Cover

Ich wollte ihn schon immer mal einladen, warum nicht an Weihnachten, aber wie überbringe ich eine solche Botschaft? Kinder schreiben derzeit Briefe ans Christkind, aber man weiß ja, wer die liest. Auch käme mir nicht in den Sinn, an einer spiritistischen Sitzung teilzunehmen, das hätte er als aufgeklärter Mensch bestimmt abgelehnt, obwohl er ja ein Buch mit dem Titel „Der Geisterseher“ geschrieben hat. Außerdem wollte ich ihn nicht als Geist, wohlmöglich durchscheinend und gruselig.
Nun, ich habe Mozart mal auf einer Rolltreppe im Kaufhaus getroffen, einfach so, ohne dass ich etwas unternehmen musste. Mir wurde klar, dass ich überhaupt keinen Einfluss darauf hatte, ob mein Gast kommen würde oder nicht.
Ich lud für den ersten Weihnachtsfeiertag einige Freunde zum Festmahl ein und ließ durchblicken, dass vielleicht noch ein geheimnisvoller Gast zu uns stoßen würde.
Wir saßen zu sechst am Tisch, es war bereits 13 Uhr und wir begannen mit der Vorspeise. Joseph deutete auf das siebte Gedeck und fragte: „Dein berühmter Gast ist wohl nicht gekommen!“ Da klopfte es an der Tür. Ich sprang nervös auf und öffnete. Er stand da, völlig atemlos, weil er natürlich nicht auf die Idee gekommen war, den Aufzug zu benutzen. Ich wohne im fünften Stock! Ich sah ihn glücklich an, umarmte ihn und hieß ihn überschwänglich willkommen. Ich nahm ihm den Mantel ab. Er war in eine dunkelblaue Kniehose und Frack gekleidet, trug ein Hemd mit Spitzenmanschetten und Schnallenschuhe. Ich geleitete ihn an den Tisch und sagte zu den Versammelten: „Darf ich vorstellen: Friedrich Schiller.“ Schiller machte eine kurze Verbeugung. Franz verschluckte sich an einem Salatblatt. Adelheid erstarrte in ihrer Geste, als sie gerade die Gabel zum Mund führen wollte und vergaß den Mund zu schließen. Ich sagte: „Es ist uns eine große Ehre, dass Sie uns mit Ihrer Anwesenheit erfreuen. Ich hoffe, die Reise war nicht zu beschwerlich. Darf ich Ihnen Wein einschenken.“ Er setzte sich, nickte und blickte freundlich in die Runde. Er nahm das Weinglas in die Hand und ich beeilte mich, mit den Worten „Auf unseren Ehrengast“ alle zum Anstoßen aufzufordern.
„Vielen Dank, es ist auch für mich eine ungewöhnliche Einladung, der ich aber gerne nachgekommen bin. Eine Reise ins 21. Jahrhundert wird nicht so gerne genehmigt. Man muss auch Kurse belegen, damit man sich zurechtfindet.“ Er lächelte und schüttelte seine rotblonden Locken. Sein Schwäbisch war dezenter als ich vermutet hatte. „Bislang habe ich noch nicht allzu viel von eurer Welt wahrgenommen, aber das wenige war erstaunlich. Man hat das Gefühl, dass alles rast, vor allem die Autos. Wie haltet ihr das aus? Mir wurde ganz schwindlig davon.“ Ich unterbrach ihn mit dem Hinweis, dass die Vorspeise, geräucherte Fische, so genannte Schillerlocken seien und wünschte guten Appetit. Schiller lachte: „Jetzt soll ich wohl meine eigenen Haare aufessen.“ Nachdem er den ersten Bissen gekostet hatte, meinte er jedoch, dass es vorzüglich schmecke. „Eure Häuser haben eine beträchtliche Höhe, ich musste ziemlich viele Treppen steigen“, meinte er nach einer Pause. Meine Freunde hatten fast gänzlich aufgehört zu essen, so sehr waren sie von meinem Gast beeindruckt. Ich erklärte ihm: „Es gibt einen Aufzug. Sie hätten klingeln und warten können, dann hätte ich Sie abgeholt und wir wären bequem nach oben geschwebt.“
„Ein Aufzug? Das kam im Kurs nicht vor. Wie funktioniert das?“ Er nahm ein Stück Gans und Gemüse, während ich antwortete: „Ein Aufzug ist ein Käfig bzw. Kasten, der mit Drahtseilen nach oben oder unten gezogen wird.“ Schiller kaute genüsslich das Gänsefleisch, schluckte es hinunter und fragte: „Wer zieht die Seile?“
Franz kicherte und ich sah ihn missbilligend an. „Franz, kannst du Herrn Schiller erklären, wie das funktioniert? Du bist doch vom Fach.“ Im Stillen dachte ich: Dem Ingenieur ist nichts zu schwör. Franz erging sich in hochkomplizierten technischen Details und ich merkte es Schiller an, dass er nichts verstand. Dennoch bedankte er sich höflich. Sein Blick wanderte zum Weihnachtsbaum und bewunderte die vielen elektrischen Lichter, die in den Zweigen hingen. "Haben Sie zu Ihrer Zeit auch Weihnachtsbäume aufgestellt?", fragte ich ihn. "Ja. Wir haben allerdings essbare Köstlichkeiten in die Zweige gehängt. Manchmal auch Kerzen. Meine Kinder haben immer ganz große Augen bekommen, wenn sie den Baum gesehen haben."
Er lachte und griff zum Mousse au chocolat, das eine meiner Freundinnen inzwischen aufgetragen hatte. „Köstlich“, murmelte er, „ aber diese Lämpchen! Hat das mit der Elektrizität zu tun?“
„Ja genau“, antwortete Joseph, der seine Zurückhaltung aufgab, „wir erzeugen Strom und nutzen ihn für alles Mögliche. Kühlschrank, Herd, Beleuchtung, Radio…“ Ich stand auf und schaltete den CD-Player an. Es erklang das Weihnachtsoratorium von Bach. Schiller sprang auf und lief zu einem der Lautsprecher. „Welche Zauberei ist das? Wo ist das Orchester, wo der Chor?“ Nun musste Franz wieder ran, aber es wurde zu kompliziert und Schiller winkte ab. „Du lieber Himmel, das verstehe ich ohnehin nicht. Aber eine sehr schöne Erfindung. Sehr schön.“
Wir waren mit dem Essen nun so weit fertig und ich bot Schiller eine Zigarette an, mit der er zunächst nicht viel anfangen konnte. Aber dann fand er Geschmack daran und lehnte sich zurück. Die Anspannung meiner Freunde ließ etwas nach. Als der Verdauungsschnaps die Runde gemacht hatte, kam eine rege Unterhaltung über philosophische und politische Themen in Gang. Das lag Schiller wesentlich mehr als unsere technischen Erfindungen. Aber schließlich kam er doch noch einmal auf diese zu sprechen: „Haben Sie einen Fernseher? Im Vorbereitungskurs war die Rede davon.“
Darauf war ich vorbereitet. Ich hatte mehrere DVDs mit seinen Dramen und fragte ihn: „Welches Stück von Ihnen möchten Sie sehen?“ Er zuckte mit den Schultern und ich schob einfach „Maria Stuart“ ein. Es war keine so furchtbar moderne Inszenierung, das wollte ich ihm nicht zumuten. Er war beeindruckt von der Technik, die Inszenierung fand nicht ganz seine Zustimmung, weshalb er sich auch nicht das ganze Stück ansehen wollte. Meine Freunde waren nach und nach gegangen und auch er kündigte an, sich alsbald verabschieden zu wollen. „Habt ihr auch einen Fahrstuhl ins Jenseits?“ Ich starrte ihn verblüfft an. „Das war nur ein Scherz“, fügte er lächelnd hinzu. „Und wie kommst du jetzt nach Hause?“, fragte ich. Die formelle Anrede kam mir mit einem Male sehr steif vor, denn eigentlich war er mir im Lauf meines Lebens sehr vertraut geworden, so dass ich ihn jetzt mit Du ansprach. „Nächstes Jahr feiere ich meinen 250. Geburtstag, aber ich lade dich lieber nicht ein, du könntest es mir übel nehmen, denn wahrscheinlich möchtest du noch etwas im Diesseits verweilen.“ Ich nickte und schluckte betreten. Er fuhr fort: „Ich versichere dir, der Weg ist nicht weit, auch nicht beschwerlich. Weniger mühsam als die Treppen zur fünften Etage. Aber man muss erst in einer bestimmten Dimension sein, um hin und her reisen zu können.“
„Dann besuch mich doch wieder. Das nächste Mal kannst du ja den Aufzug nehmen.“

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 05.12.2008

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /