Kommissar Steinbeißer setzte den heißen Kaffee ab und wischte sich mit dem Handrücken seinen Schnauzbart sauber. Dieser war so lang, dass er Ober- und Unterlippe gut abdeckte und dem des Philosophen Nietzsche nicht unähnlich war.
„Reich mir mal die Akte des Vampirs rüber“, bat er seinen Kollegen Michels, der ihm gegenüber saß.
Michels, der über der Abfassung eines Protokolls brütete, knurrte und warf die Akte quer über den Tisch.
Die Kollegen Steinbeißers fanden dessen Namen äußerst passend, da er sich gerne in schwierige Fälle verbiss. So nahm er sich erneut den Fall vor, in dem sie einfach nicht weiterkamen. Sie hatten den Täter den Vampir genannt, weil er seine Opfer ausbluten ließ und der Polizei jedesmal eine Ampulle des Blutes zukommen ließ. „Blut aber ist der schlechteste Zeuge der Wahrheit“, zitierte der Kommissar seinen Philosophen Nietzsche. Irgendetwas habe ich übersehen, es muss doch einen Anhaltspunkt geben! Inzwischen gab es drei Opfer, merkwürdigerweise waren alle drei Lehrer des Goethegymnasiums gewesen. Recherchen im Umfeld der Schule waren bis jetzt ohne Erfolg geblieben. Natürlich denkt man als erstes an einen frustrierten Schüler oder an enttäuschte Eltern. Vielleicht hatte er sich auch die Kollegen nicht genau genug unter die Lupe genommen. Sein Instinkt sagte ihm, dass der Täter im Umkreis der Schule zu suchen war. Er blätterte in der Akte. Erstes Opfer: Oberstudienrat Krone. Fächer: Biologie und Chemie. Zweites Opfer: Oberstudienrat Schmalz. Fächer: Deutsch und Geschichte. Drittes Opfer: Studienrat Würges. Fächer: Mathematik und evangelische Religion. Das ist ja eine Kombination, dachte Steinbeißer. Und noch ein so junger Mensch. Nun ja, die Fächerwahl scheint keine große Rolle zu spielen, wohl auch nicht die Fächerkombination. Die Opfer schienen immer jünger zu werden. Ob wohl als nächstes ein Referendar dran war? O, das möge Zarathustra verhindern, dass es ein weiteres Opfer gibt, dachte er entsetzt. Der Täter musste über medizinische Kenntnisse verfügen - oder sollte er besser sagen: über die Kenntnisse eines Metzgers? Die Opfer wurden richtiggehend geschächtet, das Blut wurde offensichtlich aufgefangen. Sollte der Täter Jude oder Muslim sein? Vielleicht ein Türke, der auf diese Weise seinen Frust abließ? Steinbeißer neigte nicht zu Vorurteilen Ausländern gegenüber, aber er hatte Schwierigkeiten, sich in religiöse Gebräuche hineinzuversetzen. Ein Gott, der befahl, Tiere ausbluten zu lassen, bevor man sie essen durfte! Was diese Leute alles glaubten. Nicht dass die Christen besser waren, auch die hatten genügend merkwürdige Riten. Seine Gedanken verloren sich in eine philosophische Richtung, er musste sich zur Ordnung rufen, um wieder zu seinen Fällen zurückzukehren. Wenn es nun ein fanatischer Türke war? Oder ein ehemaliger Schüler, der inzwischen Medizin studiert hatte? Das gab alles keinen Sinn. Steinbeißer beschloss, noch einmal zum Goethegymnasium zu fahren und die Lehrer ein weiteres Mal zu befragen.
Der Direktor, ein dürrer, nervöser Mann, war nicht begeistert, den Kommissar ein weiteres Mal im Haus zu haben. Steinbeißer fragte als erstes, ob es in der Schule zurzeit Referendare gäbe. „Aber natürlich“, entgegnete er, „wir haben immer Referendare. Im ersten und zweiten Ausbildungsabschnitt, außerdem Praktikanten. Auf was wollen Sie denn nun hinaus? Meinen Sie etwa …“ Der Kommissar hob beschwichtigend die Hand: „Ich meine gar nichts, mir ist nur aufgefallen, dass die Opfer immer jünger werden. Das kann auch Zufall sein. – Sagen Sie, gab es muslimische Schüler, die die Schule verlassen mussten oder sonstwie einen ungewöhnlichen Werdegang hatten?“
„Du lieber Himmel, wir haben jede Menge muslimischer Schüler, zugegeben, sie sind nicht immer leicht zu handhaben, aber … Hatte ich Ihnen die Akten nicht schon gegeben?“
„Ja, gewiss, aber sind Sie sicher, dass auch alle Schulabgänger verzeichnet waren.“
„Nun, sicher bin ich mir nicht, gelegentlich kommt auch mal was unter die Räder.“
„Wollen Sie damit sagen, dass die Akten nicht vollständig waren?“
„Was weiß ich? Ich bin ja erst seit einigen Jahren Direktor der Schule. Für meine Vorgänger kann ich nicht die Hand ins Feuer legen. Allerdings will ich ihnen auch nichts unterstellen. Möglicherweise handelt es sich ja um Unterlagen, die schon recht alt sind.“
„Glaube ich zwar nicht, aber ich werde es mal überprüfen.“
Steinbeißer unterhielt sich anschließend mit der Sekretärin. Diese führte ihn in den Keller, wo alte Akten aufbewahrt wurden. Nein, dachte er, bevor ich die alle kontrolliere, versuche ich noch etwas anderes. Die Sekretärin suchte ihm die Adresse des alten Direktors heraus. Der Kommissar wollte sich mal mit ihm unterhalten. Direktor Grille empfing ihn freundlich und führte ihn ins Wohnzimmer. Im Verlauf des Gespräches erinnerte er sich an einen merkwürdigen Schüler.
Kommissar Michels war von Steinbeißer auf die Referendare angesetzt worden. Er sollte mal sondieren, was das für Leute waren. Während Steinbeißer bei dem alten Direktor war, entdeckte Michels eine Kuriosität unter den Referendaren. Da gab es einen schon etwas älteren Herrn, der sich als Spätberufener bezeichnete. Er hatte als medizinisch-technischer Assistent in der Blutbank der Uniklinik gearbeitet, aber dann fühlte er sich zum Lehrerberuf hingezogen. Er hatte angefangen Medizin zu studieren, dann aber abgebrochen und sich zum MTA ausbilden lassen.
Michels rief Steinbeißer auf dem Handy an: „Du, ich habe vielleicht etwas.“ Steinbeißer antwortete: „Ich auch.“ Sie trafen sich wenige Minuten später im Präsidium. „Also“, begann Steinbeißer, „Grille, der alte Direktor erinnert sich an einen Schüler, der sich auffallend für alles interessierte, was mit Blut zusammenhing. Nicht nur in Biologie, er kannte sich aus mit allen möglichen Blutritualen der Religionen und Völker.“
„Und ich habe einen spätberufenen Referendar, der in der Blutbank der Uniklinik gearbeitet hat“, fügte Michels aufgeregt hinzu.
„Wie alt?“, fragte Steinbeißer.
„ 42“, antwortete Michels.
Steinbeißer glaubte der Lösung des Falles nahe zu sein und fuchtelte fahrig mit den Händen herum. „Das könnte hinkommen. Wie heißt er?“
„Er heißt Jan Wolf.“
Langsam stieß Steinbeißer die Luft aus seinen aufgeblasenen Backen und schüttelte den Kopf.
„Nein, meiner heißt Wolfgang Heinz.“
„Er hat seinen Namen geändert!“
„Schon möglich. Wie sieht er denn aus?“
Michels beschrieb seinem Kollegen das Aussehen des Referendars.
„Du hast nicht zufällig ein Foto von ihm?“
Michels verneinte. Steinbeißer schlug vor, ein Foto von ihm von der Schulsekretärin zu besorgen und damit zu Grille zu gehen. Vielleicht erkenne er ihn ja wieder.
Irgendwie hatten sie das Gefühl, sich beeilen zu müssen, trotzdem waren sie nicht schnell genug. Als sie am Haus von Grille ankamen, öffnete niemand. Sie sahen sich kurz an und knackten das Schloss. Sie riefen in den Flur. Michels öffnete vorsichtig die Tür zum Wohnzimmer, seine entsicherte Dienstwaffe im Anschlag. Grille hing mit dem Kopf nach unten am Gitter der Galerie. An seinem Hals klaffte eine breite Wunde, die Halsschlagader war geöffnet worden. Blut war nirgends zu sehen. Die Leiche hing blutleer wie ein geschächtetes Tier im Wohnzimmer. Genau wie die anderen.
Während die Spurensicherung sich an die Arbeit machte, fuhren Steinbeißer und Michels mit Höchstgeschwindigkeit zu Jan Wolf. „Zarathustra gebe, dass der sich noch nicht aus dem Staub gemacht hat“, rief Steinbeißer beschwörend aus.
„Und wenn er es gar nicht war?“, warf Michels ein.
„Das wird sich alles finden, wenn wir ihn haben.“
Jan Wolf saß brav zu Hause und bereitete seine Lehrprobe vor. Er war völlig verdattert, als er die beiden Kommissare an der Tür stehen sah. Steinbeißer fragte ihn ohne Umschweife, ob er früher als Schüler am Goethegymnasium gewesen sei. Wolf sagte: „Nein, wie kommen Sie darauf?“
„Die Fragen stellen wir“, blaffte Michels, „wo sind Sie zur Schule gegangen?“
„Also, jetzt sagen Sie mir erst einmal, worum es geht. Oder verdächtigen Sie mich etwa, die drei Lehrer umgebracht zu haben?“ Wolf lachte.
„Erstens sind es inzwischen vier und zweitens wollen wir wissen, an welcher Schule Sie Ihr Abitur gemacht haben.“
„O Gott“, entfuhr es Wolf, „wie … ich meine wer …“ Da Steinbeißer und Michels ihn böse anschauten, sagte er schnell: „Ich war auf dem Heinrich-Heine-Gymnasium in Düsseldorf.“
„Gut, wir werden das überprüfen – und Sie halten sich zur Verfügung“, sagte Steinbeißer. Und schon waren die beiden draußen.
Steinbeißer murmelte: „Und wenn er lügt?“
„Und wenn er türmt?“, fragte Michels.
„Selbst, wenn er lügt, was die Schule betrifft, wir haben nichts gegen ihn in der Hand, außer dass er bei einer Blutbank gearbeitet hat“, meinte Steinbeißer nachdenklich.
„Wenn er es war, hat er jetzt gute Gelegenheit abzuhauen.“
„Dagegen weiß ich Rat, wir werden ihn beobachten lassen“, antwortete Steinbeißer grimmig.
Er orderte über Funk zwei Kollegen an, die Wolf beschatten sollten. Ein Anruf beim Heine-Gymnasium ergab, dass die Akten erst gesucht werden müssten. Immerhin sei es mehr als zwanzig Jahre her.
Die Obduktion bestätigte, dass Grille das gleiche Betäubungsmittel im Blut hatte wie die anderen Opfer. Eine Ampulle mit Blut war noch nicht eingetroffen. Die Sekretärin des Heine-Gymnasiums meldete sich und gab an, dass sie einen Schüler des Namens Jan Wolf nicht gehabt hätten. Die beiden Kollegen, die Wolf beschatten sollten, berichteten über Funk, dass Wolf das Haus nicht verlassen habe. Das fand Steinbeißer merkwürdig und rief in der Schule an. Dort sagte man ihm, Wolf sei nicht zum Unterricht erschienen. Michels und Steinbeißer fuhren mit Höchstgeschwindigkeit zu Wolfs Wohnung und läuteten Sturm. Da sich nichts rührte, verschafften sie sich Zugang zur Wohnung. Der Vogel war ausgeflogen.
Während die Fahndung anlief, ergab eine kurze Recherche im Goethegymnasium, dass ein Wolfgang Heinz dort vor 22 Jahren ein ziemlich mittelmäßiges Abitur gemacht hatte. War er mit Jan Wolf identisch? Die Kollegen in der Blutbank der Uniklinik lachten, als Steinbeißer nach Jan Wolf fragte. „Das ist ein schräger Vogel, er machte uns weis, dass er Medizin studiert habe. Wir wussten alle Bescheid. Wir haben aber mitgespielt und ihn immer nach seinem Studium gefragt, er gab manchmal so präzise Auskunft über medizinische Zusammenhänge, dass man es fast glauben konnte.“
Auch am nächsten Tag kam keine Ampulle mit Blut. Die Wohnung von Jan Wolf wurde auf den Kopf gestellt. Man fand die Adressen einer Schwester, die in Mannheim wohnte, und die einiger Freunde.
Von der Schwester erfuhren sie, dass Jan Wolf tatsächlich mit Wolfgang Heinz identisch war. Er habe schon als Kind dieses abstruse Interesse an allem gehabt, was mit Blut zusammenhing. Er wollte so gerne Medizin studieren, aber seine Noten waren zu schlecht. Er hat den Numerus clausus bei weitem nicht erreicht. Warum er seinen Namen geändert habe, konnte sie auch nicht sagen.
Im Keller von Jan Wolf entdecken sie einige Ampullen mit Blut, die er wohl als Trophäen aufbewahren wollte.
Jan Wolf wurde schließlich gefasst. Im Verhör gab er an, dass er sich an allen gerächt habe, die es ihm in der Schule schwer gemacht hätten. An den ehemaligen Lehrern und an seinem Mitschüler Karl Würges, der ihn immer gehänselt habe und mühelos seine guten Noten bekam. „Sie alle haben meine Genialität nicht erkannt und dafür gesorgt, dass ich nicht das erreicht habe, was ich wollte. Eigentlich waren sie die Blutsauger. Ich habe ihnen nur Gleiches mit Gleichem vergolten.“
Kommissar Steinbeißer schloss die Akte und sprach wie Zarathustra: „Denn dass der Mensch erlöst werde von der Rache, das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung …“
Tag der Veröffentlichung: 11.12.2008
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