopft mir auf die Schulter. „Einen Kinderriegel meinste wohl!“ Ich grinse.
Benny ist echt korrekt. Er überragt mich um ganze zwei Köpfe und hat einen Sixpack, von dem andere Jungs nur träumen können.
Ab und zu hilft er seinem Vater im Kiosk aus und ist dabei rein zufälligerweise auf mich gestoßen. Eine freie Zigaretten-Göre.
Mit Kinderriegeln meint er meine Zigaretten, doch da sein Vater in dem Büro direkt hinter einem dünnen Stoffvorhang hockt und die Buchführung macht, spricht er von Süßkram.
„Was ist denn jetzt eigentlich mit deiner Bewerbung?“. Ich nehme unauffällig die Packung und die paar Cent Wechselgeld entgegen.
„Meine Bewerbung?“. Er lacht bitter, zieht das Kühlfach auf und nimmt zwei Colaflaschen heraus. „Vermutlich haben die sie sich noch nicht mal angeguckt, sondern direkt zerrissen.“
Ich seufze tief. Ja, mein Kumpel hat es nicht einfach mit seiner Job-Suche. Eigentlich will er ja Schreiner werden und mit seinem einigermaßen guten Hauptschulabschluss würde das auch hinhauen. Wenn da halt nicht diese vorurteiligen Arbeitgeber wären.
Ich folge Benny auf den Bürgersteig vor dem Kiosk. Dort hat sein Vater vor einer halben Ewigkeit klapprige Metallstühle um einen verrosteten Tisch gestellt und damit den halben Bürgersteig blockiert.
Der Stuhl quietscht protestierend, als ich mich mit vorgebeugtem Oberkörper setze und Benny mitfühlend über den Unterarm streiche.
„Die denken, nur solche kranken Spackos gehen auf ne Hauptschule, die keinen Bock auf Arbeit haben und Ärger machen.“ Mit dem Daumen öffnet er den Kronkorken seiner Flasche und schnippt ihn wütend ins Gebüsch.
„Mensch, mach dir keinen Kopf darüber!“, flüstere ich und zünde mir eine Zigarette an. „Das wird schon wieder, glaub mir. Dein Vater ist viel zu lieb, um dich auf die Straße zu setzten. Der schmeißt dich nicht mal raus, wenn du 30 bist.“
„Was weißt du schon von meinem Alten!“, knurrt Benny, lehnt sich zurück und streckt seine langen Beine aus. „Der lässt mich doch nur so lange zu Hause wohnen, wie ich ihm mit der Bude helfe. Und wenn ich da keinen Bock mehr drauf hab? Dann hab ich die Arschkarte gezogen und kann unter 'ner Brücke schlafen.“
„Jetzt red' doch nicht so nen Scheiß“, versuch ich ihn zu beruhigen. „Der setzt dich ganz bestimmt nicht vor die Haustür. Und wenn doch, kannste bei mir schlafen! So einfach ist das.“
Er sieht mich verächtlich an und zieht an seinem Zigarettenstummel. Dann schüttelt er den Kopf und trinkt frustriert seine Cola-Flasche aus.
„Guck mich an, Benny! Ich bin siebzehn und geh seit einem Monat nicht mehr zur Schule. Denkste mich interessiert es, ob die mich später zum Gespräch einladen? Das interessiert mich einen Scheiß-Dreck! Die nehmen doch eh nur welche vom Gymmi. Solche Streber-Burschen! Für uns Normalos ist doch gar kein Platz in dieser Welt!“ Um mich abzureagieren, donnere ich die Glasflasche auf den Tisch. Benny zuckt zusammen.
„Hör mal, Nelly“. Er beugt sich zu mir rüber. „Nur weil deine Mutter dir den Laufpass gegeben hat, brauchste dich nicht so weit aus dem Fenster zu lehnen. Sei mal vernünftig! Denk über deine Zukunft nach! Das Leben verzeiht keine Fehler. Mach in Ruhe deinen Realschulabschluss und such dir nen gut bezahlten Job. Aber bitte geh endlich wieder in die Schule und hör auf mit dem ständigem Qualmen, such dir gute Freunde und lass die Klauereien. Das macht mich ganz fertig, wenn ich mir vorstelle, dich irgendwann in der Zelle besuchen zu dürfen.“
Mit weit aufgerissenen Augen starre ich ihn an. Mein Hirn rattert unaufhörlich. Doch es läuft im Leerlauf.
Ich kann keine klaren Gedanken fassen, alles rast an mir vorbei. Plötzlich springe ich auf, werfe meine Zigarette auf den Boden, trete sie aus und schiebe sie mit der Schuhspitze vor Bennys Füße.
Er sagt nichts. Ich sage nichts.
Ganz kurz schließe ich die Augen, dann drehe ich mich auf dem Absatz um und stolpere davon.
Er ruft mir nichts hinterher und ich riskiere keinen letzten Blick zurück. Ich weiß, dass es der letzte sein würde. Irgendwann fange ich an zu rennen. Doch es ist eher ein Stolpern über die eigenen Füße. Ich will weg! Weg von Benny. Weg von zu Hause.
Ich habe keine Ahnung, wohin mich meine Füße tragen. Auf jeden Fall verfolgt mich die Hauptstraße neben mir wie ein dunkler Schatten. Immer ist sie neben mir. Selbst als ich in eine ruhige Nebenstraße abbiege, komme ich nach ein paar Metern wieder an der mit Bäumen gesäumten Allee aus. Ich schaffe es einfach nicht, die Straße hinter mir zu lassen. Es fühlt sich an wie ein dünnes Seil, an dem man sich festhalten muss, um nicht in den Abgrund zu stürzen. Doch ich will in den Abgrund stürzen, ich will nichts mehr haben, was mich irgendwo festhält. Ich will mein altes Leben hinter mir lassen. Ein Neues anfangen. Ich habe schon öfters über eine Wiedergeburt nachgedacht. Aber dafür muss das alte Leben erst mal zu Ende gelebt werden. Und ich habe keine Ahnung, ob man nach einem Selbstmord auch wiedergeboren werden kann.
Aber ich merke wenigstens zu meiner rechten Seite, dass ich mich überhaupt von der Stelle bewege. Wohnhäuser und kleine Geschäfte tauchen auf und verschwinden wieder. Dann stehen da graue Betonkästen neben Abrisshütten. Die Ladenbesitzer sind dabei, Werbeschilder vor ihren Läden aufzustellen. Die ersten Leute betreten die Pommes-Bude an der Ecke. Wie kriegt man um diese frühe Uhrzeit nur fettige Fritten runter?
Und dann ist da dieser riesige Betonkasten, der mich abrupt zum Stoppen bringt. Überdimensionale Plakate hängen an der grauen Fassade herunter. Auf den meisten sieht man muskulöse junge Männer, die strahlend eine Bohrmaschine in den Händen halten und unglaublich stolz dreinschauen. Darunter stehen dann solche banalen Sprüche wie: „Mit unserem Werkzeug durchstoßen Sie alles!“ Also echt! Was Besseres ist denen nicht eingefallen?! Armselig.
Obwohl ich über diese bekloppte Werbung nur den Kopf schütteln kann, betrete ich den Baumarkt.
Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, was ich hier zu suchen habe. Aber irgendwas zieht mich zu den Regalen mit den Spray-Dosen. Und bevor ich mir darüber klar werde, was ich hier tue, schaue ich nach rechts und links, greife mir drei von den Dosen und stopfe sie mir unter die schwarze Lederjacke.
Während ich unauffällig zum Eingang zurück schlendere, versuche ich verzweifelt zu verstehen, was ich hier tue. Doch mein Gehirn hat eine undurchdringliche Mauer aufgebaut, die man noch nicht mal mit den angeblich ganz tollen Bohrmaschinen durchdringen kann.
Und dann sind sie da. Die Alarmanlagen.
Ich habe keine Angst. Mir wird auch nicht mulmig zu Mute. Ich bekomme noch nicht mal ein schlechtes Gewissen.
Ich lasse meine Hände in die Jackentaschen gleiten und umschließe die Spraydosen fest.
Dann hefte ich mich an die Fersen einer dreiköpfigen Familie... und bin draußen!
Mir ist nicht nach Jubeln zumute. Das war ein Kinderspiel.
Ich habe keine Ahnung, wo ich jetzt hin soll. Zu Benny kann ich jetzt auf keine Fall.
Ganz tief in meinem Inneren kenne ich den Weg, den ich nach der großen Kreuzung einschlage. Doch dieser Gedanke ist so kindisch, dass ich ihn gar nicht erst denken will. Irgendwann bin ich in der ruhigen Wohnstraße angelangt. Alles sieht hier gleich aus. Die Häuser, die drei kleinen Spielplätze, selbst die Garagen haben alle das gleiche abtörnende Weiß. Ich hasse dieses Viertel. Dieses Viertel, in dem ich wohne. Ich will weg hier. Einfach nur weg! Jemand ruft mir aus einem der winzigen Vorgärten ein „Na, Nelly! Mal wieder nicht in der Schule?“ zu. Ich ignoriere den Glatzkopf, der sich mühsam aufrappelt und mir mit der Heckenschere zuwinkt. Herr Schnuppe ist eigentlich ganz okay. Zumindest gehen er und mein Vater öfters mal ein Bierchen trinken.
Im Flur ist es leise. Ich kicke meine Schuhe unter die Holzkommode (der ganze Stolz meiner Mutter) und schleiche an der angelehnten Küchentür vorbei. Warum schleiche ich? Das hab ich doch wohl echt mal nicht nötig! Ich höre in der Küche das Radio dudeln und erhasche einen kurzen Blick auf zwei meiner Brüder, die schweigend die Köpfe über ihre Hausaufgaben gebeugt haben. Na, was ist denn hier los? Alles so still? Normalerweise bekomme ich schon im Flur das Gebrüll der Knirpse zu hören. Die Sprühdosen halte ich fest in meiner Hand. Sie fühlen sich angenehm kalt an. Auch als ich die Treppe hochgehen, kommt mir keiner der Knirpse mit verheultem Gesicht entgegen. Mensch, langsam mach ich mir echt Sorgen. So ist das doch sonst auch nicht. Vielleicht wurden meine Eltern ja bedroht? Ach Quatsch!
Und dann endlich fällt der Schuss. Der Schuss ist in diesem Fall das Telefon. Es schrillt und schrillt. Niemand nimmt ab. Ich gehe einfach weiter die Treppe hoch, ignoriere den Drang, den Hörer abzunehmen. Die Kellertür schlägt zu. Ich höre Schritte auf der Treppe.
„Mensch, warum geht denn keiner von euch ran?!“ ruft meine Mutter laut.
Ich gehe weiter treppauf. Mich hat sie nicht angesprochen. Oder doch? Ach was! Ich bin doch gar nicht mehr da. Warum fühle ich mich eigentlich so angesprochen, wenn meine Mutter „euch“ sagt? Ich weiß es nicht. Meine Schritte werden langsamer.
Und dann endlich hört das Telefon auf zu klingeln. Ich schließe die Augen und bleibe stehen. Ich will hören, wer da für uns angerufen hat.
„Cira! Telefon! Janina will dich sprechen!“
Cira, natürlich! Für sie ruft andauert jemand an. Und für mich? Für mich niemand. Ich bleibe weiter stehen, will die Schritte meiner Schwester auf der Treppe und das Gespräch mit ihrer besten Freundin hören. Ich will mitbekommen, wenn zwei Menschen sich gut verstehen. Ich will hören, wie die zwei über den letzten Quatsch reden. Ich will hören, wie sich die Worte meiner Schwester an die Worte ihrer Freundin anpassen.
Auf einmal vermisse ich Benny. Ich vermisse den einzigen Menschen in meinem Leben, der mir einst so wichtig war...
„Was will die dumme Kuh!?“, brüllt meine Schwester. „Sag ihr, sie soll die Fresse halten! Und sag ihr, sie soll nicht noch mal anrufen. Und sag ihr, dass ich keine ihrer Entschuldigungen annehmen werde! Unsere Freundschaft existiert nicht mehr!“.
Mannomann, so laut hab ich meine Schwester ja noch nie brüllen gehört. Was zwischen ihr und ihrer besten Freundin wohl los ist?
Meine Mutter flüstert eine hastige Entschuldigung in den Hörer und legt auf. Meine Beine scheinen wieder zu funktionieren. Langsam gehe ich die Treppe weiter hoch.
Im zweiten Stock knallt eine Tür zu und keine Sekunde später hat Cira ihre Musikanlage auf volle Lautstärke gestellt und die nervige Stimme dieses 17-jährigen Bustin Jieber, oder wie der Schlumpf auch immer heißen mag, schallt durch das ganz Haus.
„Mach die Musik leiser!“, brüllt meine Mutter gegen den Lärm an und kommt die Treppe hoch. Keine Reaktion. „Sofort!“, setzt sie hinzu. Immer noch nichts. Vermutlich hat sich meine Schwester auf ihr Bett gelegt, das Kissen auf den Kopf gepresst und stellt sich taub. Das macht sie immer, wenn sie sauer ist.
In dem Moment klingelt es an der Haustür.
„Macht mal einer auf, bitte?“, ruft meine Mutter. Sie ist im zweiten Stock angekommen und klopft an Ciras Zimmertür.
„Manuel! Bruno will dich abholen!“, ruft Leon, der vermutlich gleich nach der Bitte meiner Mutter brav zur Haustür getrabt ist.
Ich gehe durch den dunklen Flur zu meinem Zimmer. Das ist mein Flur. Hier im vierten Stock liegen nur ein kleines Bad und mein Zimmer. Den Flur hab ich genau so wie mein Zimmer schwarz gestrichen und mit roter Farbe mein Lebensmotto an die Längsseite geschrieben: Um Freiheit muss man kämpfen. Aber nicht mit körperlicher Gewalt, sondern mit psychischer. Wenn du lang genug jemanden beschimpft hast, lässt er dich in Ruhe!
Bevor ich meine Tür mit dem Fuß ins Schloss schiebe, höre ich noch, wie Manuel lauthals aus der Küche brüllt, er und Bruno seinen keine Kumpels mehr. Erst wieder wenn er sich dafür entschuldigt hatte, das er ihn bei der Schulleiterin verpfiffen hatte.
Süße Probleme, die die alle haben.
Die drei Sprühdosen stelle ich auf die vordere Ecke meines Schreibtisches. Dann ziehe ich die dunkelroten Vorhänge zu, schalte meine Musikanlage an, lege mich auf mein Bett und starre die Decke an. Ich will an nichts denken. Hier oben ist es still. Schön still. Unheimlich still. Unbeschreiblich still. Ich schließe die Augen. Angenehm still. Beängstigend still. Ich lass die Bässe meines Lieblingsliedes auf mich einwirken. Spüre, wie mein Kopf sich tiefer in das Kopfkissen drückt. Ich werde müde.
Doch dann schrecke ich wieder hoch. Mein Herz rast. Was war das? Da war doch eben ein Knall. Ich schaue mich in meinem abgedunkelten Zimmer um. Mein Blick bleibt an der Sprühdose hängen, die auf dem Teppich hin und her rollt. Sie muss wohl runter gefallen sein. Ich stehe auf, hebe sie hoch und halte sie in der Hand. Es ist schwarz. Sie sprüht schwarz. Sie wird alles schwarz machen. Alles so machen wie ich es will. Schwarz. Schwarz. Schwarz. Sie wird die anderen Farben wegdrücken, erdrücken.
Ich nehme die beiden anderen Flaschen und stopfe sie unter mein Kissen, dann lege ich mich wieder ins Bett und schließe die Augen. Diese Stille hat die Stimmen verdrängt. Jetzt schweigen diese Stimmen. Danke Stille, denke ich. Auch die Stimmen in meinem Kopf scheinen von dieser mächtigen Stille erdrückt worden zu sein. Sie schweigen.
Heute Nacht werde ich diese Stille weiter verbreiten. Werde bunte Farben ersticken und froh darüber sein, dass Schwarz nichts mehr wiederkommen lässt. Keine Farbe, keine Meinung, keine Stimme, keine Wut, keine Träne. Sie verschlingt sie einfach mit ihrem riesigen Mund und spuckt sie nie wieder aus.
Nope, der Sprayer
Ich wusste nie, was sich in Nellys Welt abspielte. Sie stellte sich immer ein Stückchen von den Anderen weg, wollte alleine sein. Immer schon. Das machte sie zum Außenseiter. Doch sie kam damit klar, schien sich dadurch besser zu fühlen. Sie kam mir so erwachsen vor. So perfekt schien sie in ihrer Welt zu sitzen. Ich wollte sie da nicht raus zerren. Ließ sie machen. Niemals schimpfte ich, wenn sie irgendwas gemacht hatte, was ich nicht in Ordnung fand.
Aber irgendwann platzte mir der Kragen. Und damit habe ich meine Tochter aus ihrer Welt geholt und die sicheren Mauern, hinter denen sie sich die ganze Zeit über versteckt hatte, zerstört. Das hätte ich nie machen dürfen!
~Nellys Mutter~
Plötzlich bin ich wach. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe. Draußen ist es dunkel. Ich weiß, was ich zu tun habe. Ich freue mich.
Ich ziehe einen dicken, schwarzen Pullover über das T-Shirt, stopfe die Spraydosen in die großen Brusttaschen und verlasse mein Zimmer. Ich bin aufgeregt und freue mich noch immer.
Ich weiß nicht, warum ich mir so viel Mühe gebe, so leise es geht die Treppe herunter zu schleichen. Der ganze zweite Stock ist dunkel. Ich schleiche weiter, lasse meine Hand am kalten Geländer hinuntergleiten. Auch im ersten Stock ist es mucksmäuschenstill. Es muss wohl schon ziemlich spät sein. Einen Moment bleibe ich stehen und starre die Zimmertüren an, hinter denen meine Geschwister selig schlafen. Sie werden mich nach einer Weile vergessen haben, da bin ich mir sicher. In dieser Familie hatte ich noch nie einen festen Platz und werde ihn auch nie haben. Ich will ihn auch niemals haben.
Eine Tür klappt. Ich zucke zusammen, zwinge mich, ruhig zu bleiben. Nichts rührt sich. Ich höre, wie die Klospülung betätigt wird, wieder klappt die Tür. Beim kleinsten Geräusch zucke ich zusammen und drücke mich enger an die Wand. Jetzt tapsen kleine Füße über den Teppichboden. Die Tür am Ende des Flurs wird leise geöffnet. Ich halte den Atem an. Die kleine Gestalt in dem weißen Nachthemd bleibt stehen. Sie sieht mich an, das spüre ich. Dabei kann sie mich eigentlich gar nicht sehen, ich bin umhüllt von der Dunkelheit. Das hoffe ich zumindest.
Mit unsicheren Schritten kommt das Nachtgespenst auf mich zu und starrt mich mit großen Kulleraugen an. Ich schlucke. Nicht weinen, bitte, bete ich, bitte nicht weinen. Ich bete nicht für mich. Ich weine nicht und werde es auch niemals tun. Aber meine Schwester weint. Lautlos rinnen große Tränen aus den braunen Kulleraugen und laufen über ihre Wangen. Mit zitternden Fingern wische ich sie ihr weg.
„Wo gehst du hin?“, flüstert sie kaum hörbar und greift Halt suchend nach meiner eiskalten Hand. Ich erstarre. Nicht wegen der Frage, sondern wegen der klitzekleinen Hand, die ich fest in meiner halte. Ich will sie nicht festhalten. Ich will nicht festgehalten werden.
„Weg, Sophie“, antworte ich mit brüchiger Stimme.
Meine Schwester fängt an zu zittern, sie krallt sich an meiner Hand fest. Doch so weh es mir auch tut, ich entziehe sie ihr.
„Kommst du wieder?“. Ihre Stimme schwankt so sehr, das ich sie kaum verstehe. Wieder schlucke ich. Mir fällt es nicht schwer, eine Antwort auf ihre Frage zu geben, aber ich sehe die Angst in ihren Augen.
„Vielleicht“, murmele ich und hoffe, dass sie es nicht gehört hat. Doch auch die Ohren einer Vierjährigen sind schon ziemlich gut.
Sophies Unterlippe fängt an zu beben. Sie schluchzt und krallt die Finger in ihr Blumennachthemd. Für eine Millisekunde schließe ich die Augen, dann drehe ich mich um und stolpere langsam die Treppe runter. Meine Schwester folgt mir bis zum Treppenansatz und starrt mir hinterher. Ich spüre ihren Blick in meinem Rücken. Wieder schließe ich die Augen. Ich kann das nicht, einfach so abhauen.
Blitzschnell drehe ich mich um und reiße das kleinste und liebste meiner Geschwister in meine Arme. Ihr zierlicher Körper bebt. Sie presst ihr Gesicht an meine Schulter und umklammert mit beiden Armen meinen Hals. Beruhigend streiche ich ihr über die dunkelblonden, zerzausten Haare. Sie presst sich fester an mich, als wolle sie mich nie wieder loslassen. Ich schließe die Augen und lege meinen Kopf auf ihren. Sie scheint ruhiger geworden zu sein. Ruhig genug, um sie los zu lassen. Doch ich lasse sie nicht los, umschließe sie nur noch enger. Plötzlich reißt sie sich los und rennt in ihr Zimmer, ohne sich noch mal umzudrehen. Einfach so. Einen Moment noch starre ich ihr hinterher und hoffe, dass sich die Tür wieder öffnet.
Ich weiß gar nicht mehr, wie ich die Treppe runter gekommen bin, aber auf einmal stehe ich auf der Straße und die Haustür habe ich kräftig ins Schloss gezogen. Draußen. Endlich! Für Immer! Nein, für eine Zeit lang. Für eine lange Zeit lang. Es ist kalt. Ich schiebe meine Hände in die Jeanstaschen der Hotpants, um sie wenigstens ein bisschen zu wärmen.
Die Siedlung verlasse ich mit kleinen, schlurfenden Schritten. Ich kenne den Weg nach draußen und wünschte, den Weg nach drinnen nicht mehr zu kennen. Einfach zu vergessen.
Das kleine Wartehäuschen der Bushaltestelle ist leer. Auch die Autos, die mit blendenden Scheinwerfern an mir vorbeifahren, scheinen sich mehr nach hier verirrt zu haben, als hier wirklich hin zu gehören. Ich gehe einfach geradeaus. An der Tankstelle vorbei, deren kaputte Leuchtreklame mich kurz in kaltes, blaues Licht taucht. Ich gehe weiter, weiter, weiter bis ans Ende der Welt. Doch es gibt kein Ende der Welt. Die Welt ist eine Kugel und eine Kugel hat kein Ende und keinen Anfang. Man muss ihr ein Ende und einen Anfang setzen. Mein Anfang beginnt hier. Wo das Ende sein wird, weiß ich noch nicht. Nach etlichen Metern bin ich endlich da angekommen, wo ich hin will. Hier werde ich feiern, dass ich einen neuen Anfang gefunden habe.
Die Böschung ist steil und mehrmals falle ich hin. Das Ende der Böschung ist dunkel. Aber ich mag alles, was dunkel ist, also klettere ich weiter. Fast habe ich es geschafft. Ich richte mich auf, um den Rest zu rennen. Doch hier unten ist es wirklich verdammt dunkel. Ich kann die Umrisse des Gestrüpps rechts und links von mir schattenartig erkennen, aber mehr auch nicht. Meine Füße tasten sich an den in Gruppen stehenden Grasbüscheln vorbei. Na ja, bis jetzt habe ich noch nicht gehört, das Füße Augen haben, und wenn man keine Augen hat, ist man bekannter weise blind. Und prompt stolpere ich über ein größeres Büschel von stacheligem Unkraut. „Scheiße“, fluche ich leise und versuche mich wieder aufzurappeln. Doch mit jedem Versuch rutsche ich weiter, meine Hände sind schon ganz voller krümeliger Erde. Verdammter Mist! War wohl doch keine gute Idee, ausgerechnet hier hin zu kommen.
Wütend wische ich mir die Hände an der Jeans ab und hebe den Blick. Gerade noch rechtzeitig, um mir schützend die Arme vors Gesicht zu reißen. Mit vollem Karacho lande ich im nächsten Dickicht. Die Dornen des Unkrautes dringen schmerzhaft durch die löchrige Netzstrumpfhose. Es brennt. Kleine Äste schlagen mir ins Gesicht. Scheiße, Mann!
Doch plötzlich ist irgendwas im Weg und ich rutsche nicht mehr bergab. Meine Augen gewöhnen sich langsam an die Dunkelheit, ich blinzele.
Vor mir hockt ein Junge und starrt mich an. Ich starre ihn auch an, und ehe ich klar denken kann, hat er mich gepackt, drückt mich an sich und presst mir eine Hand auf den Mund. Ich bekomme keine Luft. Seine schmale Hand ist eiskalt. Ich versuche mich zu wehren, aus seinem Griff zu befreien, aber seine Hand packt mein Handgelenk nur noch fester. Sein Kopf ist genau über meinem, er riecht nach Alkohol und Zigaretten. Irgendwann gebe ich auf, meine Arme gegen seine zu drücken. Jedesmal packt er mich fester. Es fühlt sich an, als wolle er mein Handgelenk zermahlen. Ich schließe die Augen.
Ganz ruhig, Nelly, nur nicht die Nerven verlieren, versuche ich mir selber Mut zuzusprechen. Es funktioniert nicht, mein Herz rast panisch!
Der Typ ist ganz ruhig. Ich spüre, wie sich seine Brust regelmäßig hebt und senkt. Neben uns im Gebüsch knackt es. Ich erstarre. Der Junge verstärkt seinen Griff noch mehr und presst meinen Kopf gegen seine Brust. Ich will schreien, doch ich tue es nicht. Stattdessen lausche ich angestrengt in die Dunkelheit. Ich höre etwas plätschern und sofort weiß ich, was das ist. Da pisst einer ins Gebüsch! Bah! Ich versuche mein Gehör auszuschalten. Das Plätschern hört nicht auf. Wieder schließe ich die Augen, öffne verkrampft meine geballten Fäuste, sie sind schon ganz kalt und taub. Wieder knackt es. Leises Fluchen ist zu hören, dann eine Weile nichts mehr. Oben auf der Straße wird grollend ein Motorrad angeworfen und braust davon. Der Motor ist noch lange zu hören. Er muss schon etliche Hundert Meter hinter sich haben, als wieder alles still ist.
Der Junge lässt meine Handgelenke los. Am liebsten würde ich aufspringen und davonrennen. Doch ich tue es nicht.
„Kannst du die Schnauze halten?“, zischt er mir ins Ohr. Seine Stimme ist dunkel und rau. Ich nicke heftig.
Endlich löst er seine Hand von meinem Mund. Einen Moment lang schnappe ich nach Luft, dann drehe ich mich um und starre dem Typen mitten ins Gesicht.
Er starrt mich skeptisch an und wischt sich provozierend die Hand an der Jeans ab.
Ich schweige. Unaufhörlich starrt er mich an. Seine Haare sind pechschwarz. Dazu hat er eiskalte, meerblaue Augen. Und die blasse Haut eines Punks. Er ist ein Punk, das sehe ich sofort.
Er trägt eine abgewetzte schwarze Lederjacke, auf die er jede Menge Stoffsticker genäht hat. Durchgestrichene Hakenkreuze und jede Menge komische Abkürzungen, deren Bedeutung ich nicht entziffern kann, stehen auf mehr oder weniger ordentlich ausgeschnittenen Stofffetzen. Alle mit wenigen, ungeschickten Stichen angenäht. Ich kneife die Augen zusammen, um vielleicht doch noch einige dieser Abkürzungen zu verstehen. W.h.N., N.s.s., D.W.b.k.N. Hä? Die rotschwarz karierte Jeans hat er mit einem breiten Nietengürtel knapp unter dem Hintern zum Halten gebracht. Um den Hals trägt er locker ein rotes Halstuch, und auf dem Stück, das ich von seinem T-Shirt sehen kann, prangt ein blutender Totenkopf. Nicht schlecht gestylt, der Kerl.
„Was glotzt du mich so an?“
Ich schaue in diese seltsamen, wunderschönen Augen. Er hat sie gelangweilt auf mich gerichtet und zieht sich eine Zigarette aus der Jackentasche.
Er scheint keine Antwort von mir zu erwarten und stellt direkt die nächste Frage: „Was will ein Mädchen wie du um diese Uhrzeit hier?“
„Wohl kaum Kuchen backen“. Ich will cool klingen, aber es klingt gekünstelt und angeberisch. Na und, soll der doch von mir denken, was er will. Wenn ich in seinen Augen als angeberisch gelte, na meinetwegen!
„Die Weiber sind doch zu allem fähig!“. Er dreht das Feuerzeug zwischen Daumen und Zeigefinger und steckt sich die Zigarette in den Mundwinkel.
Mann, was will der! Plötzlich fällt mir wieder ein, wie er sich die Hand an der Jeans abgewischt hat. Als hätte ich ihm da rein gespuckt oder so. Der hält mich wahrscheinlich für eine von den voll dummen Gänsen. Ha, dir werd' ich noch zeigen, wozu ich alles fähig bin!, denke ich.
„Und was machst du hier?“. Ich ziehe mir ebenfalls eine Zigarette, zünde sie an und atme den Rauch tief in meine Lunge ein.
Seine Mundwinkel zucken amüsiert.
„Vielleicht einen leckeren Kuchen backen!“. Er lacht kehlig.
Ich kaue auf meiner Unterlippe herum. Na, der Schuss ging ja gleich mal nach hinten los! Toll! Dann muss ich wohl eben noch einen zweiten Versuch starten.
„Also ich bin zum Sprayen hier! So, und jetzt du!“
Er legt den Kopf schief, in einem Mundwinkel ein halbes Lächeln, und bläst den Rauch in die kalte Nachtluft.
Dann nimmt er eine längliche Dose aus seiner Jackentasche, schüttelt sie kräftig und verlässt das Gebüsch. Ich schleiche ihm hinterher.
Genau vor uns steht ein dreckig-grauer Stromkasten.
In einem tiefen Rot hat er N.s.s. drauf gesprüht. Mensch, und ich weiß noch immer nicht, was das heißt.
„Jetzt du!“ Er steckt die Dose wieder weg und zieht an seiner Zigarette.
Ich? Wie jetzt? Aber ich kann das doch gar nicht!
„Ähm“, mache ich.
Er zieht die linke, gepiercte Augenbraue hoch und nickt auffordernd in Richtung des Stromkastens.
Langsam ziehe ich die schwarze Sprühdose aus der Brusttasche.
„Aus'm Baumarkt?“
Jetzt mache ich „Hä?“
Er lacht wieder.
Verwundert drehe ich die Dose in den Händen. Wie hat der denn jetzt raus bekommen, dass ich die aus dem Baumarkt habe?
„Typischer Anfängerfehler. Die aus dem Baumarkt taugen nix!“
Ha-ha. Der hält sich ja für nen ganz Schlauen! Tja, wer nichts in Hirn hat, muss eben so tun.
„Ach!“, sage ich patzig und gehe mit sicheren Schritten auf den Stromkasten zu, „Und woher, bitte schön, willst du das wissen?“
Wieder lacht er, doch jetzt klingt es, als würde er mich auslachen.
„Ich weiß es eben!“
Oho! Ein Angeber!
Mittlerweile hab ich den Stromkasten erreicht und beginne die Sprühdose zu schütteln. Mit leicht zittrigen Fingern drücke ich den winzigen Sprühkopf runter und schon ist da ein schwarzer Kreis auf dem grauweißen Stahlblech. Okay, der erste Schritt ist gemacht!
Ich atme ganz tief durch und sprühe in großen Druckbuchstaben LOLA in die Mitte des Kastens.
„Lola“. Er spricht es leise und irgendwie schön aus. Ich habe gar nicht gemerkt, dass er neben mich getreten ist, und zucke zusammen.
„Dein Name klingt nach Freiheit“. Er sagt es, während er weit, weit in die Ferne starrt. „Und nach Einsamkeit.“
Woher weiß er das? Genau das hatte ich mir auch gedacht, als ich mir diesen Namen gegeben hatte. „Lola“ klingt viel besser als „Nelly“. Und da ich eh nichts mit meiner Familie zu tun haben will, möchte ich auch nicht mehr den Namen tragen, den sie mir vor siebzehn Jahren gegeben hat. Da hat dieser Typ recht, Lola klingt nach etwas Besonderem und Einmaligem.
Er zieht wieder die dunkelrote Sprühdose aus der Tasche und beginnt den gesamten Kasten in Rot zu versenken. Was hat er vor?
Mit leichter Hand sprüht er vier Buchstaben in Schwarz darauf. Diesmal sieht es nicht wie eine Abkürzung aus. Die Buchstaben sind groß und geschwungen und sehen fast wie ein kleines Kunstwerk aus. Der scheint Ahnung vom Sprayen zu haben.
NOPE steht da. Einfach nur NOPE.
„Nope“, sage ich leise, und ehe ich nachdenken kann, sage ich, „klingt nach Entschlossenheit.“
Er dreht den Kopf zu mir. Das Lächeln ist verschwunden.
Nope wirft den Zigarettenstummel auf den Boden und tritt sie kräftig mit der Spitze seiner hohen Springerstiefel aus.
„Nach Entschlossenheit zum Abhauen.“
Er kneift die Augen zusammen. Lange starrt er mich an, dann dreht er sich entschieden um und stapft den Hügel hoch. Mit sicheren Schritten, die Hände in den Jackentaschen vergraben, den Kopf zwischen die Schultern gezogen.
Was habe ich gesagt? Ich stehe da und starre ihm nach. Was ist passiert?
„He!“, rufe ich und laufe ihm ein paar Schritte nach. „Warte!“ Keine Reaktion.
„Nope!“
Ruckartig hebt er den Kopf und bleibt stehen.
Vier Meter vor mir steht er, den Rücken kerzengerade, den Kopf immer noch eingezogen. Er sagt nichts. Mein Herz rast.
„Kannst du mir Nachhilfe geben? Im Sprayen meine ich. Du kannst das gut und ich, naja, eher nicht so gut...“ Was labere ich da? Mensch, was soll das? Ich kenne diesen Jungen doch gar nicht!
Er reagiert nicht. Hat er meine Frage überhaupt gehört?
Er sagt es leise und ohne den Kopf zu heben oder in meine Richtung zu drehen.
„Morgen Nacht um zwei Uhr hier am Stromkasten.“
Er geht weiter, hat die Straße erreicht und läuft mit schlurfenden Schritten den Bürgersteig entlang. Ich folge ihm nicht, starre ihm nur nach. Bis er verschwunden ist, von der Dunkelheit verschluckt.
Ich stehe lange da. Die Kälte kriecht an mir hoch. Wie an einer hohen, gerade Rankenpflanze. Irgendwann setze ich mich in Bewegung. Meine Knochen fühlen sich an wie die verrosteten Zahnräder einer alten Maschine. Ich meine sie knacken und ächzen zu hören. Nach ungezählten mühsamen Schritten habe ich die Straße erreicht. Die Straße ist leer, gerade und scheint sich ins Endlose zu ziehen. Auf meinem Weg treffe ich niemanden. Die Straßenlaternen tauchen mich alle paar Meter in kaltes Licht. Ich weiß, wohin ich gehe. Ich finde den Gedanken auch gar nicht mehr so schlimm. Ich habe Hunger, Durst und bin todmüde. Dort, wohin ich jetzt gehe, weiß ich, dass ich alles bekomme, was ich brauche.
Es so still. Die Stille legt sich wie Watte auf meine Ohren. Sie ist unerträglich. Ich weiß, es klingt komisch, aber ich will mir die Watte aus den Ohren rupfen. Da ich weiß, dass mich keiner sehen kann, presse ich mir kurz die Hände auf die Ohren. Ich will Lärm hören! Etwas, das die Stille hier verdrängt. So wie hell dunkel verdrängt.
Ich krame den MP3-Player aus der Hosentasche, mache ihn an und stecke mir die Knöpfe in die Ohren. Wenigstens habe ich jetzt etwas Lautes um mich herum. Aber es klingt nicht echt.
Auf einmal wünsche ich mir, dass ein Motorrad oder ein Auto an mir vorbeifährt. Doch nichts dergleichen passiert.
Ich mache die Musik noch lauter. Sie dröhnt durch meinen Kopf wie ein Sturm. Und schon wieder weiß ich nicht, was ich tue.
Ich öffne den Mund, schließe die Augen und schreie kurz und laut. Das Echo tut gut. Es klingt echt. Besser als die Musik in meinen Ohren. Ich will noch mal schreien, aber ich tue es nicht. Der eine Schrei hat mich befreit.
Ich habe meine Siedlung erreicht. Warum ich mich hier auf einmal wohl fühle, weiß ich nicht.
Den Schlüssel muss ich wohl beim Verlassen des Hauses eingesteckt haben. Ich bin froh, als ich die Tür leise hinter mir schließe. Die Dunkelheit und Einsamkeit aussperren zu können.
Nachhilfe in Sprayen
Komisch war sie schon, diese Lola. Ein so selbstbewusstes Mädchen. Doch so dumm, einfach nur dumm. Sie wusste nicht, was Leben bedeutet, spielte damit wie mit einem Spielzeug. Ich wusste nie, was ich von ihr halten sollte. Ich hatte Angst um sie, von Anfang an. Wie sie da in mich rein rutschte, in dem Gebüsch. Ich hatte ihr damals keine Angst eingejagt. Und das wiederum hielt mich davon ab, ihr zu sagen, was für einen Scheiß sie machte. Sie hatte keine Angst vor mir, widersetzte sich mir. Ich mochte sie, irgendwie. Vielleicht weil sie das erste Mädchen war, das sich mal was traute!
~Nope~
Natürlich bin ich wie immer um halb sieben wach. Und wie immer ist um halb acht das Haus leer. Ich gehe duschen, schmiere mir einen Toast mit Marmelade und verlasse das Haus.
Ich weiß nicht, wohin ich gehen will.
Meine Füße laufen an der Bushaltestelle und an der Tankstelle vorbei. Nun brausen in regelmäßigem Abstand Fahrzeuge an mir vorbei. Es ist eine völlig andere Stimmung als in der Nacht. Endlich ist es laut.
Ich gehe zu dem Abhang.
Auch tagsüber laufen hier nicht viele Leute vorbei. Auf dem ganzen Weg begegne ich einem Radfahrer, dem ein kleiner bellender Hund vorweg läuft.
Der Abhang ist voller Müll und Unkraut. Ich bleibe stehen.
Runter zum Stromkasten zu gehen, traue ich mich dann aber doch nicht. Kurz schaue ich in die Richtung, in die dieser Nope verschwunden ist. Woher der wohl kommt?
Ein zischender LKW, mit vom Fahrtwind eingedrückter gelber Plastikplane, der mit hoher Geschwindigkeit über die Landstraße fährt, reißt mich aus den Gedanken.
Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll.
Erst jetzt fällt mir auf, das ich in letzter Zeit eigentlich überhaupt nichts gemacht habe, was ich mir vorher überlegt habe.
Na ja, da muss ich dann einfach mal durch die Gegend laufen und dann fällt mir schon was ein. Oder auch nicht.
Ich schlage wieder den Weg nach Hause ein.
Vielleicht finde ich ja am Bahnhof ein Stückchen versteckte Mauer, an der ich mich ein bisschen auf die Nachhilfestunde heute Nacht vorbereiten kann.
Die Sprühdosen stehen ganz hinten an der Wand unter meinem Bett. Und ehe ich mich versehe, halte ich eine dunkelgrüne in der Hand, schüttle sie und besprühe meine schwarze Zimmerwand.
Wenn Schwarz getrocknet ist, dann kann mal es übermalen. Dann verschluckt es nicht mehr.
Das Grün verläuft schön und irgendwie bin ich stolz auf den großen Schriftzug an der Wand: „Freiheit - ein Ziel des Widerstandes“
Endlich habe ich meine Arbeit in Worte fassen können.
Jetzt habe ich keine Lust mehr, zum Bahnhof zu gehen. Was soll ich da? Wenn ich Nachhilfe brauche, dann kann ich ja wohl kaum gut sein, und Nope hat mich ja beim Sprühen meines Namens auch nicht ausgelacht.
Und der Schriftzug an der Wand sieht echt toll aus!
Je mehr ich an Spray-Nachhilfe und Nope denke, um so mehr will wissen, was diese komischen Abkürzungen bedeuten.
Ich setzte mich im Wohnzimmer an den Computer und googele „W.h.N“
Jede Menge Werbeanzeigen ploppen mir entgegen. Nichts Brauchbares ist darunter. Selbst unter „Bilder“ sehe ich nur solche Sticker, wie Nope einen auf seiner Jacke hat.
Als ich nach einer ganzen Stunde immer noch nichts gefunden habe und fast zehnmal bei eBay gelandet bin, habe ich die Schnauze voll und schalte den PC aus.
Dann frage ich ihn heute einfach, so schwer wird es ja wohl kaum sein.
Mittlerweile ist es schon zehn Uhr. Noch sechzehn Stunden! Mann, was kann ich in der Zeit denn noch machen?
Als erstes fällt mir Benny ein.
Benny war mal ein sehr guter Freund gewesen. Doch jetzt ist er es nicht mehr. Er war der einzige Mensch, der mich jemals verstanden hatte. Doch jetzt lässt er mich im Stich. Er will mich und meine Lage nicht verstehen!
Tja, ich werde auch gut selber zu recht kommen!
Den Rest des Tages verbringe ich in meinem Zimmer, die Musikanlage auf voller Lautstärke und die ganze Zeit die Sprühdose in der Hand.
Endlich ist der Abend da. Im Haus wird es stiller. Meine Eltern sitzen im Wohnzimmer vor dem Fernseher und meine Geschwister sind so langsam auf dem Weg ins Bett. Irgendwann ist es ganz still.
Es ist bestimmt schon Mitternacht. Noch 1 Stunde und 30 Minuten.
Ich freue mich. Ich bin aufgeregt.
Und wieder frage ich mich, woher Nope wohl kommen mag. Auch das werde ich ihn nachher mal fragen.
Ob er nachher wohl kommt? Vielleicht war es ja auch nur als Scherz gemeint. Na, hoffentlich nicht. Aber warum sollte er mir denn eigentlich etwas beibringen wollen? In seinen Augen bin ich doch eh nur eine dumme Gans!
Das rote Zifferblatt meines Radioweckers zeigt 1:29:15. Ich schwinge meine Beine aus dem Bett, ziehe mir die Schuhe an und verlasse das Haus.
Es ist still und dunkel. So wie gestern. So wie jede Nacht.
Nope ist da.
Er lehnt an dem Stromkasten, als ich den Abhang runterrutsche. Er schaut mich nicht an. Gelangweilt bläst er den Zigarettenqualm in die Nacht. Er scheint mich noch nicht bemerkt zu haben.
Ich will mir gerade eine Begrüßung zurechtlegen, da sieht er mich kurz an, dreht sich um und geht den Abhang hinunter.
Ich folge ihm.
Er dreht sich nicht um, es scheint ihm egal zu sein, ob ich ihm nachgehe oder nicht. Das Gestrüpp wird dichter und undurchdringlicher, der Müll und die Kippen weniger. Hierhin scheinen sich die Jugendlichen, die nachts herumstreunen, nicht so oft zu verirren.
Nope kennt den Weg offenbar gut. Er läuft zügig und einmal verliere ich ihn aus den Augen, als er einen steilen Abhang herunter springt, der von Büschen verborgen ist.
Wir scheinen da zu sein. Nope bleibt so ruckartig stehen, das ich fast in ihn hinein stolpere.
„Wir sind da“. Das ist der erste Satz, den er heute zu mir sagt.
Nach mehrfachem Blinzeln kann ich ungefähr erkennen, wo wir sind. Vor uns verläuft ein einsames Bahngleis. Die Schienen sehen alt und verrostet aus. Der Bahnhof scheint nicht mehr benutzt zu werden. Nope überquert die Schiene, zieht eine Sprühdose heraus und sprüht das Stück Beton an, das zwischen Bahnsteig und Gleis liegt.
Wieder so eine komische Abkürzung: W.h.N
„Was heißt das?“, frage ich entschlossen.
Er schaut mich an und lächelt leicht.
„Das heißt Wir hassen Nazis, und das“, er sprüht ein Stück weiter N.s.s an den Beton, „heißt Nazis sind scheiße.“
„Aha“, mache ich.
Der scheint seine Meinung ja ganz offen zu sagen. Na ja, ich trage auch T-Shirts mit Kommentaren wie „Was interessiert mich deine Scheiß Meinung?“, aber das ist ja was ganz Anderes. Dafür, was Nope schreibt, kann man richtig Ärger bekommen!
Da er meine erste Frage ohne großen Aufstand beantwortet hat, kann ich ja auch gleich die nächste stellen.
„Wo kommst du eigentlich her?“
Nope lässt die Sprühflasche sinken. Er antwortet nicht. Okay, die Frage war wahrscheinlich schon ein bisschen zu persönlich.
„Also die Sache mit dem Sprühen ist gar nicht so schwer. Du musst nur darauf achten, das du keine anderen Zeichen übersprühst!“ Geschickt lenkt er vom Thema ab. Naja, wenn er meine Frage nicht beantworten will!
„Okay“. Ich nehme die dunkelgrüne Flasche und sprühe LOLA neben Nopes W.h.N.
„Eigentlich gibt’s gar nichts, was ich dir groß beibringen kann.“
„Na und? Aber guck dir meine krakelige Schrift an, und du kannst so große, geschwungene Buchstaben schreiben!“
„Das ist reine Übungssache!“ Okay, verstanden. Er scheint mir wohl doch nicht wirklich helfen zu wollen.
„Wo darf ich denn alles hinschreiben?“
„Überall!“ Überall? Na gut, dann kann ich ja gleich meine Hauswand ansprühen!
„Und was kann man noch alles so schreiben, außer seinen Namen?“
„Abkürzungen, wie W.h.N.“
„Und wenn ich das nicht schreiben will?“
„Okay, dann biste wohl ein Neonazi, dann schreib W.l.N!“
„Das meinte ich nicht!“, rufe ich entrüstet, „Aber ich will nicht so was schreiben. Das heißt nicht, dass ich nicht so denke!“
„Ist ja schon gut! Bist wohl ein bisschen feige, nur weil du dafür Ärger bekommen kannst!“ Er lacht.
„Ha-ha“, mache ich trocken und verschränke die Arme vor der Brust.
„Okay, sorry! Mädels wie du sind ja immer so schnell beleidigt!“ War mir ja gleich klar, dass der mich für ne dumme Pute hält!
„Ich bin nicht beleidigt!“, brumme ich knapp.
„Ja, man merkt's!“. Er lacht schon wieder.
„Gut. Jetzt lass uns mit dem Üben weiter machen“, dränge ich. Ich will mich nicht immer rechtfertigen müssen!
„Tja, sonst musst du nichts beachten. Außer dass du deinen echten Namen niemals schreiben darfst! Wenn Lola dein echter Name ist, dann ist es Dummheit, dass du den hier dran gesprüht hast.“ Toll! Schon wieder muss ich mich rechtfertigen!
„Nein. So dumm bin ich nicht!“ sage ich patzig.
„Bist wohl immer noch beleidigt! Wusste ich doch, das du so tickst wie alle Weiber!“
Oh, bravo! Mach mich noch weiter fertig! Ich ignoriere seinen Kommentar einfach.
"Also ist Nope auch nicht dein richtiger Name."
"Man kann sich nicht aussuchen, wie man genannt wird."
"Ach, gib's doch zu! Nope ist eh kein richtiger Name!"
"Und wenn doch?"
"Also ist dein richtiger Name Nope?"
"Wen interessiert's?" Ich verdrehe die Augen und seufze.
"Gut. Soll mir ja auch egal sein. Wie schaut's jetzt weiter mit Tipps aus?"
"Ich hab dir alles beigebracht, was du wissen solltest."
"Toll. Und dann kann ich jetzt gehen?". Er zuckt mit den Achseln.
"Aber meine Bezahlung bekomm' ich noch!"
Bezahlung? Was für ne Bezahlung? Er hat doch nur gelabert und das noch nicht mal 15 Minuten lang! Und jetzt will der eiskalt eine Bezahlung dafür. Ha, darauf kann der lange warten, ich gebe ihm nichts, außer vielleicht ein trockenes "Danke".
"Was denn, bitteschön, für eine Bezahlung?".
Jetzt macht er einen auf verwirrt.
"Wie meinst du das, du willst mir für die Nachhilfe keine Kohle zahlen?!"
"Äh, nee, irgendwie nicht!"
"Na toll". Er klingt ehrlich traurig. "Hätt' ich ja gleich wissen müssen, dass du ne Betrügerin bist!"
"Nee, das ist nicht meine Art! Aber ich mein‘, du hast mir ein bisschen was vorgelabert und jetzt willst du dafür Geld haben. Und außerdem bin ich momentan schlecht bei Kasse."
Warum rechtfertige ich mich denn schon wieder? Was denkt der sich denn eigentlich? Nee, nee, so läuft das hier nicht ab!
"Und ich habe momentan überhaupt keine Kohle", gesteht er zähneknirschend.
Ich zucke mit den Schulter. Tja, hat er wohl Pech gehabt. Dann hätte er sich mal besser weniger Zigaretten kaufen sollen.
"Hast du vielleicht noch eine?", murmelt er und tritt den Zigarettenstummel aus.
"Warum sollte ich dir eine geben?", frage ich hochnäsig und ziehe mir in Gemütsruhe eine Zigarette aus der halbvollen Packung, zünde sie an und ziehe kräftig daran. Nopes Augen folgen jeder meiner Bewegungen.
"Vielleicht als kleines Dankeschön?". Ich schweige.
Er seufzt, dann zieht er sich an der Kante des Bahnsteiges hoch und setzt sich ohne große Anstrengung drauf. Meine Zigaretten betrachtet er immer noch. Fast gierig starren seine seltsamen blauen Augen sie an.
Na, ich will mal nicht so sein. Seufzend setze ich mich neben ihn und halte ihm die Packung hin.
Er lächelt leicht, nimmt sich eine, zündet sie an und bläst mir den Rauch leicht ins Gesicht. Danke hat er nicht gesagt. Also sehe ich auch nicht ein, mich für die Nachhilfe zu bedanken!
Lange sitzen wir so da, die Beine baumelnd, rauchend und unaufhörlich in die Dunkelheit starrend.
"Und wo kommst du her?".
Er bläst den Rauch durch die Nase raus. Ich schaue ihn unentschlossen von der Seite an. Einerseits scheint es ihn wirklich zu interessieren, andererseits wollte er mir ja auch nicht sagen, wo er herkommt. Doch vielleicht sagt er es mir ja, wenn ich ihm meine Geschichte erzähle.
"Seit drei Monaten bin ich frei“.
Er blinzelt, schaut aber weiter in die Nacht.
"Du warst im Knast?"
Ich runzele die Stirn. Wie kommt der denn jetzt darauf?
"Nee, ganz bestimmt nicht!"
"Und warum bist du dann seit drei Monaten frei?"
"Weil ich meinen Eltern egal geworden bin. Ich darf machen, was ich will. Meine Mutter ignoriert mich einfach, und mein Vater ist eh nie zu Hause. Ist schon cool, alles machen zu können, ohne Stress zu bekommen!". Mehr will ich ihm nicht erzählen. Mehr gibt's ja auch nicht zu erzählen.
"So, und jetzt bist du dran."
Er zieht wieder an seiner Zigarette und schweigt. Toll! Das ging ja mal wieder nach hinten los!
"Ach, komm schon! Ich hab dir ja auch erzählt, wo ich herkomme!"
"Du kommst aus der Freiheit", er lächelt leicht, "ich nicht. Ich hatte eine Zeit lang ein Zuhause, jetzt wohn' ich bei meinen Kumpels. Reicht das?"
Wie meint er das, er hatte eine Zeit lang ein Zuhause? Als ich ihn das frage, lacht er laut.
"Ich wüsste nicht, was dich das angeht!". Hm, da hat er recht! Ich kenn' ihn ja gar nicht und er mich auch nicht.
"Und wie ist es so, mit Kumpels in einer Hütte zu wohnen?"
"Joah, ganz cool."
"Streitet Ihr euch oft?"
"Nö, wir sind Kumpels."
Oh, das ergibt Sinn! Wenn man gut befreundet ist, streitet man sich nicht!
Meine Schwester und ihrer Freundin sind das beste Beispiel dafür.
"Hast du noch Zeit?". Er schaut mich an und zieht an seiner Zigarette. Ich überlege.
"Joah, eigentlich schon. Ich kann ja machen, was ich will!". Er nickt.
"Aber kann ja sein, dass du irgendwann ins Bettchen willst. Wir haben schon viertel vor drei."
"Na und?"
Wieder lässt er heraushängen, dass er mich für ein Weichei hält! Na, dem werd ich's noch zeigen!
"Gut, dann komm mit. Ich zeig dir unsere Hütte!" Während er das sagt, umspielt ein Lächeln seine Lippen.
"Echt?". Ich bin skeptisch. Warum will er mir so plötzlich so viel von sich verraten? Er war doch vorhin noch so verschlossen.
"Klar!". Er springt von der Kante des Bahnsteiges und überquert wieder die Schienen. Ich weiß echt nicht, was ich davon halten soll. Doch nach drei Sekunden folge ich ihm.
Eine Zeit lange gehen wir die Strecke entlang, die wir gekommen sind. Irgendwann schlägt er einen überwucherten Feldweg ein. Der Weg scheint nie enden zu wollen. Wo hier wohl eine Hütte stehen soll? Mit wie vielen Kumpels muss er es aushalten?
In einer sachten Kurve biegt er querfeldein zwischen zwei großen Weißdornbüschen ein. Was will Nope hier? Von einer Hütte ist weit und breit nichts zu sehen.
Ich folge ihm auf dem Fuße. Die Dornen des Strauchs zerkratzen mir das Gesicht. Ich spüre pochende Schrammen.
Nach dem Weißdorngebüsch kommt eine Wiese. Wir überqueren sie mit langen Schritten, dann taucht eine große Steinbrücke vor uns auf.
Sie ist bunt besprüht und ich kann sogar von der Ferne Nopes Abkürzungen erkennen. Aha, hier hat er also angefangen.
"Wo ist denn jetzt eure Hütte?", frage ich leicht genervt.
"Unsere Hütte?". Er lacht schallend.
Die Brücke ist hoch und scheint bis in den dunklen Himmel hinauf zu ragen. Obwohl wir noch etliche Meter von ihr entfernt stehen, dringen angeheiterte Stimmen zu uns rüber.
"Lebt Ihr hier?"
Er antwortet nicht, sondern geht einfach auf die Brücke zu. Die Stimmen werden verständlicher.
"Hey, Leute! Schaut mal da! Unser Einzelgänger Nope kommt wieder". Lautes Lachen.
"Und, Mensch, er hat uns jemanden mitgebracht!". Wieder Gelächter.
"Das ist aber nicht seine Eva!", ruft ein anderer. "Solche Klamotten hat die nicht an. Ich hab ihn und Eva einmal gesehen. Die ist blond und bestimmt ein Jahr älter als er."
"Stimmt. Ach, der hat wieder ne Neue!".
Ich mustere Nope von der Seite. Sind das seine Kumpels? Dann ist er ein Obdachloser...
"Ihr wohnt unter der Brücke, hab ich recht?"
Er antwortet nicht.
Wir haben die Brücke erreicht. Ich kann zwei Gestalten erkennen. Sie hocken da und rauchen. Auf dem Boden liegen schmuddelige Schlafsäcke und ein großer Kasten Bier. Ja, er wohnt hier.
Nope setzt sich neben einen der Typen, der an der Steinwand lehnt und nimmt sich eine Flasche aus dem Kasten. Mir bietet er keinen Platz an.
Die beiden Typen, also Nopes Kumpels, schauen mich skeptisch an. Sie sagen nichts. Nope öffnet seine Bierflasche und trinkt gierig. Mich scheint er vergessen zu haben.
Einer seiner Kumpels wirft seine Zigarette weg und räuspert sich leicht.
"Willst du uns denn deine Süße nicht vorstellen?". Seine Stimme ist tief und genau so rau wie die von Nope. Er hat zottelige hellbraune Haare, seine Klamotten sind ausgewaschen und sehen irgendwie gammelig aus.
Nope schaut mich an und deutet mit dem Kinn auf einen der schmutzigen Schlafsäcke.
"Setz dich, Lola."
"Lola". Der Andere hat eine sehr hohe Stimme und sein Gesicht liegt im Schatten.
"Klingt besser als Eva. Hast du jetzt nichts mehr mit der?"
"Ach, das war doch nur was für eine Nacht!". Nope nippt an seiner Bierflasche.
"Nee, das waren zwei Nächte, Alter! Ich hab euch zwei ja gesehen!". Alle drei lachen.
Ich setze mich auf den Schlafsack. Er ist dünn und durchgelegen.
"Das sind übrigens Hannes und Dennis." Nope spielt mit dem Feuerzeug und leert die Bierflasche in vier kräftigen Zügen aus.
"Deine Kumpels", sage ich, "mit denen du zusammen in einer Hütte wohnst." Ich weiß nicht, warum ich das sage. Aber ich muss ja irgendwas sagen, sonst halten die mich noch für stumm.
"Jo, seine Kumpels". Der Junge, den Nope eben Hannes genannt hat, steht auf und klopft mit der flachen Hand gegen die Steinmauer, "aber das hier ist viel besser als eine Hütte, ne, Dennis?"
Dennis ist breitschultrig und muskulös. Sein Gesicht ist rund und die hellen Augen sehen aus wie kleine Messer. Sie mustern mich von oben bis unten und dann noch mal von unten bis oben.
"Aber hör mal, Nope. Die ist ja ganz anders als Eva. Viel cooler. Sag, Mädel, sprayste? So wie unser Nope?"
Ich werfe Nope einen schnellen Blick zu, doch er schaut stur geradeaus.
"Ja. Euer Kumpel hat mir Nachhilfe gegeben", sage ich ehrlich.
"Oho, Nachhilfe!". Dennis lacht laut. "Worin denn? Nur im Sprayen?". Hannes fällt in sein Gelächter ein und die zwei klatschen sich ab.
"Leute, Ihr seit echt witzig!", knurrt Nope und nimmt sich eine neue Flasche Bier aus dem Kasten. Wieder Gelächter.
Ich sitze hier rum und schweige. War es wirklich so eine gute Idee, hierhin zu kommen? Langsam zweifele ich stark daran.
"Na, wir wollen mal nicht so sein, stimmt's, Hannes?". Dennis nimmt eine Flasche Bier und hält sie mir auffordernd hin.
"Wollen wir doch mal gucken, was die Kleine hier so verträgt, nicht wahr?"
Unschlüssig starre ich die braune Flasche an. Alkohol in großen Mengen habe ich noch nie getrunken. Und vielleicht ist das hier auch nicht der beste Ort, um sich volllaufen zu lassen... Ach, egal!
Ich greife nach der Flasche, doch Dennis nimmt sie mir wieder weg.
"Aber erst mal sag mir, wie alt du bist. Denn das Zeug ist ungesund, weißt du? Und wenn du erst zehn bist, darfst du das nicht trinken!".
Hannes schlägt sich lachend auf den Oberschenkel und nimmt einen extra großen Schluck aus seiner Flasche. Ich seufze und greife erneut nach dem Flaschenhals. Doch wieder zieht Großmacho Dennis sie mir weg.
"Falls es dich interessieren sollte", sage ich und schaue ihm direkt ins Gesicht, "ich bin 17 Jahre alt, und wenn ich dich so anschaue, würde ich dich noch nicht mal an den Herd lassen, weil du aussiehst wie ein Baby!" Ha, schlagfertig war ich schon immer! Hannes hält sich vor Lachen den Bauch.
"Sag mal", wendet Dennis sich an Nope, "was schleppst du denn hier für Zicken an?"
"Gib ihr einfach die Flasche und sie zickt auch nicht mehr rum!", knurrt Nope und trinkt die zweite Flasche aus.
Das Bier ist kalt und schmeckt bitter. Nope schweigt und starrt die graue, schmutzige Steinmauer an. Woran er wohl denkt?
Ich denke momentan an nichts. Ich finde das hier irgendwie schön. Dennis und Hannes sind zwar nicht wirklich nett, aber sie sind wahrscheinlich auf Dauer okay, sonst würde es Nope ja nicht mit ihnen aushalten.
Das Bier hindert mich am Denken.
Immer wieder reißt Dennis Witze, die ich im nüchternen Zustand vermutlich nicht witzig gefunden hätte, aber jetzt lache ich mit. Die erste Flasche Bier ist geleert, die zweite wird angetrunken.
Nope hat in der Zeit vier geleert.
Er ist jetzt neben mich gerückt und unterhält sich angeregt mit Hannes. Die zwei lachen laut und ich falle ab und an mit ein, obwohl ich gar nicht weiß, worum es geht. Es ist lustig hier.
Dennis zeigt mir, wie man den Kronkorken mit dem Feuerzeug abknippst, und der Bierkasten wird immer leerer. Irgendwann steht Dennis auf, zieht mich hoch und fängt an zu tanzen. Lachend und schwankend bewege ich mich mit. Es ist ein tolles Gefühl, angenommen zu sein!
Ich fühle mich leicht. Der Boden schwankt lustig und nach einer Zeit lasse ich mich erschöpft wieder auf den Schlafsack sinken. Ich bin müde, will aber nicht schlafen. Ist alles so witzig hier!
Hannes zieht ein kleines Fläschchen aus der Jackentasche und lässt es rundum wandern. Dennis und Nope stimmen Fußballlieder an und ich singe mit, obwohl ich den Text überhaupt nicht kenne.
Das Zeug in dem Fläschchen schmeckt noch bitterer als das Bier und brennt im Hals. Doch immer wenn ich einen neuen Zug nehme, hört das Brennen kurz auf. Die fünf Fläschchen Schnaps sind schnell geleert, der Bierkasten beinhaltet schon lange nichts mehr. Mittlerweile beginnen auch die Steinmauern sich lustig zu verschieben und ich komme aus dem Lachen gar nicht mehr raus.
Irgendwann, es beginnt am Horizont schon hell zu werden, sacke ich todmüde gegen Nopes Schulter und schlafe ein. Was für eine Nacht!
Eine Millionen kleiner Zwerge heben ihre Hämmer und schlagen mit gehässigen Blicken auf meinen Schädel ein. Sie hämmern und hämmern. Es brummt und wummert und schmerzt. Ich drehe den Kopf und stöhne. Davon wird das nur noch schlimmer! "Hepp! Hepp! Hepp! Hepp!", feuern die Zwerge sich gegenseitig an und die kleinen Hämmer treffen immer schneller auf meinen Kopf. Mühsam schlage ich die Augen auf.
Über mir ist eine graue Steinmauer. Ich weiß nicht, wo ich bin.
Ich liege in einem zerfetzten, dreckigen Schlafsack, der schwere Arm eines Jungen liegt um meine Schultern. Mein Kopf liegt auf seiner Schulter. Er schnarcht leise mit offenem Mund. Er riecht nach Schnaps und Zigaretten.
Ich verziehe den Mund. Das ist widerlich! Die Hämmer dreschen schneller auf mich ein. Ich stöhne erneut.
Mensch, das kann ja niemand aushalten.
Mit geschlossenen Augen richte ich mich auf. Oh Mann, ist mir schlecht!
Der Junge neben mir regt sich, zieht den Arm weg und dreht sich auf die andere Seite. Wer ist das?
Ich kneife die Augen zusammen. Kenne ich den?
Seine schwarzen Haare kleben strähnig am Kopf, seine Brust hebt und senkt sich langsam.
Zu meinen Füßen regt sich etwas. Der Kopf eines weiteren Jungen erscheint und schaut mich aus verschlafenen Augen an.
"Moin, Lola", gähnt er und pellt sich aus dem Schlafsack, "Was machen die Zwerge?"
Lola? Wieso Lola? Ich heiße Nelly, nicht Lola!
"Lola?", frage ich mit rauer Stimme. Er runzelt die Stirn.
"Du heißt doch Lola, oder? Das hat Nope doch gestern gesagt. Oder hat der uns verarscht und du heißt Frieda oder Gertrud?" Er lacht.
Ich schüttle den Kopf. Was für ein Nope?
Langsam drehe ich den Kopf und schaue den Jungen an, der noch immer neben mir liegt und schnarcht. Ist das nicht Nope? Und der Junge, der mich gefragt hat, ist das nicht Dennis?
"Dennis?"
"Juhu! Sie erinnert sich sogar nach dem Suff noch an meinen Namen!", lacht er und zündet sich eine Zigarette an.
"War ich gestern zu?", frage ich vorsichtig.
Der Junge zu meiner rechten Seite hebt den Kopf. Seine verpennten Augen schauen sich amüsiert an.
"Jo, das warst du! Hast gar nichts mehr geschnallt gestern!"
"Oh", mache ich und fahre mir durch die zerzausten schwarzen Haare. Irgendwie ist das jetzt peinlich. Was habe ich gestern alles getan, wovon ich keine Ahnung habe?
"Sie hat sogar freiwillig Nope abgeknutscht!". Dennis und Hannes lachen wieder.
"Ich habe was?". Jetzt bin ich ehrlich geschockt.
"Haha, jetzt bereut sie es! Tja, kannst jetzt nichts mehr rückgängig machen. Aber Nope wird dir nicht böse sein!" Hannes zwinkert mir zu. Oh, mein Gott, ist das peinlich. Ich merke, wie ich leicht rot anlaufe.
Der Kopf zu meiner Linken schießt in die Höhe.
"Ach, da ist er ja!". Dennis zeigt an seiner Zigarette.
"Na, wie war Lolas Kuss?".
Nope reibt sich die Augen und gähnt. Er wirft mir einen kurzen Blick zu und schnippt Dennis einen Kronkorken an den Kopf.
"Hach, jetzt wird der kleine Kerl auch noch rot!". Hannes schüttelt sich vor Lachen. Das stimmt, Nope wird tatsächlich rot.
"Ach, Ihr seid einfach zu blöde!", knurrt er und trinkt den Rest der Schnapsflasche aus, die neben ihm liegt.
"Na, wir zwei gehen mal einkaufen. Was wollt Ihr haben?". Hannes rappelt sich auf und zieht Dennis auf die Füße.
"Wie immer", knurrt Nope und kramt in seinem Schlafsack nach einer Packung Zigaretten.
"Gut. Und du?". Dennis tritt seinen Zigarettenstummel aus und zieht sich seine verwitterte Lederjacke über.
"Ähm, was kauft Ihr denn so ein?"
Schon wieder lacht Dennis.
"Wir kaufen bei McDonalds ein, also sag, was du haben willst!"
"Zum Frühstück?"
"Ja-ha!"
"Aber bei Mäckes kann man doch nicht frühstücken. Und außerdem ist das widerlich da!"
"Oh, Mann!". Hannes zieht seinen Kumpel hinter sich her.
"Kaufen wir der Kleinen einfach das gleiche wie Nope."
"Na, ob die das aufkriegt? Der Kerl frisst ja so was von viel!" Dafür fängt Hannes sich einen strafenden Blick von Nope ein.
"Na, komm, wir lassen die zwei alleine. Dann können die sich schön über die Nacht unterhalten!" Dennis zwinkert mir zu und lachend verlassen er und Hannes die Brücke und klettern den Abhang zur Straße rauf.
Die Zwerge beginnen wieder zu hämmern. Mit grimmigem Gesicht reibe ich mir die Stirn. Mein Gott, war wohl doch ein bisschen viel gestern! Und außerdem bin ich an das Zeug ja gar nicht gewöhnt.
"Na, Kater?". Nope schaut mich nicht an. Er hat den Rücken an die Steinmauer gelehnt und pustet den Rauch der Zigarette langsam durch die Nase wieder raus.
"So kann man's auch nennen", murmle ich. "Warum hast denn du keinen? Du hast doch viel mehr gesoffen als ich!"
"Ach, das ist reine Gewöhnungssache. Wenn mal viel trinkt, bekommt man nur einen kleinen Kater oder nach ner Zeit auch gar keinen mehr. Und außerdem", er deutet mit dem Kinn an die Büsche, die neben der Brücke wachsen, "hab ich den Alkohol schon gestern wieder von mir gegeben."
"Bäh!", mache ich und verziehe das Gesicht. "Du hast gekotzt?"
Er zuckt mit den Schultern, "Tja, ist besser als nen Kater zu haben."
Ich nicke. Ja, das stimmt.
Eine Weile schweigen wir uns an. Nope verschlingt Zigarette für Zigarette und starrt Löcher in die Steinmauer. So früh am Morgen vertrage ich noch gar keine Zigaretten!
„Apropos früh am Morgen, wie viel Uhr haben wir überhaupt?“
Nope zuckt wieder mit den Schultern. Er scheint zu keinem längeren Gespräch in der Lage zu sein.
"Was habe ich in der Nacht eigentlich gemacht?". Die Frage ist mir unangenehm, aber sie muss gestellt werden, ehe Unklarheiten entstehen.
"Nicht viel, außer vielleicht, das du nen bisschen sehr aufgedreht hast, aber sonst warst du ganz okay."
"Und die Sachen, die Dennis angesprochen hat. Ist das wahr?"
"Kann sein. Ich war ja auch nicht mehr wirklich nüchtern." Er schaut mich immer noch nicht an.
"Trinkt Ihr jede Nacht so viel?". Er schüttelt den Kopf.
"Nur manchmal. Wenn's was zu feiern gibt und wenn uns halt der Sinn nach 'nem Rausch steht. Aber sonst eigentlich nicht."
"Und warum gestern?". Wieder zuckt er mit den Schultern und schweigt.
"Und warum seid Ihr hier gelandet?". Keine Antwort.
"Habt ihr Mist gebaut?". Keine Antwort.
Gut, wenn er nicht antworten will!
Mein Magen knurrt. Mein Kopf schmerzt und meine Füße sind eingeschlafen. In wessen Schlafsack hab ich eigentlich gepennt? Auf jeden Fall riecht er muffig. Bah!
Hinter uns raschelt es und ein leises Stöhnen ist zu hören. Erschrocken drehe ich den Kopf. Vier Meter hinter mir liegt eine kleine Gestalt in einem schmutziggrauen Schlafsack.
"Das ist Flo. Ebenfalls nen guter Kumpel."
"Aha. Und warum hast du nichts von ihm erzählt?"
"Er lässt sich nie blicken, pennt hier nur. Der wandert vom Rausch zum Kater und wieder vom Kater zum Rausch. Der hat gar keinen nüchternen Zustand mehr“. Nope spricht leise und klingt ein wenig traurig.
"Flo ist 15. Einfach mal so aus Trotz von Zuhause abgehauen, obwohl er wirklich von seiner Mutter geliebt wurde. Naja, wollte eben ein bisschen Held spielen, hat Sachen geklaut, Drogen genommen, ist von zu Hause ausgerissen und lebt nun hier. Der Kerl hätte ne gute Laufbahn haben können. Er war sogar auf'm Gymnasium. Bis er keinen Bock mehr hatte."
"Oh", mache ich.
Bin ich aus Trotz von zu Hause ausgerissen? Werde ich von meiner Mutter geliebt? Nein. Hätte ich eine gute Laufbahn haben können? Nein. Bin ich richtig hier? Ja.
"Du, Nope?". Jetzt dreht er doch den Kopf grob in meine Richtung.
"Hm?"
"Kann ich hier bleiben? Für immer, meine ich. Also vielleicht auch nur für eine Zeit lang. Ich weiß nicht. Also so für die nächsten Wochen. Bis ich weiß, wo ich hin will."
Er überlegt. Er überlegt lange, die Steinmauer gegenüber unaufhörlich anstarrend.
"Klar", seufzt er schließlich. "Aber einmal hier ist immer hier. Du kannst nicht einfach so abhauen, wenn du Lust dazu hast und dann irgendwann mal wiederkommen, wenn's dir dreckig geht."
Darüber muss ich erst mal nachdenken. Einmal hier heißt immer hier. Naja, das wird schon irgendwie hinhauen.
"Okay. Dann würd' ich mal sagen, danke. Aber ich muss dann noch Sachen von zu Hause holen."
Er nickt und drückt den Zigarettenstummel in die Erde.
Oben am Abhang ist das Klimpern von Glasflaschen zu hören und ich kann Dennis und Hannes lachen hören. Na, endlich gibt es Essen. Mann, hab ich einen Hunger! Und neben einer riesigen Papiertüte, die verführerisch nach heißen Pommes riecht, tragen die zwei auch noch einen ganzen Kasten Bier den Abhang runter. Woher die wohl die Kohle haben, um das zu bezahlen?
"Geht einer von Euch arbeiten?", frage ich, als Dennis sich neben mich setzt und die Papiertüte aufreißt. Hannes lacht und öffnet eine Bierflasche. "Mensch, Süße, wir gehen doch nicht arbeiten! Das ist was für schlaue Leute, und ich wäre sogar fast auf die Sonderschule abgeschoben worden, also bin ich ganz bestimmt nicht schlau."
"Und woher habt Ihr dann das Geld, um das Zeug hier zu kaufen?". Die Pommes sind tatsächlich noch warm und so wandert gleich eine ganze Hand voll in meinen Mund. Dennis zuckt mit den Achseln und wickelt sich in Gemütsruhe einen Burger aus der Verpackung. Seine Finger triefen nur so von Fett.
"Na, sie wird es spätestens dann erfahren, wenn sie mithelfen muss!", lacht Hannes mit vollem Mund und wischt sich mit dem Jackenärmel über die Lippen, "denn ich nehm' mal an, du bleibst hier, oder? Dem Nope ist noch nie eine davongelaufen!". Nope verdreht die Augen und leckt sich die Finger ab.
"Ja, sie bleibt hier. Bis sie weiß, wo sie hin will. Ich hab ihr die Spielregeln erklärt und wir sollten auch nicht mehr lange warten, bis sie mit hilft."
"Genau!", brüllt Dennis und spuckt dabei ein paar Stückchen Frikadelle auf seinen Schlafsack, "denn wir haben ja jetzt ein Mäulchen mehr am Tisch zu füttern und dann soll sie auch mithelfen, sonst kann sie gucken wo sie bleibt!". Dreifaches Gelächter.
Wovon reden die bloß? Woher haben die das ganze Geld? Wobei soll ich mithelfen? Die Fragen ploppen alle in meinen Kopf hinein und ich kann keine von ihnen beantworten. Na toll!
"Und woher habt Ihr das Bier und den Alkohol gestern her gehabt?", frage ich, als alle ordentlich am speisen sind.
"Na, ist toll, jemanden zu haben, der schon 18 ist, ne, Dennis?". Hannes schlägt seinem Kumpel kräftig auf die Schulter. "Sonst wär' nix mit Alkohol in solchen Mengen". Dennis grinst und packt sich den nächsten Burger aus.
Also ist der Kerl schon volljährig. Naja, er sieht auch wirklich schon viel älter aus als Nope und Hannes. Und dazu noch die Muskeln, das Piercing in der Lippe und das Tattoo auf seinem rechten Oberarm lassen ihn richtig gefährlich erscheinen. Vermutlich rückt da jeder einfache Kiosk-Besitzer den Alkohol freiwillig raus, wenn der den Laden betritt.
"Aber Ihr wollt mir nicht erzählen, das Ihr, auch als Dennis noch nicht 18 war, nicht weniger getrunken habt, oder?"
"Nöö!". Hannes nimmt sich eine Flasche Bier aus dem Kasten und reicht sie mir. "Trink das, dann werden die Kopfschmerzen besser." Ich zögere. Das gestern hat mir eigentlich schon gereicht.
"Mach sie gleich zur Alkoholabhängigem!", knurrt Nope aus seiner Ecke und zündet sich wieder eine Zigarette an.
"Hör nicht auf den", meint Hannes und öffnet mir die Flasche, "der labert nur dummes Zeug, und außerdem weiß der genau, das davon die Zwerge aufhören zu hämmern. Der hat manchmal einfach nur nen Schuss weg!"
Nopes Feuerzeug trifft Hannes an der Schläfe.
"Und dann wird der Kerl immer voll aggressiv!", flüstert er mir ins Ohr und schleudert das Wurfobjekt zurück.
Auch wenn da in mir etwas ist, was das Bier zurückweist, nehme ich einen großen Schluck. Es tut gut.
"Ach, ist das süß. Die Kleine hört nicht auf ihren Freund, sondern auf den Kumpel ihres Freundes!". Hannes fischt sich eine Pommes aus der Papiertüte und steckt sie sich mit großer Geste in den Mund.
Wieder kommt das Feuerzeug geflogen, doch jetzt weicht er lachend aus und es knallt nur gegen die gegenüberliegende Steinmauer.
"Ach, jetzt hat der Kerl auch noch sein Feuerzeug geschrottet!". Hannes kann sich vor Lachen kaum noch auf den Beinen halten.
Mir ist das alles zu blöde hier. Die benehmen sich einfach nur wie kleine Kinder!
Mühsam stehe ich auf, schwanke ein wenig und steige über die ganzen Glasflaschen, die verstreut auf dem Boden liegen, die kleinen Schnapsfläschchen und über die mehr oder weniger gut ausgedrückten Zigarettenstummel hinweg.
"Ich hol meine Sachen von zu Hause", zische ich in Nopes Richtung. Er nickt kurz und zieht wieder an seiner Zigarette.
"Jetzt haut die Kleine auch noch ab!", höre ich Hannes hinter mir herrufen. Ich verdrehe die Augen und stapfe den Abhang hoch.
Nopes Kumpels sind einfach zu blöde! Aber auf die Dauer bestimmt ganz okay...
Der letzte Gang nach Hause
Da schleppte Nope uns einfach so eine Tusse an! Doch kaum hatte ich sie zum ersten Mal reden gehört, mochte ich sie. Sie war nicht so wie andere Mädchen. So selbstbewusst und sicher in ihren Entscheidungen. Mit ihr fand ich es hier einfach viel lustiger! Und sie hing nicht so an Nope wie andere Mädels. Schien sogar auf Abstand zu gehen, wenn er da war. Wie locker sie damit umging, während des Suffs die Kontrolle zu verlieren! Und sie wurde immer wilder darauf, mit jeder Flasche ein neues Glücksgefühl zu haben. Vertrug das Zeug verdammt gut! Ich mochte sie einfach. So stark war sie und achtete auch irgendwie auf sich. War sich immer im Klaren darüber, wie ungesund Alkohol und so ist, trank aber immer weiter. Irgendwann, wenn sie nicht mehr kann, wird sie damit aufhören können.
~Dennis~
Ich weiß genau, dass das der letzte Gang nach Hause ist. Aber es macht mir nichts aus. Ich bin froh, einen Platz gefunden zu haben, wo ich hin gehöre.
Auf der Straße brausen die Autos lang, es ist bestimmt schon Mittag. Ich laufe nicht schnell, es ist geradezu ein entspannender Schritt, mit dem ich das letzte Mal meinem Haus gegenübertrete.
Ich habe keine Angst, "Lebe wohl" zu sagen.
Nach 15 Minuten Fußmarsch bin ich in der Siedlung angekommen. Die Vorgärten ordentlich gepflegt, die Fußmatten mit einem Willkommensgruß bedruckt und ordentlich vor die geschlossenen Haustüren gelegt. Warum fällt mir das alles jetzt erst auf? Nur, weil ich weg gehe? Für immer? Nein, für eine Zeit lang.
In der Ferne höre ich einen Rasenmäher brummen, irgendwo schneidet jemand eine Hecke. Auf dem Spielplatz höre ich Kinder jauchzen. Der große Kirschbaum im Vorgarten unserer Nachbarn steht in voller Blüte.
Da steht es, das Haus meiner Familie. Groß ist es.
An der Tür hängt ein Türkranz. "Herzlich Willkommen" steht rot gestickt auf einem weißen Seidenband. Auf der Fußmatte steht das gleiche, doch man sieht es kaum noch, so viele kleine und große Kinderfüße haben sich da brav die Schuhe abgetreten.
Der Schlüssel lässt sich nur halb im Schloss herum drehen, es ist jemand zu Hause. Fragt sich nur wer. Die Knirpse sollten eigentlich in der Schule sein, meine Eltern sind beide berufstätig. Aber es kann natürlich sein, das einer der Pupse am Morgen nach dem Wecken schnell noch ganz hohes Fieber bekommen hat und dann auf gar keinen Fall in die Schule gehen und schon gar nicht die Mathearbeit oder den Englischtest mit schreiben konnte. Ach, wie schnell meine Mutter auf so was hereinfällt.
Die großen Geschwister sollen ja eigentlich ein gutes Vorbild sein. Ich bin die Größte, aber dass ich kein gutes Vorbild bin, weiß ich selber und ich fand es ein ums andere Mal ziemlich unangenehm, wenn dann auf einmal so ein Pups um die Ecke geschossen kam und "Buh!" machte und ich so schnell wie möglich die Kippe ausdrücken und verschwinden lassen musste.
Jaja, das waren Zeiten. Aber die sind jetzt vorbei. Ich werde neu anfangen.
Der Gang durch mein Zimmer fällt mir nicht schwer. Ich bepacke meinen schwarzen Rucksack mit ein paar Pullovern, den Sprühdosen, meinen Schminkutensilien und meinem Schlafsack. Dann stopfe ich meine Wollmütze obenauf, für kalte Nächte, und fertig.
Für Verpflegung brauche ich nicht zu sorgen, die haben davon jede Menge.
Ein letztes Mal werfe ich einen Blick auf mein ungemachtes Bett, das durchgelegene Sofa, die teure, große Musikanlage, den mit Postern verkleideten Kleiderschrank, den staubigen Spiegel in der Ecke, die stattliche CD-Sammlung auf dem obersten Brett des Bücherregals und die graue Kommode, die ich vor zwei Wochen erst frisch lackiert habe. Als letztes wandern meine Augen zu dem dunkelgrünen Spruch auf der schwarzen Wand: "Freiheit - ein Ziel des Widerstandes".
Aus der untersten Schreibtischschublade krame ich mein Tagebuch hervor und stopfe es zwischen die Pullover. Ich weiß zwar nicht, wofür ich es brauchen sollte, schließlich kann ich mich mit Nope und seinen Kumpels über alles unterhalten, aber ich nehme es trotzdem mit. Für alle Fälle.
Es ist ein innerer Zwang, der mich dazu bringt, ein Stück Papier zu nehmen und mit leicht zitternder Hand einen Abschiedsbrief zu schreiben:
Liebe Sophie,
Es tut mir leid, wirklich. Aber ich werde gehen. Ich muss gehen.
Nur so kann ich mein Leben leben. Ich werde nichts Dummes anstellen, versprochen. Ich hoffe, du vergisst mich schnell.
Vielleicht komme ich irgendwann mal wieder, ich weiß es nicht.
Im Moment fühle ich mich da wohl, wo ich hingehen werde.
Wenn es nicht mehr so ist, werde ich hierhin zurück kommen.
Aber warte nicht auf mich. Lebe dein Leben, so wie ich jetzt meines leben werde. Ich weiß, ich bin dir kein gutes Vorbild und ich war dir noch nie eins, aber als große Schwester möchte ich dir eines ans Herz legen:
Tue niemals das, was ich jetzt tue! Bitte!
Ich werde auch bald aus deinen Erinnerungen verschwinden, versprochen.
In Liebe,
Deine Schwester Nelly
Meine Schrift ist unordentlich und schwer zu lesen. Ich gehöre zu den wenigen Mädchen, die keine schöne Schrift haben, aber das ist mir egal.
Sophies Zimmer ist dunkel, die Rollladen sind noch runter gelassen, die rosa Seidenvorhänge zugezogen. Den Brief lege ich auf ihr Kopfkissen. Während ich das Zimmer langsam wieder verlasse, spüre ich die ganze Zeit einen ruhigen Blick in meinem Rücken hängen. Ich drehe mich um.
Neben dem Kleiderschrank sitzt ein großer, brauner Stoffbär mit großen braunen Augen, die er auf mich gerichtet hat.
Einen Moment lang starre ich ihn an. Dann rutscht mir ein kleines, leises "Macht's gut, ihr zwei" zwischen den Lippen hindurch.
Er schaut mich weiter an, verzieht keine Miene. Wie auch? Er ist ein Stofftier! Ich bin froh, als ich die Tür hinter mir schließe. Dem verständnislosen, ärgerlichen, traurigen und tadelnden Blick entkommen zu sein.
Ich nehme meinen Rucksack, ziehe die Tür fest ins Schloss und laufe die Treppe runter. Aus Manuels Zimmer im ersten Stock kommt laute Musik. Egal, ich laufe weiter.
Der Schlüssel liegt auf der Kommode im Flur. Mein Schlüssel. Eine Sekunde lang starre ich ihn an, dann öffne ich die Haustür, trete nach draußen und ziehe die Tür ins Schloss. Ich atme tief durch.
Ausgesperrt. Endlich.
Es dauert länger, bis ich den Weg zurück zur Brücke finde. Zwei mal stolpere ich den falschen Abhang hinunter und nehme dann den falschen zertrampelten Feldweg. Sieht ja auch alles gleich aus.
Nach einer gefühlten halben Stunde habe ich die flache Wiese erreicht und gehe auf die Brücke zu. Jetzt sieht sie fast freundlich aus, im hellen Tageslicht. Nicht so düster und groß wie in der Nacht.
"Ach, ich dacht' schon, die bleibt jetzt doch zu Hause!", empfängt mich Dennis dröhnende Stimme. Ich verziehe den Mund zu einem genervten Lächeln.
Hannes streckt mir zur Begrüßung eine Bierflasche entgegen. Ich nehme sie dankend an und lasse mich neben Nope an der Steinmauer hinunter gleiten. Eine Abkühlung kann ich jetzt echt gut vertragen.
"Na, wie war der letzte Gang nach Haus?", fragt Dennis und spielt mit dem Piercing in seiner Lippe.
"Ganz okay". Gekonnt ziehe ich mit meinem Feuerzeug den Kronkorken von der Flasche ab, was mir einen anerkennenden Pfiff von Hannes einbringt. "War ja eh keiner zu Hause."
"Och, wie schade", tut Dennis übertrieben traurig. "Dann konntest du ja die schöne Nachricht, das du jetzt abhaust, gar nicht mehr 'rum erzählen."
Brüllendes Gelächter von Hannes.
Ich seufze, nehme einen großen Schluck Bier und werfe Nope einen genervten Blick zu. Doch der scheint mit den Gedanken ganz wo anderes zu sein.
"Sag, mal", ich senke die Stimme und beuge mich zu Dennis hinüber, "ist euer Kumpel immer so schweigsam?"
"Nee", er schüttelt den Kopf, "er ist zwar‘n ruhiger Typ, aber kann manchmal auch ziemlich aufdrehen. Aber im Moment ist er am Planen, da ist der dann immer sehr still."
"Aha. Und was plant er?" Hannes lacht.
"Das wirst du am Wochenende erfahren. Denn ich nehm mal an, das wir wieder auf Tour gehen werden. Stimmt's, Dennis?" Der zuckt mit den Achseln.
"Keine Ahnung, musste Nope fragen, der ist dafür zuständig."
"Mensch, könnt Ihr zwei mal aufhören, in Rätseln zu reden, ich versteh ja gar nichts!", rufe ich langsam verärgert und blase den Zigarettenrauch in Dennis Gesicht.
"Nee, Süße. Aber Du wirst es ja am Samstag erfahren, wir dürfen Dir nichts sagen, solange Dein Freund dagegen ist."
Ich will gerade erklären, dass Nope verdammt noch mal nicht mein Freund ist, aber das kann ich den zweien nach der Knutscherei in der Nacht ja wohl kaum noch erzählen.
Stattdessen seufze ich nur und leere meine Bierflasche aus.
"Na, sieh mal einer an, Lola ist ja auch schon ziemlich schnell dabei!". Hannes lacht und reicht mir die nächste Flasche. Oh, Mann, die zwei sind echt zu blöde!
"Was haste denn eigentlich alles so für Zeug mitgebracht?". Dennis krallt sich meinen Rucksack, öffnet ihn und kippt ihn aus.
Na toll! Ich seufze und nuckle genervt an meiner Flasche. Mein Gott, wie kann man das mit denen bloß aushalten? Die gehen einem ja ständig auf den Sender!
"Aha, immerhin nicht so viele Klamotten". Er rupft meine Pullover auseinander.
"Oh, mein Gott, sie hat ein Tagebuch mitgenommen!", ruft er entzückt und schwenkt das schwarz eingebundene Buch in der Luft herum.
"Gib das her, du Idiot!", zische ich ihn an und reiße ihm das Buch aus der Hand.
"Na, was da wohl alles drinstehen mag?". Dennis hält Hannes die geöffnete Hand hin und die zwei klatschen sich lachend ab.
Ich merke, wie ich langsam rot werde. Ob vor Wut oder vor Scham weiß ich nicht. Na, die beiden werden mich voll damit aufziehen, wenn ich nicht bald meine normale Gesichtsfarbe wieder annehme. Solange drehe ich lieber den Kopf weg, bevor Dennis auf die Idee kommen kann, dumme Sprüche zu reißen.
"Ach, sieh mal einer an! Die hat Schminkzeug dabei! Aber nur in schwarz. Die ist wahrscheinlich ein Punk, so wie unser Nope!"
"Nein!", zische ich wütend. "Ich bin eine Mischung aus Metal und Gothic!"
Natürlich ist auch das für Dennis ein Grund zum Spott.
"Ach ja, ne Mischung ist die! Aus dumm und dämlich, nicht wahr!?" Hannes grölt vor lachen.
"Mensch, Leute, könnt Ihr mal mit dem Scheiß aufhören?!". Das ist Nope.
Seine Kumpels verstummen. Ich lächle Nope schwach zu, doch der hat den Kopf schon wieder weg gedreht und zieht an seiner Kippe.
Mein Gott, was muss der den planen? Was machen die am Wochenende, wo ich unbedingt mit muss? Vielleicht kann ich ja nachher mal mit Nope alleine reden. Wird er mir meine Fragen beantworten?
Mittlerweile ist mein Rucksack komplett ausgepackt, aber sie scheinen keinen Gegenstand mehr gefunden zu haben, mit dem sie mich aufziehen können. Auch gut.
"Was macht Ihr den ganzen lieben Tag lang eigentlich so?", frage ich in die Runde, wobei ich von Nope eigentlich keine Antwort erwarte, so wie der konzentriert ins Nichts starrt.
"Och", Hannes zuckt mit den Achseln und drückt seine Zigarette in der Erde aus, "was soll man schon so machen? Langweilen, rauchen, trinken, lachen. Am Wochenende auf Tour gehen, nach hübschen Mädels Ausschau halten. Und nach dem Suff halt pennen, da ist der Tag dann schon halb rum." Dennis grinst und streckt seufzend seine langen Beine aus.
"Und da wir jetzt ja eine der schönen Frauen hier haben, brauchen wir auch eigentlich gar nicht mehr so viel Ausschau halten. Und da Nope dir die Spielregeln erklärt hat, kannst du uns auch nicht mehr davon laufen!".
Er klatscht in die Hände und kommt zu mir gekrochen. Er kommt immer näher. Sein Gesicht ist jetzt nur noch ein kleines Stückchen von meinem entfernt. Ich höre Hannes lachen. Dennis öffnet den Mund. Er riecht widerlich nach Zigaretten, Bier, Schnaps und ein bisschen nach Hamburger und Pommes. Ich schließe die Augen und merke wie mir wieder die Röte ins Gesicht steigt. Doch jetzt vor Wut. Dennis dreckige Finger greifen unter mein Kinn und heben es hoch.
"Mensch, die bekommt man ja leicht! Kann ich die nach dir mal haben?", ruft Hannes und prustet los.
Zitternd hebe ich meine Hand. Dennis spitzt die Lippen... und zack hat er eine von mir geklatscht bekommen. Erschrocken weicht er zurück und starrt mich an.
"Was sollte das denn jetzt?", fragt er irritiert und reibt sich mit gerunzelter Stirn die leicht rote Wange.
"Das war eine Ohrfeige, du Arsch", zische ich ihn an, "und wenn du so weiter machst, kannst du gleich noch eine bekommen!"
Für einen Moment ist auch Hannes nicht nach Lachen zu Mute. Er kriecht zu seinem Kumpel hin und schaut ein wenig geschockt zwischen ihm und mir hin und her. "Ist alles klar mit dir?"
Dennis nickt tapfer. Dabei bin ich mir sicher, dass das richtig gezogen hat, so wie das geklatscht hat. Ich schaue zu Nope hinüber, doch der hat davon gar nichts mitbekommen.
"Dann müssen wir sie eben ein wenig abfüllen", grinst Hannes, als er sieht, dass sein Freund wieder anfängt, den Helden zu spielen.
"Den Nope hat sie auch geküsst und da war die nur ein bisschen dicht!" Beide lachen, Hannes laut und Dennis auch nur noch ein klitzekleines bisschen verunsichert.
"Das wirst du nicht wagen!", knurre ich drohend und setze mich vor Hannes.
"Aha", meint der ziemlich abwartend, "und warum nicht?"
Wieder hole ich aus und jetzt hat auch der zweite Idiot einen roten Fleck auf der Wange.
"Deswegen nicht!", beantworte ich seine Frage selbstgefällig und haue ihm leicht auf die Schulter.
"Aber mach dir nichts daraus, da sind noch viele andere Mädchen auf der Welt, die werden dir auch eine klatschen, wenn du so mit ihnen umgehst!"
Hannes schweigt verblüfft. Dann rappelt er sich auf, steckt die leeren Flaschen in den Bierkasten und hilft seinem Kumpel auf die Füße.
"Komm, Alter, wir kratzen mal die Kurve und holen schon mal das Zeug für heute Abend. Dat Mädel is' ja gemeingefährlich, so wie die um sich schlägt." Die beiden klettern den Abhang hoch und verschwinden aus meinem Blickfeld. Endlich.
Ich atme tief durch, dann rutsche ich neben den schweigsamen Nope und zünde mir eine Zigarette an. Der Kerl hat schon seit fünf Minuten die gleiche im Mundwinkel hängen und vergisst ganz, die Asche abzuklopfen. Na, wo er wohl mit seinen Gedanken ist?
"Warum sagst du eigentlich die ganze Zeit kein Wort?". Schweigen.
"Hallo? Jemand zu Hause?". Ich wedle ihm mit der Hand vorm Gesicht rum. Er brummt und dreht den Kopf weg.
"Hab ich dir irgendwas getan? Oder warum sprichst du nicht mit mir?". Er seufzt. Dann zieht er die Beine an die Brust und legt das Kinn auf die Knie.
Schweigen.
"Das mit den zwei Ohrfeigen hast du gut gemacht. Die brauchten schon lange ne Lektion."
"Ach, du hast das mitbekommen, ja? Und warum hast du mir nicht geholfen?".
Er lächelt leicht.
"Klar hab ich das mitbekommen, war ja nicht zu überhören! Aber wenn ich denen eine geklatscht hätte, hätten die nur wieder solche saudummen Sprüche abgelassen, dass ich dich toll beschütze und so nen Scheiß."
"Aha. Und mit so was kommst du nicht klar, oder wie?"
Er verdreht die Augen und wirft seine Zigarette weg.
"Das sind eben Kumpels. Ja klar, die ticken nicht ganz sauber, aber sie sind immer für einen da und manchmal eben auch ganz nützlich."
"Ach", mache ich abfällig und spiele mit meinem Feuerzeug. "Und wofür, bitteschön? Um Mädchen einzuschüchtern, oder wie?"
Er lacht leise und macht eine wegwerfende Handbewegung.
"Aber nein! Die können gar nicht einschüchtern, dafür sind die viel zu dumm. Da muss doch eh immer jeder lachen."
"Oh ja, total!". Langsam bin ich echt ein bisschen sauer. "Und wie du siehst, habe ich mich eben total geschüttelt vor Lachen."
"Mensch, Lola, nimm das doch nicht so ernst! Das sind zwei Spinner, die tun dir nichts! Und außerdem besorgen die uns den Sprit, und so lange wollen wir uns nicht beschweren, oder?"
Ich verschränke die Arme vor der Brust, ziehe an meiner Zigarette und trinke frustriert - und mittlerweile wütend auf alle drei - meine Bierflasche aus.
Trips und die Stunden danach
Lola war 'ne richtige kleine Zicke. Ließ sich nichts sagen. Schien irgendwie alles besser zu wissen. Dabei wusste sie gar nichts! Absolut null Ahnung vom Leben! Und wenn wir wieder mit Alkohol aufkreuzten, wollte sie immer was haben. Sie schien aber auch zu wissen, was sie sich damit antat. Na ja, sie trank trotzdem, immer mehr, und vertrug das Zeug sogar ziemlich gut. Auf jeden Fall konnte sie am nächsten Tag besser reden und lachen als wir. Ich glaube, Lola hätte nie den Punkt erreicht, an dem ihr Körper wirklich aufgeben würde. Nie! Dafür bewundere ich sie noch immer.
~Hannes~
Ich weiß nicht, wie spät wir haben, aber mittlerweile ist es richtig gemütlich geworden. Der kleine Streit ist vergessen. Und nun beteiligt sich auch Nope wieder an den Gesprächen und kleinen Frotzeleien. Ich habe meinen Schlafsack zwischen den von Nope und Dennis ausgerollt und es fängt schon an zu dämmern.
Als die zwei vom Einkaufen wieder kamen, hatten sie nur einen großen Kasten Bier zwischen sich. Nope war ziemlich enttäuscht gewesen und hatte aufgebracht gefragt, ob das alles für den Abend sein. Schließlich sollte ja heute mein Eintreten gefeiert werden. Dennis hatte nur den Kopf geschüttelt und mir geheimnisvoll zugezwinkert. Na, ich bin gespannt, was er im Laufe des Abend noch so alles auspackt. Vielleicht wieder den Schnaps von gestern, der war lecker.
Die Dämmerung kriecht unter die Brücke wie dunkler Nebel. Die Gesichter der anderen sind jetzt nur noch schemenhaft zu erkennen. Das Gelächter wird weniger, das Schweigen mehr. Irgendwann ist nur noch das bisschen Glut an der Spitze der Zigaretten zu sehen. Doch man weiß, dass die anderen da sind, und das gibt einem Sicherheit.
Ich bin froh, nicht von meinen eigenen Zigaretten abhängig zu sein, die sind nämlich schon längst weg. Nein, ich bekomme sowohl von Hannes als auch von Dennis regelmäßig welche angeboten.
"Jetzt zeigt doch mal, was Ihr mitgebracht habt!", rufe ich.
"Das Bier wird langsam stocköde! Und außerdem ist die Stimmung hier Scheiße!"
Hannes lacht. Dann zieht er langsam ein schmales Tütchen Tabletten aus seiner Jackentasche.
"Was sind das für welche?". Nope kommt angekrochen, nimmt die Verpackung mit spitzen Fingern entgegen und betrachtet sie eingehend.
"Das ist Ecstasy, du Dummkopf!", lacht Dennis und zieht noch eine Flasche Cola aus seiner Jackentasche.
Ecstasy? Ich bin geschockt. Wie kommt der denn da dran? Ich habe noch nie Drogen genommen. Aber ausprobieren kann ich's ja mal!
"Cola?". Ich deute mit dem Finger auf die Flasche, die Dennis auf den Boden gestellt hat. "Was bringt denn ein ganz normales Getränk?"
Hannes und Dennis schauen sich an, lachen und Hannes zieht noch eine ganze Flasche Ouzo aus der Jacke.
"Alleine schmeckt das Zeug nicht. Das muss man mischen!"
"Mein Gott, Leute! Was habt Ihr denn alles für Sachen besorgt! So viel kriegen wir doch gar nicht auf!". Nope ist noch immer ganz fasziniert von den Drogen.
"Das ist doch auch alles noch für Morgen. Schließlich ist morgen Samstag. Und das Geld ist jetzt weg und wir können morgen dann gut Neues holen!"
Dennis dreht eines der kleinen Schnapsfläschchen auf und hält es mir hin. "Trink's in einem Zug leer, dann brennt's nicht so."
Ich gehorche und schwupps ist das Fläschchen leer. Ich kneife die Augen zusammen. Bäh! Ist das bitter.
"Du gewöhnst dich mit der Zeit dran", tröstet Hannes mich. "Ist doch bei allem so: Je länger du es machst, in dem Fall hier trinkst, desto schneller gewöhnt man sich dran."
Nope gibt seinem Kumpel einen leichten Schubs und verdreht die Augen, "Du bringst die noch auf die schiefe Bahn, Alter!"
Bin ich da nicht schon? Ach egal, wen interessiert das schon?
"Wann nehmen wir uns denn die Dinger vor?". Nope scheint Gefallen an den bunten Pillen zu finden.
"Keine Ahnung". Dennis zuckt mit den Achseln.
"Sobald die Fläschchen geleert sind. Also hilf mal mit, wenn du schnell high werden willst." Nope lacht, fängt das Fläschchen gekonnt auf und leert es ebenfalls in einem Zug.
Ich spüre noch nichts. Aber nachdem ich noch zwei Flaschen Bier hinterher gekippt habe, beginnt mein Magen langsam zu blubbern und ich lache.
"Hey, Leute", brülle ich und erhebe mich schwankend. "will jemand tanzen?". Dennis springt sofort auf und reißt mich hin und her. Ich lache laut.
"Mein Gott, die ist ja jetzt schon total weg. Sollen wir der die Dinger trotzdem gegeben?". Hannes scheint ernsthafte Bedenken zu haben. Nope zuckt mit den Schultern und greift sich eine neue Bierflasche.
"Mir egal. Kann sie entscheiden, ist ja schließlich ihr Einzug."
"Das ist so geil hier!", lalle ich lachend und reiße die Arme hoch. "So geil hier!" Dennis und Nope lachen. Hannes fischt das Päckchen mit dem Ecstasy aus Dennis Schlafsack und drückt jedem seiner Kumpels eine in die Hand. Ruckzuck sind die Dinger runter geschluckt.
Mittlerweile bin ich genug hin und her gehüpft und lasse mich schwer atmend auf Nopes Schoß fallen.
"Ach ja, und ich krieg' keine!". Auffordernd halte ich Hannes die geöffnete Hand hin. Der seufzt tief, tauscht einen Blick mit Dennis und drückt mir dann endlich eine dunkelgrüne, kleine Pille in die Hand. Lachend schiebe ich sie mir in den Mund und spüle gleich mit Bier hinterher. Mein Magen gurgelt.
"Hört Ihr auch die Musik?", brülle ich und reiße die Arme hoch.
"Wat für ne Musik?". Nope schwenkt mich auf seinem Schoß hin und her.
"Ja, die Musik eben!", antworte ich, stehe auf und springe wie ein Häschen durch die Gegend.
"Die hat 'nen Schuss weg!", knurrt Dennis und klemmt sich eines der kleinen Fläschchen zwischen die Lippen. Der Inhalt entleert sich gluckernd in seinen Mund. Ein lauter und aus tiefer Brust kommender Rülpser folgt. Wir lachen.
Ich bin in einer Disco. Hier geht es richtig ab. Alle Leute um mich herum springen und hopsen umher. Die Musik dröhnt und erfüllt dein gesamtes Gehirn. Brüllend sing ich mit und tanze abgefahrener den je. Die Musik ist hammergeil. Die Tanzfläche bebt. Ich schreie mit und schüttle alles aus mir heraus. Jetzt ist nur noch Platz für Stimmung! Yeah! Ich höre nichts mehr außer Musik. Laute, dröhnende, geile Musik. Die Welt bebt. Die Welt ist voller lauter Musik, voller Freude. Gleich kann ich in den Himmel springen. "Das ist das Geilste, was ich je erlebt habe!", brülle ich und springe in die Luft. Ich will der ganzen Welt erzählen, wie toll das Leben ist!
"Okay, Dennis, die geht auf dich. Du hast mich nicht daran gehindert, ihr eine zu geben."
"Ey Kumpel, Mann, du hast sie ihr selber gegeben. Du bist schuld!"
"Was heißt denn hier Schuld? Ist doch gar nichts passiert!"
"Ja klar. Zusammengebrochen ist die! Einfach so weggesackt."
"Na und? Das hat doch jeder von uns schon hinter sich. Und ist da hinterher irgendwas passiert? Nö!"
"Meine Fresse, du verstehst mich nicht! Das Mädel hat sich gestern das erste mal voll laufen lassen und heute direkt schon Drogen bekommen! Hallo, die kann uns abkacken, ist dir das klar?"
"Mensch, die stirbt schon nicht! Die pennt einfach. Mein Gott, das Tanzen war anstrengend und wenn die wieder aufwacht, ist alles okay."
"Mein Gott, nee, was meinst du, wie deprie die dann ist! Die kommt dann von ihrem ersten Trip runter. Weißte, was das für nen Scheißgefühl ist? Da willste dann nur noch sterben!"
"Das ist mir klar, aber wir halten sie ja davon ab, und außerdem ist die nur 'nen halben Tag so drauf. Die fängt sich schon wieder!"
"Meine Fresse, schau dir Nope an. Und der hat echt Erfahrung in solchen Dingen und der pennt jetzt auch schon wie'n Stein. Noch nicht mal zwei Stunden hat es ihn auf den Beinen gehalten und schon schläft der seinen Suff aus."
"Apropos schlafen. Ich kratz jetzt auch mal die Kurve. Aber vorher leeren wir zwei noch die letzten beiden kleinen Feiglinge, ja!?"
"Klar, Kumpel, aber erst muss ich mal in die Büsche und zwar nicht nur zum Pissen. Der Alkohol muss ja auch irgendwann mal raus."
"Jo, klar, geh du kotzen!"
Die Welt ist dunkel, die Welt ist grau. Die Welt ist an einem Schuld! Warum ist die Welt nur so? So gefährlich, so grausam? Warum setzt sie Kinder auf die Straße? Warum macht sie, das Kinder nicht mehr geliebt werden? Kinder müssen von ihren Eltern geliebt werden! Tränen laufen mir über die Wangen. Sie schmecken salzig.
"Die Welt ist doof!", schniefe ich.
"Nein", flüstert Nope und wischt mir die Tränen weg. "Die Welt ist nicht doof."
"Doch", widerspreche ich, "sie macht Sachen kaputt. Sie lässt Menschen sterben."
"Das ist nicht die Welt, das ist die Natur". Nope nimmt mich fester in den Arm.
"Kann man die Natur nicht besser machen?", frage ich kläglich. Er schüttelt bedauernd den Kopf. Schweigend nippe ich an meiner Bierflasche.
"Ich will nach Hause", schniefe ich.
"Nein“. Nope reibt meine Schulter. "Das willst du bestimmt nicht."
"Doch!". Ich nicke heftig. "Das will ich. Ich will, dass Mama mich in den Arm nimmt und vor allem Ungerechten dieser Welt beschützt."
"Nein". Er klingt bestimmt. "Das willst du nicht. Das denkst du nur, weil du jetzt von einem Trip runter kommst."
"Nein. Ich will nach Hause!"
Nope schweigt. Er zieht an seiner Zigarette und bietet sie mir dann an. Ich ziehe kräftig, es entspannt.
"Jetzt schlaf', Lola. Morgen geht’s dir besser, versprochen."
Ich nicke und rutsche tiefer in meinen Schlafsack.
"Aber du bleibst bei mir, damit du mich vor der Ungerechtigkeit der Welt beschützen kannst, ja?". Nope nickt und ich lege meinen Kopf auf seinen Schulter.
"Aber bei einem bin ich mir sicher!", flüstre ich mit geschlossenen Augen. "Ich will nach Hause, ganz bestimmt."
Nope antwortet nicht.
Es ist warm und hell. Wärmer als die letzten Tage, viel wärmer. Ich schlage die Augen auf. Ich liege in einem Schlafsack, den ich bis ans Kinn hoch gezogen habe. Ich weiß, wo ich bin: in meinem zu Hause unter der Brücke.
Langsam richtet ich mich auf und reibe mir den Schlaf aus den Augen.
"Na? Gut geschlafen?". Nope lehnt neben mir an der Wand und lächelt mich an. Ich nicke. Ja, ich habe gut und ganz entspannt geschlafen.
Die beiden andern Schlafsäcke sind leer.
"Wo sind Dennis und Hannes?", frage ich und mustere den Boden. Voller Bierflaschen, kleiner Schnapsflaschen und Zigarettenstummel ist er. Na, hier muss es ja 'ne richtige Party gegeben haben!
"Keine Ahnung". Er zieht die Schultern hoch und hält mir seine Zigarette hin. So früh am morgen rauchen? Der spinnt doch wohl! Und außerdem kann ich nicht gut auf leeren Magen rauchen.
"Jetzt guck nicht so böse", lacht er. "Die ist zum wach werden!"
"So früh am Morgen?". Ich zögere noch immer.
"Du spinnst ja wohl! Wir haben halb drei mittags!"
"Oh", mache ich und ziehe an der Zigarette. "Aber wie kommt's, dass ich so lange gepennt habe?"
Wieder lacht er und bläst den Rauch durch die Nase.
"Ich kann's in der Kurzform erzählen. Du hast gestern 'ne Ecstasy geschluckt, warst voll high, dann biste zusammengeklappt und dann heut morgen wieder aufgewacht. Kamst dann von dem Trip runter, hast über die Ungerechtigkeit der Welt geheult. Dann durfte ich dich erst mal beruhigen und du wolltest unbedingt nach Hause, um von Mama getröstet zu werden. Ich konnte dich nicht ganz davon überzeugen, dass du nicht nach Hause willst, und als du dann wieder schlafen wolltest, musste ich bei dir bleiben, um dich zu beschützen!"
Mir fehlen die Worte. Ich wollte nach Hause zurück? Niemals! Zu Hause ist es beschissen und langweilig, da wollte ich bestimmt nicht hin.
"Und was habe ich so gemacht, während ich high war?", frage ich verunsichert. Schließlich kann ich mich an nichts mehr erinnern. Er lacht.
"Oh, eine ganze Menge sogar!". Ich werde rot und kaue verlegen auf meiner Unterlippe herum.
"Erst hast du getanzt wie eine Verrückte. Warst vermutlich in 'ner Disco oder so. Dann hast du mich abgeschleckt wie ein junger Hund."
"Oh, mein Gott", murmle ich betreten und schaue auf meine Schuhspitzen.
"Ach, das Abgeschlecke war gar nicht mal so schlimm. Vielleicht ein bisschen zu feucht, aber sonst war's ganz okay.". Erde, tu dich auf!
"Hättest du mich denn nicht irgendwie davon abhalten können?", murmle ich verlegen. Nope grinst.
"Warum hätte ich das tun sollen? Wenn du dich schon so kess auf meinen Schoß setzt und deine Arme meinen Hals umklammern wie einen Rettungsring? Hätte ich dich zurückweisen sollen?". Ich zuckte mit den Schultern.
"Und warum mach ich das nur, wenn ich high bin, und nicht zum Beispiel jetzt?". Er seufzt, immer noch grinsend.
"Vielleicht, weil dir das ein wenig zu peinlich ist? Oder du bist einfach nur total schüchtern und traust dich nicht, denn ich könnte dich ja zurückweisen und das tut bekanntlich weh“.
Ja, er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Ich bin total schüchtern, und vor einer Zurückweisung hatte ich tatsächlich Angst. Aber ich empfinde im nüchternen Zustand einfach nicht wirklich was für ihn. Glaube ich zumindest.
"Lass dir Zeit", lacht er. "Irgendwann wirst du mich auch ohne den Gebrauch von Drogen und Alkohol abknutschen und knuddeln wollen“. Oh, Mann, über so viele männliche Eitelkeit kann ich nur den Kopf schütteln.
"Nein. Das werde ich ganz bestimmt tun!", knurre ich und ziehe den Rauch der Zigarette tief in meine Lunge ein. Doch irgendwie muss ich lachen. Mein Gott, für was hält der sich?! Für irgendeinen Popstar, von dem man Poster im Zimmer hat und anfängt zu schreien, wenn er im Radio singt?
Nope deutet mein Lachen falsch.
"Das habe ich nicht ironisch gemeint", sagt er bestimmt und nippt an seiner Bierflasche.
"Aber ich!", gebe ich zurück.
Er schweigt.
"Essen ist da!". Dennis balanciert drei offenbar ziemlich heiße Pizza-Kartons. Hannes rennt hinter ihm her, mit drei Bierflaschen in der Hand.
"Nur drei?", frage ich verblüfft, als Hannes mir eine in die Hand drückt. "Ihr holt doch sonst immer 'nen ganzen Kasten."
"Tja", er öffnet seinen dampfenden Pizza-Karton und leckt sich über die Lippen, "irgendwann ist das Geld ja auch mal leer. Und deshalb", er wirft Nope einen schnellen Blick zu, "wird es dringend Zeit, Neues zu holen, sonst verhungern und verdursten wir hier noch."
Dennis schiebt mir einen der vom Fett schon ganz fleckigen und aufgeweichten Kartons entgegen. Er beinhaltet eine dampfende Pizza Margerita! Hm, lecker. Ich reiße mir das erste Stück ab und schiebe es mir genüsslich in den Mund.
"Aber heute gehen wir nicht auf Tour". Nope sagt es ganz ruhig, und da ich nicht weiß, was das bedeutet, bleibe ich auch ganz ruhig. Aber Hannes flippt aus.
"Was soll das bedeuten?!", ruft er und lässt das Stück Pizza, das er gerade in der Hand hält, in den Karton zurück klatschen.
"Das bedeutet, das wir noch bis morgen mit dem auskommen müssen, was wir haben". Nope ist immer noch ganz ruhig.
"Und warum das? Weil der Boss nicht schnell genug mit dem Planen zurecht gekommen ist, oder wie!". Hannes Oberlippe zittert.
"Nein. Weil heute eine Großveranstaltung in der Stadt ist und da laufen selbst in der Gasse um Mitternacht die Leute in großen Gruppen rum. Das können wir nicht machen. Und außerdem", Nope deutet mit dem Kinn auf mich, "wird es der auch lieber sein, bei einem der einfachen mit zu helfen."
"Aber sicher!", schnaubt Hannes. "Nur weil die dabei ist, sollen wir nix Großes machen, ja!? Weißte, wie scheißegal mir die Sicherheit von der ist? Ich will wieder Kohle haben, ist das klar?!"
"Wir würden heute auch nichts machen, wenn Lola nicht dabei ist", sagt Nope ruhig und isst weiter.
Hannes springt auf, nimmt mit zitternder Hand eine leere Flasche von Boden, holt aus und schleudert sie mit voller Wucht gegen die Steinmauer. Es knallt, dann springen die Scherben von der Wand zurück. Ich zucke zusammen.
Hannes rauft sich die Haare.
"Aber wir haben nichts mehr! Alles weg! Das Bier ist alle und die drei Flaschen von der Pizzeria sind 'nen Witz. Dann haben wir heute Abend keinen Schluck mehr!"
"Doch". Dennis, der bis jetzt noch kein Wort gesagt hat, erhebt sich langsam und geht auf Hannes zu.
"Wir haben noch die Falsche Ouzo und die Cola, das reicht für die Nacht." Er hält ihn am Arm fest.
"Und jetzt komm mal wieder runter und iss weiter."
"Du hast mir gar nichts zu sagen, Freundchen!", brüllt Hannes und hebt seine Faust.
"Hehe. Jetzt lass die Spielchen, ich will nicht wieder ne Prügelei haben, ja?"
"Oho!". Hannes Augen blitzen gefährlich."Der Boss nennt das Spielchen. Haste gehört? Und wir müssen das aushalten, dass er keinen Bock hat, jemanden nach der Großveranstaltung zu überfallen!"
"Mensch, Hannes!". Dennis kommt ein paar Schritte näher.
Hannes Gesicht verzerrt sich wütend, dann schlägt er seinem Kumpel ins Gesicht. Dennis stöhnt und schlägt sich die Hände vor's Gesicht.
"Aha. Das tut weh, stimmt's?". Hannes Faust bebt, und ehe irgendwer aufspringen kann, um ihn zurück zu halten, schlägt er noch mal zu.
"Schluss!", brüllt Nope, packt Hannes von hinten und hält ihn fest. Dennis liegt mittlerweile wimmernd am Boden, die Hände vor's Gesicht gepresst.
Mensch, was geht hier vor? Was passiert hier? Ich verstehe gar nichts mehr. Renne nur noch zu Dennis und nehme ihm die Hände vom Gesicht.
Er sieht schrecklich aus. Sein rechtes Auge verfärbt sich langsam bläulich, seine Lippe ist aufgerissen und Blut tropft auf sein Kinn.
"Hat jemand 'nen Taschentuch?", rufe ich verzweifelt. Dennis stöhnt, betastet mit zitternden Fingern seine Lippe, sieht das Blut und schließt die Augen.
"Ganz unten in meinem Schlafsack". Nope hält Hannes fest am Boden. Er wehrt sich nicht.
Irgendwo zwischen Bierflaschen, Schnapsfläschchen und einem Päckchen Zigaretten finde ich Tempos. Dennis nimmt sie sofort und tupft sich das Blut von Lippe und Kinn.
"Geht’s wieder?", frage ich mit besorgter Miene. Dennis nickt und robbt zu seinem Schlafsack, lässt sich stöhnend darauf nieder und schließt die Augen.
Hannes steht ziemlich bedröppelt da. Er schaut zwischen mir, Nope und seinem Opfer hin und her. Dann hockt er sich neben Dennis und streicht ihm über die Schulter.
"Tut mir leid. Echt!", flüstert er kleinlaut. Der Kerl denkt echt, mit einer einfachen Entschuldigung ist es getan? Nee, da muss er sich schon was Besseres einfallen lassen! Doch Dennis lächelt schwach, nimmt die Bierflasche, die Nope ihm reicht und legt sie sich vorsichtig an das blaue Auge.
"Ist schon gut", murmelt er, "Du kannst ja nichts dafür, das dir manchmal die Hand ausrutscht, und heute Abend bin ich wieder fit. Du wirst sehen."
Mir bleibt der Mund offen stehen! Was soll das denn jetzt? Mit einer einfachen Entschuldigung ist das Ganze erledigt? Also echt. Ich schaue zu Nope rüber. Dem ist das Ganze schon wieder egal. Er raucht ganz in Ruhe seine Zigarette und tut, als sei nichts passiert. Unsere Blicke treffen sich. Er zuckt mit den Schultern.
"Das passiert öfters. So einmal in der Woche. Doch Dennis ist noch nie ins Krankenhaus gekommen und so lange müssen wir uns keine Sorgen machen."
Ja klar, der macht's sich einfach! Ich schüttle den Kopf, setze mich neben ihn und nehme einen kräftigen Zug aus meiner Bierflasche.
Aber wenn er sich das nicht so zu Herzen nimmt, brauch ich mich ja wohl auch nicht damit zu beschäftigen.
Ahnungslosigkeit härtet ab
Nelly war meine Schwester - und das ist sie noch immer. Aber ich war einfach zu klein, um zu verstehen, was da bei ihr abging. Dass sie es ernst meinte! Das werde ich nie verstehen. Und auch nicht, wie Mama es zulassen konnte, dass ihre Tochter einfach so wegrannte und nie wiederkam. Doch Mama schien ihre große Tochter vergessen zu haben. War ich der einzige Mensch in der Familie, der sich Sorgen um Nelly machte? Ich vermisse sie noch immer und frage mich, ob ich vielleicht auch dran Schuld bin, dass sie weg ist... Als Familie muss man ja zusammen halten!
~Nellys Schwester Sophie~
Dennis ist am Abend wieder einigermaßen fit, wie er prophezeit hatte. Natürlich ist das Auge drastisch angeschwollen und die Lippe ebenfalls, aber er und Hannes reißen tüchtig Witze, die meisten auf meine Kosten, und trinken fleißig Bier und rauchen.
Nope schweigt so lange, bis Hannes die Flasche Cola und den Ouzo auspackt. Dann setzt er sich zu uns in die Runde und hilft emsig beim mischen der beiden Getränke.
Es schmeckt gut. Sehr gut sogar. Eigentlich nur nach Cola und trotzdem hat man hinterher das Gluckern im Bauch und muss ohne Grund lachen. Die Flasche kreist, kreist und kreist. Ich lasse keine Runde aus und meine Schlucke sind neben Hannes die tiefsten. Nope hält sich im Hintergrund, lacht aber mit. Dennis stürzt sich voll rein. Diesmal springt er zwar nicht auf, um mit mir zu tanzen, aber er stimmt trotzdem grölend Lieder an und er und Hannes schunkeln wie zwei Brüder.
Wieder bewegen sich der Boden und die Steinmauern so lustig und ich fühle mich wie auf einem Karussell. Ich lache und kichere und gluckse und bin so wie immer.
Doch schon bald merke ich, dass eines anders ist als sonst. Die Flasche ist halb geleert, Dennis schüttet den Rest des Ouzo in die Colaflasche, wobei das meiste zwar daneben läuft, aber egal. Hannes schwenkt sie lachend hin und her, dann hält er sie mir hin.
"Hiier triiink", lallt er kichernd und schaut mich aus glasigen Augen an.
"Zur Feiiier des Taages!"
Lachend nehme ich die Flasche an, lege den Kopf in den Nacken und trinke sie in einem Zug aus.
Danach ist mir schlecht. Mein Magen gurgelt. Ich lache nur noch schwach mit, fühle mich irgendwie elend.
"Mirisschlecht", murmle ich mühsam in Nopes Richtung und lasse meinen Kopf gegen seine Schulter sacken. Dann schließe ich die Augen.
Alles dreht sich um mich herum, das Grölen der anderen kommt aus weiter Ferne. Das Karussell wird schneller. Ich stöhne leise.
"Ischmusskotzen", stoße ich mühsam hervor. Nope reagiert. Er zieht mich hoch. Ich protestiere stöhnend. Wenn ich stehe, wird das Karussell nur noch schneller. Halt suchend klammere ich mich an seinem Hals fest und er schleift mich zu den Büschen. Dort löst er meine Hände von seinem Hals und ich sacke auf den Boden.
Mein Magen gurgelt erneut, ich muss aufstoßen.
"Kotz dich aus", rät er, noch erstaunlich klar.
Ich nicke, öffne vorsichtig die Augen und schaue zu ihm hoch. Da steht er, desinteressiert, die Arme vor der Brust verschränkt, und schaut zur Brücke zurück, wo die anderen immer noch nichts mitbekommen haben.
Wieder muss ich aufstoßen. Ich beuge mich über das stachelige Unkraut. Hier stinkt es nach saurer Kotze, Pisse und Kot. Vermutlich muss ich auch wegen des Geruchs würgen.
"Lass es aus dir raus", seufzt er, und wie auf Kommando würge ich den nächsten Schwall raus. Ich fühle mich ein bisschen besser. Auf jeden Fall kann ich die Augen offen halten und Nopes ausdruckslosen Blick auf mir spüren.
Eine gefühlte Viertelstunde liege ich neben dem hohen Unkraut und würge in unregelmäßigen Abständen den Alkohol aus mir raus. Vermutlich ist da auch die Pizza vom Mittagessen dabei.
Nope steht die ganze Zeit hinter mir. Warum? Hat der nichts Besseres zu tun, als hier nur dumm herum zu stehen und mich anzuglotzen?
Irgendwann greifen seine Arme unter meine und er stellt mich einigermaßen sicher auf die Füße. Ich schwanke und kralle mich an seiner Jacke fest.
"Du schläfst jetzt, ist das klar?". Warum klingt der Typ nur so verdammt klar? Der hat doch auch mitgetrunken. Zwar hat er immer mal wieder eine Runde ausgelassen, aber trotzdem müsste er doch zumindest nuscheln!
Wankend und schwankend kehren wir zur Brücke zurück. Die beiden andern scheinen unser Verschwinden inzwischen bemerkt zu haben, denn sie flüstern nur noch leise, als sie uns kommen sehen.
"Okaaay, Dennis", sagt Hannes undeutlich, "mein Verdacht war falsch. Du bekommst morgen die Mücken. Die zwei hatten doch was Besseres zu tun."
"Na, war mir klar, dass das irgendwann mal kommen musste!" Dennis klingt noch genau so deutlich wie Nope. Wie bekommen die das nur hin?
Mein stummer Kotz-Begleiter legt mich auf meinen Schlafsack und zieht ihn mir bis zur Nasenspitze zu. Ich schließe die Augen und drehe mich auf die Seite. Mir geht es echt schon besser als eben!
Na, hoffentlich fällt dann morgen der Kater nicht ganz so schlimm aus. Nope hatte doch gar keinen Kater bekommen, als er in der Nacht gekotzt hatte. Vielleicht ist das ja bei mir auch so.
Das nächste Mal werde ich einfach früher Kotzen und dafür bleibt dann der Kater am nächsten Tag aus. Das bekomme ich schon irgendwie hin...
Na, das dachte ich zumindest! Auf jeden Fall fühle ich mich am Morgen, als hätte mir jemand mit einem Brett vor den Kopf gehauen. Mein Gott, dröhnt, pocht und pieckst mein Schädel. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rappele ich mich auf und lehne mich ächzend mit dem Rücken an die kalte Steinmauer. Die anderen pennen alle noch wie die Murmeltiere. Nope und Dennis haben es bis in ihre Schlafsäcke geschafft, wobei der von Dennis nur halb zugezogen ist. Hannes liegt neben der leeren Ouzoflasche auf dem Boden, Arme und Beine weit von sich gestreckt.
Das ist das erste Mal, das ich so lange alleine bin. Nein, natürlich bin ich nicht allein, denn die anderen sind ja hier. Aber ich bin mit meinen Gedanken alleine für mich. Darüber bin ich froh. Endlich nicht immer von dummen Witzen genervt zu werden.
Ich weiß, dass ich von zu Hause weg bin. Ich weiß, dass ich hier unter einer Brücke schlafe. Aber was habe ich in den letzten Tagen so gemacht? Ist viel passiert? Ich kann mich an kaum noch was erinnern. Das ist irgendwie schade. Ich meine, das waren die ersten Tage meiner richtigen Freiheit! Vermutlich habe ich sie in dem Moment sehr genossen, aber ich bin mir nicht sicher.
Hier werde ich den Rest meines Lebens verbringen? Wie soll das gehen? Hier liegen mehr oder weniger dumme Kerle zwischen leeren Bier- und Schnapsflaschen, die nichts Besseres zu tun haben, als an ihrer Kippe zu hängen oder einen auf Großmacho zu machen. Tolles Leben, echt!
Und dann sind da diese bunten Pillen. Mit ihnen kann man sich diesem öden Alltag entziehen. Fete machen, obwohl gar kein Geld dafür vorhanden ist! Sich frei fühlen. Ja, damals habe ich mich frei gefühlt. Aber jetzt, fühle ich mich frei? Wirklich? Eingekeilt zwischen drei Schnapsleichen, die behaupten, alles wird besser, wenn man säuft? Ist es wirklich das, was ich will? Unter einer Brücke zu leben, die kalt und nass ist und modrig riecht? Habe ich mir das wirklich mal gewünscht? Hier festzusitzen, in der Freiheit, und nicht abhauen zu können?
Ich hasse diese Fragen. Ich hasse sie! Man kann sie nicht mit "Ja" oder "Nein" beantworten. Man muss nachdenken. Ich hasse nachdenken. Das habe ich schon lange genug getan und dadurch bin ich jetzt hier gelandet. In der Freiheit, in der man gefangen ist!
Obwohl ich so tief in Gedanken versunken bin, versetzt mich das leise Stöhnen vom hinteren Teil der Brücke wieder in die Gegenwart. Dort hinten liegt Flo, in seinem dreckig-grauen Schlafsack. Dieser 15-jährige Junge, der die Schule geschmissen hat und aus Trotz von zu Hause ausgerissen ist. Warum hat er das getan? Er wurde doch geliebt, wie Nope mir erzählt hatte. Warum ist er dann weggerannt? Wirklich nur aus Trotz?
Er pellt sich aus seinem Schlafsack und schlägt sich in die Büsche. Vermutlich die morgendliche Pinkelrunde. Warum ertragen sie es, hier in das stachelige Unkraut zu machen, das dazu noch unerträglich stinkt? Warum gehen die nicht alle zu Hause auf die Toilette?
Erst jetzt fällt mir auf, dass ich überhaupt nicht weiß, warum die anderen hier sind. Ich weiß nur, warum ich hier bin und dass ich hier richtig bin.
Als Flo wiederkommt, wirft er sich seine Jeansjacke über die Schulter und geht an mir vorbei. Ganz komisch sieht er die vielen leeren, zerbrochenen Flaschen auf dem Boden an. Mit so einem gierigem Blick. Als wolle er sie haben und die Luft austrinken. Guckt man so, wenn man alkoholsüchtig ist?
Flo ist klein, fast einen ganzen Kopf kleiner als ich. Und er sieht jung aus, viel zu jung für so ein Straßenkind. Blitzschnell huschen seinen dunkelblauen Augen zu mir hin und wieder weg. Keine Millisekunde hat er mich angeschaut. Aber ich habe genug gesehen, um zu sagen, dass dieser Junge mir leid tut. Die Augen stumpf und glanzlos, wie die eines Blinden. Der Blick desinteressiert, als hätte er schon alles von der Welt gesehen und nichts wäre mehr neu für ihn. Er trägt eine dreckige Jogginghose, ein viel zu weites hellblaues T-Shirt, das ihm bis über den Hintern reicht. Na ja, vermutlich war das T-Shirt mal hellblau. Jetzt ist es schmuddelig-grau, voller Matsch und Bierflecken. Es sieht aus, als hätte er die Klamotten seines großen Bruders an.
Der Anblick seines Gesichtes versetzt mir einen schmerzhaften Stich. Es sieht so alt und müde aus, es ist bleich und vielleicht sogar schon ein bisschen grau. Die Wangen sind hohl und eingefallen. Die fest aufeinander gepressten Lippen sind leicht bläulich und rissig. Es kommt mir vor, als hätte man eine Erwachsenenkopf auf einen Kinderkörper gesetzt.
Als mein Blick weiter an seinem Körper herunter wandert, sehe ich die Arme. Nein, es sind keine Arme, es sind Ärmchen. Sie zeigen mir, dass in diesem Jungen noch ein kleines Kind steckt. Ein Kleinkind, das sich nicht sicher ist, ob es raus will oder nicht. Diese Ärmchen sind dünn und ebenso bleich wie das Gesicht. Die Handgelenke sehen so zerbrechlich aus, als könnte man sie wie einen kleinen Ast brechen. Die Finger sehe ich nicht, darüber bin ich aber auch froh. Er hat sie tief in seine Hosentaschen vergraben.
Er kneift die Augen zusammen, als er seine Kumpels schlafend auf dem Boden liegen sieht. Es scheint ihm weh zu tun, dass sie ihn vergessen haben. Vergessen wie eine beim Winterfrost eingegangene Blume. Jetzt welkt sie vor sich hin, so wie Flo.
Plötzlich reißt der Junge den Kopf hoch und rennt stolpernd davon. Die Finger krallt er beim Heraufklettern des Abhanges in die Erde. Dann endlich ist er auf der Straße angekommen und aus meinem Blickfeld verschwunden.
Kaum ist er außer Sicht, regt Dennis sich. Nach einigem Gähnen strampelt er sich aus seinem Schlafsack, schaut mich müde an und greift zu einer noch halbvollen Bierflasche.
"Na? Kater? Da musste direkt gegen antrinken, ne? Sonst wird der nicht besser."
Ich weiß nicht, warum ich das sage. Vielleicht, weil ich einfach irgendwas sagen muss. Etwas sagen muss, wie das hier auf mich wirkt, dieses Sauflager.
Mit gerunzelter Stirn schaut er mich an, dann schüttelt er den Kopf, legt den Kopf in den Nacken und trinkt drei große Schlucke. Ich sehe, wie sich sein Kehlkopf bewegt. Hoch und runter, um dieses ungesunde Zeug in den Magen zu transportieren.
"Scheinst wohl schlechte Laune zu haben, was?". Er schaut mich an, lehnt sich neben mich an die Mauer und zündet sich eine Zigarette an.
Ich antworte nicht. Ich will etwas Cooles erwidern, doch mir fällt nichts Vernünftiges ein. Stattdessen zünde ich mir ebenfalls eine Zigarette an und atme den Rauch so tief es geht ein. Das tut gut. Danach bin ich viel ruhiger.
"Und du hast keinen Kater?". Dennis grinst.
"Nö. Aber du schon, so wie du aussiehst."
"Ach, sieht man mir das an oder wie?". Ich ziehe ein Augenbraue hoch. Er nickt.
"Ja, das tut man. Sagen wir's mal so: Du siehst scheiße aus."
"Danke", knurre ich und blase ihm den Rauch ins Gesicht.
"Das war ironisch gemeint!", lacht er und bietet mir seine Bierflasche an. Ich nehme einen großen Schluck. Für einen Moment ist das Pochen weg. Aber kaum habe ich die Flasche abgesetzt, ist es wieder da, doch diesmal in verstärkter Form. Na großartig! Ich nehme einen zweiten Schluck.
"Mein "Danke" war auch ironisch gemeint. Oder hätte ich dir dafür eine klatschen sollen? So bin ich nicht drauf." Einen Moment ist das Grinsen aus seinem Gesicht verschwunden, dann fängt er an zu lachen. Zeit genug, um mir einen dritten Schluck Bier zu gönnen.
"Ach nein!? Aber ich habe schon bemerkt, das du bei manchen Sachen sehr schnell zuschlägst, Lola!". Ich weiß, worauf er anspielt und verdrehe die Augen.
"Aber die hast du dir verdient!"
"Ach, echt? Ich sah das aber nicht so. Ich mein, ich hab dir nix getan."
"Oh doch, das hast du!". Er grinst schon wieder.
"Dann sag mir bitte genau, was ich dir getan habe."
"Du hast mich angemacht", sage ich knapp.
"Aha, und das ist verboten oder was? Denn du machst es ja selber. Jeden Abend setzt du dich kess auf Nopes Schoß und knutscht den ab, und die Sprüche, die man dann von dir zu hören kriegt, sind keine Anmache, ja?"
Er nimmt mir die Bierflasche aus der Hand und trinkt sie leer. Na toll.
Zwei zu Null für ihn. Aber mein Gott, was kann ich denn dafür, wenn ich mich im Suff nicht kontrollieren kann? Ich kneife leicht die Augen zusammen.
"Oder bist du einfach nur eifersüchtig?". Jetzt zieht er die Augenbrauen hoch.
"Eifersüchtig? Ich? Nee, ganz bestimmt nicht. Auf so was wie dich bin ich nicht eifersüchtig."
"Aber deswegen brauchst du mich nicht gleich zu beleidigen, du Idiot!"
"Ach nein, und wer hat mich grade Idiot genannt?"
Ich schnaube. Mit dem Kerl ist einfach nicht zu reden. Es wird Zeit, dass einer der andern aufwacht, um mich mal ein wenig gegen Dennis Worte zu unterstützen.
Na ja, vielleicht sollte das nicht grade Hannes sein. Doch der ist der Nächste, der aufwacht. Ganz kleine Augen hat er, mit denen er verwirrt zwischen mir und Dennis hin und her schaut. Na klar, der Kerl hat keine Ahnung, wo er ist.
"Na, ist er alte Sack auch endlich wach geworden!", lacht Dennis und wirft seine Kippe weg.
"Du hast es ja gestern noch nicht mal bis in deinen Schlafsack geschafft."
Hannes brummt und streckt knackend seinen Rücken durch. Ungemütliche Lage, in der er da geschlafen hat.
"Ich dachte echt schon, der pisst sich noch in die Hose. Aber Gott sei Dank hat er gestern nicht mehr gekotzt, das wäre dann nämlich alles auf meinem Schlafsack gelandet. So wie der aussah, konnte der noch nicht mal mehr seinen Namen sagen. Und außerdem", Dennis gibt mir einen leichten Schubs, "war das Auskotzen ja gestern Lolas schöne Aufgabe."
Hannes grinst leicht und ich werfe den beiden einen vernichtenden Blick zu.
"Aber auf jeden Fall hat die sich besser gemacht als du, Dennis", tönt eine heisere Stimme hinter mir. Endlich ist auch Nope wach.
"Warum ich?". Dennis klingt verunsichert. Die beiden scheinen ein kleines "Geheimnis" zu haben. Nope grinst seinen Kumpel an.
"Der hat nämlich auf ner Restauranttoilette gekotzt und durfte das dann hinterher aufwischen!"
Das ist das erste Mal, dass ich den großen, starken Macho Dennis rot werden sehe. Nicht rot wie eine Ampel, aber es scheint ihm schon ziemlich peinlich zu sein, dass ich jetzt von seinem "erstem Kotzen" auf der Restauranttoilette weiß.
"Ach, das hat doch jeder schon hinter sich". Natürlich versucht Hannes die Stimmung wieder aufzulockern.
"Und jetzt auch Lola". Er lächelt mich verschmitzt an. Das ist bei ihm das erst mal, das er mich nicht anzüglich angrinst.
"Du kannst stolz drauf sein. Nachdem ich das vor drei Jahren das erste Mal hatte, also damals war ich dann 14, hab ich mich hinterher wie ein richtiger Mann gefühlt!"
"Du wirst nie ein richtiger Mann sein". Dennis streichelt seinem Kumpel mitfühlend über den Kopf.
"Aber mach dir nichts draus. Da sind viele, die auch mit 17 noch so unreif sind wie du."
Jetzt rutscht ihm wieder die Hand aus, denke ich, und das, obwohl Dennis' Lippe gerade wieder einigermaßen geheilt ist. Aber nein, der schlägt nicht zu. Haut ihm nur leicht auf den Hinterkopf und bläst ihm den Rauch seiner Zigarette kräftig ins Gesicht. Sonst nichts.
"Gut, Leute, genug gefrotzelt. Wir müssen über den Abend reden." Nope hockt sich neben mich und sieht aufmerksam in die Runde. Dennis zuckt mit den Achseln.
"Was gibt's da zu reden? Läuft doch so ab wie immer, oder? Du stehst Schmiere und wir machen die Drecksarbeit. Ist doch klar, und das machen wir ja auch sooo gerne. Und was macht Lola? Dem das Glas durch's Gesicht ziehen?"
Ich lache. Doch komischerweise lacht niemand mit, deswegen verstumme ich auch schnell wieder betreten.
"Ja, genau. Es wird ablaufen wie immer. Die gleiche Gasse, der gleiche Standort. Lola braucht nichts erklärt zu bekommen. Sie macht teils das gleiche wie Ihr. Aber sie wird Deinen Part übernehmen, Hannes. Das heißt, Du wirst Dennis helfen. Und vor Ort erklärst Du Lola ihre Aufgabe, ist ja nicht so schwer."
"Yes!", macht Hannes und stößt dabei grinsend den Arm in die Luft.
"Und deine Aufgabe ist echt nicht schwer, Lola". Er zwinkert mir zu, ich brumme.
"Okaay", sagt Nope gedehnt und schaut mich an.
"Wir sagen Dir, warum wir Dir nicht erklären, was heute abläuft. Wenn du jetzt hier bei uns bist, musst Du da mitmachen. Aussteigen geht nicht. Erfährst Du hier, was wir machen, haust Du ab und rennst nach Hause zurück. Wenn Du erst vor Ort das Wichtigste erklärt bekommst, ist nichts mehr mit abhauen, dann sind nämlich die Bullen ganz schnell bei Dir."
"Ich renne nicht nach Hause zurück", sage ich bestimmt. So schlimm kann das ja nicht sein, was die vor haben.
"Und außerdem habe ich schon mal geklaut." Ich habe irgendwie das Gefühl, dass das jetzt angebracht ist. Alle drei grinsen.
"Ah ja, geklaut". Dennis versucht nicht zu lachen, aber er muss sich sehr zusammenreißen, das sehe ich ihm an.
"Vielleicht Klopapier in der Restauranttoilette?". Brüllendes Gelächter, sogar von Nope.
"Nein", sage ich knapp. "T-Shirts bei Madonna und New Yorker". Das mit den Spray-Dosen vom Baumarkt erwähne ich nicht. Ich kann mich nur so zu gut dran erinnern, wie Nope bei unserer ersten Begegnung die Dinger angestarrt hat.
"Cool, dass wir das jetzt wissen". Hannes hat die Lachtränen in den Augen. "Aber es interessiert uns echt nicht!"
"Okay, genug gelacht". Nope klopft mir kumpelhaft auf die Schulter.
"Aber die ist besser, als wenn wir nen Amateur dabei hätten."
"Aber wenn die erst mal weiß, was sie tun muss, kann sie vermutlich keinen Finger mehr rühren, geschweige denn einen klaren Gedanken fassen". War ja klar, das Dennis mich wieder runter machen musste, kaum dass ich was von mir preisgab.
Mittlerweile habe ich mich damit abgefunden, das ich keine Ahnung habe, was hier abläuft. Aber ich werde erst mal mitziehen, umentscheiden kann ich mich ja immer noch. Und so suche ich auf dem Boden nach einer halbvollen Bierflasche, an der ich nuckeln kann, bis ich endlich weiß, was hier abläuft. Natürlich schön abgewechselt mit einer Zigarette, um mich zu entspannen.
Wenn man weiß, was man tut,
ist es schon zu spät
War Nelly wirklich meine Schwester? Den Eindruck hatte ich nie. Sie war nie wirklich für uns da. Uns, die kleineren Geschwister. Ich kann mich gar nicht mehr dran erinnern, wann sie das letzte mal mit mir gesprochen hat! Ich hatte einfach zu viele Geschwister! Sophie, Manuel, Leon, Finn, Paul, Luca und dann Nelly. Sie war zwei Jahre älter als ich, lebte in einer ganz anderen Welt. Schien sich mit ihren schwarzen Klamotten wichtig machen zu wollen. Und dann war sie weg. Davongerannt. Vor so vielen kleinen, kindischen Geschwistern und vor einer Mutter, die sich nie um sie gekümmert hat.
~Nellys Schwester Cira~
Der ganze Tag zieht sich in die Länge. Das Schweigen wird langsam bedrückend. Es ist nichts mehr zu Trinken und zu Essen da, ich muss mich zusammenreißen, um nicht zu quengeln. Dabei knurrt mein Magen noch nicht mal richtig und in meiner Bierflasche sind ja immer noch ein paar kleine Schlucke. Es ist irgendwie ein komisches Gefühl, sich die einteilen zu müssen. Zu wissen, dass danach Schluss ist. Immer war etwas da, die ganze Zeit schon, so lange ich hier bin. Wie lange bin ich eigentlich schon hier? Nicht mal eine Woche, glaube ich. Erschreckend. Und ich bin schon so abhängig von Nope und seinen Kumpels geworden.
"So haben wir uns die ganze Zeit gefühlt. Damals", sagt Nope plötzlich in die Stille hinein, "als wir noch nicht das getan haben, was wir jetzt tun. Da haben wir jeden Abend so hier gesessen und uns überlegt, wie wir an das nächste Essen kommen". Er lächelt verloren.
"Ja, so war das damals. Doch jetzt ist es anders, jetzt haben wir den Mut gefunden, das zu tun. Und, Leute, es geht uns gut."
Komischerweise sagt niemand etwas. Man könnte das betretenes Schweigen nennen. Selbst Hannes zieht gedankenverloren an seiner Kippe.
Mein Bier ist leer, meine Zigaretten aufgeraucht. Die Zeit des Wartens ist gekommen.
Irgendwann kriecht die Dämmerung unter die Brücke, umhüllt uns einzeln und trennt uns voneinander. Die Dämmerung wird zu einer beängstigen Finsternis. Die Anwesenheit des Andern ist nicht mehr spürbar. Keine Glut ist mehr an den Aschesäule der Zigaretten zu erkennen. Wenn einer von uns seufzt oder die Beine ausstreckt, atmen wir anderen erleichtert auf und das Gefühl der Gemeinschaft ist wieder da. Für eine Sekunde.
Plötzlich steht Nope auf und kramt Sachen aus seinem Schlafsack.
"Lola, zieh dir einen Pulli über!". Sein Ton ist befehlend, er wirft mir eine ausgeleierte Strumpfmaske zu.
"Dennis, zieh deine Jacke über, man darf dein Tattoo nicht sehen."
"Mensch, Nope", Hannes stopft die schwarze Mütze unter seinen Kapuzenpullover, "reg dich ab. Wir wissen, wie das geht."
Nope seufzt. Er scheint etwas aufgeregt zu sein. Seine Lederjacke mit den Stickern legt er ab und zieht wie wir anderen einen dunklen Pullover über das T-Shirt. Danach schlägt er sich in die Büsche. Als er wiederkommt, trägt er eine weite Trainingshose. Irgendwie passt das nicht zu ihm. Er sieht jetzt komischerweise wie ein Außenseiter aus. Oder wie ein Penner. Wie ein Obdachloser - was er ja auch ist.
Dann ist es endlich so weit. Wir klettern den Abhang hoch und lassen die düstere Brücke hinter uns zurück. Ich folge einfach den anderen. Den ganzen Weg legen wir schweigend zurück. Wie eine Straßengang sehen wir aus, alle in schwarz gekleidet. Als würden wir jetzt irgendwas oder irgendwen überfallen.
Nach etlichen Metern haben wir die Innenstadt erreicht. Nope scheint den Weg gut zu kennen, er läuft zügig vorweg. In der Dunkelheit kann ich mich nicht genau orientieren und weiß nicht, wo wir sind, obwohl ich oft in der Stadt war. Einfach so gehen wir quer über den Marktplatz. Vor uns die riesige Treppe, die zur Kirche führt. Dann etliche kleine Geschäfte und Restaurants. Alle haben geschlossen. Laut der Uhr, die über der Eingangstür der Apotheke hängt, haben wir gleich schon halb zwölf. Nope biegt mit uns in eine Gasse ab. Er bleibt am Eingang stehen und lehnt sich gegen die graue Mauer. Ganz entspannt steht er da und raucht sich eine Zigarette.
Hannes zieht mich hinter eine grüne Mülltonne. Mit der Strumpfmaske und der Kapuze seines Pullis sieht er aus wie ein Verbrecher. Seine Augen liegen jetzt im Schatten. Um einen halben Kopf ist er kleiner als ich und seine Sprüche enthalten bestimmt nicht den kleinsten Teil von Intelligenz, dennoch sage ich kein Wort, als er mir leise flüsternd meine Aufgabe erklärt. Mir bleibt ohnehin die Spucke weg.
"Also, du musst eh nicht viel tun. Einfach demjenigen, der da gleich kommt, das hier", er drückt mir eine abgebrochene Glasflasche in die Hand, "durch die Fresse ziehen und dann rennen. Fertig.". Ich schlucke. Sage nichts.
"Jetzt zieh die Strumpfmaske über, und wehe du hast gleich einen Blackout, da kannst du dir hinterher Nopes Schlage abholen."
Ich nicke ganz langsam. Mein Hirn begreift nichts. Ich habe versprochen, das durchzuziehen. Das werde ich tun. Die Strumpfmaske juckt und ich spüre Schweiß auf meinen Wangen. Hannes schleicht auf die andere Seite und quetscht sich mit Dennis in einen Hauseingang.
Ich habe schreckliche Angst. Aber ich weiß nicht wovor. Vielleicht vor allem. Vielleicht auch nur vor dem Überfall. Vielleicht auch vor meinem restlichem Leben. Nachdem ich diesem Menschen gleich die Flasche durch's Gesicht gezogen haben, wie werde ich danach leben? Werde ich gleich die Kraft haben, zu rennen? Um mein Leben zu rennen?
Ich setze mich auf den kalten, nassen Asphalt. Vor mir diese dunkelgrüne Bio-Mülltonne. Sie deckt mich. Vor den Bullen, der Polizei. Ich kann für das, was ich gleich tue, in den Knast kommen, jahrelang. Vorsätzliche Körperverletzung, bewaffneter Raub. Und dann müssen meine Eltern Schmerzensgeld für denjenigen zahlen. Die Narben werden nicht mehr weggehen, nie mehr. Alle werden auf diesen Menschen zeigen, sich fragen, was mit ihm passiert ist. Dieser Jemand hat Familie, vielleicht einen Ehepartner und Kinder oder sogar schon Enkelkinder. Und die ganze Familie wird Tag für Tag diese schrecklichen Narben sehen. Die ich mit einer zerbrochenen Grasflasche hinein geritzt habe. Ich, Nelly Edeler, eine 17-jährige Obdachlose, die mit ihren Kumpels Geld für Drogen und Alkohol braucht. Das ist schwachsinnig, was ich hier durchziehe. Aber ich mache es, egal, was hinterher passiert.
"Was macht denn ein so junger Mensch um eine solch späte Uhrzeit hier?". Mein Herz rast, meine Hände zittern.
"Ach, wissen Sie, ich warte nur auf ein paar Kollegen". Das ist Nope, er spricht ganz ruhig auf unser Opfer ein.
"Na, dann wünsche ich Ihnen und Ihren Kollegen noch eine schöne Nacht."
"Danke. Gleichfalls."
"Ach, wie nett. Auf Wiedersehen!". Absätze klappern auf dem Asphalt, werden lauter.
Ich zittere am ganzen Körper. Vorsichtig luge ich an der Mülltonne vorbei, um die Frau erkennen zu können. Sie trägt einen dicken Mantel und einen breiten Schal, den sie über ihre Schultern gelegt hat. Sie ist klein und zierlich, vielleicht Mitte 60. „Arme Frau“ ist das letzte, was ich denke. Dennis und Hannes springen aus dem Hauseingang und reißen sie zu Boden. Sie fängt an zu schreien und mit ihrer Tasche um sich zu schlagen. Jetzt bin ich dran, muss diese Frau ruhig kriegen.
Dennis drückt sie auf den Boden und lässt ihr nur wenig Luft zum Schreien. Hannes durchwühlt die Manteltaschen, findet nichts. Sie schauen mich an, als ich mein Versteck verlasse. Am Ende der Gasse sehe ich Nopes Rücken. Er steht da, als hätte er nichts mit all dem zu tun.
Ich drehe die Flasche in meiner Hand, komme näher. Dennis drückt die Frau noch fester auf den Boden. Die Frau zappelt, die schwarze Handtasche nun fest an ihre Brust gepresst. Die brauchen wir! Unbedingt.
Ein letztes Mal drehe ich die Flasche in der Hand, dann hocke ich mich vor sie, hebe ihr Kinn an. Sie ist jetzt mit mir auf einer Augenhöhe. Sie kann nur meine Augen sehen und wahrscheinlich die Angst darin. Ihr Gesicht ist kreidebleich, Schweißperlen glitzern auf ihrer Stirn. Ihre Augen sind riesengroß vor Angst. Sie trägt hellblauen Lidschatten, dazu rosa Lippenstift. Sie war bestimmt im Theater und ist jetzt auf dem Weg nach Hause. In ihren blauen Augen schimmern Tränen. Sie starrt mich einfach nur an wie ein ängstliches Kaninchen.
Ich weiß nicht, warum ich das sage, aber es muss raus.
"Es tut mir leid."
Dann gehe ich mit der zerbrochenen Flasche durch ihr Gesicht. Vom Haaransatz bis zum Kinn. Sie schreit. Ich presse ihr die Hand auf den Mund, niemand darf uns hören. Die Frau sackt schluchzend in sich zusammen. Dennis entreißt ihr die Handtasche, Hannes durchwühlt die Innentaschen ihres Mantels. Ich sehe ein goldenes Medaillon in ihrem Ausschnitt blitzen. Es ist bestimmt viel wert, aber ich lasse es bei ihr. Vielleicht ist da ein Bild ihrer Enkelkinder drin. Die dann zu einer Frau mit den schrecklichen Narben im Gesicht "Oma" sagen. Sie liegt da, schluchzend, die Augen geschlossen.
Der beste Moment, um abzuhauen.
Hannes und Dennis rennen los, ich bleibe stehen. Nope kommt durch die Gasse gestürmt, packt mich am Arm und reißt mich mit. Fast falle ich hin, so schnell läuft er. Wir entfernen uns immer mehr von unserem Opfer. Die Frau, die da auf dem Boden liegt, das Gesicht auf dem Asphalt, die Hände auf die blutenden Wunden gepresst. Wir haben sie so zugerichtet. Nein, nicht wir. Dennis und Hannes haben nur die Handtasche genommen. Ich habe sie verletzt. So schwachsinnig das auch sein mag, aber ich kann mich nicht beherrschen und brülle ein "Es tut mir echt leid, das wollte ich nicht!" in die dunkle Gasse. Nope packt mich fester und gemeinsam rennen wir über den Platz. Hannes und Dennis sind uns weit voraus.
Schon bald bremsen wir ab. Gehen wie normale Leute durch die Straßen.
Wieder legen wir den Weg schweigend zurück. Irgendwann, es ist bestimmt schon 1 Uhr morgens, stolpern wir den Abhang runter, überqueren die Wiese und sind zu Hause. Alles liegt noch so da, wie wir es zurückgelassen haben. Ich hocke mich auf meinen Schlafsack und starre gebannt auf die Handtasche, die Dennis unter seinem Pullover hervorzieht.
Er schüttelt sie aus. Die Frau hatte nicht viel dabei: ein Portemonnaie, das sich Hannes sofort krallt, dann ein Paket Tempotücher (kann man gut für Wundenverpflasterung nach Prügeleien gebrauchen), eine halbvolle Flasche Pfefferspray (im Nachhinein bin ich froh, das sie das nicht benutzt hat, dann wäre ich nämlich das arme Ferkel gewesen) und ein Brillenetui. Mehr nicht.
"Und was ist so alles in dem Portemonnaie drin?", frage ich gespannt und versuche über Hannes Schulter einen Blick drauf zu erhaschen.
"Ha!". Er legt sich das längliche Ding tief in den Schoß. "Sei nicht so ungeduldig. Setzt dich hin, sonst bekommst du gar nichts zu sehen". Ich seufze und verdrehe die Augen. Blödmann. Trotzdem setze ich mich wie befohlen auf den Hintern und warte ab, dass Hannes den Verschluss öffnet. Er tut geheimnisvoll, ganz schnell öffnet und schließt er das Scheinfach. Somit hat nur er gesehen, was drin war.
"Mensch, mach's doch nicht so spannend!", beschwert sich Dennis, der auch auf heißen Kohlen zu sitzen scheint. Hannes hält nun grinsend zwei 50-Euro-Scheine in der Hand und wedelt damit in der Luft herum.
"Wow!". Dennis Augen leuchten.
"Das ist viel. Weißte, was wir uns davon alles kaufen können?"
"Ja, das ist was", lässt Nope sich aus seiner Ecke vernehmen. Er hat nur aus der Ferne zugeschaut.
"Und ich würde sagen, Ihr habt gute Arbeit geleistet. Aber für unsere Verhältnisse ist das wenig. Wir bekommen mehr auf die Reihe". Hannes Stirn legt sich in tiefe Falten.
"Ach ja?!", schnaubt er.
"Und wer hat gestern gesagt, wir sollen uns einen leichten Fall vornehmen, weil wir die Kleine dabei haben? Das warst doch du, oder etwa nicht?". Nope schweigt. Dann schaut er mich an und nickt einmal kurz.
Ein Lob? Weil ich meine Arbeit gut gemacht habe? Weil ich das Gesicht dieser Frau vernarbt habe? Wegen mir wird sie den Rest ihres Lebens aussehen wie ein Monster.
Dennis stopft die Scheine tief in seine Hosentasche, dann legt er sich in seinen Schlafsack und sucht auf der Erde nach einer Flasche, in der wenigstens noch ein kleines Schlückchen drin ist. Er findet nichts. Und so liegen wir hier schweigend nebeneinander. Alle haben wir die Augen auf einen fernen Punkt in der Dunkelheit gerichtet.
Es ist ein komisches Gefühl, jemanden neben sich zu haben, der viel Geld bei sich hat. Und dann liegt man so still da und hat Hunger und Durst.
Ich gestehe es mir selbst ein: Was ich denke, ist falsch. Ich habe keinen Hunger und keinen Durst. Den haben die Kinder in armen Ländern, die nur noch an Essen denken und sogar Reste vom Boden essen würden. Ich denke nicht nur an Essen. Ich denke auch an die Frau und wie viel einfacher die Gedanken an sie zu ertragen wären, wenn ich eine Zigarette hätte, die mich entspannt, und eine Bierflasche, die mir das Gefühl gibt, das zu haben, was ich will. Das denke ich, wenn ich mich so alleine unbehaglich fühle.
Irgendwann schließe ich die Augen, ohne eine Zigarette geraucht oder einen Tropfen Bier getrunken zu haben, und ich schlafe äußerst schlecht.
Wie hoch muss man fliegen,
um so tief zu stürzen?
Nelly weg?! Das hatte ich doch nie gewollt! Lange war ich nicht mehr in meinem Leben, schien aus meinem Körper gerissen worden zu sein. Ein Jahr lang fehlte mir ein Stück aus meinem Herzen... Doch es musste weiter gehen.. Aus den restlichen Kindern sollte wenigstens was werden! Aber das ging nicht, wenn ich nicht mehr zur Arbeit ging, den ganzen Tag schlief, weinte und nicht mehr kochte. Vor ihnen versteckte ich meine Trauer und Einsamkeit. Es musste weiter gehen, sie mussten Nelly vergessen können. Wir müssen Nelly vergessen können. Unsere Tochter...
~Nellys Mutter~
Natürlich bin ich auch an diesem Morgen die Erste, die aufwacht. Und, oh Wunder, ich habe keinen Kater. Am liebsten würde ich aufspringen und vor Freude durch die Gegend hüpfen! Da fällt mir ein, das ich in der Nacht ja auch gar nichts getrunken habe. Hm, ein ungewohntes Gefühl, ohne Kater aufzuwachen...
Ich weiß nicht, wie viel Uhr wir haben. Doch es ist schon taghell, und wenn ich ganz leise bin, kann ich in der Ferne die Autos brummen hören. Es ist bestimmt schon Mittag. Warum schlafe ich neuerdings so lange? Mein ganzer Tagesablauf ist umgekrempelt worden, seit ich hier bin. Da muss ich schleunigst wieder Ordnung rein bringen. Am besten fange ich mit dem frühen Aufstehen an. Halb sieben, keine Minute später.
Na ja, meine ganze theoretische Planung wird schon wieder durcheinander geworfen, als Hannes und Dennis vom Einkaufen zurück kommen. Fettige Pommes, knackige Burger, zischendes Bier. Früher habe ich morgens nie so viel verputzt. Allerhöchstens einen Toast oder ne Schale Müsli, aber jetzt verschlinge ich Burger um Burger und trinke Flasche um Flasche leer.
"Wisst Ihr eigentlich, wie lange wir gepennt haben?". Dennis wickelt den dritten Chicken Burger aus dem Papier.
"Wir haben halb drei mittags!"
"Na und?", gebe ich lachend zurück.
"Ist doch cool. So lange habe ich zuhause nie gepennt. Und außerdem waren wir ja in der Nacht ziemlich aktiv und brauchten den Schlaf dringend". Schallendes Gelächter. Ja, als ziemlich aktiv kann man den Raubüberfall auf die Frau wohl nennen. Mit Körperverletzung. Schwerer Körperverletzung.
"Warum genau habe ich eigentlich der Frau das Glas durchs Gesicht gezogen? Ihr hättet doch auch so an die Handtasche kommen können."
Schweigen. "Na, so ist heutzutage eben die Kriminalität", versucht Hannes wieder einen Witz zu reißen, doch niemand lacht. Uns allen tut, glaube ich, ganz tief in unserem Innersten diese Frau leid. Liegt sie im Krankenhaus? Wurde sie genäht? Oder einfach nur verklebt wie eine zerbrochene Vase?
Aber vielleicht stumpfen die vielen Überfälle uns auch ab und nach einer Zeit hat man gar kein Schuldgefühl mehr?
"Wie lange macht Ihr das eigentlich schon? Also, Leute zu überfallen."
"Keine Ahnung. So jedes zweite Wochenende, und wir leben jetzt schon zwei Jahre lang hier. Kannste dir jetzt ausrechnen, wie viele Überfälle das sind". Warum tut Nope nur so, als ob ihn das alles kalt lässt? Warum sagt er nicht offen, dass ihm die Frau auch leid tut?
"Das ist viel". Mehr fällt mir beim besten Willen nicht ein.
"Und dabei ist immer viel Kohle für uns raus gekommen." Wieder lacht niemand über Hannes Witz. Es scheint doch alle ziemlich zu berühren, was wir tun. Nein, was ich tue.
Nach dem "Frühstück" verkrümeln sich Hannes und Dennis, um "wichtige Erledigungen zu machen", wie sie sich ausgedrückt haben, und ich bin mit Nope alleine. Ich erinnere mich noch, wie ich unbedingt mit ihm alleine sein wollte, um mit ihm zu reden, um zu verstehen, was sie mit "auf Touren gehen" meinen. Doch jetzt weiß ich es ja.
Und irgendwie habe ich Angst vor diesem schweigsamen, bleichen Punk. Warum, weiß ich nicht. Vielleicht, weil ich nun erfahren habe, was hier abgeht. Was sie Wochenende für Wochenende erledigen, ohne eine Mine zu verziehen.
"Warum tut Ihr das?"
"Was?". Natürlich stellt er sich dumm, was anderes hätte ich auch, ehrlich gesagt, nicht erwartet.
"Na, Leute zu überfallen und zu verletzten."
"Wir verletzten sie nicht schlimm. Die Kratzer sind in ein paar Wochen verheilt und die Narben werden kaum zu sehen sein."
Mir fehlen die Worte. Diese Frau wird für den Rest ihres Lebens gezeichnet sein mit diesen "Kratzern" und sich vielleicht gar nicht mehr aus dem Haus trauen!
"Warum bist du so?", flüstere ich.
"Warum tust du so, als ob das alles gar nichts angeht?"
"Es geht mich ja auch nichts an. Ich plane die Sache und stehe Schmiere, mehr mache ich nicht. Ich brauche mich nicht zu schämen. Das ist deine Aufgabe, du hast sie verletzt."
Fassungslos schüttle ich den Kopf.
"Mein Gott, mach doch mal die Augen auf! Siehst du denn nicht, was du dieser Frau mit dem Überfall angetan hast? Siehst du denn nicht, dass das nichts bringt? Ihr habt ihr das Geld abgenommen, das ist ja schon schlimm genug, aber ihr habt sie bestraft für etwas, wofür sie nichts kann. Sie hat ihre Tasche festgehaltenen, das ist ihr gutes Recht. Und um nur an diese Tasche zu kommen, habt ihr ihr die Flasche durchs Gesicht gezogen!"
"Ich laufe nicht mit geschlossenen Augen durch die Welt, Lola. Ich sehe alles so, wie du es siehst. Und außerdem haben wir mit der Flasche nichts zu tun, das warst du."
Verzweifelt ringe ich nach Luft. Warum will der Kerl mich denn nicht verstehen?
"Und damit bin ich auch für den Rest meines Lebens bestraft".
Nope zieht seine Lederjacke aus und streicht über seine nackten Arme.
Narben, große und kleine, blutverkrustete Risse, grün-gelbliche Adern vom Spritzen, auf dem Unterarm Striemen vom Ritzen.
"Mein Gott. Was hast du da gemacht?", flüstere ich und fahre mit dem Finger über die kleinen Hügel, die die Narben hinterlassen haben.
"Das, Lola, habe ich mir alles selbst angetan. Das sind die Reste von Mutproben. Brennende Feuerzeuge haben sie mir an den Arm gehalten, Heroin haben sie mir gespritzt, als ich geschlafen habe, nur um zu gucken, ob ich am nächsten Morgen noch lebe. Messer haben sie mir gegeben und hämisch grinsend zugeschaut, wie ich sie mir schnell und mit vor Tränen blinden Augen über die Haut ziehe. Für jeden Schluchzer haben sie mich geschlagen. Das ist alles noch gar nicht so lange her. Vielleicht ein halbes Jahr. Ich wollte angenommen sein, irgendwo. Bin von Straßenbande zu Straßenbande gewandert, habe das alles mitgemacht, um einen Platz zum Schlafen zu bekommen und vielleicht auch ein wenig beschützt zu werden. In dieser Zeit habe ich viel gelernt. Auch, dass wir nur harmlose Spielchen treiben mit unseren Überfallen."
"Doch wenn du diesen Menschen auf der dem Boden liegen siehst, wie er sich windet und den Schmerz aus sich rausschreist - damit rächst du dich, für alles was dir passiert ist? Es tut dir gut, wenn du siehst, dass du die Schmerzen nicht ertragen musst, Nope?".
Erstaunt schaut er mich an, dann nickt er ganz langsam.
"Du verstehst mich, Lola. Bis jetzt hat mich noch niemand verstanden."
"Nein!". Ich schüttle heftig den Kopf.
"Nein, ich verstehe dich nicht! Ich weiß nur, was in deinem Kopf vorgeht, aber das, was du da tust, werde ich niemals verstehen."
Schweigen.
Schweigen, bis Dennis und Hannes wiederkommen. Diesmal waren sie sehr lange unterwegs, fast eine ganze Stunde.
"Was habt Ihr denn so lang gemacht?", empfängt Nope sie und zieht den Kronenkorken einer Bierflasche ab.
"Jan war nicht da und da musste wir erst mal jemanden finden, der uns das Zeug verkauft, außerdem war am Bahnhof total viel los und überall standen diese Bullen rum. Da müssten wir höllisch aufpassen."
"Aber Ihr habt was mitgebracht, oder?"
"Na klar! Wir kommen doch nie mit leeren Händen wieder", lacht Hannes und zündet sich eine Zigarette an.
Da sitzen wir nun. Zigaretten zwischen den Lippen, einen Kasten Bier neben uns und warten darauf, dass endlich der Abend kommt.
Und dann ist er endlich da. Kündigt sich mit der Dämmerung an, und als die Gesichter der Anderen nicht mehr zu erkennen sind, packt Dennis die Tabletten aus. Diesmal schlucke ich eine lila Pille. Wie Brause fühlt sich das Zeug in meinem Magen an, ich gluckse vergnügt. Schwankend erhebe ich mich und breite die Arme aus, dann schließe ich die Augen.
Ich kann fliegen! Wirklich! Ich stehe auf dem Geländer einer Brücke, unter mir schmutzig, graues Wasser. Der Himmel ist wolkenverhangen und dicker Nebel erschwert die Sicht. Doch ich bin ein Sonnenstrahl. Wie ich da stehe, auf der Brücke, den Kopf in den Nacken gelegt. Die dunkelblonden Haare weht mir der Wind aus dem Gesicht. Ich trage ein schneeweißes, langes Kleid und einen silbernen Haarreifen. Der Kopfschmuck besteht aus gelblichen Federn, die mich leicht an der Schläfe kitzeln.
Ich jauchze und hebe die Arme in Richtung der dunklen Wolken. Mir wachsen Flügel, schneeweiße, lange Flügel an der Unterseite meiner Arme. Die Federn sind ganz weich und streichen durch meine Finger wie Seide.
"Flieg, meine Hübsche, flieg!" echot etwas in meinem Kopf. Ich schließe die Augen und lege den Kopf erneut in den Nacken. Dann stoße ich mich mit meinen nackten Füßen ab und hänge in der Luft. Wie ein wunderschöner Vogel hebe und senke ich meine Schwingen, umkreise die Welt. Verzaubere den Himmel mit meiner Schönheit. Und lasse wieder Sonne aufgehen. Der Nebel verzieht sich, die Wolken lösen sich auf und das Wasser des Flusses ist wieder so klar, dass ich sogar von hier oben auf den Grund schauen kann. Kleine Goldfische bewegen ihre Körper durch die leichten, in den winzigen Wellen wogenden Algen. Es ist so schön hier!
"Das Leben ist so schön!", rufe ich den Fischen da unten zu und hoffe, dass sie mich verstanden haben.
Das Leben ist scheiße. Einfach nur beschissen. Geprägt ist es von deinen Vormenschen, die hier auf dieser Welt gelebt haben. Sie haben dir ein Leben aufgebaut, das du nicht mehr abreißen kannst.
Dein Leben wurde dir bis ins letzte Detail vorgelebt und du musst es ausleben. Wie in einem Malbuch. Alles ist schon vorgezeichnet, du musst es nur noch ausmalen.
Hier, bei uns, ist das so. Hier kommt man auf die Welt, hat eine Familie, ein Dach über dem Kopf und wächst in schöner Atmosphäre auf.
In andren Ländern ist das nicht so. Da wird man geboren und den Rest muss man sich selber beschaffen. Eine Familie suchen, ein Haus bauen, eine gute Atmosphäre schaffen. Und die Länder, in denen das so ist, liegen gar nicht so weit von uns entfernt. Zusammen leben wir in einer Welt. Wir alle sind aus dem gleichen Stoff gemacht, dennoch total unterschiedlich.
Diesen Menschen kann man nicht wirklich helfen. Mit der Zeit haben sie gelernt, was es heißt, alleine zu sein. Durch ihr "anders sein" sind sie abgetrennt von uns. Sie leben auf der anderen Seite der Erde, doch das trennt uns nicht. Auch die kilometerweiten Ozeane trennen uns nicht. Wir sind immer noch aus dem gleichen Stoff gemacht wie sie.
Aber ihre Hautfarbe trennt uns von ihnen. Ihre Sprache, ihre Bauweise der Häuser, ihre Erziehungsweise der Kinder, ihr Glauben, ihre Auffassung von Dingen, ihre Art zu Regieren... ihre Armut.
Ich weiß nicht, woher ich dieses Bild jetzt habe, aber ich stehe in unserem Haus, auf der zweiten Etage, vor Ciras Zimmertür. Den ganzen Tag lang hört sie Musik von Justin Bieber. Sogar in der Nacht, über die Kopfhörer ihres MP-3 Players. Ich mag den Sänger nicht. Er ist wie ein kleiner Schlumpf. Klein und aufmüpfig. Ein Pisser ist er.
Doch ich stehe hier, an die Zimmertür meiner Schwester gelehnt und lausche der Musik. Es ist ein trauriges Lied. Es handelt vom Beten, dem Tod vieler Menschen, den hungernden Kindern, den verletzten Soldaten, das Gefühl der Einsamkeit, welches einen überkommt, wenn man die Ungerechtigkeit der Welt sieht. Es ist ein schönes Lied. Ein sehr schönes Lied... und ich bin froh, gelauscht zu haben.
Das Tagebuch liegt unter meinem Schlafsack, leicht verkratzt von kleinen Steinchen. Ich klopfe die Erde ab und suche in meinem Rucksack nach einem Stift. Ganz unten finde ich einen angekauten Bleistift. Ich schreibe schnell und krakelig.
Pray
I just can't sleep tonight.
Knowing that things ain't right.
It's in the papers, it's on the T.V.,
it's everywhere that I go.
Children are crying.
Soldiers are dying, some people don't have a home
but I know there's sunshine beyond that rain
I know there's good times behind that pain,
hey can you tell me how I can make a change?
I close my eyes and I see a better day
I close my eyes and pray
I close my eyes and I can see a better day
I close my eyes and pray
I lose my appetite, knowing kids starve tonight.
Am I a sinner, course half my dinner, is still on my plate.
Oooh I got a vision, to make a difference.
And it's starting today.
Cause I know there's sunshine beyond that rain
I know there's good times behind that pain, hey
Heaven tell me how I can make a change.
I close my eyes and I can see a better day
I close my eyes and pray
I close my eyes and I can see a better day
I close my eyes and pray.
For the broken-hearted.
I pray for the life not started
I pray for all the ones not breathing.
I pray for all the souls in need.
I pray. Can you give em one today.
I just can't sleep tonight.
Can someone tell how to make a change?
I close my eyes and I can see a better day
I close my eyes and pray
I close my eyes and I can see a better day
Es erstaunt mich, dass ich den Songtext noch auswendig im Kopf habe. Ich hatte ihn mir nach dem Lauschen auf dem Internet geholt, aber danach direkt in meine Schreibtischschublade gesteckt und nie wieder hervorgeholt.
Im entscheidenden Moment ist immer das Entscheidende da.
Irgendwie fühle ich mich besser, nachdem ich dieses Lied aufgeschrieben habe, es hat mich befreit.
Jetzt kann ich weiterschlafen.
Erst als ich mir mit der Hand über die Augen und das Gesicht fahre, merke ich, dass ich angefangen habe zu weinen.
So allein fühlt man sich in einer Gruppe
Nelly war meine Tochter, siebzehn Jahre lang. Wir hatten so viele Kinder, um die wir uns kümmern mussten. Nelly war ja nicht die einzige. Und sie schien sich alleine glücklich zu fühlen, in ihrer eigenen kleinen Welt. Und wenn wir etwas machten, wo sie dann nicht mehr dort alleine war, war sie wütend auf uns. Wir ließen sie also in Ruhe. Sie war ein selbstbewusstes Mädchen, dem ich so etwas nie zugetraut hätte. Aber irgendwann, glaube ich, wollte sie nicht mehr die stille Maus sein, wollte raus aus ihrer Haut. Wollte raus aus der Familie, raus aus dem Haus. Wollte weg. Wollte vielleicht ihrer kleinen, eigenen Welt ein wenig näher sein. Und dann war sie weg...
~Nellys Vater~
Die nächsten Tage gehen kalt an mir vorüber. Ja, wirklich kalt, denn die Temperaturen bringen uns wieder zum Frieren. Auch die Stimmung hier unter der Brücke scheint eingefroren zu sein. Die 50 Euro sind seit gestern restlos ausgegeben. Übrig bleiben uns noch ein halber Kasten Bier und jedem von uns noch vier oder fünf Zigaretten.
Es ist wieder das Gefühl des Endes, der Vorsicht, der Bedrängnis. Ich habe bei jeder Kippe Angst, sie aufzurauchen, dann habe ich eine weniger.
Ich erwische Hannes sogar dabei, wie er eine nur halb raucht, sie dann sachte ausdrückt, um sie nicht zu knicken und dann wieder in die Packung zurücksteckt. Nein, so weit habe ich es noch nicht gebracht. Hannes scheint viel an den Dingern zu liegen, so sorgfältig, wie er damit umgeht.
Mittlerweile ist die vierte Woche angebrochen, die ich hier bin. Die ich hier lebe. In meinem Zuhause. Und ich fühle mich noch immer wie eine Fremde.
Zitternd ziehe ich mir die Kapuze über den Kopf.
"Mein Gott, Nope. So schwer kann das doch nicht sein, jemanden zu finden, den wir auszurauben können. Mir ist scheißekalt und mehr als diese eisigen Bierflaschen haben wir nicht mehr! Dann müssen wir eben da in der Dunkelheit warten, bis irgendeiner vorbeikommt und dem ein bisschen Geld abnehmen. Das kann doch nicht so schwer sein! Und ich brauch endlich einen dicken Schal."
"Nein. Wir kommen mit dem aus, was wir haben. Punkt.". Nope verschränkt die Arme vor der Brust und steckt das Kinn in den Kragen seiner Lederjacke. Ha, ihm ist auch kalt! Meinetwegen können dem auch die Zehen abfrieren, aber er soll verdammt noch mal Geld beschaffen!
"Ich finde, Lola hat recht", räuspert Dennis sich.
"Wir haben nichts mehr zu Essen und das kalte Bier macht krank. Lass dir mal was einfallen, Nope. Irgendwer muss doch da noch abzufangen sein. Auch wenn bei den Temperaturen kein Mensch auf die Straße geht."
"Nein."
Dennis seufzt und zieht den Reißverschluss seiner Jacke zu.
"Gut. Du hast es nicht anders gewollt. Ich geh jetzt zum Bahnhof und besorge uns ein bisschen Kohle."
"Ich komme mit!". Hannes springt auf, drückt seine Zigarette aus und steckt sie in die Packung zurück.
"Nein. Ich gehe alleine". Dennis dreht sich um.
"Du kannst in der Zeit meinen Schlafsack haben, Lola, bevor dir noch die Lippen einfrieren."
"Danke", rufe ich ihm hinter, ziehe seinen Schlafsack zu mir rüber und zwänge mich mit meinem hinein. Ach, so ist das doch schon viel besser! Entspannt lehne ich mich zurück und schaue Dennis hinterher, wie er sich auf dem Weg zum Bahnhof macht.
Er braucht lange, sehr lange. Mittlerweile ist es schon wieder dunkel geworden und die Temperatur noch mehr gesunken.
"Meine Güte, so lange kann der doch nicht brauchen!". Hannes verschränkt die Arme hinterm Rücken und wandert auf und ab.
"Das alles bist du Schuld, Nope. Du hast ihn gehen lassen!". Nope schweigt. Hannes schnaubt und marschiert weiter auf und ab. Auf und ab. Auf und ab. Auf und ab.
"Mensch, du machst mich nervös", knurre ich und ziehe an meine Zigarette.
"Ach ja? Nervös mach ich dich, ja?". Hannes wird langsam aggressiv. "Weißt du, wie verdammt nervös mich das macht, dass der so lange braucht?"
Ich nicke, ich kann ihn gut verstehen. Dennis ist mittags losgegangen, und jetzt ist es schon Abend.
"Vielleicht besorgt er sich von dem Geklautem Stoff und springt jetzt völlig abgedreht darum", versuche ich eine Erklärung zu finden.
"Nein". Hannes bleibt stehen.
"Daran glaubst du doch selbst nicht!" Er geht weiter. Nein, daran glaube ich tatsächlich nicht.
Ich glaube zu wissen, was mit Dennis passiert ist.
Und ich glaube auch zu wissen, dass die anderen das gleiche vermuten wie ich. Dennis wurde geschnappt und hockt jetzt in irgendeiner Polizeidienststelle herum und wartet darauf, dass sie ihn laufen lassen.
Es wird später und später. Dennis taucht nicht auf.
Vielleicht halten sie ihn bis morgen früh fest und lassen ihn dann erst wieder gehen. Feste glaube ich daran.
Er kommt morgen wieder, ganz bestimmt. Morgen, wenn ich aufwache, sitzt er neben mir und raucht. Ganz bestimmt.
Müde schließe ich die Augen und krieche tiefer in Dennis Schlafsack. Ich freue mich auf den Morgen und darauf, Dennis wiederzusehen.
Natürlich ist er am Morgen nicht da. Schweigend schauen wir drei uns aus verschlafenen Augen an.
"Können die ihn für so was überhaupt einbuchten?". Hannes Stimme klingt leise und er weiß, dass die Antwort "Ja" lautet, sonst wäre sein Kumpel ja schon längst wieder hier. Niemand antwortet auf seine Frage.
Dennis sitzt hinter Gittern. Obwohl keiner von uns das jemals sagt, wissen wir es alle.
Es wird langsam wieder wärmer, doch das Schweigen und die Angst um Dennis lassen sich nicht auftauen.
Diese Angst kann einen wahnsinnig machen!
Und die Unsicherheit. Natürlich wissen wir nicht wirklich, ob sie ihn eingesperrt haben, er kann auch einfach so abgehauen sein. Weil er keinen Bock mehr auf uns hat.
Bei Hannes bröckelt als erstes die Maske, die er die ganze Zeit aufgesetzt hat. Er ist wieder offen für uns. Er sieht nicht mehr optimistisch aus, sondern jetzt strahlen seine Augen nackte Einsamkeit aus. Immer öfter springt er plötzlich auf und rennt weg. Wenn er, wie es selten der Fall ist, am selben Tag noch zurück kommt, ist er sturzbetrunken.
Ich renne nicht vor der Einsamkeit weg, ich versinke in ihr. Bleibe einfach da sitzen und starre ausdruckslos vor mich hin.
Nope ist der Nächste, der seine Gefühle nicht mehr unter Kontrolle halten kann. Nachts ist er oft weg, vermutlich um zu sprayen, und dann sitze ich hier alleine herum, in Dennis Schlafsack, und frage mich, ob das alles so richtig ist, wie es ist.
Ich warte. Nicht auf Nope, nicht auf Hannes. Ich warte auf Dennis. Dass er irgendwann vor mir steht. Einfach wieder da ist. Und wir wieder zu viert sind.
Eines Nachts, als ich es nicht mehr aushalte, hier zu sitzen, schleiche ich Nope nach. Verblüffender Weise nimmt er die Straße, um zu seinem nächsten Spray-Ziel zu kommen. Er schlägt sich nicht versteckt durchs Unterholz, sondern läuft einfach offen hier herum, so dass ihn jeder sehen kann.
Erst nach einem ziemlich weitem Weg komme ich darauf, dass er gar nicht sprayen geht. Aber wo geht er stattdessen hin?
Er biegt in eine ruhige Wohnstraße ab und geht bis zum Ende der Gasse. Dort bleibt er stehen, vor einem vierstöckigen Haus. Die ganze Außenmauer des Erdgeschosses ist bunt besprüht. Die Farben sind perfekt auf einander abgestimmt. Es sind keine Kritzeleien, es ist ein großes Kunstwerk. Erstaunlich, so etwas Gutes hinzubekommen. Wer das wohl gemacht hat?
Nope geht zum Eingang und drückt auf einen der Klingelknöpfe. Nichts passiert. Er drückt wieder. Immer noch nichts. Dann lässt er den Finger auf dem Knopf liegen. Ich höre die Klingel im dritten Stock schrillen. Niemand öffnet. Wen er wohl besuchen will?
Ich lege den Kopf in den Nacken und schaue hoch zu den Fenstern des dritten Stocks. Sie haben keine Vorhänge. Wohnt da überhaupt jemand? Wohnt in dem ganzen Haus überhaupt irgendwer? Man hätte sich doch bestimmt schon über Nopes Klingeln um diese späte Uhrzeit beschwert.
Und wenn da keiner wohnt, was sucht er dann hier?
Nope räuspert sich, dann spricht er in die Sprechanlage, obwohl die gar nicht aktiv ist.
"Mama, ich bin's, bitte mach auf!"
Natürlich passiert nichts. Doch das scheint ihn gerade in Rage zu bringen. "Mensch, Mama, glaub mir doch. Ich bin es wirklich, lass mich rein!" ruft er verzweifelt.
Nichts.
Langsam lässt er sich an der Hauswand hinuntergleiten, bis er auf dem Boden sitzt, und stützt den Kopf auf die Hände. Seine Augen wandern zu der Mülltonne, hinter der ich sitze. Ich zucke zusammen. Wenn er mich jetzt sieht, dann ist es vorbei! Aus. Schluss.
"Komm raus, Lola. Ich weiß, dass du da bist."
Mein Herz rast, ich rühre mich nicht.
"Ich bring dich nicht um. Komm her, ich erzähl dir von meiner Familie."
Ich verlasse mein Versteck und hocke mich nach einigem Zögern neben ihn.
"Du willst mir also was von deiner Familie erzählen. Soso."
"Ja, ich möchte dir etwas über mich erzählen."
"Und warum so plötzlich? Du warst doch sonst so unglaublich verschlossen. Und jetzt kommst du an mit: "Komm her, ich möchte dir ein wenig von meiner Familie erzählen"?“
Ich runzle die Stirn. Ja, ich bin äußerst skeptisch.
"Mensch, denk doch nicht gleich was Schlechtes! Immer denkst du, dass dir etwas passiert oder du in eine Falle tappst!". Er grinst mich an. Ich schweige verbissen. Ja, und das denke ich noch immer.
"Seit Dennis, na ja, weg ist, hat sich viel verändert. Hannes dreht mittlerweile völlig durch und ich habe mich entschlossen, dir gegenüber ein bisschen offener zu sein. Ich habe oft das Gefühl, dass du nicht weißt, was du von mir halten sollst, stimmt's?"
Ich schürze die Lippen und gebe keine Antwort. Ja, er hat recht. Ich habe noch nie gewusst, was er für einer ist.
"Gut. Und wenn ich etwas über mich erzählen soll, fange ich am besten mit meiner Familie an. Oder besser gesagt, mit meiner Mutter, einen Vater habe ich nicht. Doch, natürlich habe ich einen, aber ich kenne ihn nicht. Eigentlich ist meine Geschichte gar nicht so lang. In dem Haus", er klopft mit der flachen Hand gegen die besprühte Hauswand, "haben wir gewohnt. Vierzehn Jahre lang. Es war ganz cool, meine Mutter war immer locker drauf, wenn's ums lange Wegbleiben ging. Vermutlich war sie das, weil sie keine große Lust auf Auseinandersetzungen mit ihrem pubertierenden Sprössling hatte". Er lächelt leicht.
"Natürlich hatte das so meine Vorteile für mich, wie du dir vorstellen kannst. Meine Mutter war aber auch sonst keine wirklich konsequente Frau. Ich hatte das Gefühl, das sie Angst hatte, ich könnte ihr über den Kopf wachsen. Und dann müsste irgendwann das Jugendamt kommen, dann Heim oder Knast und so. Also ließ sie mich direkt alles machen, um es zu gar keinen Streitereien kommen zu lassen, über die sich die Nachbarn hinterher beschweren könnten. Tja, zu ihrem Geburtstag hatte ich eine ganz tolle Idee, was ich ihr schenken könnte. Ich war schon immer sehr gut in Kunst gewesen und ein früherer Kumpel hatte mir den Umgang mit Spray-Dosen gezeigt. Und da meine Mutter die Hauswand total öde fand und das auch oft genug äußerte, sich aber nie traute, zur Hausverwaltung zu gehen, sprühte ich die Wand an."
"Das warst du?", unterbreche ich ihn ungläubig. Er nickt.
"Ja. Das hätte ich natürlich niemals machen dürfen. Die Nachbarn haben das sofort bei der Hausverwaltung gemeldet und dann hieß es raus für uns, sofort. Das hat meine Mutter nicht verkraftet. Da wir ohnehin schlecht bei Kasse waren, bedeutet das das Ende. Sie entfernte sich immer weiter von mir. Sie sagte es nie, aber ich wusste, dass sie so dachte: Ich war daran schuld, das wir ausziehen mussten. Das machte mich fertig, dass ihre Augen das so klar sagten. Eines Tages sagte sie beim Abendessen: "Geh, wenn du willst, Junge. Das mit ner neuen Wohnung schaffen wir nicht. Ich zieh zu meinem Vater. Du darfst gehen." Das war's dann. Ich packte meine Sachen und drückte meine Mutter zum Abschied fest."
Schweigen.
Ich weiß nicht, was ich denken soll. Hat Nope richtig gehandelt? Hätte er seine Mutter gerade in dieser Situation nicht unterstützen sollen?
"Aber deine Mutter hat dich nicht Nope genannt, oder?". Keine Ahnung, warum ich das frage. Vielleicht, weil ich denke, das er mir jetzt so weit vertraut, dass er mir das sagt.
"Wen interessiert das schon?", antwortet er. Ich bin verblüfft. Die Geschichte mit seiner Mutter und das alles erzählt er mir, aber er verrät mir nicht, ob er wirklich Nope heißt? Will er das noch von sich festhalten? Will er noch etwas haben, was er mir nicht erzählt hat? Kann ja gut sein. Ich kenne ihn ja nicht.
"Aber dass du jetzt nicht denkst, das ich verrückt bin oder so, ja?". Er lacht.
"Warum sollte ich das denken?"
"Na, weil ich mitten in der Nacht ein für deine Begriffe wildfremdes Haus aufsuche und Sturm klingele."
"Ich habe auch so meine Macken."
"Ja, eine Macke kann man es nennen. Eine Macke aus der Kindheit. Wenn ich mich alleine fühle, komm ich hier her und klingel bei meiner Mutter, in der Hoffnung, dass sie da wohnt und dass sie mich zu sich in die Wohnung lässt. Lächerlich, nicht wahr?". Ich schüttle den Kopf.
"Ich habe auch dem Teddybären meiner Schwester "Lebe wohl" gesagt, als ich ihr den Abschiedsbrief auf das Kopfkissen gelegt habe und gegangen bin". Er lacht nicht.
"Du hast Geschwister?", fragt er nur. Ich nicke.
"Ja. Sechs."
"Sechs?". Er zieht eine Augenbraue hoch.
"Da war der Abschied doch bestimmt total schwer. Und wenn Ihr sieben Kinder im Haus seid, dann wohnen doch bestimmt noch beide Elternteile bei Euch, oder?"
"Ja. Aber mein Vater arbeitet im Ausland und ist eh nie da. Der schleppt dann das ganze Geld nach Hause. Würde meine Mutter nicht auch noch bis mittags arbeiten, würde das alles gar nicht hinhauen“. Ich sehe es Nope an, das es ihm schwerfällt, sich neun Personen in einem Haus vorzustellen.
"Komm, wir gehen zurück. Wenn Hannes schon wieder zurück ist, hat der uns bestimmt schon alles nach einem einzigen Tropfen Alkohol durchgegraben." Nope steht auf und zieht mich ebenfalls auf die Füße.
Das mit Hannes hatte er eben als kleinen Scherz gemeint, aber wir lachen beide nicht. Dafür ist die Situation für uns drei momentan zu schwierig. So alleine, ohne Dennis.
Wir warten auf Dennis Rückkehr. Auf die Rückkehr eines guten Freundes, der uns oft genug genervt hat.
Jeder von uns wartet auf seine Art und Weise.
Hannes wartet, indem er sich zu jeder sich bietenden Gelegenheit volllaufen lässt, um das Gefühl der Einsamkeit zu verdrängen.
Nope schweigt die ganze Zeit. Er redet mit keinem von uns. Sitzt nur einfach stumm da und starrt an die Steinmauer.
Ich weiß nicht, warum ich bei jedem Geräusch zusammenzucke und dann für einen kleinen Augenblick ein freudiges Feuer in mir fühle. Dennis ist wieder da!, denke ich dann und halte nach ihm Ausschau. Aber nein, Dennis ist nicht da.
Ich weiß, diese einfach hergeholte Zahl hört sich so unglaublich banal an, aber wir warten wirklich so lange. Eineinhalb Jahre. Sechs Jahreszeiten lang. Doch auch im Winter, wenn wir eng aneinander gedrängt dasitzen, ist der Eisklumpen, den jeder mit sich herumträgt, seit sie Dennis in den Knast gesteckt haben, nicht zum Tauen zu bringen.
Im Sommer, wenn Hannes und Nope mit roten Gesichtern und nacktem Oberkörpern da sitzen und vor sich hin schwitzen, taut er kein bisschen. Auch wenn im Frühling die Vögel anfangen zu trällern oder im Herbst die Blätter von den Bäumen geweht werden, ist der eiskalte Klotz ganz tief in unserm Magen.
Eineinhalb Jahre sind eine lange Zeit.
Mittlerweile bin ich 19 Jahre alt. Doch das auch nur, weil ich weiß, wann ich geboren bin und weiß, was wir jetzt für ein Jahr haben.
Gefeiert haben wir nie. Nicht meinen, nicht den von Hannes, nicht den von Nope.
Am Morgen meines Geburtstages bin ich nicht mit dem freudigen Gefühl aufgewacht: Ich habe Geburtstag. Endlich 18! Was sie mir wohl schenken?
Am Ende des Jahres habe ich nur gedacht, ein Jahr rum, ein Jahr älter.
Doch natürlich weiß ich, an welchem Tag ich Geburtstag habe. Am 16. April, und der war vor einer Woche.
An diesem Tag, es war ein Dienstag, habe ich mir keine extra Flasche Bier gegönnt, auch keine extra Zigarette, dafür war das Geld zu knapp. Nein, ich habe einfach nur gedacht: Und wieder ein Jahr älter. 19 Jahre nun.
Das Geld ist schon seit Dennis Verschwinden knapp. Ab und an geht Hannes, wenn er nicht als zu betrunken ist, in die Stadt und greift hier und da mal in Handtaschen. Aber wirklich viel bringt er nicht mit.
Wenn er mit Nope zusammen loszieht, wozu sich Nope nur äußerst selten aufraffen kann, kommt auch mal eine Packung Zigaretten für jeden von uns raus, aber für Drogen reicht die Kohle noch lange nicht.
Ich weiß noch immer nicht, wie ich aussehe. Seit zwei Jahren habe ich nicht mehr in den Spiegel geschaut und traue mich auch nicht. Ich will mich nicht sehen. Jeder Mensch, der auf der Straße lebt, sieht schrecklich aus. Und wenn er raucht und säuft sieht er noch viel schlimmer aus.
Vielleicht sehe ich ja so heruntergekommen aus wie zuletzt Flo. Ein alter Kopf auf einem jungen Körper. Der mittlerweile 16-Jährige ist nicht mehr bei uns. Er hat uns vor einem halben Jahr verlassen. Er und Nope haben einen langen Blick getauscht, dann ist er mit seinem zusammengerollten Schlafsack und einer Flasche Bier in der Hand den Abhang hoch und für immer verschwunden.
Dennis Verschwinden hat auch jedem von uns körperlich zugesetzt.
Ich esse kaum noch etwas, dazu fehlt auch teilweise das Geld, aber wenn Hannes ein paar Burger von Mäckes mitbringt, sehe ich ihn wieder. Dennis, wie er grinsend das Papier abwickelt und heißhungrig hinein beißt. Dann vergeht mir schlagartig der Appetit.
Nope hat schon immer sehr viel geraucht, viel mehr als ich. Doch jetzt wird das Geld durch seine Zigaretten knapp. Aber keiner von uns traut sich, etwas dagegen zu sagen. Er verschwindet zum Kiosk, kommt mit einer Zigarette im Mundwinkel wieder und bleibt daran den Rest des Tages hängen. Es scheint ihn festzuhalten, dieses Rauchen. Damit er nicht von der Einsamkeit von den Füßen gerissen wird.
Ich glaube, manchmal hat er ein schlechtes Gewissen. Er hat Hannes ja damals davon abzuhalten, seinem Kumpel zum Bahnhof zu folgen.
Hannes ist der hohe Alkoholgenuss mittlerweile auch von außen deutlich anzusehen. Wie er da steht, mit hängenden Schultern, den stumpfen dunklen Augen, die er vor lauter Müdigkeit kaum noch aufhalten kann. Seine Körperhaltung ist mittlerweile genauso schlaff wie sein Mund, die Schultern lässt er hängen. Wenn ich ihn so unglücklich sehe, denke ich, dass er sich so etwas mit Absicht antut. Er scheint zu wollen, das sein Körper irgendwann aufgibt. Er will das alles nicht mehr ertragen müssen.
So alleine fühlt man sich in einer Gruppe.
Drei Leute sind wir und dennoch völlig alleine mit unseren Gefühlen und Gedanken.
Lernt man Vernunft erst im Gefängnis?
Hier war ich glücklich! Ich bin es noch immer. Auch ohne Alkohol spüre ich das Gefühl, das mich mit diesem Ort verbindet. Es ist etwas Besonderes. Und das Leben erscheint kurz, mit den vielen Filmrissen, die ich nach dem Trinken habe. Nicht so unerträglich lang. Ich habe meine Familie gefunden, für immer. Und jetzt werde ich auf mein neues Leben anstoßen. Prost Dennis! Prost Hannes! Prost Nope! Prost Familie! Prost Nelly! Prost schönes Leben!
~Nelly~
Und dann steht er da plötzlich. Ungeschickt ist er den Abhang hinunter geklettert. Dennis!, ist mein erste Gedanke, als ich ihn sehe. Doch ist das wirklich Dennis, der ja kerzengerade vor uns steht? Er sieht anders aus. Die schwarzen Haare kurz geschnitten, einen Vollbart trägt er. Seine hellen Augen sagen nichts. Stumm liegen sie auf uns dreien, wie wir ihn anstarren.
Nein, das ist nicht Dennis.
Ich finde als erstes meine Sprache wieder.
"Dennis", hauche ich, mehr schaffe ich nicht.
"Hallo", sagt er.
Seine Stimme ist dunkel und klingt so fremd, und gleichzeitig könnte ich aufschreien. Ja, das ist Dennis! Er schaut mir genau in die Augen.
"Hallo, Lola". Er lächelt nicht.
"Mein Gott, Dennis!". Nope springt auf. Langsam geht er auf seinen Freund zu. Vor ihm bleibt er stehen und reicht ihm die Hand. Dennis greift kräftig zu.
"Hallo, Nope." Wieder lächelt er nicht.
Hannes sagt gar nichts. Es scheint nicht in seinen Kopf rein zu gehen, dass er wieder da ist.
"Hallo, Hannes", begrüßt ihn Dennis. Keine Reaktion von dem Angesprochenen.
Unbeholfen krieche ich aus Dennis Schlafsack und klopfe auffordernd darauf. Er zögert kurz, dann setzt er sich neben mich. Langes Schweigen herrscht.
"Ihr habt auf mich gewartet". Er schaut Nope lange an. Der nickt.
"Du hast uns gefehlt, Dennis". Hannes bringt diesen Satz krächzend zustanden.
"Ihr mir auch." Er zündet sich keine Zigarette an, wie er es früher immer getan hat. Hat er mit dem Rauchen aufgehört? Oder vielleicht hat er ja auch gar keine mehr. Sie haben sie ihm bestimmt abgenommen.
Ich biete ihm eine an. Er nimmt sie, zündet sie sich an und zieht kräftig daran. Diese alte Gewohnheit lässt auch Nope aus der Starre erwachen.
"Wir haben dir immer eine Bierflasche aufbewahrt, Dennis". Er reicht sie ihm. Ganz langsam kriecht ein Lächeln über seine Lippen.
"Seit 18 Monaten das erste Bier. Danke." Er schießt den Korken weg und nimmt einen tiefen Schluck. Wieder Schweigen.
"Und was habt Ihr die Zeit lang so gemacht?", fragt er. "Ohne mich", setzt er hinzu.
"Nicht viel", antworte ich flüsternd.
"Aber Ihr seht scheiße aus."
Darüber muss ich lachen. Am liebsten würde ich ihm um den Hals fallen. Ja, er ist wieder unter uns. Mit der Offenheit, seine Meinung zu äußern.
"Tja, Hannes hat die Einsamkeit ohne Dich nicht ertragen und das Saufen angefangen". Nope grinst Hannes an, der die Augen verdreht und seufzt.
"Einsamkeit?". Dennis zieht die Augenbraue in die Höhe.
"Sag nicht, dass du schwul bist und dich in mich verknallt hast, ne!"
Lachen aus vier Mündern. Ich wusste, dass dieses Gefühl irgendwann wieder kommt. Das Warten hat sich gelohnt.
Die Dunkelheit hüllt uns ein. Doch diesmal zusammen, sie trennt uns nicht voneinander. Wir reden nicht viel, schauen uns einfach stumm an.
Irgendwann überkommt mich die Müdigkeit. Gähnend rolle ich mich in meinem Schlafsack zusammen und schließe die Augen. Mit einem freudigen Feuer in meinem Magen. Und das kommt bestimmt nicht von Hochprozentigem oder Pillen
Dennoch schlafe ich schlecht. Die Augen kann ich kaum geschlossen halten, muss sie immer wieder aufreißen und Dennis anstarren. Muss mich versichern, dass er wirklich da ist. Von einer Seite auf die andere rolle ich mich, versuche mich irgendwie in den Schlaf zu wiegen. Vermutlich ist es schon früher Morgen, als sich auch die anderen zur Ruhe legen. Mit offenen Augen starre ich in die Dunkelheit. Nach einiger Zeit schnarcht Nope neben mir und Hannes beginnt zu brummeln. Beide eingeschlafen. Jetzt bin ich alleine. Nein, Dennis ist liegt ja noch neben mir.
"Im Gefängnis habe ich viel gelernt“. Obwohl ich weiß, das Dennis wach ist, zucke ich zusammen.
"Ich weiß jetzt, was Vernunft bedeutet."
"Und? Was bedeutet Vernunft?"
"Euch Bescheid zu sagen."
"Wir wissen, dass wir gefährlich leben."
"Das meine ich nicht. Ihr wisst gar nicht, was Ihr Euch antut."
"Ach? Was tun wir uns denn an? Jetzt sag nicht, dass Bier und Zigaretten ungesund sind. Das weiß ich selber." Irgendwie bin ich sauer. Vielleicht, weil ich ihm tief in meinem Innersten zustimme.
"Das meine ich auch nicht. Jeden Tag könnt Ihr froh sein, dass Ihr aufwacht. Nicht in der Nacht erfroren seid. Lola, was Du für ein Glück hast, dass du dir noch keine Lungenentzündung geholt hast."
"Wir können uns keine Bude leisten, weißt du."
"Ja, das weiß ich. Aber, Mädel, du bist jetzt 19 Jahre alt. Suche dir einen Job und verdiene dein Geld."
"Als Obdachlose habe ich keine Chance."
"Natürlich hast du eine Chance. Es gibt Organisationen, die dir von jetzt auf gleich eine Stelle und eine Wohnung besorgen."
"Das machen die, weil die Mitleid mit uns haben. Ich will aber nicht bemitleidet werden und außerdem will ich den Leuten ihre Jobs nicht wegnehmen."
Dennis seufzt.
"Ja, es kann sein, dass die Mitleid mit uns haben. Aber Du nimmst den anderen die Stelle nicht weg. Nur: Du musst ein bisschen was dafür tun."
"Ja, eben, und das will ich ja nicht!"
"Aber irgendwann werden Hannes und Nope dich verlassen. Vielleicht noch in diesem Jahr.-"
"Wenn Du sie dazu anstiftest!", unterbreche ich ihn.
"Nein, Lola. Wenn ich Euch so angucke, wird es nicht lange dauern, bis Ihr freiwillig das Jugendamt oder eine Klinik aufsucht."
"Jetzt mach hier nicht einen auf Oberschlau! Nur weil's Dir im Knast gut ging. Ein gemütliches Bett, warmes Essen, ein Dach über dem Kopf."
"Die Matratze war hart, das Essen mäßig, und ich hatte jede Nacht Schiss, dass die Decke runter fällt, so, wie die aussah", erwidert er.
"Und warum hast Du Dir nicht eine Stelle gesucht und Antrag auf eine Sozialwohnung gestellt?"
"Weil ich es auch als Vernunft ansehe, Euch davon zu erzählen, worüber ich mir Gedanken gemacht habe."
"Und uns von deiner Scheiß Meinung zu überzeugen, ja?"
"Nein. Und jetzt Gute Nacht!"
Er dreht mir den Rücken zu und kurz danach fängt er leise an zu schnarchen. Er schläft.
Lange liege ich da und denke über seine Worte nach.
Am Morgen bin ich die erste, die aufwacht. Die anderen wecke ich nicht. Sie liegen alle so friedlich da. Dennis und Nope eingerollt, Hannes alle Viere weit von sich gestreckt. Er scheint wieder glücklich zu sein.
Ich klettere den Abhang hoch und gehe den Weg entlang, den ich noch immer nicht vergessen habe. Heute ist Sonntag. Auf der Straße fahren nicht viele Autos. Dann kommt die Landstraße und der Abhang, an dem ich in Nope rein gerutscht bin. Wie lange ist das schon her? Zwei Jahre?
Und dann ist da die Siedlung. Meine Siedlung.
Langsam gehe ich zu meinem Haus. Mein Blick wandert zum dem einen Fenster im vierten Stock. Habe ich da mal gewohnt? Wie habe ich das ausgehalten?
Ich nehme eine kleine Bewegung ein Stockwerk tiefer wahr. Sophie steht im Nachthemd am Fenster. Hat sie mich erkannt? Wie? Ich bin zwei Jahre älter geworden und bin bestimmt total abgemagert und dreckig. Doch sie erkennt mich. Vorsichtig presst sie eine Hand an die Fensterscheibe. Ich starre sie an. Auch sie hat sich verändert. Die lockigen Haare gehen ihr jetzt bis über die Schultern, das Gesicht ist lang und schmal geworden. Meine Augen finde ich in ihrem Gesicht. Große grau-grüne Mandelaugen. Da hat meine Mutter mich noch einmal: Sophie sieht genau so aus wie ich damals vor vielen Jahren. Wie alt ist sie? Sechs? Oder doch schon sieben?
Meine Schwester dreht sich kurz vom Fenster weg und kommt dann mit meiner Mutter an der Hand wieder. Ich stolpere ein paar Schritte zurück und starre die beiden an. Mutter und Tochter.
Meine Mutter schaut ausdruckslos auf mich herab. Meine Schwester hat angefangen zu weinen. Das sehe ich an ihrem verzerrten Gesicht.
Dann zieht meine Mutter ruckartig die Vorhänge zu und die beiden sind verschwunden.
Ich brauche lange, bis ich mich und davonrenne. Immer nur rennen, niemals anhalten.
Erst wenn ich bei meiner neuen Familie angekommen bin. Bei Nope, Hannes, Dennis und der Brücke.
Ende
Tag der Veröffentlichung: 19.02.2011
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