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Der Denker
Vor den Augen mehrerer Museumsbesucher begann sich der Denker, der oben auf dem Höllentor saß, langsam zu bewegen. Er stand auf, sprang vom Rahmen und reckte sich ausgiebig. Die Menschengruppe, die vor der Skulptur stand, wich begleitet von erstaunten Ausrufen und spitzen Schreien, erschrocken zurück. „So eine unbequeme Stellung, und das schon mehr als hundertzwanzig Jahre. Das hält ja niemand aus. Wenn ich wenigstens mal den Ellenbogen auf das andere Knie stützen könnte! Probieren Sie doch mal die Haltung aus, da werden Sie schon sehen, wie unnatürlich das ist. Keine Ahnung, was der Künstler sich dabei gedacht hat. Aber ich soll denken! Jahrhundertelang. Dabei kommt doch gar nichts heraus. Denken Sie vielleicht? Na ja, Sie grübeln möglicherweise, wenn Sie abends nicht einschlafen können, aber denken? Ja, ja, der Mensch soll das einzige Wesen sein, das diese Tätigkeit beherrscht. Dabei ist es gar keine Tätigkeit, eher das Gegenteil davon. Dabei verbraucht das Gehirn Unmengen von Energie. – Und dann das Gewimmel hier um mich herum – nein, Entschuldigung, ich meine nicht Sie, ich meine diese ganze Figuren hier um mich herum, eine Orgie! Dabei soll man denken können.“ Er schaute nach oben. „Außerdem diese drei, die ständig mit dem Finger auf mich zeigen! Ich hau jetzt hier ab. Das ist mir echt zu blöd.“ Er ging mit großen Schritten an der Gruppe der vor Staunen starr stehenden Menschen vorbei zur Tür, wo er mit dem Wärter zusammenstieß. Dieser versuchte ihn aufzuhalten, aber der Denker war stark, er rang ihn nieder und verschwand.
Der Wärter löste den Alarm aus und binnen weniger Minuten waren die Männer von der Security zur Stelle. Der technische Assistent stand händeringend vor dem Höllentor. Die Leute wurden darüber befragt, was sich zugetragen hatte. Einer meinte: „Das war doch der berühmte Pygmalioneffekt, oder nicht? Soll doch schon öfter vorgekommen sein, dass Statuen lebendig werden. Die Literatur ist voll davon.“ Ein anderer schwärmte: „Das war vielleicht ein Auftritt. Wundervoll.“ Eine Dame meldete sich zu Wort und sagte: „Mit der Quantenphysik kann man das alles erklären.“ Inzwischen war der Kurator eingetroffen und unterhielt sich mit dem Wachpersonal. „Eine Skulptur, die sich davon macht, ja sowas gibt es doch überhaupt nicht“, brüllte der Kurator. Inzwischen suchten die Leute von der Security in der Umgebung des Museums und in der Stadt. Einer der Besucherinnen sagte plötzlich völlig verwirrt: „Aber der war doch völlig nackt, er kann doch nicht so in der Stadt rumlaufen.“ Einige lachten albern.
Er wurde nicht gefunden. Er hatte sich eine neue Stellung gesucht. Vor der Kirche war eine Skulptur aufgestellt worden, sie bestand aus drei sitzenden Gestalten. Eine schaute nach oben. Das war der Denker. Aber er nannte sich nicht mehr so. Er versuchte es, bequem im Stuhl zurückgelehnt, mit Träumen. Außerdem hatte er nette Gesellschaft. Das ließ sich vielleicht hundert Jahre aushalten.

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Tag der Veröffentlichung: 12.02.2009

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