Rita Hausen
Die unerfüllbaren Wünsche
Vor langer Zeit lebte in einem großen Königreich im Norden ein mächtiger König mit Namen Gunnar. Seine Gemahlin war vor vielen Jahren im Kindbett gestorben. Nie konnte König Gunnar sich dazu entschließen, wieder zu heiraten. Er bewahrte das Andenken an seine Frau wie einen kostbaren Schatz und schien alle Freude am Leben verloren zu haben. Sie hatten früh geheiratet, aber sehr lange vergeblich auf Nachkommenschaft gewartet. Erst nach sieben Ehejahren sollte sich ihr Wunsch nach einem Kind erfüllen. Doch hatte die schöne Ragnhild dessen Geburt nicht überlebt.
Tilia war nun fast elf Jahre alt und sie schien gar nichts von ihrer Mutter zu haben. Sie war sehr wild und ungestüm. Gunnar vermochte sie nicht zu zähmen. Er war ein gebrochener Mann und hatte keine Kraft dazu. Nie verbot er Tilia irgendetwas, keinen Wunsch konnte er ihr abschlagen. Sie hatte braunes Haar, braune Augen und etwas sehr Knabenhaftes. So benahm sie sich auch. Sie heckte mit dem Sohn des Schlossverwalters zusammen die übelsten Streiche aus und war der Schrecken der gesamten Dienerschaft. Niemand wagte es, sich über Tilia beim König zu beschweren. Einmal erschreckte Tilia die Frau des Gärtners fast zu Tode, als sie ihr zwei Schlangen ins Bett legte, ein anderes Mal verdarb sie dem Koch das Essen, indem sie ihm heimlich eine Ratte in den Topf warf. Zum Glück hatte der Koch die Ratte noch früh genug entdeckt, sonst hätte der ganze Hof die Suppe auslöffeln müssen. Einmal jedoch trieb sie es zu weit. Gunnars Schwester war mit ihrer neunjährigen Tochter zu Besuch. Zuerst ließ sie ihrer Tante einen Frosch in den Ausschnitt fallen, so dass dieseeinen Anfall von Hysterie erlitt. Gunnar wurde sehr zornig und drohte ihr, sie einzusperren, wenn sich derartiges wiederhole. Tilia nahm die Drohung nicht ernst und heckte schon einen Streich gegen ihre Cousine aus. Als diese sich über den Brunnen beugte, erschreckte sie sie so sehr, dass die Cousine vor Schreck das Gleichgewicht verlor und in den Brunnen fiel. Obwohl gleich mehrere Bediente herbeigeeilt kamen, konnte das Mädchen nicht rechtzeitig gerettet werden, so dass sie im Brunnenwasser ertrank. Als Tilia den blassen. leblosen Körper auf dem Rasen liegen sah, wurde sie plötzlich von großer Traurigkeit und Reue ergriffen, sie wurde sehr schweigsam und in sich gekehrt. Stumm ließ sie alle Klagen, Vorwürfe und Strafen über sich ergehen, was Gunnar schließlich noch mehr aufbrachte, als wenn sie sich verteidigt hätte. Nachdem die Cousine begraben worden war, wollte Gunnar Tilia in ein Kloster bringen lassen.
Auf dem Weg zum Kloster jedoch wurde Tilia mit ihrer Begleitung überfallen, von einem der Männer geraubt und weit weg auf eine fremde Burg gebracht. Dort musste sie von morgens bis abends arbeiten, und der Burggraf war sehr streng. Als sie eines Tages im Wald Holz sammelte, sah sie eine wundervolle Blume. Eine Weile stand sie staunend davor, dann wollte siesie abpflücken und mitnehmen. Als ihre Finger die Blume berührten, hörte sie einen ganz feinen Klang, so dass sie verwundert die Hand zurückzog. Nach einer Weile versuchte sie er- neut, die Blume zu berühren, da hörte sie wieder diesen feinen Klang, diesmal formte er sich zu Worten: "Reiß mich nicht aus, ich weiß viele Geheimnisse, ich werde sie dir kundtun, wenn du mich leben lässt." Tilia fuhr sich mit der Hand über die Augen, es war ihr als träume sie. Dennoch fragte sie: "Wenn du viele Geheimnisse weißt, so kannst du mir sicher sagen, wie ich von dieser fürchterlichen Burg wegkommen kann." Sie stieß einen Seufzer aus. Die Blume antwortete: "Du weißt, weshalb du leidest, würdest du dies nicht leiden, würdest du noch mehr leiden." Puh", sagte Tilia, "statt Geheimnisse zu lösen, gibst du Rätsel auf. Meine Frage hast du jedenfalls nicht beantwortet." Und sie stapfte mit ihrem Holzbündel unmutig von dannen. Als sie jedoch abends todmüde in ihrem Bett lag, dachte sie über die Worte der Blume nach und sie begann zu ahnen, was sie bedeuteten. Sie sah wieder den leblosen Körper ihrer Cousine, die zornigen, un- glücklichen Augen ihres Vaters und sie begriff, dass sie in kindlicher Unwissenheit eine große Schuld auf sich geladen hatte, die sie nie wieder gutmachen konnte. Und nun fand sie, dass es eine recht milde Strafe sei, auf dieser Burg leben zu müssen. Dann musste sie an ihren Vater denken. Sicher glaubte er, dass sie tot sei, vielleicht war er inzwischen vor Gram gestorben. Da musste sie weinen. Doch da sie sehr müde war, schlief sie bald ein.
Am nächsten Tag richtete sie es so ein, dass sie wieder im Wald zu tun hatte. Sie lief zu der Stelle, an der die Blume stand und rief: "Ich glaube jetzt, dass du viele Geheimnisse weißt. Willst dumir helfen?" Die Blume antwortete: "Jeder muss sich selbst helfen, ich kann dir nur Geheimnisse verraten." "So sage mir, warum ich so wurde, dass ich den Tod meiner Cousine verschulden musste?" Die Blume schwieg, als sei ihr die Auflösung dieser Frage zu schwierig. Dann vernahm Tilia ein Lied:
Menschenkinder sind Feuer und Wasser
Kinder sind Erde und Luft
Suche ein Sinnbild
Suche den Schlüssel.
"Ach, was soll das wieder heißen?", fragte Tilia ratlos. Die Blume antwortete: "Im Keller der Burg ist eine Falltür, dort steige hinab. Du findest eine Kiste. Öffne sie und du wirst ein wenig mehr verstehen." Seufzend ging Tilia mit ihrem Korb voller Pilze zurück.
Tilia machte sich am nächsten Tag im Keller zu schaffen. Nach einigem Suchen fand sie die Falltür, doch war sie zu schwach sie zu öffnen. Tagelang lief sie sinnend umher, wie sie sich helfen könne, bis sie auf die Idee kam die Blume nochmals aufzusuchen. Die Blume war schon sehr schwach, sie war kurz vor dem Verwelken, sie sagte nur: "Du musst so stark werden, dass du sie öffnen kannst. Du kannst sie nur allein ..." Da brach der feine Klang ihrer Stimme und Tilia bedauerte es, die Weisheit der Blume nicht besser genutzt zu haben. Sie wusste nicht, dass es viele Blumen gibt, von denen jede ihre eigene Weisheit besitzt. Nachdem Tilia ein weiteres Mal vergeblich versucht hatte, die Falltür zu öffnen, gab sie es auf - und nach einer Weile dachte sie nicht mehr daran. Die Tage und Wochen vergingen und Tilia wünschte sich mehr und mehr, von der Burg zu entfliehen.
Einmal hatte sie einen freien Tag, weil der Burggraf unterwegs war. Da saß sie an einem kleinen Bach und starrte trübsinnig in das helle Wasser. Da hörte sie plötzlich eine fröhlich gurgelnde Stimme, die sagte: "Was sitzt du und blickst so traurig in die Welt hinaus? Sieh doch, was für einen schönen Tag wir heute haben."
"Ach, du hast gut reden, du kannst gehen, wohin du willst und musst nicht dem Burggraf dienen." Da lachte der Bach und antwortete: "Ich kann gehen, wohin es mir mein selbstgeschaffener Lauf gestattet und ich diene dem Grafen, indem ich ihm so nebenbei ein Mühlrad drehe. Es macht mir nichts aus,ich laufe sowieso immer. Manchmal möchte ich gern mal still stehen aber was solls, an solche Dinge soll man gar nicht denken. Ein Bach, der stillsteht, stell dir das vor! Ich wäre gar kein Bach mehr ..." Tilia war es, als würde der Bach nicht aufhören zu reden, sie fand ihn ein wenig geschwätzig und altklug. "Du solltest dir auch ein Bachbett zulegen, meine Liebe, da weiß man immer, wo`s langgeht, hör auf mich. Klar manchmal breche ich auch aus, überflute meine Ufer. Spaß muss sein, hahaha." So redete der Bach, Tilia mochte nicht mehr zuhören und ging weg. Aber eine fast vergessene Sache fiel ihr wieder ein.
Tilia hatte auf der Burg einen Freund, ja das konnte man mit Recht behaupten. Oft hatte Arne Fehler von ihr gedeckt, damit der Burggraf sie nicht bestrafte. Dieser war für seinen Jähzorn bekannt. Arne war schon lange auf der Burg, er war zuständig für alle möglichen Schlosserarbeiten. Er war ein großer, starker Bursche mit einem sanften Gemüt, und so hatte er gleich Mitleid mit Tilia, die so jung, so verwöhnt und unerfahren war und nun harte Arbeit leisten musste. Zu ihm ging Tilia oft, wenn sie Zeit hatte.
Tilia lief zu Arne und bestürmte ihn: "Arne, was kann man machen, wenn eine Tür zu schwer ist, sie zu öffnen, man sie aber allein öffnen muss?"
"Mädchen, was soll das? Welche Tür bekommst du nicht auf? Ich will sie dir gerne öffnen."
"Du kannst sie mir nicht öffnen, aber sag mir, wie man es macht." Arne blickte sie kopfschüttelnd an. "Wenn ich eine Tür nicht öffnen kann, wirst du sie sicher erst recht nicht aufbekommen. Es sei denn, du benutzt ein Zauberwort."
"Ich muss diese Tür allein öffnen, weil es meine Tür ist. Sag mir ein Zauberwort!"
"Na, da gibt es "Tussilago farfara", das benutzt man für Höhleneingänge, oder "crataegus oxyacantha" für Eingänge, die mit Dornen zugewachsen sind. Oder "Sambucus" für schwere Eisentüren."
"Gibt es auch ein Zauberwort für Falltüren?"
"Ja, Falltüren sind besonders schwierig, da benutzt man gewöhnlich ,Taraxacum traxisti'."
"Prima, prima, vielen Dank", rief sie,während sie fortstürmte und immerzu "Taraxacum traxisti" vor sich hinmurmelte, um den Zauberspruch nicht zu vergessen. Da sie jedoch auf ihrem Weg zufällig an einer Falltüre zu einem unterirdischen Verlies vorbeikam, sprang diese auf und ein lange dort festgehaltener Gefangener konnte entfliehen. Dies hat später bei der Rückkehr des Grafen viel Ärger und einigen Wirbel erzeugt.
Tilia ging in den Keller, stellte sich vor die Falltür und sagte "Taraxacum traxisti" und die Tür sprang mit einem kleinen Klack auf. Tilia sah hinunter, nichts als gähnende Schwärze. Sie holte sich eine Kerze und leuchtete hinunter. Sie sah nur feuchte Mauern und ihr schauderte, da hinunterzusteigen. Doch dann dachte sie an die Kiste, und sie wollte doch endlich wissen, was in der Kiste wäre. Mit einer Leiter, die Kerze in der Hand, kletterte sie hinab. Da sah sie eine eisenbeschlagene Holzkiste, die mit einem Schloss versehen war. Da sie weder einen Zauberspruch noch einen Schlüssel hatte, musste sie notgedrungen unverrichteter Dinge wieder nach oben. Sie gab der Falltür einen Tritt, dass sie zuklappte und eilte zu Arne. Inzwischen war in der Burg und im Burghof ein großes Durcheinander entstanden, weil das Entweichen des Gefangenen entdeckt worden war.
Der Graf war eben zurückgekehrt und hatte alle möglichen Leute verhört. Der Verdacht war auf Arne gefallen, der sich mit Schlössern und Türen so gut auskannte. Arne ahnte, dass Tilia ihren Zauberspruch unabsichtlich an dieser Falltüre angebracht hatte und wollte sie auf keinen Fall verraten. Da er seine Unschuld nicht hinreichend beweisen konnte, wurde er in ebendasselbe Verlies gebracht. Als Tilia das erfuhr, dachte sie, dass sie ihn unbedingt befreien müsse. Sie lief umher und sagte immer wieder "Taraxacum traxisti", damit sie die Zauberformel nicht vergäße. Dabei geriet sie wieder zufällig an die Falltür zum Verlies und sie öffnete sich. Diesmal bemerkte sie es aber und neugierig stieg sie hinein. Sie wunderte sich, Arne dort zu finden. Dieser aber sagte: "Man sollte Zauberworte nicht so unnütz und oft aussprechen, sonst nutzen sie sich ab und wirken dann, wenn's drauf ankommt vielleicht nicht mehr." Tilia wollte sofort mit Arne fliehen. Arne aber sagte zu ihr: "Jetzt erzählst du mir erst einmal, wozu du die Zauberformeln brauchst." Da erzählte Tilia ihm alles und bat ihn auch, ihr ein Zauberwort für verschlossene Kisten zu sagen. "Unsinn", sagte er, "es gibt nicht für alles ein Zauberwort. Geh in meine Werkstatt und such dir den passenden Schlüssel oder nimm mehrere, die in Frage kommen, mit. Einer wird schon passen. Um mich mach dir keine Sorgen, ich werde schon zur rechten Zeit entfliehen."
"Gut, ich gehe. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder."
"Ja, gewiss", sagte Arne und winkte ihr, als sie aus dem Loch stieg.
Tilia holte sich ein Bündel Schlüssel aus Arnes Werkstatt, begab sich wieder in den Keller, stieg hinab und öffnete voll Ungeduld die Truhe. Da lagen sorgfältig in Samtstoff eingewickelt ein Spiegel, der eine kunstvoll verschnörkelte, mit Steinen besetzte Einfassung hatte, und ein etwa zehn Zentimeter großer, sehr einfach gearbeiteter Schlüssel. Sie nahm beides hastig an sich, stieg nach oben und verbarg die beiden Dinge in einem Versteck.Sie fragte sich flüchtig, was sie damit wohl anfangen sollte. Erst am nächsten Tag nahm sie den Spiegel zur Hand, doch war sie enttäuscht, denn er war blind, warf ihr Gesicht nicht zurück. Sie begann die Fläche mit dem Ärmel zu reiben, da erschien auf ihr eine wundervolle Landschaft. Sie betrachtete sie aufmerksam und erkannte, dass es ihre Heimat war. Als Kind war es ihr nie aufgefallen, wie schön Wiesen, Bäche und Bäume zuhause waren. Sie wünschte sich, das Schloss zu sehen, da bewegte sich das Bild und das väterliche Schloss erschien strahlend im Abendglanz der Sonne. Das war so wundervoll, dass sie ganz verzückt und versunken war in dieses Bild. Ihr Herz klopfte, als sie sich nun wünschte, ihren Vater zu sehen. Da sah sie ihn, doch war er viel jünger als sie ihn in Erinnerung hatte. Er sah auch viel fröhlicher aus. Es schien ihr dann fast, als wäre es gar nicht ihr Vater. Dann überkam sie der Wunsch, ihre Mutter zu sehen, die sie nicht gekannt hatte. War dies nun ein Zauberspiegel oder nicht? Da erschien eine wunderschöne blonde Frau, die mit den Augen lächelte. Tilia überfiel heißes Bedauern, dass sie diese Frau nicht kennengelernt hatte. Sie wischte hastig mit dem Ärmel über den Spiegel, da verschwand das Bild. Allmählich begriff sie, was sie mit diesem Spiegel für ein wundervolles Zauberding besaß. Sie ließ nacheinander Arne, den Burggrafen und alle möglichen Leute auf ihm erscheinen. Dann wieder ihre Mutter. Doch nun sah die schöne Frau aus, als hätte sie einen großen Kummer. Tilia wischte mit dem Ärmel über den Spiegel und nahm den Schlüssel in die Hand. Sie betrachtete ihn von allen Seiten und legte ihn wieder in seine Samthülle. Nun nahm sie die beiden Dinge mit in ihre Kammer. In der Nacht, als sie in ihrer Dachkammer schlief, zupfte jemand sie am Ärmel. Es war Arne. "Komm. lass uns gehen", flüsterte er, "hast du die Zauberdinge?" Tilia war benommen und blickte ihn verschlafen an. "Auf, auf", sagte Arne. Da packte Tilia schnell ihr Bündel. Im Mondschein huschten sie über den Burghof. Am schweren Eisentor angekommen, sagte Arne halblaut "Sambucus" und es öffnete sich fast lautlos. Sie schlüpften hinaus und wanderten dem Walde zu.
Sie wanderten mehrere Tage immer nach Westen bis sie ganz erschöpft vor Hunger und Anstrengung an einen Bergsee kamen, an dem eine Hütte stand. Sie klopften an und eine hagere, noch junge Frau öffnete. Sie sah recht merkwürdig aus: sie hatteein braunes und ein blaues Auge, das braune Haar stand ihr wirr vom Kopf weg und sie trug einen langen blauen Kaftan. Von innen drang das Gekrächze einer Nebelkrähe: "Tritt ein, tritt ein." Die Frau jedoch schien stumm zu sein, sie machte nur eine einladende Handbewegung, ohne dass ihr Gesicht den Ausdruck von Gleichgültigkeit verlor. Arne und Tilia traten ein und ließen sich auf einer Holzbank nieder. die Frau gab ihnen zu essen und zu trinken und wies ihnen später einen Schlafplatz zu. Hier schliefen die beiden erschöpft von der Reise bald ein. In der Nacht wurde Tilia wach durch einen heiseren Schrei, der von draußen zu kommen schien. Tilia lief hinaus. Alles war ganz ruhig. Der Spiegel des Sees lag vor ihr, dunkel und unergründlich. Und über den Wipfeln der Bäume kreiste ein Nachtvogel. Vielleicht hatte er den Schrei ausgestoßen. Tilia beugte sich über das Wasser. Ihr schien, als glömmen im Wasser bunte Lichter auf. Dann erschien in violettes Licht getaucht eine düstere Burg. Sie fühlte sich magisch angezogen und beugte sich tiefer, um die Burg genauer zu sehen. Es war ihr als strecke sich eine Hand nach ihr aus, um sie hinabzuziehen, sie konnte nicht widerstehen. Da zerriss wieder ein heiserer Schrei die Stille der Nacht und brachte sie zu sich selbst. Sie richtete sich auf und wandte sich um. Da stand die Frau vor ihr und sagte: "Hüte dich vor den Mächten dieser Burg."
"Wo ist diese Burg?", fragte Tilia.
"Immer dort, wo Wünsche nicht in Erfüllung gehen."
"Wer wohnt dort?"
"Zauberinnen, die unerfüllbare Wünsche erfüllen, doch hüte dich! Sie sagen dir vorher nicht, womit du bezahlen musst."
Am Morgen war es Tilia, als habe sie dies geträumt. Arne sagte jedoch, er habe in der Nacht mehrmals einen Schrei gehört. Die Frau war wie am Vortag, sie gab ihnen zu essen, sprach jedoch nicht. Arne und Tilia dankten der Frau und brachen auf, um ihren Weg fortzusetzen. Noch lange hörten sie das Geschrei der Nebelkrähe, die hinter ihnen herrief: "Tritt ein, tritt aus, komm bald nach Haus."
Am Mittag rasteten sie unter einer Birke. Golden fiel die Sonne durch die zarten Blätter. Tilia blinzelte nach oben und fragte: "Wohin gehen wir eigentlich?" Arne lachte und sagte: "Ich weiß nicht, wohin du gehst. Ich gehe zurück."
"Was meinst du damit?" Er schüttelte den Kopf und schwieg. Später sagte er: "Hast du nicht einen Schlüssel gefunden?"
"Ja, aber was soll ich damit?"
"Viele Menschen suchen einen Schlüssel, ihren Schlüssel, du aber hast einen und weißt nicht wozu." Plötzlich erinnerte sich Tilia: Die Blume sang: "Suche das Sinnbild. Suche den Schlüssel." Nun wurde ihr klar: Der Spiegel war das Sinnbild. Arne sagte: "Wir müssen uns trennen, sonst findest du dich nicht."
"Aber ich habe Angst allein!", rief Tilia aus.
"Ja", sagte Arne, "gewiss. Aber wenn ich immer mit dir gehe, wirst du immer Angst allein haben."
Gegen Abend kamen sie an eine Burg. Irgendwie erinnerte sie Tilia an die Burg, die sie in der Nacht zuvor gesehen hatte, aber sie war auch wieder ganz anders. Das riesige Portal war fest verschlossen und auf ihr Rufen antwortete niemand. Da zog sie den Schlüssel aus ihrer Tasche und siehe, er passte, drehte sich im Schloss und die Tür sprang auf. Sie gelangte in eine gewaltige Eingangshalle, in der ihre Schritte laut widerhallten. Sie drehte sich um und sah, dass sich die Tür lautlos hinter ihr geschlossen hatte - und Arne war nicht mit hineingekommen. Sie lief zurTür zurück, öffnet sie und blickte hinaus. Arne stand dort an einen Baum gelehnt. Sie rief: "Komm doch mit!" Er schüttelte den Kopf und sagte: "Das ist dein Schlüssel." Dann ging er weg und winkte noch von weitem. Tilia fühlte sich zwischen zwei Impulsen heftig hin- und hergerissen, einer war, hinter Arne herzulaufen, der andere war, in die Burg hineinzugehen. Schließlich wandte sie sich wieder dem Portal zu, drehte den Schlüssel und zog ihn diesmal ab, als die Tür sich öffnete. Sie durchschritt die Eingangshalle und gelangte in einen Innenhof. Dort gab es Blumen und Bäume und einige Bänke. In der Mitte war ein Ziehbrunnen. Sie beugte sich über den Brunnen und schauderte im gleichen Augenblick zurück. Tief unten hatte sie ein Gesicht gesehen. Als sie sich umdrehte, stand dort eine alte Frau in einem langen grauen Kleid. Ihr Gesicht war von Runzeln zerfurcht. Sie sagte: "Wir haben auf dich gewartet." Die Frau geleitete Tilia in ein riesiges Gemach, in dem der Tisch gedeckt war mit den köstlichsten Speisen und Getränken. Tilia war sehr erfreut darüber und ihre Augen fielen mit Gier über den Tisch her. So bemerkte sie nicht das böse Lächeln der Alten. "Greif nur zu, mein Kind", sagte sie und verschwand lautlos. Tilia griff hastig nach einem gebratenen Geflügelbeinchen, als sie eine leise Stimme vernahm: "Iss nichts, sonst wirst du stumm." Verblüfft ließ Tilia das Beinchen fallen und drehte sich nach der Stimme um. Sie sah ein winziges graues Männchen. "Iss nichts, sonst haben sie Gewalt über dich!"
"Wer?" fragte Tilia.
"Die unerfüllbaren Wünsche", antwortete der Graue. In diesem Moment trat die Alte ein und schimpfte und keifte mit dem grauen Männchen, das daraufhin schleunigst verschwand. Dann wandte sie sich an Tilia und sagte überfreundlich: "Aber, warum isst du denn nichts, meine Teure, du musst doch hungrig sein? Hat dich Nubilus irritiert? Du darfst nicht auf ihn hören. Iss nur, iss nur!" Tilia war ganz durcheinander, der Appetit war ihr vergangen, aber die Alte nötigte sie so sehr, dass sie etwas aß. Dann wies die Alte ihr eine Schlafkammer an. Kaum hatte Tilia sich auf das Bett gelegt, war ihr als sinke sie hinab, es gab einen Ruck und sie befand sich in einem anderen Land. Dort sah sie ein lange vergangenes Geschehen so deutlich vor sich, als würde es eben gerade passieren, nur dass sie sich selbst zuschaute. Sie sah ihre Cousine über den Rand des Brunnens fallen, sah wie sie langsam in der dunklenTiefe verschwand. Dabei hatte sie damals gar nicht gesehen, wie sie hinabfiel. Nun sah sie wie mit einem anderen Auge. Gleichzeitig war es ihr, als fiele sie selbst hinab. Sie hatte sich selbst dort hinabgestoßen. Sie erkannte, dass sie Täterin und Opfer zugleich war. Sie stieß und wurde gestoßen. Sie starb und lebte doch weiter.
Als sie erwachte, war es früh am Morgen und sie wusste nicht, wo sie sich befand. Mühsam erhob sie sich und trat ans Fenster. Die Vögel begannen zu pfeifen und der Horizont begann sich zu lichten. Sie hörte ein Geräusch von der Tür her und als sie sich umwandte, stand Nubilus dort. "Du hast meine Warnung nicht beachtet, aber ich sage dir erneut: Iss nichts, sonst wirst du stumm." Tilia wollte etwas erwidern, aber Nubilus verschwand so schnell wie er gekommen war. Tilia räusperte sich und versuchte zu sprechen, ihre Stimme war heiser. Was soll ich machen, dachte sie, habe ich jetzt die Wahl zwischen dem Verhungern und der Stummheit? Das Frühstück, das aufgetragen wurde, sah köstlich aus und Tilia konnte einfach nicht widerstehen und sie aß. Danach führte die Alte sie in einen riesigen Saal. Dort saß eine schöne, düstere Frau auf einem Thron. Ihr Kopf schien wie in eine Wolke gehüllt und ihr Kleid war schwarz und glänzte, als würden Tränen an ihm herabrollen. Ihre Augen waren unergründlich dunkel und voller Melancholie, als sie sich auf Tilia richteten. "Du hast den Schlüssel", sagte sie mit trauriger Stimme, "weißt du, was es bedeutet, zu uns zu finden?" Tilia schüttelte den Kopf. Die Frau seufzte tief auf, stützte ihren Kopf in die Hand, und es hatte den Anschein, als verfiele sie in endloses Grübeln. Tilia fühlte sich unbehaglich. Nach einiger Zeit hob die Frau wieder den Kopf und sagte: "Ich bin Optia, die Königin der unerfüllbaren Wünsche. Mein Reich ist groß. Unter gewissen Bedingungen habe ich die Macht, unerfüllbare Wünsche erfüllbar zu machen. Du selbst bist ein solcher Wunsch. Deine Mutter war bei uns, damit du geboren werden konntest. Auch dich treibt nun etwas zu mir." Mit einem Schlage war es Tilia, als würde ein Vorhang beiseite geschoben und sie konnte verstehen, warum sie so war wie sie war. "Was also begehrst du?", fragte die Königin. Tilia wusste auch mit einem Male, was sie wünschte, als wäre es ihr schon immer klar gewesen. Irgendein vages Gefühl streifte jedoch ihre Gedanken, eine Warnung, aber sie konnte sich nicht klar erinnern. Als ahne die Königin, was in ihr vorging, sagte sie rasch: "Du darfst keine Fragen oder Bedingungen stellen. Entweder du sagst uns deinen Wunsch oder nicht. Entscheide dich." Und Tilia dachte nicht mehr daran, was es sie kosten könnte und sie sagte mit ihrer heiseren Stimme: "Ich wünsche mir, dass etwas ungeschehen wäre. Wäre doch meine Cousine nicht in den Brunnen gefallen und ertrunken und ich nicht an ihr zur Mörderin geworden. Ich möchte noch mal anfangen zu leben, bevor dies geschehen ist." Dann sah Tilia in die schönen traurigen Augen der Königin, ihr Bewusstsein schwand und als sie wieder erwachte, befand sie sich in ihrem Bett im väterlichen Schloss. Sie erinnerte sich, dass für heute Besuch angesagt war und in ihrem Übermut dachte sie sich schon Streiche aus. Wie wäre es, wenn ich der Tante einen Frosch in den Ausschnitt stecke? Ich glaube, vor Fröschen ekelt sie sich ganz besonders. Sie wollte lachen, merkte aber zu ihrem Entsetzen, dass kein Laut über ihre Lippen kam. Sie versuchte, etwas zu sagen, aber sie war stumm. Vor Kummer begann sie zu weinen. Sie traute sich nicht nach unten zu gehen, sie warf sich in stummem Schmerz auf ihr Bett. Nach einer Weile kam Gunnar und fragte, ob sie krank sei. Sie regte sich nicht. Gunnar hatte es nie erlebt, dass Tilia krank war und glaubte, sie wolle ihn nur narren oder erschrecken. "Wir sind mit dem Frühstück fertig und reiten jetzt aus, wenn du mitkommen willst, musst du dich beeilen." Dann ging er. Als Tilia zum Mittagessen noch immer nicht erschien, wurde es Gunnar doch unheimlich und er ging erneut in Tilias Zimmer. Er fand die Tochter wie am Morgen völlig reglos auf ihrem Bett. Er fasste sie an und sagte: "Sag doch was, was ist denn los?" Tilia drehte sich um, ihr Blick war verstört und sie versuchte, ihrem Vater mit Zeichen deutlich zu machen, dass sie nicht mehr sprechen konnte. Gunnar verstand nicht gleich, aber dann versuchte er sie zu beruhigen: "Du hast dich erkältet und bist so heiser, dass du nicht reden kannst. Ich schicke dir den Doktor, dann gurgelst du ein bisschen, bekommst Umschläge - und morgen wird deine Stimme wieder da sein." Die lähmende Verwirrung wich ein wenig von Tilia, als sie das hörte, aber ihre Stimme kam auch am nächsten Tag nicht wieder.
So wurde Tilia die "stumme Prinzessin". Sie war niemals mehr frech und ausgelassen. Weder ihre Cousine noch sonst irgendjemand kam je durch sie zu Schaden. Gunnar begann sie voll Verwirrung zu betrachten, aber immerhin kümmerte er sich mehr um sie. Sie erblühte zu einem schönen Mädchen, zu einer jungen Frau. Trotz ihrer Stummheit hielten einige Prinzen um ihre Hand an, aber sie wollte nicht heiraten. Tilia hatte sich angewöhnt, viel allein zu sein, nachzudenken, zu malen, zu schreiben. Gelegentlich hatte sie beunruhigende Träume, aber sie erinnerte sich nicht an den Inhalt. Eines Tages kam sie auf die Idee, Männerkleidung anzuziehen, um im Wald umherzustreifen. Häufig schlich sie sich vom Schloss weg. Sie dachte bei sich: Ich muss wissen, wer ich bin. Ich habe das Gefühl, ich bin gar nicht da.
Der Wald weckte unbestimmte Erinnerungen, auf die sie sich keinen Reim machen konnte. Eine Blume, ein Bach, ein See schienen zu ihr zu sprechen, aber sie war wie taub, sie konnte ihre Sprache nicht verstehen. Einmal beugte sie sich über einen See und betrachtete ihr Spiegelbild bis dieses verschwamm und sie ein Gesicht sah, das dem ihren ähnelte, aber doch nicht genau das ihre war. Sie hatte das deutliche Gefühl, diese Frau zu kennen. Und es kam ihr auch so vor, als sei diese Frau ihr schon einmal im Traum erschienen. In der folgenden Nacht träumte sie von einer Hütte am See. Vor der Hütte stand die Frau und winkte sie zu sich heran. Und sie hörte das Krächzen eines Vogels, es klang wie: "Tritt ein, tritt aus, komm bald nach Haus."
Am nächsten Tag rüstete sie sich zu einer längeren Reise. Sie erklärte ihrem Vater, dass sie wegmüsse und nahm Abschied von ihm. Der Vater war alt und weise geworden und ließ sie ziehen, denn er wusste, dass sie ihren Weg fortsetzen musste. Er schenkte ihr sein bestes Pferd und gab ihr seinen Segen.
Tilia ritt durch den Wald, sie lauschte auf die vielfältigen Stimmen und hoffte auf einen Hinweis, wohin sie reiten müsse. Die mächtigen Bäume rauschten, ein Bach plätscherte, Blüten dufteten süß. Diese Sprache gefiel ihr, aber immer noch suchte sie nach Hinweisen, wohin sie reiten sollte und fand keine. So irrte sie mehrere Tage umher und ihr Proviant ging zur Neige. Eines Morgens, als die Sonne besondes strahlend schien, dachte Tilia gar nicht mehr daran, dass sie ein Ziel hatte und dass sie irgendwo ankommen wollte. Sie setzte sich an einen nahegelegenen See und sog die Stille in sich auf, die Oberfläche des Sees war leicht gekräuselt, Schilf stand am Ufer und einige Enten flogen mit klatschenden Flügelschlägen über ihm dahin. Ein tiefer Frieden durchströmte sie. Als sie sich nach einiger Zeit umsah, gewahrte sie eine Hütte. Als sie diese betrat, vernahm sie ein heiseres Gekrächze: "Tritt ein. Du bist zu Haus." Eine Nebelkrähe hockte auf dem Fensterbrett und plusterte ihr Gefieder. Tilia war es sonderbar zumute. Irgendwie wusste sie, dass sie schon einmal hier gewesen war. Alles war vertraut und doch ein wenig fremd. Sie ließ sich auf einem Stuhl nieder und sah sich in der Hütte um. Alle möglichen Gegenstände lagen auf Regalen oder hingen an den Wänden, auch Bündel mit getrockneten Kräutern. An einer Wand stand eine Truhe, in dieser Truhe waren Gewänder und Decken. Sie nahm einen blauen Kaftan heraus und zog ihn an. Als sie weiter in der Truhe kramte, entdeckte sie einen Spiegel, der sehr schön mit Steinen verziert, aber blind war. Als sie mit dem Ärmel über die Fläche rieb, erschienen in schneller Folge Bilder, in denen sie selbst vorkam. Sie sah nun alles, was geschehen war, was sie getan hatte, bevor sie Königin Optia ihren Wunsch gesagt hatte. Und sie sah auch die Frau, bei der sie mit Arne übernachtet und die sie im Traum gewarnt hatte. Das Gekrächze der Nebelkrähe riss sie aus ihrer Versunkenheit, sie trat vor die Hütte und fühlte sich wie neugeboren. Sie hatte ein Stück ihrer selbst wiedergefunden, auch ihre dunkle Seite, sie sie nicht wahrhaben wollte. Sie wusste nun auch, wer sie war. Sie war die stumme Frau am See, die alle Menschen warnte, die auf dem Weg zur Burg der unerfüllbaren Wünsche waren. Sie konnte nicht sprechen, aber sie hatte die Macht, auf die Träume der Menschen Einfluss zu nehmen.
Tag der Veröffentlichung: 29.09.2008
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