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1. Kapitel

Vicky saß alleine in dem nach Zigarettenqualm stinkenden Zugabteil und starrte aus dem verstaubten Fenster. Seit sie vom Hamburger Hauptbahnhof abgefahren waren, hatten die hohen Fabrik- und Wohnhäuser großen Wiesen und Stoppelfeldern Platz gemacht.
Auf den meisten Weiden standen Rinder und Schafe und hier und da ein paar Pferde, die noch nicht mal den Kopf hoben, wenn der Zug an ihnen vorbeiraste.
Vicky seufzte, schlug die Beine übereinander und schaute lustlos auf die ihr gegenüberliegende, mit Edding beschmierte Wand. Konnte nicht irgend-wann mal eine Ablenkung kommen? Der Schaffner und auch der Imbisswagen waren schon längst durch und Frau Gerudus nahm sicher gerade das nächstbeste Taxi, um endlich zu ihrer Enkelin zu kommen.
Die ältere Dame mit dem polnischen Akzent und den rot gefärbten Haaren hatte Vicky an Oma Lotta erinnert. Nur war ihre Oma nicht so alt gewesen, aber trotzdem lebte sie schon seit einem Jahr nicht mehr.
Von Frau Gerudus hatte sie erfahren, dass sie schon 95 Jahre alt war und trotzdem noch reisen konnte. Sie war in Neustadt, einem Vorort von Lübeck, zugestiegen und hatte sich zu Vicky ins Abteil gesetzt.
Während die beiden Kekse aßen und Tee tranken, hatte die Dame ununterbrochen von ihrer zweijährigen Enkelin Pia geplappert. Vicky hatte geduldig zugehört, ab und zu gelacht, bis Frau Gerudus dann hinter Lüneburg aussteigen musste. Das war vor zwei Stunden gewesen, und jetzt saß sie wieder alleine da.
Der Zug ruckelte. Sie nahm an, dass er gerade das Gleis wechselte, und vermutete darum, dass der nächste Bahnhof nicht weit weg sein konnte.
Sie stand auf und angelte ihren Koffer aus dem Gepäcknetz. Der nächste Halt musste ihrer sein. Laut Fahrplan sollte der Zug um 14:35 Uhr in Kiel ankommen, und auf ihrer Armbanduhr war es 14:32.
Vicky schob ihr Gepäck auf den Flur und ging zur Tür. Jetzt strömten die Reisenden aus den anderen Abteilen und der ohnehin schon schmale Gang wurde vollgepackt. Wenn Vicky grob überschlug, standen dort mehr Koffer und Taschen als Leute. Wo wollten die alle hin? Es waren ja schließlich noch keine Ferien!
Der Zug wurde langsamer und sie sah jetzt auch andere Gleise. Ein ICE fuhr am Nebengleis ein und die Menschen schwirrten wie Bienenschwärme zur Rolltreppe, die jetzt schon zu sehen war. Der Zug bremste ruckartig, so dass Vicky sich gerade noch an dem Feuerlöscher neben der Toilette festhalten konnte. Mann! Musste der unbedingt so in die Eisen gehen?!
Die Türen öffneten sich zischend und sie wuchtete ihren Koffer auf den Bahnsteig. Suchend schaute sie sich um. Wo war denn hier der Abgang zur Haupthalle?
Wie an einem störenden Hindernis drängten sich die Leute an ihr vorbei zur Rolltreppe. Ein Kleinkind schrie, ein bulliger Mann schob schnell seine Koffer an Vicky vorbei und ging winkend auf eine kleine, braungebrannte Frau zu, die über das ganze Gesicht strahlte. Vicky seufzte und stellte ihren Koffer ab. War sie die einzige Fremde hier?
Der Zug hatte mittlerweile die Türen wieder geschlossen und Vicky zuckte zusammen, als durch den Lautsprecher über ihrem Kopf die Abfahrt angekündigt wurde. Kurzerhand folgte sie einem alten Ehepaar zur Treppe und schleppte ihr Gepäck in die Eingangshalle hinunter.
Dort stellte sie ihren Koffer neben dem Aufzug ab, damit der Griff ihr nicht weiter die Finger abschnüren konnte.
„Okay, jetzt nur nicht den Kopf verlieren“, versuchte sie sich zu beruhigen. Es gab kein Zurück mehr, das wusste Vicky. Also schaute sie sich aufmerksam um. Rechts ging es zu Gleis 7/8, daneben war eine Bäckerei. Gegenüber lagen die Toiletten.
Vicky wurde von dem Gespräch neben sich abgelenkt.
„Neeeeiiiiin, ich will nich in den Kinderwagen!“, rief ein kleiner Junge und versuchte sich aus den Armen seiner Mutter zu winden. Doch die große blonde Frau hielt ihren Sohn fest.
„Will Taxi laufen“, brüllte der Junge und heulte los, als die Frau ihn anschnallte.
„Taxi?“ Vicky horchte auf. Sie brauchte doch auch ein Taxi! Mit schnellen Schritten folgte sie der kleinen Familie auf den Vorplatz. Dort angekommen, lotsten sie Vicky auch noch direkt zum Taxistand. Wie praktisch!
Sie suchte sich das erste der gelblichen Autos. Der Fahrer verstaute ihr Gepäck im Kofferraum und Vicky ließ sich auf den Beifahrerplatz plumpsen.
„Wo soll es denn hingehen?“, fragte er mit tiefer Stimme. Dann fuhr er einem seiner Kollegen hinterher, bis zur Kreuzung, wo er den rechten Blinker in Richtung Hauptstraße setzte.
„Ähm...“ - Vicky kramte in ihrer Jackentasche. Wo war denn bloß der Zettel mit der Anschrift? Schließlich fand sie ihn und drückte ihn dem jungen Mann in die Hand. Der warf einen Blick darauf, gab ihn Vicky zurück und reihte sich im Kreisverkehr ein.
„Da wollen alle Mädchen hin, nicht wahr?“, fragte er lächelnd, als er auf die Bundesstraße fuhr.
Vicky nickte und schaute aus dem Seitenfenster. Jetzt konnten ihre Beine ruhig weich wie Butter werde, sie kam nicht mehr zurück. Münster wurde immer unerreichbarer, mit jedem Kilometer, den sie zurücklegten.


2.Kapitel

Sie fuhren eine ganze Weile schweigend. Nach einer halben Stunde schaltete der Taxifahrer das Radio an und pfiff im Takt der Musik.
„Wir sind gleich da“, unterbrach er Vickys Gedanken und bog in einen breiten Feldweg hinein, der eigentlich gar keiner mehr war. Er hatte einige Kurven, aber kaum Schlaglöcher.
„Komisch!“, dachte Vicky, „Überall diese gottverlassene Gegend und hier ein komplett geteerter Weg. Anscheinend ist das Pferde-Internat doch reich.“
Der Taxifahrer bog um die letzte Kurve und bremste.
„So, meine Dame. Wir sind da“, sagte er und stieg grinsend aus. Vicky wollte es ihm nachtun, aber ihre Finger rührten sich nicht. Der Taxifahrer hatte inzwischen die Kofferraumklappe geöffnet und hievte ihr Gepäck heraus. Schließlich zwang Vicky sich dazu, den Sicherheitsgurt zu öffnen und auszusteigen.
„Du bist wohl aufgeregt“, stellte der Mann fest und ging zur Fahrertür. „Ich wünsch' dir eine schöne Zeit hier - und fall' nicht vom Pferd, ja!?“
Sie nickte, obwohl sie gar nicht zugehört hatte. Wie betäubt stand sie neben ihrem Koffer und starrte dem Taxi hinterher. Ganz langsam schulterte sie ihren Rucksack und ging zögernd durch das offen stehende schwarze Eisentor.
In der Mitte des kreisrunden Platzes lag ein umzäuntes Stück Rasen, auf dem ein großer Kirschbaum in voller Pracht seine vielen rosa Blüten trug. Schön sah das aus!
Vicky ließ ihren Blick weiter schweifen. Von ihr aus gesehen lagen im Norden drei große, längliche Stallgebäude mit jeweils einer Weide dahinter, auf der einige Pferde standen und in Ruhe grasten. Rechts daneben folgten drei überdimensionale Gebäude, anscheinend die Reithallen für Spring-, Dressur- und Westernreiten.
Als Vicky nun geradeaus schaute, sah sie es: das Internatsgebäude. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um die Spitzen der beiden Türme zu sehen. Eine breite Marmortreppe führte zur Eingangshalle.
Das war also für die nächsten fünf Jahre ihre Heimat.
Vicky ging die Treppe hoch, schob die Tür mit der Schulter auf und stand in einem langen Flur. Am Ende lag eine doppelflügelige Tür, links konnte man durch eine Glastür in einen Speisesaal blicken, rechts führte eine breite Treppe in die oberen Stockwerke.
Vicky ging zielstrebig auf die hölzerne Tür zu und klopfte an. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.
„Herein!“
Ihre Hände waren feucht, als sie die Klinke herunterdrückte. Sie trat in ein altmodisches Büro. In der Mitte stand ein großer Schreibtisch, auf dem stapelweise Ordner lagen. An den Wänden befanden sich Regale und Schränke. Vor dem Schreibtisch warteten zwei mit rotem Samt bezogene Stühle auf Besucher. Auf den Fensterbänken thronten Grünpflanzen und durch die Fenster sah man auf eine Wiese voller Löwenzahn und Gänseb-lümchen.
Die Frau hinter dem Schreibtisch blickte auf. Sie trug eine kleine rote Brille auf der Nase und rote Lockenhaare fielen über ihre Schultern. Jetzt lächelte sie und nahm die Brille ab.
„Hallo!“ Ihre Stimme war tief und warm.
„Du bist bestimmt Vicky Jost, unsere Neue.“ Sie erhob sich von ihrem ledernen Chefsessel und reichte Vicky die Hand.
„Ich bin Frau Dr. Paulus, die Schulleiterin auf Schloss Hohensee. Setz' dich doch!“ Sie deutete auf einen der gepolsterten Stühle.
„Ich habe heute Vormittag mit deinem Vater gesprochen“.
Frau Dr. Paulus erklärte Vicky alles, führte sie später über den Hof und zeigte ihr auch die Stallungen, die Reithallen und die Wiesen. Zum Schluss drückte sie ihr jede Menge Papierkram in die Hände.
Nach einer anstrengenden Stunde stand Vicky auf dem Flur und rief sich noch mal alles in Erinnerung, was die Schulleiterin eben gesagt hatte:
Von Montag bis Freitag vormittags vier Stunden Schulunterricht und dann nachmittags noch zwei Stunden Reitunterricht in der Springhalle bei Herrn Ullmann. Jeden zweiten Samstag kam der Bus und brachte alle Internatsschüler in die Stadt, zum Shoppen, Eis essen oder zum Bummeln. Am Mittwoch war Ruhetag für die Pferde, also wurde dann nicht geritten. Sonntags war normalerweise der Tag zum Ausreiten.
Die Schlafräume der Mädchen befanden sich im linken Turm, die für die Jungen im rechten. Im Hauptgebäude lagen die Unterrichtsräume und, wie sie eben richtig vermutet hatte, die Mensa. Die Chefköchin hieß Frau Witting und hasste es, wenn die Schüler zu spät zum Essen kamen oder gar etwas an ihrem Essen auszusetzen hatten.
Nachtruhe herrschte um halb zehn für die Fünft- und Sechstklässler, für die siebten bis zwölften Klassen war halb elf in Ordnung.
Es gab drei Stallgebäude, für Stuten, Wallache und Hengste. Einige der Internatsschüler hatten ihre eigenen Pferde mitgebracht, aber die waren dennoch bei den Schul- und Pflegepferden im Stall. Zweimal im Jahr gab es ein großes Turnier und für jede Abgangsklasse einen großen Abschlussball.
Im Unterricht war das Tragen von Reitkleidung verboten. Das musste Vicky sich gut merken.

Mit langen Schritten überquerte sie den Hof und ging in den Mädchenturm. Während sie die Treppe hinauflief, schaute sie nochmal nach, welches Zimmer sie hatte. 214, das hieß im zweiten Stock. Vicky schnaufte, als sie vor ihrer Tür stand, schließlich war ihr Koffer nicht der Leichteste.
Im Erdgeschoss lag der Gemeinschaftsraum und am Ende jedes Flurs führte eine breite Tür zum Waschraum, der mit Toiletten, Duschen und Waschbecken ausgestattet war. Das hieß, dass Vicky sich zukünftig Dusche und Waschbecken mit den Zimmergenossinnen teilen musste. Na ja!
Sie klopfte an.
Niemand öffnete, also trat Vicky einfach ein.
Das Zimmer war klein. An der rechten und linken Wand stand je ein Bett, daneben ein schmaler Kleiderschrank. Einen Schreibtisch gab es nicht, nur neben jedem Bett einen Nachttisch. Auf dem linken Bett saß ein Mädchen und blickte mit ausdrucksloser Miene auf ein Bild, das sie in den Händen hielt.
„Hi“, sagte Vicky, „ich bin die Neue.“
Das Mädchen hob den Kopf und starrte Vicky einen Moment lang an.
„Hab‘ schon gehört“, sagte sie trocken, stellte das Bild auf ihren Nachtisch, schlüpfte in schwarze Reitstiefel und marschierte ohne ein weiteres Wort an Vicky vorbei zur Tür.
Vicky seufzte und ließ sich auf das unbezogene Bett fallen.
„Das fängt ja gut an“, dachte sie und legte die neuen Schulbücher und -hefte neben sich.
Eine ganze Weile schaute sie aus dem Fenster und dachte an gar nichts. Doch dann raffte sie sich auf und begann ihren Koffer auszupacken.
Sie räumte die Schulsachen auf einen freien Regelboden im Schrank, hängte T-Shirts, Pullover, Strickjacken und Westen auf Bügel, stellte ihre Schuhe und die Reitstiefeletten nach ganz unten und begann dann die ordentlich gefalteten Jeans auf die Regalböden zu verteilen. Nach einer kleinen Verschnaufpause bezog Vicky ihr Bett mit der blau-weiß gestreiften Bettwäsche und schob ihren Koffer unter das Bett. Dann stellte sie das Bild von ihrer Rappstute Bellatrix auf den Nachtisch, direkt neben das ihres Vaters.
Zusammen mit ihm hatte sie auf dem Reiterhof der Familie Jost gelebt. Ihr großer Bruder Daniel war schon längst ausgezogen und ihre Mutter Josefine, von allen „Josie“ genannt, war vor fünf Jahren bei einem Reitunfall ums Leben gekommen. Vicky versuchte, nicht daran zu denken. Damals war sie neun Jahre alt gewesen und hatte den Unfall miterlebt. Es tat ihr weh, dass ihr Vater jetzt allein auf dem Hof lebte. Zwar hatte er noch seine Schwester, die mithalf, und auch drei Stallknechte, die sich um die Pferde kümmerten. Aber seine einzige Tochter war ihm heute Morgen noch so nah gewesen, und jetzt lebte sie für lange Zeit in einem Internat etliche Kilometer von ihm entfernt.
Nein, der Wunsch ihres Vaters war es nicht, seine Tochter weg zu geben.
Aber es musste sein. Vicky hatte jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen müssen, um trotz der Stallarbeit rechtzeitig um acht in der Schule zu sein. Sie war auch erst um 18 Uhr zuhause angekommen - und das war nicht gut. Vicky war oft krank gewesen, auch mal mehrere Wochen lang, und sie hatte keine Freunde in der Nähe, die ihr bei den Hausaufgaben hätten helfen können.
Eines guten Tages hatte ein Bericht über das Internat „Schloss Hohensee“ in der Zeitung gestanden und Vicky hatte ihren Vater so lange bearbeitet, bis er sie endlich in den Zug gesetzt hatte. Er tröstete sich damit, dass es seiner Tochter jetzt besser gehen würde und sie die Chance auf einen guten Abschluss hatte. „Schloss Hohensee“ war jetzt ihre neue Heimat. Ihr Zuhause.
Vicky schüttelte sich. Sie vermisste ihren Vater und Bellatrix schon jetzt.


3.Kapitel

Vicky wollte nicht länger herumsitzen und Heimweh haben. Sie wollte endlich ihr Pflegepferd sehen. Schnell zog sie sich Reithose, Sweatshirt und Turnschuhe an und lief auf den Hof. Die letzten paar Meter zum Wallachstall rannte sie. Sie solle einfach den Stallmeister Paul ansprechen, er wisse Bescheid, hatte Frau Dr. Paulus gesagt.
Vicky war völlig außer Atem, als sie an Pauls Bürotür klopfte. Niemand antwortete. Sie klopfte nochmal. Nichts. Vicky drückte die Klinke. Abgeschlossen. Sollte sie jetzt hier auf Paul warten, oder ihn doch lieber suchen?
Vicky entschied sich für die zweite Möglichkeit und lief um das Stallgebäude herum.
Sie entdeckte niemanden. Konnte er auf der Weide sein? Vicky lief nochmal zur Weide zurück. Tatsächlich: Ein älterer Mann kam zum Tor, gefolgt von einem kräftigen Hannoveraner. Dessen rotes Fell glänzte in der Sonne.
„Suchst du jemanden?“, fragt der Mann, als er das Tor aufschob und mit dem Wallach zum Stall ging.
„Ja“, Vicky folgte den beiden auf dem Fuße, „ich suche Sie. Ich bin Vicky Jost, die Neue. Ich würde gerne mein Pflegepferd kennenlernen.“
Paul lachte laut, so dass der Hannoveraner verwundert die Ohren spitzte.
„Die Jost also“. Paul schob die letzte Boxentür auf, nahm dem Pferd das Halfter ab und gab ihm einen auffordernden Klaps auf das Hinterteil. Der Wallach schnaubte und stürzte sich sofort auf den Futtertrog. Paul schob die Boxentür zu und hängte das Halfter auf einen verrosteten Haken neben der Box.
„Das ganze Internat erwartet dich schon“, Paul ging zu der gegenüberliegenden Box, „und ich bin der erste, der die Ehre hat, dich kennen zu lernen.“
Er schob die Boxentür auf und trat zur Seite.
„Voilà! Das ist Freddy. Er hat schon auf dich gewartet.“ Vicky ging mit weichen Knien in die Box. Sie stand Auge in Auge mit einem schlanken, braun-weißen Schecken mit einem kleinen Stern zwischen den Nüstern. Er hatte große, dunkle Augen, aus denen er Vicky jetzt erwartungsvoll anschaute.
„Hallo“, flüsterte Vicky und fuhr vorsichtig mit der Hand über seinen Hals. Er schnaubte und schnupperte an ihren Fingern.
„Die Futterkammer ist da hinten, gegenüber den Sattelspinden.“ Paul sprach gedämpft, damit er Vicky und Freddy nicht bei ihrem ersten Kennenlernen störte.
„Der Futterplan hängt neben der Futterkammer. Putz' Freddy jetzt am besten ein bisschen über und bring ihn dann auf die Wiese. Du kannst ihn dann heute nach dem Abendessen wieder 'reinholen.“ Vicky nickte nur stumm und Paul entfernte sich.
Immer wieder strich Vicky über die weichen Nüstern und Freddy drängte seinen Kopf an ihre Schulter. Schließlich streifte sie ihm das rote Nylon-Halfter über und führte ihn auf die Stallgasse hinaus. Sie band ihn fest, holte den Putzkasten aus dem Sattelspind und begann ihr Pflegepferd liebevoll zu pflegen.
Sie war gerade dabei, ihm den Schweif zu entwirren, als sie das Klappern von Hufen hörte. Sie blickte zur Tür. Ein Mädchen führte einen großen Rappen an ihr vorbei. Vicky drängte Freddy etwas an die Boxentür, um die beiden vorbei zu lassen.
Warnend legten beide Wallache die Ohren an und Freddy hob den Kopf so hoch, dass der Führstrick straff gespannt war. Vicky konnte das Weiße in seinen Augen sehen. Beruhigend strich sie ihm über den Hals.
„Unsere Pferde vertragen sich wohl nicht so.“ Das Mädchen band den Rappen zwei Ringe weiter an. Er kam offenbar gerade von der Weide - eine dicke Schlammkruste zog sich über seine Beine. Freddy hatte sich wieder beruhigt, denn er senkte den Kopf und seine Ohren spielten.
„Wie heißt dein Pferd denn?“, wollte Vicky wissen und kramte den Hufkratzer aus dem Putzkasten.
„Furfur“, antwortete das Mädchen und ließ den Eisenstriegel mit kräftigen Bewegungen über Furfurs Körper kreisen, dass es nur so staubte.
„Und ich bin Jessi. Du bist doch die Neue, Vicky, nicht wahr?“ Vicky nickte und hob Freddys linken Hinterhuf an. Eine Weile putzten die Mädchen schweigend ihre Pferde.
Nun ja, Jessi schwieg nicht wirklich. Sie redete ununterbrochen auf ihren Wallach ein, der immer wieder mit dem Vorderhuf auf dem Steinboden scharrte, die Ohren anlegte, wenn Freddy schnaubte, und ständig seinen Kopf an den Gitterstäben rieb.
„Jetzt lass das mal“, schimpfte Jessi und gab Furfur einen unsanften Klaps auf die Kruppe, „gib mir mal lieber deinen Hinterhuf.“ Furfur schnaubte, schüttelte den Kopf und blieb starr wie ein Denkmal stehen. Erst als Jessis Stimme lauter wurde und das Mädchen ihren Wallach enger an den Ring band, so dass er den Kopf weder hochreißen noch schütteln konnte, spitzte er die Ohren und gab Jessi bereitwillig den Huf.
„Ist dein Pferd immer so?“. Vicky war mittlerweile fertig und lehnte mit verschränkten Armen an der Wand. Jessi schüttelte den Kopf. Sie hatte alle Mühe, den Huf zu halten.
„Normalerweise nicht. Nur wenn Freddy da ist.“
„Was reitest du?“, wechselte Vicky das Thema. Jessi setzte Furfurs Huf ab und fuhr nochmal mit bloßen Händen durch seinen schwarzen, dichten Schweif.
„Dressur. E-Dressur“, antwortete sie dann und ging zum Sattelspind, um den Putzkasten wegzubringen und dafür Sattel und Trense zu holen. Vicky strich Freddy über die Stirn und der Wallach schnaubte genießerisch. Am Stallende rumpelte es und Furfur spitzte neugierig die Ohren.
„Und du?“. Jessi war wieder da.
„Springen.“ Vicky hatte noch einen dreckigen Strohhalm in Freddys Mähne gefunden und fischte ihn heraus.
„Ich reite gleich auf den Dressuraußenplatz. Willst du mir ein bisschen zuschauen?“
Jessi hievte den schwarzen Sattel auf Furfurs Rücken und der Wallach begann unruhig zu tänzeln. Sie zog die weiße Satteldecke zurecht und begann den Sattelgurt festzuziehen.
„Mann, du Fettsack, mach dich nicht so dick“, schnaufte Jessi. Sie bekam den Sattelgurt gerade mal in das erste Loch!
„Hoffentlich bist du nicht auch so“, murmelte Vicky und kraulte ihrem Pflegepferd den Widerrist.
„Ganz bestimmt nicht“. Jessi war gerade dabei, Furfur das Halfter abzuneh-men.
„Der ist zahm wie ein Schoßhund. Was ist, willst du mir gleich zugucken?“
Vicky nickte und schaute sich Jessi genauer an. Sie trug eine dunkelblaue Reithose, schwarze Reitstiefel und eine rote Bluse. Ihre strohblonden Haare gingen ihr bis zur Hüfte.
„Wie alt ist Furfur eigentlich?“. Vicky fuhr Freddy durch die weiß-braun gescheckte Mähne. Der Wallach knabberte an ihrem Hemdsärmel herum.
„Oh, der ist noch jung!“. Jessi zurrte den Nasenriemen der Trense nochmal fester und griff nach seinen Zügeln,
„Gerade mal 4 Jahre. Freddy ist schon ein bisschen älter, 6 Jahre. Wo willst denn du mit Freddy hin?“
Jessi führte Furfur zur Tür. Freddy folgte Vicky nur widerstrebend. Schließ-lich fasste sie ihn direkt am Karabiner und zog ihn hinter sich her.
„Wie Jessi wohl reitet?“, dachte sie, als sie rechts zur Weide abbog.
„Wenn sie E-Dressur reitet, muss sie doch schon viel Erfahrung haben.“
Vicky öffnete das verrostete Eisentor. Nur noch an wenigen Stellen konnte man die eigentliche Farbe erkennen: Grün war es gewesen, bevor der Regen vieler Jahre seine Spuren hinterlassen hatte. Freddy spitzte die Ohren, als er das Quietschen der Angeln hörte. Jetzt ging es auf die Weide, das wusste er. Vicky spürte seine Anspannung, er war bereit loszugaloppieren.
Sie wollte ihn nicht länger daran hindern, also nahm sie ihm das Halfter ab und gab ihn einen nachdrücklichen Klaps. Freddy schaute sie einen Moment lang mit seinen großen braunen Augen an.
„Na, lauf schon, mein Kleiner“, flüsterte Vicky, „du willst es doch, ich sehe es dir an.“
Der Wallach stieß ein schrilles Wiehern aus und galoppierte mit kräftigen Sätzen davon. Einen Moment stand Vicky noch am Zaun und schaute Freddy hinterher, der drei scharfe Bocksprünge hintereinander machte.
„Dem geht's gut“, dachte Vicky, als sie zur Dressurhalle ging.
Jessi war gerade dabei, sich die schwarze Reitkappe auf den Kopf zu ziehen, als Vicky auf den Zaun kletterte und sich auf den weißen Holzlatten nieder-ließ.
„Ich habe nur Freddy auf die Weide gebracht“, beantwortete sie Jessis fragenden Blick.
„Mann, du hättest sehen sollen, wie der sich gefreut hat, als ich ihm das Halfter abgenommen habe!“ Vicky kicherte und Jessi nickte.
„Bei Furfur ist das auch so“. Es gab ein klackendes Geräusch, als sie die die Steigbügel herunterzog und um zwei Löcher kürzer stellte.
Furfur war wie ausgewechselt. Er senkte den Kopf und stieß mit den Nüstern seine Reiterin an, die den Sattel nachgurtete. Seine Ohren spielten und seine schwarze Mähne flatterte im Wind. Auf der Weide wieherte ein Pferd, Furfur antwortete leise.
Jessi stellte den linken Fuß in den Steigbügel und saß mit nur ein wenig Schwung im Sattel. Selbst als sie die Zügel aufnahm und leise mit der Zunge schnalzte, tänzelte der Wallach nicht, sondern stellte konzentriert die Ohren auf und ging in einem langsamen Schritt seine Runden. Aber zum Warm-werden reichte das Tempo. Auch als Furfur an Vicky vorbeiging, schaute Jessi geradeaus und trieb ihn mit den Schenkeln vorwärts. Sie war vollkommen auf sich und ihr Pferd konzentriert.
Vicky mochte diese Stimmung zwischen Pferd und Mensch. Sie liebte sie sogar. Ja, damals, als sie fast jeden Tag mit Bellatrix ausgeritten war, hatte sie die Umgebung gar nicht wahrgenommen. Sie wusste nur, dass sie im Wald an Bäumen und Büschen vorbei ritt. Aber hätte sie jemand nach der Jagdhütte gefragt - sie hätte nicht antworten können. Vicky hatte in den Ferien viele Kinder-Ausritte auf Ponys angeführt. Sie war immer an der Spitze geritten und hatte aufgepasst, dass niemanden etwas passierte, aber sie wusste nie, wo sie entlang ritten.
Doch zum Glück hatte sie die kleinen, trittsicheren, zotteligen Pferde dabei. Die wussten immer, wo es lang ging. Egal wie unsicher ihre unerfahrenen Reiter noch waren, so schnell ging keines der Ponys in die Luft. Manche von ihnen waren sogar intelligenter als die Großen.
An einen Moment konnte Vicky sich gut erinnern. Sie war vor etwa einem halben Jahr mit einer kleinen Gruppe in den Bergen gewesen. Ein zierliches Mädchen von gerade mal 5 Jahren hatte auf einmal losgeschrien, weil ihr Norweger Sverre zu schnell in den Trab gefallen war. Zudem war das Mädchen auch noch als vorletzte geritten, also ziemlich weit hinten. Bellatrix erschreckte das so sehr, dass sie einen kurzen Galopp einlegte. Aber Sverre und auch die anderen Ponys taten so, als ob gar nichts gewesen wäre. Vicky bekam die Stute zwar noch in einen gleichmäßigen Trab, aber das war wirklich ein Erlebnis gewesen.

Jessi parierte Furfur durch und gurtete nochmal nach. Diesmal hatte der Wallach keine Chance; Jessi zog den Gurt so fest, dass Vicky sich wunderte, warum Furfur plötzlich so schmal war. Das Mädchen hatte die ganze Luft aus ihm herausgequetscht. Jessi ritt noch eine Runde im Schritt und trabte dann an. Furfur schnaubte willig und seine Reiterin nahm den Entlastungssitz ein. Ihr Rücken war gerade, die Daumen oben. Sie trieb ihr Pferd energisch mit der Gerte voran.
„Sie scheint ihr Pferd ja gut zu kennen“, dachte Vicky, als Jessi aussaß und Furfur angaloppierte, als hätte man einen Knopf gedrückt. Er hatte große, raumgreifende Bewegungen. Und obwohl es Vicky so schien, als ob er einen harten Galopp hätte, passte Jessi sich geschmeidig seinen Bewegungen an. Wie zwei Teile eines Puzzles, die zusammen gehören, drehte Jessi auf Furfur ihre Runden. Eine. Zwei. Drei. Vier.
„Mann, muss der 'ne Kondition haben“, dachte Vicky und so etwas wie Bewunderung stieg in ihr auf.
Es schien ihr wie eine Ewigkeit, als Jessi endlich Furfur zum Trab zügelte. Und dann auch noch im Trab sechs, sieben Runden! Als die beiden an Vicky vorbeiritten, sah sie noch nicht mal, dass er schwitzte.
„Mensch, ist das ein Pferd“, dachte sie. Die beiden ritten noch zwei Runden im Trab, dann parierte Jessi den Wallach durch, damit er etwas Luft holen konnte. Sie ritt auf dem Hufschlag und nach zwei Runden forderte sie ihn wieder zum Trab. Diesmal lenkte sie auf den Zirkel für drei Runden, dann galoppierte sie auf der linken Hand an, wechselte durch die halbe Bahn und ließ Furfur wie auf dem Zirkel gehen. Der Wallach war hochkonzentriert. Mit gespitzten Ohren und gestrecktem Hals reagierte er auf die leichtesten Kommandos. Jessi hatte mittlerweile die Zügel noch kürzer genommen und Furfur begann den Hals zu wölben und stieß mit dem Kopf fast an seine doch schon leicht nasse Brust. Jessi lächelte, als sie ihn wieder zum Traben brachte und auf dem Hufschlag ritt. Vicky fehlten die Worte, mit offenem Mund schaute sie den beiden bei der Arbeit zu. Jessi ließ ihr Pferd noch einmal durch die halbe Bahn wechseln, bevor sie ihn durchparierte. Der Wallach schnaubte erschöpft, doch Jessi hatte nur wenig Lob für ihn. Sie strich ihm über den Hals und begann dann die schon gespannten Zügel noch mehr aufzunehmen.
„Was hat er denn falsch gemacht?“, grübelte Vicky. War er nicht gut gewesen? Klar war er das! Super war er! Ein klasse Dressur-Pferd. War Jessi so geizig mit Lob? Vicky kam einfach nicht drauf.
Plötzlich begann Furfur wieder zu tänzeln. Was hatte ihn denn nun nervös gemacht? Eine Fliege, oder doch das Klappern von Hufen vor der Dressurhal-le? Doch dann fiel Vicky auf, dass der Wallach absichtlich tänzelte. Hatte Jessi ihn dazu gebracht, nervös zu werden? Das leuchte Vicky nicht ein. Aber er hatte die Ohren gespitzt und das Aufkommen der Hufe auf dem Sand gab auch einen gleichmäßigen Rhythmus.
„Vielleicht ist das ja eine Figur in der Dressur“, überlegte sie und schaute den beiden gespannt zu. Jessi saß aus, aber Furfur galoppierte nicht an. Eins-zwei, eins-zwei, eins-zwei, es war immer der gleiche Takt, in dem die Hufe den Sand berührten. Vicky hatte im Kopf mitgezählt.
Nachdem Jessi die dritte Runde beendet hatte, hatte Vicky einen Ohrwurm von dem Eins-Zwei, Eins-Zwei der Hufe. Jessi ließ sich die Zügel aus der Hand kauen und der Wallach biss genüsslich auf der Trense herum. Erschöpft streckte er den Hals und drehte mit spielenden Ohren seine Abreit-Runden. Jessi hielt jetzt die hängenden Zügel mit einer Hand und trieb ihr Pferd nicht mehr. Sie drehte den Kopf zu Vicky herum und lächelte sie an. Vicky wollte gerade in die Hände klatschen, aber da fiel ihr ein, dass sie nicht wusste, wie Furfur darauf reagieren würde.
„Aber er müsste es doch eigentlich gewöhnt sein“, dachte sie, „bis zur E-Dressur nimmt man doch schon an ziemlich vielen Turnieren teil!“ Und wie die Zuschauer dort klatschten, wusste sie von ihren eigenen Besuchen. Jessi zügelte den Wallach in der Mitte der Bahn und stieg ab. Sie schnallte den Sattelgurt ein paar Löcher länger und zog die Steigbügel hoch. Dann klopfte sie ihm ausgiebig den Hals und führte ihn zum Tor.
Jetzt hielt Vicky es nicht mehr aus. Sie klatschte, bis ihre Hände ganz taub waren. Furfur hob den Kopf und senkte ihn danach wieder. Es sah aus, als würde er sich verbeugen. Jessi grinste breit, als Vicky auf sie zu gerannt kam.
„Du warst spitze“, rief sie und applaudierte nochmal. Jessi schloss das Tor hinter sich und machte einen kleinen Knicks.
„Wow!“, war Vickys einziges Wort, als sie Jessi in den Stall folgte.
„Hilfst du mir beim Absatteln?“. Jessi schnallte Furfurs Zaumzeug auf und ließ ihm das Gebiss aus dem Maul gleiten. Vicky antwortete nicht, sondern begann direkt den Dressursattel von Furfurs Rücken zu nehmen.
„Wo hast du das denn alles gelernt?“. Die beiden Mädchen gingen zum Sattelspind.
„Bei meiner Freundin, die hatte einen Pferdehof mit ihren Eltern, und dann bin ich halt in den Ferien in die Eifel gefahren“. Jessi griff zum Wasser-schlauch und drehte den Hahn auf.
„Als meine Eltern sich getrennt haben, bin ich zu Jenny gezogen. Wir sind geritten und gemeinsam haben wir die Schule im Dorf besucht. Nach zwei Jahren bin ich dann mit dem Zug in die Schweiz zurückgefahren, um meine Eltern zu besuchen. Mama war von ihrem Chef gekündigt worden und wohnte jetzt in einer kleinen Wohnung mitten in der Stadt. Papa war zu seinen Brüdern nach Polen zurück gezogen und lebte auf dem Bauernhof seiner Schwester. Obwohl Mama das große Haus am Meer verkaufte, das uns mal gehört hatte, gab das nicht viel Geld. Ich war total fertig, als Mama dann anfing zu trinken. Eine Weile blieb ich noch bei ihr, dann beschloss ich, abermals zu Jenny zu fliehen. Sie nahmen mich gerne auf und drei Jahre teilte ich mir mit Jenny das große Zimmer unterm Dach.
Eines Tages steckte ein Brief meines Vaters im Briefkasten. Er schrieb viel über seine Heimat und dass er jetzt in einem kleinen Haus lebte. Er wollte mich endlich sehen. Er könne sich kaum noch an mich erinnern. Meine Mutter erwähnte er mit keinem Wort. Das machte mich traurig und wütend. Schließlich hatte sie sich gut um mich gekümmert, bevor sie dann begann, ihre Sorgen im Alkohol zu ertränken. Er nannte mich sein mutiges Mädchen. Das Geld, mit dem ich die Fahrt zu ihm bezahlen sollte, hatte er mitgeschickt. Wenig später packte ich meine Sachen und verabschiedete mich vorläufig von Jenny und ihren Eltern.
Bei meinem Vater blieb ich nicht lange, ungefähr einen Monat. Ich hatte es gut bei ihm und er brachte mich mit dem Auto zur Schule. In der Zeit verbesserte sich mein Polnisch auch sehr. Doch ich sehnte mich nach einem Pferderücken, nach dem Geruch von Stall und das Gefühl, mit Pferden glücklich zu sein.
Einmal in der Woche ritt ich auf einem Pferdehof, aber keines der Pferde besaß Dressurtalent. Zudem waren die Reitstunden auch noch sehr teuer. Papa war zwar nicht arm, aber er sah nicht ein, für eine halbe Stunde, in der ich mit meinem Pferd an der Longe im Kreis herumgeführt wurde, 20 Euro zu zahlen. Also hörte ich mit dem Reiten auf und verbrachte die Zeit, indem ich für die Schule paukte. Mein Vater fand es nicht gut, dass ich wieder zurückwollte, aber ich erklärte ihm, dass ich ohne Pferde nicht leben kann.
Er sah es ein und dafür liebe ich meinen Vater. Mama hätte es für unsinnig gehalten. An einem Montagmorgen, als ich die Zeitung aus dem Briefkasten holte, sah ich die Anzeige des „Hohensee“-Internats. Es suchte ein paar erfahrene Reiter für die Dressur. Mein Vater streikte sofort, als ihm vorbete-te, wie glücklich ich da sein würde. Doch dann begann ich die Nächte durch zu weinen und nichts mehr zu essen.
Ich nahm nur zwei Kilo ab, bis mein Vater mich mit drei riesigen Koffern zum Bahnhof fuhr und in den Zug nach Kiel setzte. Es war mein zwölfter Geburts-tag gewesen. Hier fand ich mich dann gut ein. Die Paulus war zufrieden mit meinen Leistungen in der Schule und auf dem Pferderücken. Ich ritt Freddy in die Dressur ein und gewann ein paar Preise. Zu meinem 13. Geburtstag bekam ich dann Furfur - Mama und Papa hatten zusammengelegt. Das machte mich so glücklich, dass ich beschloss, mich bei Mama persönlich zu bedanken. Die Turnierpreise bestanden aus ganz ordentlichen Summen und so konnte ich die Fahrt in die Schweiz bezahlen. Mama wohnte mit ihrem neuen Lebensgefährten in einem kleinen Haus am Waldrand. Sie war glücklich mit James, und ich freute mich für sie. Ich mochte James sehr, er war sympathisch und kümmerte sich rührend um Mama. Nach einer Woche verabschiedete ich mich von den beiden, mit dem Versprechen, sie bald wieder zu besuchen. Furfur und ich verstanden uns super, aber Freddy vergaß ich dadurch nicht. Einmal in der Woche ritt ich mit ihm aus und morgens gab ich ihm immer eine große Möhre.“ Sie machte eine kleine Pause.
„Aber jetzt kannst du ja diese Rolle für mich übernehmen. Und das finde ich auch völlig in Ordnung.“


4.Kapitel

Vicky lehnte wie versteinert an Furfurs Sattelspind und starrte an die Decke.
„Das war ja echt krass: Die Eltern trennen sich und die Mutter fängt an zu trinken“, dachte sie schockiert und schüttelte den Kopf.
„Das muss doch total heftig für dich gewesen sein!“ Vicky öffnete den Spind und hängte den Sattel auf die Stange.
Jessi zuckte mit den Schultern. Sie drehte den Hahn zu und ließ die Trense abtropfen, dann hängte sie sie neben den Sattel, holte die Abschwitzdecke heraus und schlug die Tür zu.
„Was ist mit deinen Eltern? Sind die noch zusammen?“ Jessi drückte Vicky die Fleecedecke in den Arm und nahm Furfurs Führstrick. Vicky schüttelte den Kopf und schaute zu Boden. Sie wollte nicht darüber reden und schon gar nicht mit Jessi, die sie kaum kannte. Jessi führte den Wallach zum Waschplatz und begann, seine Beine mit lauwarmem Wasser abzuspritzen. Furfur schnaubte.
„Willst du nicht darüber reden?“. Jessi ging um ihr Pferd herum und spritzte die andere Seite ab. Vicky biss die Zähne zusammen und sagte mit rauer Stimme:
„Meine Mutter lebt nicht mehr, sie ist vor drei Jahren vom Pferd gestürzt.“
Immer, wenn sie von Josie erzählte, hatte sie diesen dicken, kratzenden Kloß im Hals. Jessi schaute betroffen auf. Vicky versuchte zu lächeln, aber es misslang kläglich.
Sie räusperte sich und sagte dann etwas fester:
„Aber ich bin schon fast darüber hinweg“. Was für eine gute Lügnerin sie doch war! Tränen brannten in ihren Augen. Sie zog die Nase hoch und konzentrierte sich darauf, nicht eine einzige Träne vor Jessi zu vergießen. Die schwieg und rubbelte Furfurs Beine mit einem schon reichlich dreckigen Frottiertuch trocken.
„In welcher Klasse kommst du eigentlich?“, wechselte Jessi geschickt das Thema. Vicky war ihr dankbar dafür. Sie überlegte einen Moment. Welche Klasse hatte Frau Dr. Paulus genannt? Die 7b oder die 7a?
„Ich glaube, in die 7b“, sagte Vicky und warf Furfur die braune Decke über den Rücken.
„Das ist ja der Hammer!“, entfuhr es Jessi, als sie die Hanfschnur nahm und der Wallach gemütlich hinter ihr her trottete.
„In der gleichen Klasse bin ich auch!“. Sie war mittlerweile an Furfurs Box angekommen und schob die Tür auf. Vicky schnallte noch schnell die Decke unter seinem Bauch fest, bevor Jessi ihm das grüne Halfter abnahm und eine Möhre in den leeren Futtertrog legte. Furfur verspeiste sie blitzschnell, als befürchtete er, Jessi könnte sie ihm wieder wegnehmen. Vicky lächelte bei der Vorstellung.
Das Klappern von Hufen war zu hören. Die Mädchen drehten sich um. Ein Junge führte einen langbeinigen Schimmel zur ersten Box, nahm dem Pferd das Halfter ab, klopfte ihm den Hals und schob die Tür dann zu. Erst jetzt entdeckte er die beiden und kam mit langen Schritten auf sie zu. Vicky sah aus dem Augenwinkel, wie Jessi ganz weiß wurde, die Schultern straffte und die Lippen zusammenpresste, ihre Hände ballte sie zu Fäusten.
„Dich hab ich hier noch nie gesehen“. Der Junge war bei ihnen angekommen und schaute Vicky grinsend an.
„Dann bist du bestimmt Vicky, die Neue. Du musst wissen: Hier kennt jeder jeden, und wenn man jemanden nicht kennt, ist es ein Neuer.“ Vicky nickte. Die Stimme des Jungen war rau und leise. Er trug eine braune Reithose mit schwarzem Einsatz. Sein T-Shirt war grau und schon ziemlich verwaschen, aber es sah nicht vergammelt aus. Die festen Armmuskeln fielen Vicky sofort auf. Warum klopfte ihr Herz so seltsam schnell?
„Ich bin Nico Klinger“. Er reichte ihr seine große, kräftige Hand. Vicky schüttelte sie und schluckte schwer. Erst jetzt wagte sie es, ihm ins Gesicht zu sehen. Er hatte ausgeprägte Wangenknochen und eine schmale, gerade Nase. Seine Augen waren fast schwarz und seine langen Wimpern warfen Schatten auf seine Wangen. Er hatte kurze, schwarze Haare, die zu seiner gebräunten Haut passten. Nicos Lächeln war breit und herzlich und ließ seine weißen Zähne sehen. Als sein Blick ganz kurz zu Jessi huschte, spannte sein Körper sich an.
„Hallo, Jessi“. Das Lächeln war von seinen Lippen verschwunden.
„Hallo, Nico“, stieß Jessi hervor. Ihre Hände zitterten und ihre Lippen bebten, Tränen standen ihr in den Augen. Sie stolperte zur Tür. Vicky hörte sie noch schluchzen. Nico starrte ihr eine Weile hinterher und seine Hände zitterten ebenfalls.
„Kennst du Jessi?“, riss Vicky ihn aus seinen Gedanken. Nico drehte sich langsam um. Sein Gesicht sah jetzt viel älter aus, mit den traurig dreinbli-ckenden Augen, den angespannten Zügen und den zusammengekniffenen Lippen. Er zwinkerte ein paarmal, den Blick auf den Boden geheftet.
„Ja, ich kenne sie sehr gut“. Er klang reserviert und stopfte seine Hände in die Hosentaschen.
„Es war nett, dich kennen zu lernen“. Ein klitzekleines, trauriges Lächeln erschien. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und lief zur Tür.
„Was war denn das?“, dachte Vicky überrascht. Auf jeden Fall gefiel ihr dieser Nico, aber was war das eben mit Jessi und ihm? Einen Moment noch blieb sie im Stall, dann ging sie über den Hof zum Mädchenturm.


5.Kapitel

Ihre Zimmergenossin lag bäuchlings auf ihrem Bett und las irgendein Buch. Vicky ließ sich auf das andere Bett fallen. Das Mädchen beachtete sie gar nicht, also schaute Vicky sie sich mal genauer an. Ihre streichholzkurzen braunen Haare wurden von einem schwarzen Stirnband zurückgehalten. Sie trug eine graue Röhrenjeans und ein weißes Kapuzen-Shirt. Das machte Vicky darauf aufmerksam, dass sie sich auch umziehen musste. Sie trug ja noch Reithose und Turnschuhe, und das T-Shirt roch unglaublich nach Pferd! Angewidert schlüpfte sie in Jeans und einen lila Pullover, die Reitsachen hängte sie auf einen Bügel zum Auslüften.
Jetzt saß sie wieder auf ihrem Bett und wusste nicht, was sie tun sollte. Dann viel ihr siedend heiß ein, dass sie ihren Vater ja noch gar nicht angerufen hatte.
„Hoffentlich macht er sich keine Sorgen“, dachte sie unruhig, als sie das Handy aus der Nachttischschublade nahm und die Nummer vom Pferdehof Vesterland eintippte. Nach dem dritten Klingeln nahm ihr Vater ab:
„Pferdehof Vesterland - schönen Tag, was kann ich für Sie tun?“ Vicky grinste innerlich.
„Papa, ich bin's! Hier ist es echt super! Mein Pflegepferd ist klasse, es ist voll lieb, heißt Freddy und ist ein Schecke. Die Leute hier sind auch cool. Ich habe sogar schon jemanden kennen gelernt. Sie heißt Jessi, kann super Dressur reiten und geht in meine Klasse. Mein Zimmer ist klasse und die Direktorin auch.“ Vicky schnaufte, sie hatte viel zu schnell gesprochen. Ihr Vater schwieg eine Weile, dann lachte er laut los.
„So viel hast du noch nie geredet!“ Er fügte hinzu: „Gefällt es dir echt so sehr?“
„Ja!“. Vicky schrie fast. „So was habe ich noch nie gesehen.“ Langsam bekam sie ein schlechtes Gewissen.
„Aber Vesterland ist natürlich immer noch das Beste, was man sich wünschen kann.“ Ihr Vater lachte wieder.
„Das will ich doch hoffen!“ Eine Weile sagte keiner was, dann flüsterte Vicky:
„Aber die Sehnsucht nach dir, Daniel und den Pferden kann ich nur hier aushalten. Wo das Leben weiter geht und wo es so viel Arbeit gibt, so dass ich gar kein Heimweh haben kann, verstehst du?“
„Das verstehe ich sehr gut. Ich weiß noch, wie du bei Oma Frieda immer geweint hast, weil du die meiste Zeit im Garten gesessen und die Ziegen und Hühner angestarrt hast. Die einzige Arbeit war, das Geschirr abzuspülen und Staub zu saugen.“ Ihr Vater sprach ebenfalls leise.
Vicky bekam jetzt noch mehr Heimweh. Wie konnte er sich noch so gut daran erinnern? Hatte es ihm so weh getan?
„Es tut mir schrecklich leid, aber einer meiner Reitschüler fragt nach mir. Ich muss Schluss machen. Ruf mich einfach an, wenn was ist. Und vergiss das nie: Ich hab dich unheimlich lieb!“ In der Leitung tutete es.
Langsam ließ sie den Hörer sinken und schaute zu Boden.
„Ein Reitschüler ist Papa also wichtiger als ich“, dachte sie traurig und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Sonst war ihr Vater doch so bemüht um sie, und jetzt ließ er sie einfach hängen. Es gab doch so viel zu erzählen.
„Warum rege ich mich eigentlich so auf?“, überlegte Vicky und ballte die Hände zu Fäusten. „Es ist doch alles super hier!“
„Gar nichts ist super hier“, flüsterte eine Stimme in ihr.
„Hast du mal an deine Zimmergenossin gedacht, deren Name du noch gar nicht weißt? Die dich schon jetzt als Gegnerin sieht, obwohl du gar nichts gemacht hast?“ Vicky musterte sie abschätzend. Mit gerunzelter Stirn brütete diese über dem Buch und brummelte vor sich hin. Vicky verstand nicht, was sie sagte.
„Hängt du eigentlich immer über dem...?“, Vicky kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, was das für ein Buch war. Sie erkannte die Formel, die auf der rechten Seite stand. Es war die Formel für die Berechnung der Dichte eines Stoffes. Jetzt runzelte auch sie die Stirn. War die Dichteberechnung jetzt Physik oder doch Chemie? Nachdem sie in ihrem Gedächtnis gekramt hatte, entschied sie sich für Physik.
„...Physik-Buch?“, beendete sie den Satz. Das Mädchen blickte auf und schaute Vicky verdutzt an.
„Das ist Chemie“, entgegnete sie schließlich und schlug das Buch zu. Vicky zuckte die Schultern. Wenigstens hatte sie das Mädchen endlich mal aus ihrer Erstarrung holen können!
Zufrieden mit sich und der Welt grinste sie. Doch ihrer Zimmergenossin schien das gar nicht zu gefallen. Sie warf Vicky einen gereizten Blick zu und rauschte aus dem Zimmer. Nicht ohne die Tür mit viel Schwung zuzuknallen. Vicky war überrascht.
„Super!“, dachte sie und das siegesgewisse Lächeln verschwand.
„Jetzt habe ich sie auch noch verjagt“. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Es war fünf nach fünf.
„Und noch 25 Minuten bis zum Essen“, fügte sie hinzu und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Kurzerhand kramte sie die Bürste aus ihrem Kultur-beutel und bürste sich die Haare, bis sie wieder glatt auf ihren Schultern lagen, nahm ihr Zopfgummi vom Handgelenk und machte sich einen wippenden Pferdeschwanz.
Das hatte jetzt auch nicht länger als drei Minuten gedauert. Sie stöhnte.
Vicky überlegte einen Moment und angelte dann ihren IPod aus der Hosentasche. Sie ließ sich aber nicht lange von Rihanna und Justin Bieber volldudeln. Sonst hatte sie immer total Lust darauf, aber heute nicht. Worauf hatte sie überhaupt Lust? Vicky erhob sich vom Bett und ging zum Fenster.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass es gar kein Fenster, sondern eine Glastür war. Sie öffnete sie und trat auf den kleinen Balkon hinaus. Ein lauer Frühlingswind wehte ihr den Pony aus dem Gesicht. Neben ihr ging noch eine Tür auf den Balkon. Vicky spähte vorsichtig in das Nachbarzimmer - es war leer. Die beiden Betten waren ungemacht, auf dem einen konnte sie einen schiefen Stapel Modezeitschriften erkennen. Die Tür stand nur auf Kippstellung.
„Wem das wohl gehören mag?“, dachte sie und blickte in den Hof hinunter. Er war fast leer. Hier und da sah Vicky ein paar Mädchen oder Jungen zum Stall oder zu den Weiden gehen.
Der Himmel war fast wolkenlos, so dass die Sonne immer wieder durch-schien. Aber sie wärmt noch nicht, stellte Vicky fest und schlang die Arme um ihren Körper. Sie fröstelte, trotz des warmen Baumwollpullis.
Schnell verzog sie sich wieder in ihr Zimmer und schloss die Tür. Jetzt war es halb sieben.
„Na endlich“, dachte sie erleichtert, als sie auf den Flur ging. Zimmertüren wurden aufgerissen. Mädchen redeten durcheinander. Ein Mädchen verständigte sich vom Erdgeschoss aus mit einem anderen im dritten Stock. Laut schnatternd liefen drei Mädchen an Vicky vorbei zur Treppe. Andere Türen wurden zugeknallt und Vicky von der Masse mit in das Erdgeschoss geschoben. Keines der Mädchen beachtete sie großartig. Die Oberstufler ignorierten sie und die kleinen Fünft- und Sechstklässler warfen ihr von der Seite neugierige Blicke zu. Die beiden neben Vicky tuschelten aufgeregt und kicherten dann leise, als Vicky sie scharf musterte.
Im ersten Stock angekommen, musste Vicky haarscharf vor zwei Teenagern abbremsen, die Badetücher um ihre Körper gewickelt hatten. Ihre nassen Haare hinterließen deutliche Pfützen auf dem Parkett.
„Die Witting macht uns die Hölle heiß!“, rief die eine, zwängte sich an Vicky vorbei und verschwand im vorletzten Zimmer. Vicky lächelte, während sie am Gemeinschaftsraum vorbei ging und auf den Hof trat.
„Die Hausdame muss ja mächtig streng sein!“. Der Kies knirschte unter den Sohlen ihrer Turnschuhe. Aus dem Jungenturm kamen jetzt auch ganze Bienenschwärme von Jugendlichen.
„Irgendwie sind das hier mehr als nur um die 210 Schüler“, überlegte sie, als sie die Glastür aufschob und sich hinter einem kleinen Jungen mit braunen Strubbelhaaren in die Mensa zwängte.


6.Kapitel

Der Speisesaal war ein großer rechteckiger Raum mit einigen Fenstern an der Westseite. Neben Vicky drängelten sich die Schüler wie Verhungernde vor der langen Theke. Vicky nahm sich eins der blauen Plastiktabletts und reihte sich hinter einem schlaksigen Jungen mit kurzen dunklen Haaren ein.
„Hi, Vicky!“. Vicky fuhr herum. Jessi stand hinter ihr und lächelte sie an.
„Hi“, murmelte Vicky. Jessi hatte sie eben ziemlich erschreckt. „Na, wie geht's?“
„Super“, antwortete Vicky trocken.
Die Schlange wurde kürzer. Jessi stellte sich neben sie und Vicky warf ihr einen unauffälligen Seitenblick zu. Sie hatte sich ebenfalls umgezogen und trug jetzt einen dunkle Jeans, ein weißes T-Shirt und eine lila Strickjacke. Um ihren Hals baumelte eine lange Kette, an deren Ende ein ebenfalls lila Peace-Zeichen hing. Ihre blonden Haare waren nun nicht mehr glatt, sondern ringelten sich in tausend Locken über ihre Schultern. Ihre Wimpern waren noch länger und schwärzer als vorhin und die Wangen rot wie die eines Babys und ihre Lippen glänzten. Vicky zog bewundernd die Augenbrauen hoch. Tja, sie dagegen war richtig hässlich.
Der Junge vor ihnen nahm sein volles Tablett und verschwand in der Menge. Die Mädchen nahmen sich Linsensuppe, Brötchen und ein Schälchen mit roter Grütze. Jessi nahm dazu noch einen Plastikbecher mit Cola und Vicky eine Fanta. Die Tabletts vor den Bauch gepresst, quetschten sie sich an zwei Mädchen vorbei zu einem schon besetzten Tisch. Vicky schaute sich um, nirgends war noch ein Platz frei. Einige zogen den Stuhl vom Nachbartisch herbei und drängelten sich dann zu fünft um einen der runden Tische. Jessi stellte ihr Tablett ab und deutete auf einen einzelnen freien Stuhl.
„Setz' dich“.
Vicky nickte und konnte noch schnell nach ihrer Fanta greifen, bevor ein großer Junge diese mit seinem Ellbogen umwarf.
„Ist das hier immer so voll?“, stöhnte sie und ließ sich auf den nackten Holzstuhl fallen.
Jessi nickte und tauchte ihren Löffel in die Suppe. Erst jetzt fielen Vicky die anderen auf, die noch mit am Tisch saßen. Die eine kannte sie nur zu gut: Es war ihre Zimmergenossin. Und sie hatte, wie konnte es auch anders sein, ihre Nase wieder in das Formelbuch gesteckt.
„Hat die eigentlich keine anderen Beschäftigungen?“, zischte Vicky und nippte an ihrer Fanta.
„Kim?“, Jessi kicherte.
„Nein. Sie hat vor zwei Jahren ein Stipendium für Schloss Hohensee bekom-men. Um ihr außergewöhnliches Talent in Naturwissenschaften zu fördern. Sie redet kaum. Nimmt aber dafür an riesigen Wettbewerben teil und schnappt uns die guten Noten in Chemie, Physik und Bio weg. Aber mich stört es nicht, ich stand eh noch nie besser als drei. Aber wenn wir am Wochenende selber das Müsli für unsere Pferde zusammen stellen dürfen, ist sie unausstehlich. Echt! Sie hält immer stundenlange Vorträge darüber, wie ungesund das für die Pferde sei. Aber ihr Scooter tut mir auch echt leid. Der ist dauernd auf Diät. Sie sieht einfach nicht ein, dass das kein Fett, sondern Muskeln sind, die das Hinterteil ihres Haflingers bedecken.“
Sie lachte so laut, dass Kim ärgerlich den Kopf hob und Jessi einen wenig freundlichen Blick zu warf.
„Im Moment ist sie echt schlimm!“. Das andere Mädchen hatte eine helle Stimme. Vicky hatte sie noch nie gesehen.
„Sie übt für einen Wettbewerb in Bremen.“ Das Mädchen schob sich einen Löffel Linsensuppe in den Mund und beugte sich zu Vicky vor.
„Aber sie weiß noch nicht, dass sie überhaupt nicht daran teilnehmen wird. Eine aus der Zehn hat gestern die Vorausscheidung gewonnen!“ Sie warf Kim einen Blick zu.
„Wir wissen nicht, wie sie reagierte, wenn sie das mitbekommt.“
Vicky nickte langsam und schluckte einen Löffel Suppe runter.
„Wie heißt du eigentlich?“, wechselte sie das Thema.
„Ich? Mara de Souza. Ich bin halbe Portugiesin“. Sie lächelte und einen Reihe schneeweißer Zähne kam zum Vorschein.
„Das sieht man“, dachte Vicky. Mara hatte eine dunkle Haut, dunkle Augen und die schwarzen Haare fielen ihr glatt über die Schultern. Sie trug eine schwarze Lederjacke, darunter lugte ein schwarz-gelber Seidenschal hervor. Mehr war von ihrer Kleidung nicht zu erkennen. Den Pony hielt sie mit einer Haarspange aus dem Gesicht mit weichen Gesichtszügen und vollen Lippen. Ihre Wimpern sahen auch ohne Wimperntusche so lang aus wie Jessis.
„Sie würde perfekt zu Nico passen“, schoss es ihr durch den Kopf.
„Irgendwie gehöre ich überhaupt nicht an diesen Tisch.“
Auf einmal war sie enttäuscht von sich. Wieso bin ich bloß so hässlich? Sie hatte dunkelblonde Haare, die ihr bis zum Kinn gingen. Tiefliegende dunkle Augen, eine große Nase, einen kleinen Mund, buschige Augenbraugen und kantige Gesichtszüge. Von der Schönheit ihrer Mutter war nichts zu sehen. Vicky lief meistens in verwaschenen Reitsachen herum. Ihren Händen sah man die Arbeit im Stall an und der Fransenpony hätte längst geschnitten werden müssen. An den Füßen trug sie immer Stiefeletten oder schmutzige Turnschuhe. Sie hatte schon oft versucht, sie sauber zu bekommen, aber es ging einfach nicht.
Sie warf Kim einen Blick zu. Sie trug auch nur einfache Turnschuhe und ihr Kapuzen-T-Shirt war mindestens genauso verwaschen. Aber im Gegensatz zu Vicky saßen ihr Make-up und die Frisur perfekt.
Ein klirrendes Geräusch hinter ihr riss sie aus den Gedanken. Fluchend hockte sich ein Mädchen hin und sammelte die Überreste ihrer Suppen-schüssel zusammen. Zum Glück war diese leer gewesen. Unauffällig ließ sie die Scherben in den großen Mülleimer neben sich gleiten.
„Wer war das?“ donnerte eine Stimme aus der Küche. Kurz darauf kam eine kräftige Frau zum Vorschein. In der linken Hand hielt sie einen Holzlöffel, von dem Tomatensoße tropfte.
„Oh-oh, die Witting ist wütend“, flüsterte Mara und warf dem Mädchen einen mitleidigen Blick zu. Doch es stand nicht mehr da, sondern rannte aus der Tür. Vicky konnte nur noch sehen, wie es rechts abbog.
„Na warte!“, rief die Küchenchefin und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Sie hob die speckigen Fäuste in Richtung Tür.
„Dich kriege ich noch! Das war die dritte und letzte Schüssel für diese Woche!“ Sie drehte sich auf dem Absatz um und verschwand in der Küche.
Ein Heidenlärm entstand. Selbst Kim zuckte mit den Schultern, seufzte und redete auf die lachende Jessi ein. Vicky stellte ihre Ohren auf Durchzug und trank ihre Fanta aus.


7.Kapitel

Nach dem Essen gingen Mara und sie zum Stall, um ihre Pferde hereinzuho-len. Die beiden anderen verkrümelten sich im Gemeinschaftsraum. Mara verschwand im Stall zu ihrem Apfelschimmel Karfunkel und Vicky bog nach rechts zur Weide ab.
Nachdem Vicky im Stall die Boxentür hinter Freddy geschlossen hatte, ging sie in die Futterkammer, um dem Schecken sein Abendbrot zu geben. „Hafer/Rüben“ stand auf dem Futterplan, den sie studierte. In der einen Ecke des kleinen Raumes standen schwarze Plastikeimer und daneben die großen Fässer für die Mahlzeiten. In einer anderen Ecke standen drei weitere, in denen die einzelnen Müsli-Arten aufbewahrt wurden, für die Zusammenstel-lung des Müslis am Wochenende. In einem Regal konnte Vicky zwei Kästen erkennen. In dem einen befanden sich Futtermöhren, in dem anderem das Kleiepulver. Sie steuerte auf das Fass zu, auf dem in großen geschwungenen Buchstaben „Abendmahl“ stand. Vicky nahm sich einen der Eimer und schaufelte zwei Messbecher mit dem Gemisch aus kleingeschnitten Rüben und Hafer hinein.
Freddy stieß einen lauten Schnauber aus, als Vicky den Inhalt in seinen Trog schüttete. Einen Moment noch blieb sie bei ihrem Pflegepferd und hörte dem Knuspern und Mahlen der Kiefer zu, bevor sie Freddy über die Stirn fuhr und über den Hof zum Mädchenturm schlenderte. Der Himmel über ihr wurde dunkler, die Sonne stand schon hinter den Stallungen und beleuchte-te das Internat mit einigen orange-roten Strahlen. Auf den Weiden graste kein Pferd mehr, nur noch unter dem Dach des Offenstalls lugte der kleine Kopf eines Isländers hervor. Vicky seufzte glücklich und schloss kurz die Augen. Es war wunderbar hier, einfach großartig!
Mit einem Lächeln auf den Lippen stieg sie die Treppe zu ihrem Zimmer hoch. Als sie eintrat, war niemand da.
„Mit wem Mara sich wohl das Zimmer teilt?“, fragte sie sich und stand eine Weile unschlüssig vor dem Fenster. Dann lief sie wieder die zwei Stockwerke nach unten und drückte die Klinke des Gemeinschaftsraums nach unten.
Es war ein großer, gemütlicher Raum. In der Leseecke mit drei bis zur Decke gehenden Bücherregalen standen einige Sofas und zwei Ohrensessel. Die Ecke war nur spärlich beleuchtet. Auf dem niedrigen Tisch leuchteten ein paar Teelichter und eine Leselampe. In der Mitte des Raums saßen ein Paar Mädchen an einem langen Tisch und spielten Karten. Sie lachten jetzt laut und eine von ihnen warf die Karten vor sich auf den Tisch.
„Ich habe geblufft, Emma!“
In einer anderen Ecke standen ein Getränkeautomat und ein Schachtisch, an dem Vicky Kim erkennen konnte. Ihr gegenüber sah Jessi. Sie schauten konzentriert auf die schwarz-weiße Tischplatte und Jessi fluchte leise. Kim lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und grinste über beide Backen.
„Ich denke, du bist Schach-Matt!“.
Jessi zuckte die Schultern und gab ihrem König einen leichten Schubs, so dass er hin und her rollte. Die beiden Mädchen standen auf und klatschten sich ab. Jessi nahm sich anschließend eine zusammengerollte Zeitung aus dem Zeitungsständer und ließ sich in einen der Ohrensessel fallen. Kim ging ebenfalls in die Bücherecke, zog ein Buch aus dem Regal, nahm ein Blatt Papier und einen Stift aus einem Holzkasten und hockte sich zu den karten-spielenden Mädchen an den Tisch.
Bis jetzt hatte noch niemand Vicky entdeckt. Sie schaute sich weiter um. Neben ihr stand ein Computertisch. Der Bildschirm war ausgeschaltet, der Drehstuhl herangerückt. Niemand schien ihn zu benutzen. Eines der Mädchen am Tisch lachte schallend und warf die schwarzen Haare zurück. Es war Mara.
Vicky ging auf sie zu. Mara schien sie jetzt auch entdeckt zu haben, sie winkte sie zu sich.
„Willst du mitspielen?“
Vicky schaute in die erwartungsvollen Gesichter. Die Runde bestand aus fünf Mädchen unterschiedlichen Alters. Eine von ihnen sah schon sehr erwach-sen aus, mit den langen Gesichtszügen und den schmalen Fingern. Sie mischte die Spielkarten und lächelte Vicky aufmunternd zu.
„Kannst du „17 und 4“ spielen?“
Vicky nickte und setzte sich neben Mara. Sie hatte oft mit ihrem Bruder und Josie in dem winzigen Wohnzimmer gesessen, Tee getrunken und Karten gespielt, besonders „17 und 4“, das Lieblingsspiel von Daniel, weil er dabei immer gewann. Hinter ihnen hatte im Winter das Feuer im Kamin geknistert, und der damals erst drei Jahre alte Kater Bob hatte ihnen der Reihe nach die Füße gewärmt. Einige Jahre später starb er an Herzversagen. Genau an dem Tag, als Daniel den letzten Koffer verstaut hatte und mit seinem grünen Opel den Hof für immer verließ.
Ihr Bruder war schon sehr früh ausgezogen, mit 20 Jahren. Er liebte „Vester-land“, aber er liebte auch seine Freundin und wollte sie nicht immer nur am Wochenende sehen. Es dauerte lange, bis sein Vater das verstand - dass man zwei Sachen gleichzeitig lieben kann. Er selber tat es ja auch: Josie und zugleich die Pferde. Aber das nahm er nicht wahr. Es gab immer heftigen Streit zwischen Vater und Sohn. Vicky konnte deshalb nächtelang nicht schlafen.
Dann war es so weit: Daniel zog zu Angela. Vicky hatte noch nie so schlimme Schimpfwörter gehört, wie an diesem Tag!
„Du fängst an!“. Maras Stimme holte sie in die Gegenwart zurück. Etwas verwirrt nahm sie die Karten in die Hand, die vor ihr lagen, und legte die erste auf den Tisch. Es wurde wirklich lustig, sie lachten viel und Vicky fühlte sich glücklich.
Nach der zehnten Runde legte sie die Karten erschöpft auf den Tisch und streckte sich
„Ich geh jetzt mal hoch“. Sie gähnte und spähte auf ihre Armbanduhr.
„Schon halb elf!“, murmelte sie, stand auf und lächelte den anderen zum Abschied zu. Mara erhob sich ebenfalls.
„Ich muss jetzt auch mal.“ Sie umarmte das große Mädchen mit dem langen Gesicht und ging mit Vicky die Treppe hoch.
„Gute Nacht!“. Sie waren im zweiten Stock angekommen, Mara öffnete ihre Zimmertür und lächelte Vicky müde an.
„Nacht...“. Vicky schlurfte zu ihrem Schrank und holte die Kulturtasche aus dem obersten Fach.
Der Waschraum war hell erleuchtet und das Licht wurde von den vielen Spiegeln an den Wänden reflektiert. Vicky kniff die Augen zusammen und ging zum Waschbecken, an dessen Rand die Nummer ihres Zimmers stand. Sie putzte sich die Zähne, bürstete kurz ihre Haare und verschwand wieder in ihrem Zimmer. Es war leer. Kim war nirgends zu entdecken.
„Wohl sie wohl stecken mag?“, dachte sie, während sie ihr Schlaf-T-Shirt über den Kopf streifte. Erst als sie die Decke über die Schultern zog, merkte sie, wie müde sie war. Ihre Augenlider fielen von selber zu und ihr Atem wurde langsam und gleichmäßig.


8.Kapitel

Sie saß auf Bellatrix Rücken und jauchzte vergnügt. Selbst durch den Sattel spürte sie die angespannten Muskeln der Stute, die gar nicht aufhören wollte zu rennen. Vicky hielt die Zügel locker in der Hand und schaute in den Himmel. Er war so hell, als hätte jemand eine Lampe hinter den Wolken angeknipst.
Bellatrix galoppierte weiter über die grünen Wiesen, Vicky brauchte sie nicht zu treiben. Sie drehte sich im Sattel, um nach hinten zu schauen, aber hinter ihnen war nur Nebel zu erkennen, genauso wie vor ihnen.
„Komisch, ich seh' gar nicht, das Bellatrix läuft.“ Liebevoll strich sie über deren muskulösen Hals.
Sie erstarrte. Die Stute war nicht mehr schwarz wie Kohle, sondern sie bekam große braune und weiße Flecken. Ihre Mähne verfärbte sich eben-falls und sie schrumpfte ein ganzes Stück. Vicky schüttelte verdattert den Kopf. War das möglich?
Plötzlich sah sie aus dem Augenwinkel, dass jemand ihr folgte. Hilfe! Sie trieb ihr Pferd an, aber es blieb wie angewurzelt stehen und hob den Kopf zum Himmel. Der fremde Reiter brachte sein Pferd neben ihr zum Stehen und starrte genauso zum Himmel wie Vicky, als der Schimmel seine Vorderhufe zu heben begann und auf einmal in der Luft schwebte. Vicky erkannte den Reiter, es war Nico.
Dann waren sie verschwunden und der Himmel wurde noch heller. Vicky kniff die Augen zusammen und schirmte sie zugleich mit der Hand ab.
„Vicky!“ Eine Frauenstimme hallte an ihre Ohren.
„Ich nehme den Jungen jetzt zu mir. Du warst nicht gut für ihn. Hast nicht erkannt, welchen Schmerz er ertragen musste. Hast immer nur auf dein klopfendes Herz geachtet. Und das Pferd ist jetzt auch Mein. Du liebst ein Schulpferd mehr als dein Eigenes, das geht nicht!“
Vicky kannte diese Stimme, sie hätte sie unter Tausenden wiedererkannt - es war Josie, klar und hell! Und unter ihr war kein Pferd mehr, sie stand mit beiden Füßen auf dem Boden und schaute noch immer in den Himmel.
„Wach auf!“ Jemand rüttelte sie an der Schulter.
„Verdammt nochmal! Wach auf, Vicky, ich habe nicht ewig Zeit!“
Vicky schaute sich um, es war niemand zu erkennen, der ihre Schulter hätte erreichen können.
„Wach auf! Das ist mein letztes Wort! Du kannst dir dann die Strafe selber von der Witting anhören!“
Jetzt war Vicky restlos verwirrt! Wer war bitte „Witting“? Sie kannte keine „Witting“.
„Wach auf!“ Die Stimme rief so laut, dass Vicky zusammenzuckte. Müde öffnete sie die Augen und starrte in Kims wütendes Gesicht.
„Du hast verpennt!“, sagte sie trocken. Vicky kniff die Augen fest zusammen und öffnete sie wieder. Sie lag nicht in dem Bett unterm Dach und schaute aus dem Fenster, sondern in einem viel kleineren und schaute an die weiße Decke.
Wo waren die Dachschräge und die vielen Poster? Sie linste wieder zu Kim. Das Mädchen stemmte die Hände in die Hüften und schnalzte missbilligend mit der Zunge.
„Na hopp! Ab ins Bad, du hast noch zehn Minuten, und wie ich seh', musst du noch deine Schulsachen packen!“ Vicky wollte gerade fragen, wo sie war, da dämmerte es ihr! Schloss „Hohensee“, Pferdeinternat in Kiel!
Sie stöhnte, schwang die Beine aus dem Bett und warf Kim ein dankbares Lächeln zu.
„Danke, dass du mich aus meinem Winterschlaf geholt hast!“ Kim nickte knapp und verließ das Zimmer. Vicky setzte sich auf und fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare.
„Mann! Am ersten Tag verschlaf' ich schon! Na super!“ Sie taumelte zum Schrank und zog irgendwelche Klamotten heraus. Eine schwarze Jeans, dazu eine weiße Bluse und eine gelbe Bolerojacke.
Brauchte sie einen Schal? Sie warf einen Blick aus dem Fenster: Oh ja, und eine Regenjacke! Während sie sich umzog, schwand ihre Laune mit jedem weiteren Blick zum Fenster. Es war der typische Fisselregen, den Vicky so hasste.
Trotz des dichten Nebels erkannte sie einige Pferde auf den Wiesen. Doch sie trugen alle dicke Außendecken und setzten nur zögern Huf vor Huf. Die Hengstweide und der Offenstall waren nicht zu sehen, so tief und dick hingen die Nebelschwaden. Der Kirschbaum ließ enttäuscht seine Äste hängen, unter ihm hatte sich eine Pfütze von dem Wasser, das von den Blättern tropfte, gesammelt. Überhaupt war der ganze Platz mit mehr oder weniger schlammigen Pfützen übersät.
Mit der Geschwindigkeit einer Schnecke verschwand Vicky im Bad und machte sich fertig. Am Rand ihres Waschbeckens klebte Zahnpasta. Na lecker! Aber auch die anderen sahen nicht besser aus. Sie sah im Spiegel, wie das Abflusswasser unter den Duschvorhängen durchlief, da die Abflüsse mit Haaren und sonstigem Zeugs verstopft waren. Igitt! Angewidert spuckte Vicky die Überreste der Zahnpasta ins Waschbecken und spülte mit Wasser nach.

„Mann, Kim, wie hältst du das nur immer aus?“ Jessi schnitt ihr Sesambröt-chen durch und schmierte Frischkäse darauf.
„Tag für Tag diese Haferpampe!“
„Was gut für Scooter ist...“, setzte Kim an, aber Mara kam ihr zuvor: „...ist auch gut für mich!“
Vicky lachte. Mara bekam es gut hin, so überzeugt wie Kim zu klingen. Sie saß mit den anderen in der Mensa und biss von ihrem zweiten Salamibrötchen ab.
Heute hatte Kim kein Formelbuch neben ihrem Tablett liegen, sondern einen Stapel Blätter aus dem Internet. Mit der rechten Hand schob sie Löffel für Löffel ihrer Haferflocken in den Mund, und mit der linken hielt sie einen gelben Textmarker, mit dem sie eifrig wichtige Sachen zum Gebrauch von Pflanzensaft anstrich.
„Fertig!“ stöhnte sie und steckte die Kappe auf den Marker.
„Jetzt muss ich mir nur noch durchlesen, was wichtig ist.“
Die anderen drei verdrehten genervt die Augen.
„Steht heute ein Biotest an?“. Jessi warf Mara einen fragenden Blick zu. Die kicherte.
„Nö. Kim übt schon mal für den in drei Wochen.“ Vicky lachte auch und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Die Klingel zum Unterricht ertönte.
„Beeilung, Leute!“. Jessi stand auf und quetschte sich zum Mülleimer durch. Mara und Vicky standen ebenfalls auf.
„Willst du deine heißgeliebte Bio-Stunde beim Henning verpassen, Kim?“ Mara grinste und zwinkerte Vicky zu.
„Was! Hat es schon geschellt? Ach, du Schande! Mara, ich habe mich noch gar nicht vorbereitet!“
Vicky prustete los und fing sich dafür einen zornigen Blick von Kim ein.
„Wer zuletzt lacht, lacht am besten!“ Kim raffte ihre Sachen zusammen, nahm ihr Tablett und zog an Vicky vorbei.
„Die ist manchmal etwas zickig“, tröstete Mara Vicky und ließ den leeren Plastikbecher in den Mülleimer gleiten.


9.Kapitel

Der Unterricht war gar nicht so stressig, wie Vicky es sich vorgestellt hatte. Zwei Stunden Biologie bei Herrn Henning, einem etwas untersetzten Mann mit Halbglatze. Eine Stunde Englisch bei Frau Dr. Paulus und eine weitere Stunde Religion bei der Internatsleiterin. Das machte Vicky etwas zu schaffen. Sie war es nicht gewohnt, dass hier eine Schulstunde 90 Minuten und nicht 45 Minuten dauerte.
In den paar Minuten Pause zwischen den verschiedenen Fächern lümmelten die Vier meistens am Getränkeautomat herum. Mara und Jessi stritten sich darüber, welcher Junge aus 10. Klasse jetzt süßer aussah, Tom oder doch Jan, und Kim blätterte in ihrem Chemiebuch herum. Als dieser Jan sich am Automaten eine Cola zog, umfasste Vicky vorsichtshalber Jessis Handgelenk, bevor sie dem Jungen noch in die Arme sinken konnte.
„Oh, mein Gott!“, stieß sie hervor, als Jan wieder zu einer Gruppe Jungen zurückschlenderte.
„Geht‘s dir wieder gut?“, fragte Vicky vorsichtig. Jessi nickte mechanisch.
„Die ist über beide Ohren verknallt!“, spottete Mara. „Sieh dir nur dieses rote Gesicht an!“ Jessi fuhr herum.
„Ach ja, und du nicht?“, keifte sie und hob das Kinn vor. „Ich sag nur: 10d - Tom Merle!“.
Mara erstarrte und kniff die Augen zu Schlitzen zusammen.
„Das wirst du mir noch büßen!“.
Vicky wollte sie gerade beruhigen, da schellte es zur vierten Stunde.

Die Hausaufgabenbetreuung fand im Chemieraum statt. Als Aufsicht hockte Frau Dr. Paulus am Lehrerpult. Ausgerechnet die, mit ihren Adleraugen! Danach sprinteten sie direkt in ihre Zimmer, um sich umzuziehen und pünktlich zum Reitunterricht zu erscheinen.

Als sie alle in Reitsachen steckten, teilte sich die Gruppe. Jessi und Vicky liefen zum Wallachstall, Kim zum Offenstall und Mara zur Stutenweide. Freddy ließ sich gut satteln. Er begrüßte Vicky mit einem Nasenstüber, als sie ihm das Halfter über die Ohren streifte.
„Bei wem hast du jetzt Unterricht?“. Vicky machte sich daran, seine Hufe zu reinigen.
„Beim Edel in der Dressurhalle. Heute lernen wir was Neues“. Jessi hievte Furfur den Sattel auf die Sattellage.
„Was denn?“. Vicky war neugierig geworden. Sie ließ Freddys rechten Hinterhuf los und machte sich am linken zu schaffen.
„Schenkelweichen!“. Jessi lachte.
„Aber das sagt dir bestimmt nicht viel. Als Springerin macht ihr andere Sachen.“
Vicky nickte. Schenkelweichen hatte sie weder gehört noch gemacht. Eine Boxentür wurde aufgeschoben, eine tiefe Stimme murmelte etwas Unver-ständliches und das Klappern von beschlagenen Hufen war zu hören.
„Hi, Mädels!“. Das war Nicos Stimme. Vickys Hände wurden feucht, einen Moment schloss sie die Augen und dachte an ihren Traum.
„Hast nicht erkannt welchen Schmerz er ertragen muss, hast nur auf dein klopfendes Herz geachtet“. Sie sah wieder den hellen Himmel über sich und den fliegenden Schimmel mit Nico auf dem Rücken.
„Guten Morgen! Na, schön geschlafen?“. Jemand wedelte mit der Hand vor ihren Augen herum.
„Äh...“. Vicky riss die Augen auf.
„Hi, Nico!“.
Von Schmerz war in seinem braunen Gesicht nichts zu sehen. Er grinste verschmitzt und band den Schimmel, der tatsächlich so aussah wie der in Vickys Traum, neben Freddy an den Ring. Wieder war Hufklappern zu hören. Vicky schaute an Nicos breiten Schultern vorbei. Sie sah nur noch Furfurs schwarzen Schweif, dann knallte die Stalltür zu.
„Na, dann sind wir jetzt wohl allein“. Nico griff sich das Schweißmesser aus dem Putzkasten und fuhr damit über die Kruppe seines Wallachs.
„Wie heißt er eigentlich?“. Vicky strich dem Schimmel über die Stirn.
„Das ist Whisky. Wenn er will, kann er ziemlich zickig sein“. Nico klopfte das Schweißmesser gegen die Boxentür und weiße Haare segelten in Büscheln auf den Steinboden der Stallgasse.
Vicky musste über den lustigen Namen lachen. Bei dem Geräusch spitzten Freddy und Whisky neugierig die Ohren.
„Wie hat der denn den Namen bekommen?“. Vicky gluckste noch immer und warf die blaue Satteldecke über Freddys Rücken, zog sie zurecht und hievte den Sattel darauf.
„Oh, das ist eine lustige Geschichte!“. Nico griff zur Wurzelbürste und ließ sie kräftig über die langen Pferdebeine gleiten.
„Als ich ihn vor vier Jahren von meinem Onkel geschenkt bekam, war er gerade mal zwei Jahre alt. Er ließ sich nicht aus dem Anhänger holen, buckelte, stieg und biss jeden, der ihm zu nah kam. Der Tierarzt musste ihm ein Beruhigungsmittel spritzen. Als mein Onkel ihn in seine Box führte, schwankte er gewaltig. Mein Vater hat lachend gesagt: „Mann, der läuft ja so, als hätte er drei Flaschen Whisky hintereinander getrunken“, und seitdem hat er den Namen Whisky.“
Vicky hatte nur mit halbem Ohr zugehört und starrte noch immer auf das Brandzeichen auf Whiskys Hinterteil.
„Der muss Papiere haben!“, murmelte sie. Nico nickte.
„Ja, ist ein reinrassiger Hannoveraner.“
Sie wartete noch, bis er Whisky gesattelt und getrenst hatte, und ging dann zur Springhalle.
„Wir sehen uns nachher!“, rief Nico ihr zu, bevor er seinen Wallach zum Dressurviereck führte.
Die Halle war sogar noch größer, als Vicky gedacht hatte. An allen vier Wänden erstreckten sich Tribünen. Eine schmale Treppe führte empor. Die Sitze waren aus einfachem Holz, genauso wie die Bande der Bahn. Eine etwas breitere Gasse führte unter den Tribünen entlang. So gelangte man zu den bunt gestrichenen Stangen, die dort aufeinander gestapelt lagen.
Einige Stimmen waren hinter ihr zu hören. Eine Gruppe Mädchen und Jungen trat ein. Sie unterhielten sich angeregt und beachteten Vicky nicht. Ein kleines Mädchen warf ihr ein scheues Lächeln zu und schnallte ihren Reithelm unter dem Kinn zusammen. Vicky folgte der Gruppe in die mit dunklem Sand ausgelegte Bahn. Steigbügel wurde heruntergezogen und richtig eingestellt, Pferde beruhigt, Sattelgurte nachgezogen.
Vicky kürzte die Steigbügelriemen um zwei Löcher, setzte die mit schwarzem Samt besetzte Reitkappe auf und prüfte den Sattelgurt. Er war zu locker, sie machte ihn enger.
„Du bist die neue, oder?“. Ein kleiner Junge nahm die Zügel seines Norwe-gerponys auf und musterte Vicky interessiert. Sie nickte, stellte den Fuß in den Steigbügel und saß auf.
„Bist du schon mal gesprungen?“. Sie ritten im Schritt nebeneinander her. Vicky nickte wieder und trieb Freddy mit der Gerte an. Der Wallach spitzte die Ohren und schritt zügig voran.
„Was ist denn das für ein Lärm!?“, donnerte die Stimme eines Mannes durch die Halle.
„Hab‘ ich Warmreiten gesagt? Ich hatte Fertigmachen gesagt! Henry, halt‘ sofort Nero an, die Steigbügel sind zu lang! Jana, du musst nachgurten! Fabian, setz himmelherrgottnochmal deine Reitkappe auf!!!“.
Vicky hielt Freddy an und wendete ihn zum Eingang. Dort stand ein bärtiger Mann in dreckigen Stiefeletten und verwaschener Reithose. Er war groß und durchtrainiert und sein blondes Haar stand zu allen Seiten ab. Das braune Gesicht war vor Wut gerötet.
„Los, in einer Reihe aufstellen!“, bellte er und ließ den Blick über seine Schützlinge schweifen. Vicky lenkte Freddy neben den Norweger, den der Reitlehrer eben Nero genannt hatte. Der Junge, der auf ihm saß, war blass und sein Körper angespannt, seine Hände zitterten.
„Ist der Ullmann echt so schlimm?“, überlegte sie verwundert. Aus ihrer Sicht schien er seine Truppe gut in Griff zu haben.
Der Reitlehrer war mittlerweile in die Bahn getreten und lief vor den Pferden auf und ab.
„Farina, nachgurten! Joshua, deine Kappe ist zu locker! Laura, gewöhne dir endlich mal an, die Hacken nach unten zu drücken! Mensch, Nora, sitz gerade! Du Bibi, nimm die Zügel kürzer! Jim, konzentrier dich, dein Hengst ist schon ganz verwirrt! So ist es gut, Henry, lass Nero aber nicht tänzeln.“
Er war bei Vicky angekommen, die unwillkürlich den Rücken durchdrückte, die Daumen aufrichtete und die Schultern straffte. Warum tat sie das? Hatte sie Angst, sich vor den andern zu blamieren?
Auf Ullmanns Lippen erschien ein kleines Lächeln.
„Vicky Jost, nicht wahr?“
Vicky nickte und ein Kloß setzte sich in ihrer Kehle fest. Mann, kannten sie viele! Aber viel mehr beunruhigte sie das etwas spöttische Lächeln des Mannes.
„Komm mit deinem Schecken auf den Springplatz. Klara, bring bitte ein paar Stangen für einen Oxer und zwei Steilsprünge mit.“
Ein Mädchen mit braunen Haaren löste sich aus der Menge, stieg von ihrem Rappen, warf Vicky ein schüchternes Lächeln zu und verließ die Bahn. Vicky fing an zu schwitzen, die Reithandschuhe klebten an ihren Fingern. Ihr Herz pochte heftig. Sie hatte Angst, richtige Angst! Sie hatte in ihren 14 Jahren dieses Gefühl der Unbehaglichkeit noch nie gespürt. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, auch bei den verrückteren Pferden die Kontrolle zu behalten. Sie war dann immer die erste, die bei den oft misshandelten Pferden stand, sie streichelte und ihnen freundliche Worte ins Ohr flüsterte. Es hätte noch so viele Leute schwören können, dass der beißt oder schlägt, bei Vicky taten sie nichts dergleichen.
„Deine Gefühle übertragen sich auf das Pferd“, hatte ihr Vater immer gesagt. Wenn sie ruhig, gelassen und voller Vertrauen in die Box trat, zickten die Pferde auch nicht.
Aber wenn sie, wie die meisten unerfahrenen Besitzer, mit Angst und weichen Knien in die Box treten würde, hätten die Pferde kein Vertrauen in sie.
Dass Vicky Angst hatte, konnte man deutlich sehen. Sie stieg ab und über-querte mit weichen Knien die Bahn. Freddy hob verwirrt die Nüstern und begann unruhig mit dem Schweif zu schlagen.
„Ganz ruhig“, murmelte sie und fuhr mit zitternden Fingern durch die gescheckte Mähne. Sie wusste nicht, ob sie sich oder den Wallach beruhigen wollte.
Ullmann öffnete ihr das Tor und sie traten in den nachlassenden Nieselregen hinaus. Freddy beäugte misstrauisch die Pfützen unter seinen Hufen.
„Jetzt werde ich ja nass!“, schien er sich zu beschweren und schüttelte den Kopf. Normalerweise liebte Vicky Oxer und Steilsprünge, aber heute nicht. Sie wusste nicht, wie Freddy sprang. Das bereitete ihr am meisten Sorgen.
„Spring gut, mein Kleiner, ja?“, flüsterte sie ihm zu.
Ihre Kleidung war durchnässt. Sie schlotterte am ganzen Körper. Zum Glück hatte sie sich Chaps über die Stiefeletten gezogen, so bekam sie wenigstens keine nassen Füße.
„Reit‘ ihn erst mal ein bisschen warm, dann zwei Sprünge, das reicht. Bevor du dich noch erkältest!“. Ullmann lachte und schob die Stangen beiseite.
Vicky ritt mit klopfendem Herzen auf den Platz und gurtete nach. Klara hatte die Sprünge aufgebaut und verließ die Bahn. Sie zwinkerte Vicky zu, aber das beruhigte sie wenig. Klara wurde energisch vom Ullmann herangewunken und die beiden unterhielten sich kurz. In der Zeit, in der sie noch nicht von ihrem neuem Reitlehrer begutachte wurde, schaute sie sich die drei Sprünge an.
Der vorderste war ein Steilsprung. Vier Stangen übereinander. Danach kam der Oxer, jeweils zweimal drei Stangen übereinander. Hinter Freddy stand der zweite Steilsprung, diesmal nur drei Stangen, aber immerhin! Alle drei Sprünge schienen wie Wolkenkratzer in den bewölkten Himmel zu ragen. Der Platz war schlammig und als der Schecke nervös zur Seite tänzelte, konnte Vicky kleine Teiche dort erkennen, wo Freddy eben noch seinen Huf hatte.
„Na, dann leg‘ mal los!“. Ullmanns Stimme war laut. Er war an den Zaun getreten und hatte sich die Kapuze seiner Regenjacke tief in die Stirn gezogen.
Vicky nahm die Zügel auf und trieb ihr Pferd voran. Gemächlich lief es zwischen den Hindernissen und senkte den Kopf. Doch dieses Tempo wollte Ullmann bestimmt nicht sehen. Vicky trieb den Wallach mit der Gerte voran. Er trabte schon fast.
„He! Lass ihn erst mal warm werden. Traben kann er gleich!“. Ullmanns Augen waren unter der Kapuze nicht zu erkennen, und das jagte Vicky mächtig Angst ein. Okay, eins zu null für den Reitlehrer. Nach der fünften Runde ließ sie den Wallach antraben und lenkten ihn auf den ersten Sprung zu.
„Erst das Herz und dann der Rest“, so hatte sie sich bei der ersten Spring-stunde auf „Vesterland“ geholfen. Wie von selbst galoppierte Freddy an und Vicky stellte sich in die Steigbügel.
Wumm! Die Hufe kamen auf der anderen Seite wieder auf! Fast hätte Vicky einen Freudenschrei ausgestoßen! Das Schwerste war geschafft!
Doch die anderen müssen auch noch geschafft werden, rief sie sich in Erinnerung. Sie ließ Freddy ein Stück traben, saß aus und der Wallach galoppierte an. Da war er, der Oxer.
Vicky stellte sich auf, beugte sich vor, um ihrem Pferd mehr Zügel zu geben. Freddy sprang ab und landete problemlos auf der anderen Seite. Seine Reiterin lächelte und tätschelte seinen Hals, Freddy schnaubte.
Vicky ließ den Wallach jetzt ein bisschen länger traben, bevor sie angalop-pierte und er mehr Zügel für den Sprung forderte. Er sprang leichtfüßig und voller Anmut über die bunt bemalten Stangen.
Vicky parierte ihn zum Schritt durch und schaute vorsichtig zu Ullmann, der bis jetzt noch nichts gesagt hatte. Er schob die Kapuze zurück und lächelte. Vicky fiel ein Stein vom Herzen, der die Größe eines Felsens hatte. Freddys Flanken bebten, Schaum tropfte aus seinem Maul.
„Bitte nicht noch ein zweites Mal springen, bitte!“, betete sie und strich über den nassen Hals des Wallachs.
„Das war super!“. Ullmanns Stimme dröhnte über den Platz und Freddy wich erschrocken ein paar Schritte zurück.
„Du bist meine neue Reitschülerin, Vicky. Herzlichen Glückwunsch!“.
Vicky strahlte über das ganze Gesicht und ritt zur Bande.
„Ich sag Klara, sie soll die Stangen einsammeln, du kümmerst dich um den Wallach. Reit ihn trocken und bring ihn in die Box.“ Er stapfte davon.
„Wir sehen uns Donnerstag um vier in der Halle!“. Er drehte sich nochmal um und winkte Vicky zu.
Sie war so glücklich, als hätte sie gerade ein Turnier mit dem ersten Platz belegt. Und es war ja auch eine Ehre, Schülerin auf Schloss „Hohensee“ zu sein und bis zum Abschluss zu bleiben.
Eine in Regenjacke eingepackte Gestalt kam auf sie zu.
„Mann! Du hast es geschafft. Cool!“. Klara schob die Stange beiseite und ging auf den Platz. Freddy ließ sich nicht stören und lief gemächlich seine Runden. Das Mädchen baute den ersten Sprung ab und grinste zu Vicky hoch, die stolz an ihr vorbei ritt.
„Das schafft so schnell keiner, sich unter Ullmanns Augen zu beweisen!“. Sie nahm die Stangen unter den Arm und ließ sie unter das Vordach der Reithalle rollen, dann machte sie sich an den Oxer.
„Was macht ihr denn so?“. Vicky lenkte den Schecken um den Oxer herum, um Klara Platz zu machen.
„Nun ja, unser Training ist hammerhart. Drei Dreier-Oxer und Steilsprünge mit vier, fünf Stangen übereinander. Auch Wassergräben und Kreuzsprünge üben wir.“ Sie nahm je drei Stangen unter einen Arm und marschierte wieder unter das Vordach.
„Im Moment bauen Maxi und Fynn die Sprünge auf und die anderen machen sich warm“. Klara nahm die oberste Stange des letzten Steilsprungs ab und legte sie auf den Boden, dann die nächste.
„Wie lang habt ihr denn noch Training?“. Vicky stieg ab und schob die Steigbügel hoch.
„Noch eine halbe Stunde“. Klara nahm die letzte Stange ab und brachte alle zu den anderen hinüber. Dann wartete sie auf Vicky, die Freddys Sattelgurt aufschnallte.
„Sollen die Pferde auf die Weide?“. Sie nahm die Zügel in die Hand und der Wallach trottete hinter ihr her zum Tor.
„Nee, bei dem Schietwetter nicht! Bring ihn in den Stall und gib ihm eine Extraportion Heu!“. Klara schob das Tor zu und die beiden Mädchen trotteten davon, Vicky zum Stall und Klara zur Springhalle.


10.Kapitel

Im Stall war es trocken und warm. Vicky nahm dem Schecken den Sattel ab und hängte ihn in den Spind. Sie spülte die Trense unter dem Wasserhahn neben der Futterkammer aus und bürstete mit der Wurzelbürste über seine dreckigen Beine. Dann nahm sie eine Hand voll Stroh und rieb ihn trocken. Er schnaubte müde, als sie ihm die grüne Stalldecke überwarf, vor seiner Brust und unter seinem Bauch zusammenschnallte und ihn in seine Box führte.
Sie war gerade dabei, ihm zwei Hände voll Heu in die Raufe zu legen, da hörte sie das Fluchen eines Jungen. Interessiert lugte sie aus der Box. Nico saß auf einem umgedrehten Futtereimer und zog seinen Reitstiefel aus. Er war klatschnass und das T-Shirt voll mit Schlamm.
„Was ist denn mit dir passiert?“, fragte Vicky besorgt, schob die Boxentür zu und ging neben Nico in die Hocke. Der Junge schüttelte müde den Kopf und rollte den Socken von seinem rechten Fuß.
„Als ich aufsteigen wollte, ist Whisky durchgegangen und hat mich hinter sich her gezogen. Au! Das tut schweineweh!“ Nico zog scharf die Luft ein und presste dann die Lippen aufeinander.
„Und du bist im Steigbügel hängen geblieben?“. Vicky schaute sich den Fuß genauer an. Er war dick angeschwollen und leuchtete bläulich.
„Warst du schon bei deinem Reitlehrer?“, fragte Vicky. Nico schüttelte den Kopf und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die Boxentür.
Das Scharren von Hufen war zu hören. Vicky sah hinter sich. Dort stand Whisky noch komplett gesattelt und beäugte schuldbewusst seinen Reiter.
„Du gehst jetzt zum Wasserhahn und kühlst deinen Fuß, und ich mache dein Pferd klar!“. Vicky klang energisch, als sie dem Jungen aufhalf und ihn stützte, während er zum Hahn hüpfte. Sie nahm den umgedrehten Futtereimer und Nico ließ sich erschöpft darauf plumpsen. Er drehte das Wasser auf und hielt den Fuß darunter. In dieser Zeit sattelte Vicky den Schimmel ab, bürstete kurz über seine Sattellage, kratzte die Hufe aus und brachte ihn in die letzte Box.
„Geht‘s besser?“. Sie strich Whisky kurz über die Stirn und schloss die Boxentür. Nico schüttelte den Kopf.
„Warum um Himmels Willen weiß dein Reitlehrer nichts?“. Langsam wurde Vicky wütend.
„Weil er mit Grippe im Bett liegt und wir sonst keinen haben.“ Nico öffnete die Augen und rückte etwas zur Seite. Vicky setzte sich neben ihn.
„Heißt das, du bist ohne Aufsicht geritten?“. Jetzt klang sie nur noch fassungslos und nicht mehr wütend.
„Als ich in die Halle gekommen bin, war niemand da. Ich dachte, die kommen alle noch. Also bin ich aufgestiegen, um ihn schon mal warm zu kriegen, und dann - du siehst es ja...“. Er wollte lächeln, aber es wurde in ein Stöhnen daraus. Vicky schüttelte den Kopf.
„Das kann ich nicht glauben“, murmelte sie. „Ich hielt dich für vernünftig, aber du hast echt das glatte Gegenteil bewiesen.“
Nico wich ihrem Blick aus. Vicky sah auf seinen Fuß. Die Schwellung schien zurückzugehen.
Stimmen waren zu hören. Vier Mädchen und ein Junge kamen mit ihren Pferden in die Stallgasse und begannen sie abzusatteln. Der Junge nahm seinem Falben die Trense ab, hielt sie neben Nicos Fuß unter den Hahn und blieb dann unschlüssig mit der tropfenden Trense stehen.
„Niemand hat gesehen, was passiert ist. Ich sag dem Edel besser nichts. Du solltest aber mit dem dicken Fuß zum Arzt gehen“. Er musstet Nico kurz, bevor er sich wieder seinem Pferd zuwandte.
„Hilfst du mir in mein Zimmer?“. Nico warf Vicky ein angespanntes Lächeln zu. Die nickte und zog ihn auf den gesunden Fuß. Sie nahm seinen Reitstiefel, stopfte den Socken hinein, umfasste Nicos Hüfte, und zusammen torkelten sie über den Hof.
Jetzt war die Hölle los. Pferde wieherten, Türen knallten und das Lachen von Mädchen war zu hören. Einige Reiter kamen an ihnen vorbei und ver-schwanden im Stall. Sie musterten das seltsame Paar amüsiert, aber niemand sagte etwas.
Jessi führte Furfur an ihnen vorbei. Ihre Miene verfinsterte sich, als sie die beiden entdeckte. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder. Nico schaute demonstrativ in die andere Richtung, Jessi schritt würdevoll mit erhobenem Kinn in den Stall. Nico stöhnte auf.
„Tut dir was weh?“, fragte Vicky sofort und musterte ihn besorgt. Nico schüttelte den Kopf und seine schwarzen Augenbrauen zogen sich zusam-men.
Sie wichen den irritierten Seitenblicken im Flur des Jungenturms aus.
„Zum Glück ist mein Zimmer im ersten Stock“, schnaufte Nico und hievte sich die letzte Stufe hoch, dabei setzte er die geschwollenen Zehen auf. Jammernd hüpfte er mit Vickys Hilfe in sein Zimmer.
„Ich hol' jetzt die Pauli“. Vicky setzte sich auf das zerwühlte Bett.
„Die bringt mich um, Vicky! Sie wird mir Vorträge über die Vernunft eines Reiters halten, und das kann ich jetzt echt nicht ertragen! Wahrscheinlich wirft sie mich auch noch von der Schule, wegen Fahrlässigkeit oder so.“ Er lag jetzt ausgestreckt auf seinem Bett, den verletzten Fuß hochgelagert und die Arme hinter dem Kopf verschränkt.
„Ich hol' jetzt die Pauli!“, wiederholte Vicky energisch und stand auf.
„Bis die da ist, bleibst du hier liegen, verstanden?!“. Sie ging zur Tür und warf einen letzten Blick auf Nico. Der hatte die Augen geschlossen und murmelte Unverständliches vor sich hin.


11.Kapitel

Vicky tigerte unruhig vor Nicos geschlossener Zimmertür auf und ab und wartete.
„Schon seit einer geschlagenen halben Stunde ist die in seinem Zimmer“, dachte sie. „Hoffentlich ist nichts gebrochen!“.
Frau Dr. Paulus war Vicky mit einer abgewetzten Ledertasche in sein Zimmer gefolgt und hatte alle anderen mit ein paar Handwedlern vertrieben. Sein Zimmergenosse Sven hatte das mit einem gelassenen Schulterzucken hingenommen, seinem Kumpel viel Glück gewünscht und war im Gemein-schaftsraum verschwunden.
Vicky war einem Nervenzusammenbruch nahe. Zum hundertsten Mal raufte sie sich die Haare und schaute auf die Uhr. Es war kurz nach sechs.
Die Zimmertür wurde geöffnet und die Internatsleiterin kam heraus.
„Wie geht es ihm? Ist was gebrochen?“. Vicky verhaspelte sich vor Aufregung fast.
„Frag ihn selber“, antwortete Frau Dr. Paulus und ging die Treppe runter.
„Hi!“. Vicky schloss die Tür und hockte sich auf die Bettkante.
„Er ist gebrochen!“. Nico verzog das Gesicht zu einer schaurigen Grimasse und schwieg.
„Das darf nicht wahr sein“, flüsterte Vicky. Nico grinste und lachte laut, das ganze Bett wackelte.
„Was gibst denn da zu lachen?!“. Vicky runzelte die Stirn. „Weißt du, wie scheiße das ist? Du kannst mindestens einen Monat nicht reiten, aber Whisky muss bewegt werden und zwar nicht nur auf der Weide.“ Nico hatte sich wieder beruhigt und grinste über beide Backen.
„Drangekriegt!“. Er wischte sich eine Lachträne weg. „Ich wusste gar nicht, dass du dich so leicht veräppeln lässt!“.
Vicky schüttelte verwirrt den Kopf, sie verstand nur noch Bahnhof.
„Mann! Der Fuß ist nicht gebrochen, ist nur 'ne leichte Bänderdehnung! In spätestens drei Wochen kann ich Whisky wieder reiten.“ Nico wedelte mit dem verletzten Fuß in der Luft herum. Vicky schaute irritiert.
„Die Pauli hat mir eine komplette Woche im Bett verordnet. Ich muss zweimal am Tag Salbe drauf schmieren, Sven bringt mir das Essen und die Hausaufgaben, die ich trotzdem machen muss. Die war vielleicht sauer! Hat sich aber schnell wieder eingekriegt. In einer Woche bekomme ich Krücken und darf wieder in den Stall. Sie will dann mal sehen, wie das mit dem Reiten weiter geht.“
Nico legte den Kopf schief. Vicky lachte und rammte ihm leicht den Ellbogen in die Seite.
„Mich so an der Nase herumzuführen, ist echt gemein!“. Sie schaute in seine Augen und lächelte.
„Ich such‘ noch jemanden, der in der Zeit mit Whisky ein bisschen durch die Gegend reitet“, brummte er.
„Ich könnte das gerne übernehmen“, sagte Vicky prompt. Nico schüttelte langsam und bedächtig den Kopf.
„Du bist neu hier, ich will dich nicht noch mehr belasten“. Vicky wollte widersprechen, aber sie tat es nicht.
„Ich muss mich vor dem Abendessen noch umziehen“. Sie stand ruckartig auf und lief zur Tür. Tränen brannten in ihren Augen.
„Du, ich hab dir doch jetzt damit nicht weh getan, oder?“, fragte Nico vorsichtig. Vicky schüttelte den Kopf und rannte auf den Flur hinaus.
Sie senkte den Kopf, während sie über den Hof zum Mädchenturm lief, damit niemand ihr tränenüberströmtes Gesicht sehen konnte.
Ihr Zimmer war zum Glück leer. Sie zog sich Jeans und Fleecepulli an, hängte die Reitsachen in den Schrank und ging ins Bad. Missmutig betrachtete sie sich im Spiegel. Ihre Augen waren ganz rot, ihr Gesicht blass und die Haare zerzaust. Sie fuhr mit den Fingern hindurch und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Nachdem sie es trockengerubbelt hatte, sah sie schon viel rosiger aus und lief in den Speisesaal.

Nicos Unfall hatte sich in Windeseile herumgesprochen. Vicky wurde von verwunderten Blicken verfolgt, während sie mit dem vollen Tablett zum Tisch ihrer Freundinnen ging. Aber dort kam als Begrüßung nur ein kurzes Lächeln von Mara, sonst nichts.
Mit gerunzelter Stirn ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen und schob sich eine Gabel Rotkohl in den Mund. Niemand sagte etwas. Selbst Jessi, die sich das Reden beim Essen nicht verbieten ließ, rührte stumm in ihrem Salat herum. Von Kim hatte Vicky nichts anderes vermutet, als dass sie mit zusammen-gekniffenen Augen und gerunzelter Stirn über dem Bio-Buch hing und sich die Wirkung von Pflanzen auf Wunden und Krankheiten einzuprägen versuchte.
„Ich kann's einfach nicht“, schimpfte Kim, klappte das Buch zu und stach wütend in ihre Bratwurst. Die Soße spritzte hoch und verteilte sich auf dem Rand des Tellers. Kein genervtes Stöhnen oder Augenrollen, auch kein Gekeife von Jessi, nichts! Vicky fühlte sich unbehaglich.
„Ich hatte heute meine erste Springstunde“, durchschnitt ihre Stimme die Stille. Nichts! Selbst für Mara schien es nichts Besseres zu geben, als die weiße Wand anzustarren.
„Freddy kann gut springen!“. Vicky schaute erwartungsvoll in die Runde. Kim hatte die Augen geschlossen und brabbelte irgendwas vor sich hin. Jessi kratze ihr Schälchen aus und schob sich den letzten Rest Wackelpudding in den Mund und Mara spielte gedankenverloren mit ihrem Ohrring.
„Ich bin jetzt Ullmanns neue Reitschülerin“, versuchte Vicky es ein letztes Mal. In Jessi regte sich etwas. Vicky wollte gerade erleichtert aufatmen, aber die Luft blieb ihr im Hals stecken. Mit einem hasserfüllten Blick aus sehr blauen, großen Augen wurde sie von oben bis unten gemustert. Vicky erschrak.
„Sonst wärst du ja wohl nicht hier, oder?“. Spitz und herablassend kam das aus Jessis Mund. Das Mädchen stand auf und warf Vicky noch einen letzten verbitterten Blick zu, dann verschwand sie in Richtung Mülleimer. Mara und Kim folgten ihr auf dem Fuße.
Wie versteinert saß Vicky auf ihrem Stuhl und starrte mit unbewegter Miene auf ihren Teller.
„Was ist los? Es muss doch bestimmt an mir liegen, sonst hätte Jessi sich auch den Kommentar von eben verkneifen können!“. Sie dachte eine Weile darüber nach und kaute währenddessen auf ihrem Knödel herum. Er schmeckte nur noch nach Pappmaché. Eben hatte er Vicky noch geschmeckt, aber jetzt legte sie das Besteck auf den Teller, schob den Stuhl zurück und ließ den Rest ihres Essens unauffällig im Mülleimer verschwinden.
Sie war erschöpft und wäre am liebsten sofort tot ins Bett gefallen, aber dann roch sie an ihrem Ärmel und rümpfte angewidert die Nase.
„Ab unter die Dusche!“, befahl sie sich selber und suchte sich bequeme Anziehsachen aus dem Schrank. Ihr alter Jogginganzug eignete sich perfekt dafür.
Im Waschraum hielt sich nur ein einziges Mädchen auf, das versuchte, vor dem Spiegel den Pickel auf seiner Stirn auszudrücken. Als sie Vicky bemerk-te, die mit Badehandtuch und Duschzeug hinter ihr stand, verzog sie sich. Vicky zog sich aus und verschwand in der Dusche, die ihrem Waschbecken gegenüber lag. Es dauerte ewig, bis sie die richtige Temperatur eingestellt hatte und sich buchstäblich den Dreck vom Körper prasseln ließ. Es war zwar nicht halb so schön wie zu Hause, wo der Wasserstrahl viel weicher war und sie sich seufzend in der Badewanne ausstrecken konnte, aber dennoch stand sie hinterher mit nassen Haaren, die nach Pfirsich dufteten, und einem kuschelweichen Jogginganzug im Zimmer.
„Was war denn eben mit Jessi los?“. Sie hängte ihre Jeans und den Pulli auf den Bettpfosten und hockte sich mit angezogenen Beinen auf die blau-weiße Bettwäsche.
„Keine Ahnung“. Kim blätterte eine Seite ihrer Pferdezeitschrift um und kaute auf ihrem Kaugummi.
„Ich glaub', die hat heute einen schlechten Tag“. Das Thema war für sie beendet! Vicky lehnte sich zurück, bis ihr Rücken die weiße Wand berührte. Sie schloss die Augen und wollte an Bellatrix, Papa und Daniel denken, aber stattdessen tauchte ein ganz anderes Bild in ihrem Kopf auf. Nico, wie er auf seinem Bett lag und sie angrinste, mit diesen weißen Zähnen und den schwarzen Augen, die sie unternehmungslustig anblitzten.
„Du bist neu hier, ich will dich nicht belasten“. Seine Lippen bewegten sich nicht, aber trotzdem wurde der eine Satz wie ein Echo wiederholt.
„Du bist neu hier, ich will dich nicht belasten - Du bist neu hier, ich will dich nicht belasten...“. Nico grinste immer noch und Vicky schien es so, als würden die Worte gar nicht von ihm kommen, sondern von einem Band. Plötzlich kam Vicky ins Bild, Nico hörte auf zu grinsen und lachte so laut los, dass Vicky erschrocken zusammenfuhr.
„Hast nicht erkannt, welchen Schmerz er ertragen muss, hast nur auf dein klopfendes Herz geachtet!“. Das war Josies helle Stimme.
„Welchen Schmerz denn?!“, rief Vicky. „Ich sehe ihm nicht an, dass er Schmerzen hat. Selbst mit einem verletzten Fuß grinst er noch wie ein Honigkuchenpferd.“ Und, Puff, war das Traumbild verschwunden.
„Wem siehst du keine Schmerzen an?“. Kim hatte den Blick von der Zeit-schrift genommen und schaute Vicky neugierig an.
„Ach, nichts!“. Vicky war verwirrt. Wieso hörte sie die Stimme ihrer Mutter, wenn sie an Nico dachte?
„Ich bin einfach gestört“, entschied sie dann und schaute auf die Uhr. Es war zehn. Sie zog ihr Schlafzeug an und kroch unter die Decke. Kim war im Gemeinschaftsraum verschwunden.


12.Kapitel

Den nächsten Tag hatte Vicky sich wesentlich ruhiger vorgestellt. Beim Frühstück wechselten weder Mara noch Jessi ein Wort mit ihr. Im Deutsch-unterricht kündigte Frau Finne eine Arbeit für nächste Woche an. In Politik und Erdkunde schmerzte ihre Hand so sehr vom vielen Schreiben, dass sie einfach nach zweieinhalb Seiten den Füller hinwarf und trotzig die Arme vor der Brust verschränkte. Und in Mathe erklärte Herr Pulzke die Regel für die Zinsrechnung derart kompliziert, dass Vickys Kopf brummte und zu platzen drohte. Mit letzter Kraft schrieb sie die Regel mit Beispielaufgaben in ihr Mathe-Heft und verließ mit dem ersten Gongzeichen den Raum.
Sie war sehr froh, dass heute der Bio-Lehrer Aufsicht während der Hausauf-gaben hatte. So konnte Vicky wenigstens ein bisschen aus dem Fenster schauen und mit den Gedanken abschweifen. Sie schaute zu der Wallach-weide hinüber. Von hier aus hatte man sie gut im Blick. Einige der Pferde standen unter den alten Apfelbäumen und fraßen das Fallobst, andere grasten am Zaun, wieder andere jagten sich gegenseitig im fliegenden Galopp über die Wiese. Vicky stützte das Kinn auf die Handballen und schloss die Augen.
„Muss das herrlich sein, den ganzen Tag draußen zu sein und nur zu den Reitstunden in die Bahn zu müssen. Und das bei dem strahlend blauen Himmel!“
Vicky hatte noch nicht ganz zu Ende gedacht, da traf sie etwas am Kopf. Sie drehte sich um. Auf dem Boden lag ein zusammengeknüllter Zettel. Sie hob ihn auf und faltete ihn auseinander.
„Lass die Finger von Nico!“, las sie.
„Das ist die erste Warnung. Lass die zweite besser nicht kommen. Du wirst dir gewünscht haben, sie nicht bekommen zu haben.“
Der Zettel trug keine Unterschrift, auch die kleinen geschwungenen Buchstaben erkannte sie nicht wieder. Sie schaute sich um. Die anderen zwölf Schüler hockten mit verzweifelten Minen über den Hausaufgaben. Keiner schaute besonders unschuldig. Vicky beschloss, sich später mit der geheimen Botschaft zu befassen, und schrieb weiter an dem Deutschaufsatz. Trotz der lockeren Aufsicht brummte ihr Schädel hinterher wie ein Schwarm Bienen.
Mara, Jessi und Kim schien es nicht anders zu gehen. Mit hängenden Köpfen löffelten sie im Speisesaal den Eintopf. Selbst Kim ließ ihr Formelheft in der Tasche.
„Zum Glück ist heute Mittwoch - Ruhetag. Da muss ich mich nicht auch noch mit Ullmann herumschlagen“, dachte Vicky, nun etwas besser gestimmt.

Im Stall war nicht viel los. Vicky suchte Schubkarre und Mistgabel und schob sie vor Freddys Boxentür. Sie hatte es nur eine halbe Stunde mit dem deutschen Grammatikheft in den Händen ausgehalten, dann war sie in den Stall geflüchtet. Der Schecke hob neugierig den Kopf, als Vicky die Box aufschob und über seine Stirn fuhr.
„Na, hast du mich vermisst?“. Sie klopfte ihm den Hals und griff zum Halfter. Dann brachte sie ihn auf die Weide und begann mit dem Ausmisten. Erst das dreckige Stroh in die Schubkarre, dann einen neuen Ballen aus der Futter-kammer holen und auf dem mit Sägespänen bestreuten Boxenboden verteilen. Als letztes schob sie die schwere Schubkarre zum Misthaufen und kippte sie aus, prüfte die Selbsttränke und putzte die letzten Reste Hafer aus dem Futtertrog. Erschöpft hockte sie sich auf den Steinboden und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Ein Pferd in der letzten Box wieherte, ein anderes antwortete. Vicky rappelte sich auf und ging zu Whiskys Box. Der Wallach musterte das Mädchen argwöhnisch, als es die Tür aufschob und leise murmelnd auf ihn zukam. Sie streckte die Hand aus und strich über seinen angespannten Hals.
„Wer kümmert sich denn jetzt um dich, mein Hübscher?“. Vicky kraulte ihn am Widerrist. Der Schimmel schnaubte und beschnupperte ihre schmutzigen Hände.
„Soll ich gleich mal deinen Reiter besuchen?“. Sie streichelte seine dunklen Nüstern und der Wallach hob den Kopf.
„Ja, soll ich?“. Die Antwort war ein ärgerliches Kopfschütteln. Whisky drehte sich um zeigt Vicky sein Hinterteil.
„Ich glaube, du hältst nichts davon“, stellte Vicky fest und schob die Tür zu.
Ohne darüber nachgedacht zu haben, schlenderte sie zum Jungenturm und die Treppe hoch in den ersten Stock. Als sie an Nicos Zimmertür klopfte, fiel ihr die geheimnisvolle Botschaft ein.
Sie wollte schon kehrtmachen, als sie Nicos Stimme hörte.
„Herein!“
Mit weichen Knien trat sie ein und schloss die Tür hinter sich. Beide Betten waren belegt. Auf dem einen lag Nico mit dem Französisch-Buch vor der Nase und einem Block neben sich. Auf dem anderen lag ausgestreckt Sven und hörte mit geschlossenen Augen Musik. Die Kopfhörer auf seinen Ohren waren riesig. Sein dicker Zeh wippte im Takt der Musik.
„Mensch, Vicky! Dich hätte ich nicht erwartet!“. Nico schlug das Buch zu und rückte zur Seite. Vicky hockte sich auf die Kante seines Bettes.
„Nachdem du gestern so wütend raus gerannt bist...“. Er grinste leicht und drehte den Kugelschreiber zwischen Daumen und Zeigefinger.
„Ich glaube, du hättest lieber eine andere Antwort gehört, was Whiskys Pflege angeht. Nicht wahr?“. Er suchte Vickys Blick, doch sie wich seinen schwarzen Augen aus und lief rot an.
„Äh, das gestern, das war nicht so gemeint, ich... - ach, ich weiß auch nicht, was gestern mit mir los war!“. Sie brach ab und starrte auf ihre Hände. Schlaff lagen sie auf der grünen Bettdecke.
„Ich weiß es!“. Triumphierend klatschte Nico in die Hände. Erschrocken fuhr Vicky hoch.
„Was weißt du?“, stammelte sie. „Warum dein Pferd durchgegangen ist, oder was? Also ich kann's mir, ehrlich gesagt, nicht erklären.“
Wenn sie bei dem Jungen gut ankommen wollte, musste sich für ihn interessieren. Das hatte sie von Daniel erfahren. Doch sie interessierte sich kein bisschen dafür, warum der Schimmel einfach losgaloppiert war. Sie wollte, dass es Nico endlich besser ging.
„Nein, ich weiß, was gestern mit dir los war!“. Vicky errötete noch mehr.
„Du wolltest, dass ich dich darum bitte. Damit du weißt, dass ich dich nett finde. Doch stattdessen nenne ich gar keinen Namen. Ich sagte dir, ich wolle dich nicht weiter belasten, damit du dich besser um die Schule kümmern kannst. Doch du fasst das als Abfuhr auf. Du denkst, ich schätze dich und deine Vernunft nicht. Aber das gerade tue ich doch, Vicky! Wenn du vernünftig bist, hängst du nicht nach den Hausaufgaben im Stall herum, sondern konzentrierst dich auf deine schulischen Leistungen. Verstehst du mich? Außerdem sollte es jemand sein, der Dressur reitet. Whisky ist sehr gut und sollte während meiner Abwesenheit auch ein anspruchsvolles Training bekommen. Versteh mich bitte!“. Auf einmal klang er hilflos.
„Ich mag dich und daran ändert sich nichts, auch wenn du mein Pferd nicht pflegst. Vicky, verzeih mir. Bitte!“.
Vicky nickte stumm und schaute auf.
„Woher hast du denn diese perfekte Rede? Ich hätte mich tausendmal verhaspelt“, grinste sie.
„Zudem hat deine Stimme irgendwas Beruhigendes. Ich finde, du solltest Ansprechpartner für aggressive Menschen werden!“. Nico seufzte erleich-tert und grinste von einem Ohr bis zum anderen.
„Du hast Recht! Aber könnte ich nicht Ansprechpartner für aggressive PFERDE werden? Das würde besser zu mir passen!“.
Nicos Lachen war so ansteckend, dass Vicky schon bald Seitenstechen bekam.
„Du meinst so eine Art Pferdeflüsterer?“, japste sie und prustete schon wieder los.
„Nee, aber jetzt mal im Ernst. Kennst du vielleicht jemanden, der sich um Whisky kümmern könnte?“ Nico schaute Vicky erwartungsvoll an.
Vicky dachte einen Moment nach. Jessi vielleicht? Die ritt doch auch Dressur. Aber dann fiel ihr das verärgerte und zugleich traurige Gesicht ein, als sie Nico gesehen hatte.
„Ja, ich kenne jemanden. Sie hat ihr Pferd zwar im Stutenstall, aber das ist bestimmt kein Problem. Sie heißt Mara de Souza und geht in meine Klasse. Ich weiß nur nicht, ob sie Dressur reitet...“.
Wieso war ihr Mara eingefallen? Sie hatte doch eben noch an Jessi gedacht.
„Ach ja, ich kenne Mara, sie ist in meiner Gruppe! Wir trainieren in der gleichen Leistungsklasse. Ihre Stute Karfunkel ist einfach klasse!“. Nico seufzte und seine Augen leuchteten.
„Ich werde sie mal fragen. Danke für den Tipp, Vicky!“ Er grinste.
„Aber jetzt muss ich leider meine Hausaufgaben weiter machen. Du kannst mich morgen wieder besuchen, ja?“. Er schlug sein Buch auf und begann zu lesen.
„Ich sag' Mara dann Bescheid“. Auf Zehenspitzen verließ Vicky das Zimmer.
Sie suchte sie erst im Gemeinschaftsraum - da war sie nicht. In ihrem Zimmer auch nicht. Da blieben ja nur noch der Hof, die Weide und der Stall.
Vicky wollte gerade zu den Stallungen gehen, da entdeckte sie Mara. Sie hockte mit ein paar anderen Mädchen auf einem mit Moos überwachsenen Mauervorsprung. Sie trug Reitkleidung und lachte fröhlich. Neben ihr hockte Jessi und aß eifrig Gummibärchen.
„He! Lass' mir auch ein paar, du Vielfraß!“.
Das dritte Mädchen auf der Mauer kannte Vicky nicht. Lachend riss sie der Freundin die Packung aus der Hand, nahm gleich zwei Hände voll heraus und stopfte sich die farbigen Bärchen in den Mund. Sie bekam ihn deshalb kaum zu.
„Hi!“. Vicky war bei der Gruppe angekommen und sah auf den Boden. Wie Jessi sie wieder anstarrte! Das war ja kaum auszuhalten.
„Was willst du?“, fauchte Jessi, „du siehst doch: du störst!“
Mara warf ihr einen warnenden Blick zu und schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Na, was hat dich hierher verschleppt?“. Mara lächelte Vicky aufmunternd zu und sie und das fremde Mädchen rückten auseinander.
Vicky setzte sich in die Lücke und ließ die Beine baumeln. Es war ihr unange-nehm, vor Jessi zu reden, und sie wollte nicht schon wieder angekeift werden.
„Na, jetzt red' schon!“. Das Mädchen zu ihrer Rechten schaute sie etwas ungeduldig an. Sie hatte schulterlange, kastanienbraune Haare und mindes-tens zwei Pfund Schminke im Gesicht.
„Ich war eben bei Nico“, begann sie und musterte Jessi aus dem Augenwin-kel. Diese atmete hörbar aus und verknotete die Finger miteinander, sagte aber nichts. Das ermutigte Vicky, weiter zu sprechen.
„Ihr wisst ja, was mit ihm passiert ist“. Mara und das brünette Mädchen nickten.
„Und er braucht halt jemanden, der sein Pferd versorgt. Ich dachte an dich, Mara, und ich habe ihm versprochen, dich zu fragen, ob du Whiskys Pflege übernehmen möchtest. Genaueres musst du mit ihm besprechen.“
Ein wenig ängstlich schaute sie Mara von der Seite an. Gelassen zuckte die mit den Schultern.
„Kann ich machen“. Sie rutschte von der Mauer. „Welches Zimmer hat er?“
„112“, sagte Vicky wie aus der Pistole geschossen. Mara nickte, lächelte Vicky zu und schlenderte zum Jungenturm.
„Du weißt also schon, welches Zimmer er hat!“, stieß Jessi hervor und musterte Vicky so giftig, das ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken lief.
„Ich geh jetzt mal“, sagte sie hastig und lief in den Mädchenturm.
Den Rest des Tages verbrachte sie mit dem deutschen Grammatikheft in ihrem Zimmer.


13.Kapitel

Nach dem Abendessen ging sie in den Stall, um Freddy von der Weide zu holen. Sie öffnete das Gatter und ging zu den Bäumen. Der Schecke hob den Kopf, als er Vicky sah, und kam auf sie zu. Einige Grashalme hingen ihn aus dem Maul.
„Süß siehst du aus“, flüsterte das Mädchen entzückt, zog ihm sacht die Grashalme aus dem Maul und streifte ihm das Halfter über.
Vor der Boxentür des Schecken stand Paul mit grimmiger Miene und verschränkten Armen.
„Guten Abend, Paul“, sagte Vicky höflich und wollte ihr Pflegepferd in die Box führen, doch der Stallmeister versperrte ihr den Weg. Vicky schaute etwas irritiert in Pauls faltiges Gesicht.
„Vicky!“. Seine Stimme bebte und seine Augenbrauen berührten sich fast. Er war wütend.
„Ich mag dich sehr gerne, aber das geht gar nicht! Schaust du dir bitte mal Freddys Box an!“.
Vicky lugte um die Ecke. Der Boxenboden war mit Pferdeäpfeln übersät!
„Aber...“, stotterte sie. „Ich habe heute Morgen seine Box ausgemistet, und seitdem stand er auf der Weide. Also, er kann es nicht gewesen sein! Nein..., das kann nicht sein, Paul!“
Paul lächelte spöttisch.
„Du siehst doch, dass es so ist! Und wer bitte soll in Freddys Box gewesen sein? Ein Mensch kann wohl keine Pferdeäpfel produzieren, wenn du das glaubst, bist du auf der falschen Spur“. Er lachte grimmig, wurde aber schnell wieder ernst.
„Es war Freddy - DEIN Pferd! Du bist dafür verantwortlich und niemand anderes!“. Er deutete in die dreckige Box.
„Du machst das jetzt sauber, und zwar zackig! In einer halben Stunde schließe ich ab!“. Paul ging mit langen Schritten in sein Büro.
Vor der Tür drehte er sich noch mal um und sagte:
„Ich werde natürlich Frau Dr. Paulus darüber informieren!“ Die Tür schlug zu.
Vicky starrte ihm mit offenem Mund hinter ihm her. Wie versteinert hielt sie Freddys Halfterschnur in der Hand. Sie schüttelte immer wieder den Kopf.
„Das geht nicht“, murmelte sie vor sich hin und band den irritierten Sche-cken an.
„Wieso darf ich nicht in meine Box?“, schien er zu fragen. Vicky griff nach der Mistgabel und begann mit der Arbeit. Ihr Gehirn ratterte, aber sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Völlig erledigt machte sie Freddy schließlich los und gab ihm noch eine Möhre, bevor sie die Boxentür zuschob.
„Gute Nacht, mein Süßer“, seufzte sie müde und schlurfte aus dem Stall. In ihrem Zimmer angekommen, zog sie sich ihren Jogginganzug an und warf sich mit ihrem IPod auf das ungemachte Bett. Mit gerunzelter Stirn starrte sie an die Decke und dachte über die Ereignisse des Tages nach.
„Okay. Jessi redete nicht mehr mit mir. Ich habe eine geheimnisvolle Warnung bekommen. Freddys Box war verdreckt, obwohl er die ganze Zeit auf der Weide war, und Paul hat jetzt einen schlechten Eindruck von mir bekommen“. Sie stöhnte auf. Das war einfach zu viel für die ersten Tage.
Sie kramte den zerknüllten Zettel aus der Jeans, die über dem Bettpfosten hing. Vorsichtig faltete sie ihn auseinander. Die Schrift konnte nur von einem Mädchen sein. Vicky hatte einen Jungen noch nie so klein und ordentlich schreiben sehen.
Da befürchtete jemand also, dass sie ihm Nico wegnehmen könnte. Aber wer? Als erstes fiel ihr Jessi ein. Sie hatte immer so komisch geguckt, wenn sie Vicky und Nico miteinander gesehen hatte. Vicky beschloss, sie morgen etwas aufschreiben zu lassen und die beiden Schriften dann zu vergleichen. So, mehr konnte sie bis jetzt nicht tun.
Also zu Punkt zwei: die dreckige Box. Vicky ging alles noch mal im Kopf durch. Freddy hatte von halb Zehn bis um kurz nach Sieben den Boxenboden nicht mehr berührt. Konnte jemand die Box als Misthaufen genutzt haben? Nein. Dafür waren die Pferdeäpfel viel zu ordentlich auf dem Stroh verteilt gewesen. Nirgends waren zwei Äpfel aufeinander geschaufelt worden. Und gewöhnlich, wenn man die Schubkarre ausleerte, kam alles auf einen Schwung heraus und blieb auch so. Außer, man verteilte es mit Absicht... - mit Absicht!!!
Vicky kam der Gedanke absurd vor, aber sie dachte ihn zu Ende. Vielleicht spielte ihr jemand einen Streich. Jemand wollte sie bei Paul und der Pauli schlecht machen!
Das war's!
Sie lächelte zufrieden, aber das Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war. Dieser Jemand gefährdete Freddys Gesundheit! Wut kochte in Vicky Magen und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.
Aber im Moment hatte sie keine Lust, den Täter zu suchen. Erstens war sie viel zu müde, und zweitens hätte sie ihn gerne eigenhändig zerquetscht - und das war ganz bestimmt nicht sinnvoll, ganz und gar nicht!
Etwas stieß gegen ihr Bett. Sie öffnete die Augen. Kim schob etwas auf einem Tisch zum Fenster. Vicky setzte sich auf und zog sich die Stöpsel ihres MP3-Players aus den Ohren.
„Was soll das denn werden?“, fragte sie misstrauisch und musterte den Glaskasten auf dem Tisch. Kim machte den Deckel auf und legte ein paar Salatblätter auf den schon mit reichlich Grün bedeckten Boden. Zufrieden setzte sie sich auf ihr Bett.
„Darf ich vorstellen: Speedy und Jimi!“. Sie grinste Vicky an. „Die Schnecken brauche für einen Wettbewerb.“
„SCHNECKEN!“, schrie Vicky und starrte entgeistert auf eines der beiden Tiere, das sich langsam über ein schon recht welkes Salatblatt hermachte.
„Nicht in meinem Zimmer! Du bringt diese Viecher raus, oder ich ruf‘ die Pauli!“
„Erstens: Die Pauli hat's mir erlaubt!“. Kim setzte ein wichtiges Gesicht auf.
„Zweitens gehört nur eine Hälfte des Zimmers dir und die andere mir! Und drittens sind das süße kleine Nacktschnecken und die habe ich vor Scottys Maul gerettet.“
Vicky stöhnte und ließ sich auf das Kissen zurücksinken.
„Kleine süße Nacktschnecken“, murmelte sie. Konnte es noch schlimmer werden?
14.Kapitel

Vicky hätte sich nie träumen lassen, das der nächste Tag noch schlimmer werden könnte. Aber beim Frühstück fing es schon an.
Sie wollte gerade herzhaft in ihr Sesambrötchen beißen, als ein Mädchen am Nachbartisch loskreischte. Vor Schreck ließ Vicky das Brötchen zurück auf den Teller fallen.
„Eine Schnecke - IGITT!!“, rief das Mädchen und sprang so hastig von ihrem Stuhl, dass der umkippte.
„WO ist eine Schnecke?“. Die Küchenchefin wollte sich einen Weg zwischen den aufgeregten Schülern zu bahnen, aber keiner ließ sie durch. Vicky warf einen kurzen Blick zu Kim, aber die saß nicht mehr auf ihrem Platz.
„Lasst mich durch!“, rief die Köchin und quetschte sich an einem kleinen Jungen vorbei, der ihr entgeistert nachstarrte.
„Ich fass' es nicht!“. Vicky vergrub das Gesicht in den Händen.
„Mann, ist das peinlich!“, stöhnte Jessi und atmete tief durch.
„Kim ist echt ein bisschen durchgeknallt“. Das war Maras Kommentar.
„Nicht nur ein bisschen!“. Jessi stand auf und verließ den Speisesaal auf schnellstem Wege. Ihr Tablett hatte sie stehen lassen.
„So eine kann ich sehr gut gebrauchen!“. Kim war wieder da und setzte die graue Schnecke behutsam auf ihre Serviette. Vicky und Mara rutschten so weit wie es ging von ihr weg.
„Wie soll ich sie bloß nennen?“, überlegte Kim laut und legte den Kopf schief.
„Wie wär's mit „Ich werde von allen Seiten gehasst“?“, schlug Mara spöttisch vor und bestrich ihren Toast mit Marmelade. Kim starrte sie entgeistert an.
„Wie kommst du denn auf so eine Idee? Die ist doch voll süß!“
„Ich weiß, welcher Name zu ihr passen könnte“, rief Vicky und Kim schaute interessiert auf.
„Schleimy“, schlug Vicky trocken vor und erntete dafür ein tadelndes Kopfschütteln von Kim.
Das war das sehr appetitliche Frühstück - aber das war noch nicht alles.
In der ersten Stunde ließ Buntke einen Chemietest schreiben. Vicky bereute, dass sie sich nicht neben Kim gesetzt hatte. Die gab ihren Test schon ab, als Vicky immer noch an ihren Fingernägeln knabberte. Nichts wollte ihr einfallen, aber auch gar nichts! Ein oder zweimal schaute sie zu Nicky rüber und schrieb ein paar Sätze ab. Aber als ihr einfiel, dass ihre Banknachbarin gerade das Gesetz für die Dezimalrechnung notiert hatte, killerte sie alles wieder weg. Doch leider war ihr Tintenkiller beim vorletzten Satz völlig leer.
„Verdammt“, zischte sie und schmiss ihn von ihrem Platz in der ersten Reihe in den Müll. Nicky warf ihr einen schnellen Seitenblick zu und runzelte die Stirn. Buntkes blaue Augen ruhten auf ihr, nun traute Vicky sich erst recht nicht, Nicky nach ihrem Killer zu fragen. Das war die erste Stunde...
In der zweiten ließ die Pauli einen Vokabeltest schreiben, den Vicky in einer Viertelstunde fertig hatte. Sie gab das Blatt ab und lehnte sich zufrieden zurück. Mit Sprachen hatte sie noch nie ein Problem gehabt. Die Pauli stand von ihrem Chefsessel hinter dem Pult auf und ging durch die Reihen. Hier und da warf sie einem ihrer Schüler ein freundliches Lächeln zu. Vor Vickys Tisch in der vorletzten Reihe blieb sie stehen.
„Du sollst zu Paul kommen“, flüsterte sie ihr zu und schob ihre Brille hoch. „Er hat was mit dir zu besprechen.“
„Jetzt, sofort?“, fragte Vicky verblüfft. Warum in Gottes Namen wollte der Stallmeister sie mitten im Englischunterricht sprechen?
Frau Dr. Paulus nickte und ging wieder nach vorne.
„In zehn Minuten seit ihr fertig!“, rief sie an die Klasse gewandt und nickte Vicky aufmunternd zu, die schon halb aus der Tür war.
Mit jedem Schritt, den sie dem Stall näher kam, wurde ihr mulmiger zu Mute. War es wegen dem Vorfall gestern? Ihre Hände wurden feucht. Sie öffnete die Stalltür und ging auf Paul zu, der neben der Futterkammer stand. Er hielt Freddy locker am Halfter und sah sehr wütend aus.
„Ich kann es nicht fassen!“, zischte er als Begrüßung.
„Weißt du, dass du deswegen von der Schule fliegen kannst?!“. Er umklam-merte das Halfter so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
„Weswegen? Wegen Freddys Box?“, fragte Vicky und strich dem Schecken über die Stirn. Er schnaubte schlaff und senkte den Kopf.
„Er war die ganze Nacht in der Futterkammer! ER HAT DIE HAFERTONNE HALB LEER GEFRESSEN!!!!“.
Paul schrie so laut, dass Vicky erschrocken ein paar Schritte zurückwich, um ihr Trommelfell zu entlasten. Freddys Ohren spielten müde.
„Wie bitte?“, fragte Vicky entsetzt.
„Du hast genau gehört, was ich gesagt habe!!!“, donnerte Paul aufs Neue los.
„Geh jetzt mit ihm spazieren, er braucht Bewegung. Du kannst froh sein, wenn du ihn heute Mittag wieder reiten kannst!“
Paul verließ mit langen, energischen Schritten den Stall. Mit zitternden Fingern fuhr sie dem Schecken über das Maul.
„Was haben sie bloß mit dir angestellt?“, murmelte sie vor sich hin und musterte den Wallach von der Seite. Irgendwie sah er etwas rundlicher aus. Langsam folgte er ihr aus dem Stall. Vicky ging mit ihm die Wanderwege entlang, einmal um den See herum und wieder zurück. Als sie ihn in die Box gestellt hatte, klingelte es bereits zum Mittagessen. Sie hatte jetzt also zwei Stunden Unterricht verpasst. Na toll! Und Deutsch war die letzte Stunde vor der Arbeit!
Da kam ihr ein genialer Einfall.
Sie nahm ihr volles Tablett und setzte sich neben Mara. Ihr gegenüber hockte Jessi und löffelte träge ihre Gemüsesuppe.
„Hi, Jessi“. Vicky lächelte breit und Jessi schaute tatsächlich auf.
„Ich habe ja den Deutschunterricht verpasst. Kannst du mir vielleicht aufschreiben, was ihr heute durchgenommen habt?“.
Jessi antwortete nicht, sondern starrte Vicky nur an.
„Und warum sollte ich das tun?!“. Sie klang beherrscht.
„Du hast auch was gut bei mir“, beeilte Vicky sich zu sagen.
„Ach, und was?“. Jessi schob sich einen weiteren Löffel Suppe in den Mund. Vicky schaute hilfesuchend zu Mara, die aufmerksam mitgehört hatte.
„Schlag ihr irgendwas mit Pferden vor“, zischte diese ihr ins Ohr, „so kriegst du sie bestimmt rum.“
Vicky kratzte ihre Schüssel aus und dachte nach.
„Ich putze drei Tage lang nach dem Reiten dein Pferd“. Die Idee fand sie eigentlich gar nicht so schlecht, aber Jessi schwieg.
„Okay - eine Woche.“ So lange wollte Vicky ihr eigentlich nicht zu Diensten sein, aber sie musste an die verdammte Handschrift herankommen. Ihn Jessis Gesicht regte sich etwas, sie schaute auf.
„Abgemacht. Eine Woche. Aber Paul darf davon nichts erfahren!“.
Vicky überlegte einen Moment
„Und du putzt zusätzlich noch Furfurs Box!“.
Sie seufzte.
„Na gut. Aber nur eine Woche!“
Jessi kramte ein Stück Papier aus ihrer Schultasche, ließ sich von Kim einen Stift geben und schrieb das heute gelernte Grammatikthema auf.
„Hier“. Sie drückte Vicky den Zettel in die Hand.
„Du kannst gleich mit der Box und dem Satteln anfangen, ich möchte Furfur heute länger trainieren.“ Sie schob ihren Stuhl zurück und marschierte zur Tablettrückgabe.
„Puh, da hast du dir aber viel vorgenommen!“, sagte Mara. Sie stand ebenfalls auf und verließ den Speisesaal. Vicky stöhnte. Wie konnte sie bloß auf die total bescheuerte Idee kommen, sich von Jessi erpressen zu lassen?! Aber dafür hielt sie genau das in den Händen, was sie haben wollte. Immer-hin! Dennoch war der Preis dafür ziemlich hoch.
Vicky beschloss, sich gleich an die Arbeit zu machen, und ging in ihr Zimmer, um sich Reitsachen anzuziehen.


15.Kapitel

Als sie den Stall betrat, stand Mara in Freddys Box und strich dem Schecken über den gewölbten Hals.
„Was ist denn nun wieder los?“. Langsam war Vicky richtig genervt.
„Als ich eben zu Whisky in die Box gegangen bin, habe ich gesehen, dass Freddy ziemlich bedröppelt in seine Tränke geschaut hat. Ich bin zu ihm in die Box gegangen und habe nach der Ursache für sein Verhalten geschaut. Sieh dir das mal an!“. Mara machte Vicky Platz.
Sie ging zur hinteren Boxenecke und beäugte die Selbsttränke.
„Was ist denn damit?“
„Drück sie mal runter!“.
Mara sortierte derweil Strohhalme aus Freddys Mähne. Vicky gehorchte. Aber die Tränkentaste ließ sich nicht herunterdrücken.
„Sag nicht, dass die kaputt ist!“. Langsam wurde sie wütend. Da machte also jemand mit Absicht Gegenstände kaputt, um ihr und dem Pferd zu schaden!
„Sie ist nicht kaputt - schau mal unter das Mundstück!“. Mara war immer noch die Gelassenheit in Person.
Vicky hob das grüne Mundstück an und erstarrte: Darunter war eine Schicht aus zusammengepressten Stroh und Heu versteckt. Deswegen ließ sie sich nicht benutzen!
„Erst dachte ich, er macht sich sein eigenes Müsli“. Mara grinste.
Vicky hatte jedoch gar nicht zugehört.
„Das war nicht Freddy, das war jemand anderes!“, stieß sie hervor und ließ sich auf den dreckigen Boden gleiten.
„Hm“, meinte Mara nur und hockte sich neben die aufgewühlte Vicky.
„Das wird schon wieder!“. Sie reichte Vicky ein Taschentuch.
„Gar nichts wird wieder!“, schluchzte diese und wischte sich notdürftig die Tränen ab, aber der nächste Schwall war schon im Anmarsch.
„Paul kommt! Tu so, als würdest du Freddys Schweif entwirren! Und zeig ihm auf keinen Fall dein Gesicht“, zischte Mara und machte sich an Freddys Mähne zu schaffen.
Vicky rappelte sich ebenfalls auf und fuhr mit bloßen Händen durch den braunen Schweif. Absätze waren zu hören und sie sah aus dem Augenwinkel, dass der Stallmeister schon vor der Box stand.
„Ihr seid fleißig am arbeiten…“, sagte er zu Mara. Vickys Anwesenheit ignorierte er einfach.
„Ich finde es übrigens klasse von dir, dass du dich so gut um Whisky küm-merst, wo Nico ja jetzt ausfällt.“
Mara schenkte ihm ein huldvolles Lächeln, bevor sie sich wieder um Freddys Mähne kümmerte.
„Nun ja, viel Spaß noch beim Putzen!“ Paul lachte und entfernte sich.
Vicky wartete noch, bis die Stalltür zuknallte, dann setzte sie sich wieder auf den Boden und begann von neuem loszuheulen.
„Jetzt sag doch mal, was los ist! Da muss doch noch was gewesen sein!“. Mara hatte sich wieder neben sie gesetzt.
„Allerdings“, antwortete Vicky tonlos und vergrub das Gesicht in den Händen.
„Was denn?“. Mara rieb sie leicht an der Schulter.
„Ich erzähl dir alles nach dem Reitunterricht, ja? Um Fünf bin ich fertig!“.
Vicky stand auf und wischte sich die Tränen weg. Sie musste sich mit dem Aufsatteln von Furfur beeilen, um keinen Ärger zu bekommen. Sie ging an den Boxen entlang und hielt vor der des Rappen.
„Okay. Bis dann. Ich komm dann zu dir ins Zimmer.“ Mara verließ den Stall.
Vicky hatte Jessis Pferd recht schnell fertig gemacht und war gerade dabei, seinen Sattelgurt anzuziehen, als Jessi die Stallgasse entlang kam.
„Danke“. Sie nahm seine Zügel entgegen und verließ den Stall wieder.
Vicky war ziemlich verblüfft. Und starrte ihr einen Moment nach, bevor sie ihr Pflegepferd fertig machte. Der Springunterricht begann in zehn Minuten.
Als sie mit Freddy in die Halle kam, war Ullmann nirgends zu sehen. Sie gurtete nach, ließ die Steigbügel herunter und ritt den Wallach langsam auf dem Hufschlag ein. Nach einer Weile kam Herr Ullmann.
„Wir springen auf dem Platz, also Abmarsch mit euch nach draußen!“, rief er zur Begrüßung.
Die Reiter stiegen von ihren Pferden und führten sie geordnet auf den Sandplatz hinter der Halle. Es war warm geworden, schon beim Traben begannen Vicky und auch Freddy zu schwitzen. Das Training war mehr als anstrengend und Freddy war froh, als seine Besitzerin ihm endlich die Zügel lang ließ und er gemächlich im Schritt sein Runden drehen durfte.
Nach dem Absatteln verpasste Vicky ihrem Liebling eine kalte Dusche, fuhr mit dem Schweißmesser über das tropfende Fell und band ihn vorerst an einen der Ringe, um seine Box noch ausmisten zu können. Schweißperlen rannen ihr über die Stirn, als sie den Wallach in die saubere Box führte. Er stürzte sich sofort auf die wieder funktionierende Tränke.
Vicky gönnte sich keine Auszeit. Sie fuhr mit der Schubkarre zu Furfurs Box und machte sich daran, diese ebenfalls auszumisten. Total am Ende schob sie dann die volle Karre zum Misthaufen, leerte sie aus und brachte sie in die Futterkammer zurück.
Sie keuchte und schwankte, als Jessi ihr wortlos Furfurs Zügel in die Hand drückte. Und weg war sie wieder.
Vicky schaffte es noch, den Sattel wegzubringen, ihn überzuputzen, die Trense sauber zu machen, die Hufe auszukratzen und seine Beine mit lauwarmen Wasser abzuduschen, dann musste sie sich setzen.
Ihre Beine zitterten so sehr, dass sie Vicky nicht mehr tragen wollten, sie klappten einfach unter ihr zusammen. Wie eine Marionette, deren Schnüre gerissen waren, hing sie auf dem Strohballen. Sie starrte auf die gegenüber-liegende Boxenwand und atmete stoßweise ein und aus. Furfur zupfte zufrieden ein paar Strohhalme aus dem Ballen und mümmelte sie genüsslich.
Die Stalltür wurde geöffnet, Vicky schaute träge zur Tür.
Auf einmal strömte Adrenalin durch ihren Körper, sie war hellwach! Der Mann, der im Büro verschwand, war niemand anderes als Paul!
Leise ließ sich das Mädchen von seinem Sitzplatz gleiten und schlich geduckt an den Boxen vorbei. Der Wallach folgte ihr bereitwillig.
„Du musst jetzt leise sein, mein Süßer“, zischte sie ihm ins rechte Ohr. Und wie bei Vicky der Erdkundeunterricht, ging dieser Satz bei Furfur durchs linke Ohr wieder raus, denn er wieherte so laut, dass Vicky erschrocken zusammenfuhr.
Auch Paul hatte das gehört und kam aus dem Büro.
Zum Glück waren Vicky und Furfur da schon in der richtigen Box angekom-men.
„Na, was ist denn das für ein Lärm?!“. Paul kam die Stallgasse entlang. Vicky hielt die Luft an. Leise schob sie die Boxentür zu und löste die Schnur vom Halfter, damit der Stallmeister keinen Verdacht schöpfte.
Zusammengekauert hockte sie in der linken Boxenecke und versuchte, ganz ruhig zu bleiben. Zum Glück stand der Rappe immer noch vor ihr und leckte an seinem Salzstein. Doch wie lange würde er das tun?
„Lass dir Zeit, bitte!“, betete sie und rutschte noch weiter in die Ecke.
Vicky presste die Augen zusammen und horchte. Paul war nur noch ein paar Boxen entfernt. Das Klackern der Absätze wurde lauter und ihr Herzschlag ebenfalls. Furfur ging ein paar Schritte zurück und begann mit dem Vorder-huf im Stroh zu scharren.
„Keine Aufmerksamkeit erregen!“, flehte Vicky innerlich. Sie zitterte so sehr, dass ihre Zähne aufeinander schlugen. Sie hörte Pauls Atemzüge, er stand jetzt direkt vor ihrer Box.
Vickys hielt die Luft an. Sie sah sich schon mit einem Schulverweis in der Hand nach Hause fahren. Ein Schauer ließ ihren Körper erzittern. Furfur hatte den Ruck mitbekommen, er senkte den Kopf und stupste sie vorsichtig mit den Nüstern an. Vicky blieb starr wie eine Statue sitzen. In ihren Gedanken sah sie, wie Paul die Boxentür aufschob, Furfur sich umdrehte und sich seiner Tränke widmete und...
Sie öffnete das eine Auge, dann das andere. Eine Tür schlug zu.
Sie blieb noch einen Moment sitzen, dann zog sie sich langsam hoch und linste durch die Gitterstäbe. Die Stallgasse war leer! Vicky atmete erleichtert auf.
„Fein, meine Kleiner“, flüsterte sie und schlang die Arme um seinen Hals. Der Wallach rieb zufrieden seinen großen Kopf gegen ihre Schulter.
Vickys Puls wurde langsamer, der Schreck war überstanden. Sie nahm Furfur das Halfter ab, schob die Tür leise auf, schlüpfte hindurch und hängte es auf seinen Haken, dann verließ sie mit weichen Knien den Stall.


16.Kapitel

Als sie sich unter der Dusche den Schweiß von der Haut wusch, kamen ihr plötzlich wieder die Tränen. Es war zu viel auf einmal. Einfach zu viel. Sie drehte den Hahn zu und wrang die Haare aus, dann griff sie zu ihrem Handtuch. Gerade mal drei Tage war sie hier und schon wurde sie gehasst. Ja, sie wurde gehasst!
Es wurde Zeit, alles Mara zu erzählen. Sie zog sich Jeans und T-Shirt an und schlüpfte in ihr Zimmer. Kim hockte bei Jessi. Die beiden lasen Mode- und Pferdezeitschriften, das hatte die Zimmergenossin ihr eben im Rausgehen verkündet. Vicky setzte sich auf ihr Bett und wartete darauf, dass Mara kam.
Es war fünf vor Fünf - Mara war überpünktlich! Sie setzte sich neben die Freundin und schaute sie erwartungsvoll an.
Vicky ließ in ihrer Schilderung nichts aus. Selbst von dem verhauenen Chemietest erzählte sie kleinlaut.
Mara war eine gute Zuhörerin, sie unterbrach Vicky nicht und stellte keine dämlichen Fragen.
Eine Weile schwiegen die beiden. Leise begann Vicky zu weinen, ohne dabei einen Ton von sich zu geben. Mara legte ihr den Arm um die Schultern.
„Ich weiß, wo du jetzt hingehörst“, flüsterte sie, „zu Nico, er heitert dich bestimmt wieder auf.“
Doch Vicky schüttelte den Kopf und kramte in ihrer Nachttischschublade nach einer Packung Taschentücher.
„Mich kann niemand aufheitern!“. Sie putzte sich geräuschvoll die Nase. „Schau doch mal, wie ich aussehe. Völlig verwüstet!“
„Nico versteht dich bestimmt“, versuchte es Mara erneut.
„Ach ja, und woher willst du das wissen?“. Langsam wurde Vicky wütend. „Lass mich doch einfach in Ruhe!“
Mara nickte verständnisvoll und erhob sich.
„Wenn du willst, entschuldige ich dich bei der Witting“, sagte Mara und blieb unschlüssig in der Tür stehen. Vicky nickte, zu etwas anderem war sie nicht mehr in der Lage. Mara zog leise die Tür zu.
Vicky vergrub ihr Gesicht in ihrem Kopfkissen. Auf einmal hatte sie schreckli-ches Heimweh. Nach ihrem Vater, dem Hof, nach Daniel, den endlosen Ausritten auf Bellatrix, und vor allen Dingen hatte sie Sehnsucht nach Damals.
Sie schloss die Augen. Wäre sie doch bloß nicht auf die Anzeige eingegan-gen.


17.Kapitel

Vickys Wecker piepte laut und drängend. Verschlafen blinzelte sie auf das Zifferblatt.
Mit einem Schlag war sie hellwach! Es war kurz vor sechs!
Wer bitte hatte den Wecker so früh gestellt? Sie auf jeden Fall nicht!
Sie fuhr sich durch die zerzausten Haare und rappelte sich langsam auf. Ihr Kissen war feucht. Sie hatte in der Nacht geweint. Sie trug auch keinen Schlafanzug, sondern noch die gleichen Sachen wie gestern Abend. Sie war wohl eingeschlafen.
Jetzt, wo sich ihre Augen an das Dämmerlicht im Zimmer gewöhnt hatten, sah sie den Zettel, der unter dem Wecker lag. Sie nahm ihn in die Hand und las:
„Ich habe dir den Wecker gestellt. Wie gesagt, Paul darf von dem Putzen und Ausmisten für mich nichts mitbekommen. Also musst du jetzt in den Stall, um ihn auf die Weide zu bringen. Der Stall ist noch zu, aber ich habe mir den Schlüssel besorgt. Lass ihn nirgends liegen, sonst fliegst du bei Paul auf. Sei also gewarnt! Achtung: Die Pauli ist schon wach, also mach hinne und schleich' dich gefälligst an der Wand entlang. Ich habe dir ebenfalls den Schlüssel vom Schloss besorgt. Ich brauch ihn beim Frühstück wieder. Jetzt beeil dich und verlier ja keine Zeit!!! Jessi“
Vicky blieb der Mund offen stehen. Das gab's doch nicht! So eine Frech-heit!!! Aber sie musste folgen…
Sie steckte die Schlüssel in die Hosentasche und schaute zu Kim herüber. Die lag mit dem Gesicht zur Wand auf ihrem Bett und schien tief und fest zu schlafen. Vicky war beruhigt. Sie erhob sich und schlich leise aus dem Zimmer.
Die Turnschuhe in der einen Hand, die andere am Geländer, schlich sie auf Zehenspitzen die Treppe herunter. Ab und zu blieb sie stehen und horchte, aber es war nichts zu hören. Sie schloss die Tür auf und hockte sich auf die Schwelle, um sich die Schuhe zuzubinden.
Ein warmer Windhauch umspielte die Ärmel ihres langärmligen T-Shirts, als sie sich im Laufschritt zum Stall aufmachte. Der Kies knirschte verräterisch unter ihren Sohlen.
Mit zitternden Fingern umklammerte sie den Schlüssel und schloss auf. Langsam bewegte sie sich an den Boxen vorbei. Der Rappe schaute sie erstaunt an, als sie die Tür aufschob und ihm das Halfter über die Ohren streifte.
„Du musst das nicht verstehen, du musst mir nur brav folgen“, murmelte Vicky verschwörerisch in sein Ohr und betrat mit ihm die Stallgasse.
Einige der Pferde schauten den beiden neugierig hinterher und schnaubten. Furfurs Hufe klapperten laut auf dem Steinboden. Vicky machte das ziemlich nervös. Schnell bog sie zu den Weiden ab und schob das Tor auf.
„Los, mein Kleiner, lauf!“. Sie nahm ihm das Halfter ab, und der Wallach wanderte ruhig zu den Bäumen. Er schüttelte die lange schwarze Mähne und fiel in einen lockeren Trab.
Jetzt, wo sie gerade dabei war, wollte sie auch ihr Pflegepferd auf die Weide bringen. Entschlossen öffnete sie die Stalltür ein zweites Mal.
Abrupt blieb sie stehen.
Hatte sie nicht eben neben den Sattelspinden einen gescheckten Schweif gesehen? Sie schüttelte den Kopf und ging zu Freddys Box.
Da! Wieder sah sie den Schweif - er schwang müde hin und her. Langsam und immer noch an einen Traum glaubend schlich Vicky zu den Spinden.
Tatsächlich, sie hatte sich nicht getäuscht!
Vor der Holzbank stand ein braun-weiß geschecktes Pferd und sammelte heruntergefallene Strohhalme vom Boden auf.
Als sich das kleine Pferd umdrehte, konnte Vicky einen Ausruf nicht unterd-rücken. Schnell presste sie die Hand auf den Mund und starrte verblüfft auf den Schecken. Es war Freddy.
„Was machst du denn hier?“, fragte sie, nachdem sie ihre Überraschung überwunden hatte. Freddys Ohren spielten, er bewegte sich auf seine Reiterin zu und beknabberte ihren Hemdsärmel.
„Das gibt's nicht!“. Geistesabwesend streifte sie ihm das Halfter über und kraulte ihn am Widerrist.
„Das gibt's doch nicht!“, wiederholte sie, „du kannst doch nicht einfach aus deiner Box abgehauen sein!“
Der Wallach folgte ihr widerstandslos, als sie ihn zu seiner Box führte. Doch davor blieb sie abermals stehen. Ihre Gedanken überschlugen sich.
„Täter, du hast unsauber gearbeitet!“. Gegen ihren Willen erschien ein Lächeln auf ihren Lippen.
Es war eindeutig nicht Freddy selber gewesen, der sich aus der Box gelassen hatte. Die Schiebetür war nämlich fest verschlossen!
Ihre Hände umgriffen das Halfter noch fester. Sie brachte den Wallach auf die Weide.
Vicky kletterte auf das Gatter und ließ die Beine baumeln. Nachdenklich schaute sie den Pferden beim Grasen zu. Hier und da hob eines den Kopf und wieherte.
Es war bereits viertel vor sieben, als sie vom Zaum sprang und zum Schloss schlenderte. Da fiel ihr ein, dass sie ja eigentlich schleichen musste! Fix schloss sie die Stalltür ab und lief geduckt an der steinernen Mauer entlang.
Das Internat lag vollkommen still da, wie ein verlassenes Jagdschloss, fand Vicky. Der Wald, der zum Gelände gehörte, lag düster da und die hohen Bäume wogten leicht im Wind.
Vicky lief ein Kälteschauer über den Rücken. Einen kurzen Moment blieb sie lauernd hinter den gerade geschnittenen Hecken sitzen, dann öffnete sie lautlos die Tür und schlüpfte ins Haus. Leise zog sie die Schuhe aus und schlich die Stufen hoch. Ihre Zimmertür quietschte, als sie sie öffnete.
Erschrocken blieb Vicky einen Moment stehen - nichts tat sich. Auf dem Flur blieb es ruhig, und auch Kim schien zu schlafen. In Zeitlupe schloss sie die Tür hinter sich und stellte die Schuhe in ihren Schrank zurück.
Mit leichten Schritten ging sie zum Fenster und zog die Vorhänge etwas beiseite. Der Himmel war strahlend blau, keine einzige Wolke war zu sehen.
Ihr Blick wanderte zum Wallachstall. Sie grinste zufrieden. Paul war gerade dabei, die Stalltür aufzuschließen und die Türflügel weit zu öffnen. Vickys Plan, oder besser gesagt, der von Jessi, war perfekt aufgegangen.
Kims Wecker klingelte. Vicky ließ ihn ungerührt klingeln. Nach einer Weile kam ihre Zimmergenossin unter der Bettdecke hervor und machte ihn aus.
„Warum bist denn du schon wach?“. Kim gähnte und schälte sich aus ihrer Decke.
„Jessi“, sagte Vicky nur und Kim nickte wissend. Sie trug einen dunkelgrünen Schlafanzug, ihre sonst so gestylten Haare waren zerzaust. Sie fuhr sich mit beiden Händen hindurch und öffnete die Schranktür, um ihre Klamotten zusammenzusuchen.
„Das sollte ich jetzt auch mal machen“, beschloss Vicky und ging zu ihrem Schrank, der wesentlich weniger Kleidung enthielt als Kims.

Beim Frühstück herrschte eine unangenehme Stille. Vicky biss lustlos in ihren Toast. Mara tat es ihr nach. Jessi gähnte, und Kim fiel fast der Kopf in die Müslischale.
„Was seid ihr denn heute alle so müde?“, beschwerte sich Vicky und nippte an ihrem Kakao. Alle blickten auf und sahen sie aus ziemlich kleinen Augen an.
„Ist ja schon gut“, brummte Vicky und hob beide Hände, „ich kann euch zwar nicht ganz verstehen, aber wenn ihr müde seid...“, sie zuckte mit den Achseln „dann seid ihr eben müde.“
Mara seufzte und schob sich den letzten Bissen ihres Brötchens in den Mund. Kim schloss sich ihrem Seufzen an und schlürfte ihren Orangensaft.
„Wie erträgst du bloß um diese Uhrzeit so ein saures Getränk?“, rätselte Vicky und stellte ihre leere Kakaotasse auf das Tablett.
„Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages!“, begann Kim. Sie war hellwach, ihre Augen blitzten.
„Es sollte ausgewogene Nahrungsmittel enthalten und viele Vitamine haben - und dazu gehört, meine liebe Vicky, auch Vitamin C!“
Vicky ergab sich.
„Ist gut, ich habe verstanden, warum du so ein widerliches Getränk zu deiner ausgewogenen Nahrung zählst.“
„Und ich weiß jetzt auch, warum die ein Stipendium bekommen hat“, zischte sie Mara ins Ohr. Jessi öffnete den Mund, um ihrerseits etwas beizutragen, da klingelte es zum Unterricht.
Während sie die breite Treppe hochgingen, drückte Vicky ihr die Schlüssel in die Hand. Jessi ließ sie in ihre Hosentasche gleiten und verschwand im Gedränge.
Den Unterricht bekam Vicky kaum mit. Sobald Frau Glogle sich dem nächsten Bild ihrer Kunstklasse zugewandt hatte, rauschte es in Vickys Ohren und alles verschwand hinter dichtem Nebel. Es gab nur noch sie und ihre Gedanken. Die sich eigentlich nur immer um das eine Thema drehten, nämlich Freddy und der geheimnisvolle Täter.
In den Pausen löste sich der Nebel etwas auf, sodass sie registrierte, was um sie herum passierte, aber im Musikunterricht wurde er wieder um so dichter.
In Geschichte löste er sich ruckartig auf, aber es war zu spät.
„Und, Vicky, was hast du geschrieben?“. Frau Finne stand hinter ihr und schaute verwundert auf den geschlossenen Hefter.
„Wo sind deine Probleme?“, fragte sie etwas schärfer.
„Probleme? Ich habe keine Probleme!“. Vicky war verwirrt. Seit wann standen Lehrer mit dem Notenbuch hinter einem und fragte nach seinen Problemen? Und seit wann musste man sie aufschreiben? Vicky schüttelte den Kopf.
„Du hast die Probleme auf Columbus' Entdeckungsfahrt nicht aufgeschrie-ben. Darf ich daraus schließen, dass du die Hausaufgaben nicht hast?“. Ungeduldig klopfte die Lehrerin mit dem Kugelschreiber auf den Tisch.
„Äh, das tut mir leid, ich habe sie nicht gemacht“, stotterte Vicky.
Frau Finne seufzte, trug bei Vicky eine Sechs ein und ging zum nächsten Tisch. Mensch, die hatte Vicky in der ganzen Aufregung gestern total vergessen!
Sobald Frau Finne an ihrem Pult saß und Bibi ihren Text vorlas, schaute Vicky wieder träumend aus dem Fenster. Sie schaute über die grüne Wiese mit den unzähligen Gänseblümchen.
Ihr Blick blieb am Horizont haften. Hatte sich da nicht etwas Blaues bewegt?
Interessiert beugte sie sich weiter zum Fenster, ihre Nasenspitze berührte jetzt schon fast das Glas. Tatsächlich, hinter den mit grünen Büscheln bewachsenen Dünen war deutlich das Meer zu erkennen.
Sie seufzte. So oft hatte sie sich gewünscht, mit Bellatrix ans Meer zu reiten, und hier saß sie ihrem Traum direkt gegenüber!
Sie sah sich schon mit Freddy über den feuchten Strand galoppieren. In ihren Ohren hörte sie das Rauschen des Meeres, der Geruch von Salz stieg ihr in die Nase. Das Wasser spritzte an Freddys Beinen hoch, als er in einen schnellen Trab fiel. Vicky beugte sich weiter über den Pferdehals und hielt dabei die Zügel locker in der Hand. Der Wind zerzauste ihre Haare, sie hob den Blick.
Und erstarrte! Schnell setzte sie sich gerade hin und warf der Lehrerin ein freundliches Lächeln zu.
„Warum arbeitest du nicht?“. Frau Finne musterte Vicky über den Rand ihrer Brille hinweg.
„Entschuldigung. Ich habe eben leider nicht zugehört. Könnten Sie die Aufgabenstellung nochmal wiederholen?“. Vicky gab sich wirklich Mühe, ihre Unkonzentriertheit zu entschuldigen.
„Seite 54 im Buch, Aufgaben 4 und 5!“. Die Geschichtslehrerin drehte sich schwungvoll um, so dass ihre Haare wehten und Vicky der süßliche Duft von Rosen in die Nase stieg. Schnell schlug sie ihr Buch auf, suchte die richtige Seite und begann zu schreiben.


18.Kapitel

„Ihr wisst ja gar nicht, wie diese Frau mich aufregt!“ Jessi schob sich einen weiteren Löffel Milchreis in den Mund, um gleich danach weiter zu schimp-fen.
„Fragt die mich Vokabeln ab, die wir noch gar nicht hatten! Und dann trägt sie auch noch Noten dafür ein!“
Es war nicht schwer zu erraten, von wem sie redete. Frau Ibig, die Franzö-sisch-Lehrerin, war in der vierten Stunde vor Jessis Tisch stehen geblieben, hatte gelächelt und mit ihrer hellen Stimme ganz harmlos gefragt:
„Kannst du mir bitte „Vogel“ auf Französisch übersetzen?“
Man hätte eine Stecknadel in der Klasse fallen hören können. Alle hatten die Luft angehalten und gespannt auf Jessis Antwort gewartet, doch die hatte auf sich warten lassen. Ziemlich lange sogar.
„Nun – was heißt „Vogel“ auf Französisch?“. Der Lehrerin war die Ungeduld deutlich anzuhören gewesen.
Jessi hatte nur die Schultern heben können.
„Und wie die mich gemustert hat!“. Jessi schüttelte sich und schlürfte ihre Cola. Dann schaute sie unsicher in die Runde.
„Aber wir hatten die Vokabeln doch wirklich noch nicht gehabt, oder?“. Vicky und die anderen schwiegen. Mara räusperte sich verlegen.
„Ich glaube, Jessi, du solltest das nächste Mal besser aufpassen und nicht den Unterricht damit verbringen, deine Fingernägel zu lackieren.“ Sie machte eine kleine Pause, in der sie Jessi aufmerksam betrachtete.
„Die Hausaufgabe für diese Stunde war, die Vokabeln von Seite 123 komplett abzuschreiben und zu LERNEN.“
Jessis Wangen liefen zartrosa an. Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn aber gleich wieder. Stattdessen stand sie auf, nahm ihr Tablett und ging, mit immer noch rotem Kopf, zur Tablettrückgabe.
„Ich muss dann auch mal.“ Kim schob ihren Stuhl zurück und lächelte den Freundinnen zaghaft zu.
„Ich werde die Witting jetzt mal fragen, ob sie ein paar Erdbeeren für meine Schnecken hat.“ Mara und Vicky wechselten einen raschen Blick und verzogen gleichzeitig das Gesicht.
Als Kim verschwunden war, begann Vicky zu kichern.
„Die scheint ihre Haustiere ja richtig zu lieben!“
„Allerdings!“. Mara wischte sich den Mund mit der Serviette ab und schob alles auf ihrem Tablett zusammen.
„Von mir aus können wir gehen“. Sie schob ihren Stuhl zurück. Vicky erhob sich ebenfalls.
Als die beiden über den Hof zum Mädchenturm schlenderten, flüsterte Vicky:
„Du, Mara? Ich muss dir gleich noch mal was wegen Freddy erzählen. Weißt du einen Platz, wo wir ungestört sind?“
Mara blieb stehen und schaute der Freundin offen ins Gesicht.
„Na klar! Lass uns gleich hinter dem Offenstall treffen, da kommt niemand hin. Außer du hast was dagegen, wenn die Ponys mithören...“.
Sie grinste und stieß Vicky leicht mit dem Ellbogen in die Seite.
„Gut, ich zieh mir nur eben Reitsachen an, danach muss ich ja direkt Freddy für die Stunde fertig machen.“
Vicky rannte die Stufen hoch.

In ihrem Zimmer traf sie Kim an.
„Na, wie kommen sie denn mit der grauen Schnecke zurecht?“.
Sie ließ sich auf das Bett fallen und warf der Zimmergenossin, die vor dem Glaskasten stand und drei Erdbeeren ordentlich auf sauberen Salatblättern platzierte, einen raschen Blick zu.
„Sehr gut“, erwiderte Kim „Jim, Speedy und Carlos verstehen sich prächtig!“
Vicky seufzte und schälte sich aus ihrer engen Jeans.
„Willst du dich denn nicht um dein Pferd kümmern?“. Sie angelte sich die Reithose vom Bettpfosten und kratzte einen Grasfleck heraus. Kim drehte sich langsam um und schloss die Terrariumklappe.
„Nun ja, ich...“, begann sie, aber Vicky unterbrach sie schnell.
„Du willst dich bestimmt erst mal etwas ausruhen, dich um deine Schnecken kümmern und ein bisschen für die Schule lernen, nicht wahr?“ Vicky warf Kim einen hoffnungsvollen Blick zu.
Um alles in der Welt musste sie verhindern, das Kim jetzt zum Offenstall ging und ihr Pferd pflegte, denn wie sollte Vicky sich da noch ungestört mit Mara unterhalten können?
Kim betrachtete sie misstrauisch und machte den Mund wieder zu.
„Ja, also eigentlich wollte ich jetzt ein bisschen für Deutsch lernen, dann das Gehege sauber machen und zum Stall gehen. Meine Westernreitstunde fängt schließlich erst um halb Fünf an. Das heißt, ich muss so um Vier anfangen, Scooter zu satteln.“
Vicky nickte und tauschte die schicke Bluse gegen ein verwaschenes Sweatshirt.
„Genau das wollte ich auch gerade vorschlagen!“. Sie kicherte und zog ihre Kniestrümpfe an.
„Mann, wie viel Schrott kann ich denn noch reden? Das fällt doch voll auf!“, dachte sie dann verärgert. Kim zog auch prompt eine sauber gezupfte Augenbraue hoch.
Vicky schlüpfte in ihre Stiefeletten und flitzte die Treppe runter.

Als sie auf den Offenstall zukam, wurde sie langsamer. Ein paar Pferde streckten ihr die langen Hälse entgegen. Sie nahm sich die Zeit und begrüßte sie mit ein paar freundlichen Worten.
Weit und breit war niemand zu sehen. Ihr Blick überflog schnell die angren-zende Weide mit den Hengsten. Ein Junge war gerade dabei, seinem Fuchs das Halfter anzulegen und ihn zum Stall zu führen.
Vicky blieb noch einen Moment bei dem dunklen Norweger stehen, den sie gerade streichelte, und wartete, bis Pferd und Reiter im Stall verschwanden.
Ein Tor klapperte, Vicky fuhr herum. Ein kleines Mädchen mit Lockenkopf betrat den Offenstall. Sie prüfte kurz die Pferde, die im überdachten Bereich standen, dann trottete sie mit einem grünen Halfter in der Hand auf die Wiese. Sie hatte Vicky den Rücken zu gewandt und rief nach ihrem Pferd.
Vicky drückte sich enger an die Wand. Der Norweger bot ihr keine Deckung mehr, er war mittlerweile zwischen den Bäumen verschwunden.
„Mein Gott, wie lange willst du denn noch da hocken? Die sieht dich doch nicht!“
Diese Stimme kannte Vicky nur zu gut. Sie spähte in das angrenzende Gebüsch und hätte vor Schreck einen Satz rückwärts gemacht, wenn Mara nicht schnell nach ihrem Arm gegriffen hätte und sie zu sich gezogen hätte.
„Mann!“. Mara hockte auf einem umgestürzten Baumstamm und blickte in die Ferne.
„Warum bist du bloß so 'ne Schissbux!?“
Vicky setzte sich neben sie und klopfte sich ein paar Blätter von der Hose. Von hier aus hatte man alle drei Weiden und sogar die Stallungen im Blick, aber man wurde nicht gesehen. Ein dichter Laubbaum verbarg sie unter seiner Krone und Büsche boten zusätzlichen Schutz.
„Jetzt erzähl‘ schon, was ist los!“. Mara streckte die langen Beine aus und lehnte sich an den massiven Stamm.
Vicky seufzte, aber dann brach alles aus ihr heraus. Sie ließ sich nicht mehr bremsen, sie erzählte alles, was sie sich zusammengereimt hatte.
Als sie geendet hatte, schwieg Mara.
„Das ist schwierig“, murmelte sie gedankenverloren.
„Allerdings“, dachte Vicky und schaute einem Schimmel auf der Weide dabei zu, wie er sich nach Herzenslust wälzte.
„Man sollte der Sache auf den Grund gehen, das geht so nicht weiter!“. Mara dachte offenbar laut.
„Man müsste dem Täter eine Falle stellen!“, unterbrach Vicky die Freundin. Verdutzt drehte Mara den Kopf.
„Wir können ihn belauern!“. Vicky kam richtig in Fahrt.
„Aber das ist nicht gerade einfach - wie es scheint, greift er immer nachts an“, holte Mara Vicky auf den Boden der Tatsachen zurück.
„Wir können doch nachts in den Stall schleichen und ihn auf frischer Tat ertappen!“. Vickys Augen leuchteten, sie strahlte Mara an.
„Aber wie du vielleicht auch weißt, ist der Stall nachts abgeschlossen“. Mara schob sich eine schwarze Haarsträhne hinters Ohr.
„Da gibt es doch eine ganz einfache Lösung!“, erwiderte Vicky und hatte damit Maras volle Aufmerksamkeit.
„Ich sag einfach Jessi, dass ich mich früher um Furfur kümmern möchte und lass mir den Schlüssel schon heute beim Abendessen geben!“
Mara ließ einen anerkennenden Pfiff hören
„Respekt“, murmelte sie und lächelte Vicky zu, „die Idee könnte von mir sein. Fragt sich nur, wie lange wir auf den Täter warten sollen.“
Vicky zuckte mit den Schultern.
„Wir wissen nur, dass er aktiv wird, nachdem Paul seinen letzten Rundgang macht. Das heißt wiederum, dass er nach zehn Uhr seine Taten begeht. Also müssen wir erst so um zehn nach zehn im Stall sein.“
Mara nickte anerkennend.
„Wo du Recht hast, hast du Recht!“. Sie lachte und Vicky fiel ein. „Gut, dann machen wir das so“.
Vicky zählte an den Fingern auf:
„Ich lass mir von Jessi den Schlüssel geben. Du organisierst eine leere Box oder sonst was, wo wir warten können. Und wir beide stellen unsere Wecker auf genau viertel vor Zehn. Ich ziehe mir noch 'ne Armbanduhr an“.
Vicky nickte. Dann stand sie auf und klopfte sich etwas Staub von der Hose. Mara erhob sich ebenfalls und streckte sich.
„Vicky, du bist genial!“, meinte sie, dann zwängte sie sich durch das Gebüsch ins Freie und schlenderte zum Stutenstall.


19.Kapitel

Das Ausmisten und Fertigmachen von Freddy klappte zügig. Um Punkt halb Vier stand der Wallach fix und fertig in der Stallgasse und döste vor sich hin. Von Paul war weit und breit nicht zu sehen, also konnte Vicky in aller Ruhe noch Furfurs Box säubern.
Erschöpft lehnte sie neben Freddy und strich ihm die Haare aus der Stirn, als Jessi kam und ihr den Rappen übergab.
„Na toll!“, knurrte Vicky und fuhr mit einer weichen Bürste über den Rücken des Pferdes. Jessi war schon längst wieder verschwunden.
„Und ich habe noch nicht mal die Botschaft und ihre Schrift verglichen!“
Sie seufzte und hob Furfurs Hinterhuf hoch. Er ließ sich lange bitten, bis er das Gebissstück der Trense annahm. Vicky wurde langsam ungeduldig und zog den Sattelgurt so schnell an, das der Wallach warnend die Ohren anlegte und mit dem Schweif schlug. Freddy schaute den beiden zu. Furfur kaute auf der Trense herum und tänzelte aufgeregt.
„Mein Gott!“, beschwerte sich Vicky leise, als sie Jessi die Zügel in die Hand drückte, „ist der heute ungeduldig.“
Jessi erwiderte nichts, sondern verließ den Stall, ohne sich bei Vicky zu bedanken. Aber das machte sie ja eh nie.

Langsam wurde es auch für Vicky Zeit, Freddy in die Bahn zu führen. Der Schecke war gutmütig wie immer und trug seine Reiterin brav über die Hindernisse. Und heute riss er sogar nur zwei Stangen! Ullmann warf ihr dafür ein kurzes Lächeln zu.
Zum Schluss klatschte er wie gewöhnlich in die Hände, aber er ließ die Reiter ihre Pferde noch nicht in den Stall führen.
„Bitte alle zusammen kommen“, rief er mit lauter Stimme und platzierte sich in die Mitte der Bahn. Vicky saß ab, zog die Steigbügel hoch, lockerte den Sattelgurt und stellte sich dann neben Klara.
„Wie ihr alle wisst, ist morgen Theoriestunde in Raum 12!“.
Ein Raunen ging durch die Gruppe, Klara schnalzte missbilligend mit der Zunge. Doch Ullmann fuhr ungerührt fort:
„...und ich möchte für den 27.4. einen Test ankündigen!“
Damit hatte er eine Lawine ausgelöst. Einige Schüler ließen ihre Pferde einfach stehen und redeten aufgeregt auf den Reitlehrer ein. Klara gehörte dazu und Vicky durfte dafür die Zügel ihres Hengstes halten.
„Na toll!“, dachte sie und machte ein grimmiges Gesicht. Sie hatte nur zwei Theoriestunden gehabt und schon wurde ein Test geschrieben!
Ullmann war mittlerweile von Schülern umringt, die Pferde wurden nervös. Ein goldener Haflinger keilte nach Freddy, der wiederum schnappte nach einer Mähne. Vicky hielt seine Zügel verkrampft in der Hand. Dann stand Klara wieder neben ihr, nahm die Zügel ihres Pferdes und stapfte mit erhobenem Haupt davon. Vicky folgte ihrem Beispiel.

Ihre Stimmung wurde beim Abendessen nicht besser. Mara und Jessi hingen über einer Pferdezeitschrift und kicherten ununterbrochen. Kim blätterte in einem Heft, das sich „Hohensee-Bote“ nannte und ganz offensichtlich die Schülerzeitung darstellen sollte.
Vicky kaute lustlos auf ihrer Scheibe Brot und betrachtete mit mäßigem Interesse das Geschehen im Speisesaal.
„Oh, wie süß!“ quietschte Jessi und hopste auf ihrem Stuhl herum. Vicky wollte gerade knurren: „Redest du von einem Jungen oder einem Pferd?“, aber sie konnte sich noch schnell einen weiteren Bissen Graubrot in den Mund schieben.
„Das darf nicht wahr sein!“. Kims Stimme war so entsetzt, dass sie aller Aufmerksamkeit hatte. Sie starrte so fassungslos auf den zugeschlagenen „Hohensee-Boten“, als hätte er sich gerade in eine Vogelspinne verwandelt.
„Was ist?“, fragte Mara mit vollem Mund.
„Das darf nicht wahr sein!“, wiederholte Kim völlig neben der Spur.
„Jetzt red‘ schon!“, grummelte Jessi und wollte gerade in der Pferdezeit-schrift weiter lesen, als Kim den Kopf in die Hände legte, die Augen schloss und zweimal tief durch atmete.
„Meine Brüder kommen im August hierhin“, seufzte sie dann so leise, dass Vicky sie fast nicht gehört hätte.
„Deine WAS?!“.
Mara war lässig zurück gelehnt gewesen, aber jetzt angelte sie über Vickys Puddingschüssel hinweg nach der Schülerzeitung. Hastig blätterte sie das Heft durch, bis sie die richtige Seite gefunden hatte, und machte große Augen. Mit lauter Stimme las sie vor:
„Wir können folgende Schüler ab dem 21. August auf „Schloss Hohensee“ begrüßen: Luis und Lukas Baumann, Hobbys: Reiten, Hockey.“
Mara ließ die Zeitung sinken und starrte Kim entgeistert an.
„Deine Zwillingsbrüder kommen HIER hin?“, vergewisserte sie sich noch mal. Kim nickte langsam.
Vicky hatte inzwischen die Zeitung ergattert und schaute nun in die Gesich-ter der Baumann-Brüder. Es waren eindeutig Passbilder. Auf den ersten Blick sahen sich die beiden Jungen zum Verwechseln ähnlich. Beide hatten braune Strubbelhaare, Stupsnase und braune Augen. Doch als Vicky sich Luis genauer anschaute, konnte sie ein paar Sommersprossen auf seiner Nase erkennen - bei Lukas waren keine zu sehen. Ah. Also konnte man die beiden wenigstens bei schärferem Hinsehen auseinander halten.
„Ich muss jetzt schleunigst meine Mutter anrufen!“.
Kim sprang auf, ließ das Tablett stehen und rauschte aus dem Raum.
Einen Moment war es totenstill am Tisch, alle starrten Kim hinterher. Mara kicherte und zog ihren Stuhl zu Vicky herum.
„Ich glaub', du weiß es noch nicht, oder? Ich vermute, dass Kim es dir nicht freiwillig erzählt.“
Vicky ließ den Löffel sinken und schaute Mara etwas misstrauisch an.
„Es ist nichts Schlimmes“. Mara kicherte.
„Sie arbeitet bei der Schülerzeitungs-AG als Knippser. Das sind die, die Interviews machen, Texte schreiben und Bilder schießen. Es gibt da auch noch die Titelknippser, bei denen arbeitet zum Beispiel die Lara aus der a. Die kümmern sich um das Aussehen der Titelseite. Nun ja, seit gestern kann man sich die Schülerzeitung für 1 Euro 20 bei Sven, Lara, Nora, Kai und Sebastian kaufen. Kim kauft sie sich regelmäßig, damit sie ihre Artikel lesen kann“. Mara kicherte wieder hämisch.
Vicky nickte zum Zeichen, dass sie verstanden hatte, und stand mit ihrem Tablett auf.
„Schau mal ans schwarze Brett im Flur, da hängen noch mehr Infos über die AGs. Bis Ende der Woche musst du dich irgendwo eingeschrieben haben.“
Mara zwinkerte ihr zu, lächelte und verschwand im Gedränge.
Verwundert schaute Vicky ihr nach. AGs, wo man sich eintragen MUSSTE. Na, das klang ja nicht so verlockend!
Trotzdem bahnte sie sich einen Weg durch die Schüler und erkämpfte sich einen Platz vor dem schwarzen Brett.
Da hingen Klebezettel über Klebezettel, Steckbriefe von allen möglichen Angeboten, Beschreibungen einfacher Arbeiten, aber auch kleine Gelegen-heiten für eine Taschengelderhöhung.
„Suche Dressurgerte mit Handschlaufe, mindestens 120 cm lang. Bieter im Jungenturm, Zimmer 100, melden“, oder „Biete Reitstiefel, Größe 38. Interessenten bitte im Mädchenturm, Zimmer 223, melden“, waren nur einige Beispiele.
Vicky studierte aufmerksam die AG-Infobriefe. Theater, Schülerzeitung, Computer, Kunst, Chor. Wenigstens war die Auswahl gut. Sie dachte einen Moment nach, dann nahm sie den Kuli, der neben dem Anmeldebogen an einer Schnur hing und schrieb ihren Namen in die Tabelle unter „Julia Weinert, Kunst-AG“.
Als sie die Treppe in ihr Zimmer hinauflief, kam ihr Mara entgegen.
„Alles klar“, flüsterte sie Vicky zu.
„Du musst nur noch den Schlüssel besorgen. Zweite Box auf der rechten Seite“.
Vicky nickte, lächelte ihrer Freundin zu und setzte ihren Weg fort.
Doch dann blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte Mara hinterher, die schon im Gemeinschaftsraum verschwunden war.
Der Schlüssel!
Vicky hätte sich ohrfeigen können. Den hatte sie doch glatt vergessen!
„Das ist alles Kims Schuld“, dachte sie verärgert, während sie die Stufen hoch stapfte und Jessis Zimmertür ansteuerte.
„Hätte sie nicht im „Hohensee-Boten“ gelesen, hätte ich unbekümmert nach dem Schlüssel fragen können.“
Sie stand jetzt genau vor Jessis Zimmer und atmete ein paarmal tief durch.
„Überzeugt klingen“, dachte sie „das ist die Lösung.“
Sie setzte ein schmeichelhaftes und zugleich überzeugendes Lächeln auf und öffnete die Tür einen Spalt breit.
„Kann ich rein kommen?“, fragte sie mit scheinbar unbefangener Stimme und streckte den Kopf ins Zimmer. Jessi saß auf ihrem Bett und lackierte ihre Fußnägel. Kirschrot - igitt! Vicky schüttelte sich. Sie hatte sich noch NIE die Nägel lackiert.
Jessi blickte auf und nickte.
Vicky atmete auf, schloss die Tür hinter sich und hockte sich neben sie.
„Was willst du?“. Jessi musterte Vicky von oben bis unten und wandte sich wieder ihren Nägeln zu.
„Ich wollte eigentlich fragen, ob du mir noch mal die Schlüssel leihen kannst“.
Vickys Stimme klag fester, als sie sich fühlte. Jessi ließ das Fläschchen sinken und runzelte die Stirn:
„Und wofür?“
„Na ja, ich wollte halt meine Arbeit gut erledigen“.
Jetzt wurde sie doch ein bisschen unsicher.
„Was machst du, wenn ich ihn dir geben würde?“.
Jessi war noch immer nicht überzeugt, das ärgerte Vicky.
„Halt seine Box ausmisten, ihn auf die Weide bringen...“. Vicky machte eine unbeholfene Geste und rang sich ein weiteres Lächeln ab.
Es half. Jessi wiegte einen Moment den Kopf, dann seufzte sie.
„Hier!“. Sie drückte ihn der verdutzten Vicky in die Hand.
„Aber morgen gibst du ihn mir wieder!“ Vicky konnte nur nicken und stürmte in ihr Zimmer.
Dort ließ sie sich auf ihr Bett fallen und lachte glücklich auf. Es war geschafft! Heute Nacht würde sie den Täter fassen!
Bei dem Gedanken an die bevorstehende Aktion breitete sich ein wohliges Kribbeln in ihrem Magen aus. Sie rappelte sich nochmal auf und stellte sich den Wecker. Dann marschierte sie ins Bad, um sich bettfertig zu machen.
Aber sie wusste schon jetzt, dass sie kein Auge zumachen würde.


20.Kapitel

Der Wecker war zwar nur gedämpft zu hören, da er unter Vickys Kopfkissen lag, aber sie war trotzdem sofort wach.
Schnell machte sie ihn aus und schälte sich aus der Decke. Sie blieb kurz auf ihrem Bett sitzen und horchte auf Kims gleichmäßige Atemzüge. Dann erhob sie sich und schlüpfte in die Klamotten, die sie am Abend auf den Bettpfos-ten gehängt hatte. Dabei zog sie den Schlafanzug gar nicht erst aus, sondern streifte Pullover und Jeans darüber. Danach noch Wollsocken an die Füße und hinein in die Stiefeletten!
Schnell schlich sie zum Fenster und lugte zwischen den Vorhängen hindurch auf den Hof hinunter.
Sie hätte schreien können - es regnete so stark, das sie noch nicht mal den Kirschbaum erkennen konnte. Verdammter Mist!
Ohne ein Geräusch zu machen, öffnete sie ihren Schrank und zog das schwarze Regencape vom obersten Regalboden.
„Jetzt nichts wie weg hier!“ dachte sie. Mit einem letzten Blick auf Kim verließ sie das Zimmer.
Schnell und geschmeidig nahm sie die Stufen. Im Laufschritt zog sie sich das Regencape über und die Kapuze tief in die Stirn.
Mit zitternden Fingern steckte sie den Schlüssel ins Schloss und stand im Stall. Kurz strich sie sich die Haare aus der Stirn, schloss hinter sich wieder ab und huschte zu der leeren Box.
Mara kauerte schon in einer Ecke.
„Dieses verdammte Wetter!“, wollte Vicky gerade schimpfen, doch Mara griff nach ihrem Arm und zog sie neben sich. Dabei legte sie den Finger an die Lippen und Vicky verstummte. Sie lauschten angestrengt.
Das Klackern von Absätzen war zu hören. Vicky hielt die Luft an. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hörte Mara neben sich leise atmen.
Das Geräusch wurde lauter. Die Gestalt lief an ihnen vorbei und blieb vor Freddys Box stehen.
Vickys Fingernägel bohrten sich in Maras gelben Pulli.
Die Gestalt drehte ihnen den Rücken zu und fummelte an der Box herum. Sie nahm die Kapuze ihres schwarzen Capes ab - und Vicky schnappte nach Luft. Das war unmöglich!
Vicky war so gebannt von dem Anblick, das sie erst gar nicht merkte, wie Mara langsam aufstand. Wie hypnotisiert folgte sie ihr.
Mara schlich so nah an die Person heran, das sie sie schon fast berührte. Blitzschnell griff sie nach ihren Armen und hielt sie fest.
Die Gestalt schrie auf und drehte sich um. Vicky blieb die Luft weg!
Mara stand vor Jessi, die die Augen weit aufgerissen hatte!
„Haben wir dich!“.
Mara packte noch fester zu und zerrte Jessi in die leere Box. Sie ließ sich widerstandslos auf den Boden fallen.
Mara schob die Tür zu und lehnte sich dagegen.
„Jetzt erzähl mal!“.
Ihre Stimme war gefährlich leise. Vicky stand immer noch in der Stallgasse und starrte abwechselnd Jessi und Mara an. Sie griff nach einer der Gitter-stangen, der Boden unter ihr schwankte. Sie ließ sich auf den kalten Boden gleiten.
Obwohl sie nicht mehr hören wollte, was Jessi zu sagen hatte, lauschte sie der heiseren Stimme:
„Ich wollte das alles gar nicht. Ich war nur sauer auf Vicky, weil sie sich so gut mit Nico versteht. Ich hatte Angst, dass die beiden zusammen kommen. Ich liebe ihn, aber er mich nicht mehr. Wir waren zwei Monate zusammen. Deshalb auch der Brief.“
Vicky hörte Jessi schluchzen.
„Aber Vicky hat Nico weiter besucht und dann...“
Vicky erhob sich und verließ mit weichen Knien den Stall. Sie wollte nichts mehr hören, keine Gründe und keine Entschuldigungen.

In ihrem Zimmer zog sie sich aus und legte sich auf das Bett. Irgendwie fühlte sie sich nun sicher und geborgen in ihrem neuen Zuhause. Die Sache mit Jessi war aufgeklärt, niemand würde Vicky jetzt noch Vorwürfe wegen rätselhafter Schlampigkeiten machen können.
Keine Angriffe mehr von unbekannter Seite.
Keine Sonderdienste für Jessi.
Nun würde alles gut werden.
Und morgen würde sie Nico besuchen…

Sie schlief ein, ohne den Gedanken zu beenden.

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Texte: Umschlagfoto: cheelz/Pixelio
Tag der Veröffentlichung: 26.09.2010

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