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I. Die Wüste


Jemand wird geboren, das bedeutet, er oder sie muss eine Wüste durchqueren, denn das Ziel der Wünsche liegt auf der anderen Seite der Wüste. Warum jemand geboren wird, entzieht sich meiner Kenntnis, aber dass das Ziel hinter der Wüste liegt, weiß ich. Man denkt: Wenn ich diese Wüste hinter mir habe, dann habe ich es geschafft. Wenn ich erst die Schulzeit hinter mir habe und das Abi in der Tasche. Wenn ich erst das Studium oder die Lehre hinter mir habe, wenn ich erst diese Stelle habe, wenn ich erst pensioniert bin... Die Wüste hat die unangenehme Eigenschaft, sich endlos auszudehnen. Manchmal denkt man, man habe die Wüste hinter sich, ist aber nur in einer Oase gelandet.

Gut, nehmen wir einmal an, die Wüste ist nicht endlos, was nach naturwissenschaftlichem Ermessen wahrscheinlich ist. Nehmen wir weiter an, eine Wüste habe eine Ausdehnung von 10 000 Kilometern von Westen nach Osten und 8000 Kilometer von Norden nach Süden. Unsere Heldin, gerade geboren, befindet sich im Westen, das Ziel ihrer Sehnsucht jenseits der Wüste im Osten. 10 000 Kilometer Wüste sind zu durchqueren. Wie bereitet sie sich vor? Welche Route soll sie einschlagen? Ja richtig, ich habe von Oasen gesprochen. Sagen wir, es gibt in der gesamten Wüste – schön gleichmäßig verteilt – zehn Oasen. Nimmt man allerdings den direkten Weg, sozusagen die Luftlinie, so kommt man durch keine dieser Oasen. Um die Oasen zu erreichen, muss man einen Umweg gehen. Genauer gesagt, kann man eine Route wählen, die durch fünf dieser Oasen führt. Die Oasen teilen dann die Gesamtstrecke in sechs Etappen ein. Der Weg allerdings verlängert sich auf 14 000 Kilometer. Man kann die Wüste auch umgehen, dann verdoppelt sich der Weg nahezu.

Unsere Heldin würde am liebsten schnurstracks durch die Wüste rennen, ohne nach links und rechts zu schauen. Sie glaubt, keine Zeit zu haben – in Wirklichkeit hat sie keine Geduld. Sie möchte so gerne schon am Ziel ihrer Wünsche sein, befindet sich aber, ehe sie sich versieht, in der Wüste. Ihre Lebensreise hat begonnen. Ihre erste Wüstenerfahrung ist so abschreckend, dass sie sich schnell dazu entschließt, die Oasenroute zu wählen. Dazu haben ihr auch einige wohlmeinende Menschen geraten. Die Wüste zu umgehen, liegt irgendwie nicht in ihrem Naturell, einmal wegen ihrer großen Ungeduld, dann auch, weil sie argwöhnt, dass dieser Weg andere Unannehmlichkeiten bereithält, ganz abgesehen davon, dass er zu lang ist. Dabei ist der Weg um die Wüste herum der sicherste, er dauert nur länger. Eigentlich wäre das ja egal, wenn man kein Zeitlimit hat. Das einzige Manko ist, dass man weder die Erfahrung der Wüste noch die Erfahrung der Oase macht. Dafür muss man sich keiner Gefahr aussetzen, erlebt kaum Hochs und Tiefs und meist reicht die zugedachte Lebenszeit, auf diesem längeren Weg sein Ziel zu erreichen. Aber wie gesagt, lag es nicht im Naturell unserer Heldin, diesen Weg zu wählen. Am liebsten wäre sie vorwärts- gestürmt auf dem direkten Wege, merkte aber noch rechtzeitig, dass sie das umgebracht hätte. Ihre Sehnsucht nach dem Ziel war sehr stark, obwohl sie noch gar keine richtige Vorstellung davon hatte, was es genau war.

Nun kann sich niemand in die Wüste wagen ohne zuverlässige Weggefährten. Es gibt Weggefährten, die den Weg zu kennen glauben, es gibt Weggefährten, die wissen, wie man sich am besten vorbereitet und schützt, und es gibt welche, die sich als Gepäckträger anbieten. Die meisten Weggefährten verlangen für ihre Dienste angemessene Bezahlung, nur wenige tun es umsonst. In
Wirklichkeit bildet man ja mit den Weggefährten eine Pilgergemeinschaft und ist aufeinander angewiesen, d.h., jeder braucht irgendwann Hilfe vom anderen, so dass es ein Geben und Nehmen ist. Es gibt auch Weggefährten, die vorgeben, das Ziel zu kennen, es genau beschreiben und alles darüber wissen. Dies ist aus zwei Gründen höchst suspekt. Denn einmal sieht das Ziel für jeden anders aus, zum anderen kommt niemand freiwillig durch die ganze Wüste zurück, um zu erzählen, wie das Ziel aussieht. Wer sein Ziel erreicht, hat meist schon bald ein neues Ziel und verfolgt dieses. Es kommt allerdings gelegentlich vor, dass jemand aus reiner Menschen-freundlichkeit an den Ausgangspunkt zurückgeht, um andere durch die Wüste zu führen. Diese Leute haben ihr Ziel erreicht und als neues Ziel diese Aufgabe angenommen. Diese Leute eigenen sich natürlich besonders gut als Führer, da sie die Gefahren der Wüste genau kennen. Wem das Schicksal wohlgesonnen ist, dem schenkt es einen solchen Führer. Unsere Heldin hatte dieses Glück nicht. Sie hatte auch sonst nicht viel Glück mit ihren Weggefährten, sie war oft auf sich alleine gestellt und musste sich den richtigen Weg allein bahnen. Sie litt auch immer sehr auf den Durststrecken, dafür blühte sie auf in den Oasen. Wenn sie längere Zeit in einer Oase verbringen konnte, dachte sie manchmal schon am Ziel zu sein. Aber ihre Sehnsucht trieb sie irgendwann weiter. Manchmal wurde sie auch unsanft aus einer Oase vertrieben und gezwungen, eine weitere Wüstenstrecke zurückzulegen.

In der Wüste gibt es häufig Monster oder Drachen. Viele Wissenschaftler sind der Meinung, dass Durst und Entbehrungen sie in den Köpfen der Wanderer gebiert. Einige sind der Meinung, dass sie wirklich existieren. Wie dem auch sei, für die Wüstenwanderer sind sie auf jeden Fall real genug.

Es wird Zeit, dass unsere Heldin einen Namen, ein Gesicht und eine Gestalt erhält. Sie ist klein, zierlich, etwas rebellisch und – wie schon erwähnt – sehr ungeduldig. Sie hat eine lebhafte Phantasie und eine Vorliebe für Blumenwiesen und Wasserfälle. Sie ist nicht besonders hübsch, d.h., sie selbst glaubt das. Aber auch nicht hässlich. Ihr Haar ist dunkelbraun, ihre Augen unterschiedlich, eines ist hell- das andere dunkelbraun. Ihre Großmutter gab ihr den Namen Margarete, da ihren Eltern kein Name für sie einfiel. Zunächst wusste sie nicht, dass ihre Großmutter einen starken Zauber mit dem Namen verbunden hatte. Der Legende nach war Margarete eine Drachenbändigerin. Lange glaubte sie, Margarete sei eine Nonne gewesen, die sich wünschte, einen Dorn aus Jesu Dornenkrone in ihrer Stirn zu haben. Einen solchen Wunsch fand sie mehr als unverständlich. Allerdings hätte sie sich Jesus als Weggefährten gewünscht, ganz ohne Dornenkrone, da von ihm etwas ausging, das den Durst löschte bzw. den Durst vergessen ließ.

Margarete erschien das Wüstenmonster meistens dann, wenn sie lange Durststrecken hinter sich hatte und die Weggefährten sich entfernt hatten. Die letzte Oase lag weit zurück, der Wasservorrat ging zur Neige und musste streng rationiert werden. Sie kannte Geschichten von Kakteen, die Wasser speicherten, und Felsen, die plötzlich Wasser spendeten, wenn man auf sie schlug. Und sie hielt Ausschau nach einem solchen Wunder, das sich aber nicht einstellen wollte. Dann kam das Monster. Es hatte verschiedene Gestalten, meist sah es ähnlich aus wie einer der Wüstenwanderer, manchmal war es auch grau oder schwarz gekleidet. es schmeichelte sich an Margarete heran und flüsterte ihr unaufhörlich ins Ohr: „Glaubst du wirklich an dieses Ziel? So naiv kannst du doch nicht sein! Alles, was dich erwartet, ist eine endlose
Wüstenwanderung, ständiger Durst und ein ständiges Nein zu deinen Sehnsüchten und Wünschen. Wenn du deine Hände nach dem ausstreckst, was dich glücklich machen würde, wirst du sehen, wie es sich immer und immer wieder entzieht. Besser ist es, gar keine Wünsche mehr zu haben, dann wird man auch nicht enttäuscht. Du siehst ja, wohin dich dein Vertrauen zu Gott und seinen Wundern gebracht hat. Er hat dich mit dem Versprechen geködert, dir beizustehen, dir zu helfen, dich zu trösten. Und nun siehst du, wo du gelandet bist. Am besten gehst du gar nicht weiter, dann ersparst du dir viel Mühe." Und Margarete wusste nicht viel zu antworten. Die Erfahrung der letzten Oase, als sie sich glücklich gefühlt hatte, war so sehr verblasst, dass sie dem Monster glaubte. „Du hast recht“, sagte sie, „ich werde keine Wünsche mehr äußern, vielleicht kann ich mir angewöhnen, überhaupt keine mehr zu haben." Und die Sehnsucht verkroch sich in die hinterste Ecke ihrer Seele und ihre Hände wagten es nicht, sich nach etwas auszustrecken. Wenn ein wasserspendender Kaktus am Wege gestanden hätte, sie hätte ihn nicht gesehen und sie hätte ihn auch gar nicht gewollt. Das Monster erzählte Margarete die alten Geschichten von Tantalus und Sisyphus, bis Margarete sich schließlich vorkam wie in einer Strafkolonie. Aber an das Vergehen, weswegen sie in die Strafkolonie verbannt war, konnte sie sich nicht erinnern. Schließlich war sie unfähig, überhaupt noch irgendwelche Gefühle zu empfinden, außer einer lähmenden Trauer, die sich auswirkte, als hingen ihr Gewichte an Armen und Beinen. Beim Vorwärtsgehen war es ihr, als müsse sie sich gegen unsichtbare unzerreißbare Gummibänder stemmen, die sie jederzeit, wenn ihr Bemühen auch nur leicht nachlassen würde, weit zurück-katapultieren konnten. Dabei war das Gehen in der Wüste ohnedies schwierig genug, doch wenn man guter Dinge war, konnte sie auch sehr faszinierend sein. Es gab sogar Leute, die die Wüste ausgesprochen anziehend fanden. Die negativen Gedanken des Wüstenmonsters hatte jedoch Margaretes Lebensmut fast völlig vernichtet. So brach sie denn eines Tages zusammen. Sie blieb einfach im glühenden Sand in der glühenden Sonne liegen. Da erschien ihr ein zartes hellblaues Licht, das sie sanft einhüllte. Es war ihr, als sähe sie in das funkelnde Glitzern einer sprudelnden Quelle, die das Sonnenlicht reflektierte. Kleine Bläschen stiegen auf und das Wasser war köstlich und klar. Schon der Anblick des Wassers ließ ein unbeschreibliches Glücksgefühl in ihr aufsteigen. Und die Quelle war zugleich wie ein Spiegel für ihre Seele. Sie fühlte sich erquickt und wie neugeboren.

Andere Wüstenfahrer brachten sie in ein Zelt und gaben ihr zu trinken. Ihre eigene Wasserflasche war fast leer. Das Glücksgefühl ihrer Vision hielt weiter an, auch als sie wieder zu sich kam. Es verdeutlichte ihr, warum sie unterwegs war, erinnerte sie an das Ziel, das sie erreichen wollte und gab ihr einen Vorgeschmack dessen, was sie jenseits der Wüste erwartete. Die Wüstenfahrer rieten ihr, sich etwas auszuruhen und nicht alleine weiterzugehen. die nächste Oase sei nur fünf Tagesreisen entfernt. Die Wüstenfahrer, die sie gerettet hatten, schienen robuste Burschen zu sein. Sie erweckten den Eindruck, als mache ihnen der Weg durch die Wüste nichts aus. Im Gegenteil, sie schienen sie als eine Art Abenteuer und Herausforderung zu genießen. Von einer solchen Haltung war Margarete weit entfernt. Für sie war die Wüste das, was sie von ihrem Ziel trennte, ein notwendiges Übel, das sie lieber so schnell wie möglich hinter sich hätte. Und die Vision schien das zu bestätigen. Sie war den Leuten dankbar für die Rettung, aber sie konnte ihre Lebenseinstellung nicht teilen und kam ihnen innerlich nicht nahe. Sie hatte auch nicht das Gefühl, als könne sie ihnen ihre Vision mitteilen. Sie dachte, dass sie diese sicher nicht verstehen würden.

Nach einem Tag Rast drängten die Wüstenfahrer zum Aufbruch, da sie Sorge hatten, dass der Wasservorrat nicht reichen würde. Einer sagte zu Margarete: „Wir würden dir ja noch ein bisschen Rast gönnen, aber das könnte gefährlich werden. Bis zur Oase sind es noch fünf Tage und wir wissen nicht, ob wir vorher noch eine Wasserstelle finden. Wir müssen also los."
„Mir geht es gut, wir können ruhig weiterziehen."
„Ja, dafür, dass wir doch halbtot gefunden haben, hast du dich erstaunlich schnell erholt. Kannst du dir erklären, warum du zusammengebrochen bist und warum du nun so schnell wieder auf den Beinen bist? Nur am Wassermangel kann es ja nicht gelegen haben."
Margarete seufzte und sagte: „Der Wassermangel bringt mich dazu negativ zu denken. Diese ganze Wüste ist mir verhasst. Jeden Tag Durst, Durst und nichts als Durst. Ich bin es so Leid. Ich nehme an, dass ich mich so hineinsteigere in die innere Verweigerung, dass ich dann tatsächlich zusammenbreche. Ich weiß nicht, was ich tun soll, um nicht so sehr unter dem Durst zu leiden. Euch scheint es weniger auszumachen."
„Ja, es liegt wahrscheinlich wirklich an der Einstellung. Für uns gibt es neben dem Durst auch noch etwas anderes. Er beherrscht uns nicht so. Ich finde die Wüste irgendwie auch faszinierend. Diese Formen im Sand, die der Wind hinterlässt. Die sanft schwingenden Dünen, aber auch manche Gesteinsformationen haben etwas Ästhetisches. Und die Wüste hat auch etwas Klares, Läuterndes."
„Das würde ich eher von einer Quelle sagen."
„Doch, auch die Wüste hat etwas Klärendes, Reinigendes. Hast du das nie gespürt?"
„Nur ansatzweise. Vor allem dann, wenn ich nicht so durstig war und noch genug Wasser hatte.
„Warum hast du dich denn auf die Wanderung durch die Wüste begeben, wenn du so viel Abneigung gegen sie hast? Du weißt ja sicher, dass man sie auch umgehen kann."
„Das wäre mir zu weit und zu lang gewesen. Ich möchte zu dem Sambua-Bergmassiv, auf dem der Palast steht. Das ist mein Ziel von Anfang an. Und mein größter Wunsch ist, ich hätte es schon erreicht und diese schreckliche Durststrecke hinter mir."
„Aber in den Oasen ist es doch schön, oder nicht?"
„Ja, ja, da gefällt es mir sehr. Ich brauche Wasser, viel Wasser. Sobald ich genug davon habe, geht es mir gut."
„Na, dann kannst du dich doch einfach darauf freuen, dass wir bald in eine Oase kommen. Ist es nicht so, dass die Oasen der Wüste ihren Sinn geben und ihr den Schrecken nehmen? Aber du solltest auch mal erleben, wie die Wüste aufblüht, wenn es regnet. Das würde dich vielleicht mit ihr versöhnen."
„Das muss ergreifend sein, hast du das schon einmal erlebt?"
„Ja, es war umwerfend. Wirklich, innerhalb von wenigen Stunden blühten die Steine und der Sand. Man kann sich gar nicht vorstellen, wo da noch Pflanzen und Keime sein sollen. Es ist so, als würden sie jahrelang auf diesen Auftritt warten. Man könnte es so auffassen, dass sie jahrelang dürsten bis sie endlich ihre Erfüllung finden. In der Wüste findest du die Extreme. Letztlich reizt dich das doch auch, sonst hättest du den faden Weg um die Wüste herum gewählt. Aber auf diesem Weg hättest du weder die Wüste noch die Oasen erfahren. Dir würde etwas Wichtiges fehlen."
„Schade, dass man die Oasen nicht ohne Wüste bekommt. Die Vorstellung einer Oase ohne Wüste ist eigentlich nicht möglich. Aber die Wüste ohne Oase ist eine Schreckensvision, die zumindest denkbar ist. Mein Problem ist hauptsächlich, dass ich nicht mehr an die Oasen glauben kann, wenn die Wüstenwanderung zu lange dauert. Je länger es dauert, um so unwahr-scheinlicher kommt es mir vor, jemals an eine Oase zu gelangen. In mir macht sich dann die Horrorvorstellung breit, dass die Wüste überhaupt nicht mehr aufhört. Es kommt mir dann alles wie eine Strafe vor."
„Vielleicht ist es keine Strafe, sondern eine Prüfung oder Läuterung. Für mich hat die Wüste, wie gesagt, etwas Läuterndes, obwohl ich sicherlich nicht so leide wie du. Vielleicht geht es darum, es anzunehmen. Möglicherweise verliert es dann seinen Schrecken. Aber du hast noch nicht erzählt, was dich so schnell wieder auf die Beine bringt. Du scheinst doch Kraftreserven zu besitzen."
„Wie ich schon angedeutet habe, lebe ich total auf, wenn ich in eine Oase komme, wenn ich meine Hände in die Quelle tauchen kann. So etwas Ähnliches ist mir passiert, als ich ohnmächtig wurde. Ich hatte die Vision einer Quelle. Und sie hat nicht nur meinen physischen Durst gestillt, sondern mich mit einem starken Glücksgefühl erfüllt. Es war, wie in eine Oase zu kommen. Diese Vision bestärkt mich auch darin, weiterhin nach meinem Ziel zu suchen bzw. weiterzugehen auf mein Ziel zu."
„Das, was du schilderst, ist aber doch eigentlich eine Fata Morgana. Dir wird etwas vorgegaukelt, das nicht wirklich da ist. Ich halte es für gefährlich, gerade, weil solche Visionen den physischen Durst nicht löschen. Stell dir vor, wir hätten dich nicht gefunden? Dann hätte man auch sagen können, dass es das Delirium einer

Sterbenden war."
Margarete zuckte innerlich zusammen. Sie hatte ja von vornherein das Gefühl gehabt, dass man sie nicht verstehen würde, aber es tat trotzdem weh. Sie sagte: „Wenn diese Vision nur den Zweck hat, mich nicht verzweifeln zu lassen und weiterzugehen, hat sie ihren Zweck erfüllt, auch wenn sie für mich weit mehr bedeutet. Im übrigen bin ich euch sehr dankbar für das, was ihr für mich getan habt. Trotzdem möchte ich mir nicht meine gerade wieder-gefundene Hoffnung und Zuversicht rauben lassen, die ich durch diese Vision wiedergewonnen habe. Für mich ist sie keine Fata Morgana, da sie meine Seele gestärkt hat. Und wenn ihr nicht gekommen wäret, so wäre ich eben gestorben, na und?“ Ihr Gegenüber senkte den Kopf und sagte: „Ich bin dir wohl zu nahe getreten und ich halte es für das Beste, das Gespräch zu beenden. Wir sind da einfach unterschiedlicher Meinung. Aber den letzten Satz solltest du vielleicht noch mal überdenken. Du hängst doch auch am Leben, du willst doch nicht wirklich sterben?"
„Das habe ich damit auch nicht unbedingt sagen wollen. Aber trotzdem ist der Gedanke tröstlich, dass einen der Tod erlöst von so manchen Strapazen und Leiden. Ich war in einer unerträglichen Situation. Mir wäre es egal gewesen. Aber die Vision war sehr schön. Ob sie nun zum Tod oder zum Leben gehört, ist mir gleich. Wenn der Tod mir solche Visionen schickt, dann liegt der Schluss nahe, dass es im Tod auch Leben gibt."
„Ob dieser Schluss nicht etwas voreilig ist? Aber wie gesagt, ich möchte nicht mit dir streiten und dich auch nicht verletzen. Ich bin da einfach anderer Meinung."
Sie ließen das Gespräch fallen und rüsteten sich zum Aufbruch.


Die letzte Strecke vor einer Oase ist oft die schwierigste. Man sieht das nahe Ziel vor Augen, aber die Zeit, bis man es erreicht, scheint sich endlos zu dehnen. Die Wasservorräte waren tatsächlich sehr geschrumpft und man hatte immer Durst. Die meisten Wüstenwanderer trugen ein langes helles Gewand und ein Tuch um den Kopf geschlungen als Schutz gegen die Sonnenstrahlen, den Wind und den Sand. Im Gepäck waren eine Decke, eine Zeltplane, Wasser und etwas Proviant, das bedeutete, die Last, die zu tragen war, war nicht unbeträchtlich. Einige hatten Lasttiere, einige bezahlten Mitwanderer dafür, dass sie einen Teil ihrer Last trugen. Die Wüstenfahrer, die Margarete geholfen hatten, besaßen einige Lasttiere und als Margarete mit ihnen weiterzog, konnte sie ihr Gepäck auf eines der Tiere packen. Das war eine große Erleichterung. Doch kurz bevor sie die rettende Oase erreichten, lahmte eines der Tiere und das Gepäck musste umgeladen oder wieder selbst getragen werden. Und sie gerieten in einen Sandsturm. Margarete hatte schon einmal einen Sandsturm erlebt, zum Glück hatte sie damals eine Höhle gefunden, in die sie sich flüchten konnte. Sie lag in einem zerklüfteten, felsigen Teil der Wüste. Die Höhle war richtig gemütlich und sie hatte nur bedauert, kein Holz zu haben, um Feuer zu machen. Allerdings hatte der Sturm sie einen Tag lang aufgehalten, das hieß, dass ihr Wasservorrat knapper wurde bis zur nächsten Wasserstelle. Gelegentlich kam es tatsächlich vor, dass man auf eine Gruppe „Einheimischer" stieß, die wussten, wo man in der Wüste Wasser finden konnte, aber das war nicht kalkulierbar. Diese Einheimischen wussten, wo sie graben mussten, um an eine Wasserader zu stoßen. Es war faszinierend und unverständlich zugleich, dass diese endlose Wüste versteckt, sehr versteckt, Wasser barg. Aber man musste schlau sein und sehr, sehr vertraut mit ihr, bevor sie es hergab. So vertraut wollte sie gar nicht sein mit der Wüste. Irgendjemand hatte ihr sogar erzählt, dass es ganze unterirdische Seen geben sollte, aber das war bestimmt eine Legende.

Der Sandsturm begann wie ein barockes Trompetenkonzert, ging über in einen dumpfen tiefen Choral, der sich anhörte wie der Chorgesang verdammter Seelen, und steigerte sich zu einem markerschütternden Heulen. Sie wurden wie mit einem Sandstrahlgebläse bearbeitet, das durch sämtliche Kleider hindurch schmerzlich zu spüren war. Die Sicht war von einem Moment zum anderen völlig weggewischt. Es gab nur noch Sand. Jemand packte sie am Arm und zerrte sie hinter einen niedrigen Felsbrocken. Schemenhaft erkannte sie, dass die anderen angefangen hatten zu graben. Der Sturm war so überraschend gekommen, dass sie vorher dazu keine Zeit gehabt hatten. Aber sie versuchten es trotzdem noch. Sie buddelten sich, so gut es ging in eben den Sand ein, gegen den sie sich schützen wollten. Zum Glück dauerte der Sturm nicht lange und sie konnten sich wieder aus ihren Sandburgen befreien. Allerdings war der Sand immer noch allgegenwärtig, er war in jeder Falte ihres Gewandes, in den Haaren, Ohren, in Nase und Mund. Sie verbrauchten zu viel Wasser, um sich den Sand aus dem Mund zu spülen, und der Durst wurde in den nächsten zwei Tagen noch schlimmer, weil die Wasserrationen noch kärglicher bemessen wurden.


II.Die Oasen

In der Ferne schimmerte etwas grünblau. Sie glaubte es nicht. Bestimmt war es eine Luftspiegelung. Zwar konnte es nach den Berechnungen der Wüstenfahrer die Oase sein, zwar sprach viel dafür, dass sie es war, aber sie glaubte es nicht. Die Wüste hatte sich vor allem in ihrer Seele so ausgedehnt, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass es noch etwas anderes gab. Aber sie näherten sich tatsächlich der Oase. Die Gefährten sahen sie auch und freuten sich. Margarete glaubte es erst, als sie die erste etwas dürre Palme berührte. Noch regte sich keine Freude, nur eine kleine dürre Erleichterung, als ihre Skepsis sich zurückziehen musste angesichts der Tatsachen. Aber es war auch noch keine Zeit zur Freude. Das Schlimmste, wenn man eine Oase betrat, waren die Quellenwächter. Ausgedörrt wie die Wüstenfahrer waren, hätten sie sich in das Wasser gestürzt, hätten es in sich hineingesogen, aber das war zu gefährlich, ihr Organismus hätte es nicht verkraftet. Langsam mussten sie sich daran gewöhnen, wieder genügend Wasser zu haben. Die Quellenwächter durften kein Mitleid haben, sie hatten die Aufgabe, die Wüstenfahrer vor sich selbst zu schützen. So musste Margarete sich mit einer winzigen Ration Wasser begnügen, während sie in Reichweite der klaren sprudelnden Quelle war. Es war für sie eine schwere Geduldsprobe und sie hasste die Quellenwächter wider besseres Wissen. Ihre Gefährten waren fröhlich und in Feierstimmung. Schließlich würde es bald auch etwas Gutes zu essen geben, vielleicht sogar Wein. Nach einer Weile war es gestattet zu baden und die Kleider zu waschen. War das eine Wonne, endlich den Sand aus allen Ritzen und Falten zu spülen, es war, als ob die gesamte widerliche Wüste von einem abfallen würde. Immer noch konnte man den Durst nicht richtig löschen, aber langsam verlor er seine beherrschende Macht. Sie waren am Nachmittag angekommen und am Abend wurde tatsächlich ein Fest gefeiert. Es gab gebratenes Lamm, frisches Gemüse, Brot und köstliches Obst. Wein allerdings gab es nicht, aber gegen Abend war es gestattet, mehr Wasser zu trinken. Die meisten Leute vergaßen die die Strapazen der Wüste, sobald sie in der Oase waren und das war ja auch gut so. Auch von Margarete fiel an diesem Abend die Last der Wüste allmählich ab und sie genoss das gute Essen.

Die Lapis-Oase war verhältnismäßig klein, obwohl sie eine starke Quelle besaß. Sie war wunderschön, es gab grüne Pflanzen, blühende Blumen, Vögel und Schmetterlinge. Es gab Leute, die ständig in der Oase blieben, z.B. die Quellenwächter. Ganz selten wurden sie einmal abgelöst. Über diese Vorgänge wusste man nicht viel, da man meist nicht so lange in der Oase bleibt und es einem auch nicht so sehr interessierte, da man ja bald weiterzog. Es gab auch noch andere Ansässige. Das war für die Wüstenwanderer wichtig, da diese Leute Tiere hielten und Gemüse pflanzten. Ohne sie gäbe es auch in einer Oase wenig zu essen. Die Ansässigen verkehrten kaum mit den Wanderern, aber es gab immer einzelne, die sich für die jeweils andere Menschengruppe interessierte. Margarete beobachtete einige der Ansässigen, als sie Gemüse und Fleisch lieferten, und fragte sich, ob diese Menschen nicht glücklicher waren. Warum musste man zu einem fernen Ziel unterwegs sein, wenn doch eine Oase so viele Annehmlichkeiten bot? Das könnte eine Versuchung sein, dachte sie. Es gab normalerweise keine Vorschriften, wie lange man in einer Oase bleiben durfte, wenn allerdings zu viele Wanderer da waren, mussten die, die am längsten da waren, weiterziehen. Aus diesem Grunde gab es auch Ansässige, die die Wüstenfahrer registrierten und genau Buch führten über ihre Ankunft.

Margarete ging es gut in der Oase, sie lebte auf. Die Wüstenerfahrung verblasste langsam, darin ging es ihr wie den meisten Wüstenfahrern. Die Oase öffnete ihr wieder die Augen für ihren unsichtbaren Begleiter. Er sprach auch oft in der Wüste zu ihr wie z.B. in der Vision, als sie zusammengebrochen war. Aber in der Oase war er ihr so selbstverständlich und beglückend, dass sie sich gar nicht vorstellen konnte, dass sie ihn in Wüstenzeiten vermisste oder sich fern von ihm glaubte. Dieser unsichtbare Begleiter fühlte sich an wie frisches Wasser nach langem Durst. Er war wie Regen in der Wüste und sie war wie ein Schwamm, der in Wasser getaucht wurde. Er war wie die Sonne, die sich im Aufspritzen des Wassers brach. Nicht wie die unbarmherzige Wüstensonne, sondern ein sanftes, erquickendes Licht im Spiegel des Wassers, mal still, mal in tausend Splitter zerteilt. In solchen Zeiten war sie überzeugt davon, dass er immer bei ihr war, aber auf langen Wüstenwanderungen kam er oder vielleicht auch nur der Glaube an ihn abhanden. Denn müsste nicht die Wüste blühen, wenn er da war? Und wenn die Wüste so gnadenlos war, wie konnte er da sein? Aber tief im Innern spürte sie ihn manchmal. Er war wahrscheinlich die geheime Feder, die sie antrieb, das Ziel hinter der Wüste zu erreichen.

Die Oasenbewohner waren scheue Leute. Obwohl oder weil sie immer wieder neuen Menschen begegneten, waren sie sehr zurückhaltend. Sie lieferten Fleisch und Gemüse gegen Edelsteine und andere Wertsachen. Viele Wüstenwanderer hatten jedoch nicht viel zum Tauschen anzubieten. Sie mussten deshalb für die Oasenbewohner arbeiten. So führten diese ein recht angenehmes Leben ohne große Mühen. Sie hatten jedoch ihre eigene Weisheit. Sie wussten z.B. viel über Tierhaltung und hatten den sprichwörtlich grünen Daumen. Sie wussten das vorhandene Wasser so gut zu nutzen, dass die Oasen blühenden Gärten glichen. Kleine Paradiese waren so geschaffen worden, die einen großen Kontrast zu der sie umgebenden Wüste bildeten. Kein Wunder, dass manche Wüstenwanderer sich fragten, ob sie nicht bleiben sollten.

Margarete hatte sich für die Gartenarbeit gemeldet, sie musste das Bewässerungssystem überwachen und Unkraut jäten. Diese Beschäftigung gefiel ihr sehr und die Tage gingen dahin. Margarete hatte keine Eile, die nächste Wüstenetappe auf sich zu nehmen. Sie kam mit einem der Gärtner ins Gespräch, fragte ihn, woher er stamme und wie er dazu gekommen sei, sich in dieser Oase niederzulassen. Margarete horchte auf, als er erzählte, er sei im Palast gewesen. „Ich war von diesem Palast sehr enttäuscht, der doch das Ziel aller Wünsche sein soll. Ich kehrte dann in die Wüste zurück, bin dort lange umhergewandert und sehr vertraut mit ihr geworden. Ich habe sogar die Sprache des Sandes gelernt. Man kann aus den verschiedenen Farben und Formen und auch aus der Beschaffenheit des Sandes herauslesen, wo man sich befindet. So kann man sich jederzeit orientieren nur durch Betrachten und Berühren des Sandes."
„Hast du auch von der Legende gehört, dass es unter dem Wüstensand riesige Seen geben soll, ist das wahr?"
„Ja, es ist eine Legende, die stimmt, wie die meisten Legenden. Allerdings liegt dieses riesige Wasserreservoir zu tief, um daranzukommen. Es gibt aber an ein, zwei Stellen einen Schacht, den man hinuntersteigen kann. In einem bin ich einmal gewesen. D.h. eigentlich war es kein Schacht, sondern ein unterirdischer Tempel. Er besaß mehrere Stockwerke und man konnte dort hinuntersteigen zu einer Quelle, die unaufhörlich sprudelte. Ich vermute, dass sie irgendwie mit diesem unterirdischen Wasserreservoir verbunden ist. Doch trotz aller Vertrautheit hatte ich das karge Leben in der Wüste irgendwann satt. Der Aufenthalt in ihr war ja ohnehin nur so etwas wie eine Selbstbestrafung, weil ich im Palast versagt hatte. Danach ging ich in diese Oase um mich hier anzusiedeln."
„War das denn so ohne weiteres möglich?"
„Ja, bei diesem Schicksalsweg wurde ich gleich aufgenommen. Im Grunde leben hier nur gescheiterte Existenzen. Sie finden hier ihren Frieden, könnte man sagen, nachdem sie ihr großes Ziel verfehlt haben."
„Das ist tröstlich. Aber wieso wurdest du im Palast enttäuscht? Wie konntest du ihn verfehlen? Du musst wissen, ich will auch dorthin."
„Viele Leute sind auf dem Weg zum Palast und glauben, dass sie am Ziel sind, wenn sie ihn gefunden haben. Aber das ist ein Irrtum."
Margarete fühlte sich plötzlich auf eine lähmende Art und Weise entmutigt, wagte aber nicht weiterzufragen. Vielleicht hätte sie das tun sollen, denn der Gärtner hatte bestimmt wichtige Informationen für sie, die sie später gut würde gebrauchen können. Stattdessen setzte sich der Gedanke in ihr fest, in der Oase zu bleiben. Denn wozu sollte man all diese Strapazen auf sich nehmen, wenn der Erfolg so zweifelhaft war.

Nach einigen Tagen fragte sie den Gärtner, wo sie sich für ein Bleiben in der Oase bewerben musste. Der Gärtner lachte und sagte: „Sie sind gerade dabei einige Wanderer weiterzuschicken, es sind zu viele Leute hier. Keiner mag weiterziehen, weil unsere Oase so schön ist. Du bist noch nicht lange genug auf dem Weg. Ich habe dir ja gesagt, dass nur die Gescheiterten bei uns aufgenommen werden.“ So kam es, dass Margarete schon bald gehen musste, obwohl es ihr vor der Wüste mehr als zuvor graute. Sie wanderte mit einem kleinen Trupp weiter, mit all den Wanderern, die sozusagen aus der Oase vertrieben worden waren. Trotz ihres anfänglichen Widerwillens erwies sich die Wüsten-Wanderung als nicht so quälend wie vorher, besonders am Anfang. Zudem kamen sie an den unterirdischen Tempel, von dem der Gärtner gesprochen hatte. Der Tempel war wie eine Höhle mit vielen Kammern. Die Aushöhlungen waren rund oder oval. Auf den ersten Blick wusste man nicht, ob es natürliche oder vom Menschen geschaffene Formen waren. Es führten weit geschwungene spiralförmige Wege oder Treppen nach unten, wo es weitere Aushöhlungen gab. Es befanden sich drei Stockwerke untereinander, ganz unten war die Quelle. Sie wallte leicht in einem Becken aus Rosenquarz. Das war der einzige Schmuck in diesem Tempel. Einer der Mitwanderer erzählte, er habe gehört, der Tempel sei früher prachtvoll ausgeschmückt gewesen, die Schätze seien allerdings Tempelräubern zum Opfer gefallen. Die Frage nach dem Kult war jedoch ungeklärt. Eine Mitwanderin meinte, sie habe gehört, dass hier eine Muttergottheit verehrt worden sei. Das sei ja auch nahe liegend, einmal wegen der Erdbezogenheit, dann auch wegen der runden Formen. Die sprudelnde Quelle sei überdies ein Symbol der weiblichen Lebenskraft.

Sie entschlossen sich zu einer längeren Rast. Einige gingen auf die Suche nach etwas Essbarem. Margarete hatte Gelegenheit, längere Zeit allein an der Quelle zu verbringen und dort zu meditieren. Sie empfand ein Gefühl der Geborgenheit; es war ihr, als legten sich unsichtbare Arme sanft um sie. Die Hitze der Wüste war hier unten nicht zu spüren und das Wasser der Quelle schmeckte köstlich. Es war ihr, als durchströme sie eine neue, unbekannte Klarheit, nachdem sie ihr Gesicht in der Quelle gewaschen und aus ihr getrunken hatte. Als sie nach oben kam, ging die Sonne unter, es wurde kühl und sie beschlossen, im oberen Teil des Tempels zu übernachten. Zwei der Mitwanderer kamen mit frischen grünen Pflanzen von ihrer Suche zurück. „Wie ist das möglich?“, riefen einige. „Wie kann es in dieser Trockenheit Grünzeug geben?“ „Ich glaube, diese Pflanzen sind eine Besonderheit. Ich habe gehört, dass sie die Verdunstungsfeuchtigkeit aufsaugen. Soviel ich weiß, sind sie auch essbar“, antwortete jemand. Holz zum Feuer machen hatten sie nicht, deshalb probierten sie die Pflanze roh. Sie schmeckte ein wenig bitter, ein wenig säuerlich. In den Tagen, in denen die kleine Gemeinschaft bei dem Tempel rastete, erlebten sie noch mehr solcher Wunder. Es war erstaunlich, wie viel Leben es noch in dem glühenden Sand der Wüste gab.

Schließlich brachen sie auf und nach langer, strapaziöser Wanderung näherten sie sich der nächsten Oase. Margarete hatte sich zum ersten Mal für längere Zeit einer Gemeinschaft angeschlossen. Sonst war sie immer lieber allein gewandert, weil sie da ihr eigenes Tempo finden und einhalten konnte. Nun hatte sie sich der Truppe angepasst und merkte, dass es auch Vorteile hatte, nicht allein zu sein. Vor allem erlebte sie erstmals, dass der Durst nicht so quälend war wie vorher. Dafür machte sie in der Oase eine merkwürdig enttäuschende Erfahrung.

Es war eigentlich wie immer, es war alles wundervoll: die Blumen, die Palmen, das Essen – aber sie konnte sich nicht freuen. Ihr unsichtbarer Begleiter hatte sich lange nicht mehr bemerkbar gemacht, er sprach auch in der Oase nicht zu ihr. Sie lag unter einer Palme, starrte in den blauen Himmel, sah, wie die Palme sich sanft im Wind wiegte, ein Schmetterling flatterte vorbei – aber in ihr war alles tot, sie empfand nur eine große, überwältigende innere Leere. Die liebevolle innere Stimme des unsichtbaren Begleiters schwieg und sie vermisste sie wie in der Wüste das Wasser. Sie verfiel in eine abgrundtiefe Traurigkeit und quälte sich unaufhörlich mit der Frage, was sie denn falsch gemacht habe. Sie fühlte sich mit Liebesentzug bestraft und empfand es als eine grobe Zurückweisung. Das Leben selbst verschloss seine Arme, sie fühlte sich wie eine leere Muschel, die das Meer ausgespien hatte.

Dann brachte eine kleine Gruppe von Wüstenfahrern einen Toten in die Oase. Sie legten ihn in der Nähe der Quelle ab, was Margarete als Hohn empfand, denn für sie stand es außer Frage, dass er verdurstet war. In Windeseile hatte das Ereignis sich herum-gesprochen und viele kamen herbeigelaufen und umringten den am Boden Liegenden und die Leute, die ihn gefunden hatten. Die sahen sich betreten an und berichteten zögernd, wie sie ihn gefunden hatten. Sie öffneten auch den Rucksack des Toten und zeigten den Umstehenden eine volle Wasserflasche. Alle waren über diese Tatsache bestürzt. Jemand sagte: „Habt ihr ihn untersucht? Hat er eine Verletzung? Vielleicht ist er ermordet worden.“ Einer aus der Gruppe sagte: „Wir haben nach gründlicher Untersuchung nichts gefunden, was darauf schließen ließe.“ Inzwischen hatten die Quellenwächter den Oberverwalter der Oase benachrichtigt. Dieser erschien in Begleitung zweier Ärzte, die den
Toten gründlich untersuchten. Sie kamen übereinstimmend zu dem Schluss, dass der Mann an Dehydrierung gestorben sei. „Unmöglich! Er hatte doch noch Wasser. Wieso? Wie kann das sein?“, murmelten und riefen die Umstehenden durcheinander. Das Rätsel blieb ungelöst.

Abends saß Margarete mit zwei der Wüstenfahrer zusammen, die zunächst sehr wortkarg waren. Einer der beiden sagte schließlich: „Es kommt manchmal vor, dass jemand in der Wüste gar keinen Durst verspürt. Er denkt, er dürfe erst trinken, wenn er durstig ist, und spart das kostbare Wasser auf. Auf diese Weise kann es dann auf einmal zu spät sein. Wenn jemand dann in der Hitze ausdörrt, kriegt er nichts mehr mit. Er vergisst, dass er trinken muss. Er merkt nicht, dass er Wasser braucht. Dann wird er müde, legt sich in den Sand zum Ausruhen – und das war's dann.“ „Woher willst du das wissen? Mir kommt das unglaubwürdig vor. Wieso sollte jemand in der Hitze der Wüste keinen Durst verspüren? Ich habe ständig Durst“, entgegnete Margarete. „Ich habe schon einmal von so einem Fall gehört. Ein Mediziner, der darüber Bescheid wusste, hat es mir damals so erklärt. Natürlich kann es in diesem Fall auch anders gewesen sein. Vielleicht war er krank.“ „Aber du hörst doch, er ist an Dehydrierung gestorben“, mischte sich der andere Wüstenfahrer ein. „Ob die ihn wirklich so gut untersucht haben?“

Margarete ging diese Sache nicht aus dem Kopf, vor allem deshalb, weil sie es sehr merkwürdig fand, dass jemand in der Wüste keinen Durst verspürte. „Er glaubt nicht, dass er Wasser braucht“, murmelte sie vor sich hin, „so ein Unsinn! Es ist keine Frage des Glaubens, sondern der Erfahrung.“ Sie sprach mit einigen anderen über diese Theorie, einige wollten sie bestätigen, da sie auch schon von ähnlichen Fällen gehört hatten. Eine Frau sagte zu Margarete: „Da kannst du mal sehen, wie wichtig es ist, Durst zu verspüren. Wenn wir keinen Durst hätten, wurden wir wie der arme Kerl da sterben.“ Es war Margarete noch nie in den Sinn gekommen, dass der Durst, der sie immer quälte, dem Leben diente. Und es wurde ihr bewusst, dass es einfacher war zu sterben als zu leben. Solange man litt, lebte man, so einfach war das, nur dass sie ein Leben ohne Leid suchte. Gab es denn Erlösung vom Leid nur im Tod? Dann könnte man ja ebenso gut Schluss machen. Im Augenblick empfand sie keinen Durst, aber auch keine Freude. Es war ihr alles völlig egal. Das Leben machte keinen Spaß, weder in der Wüste noch in der Oase. Sie empfand eigentlich überhaupt nichts mehr, sie war innerlich wie tot.


III. Der Berg


Margarete betrachtete den Wasserfall, der sich über die Felsen ergoss, mit Entzücken. Eine solche Fülle von Wasser war einfach unvorstellbar nach der langen Wüstenwanderung. Das Wasser purzelte, hüpfte und sprang, blinkte und gluckste und rauschte. Es ging eine ungeheure Kraft und Energie von ihm aus und Margarete fühlte, wie diese Energie auf sie übergriff. Zugleich fühlte sie sich auch beschützt vor der Gewalt des Wassers. Es war, als ob jemand bei ihr wäre, dessen Arme ein Geländer bildeten auf dem unwegsamen Pfad der Schlucht. Die harte Kraft des Wassers war durch etwas unvergleichlich Sanftes und Süßes gemildert, so dass nur das Positive dieser Energie sie berührte wie eine liebevolle Umarmung. Sie konnte sich nicht satt sehen an den fallenden Wassermassen, die stets gleich und stets anders herabstürzten. Erst nach langem Betrachten stieg sie weiter in die Höhe.

Es dämmerte bereits und Margarete hatte das Gefühl, vom Weg abgekommen zu sein. Sie befand sich auf einem schmalen Pfad, der kaum noch zu erkennen war. Es würde ihr wohl nichts übrig bleiben, als hier zu biwakieren und im Morgenlicht den richtigen Weg zu suchen. Entgegen diesem Entschluss gingen ihre Beine einfach weiter, als wüssten sie es besser. Und noch bevor es richtig dunkel wurde, kam sie an einen Bergsee, nicht weit davon war eine kleine Hütte. Sie würde also nicht draußen campieren müssen. Als sie sich näherte, war sie erstaunt, einen schwachen Lichtschein und einen friedlichen Gesang zu gewahren. Sie zögerte zu klopfen, da sie den Gesang nicht stören wollte. Erst als die Sängerin eine Pause machte, klopfte sie an. Die Tür öffnete sich und eine Frau unbestimmten Alters in einem kuttenähnlichen Kleid ließ sie ganz selbstverständlich eintreten. Weder wunderte sie sich über den späten Gast noch war sie übermäßig erfreut. Sie sprach nur das Nötigste, teilte mit Margarete ein karges Abendbrot und sagte, dass sie über Nacht bleiben könne. Sie sei sicher auf dem Weg zum Palast. Margarete sagte: “Ja gewiss, das ist ja wohl jeder.“ „Da täuschst du dich.“ „Inwiefern?“ „Es gibt viele, die hier den Aufstieg machen, aber sie wissen oft nicht, was sie erwartet. Manche lieben einfach nur die Bergwelt und laufen hier herum.“ „Das kann ich mir nicht vorstellen.“ „Es ist aber so. Die meisten Menschen machen sich nicht viele Gedanken. Sie benehmen sich, als hätte sie jemand am Fuß des Gebirges abgestellt – und dann stiefeln sie halt los, weil's alle machen – oder viele.“ „Du meine Güte, ich bin 14 000 Kilometer durch die Wüste marschiert, nur um hier sein zu können. Und es wird noch einige Mühe kosten, oben anzukommen. Ich wollte schon immer dahin, seit ich denken kann.“ Die Einsiedlerin betrachtete sie nachdenklich. „Mir ging es ähnlich.“ „Und warum gehst du nicht hoch? Warum hast du dich hier niedergelassen?“ „Ich war schon im Palast.“ Margarete stockte der Atem und sie traute sich nicht weiterzufragen. Die Einsiedlerin sah sie freundlich an und sagte: „Die Frage ist doch, was macht man danach? Wenn man es gefunden hat.“ „Das verstehe ich nicht. Wenn man das höchste Ziel gefunden hat, hat man es gefunden. Das ist der Endpunkt.“ „In gewisser Weise ja.“ „Und du hast das letzte Ziel gefunden?“ „Ja.“ Und nach einer Pause fügte sie hinzu: „Aber bedenke, dass es für jeden Einzelnen etwas anderes bedeutet. Es ist gleich und doch unterschiedlich. Jeder findet sein ganz spezielles Glück oder Ziel. Und die Frage bleibt dann immer noch: Was macht man dann damit? Vielleicht hast du schon davon gehört, dass manche sich als Wüstenfahrer berufen fühlen, nachdem sie es gefunden haben. Sie wollen anderen helfen, durch die Wüste zu kommen.“ „Ja, davon habe ich gehört, aber ich bin nie einem begegnet.“ „Dafür bist du mir begegnet. Vielleicht bin ich auch so eine Führerin.“ Margarete schluckte. „Kannst du mir helfen, den Berg hinaufzukommen?“ „Nein, das musst du schon selbst tun, aber ich kann dir in gewisser Weise helfen, dich im Palast zurechtzufinden.“ Margarete stutzte. „Ich dachte immer: den Palast zu finden bzw. zu erreichen und sein Ziel zu erreichen sei das gleiche.“ „Nein. Im Palast erwartet dich Verwirrung, Verführung und dergleichen. Selbst wenn du im Palast bist, kannst du dein Ziel noch verfehlen. Die Regeln von Raum und Zeit sind außer Kraft gesetzt.“ In Margarete machte sich Mutlosigkeit breit. Hörte das nie auf? Musste man immer suchen, sich anstrengen, Aufgaben lösen? „Nun sei nicht traurig, irgendetwas findet man im Palast auf jeden Fall. Man lernt sich selbst kennen. Aber es ist nicht gesagt, dass man wirklich die Mitte, das letzte Ziel findet.“
„Ich habe meinen unsichtbaren Begleiter, der wird mir bestimmt helfen. Manchmal habe ich das Gefühl, dem Ziel schon nahe zu sein, es zu kennen.“
„Das ist tröstlich, aber auch manchmal trügerisch. Der unsichtbare Begleiter – ich weiß nicht recht, wen du damit meinst – aber...“ Sie brach ab und betrachtete sie freundlich, aber auch nachdenklich. „Du bist ungeduldig“, stellte sie fest. „Darf man das nicht sein, vor allem, wenn man schon so lange unterwegs ist?“ „Manche Leute sagen: Der Weg ist das Ziel. Ich teile ihre Ansicht nicht, aber ein wenig von dieser Einstellung täte dir gut. Genieße einfach auch das Unterwegssein, die vielen schönen Eindrücke, die Begegnung mit anderen, die Vorfreude, was auch immer. Du bist zu sehr fixiert auf das letzte endgültige Ziel. Zugegeben, es ist besser, es im Auge zu haben als sich so zu verhalten, wie ich es eben beschrieben habe – einfach durchs Gebirge zu stiefeln ohne Sinn und Ziel, aber man kann auch zu verbissen sein. Versuche es gelassener anzugehen.“ Margarete schwieg eine Weile. Dann sagte sie: „Und du? Erzähl mir von dir. Wie war es für dich? Welche Ratschläge kannst du mir geben, damit ich die Mitte auch wirklich finde?“ „Als ich die Mitte gefunden hatte, zog es mich hierher in die Einsamkeit. Ich war früher eine so genannte Aktivistin, habe mich für alle möglichen, sozialen und politischen Ziele eingesetzt, mich verausgabt, verzettelt. Ich hatte Kontakt zu so vielen Leuten, dass ich gar nicht mehr zu mir gekommen bin. Für mich ist es richtig, nun hier zu sein.“ „Aber sagtest du nicht, du seist eine Art Führerin?“ „Ja, aber nur noch für die wenigen Menschen, die hierher finden.“ „Was mich betrifft, ich habe gar nicht hergefunden, ich habe mich hierher verlaufen.“ „Was auf das Gleiche hinausläuft.“ „Du meinst, es war so eine Art Fügung?“ „Möglich.“ „Nun erzähl mir doch vom Palast. Was muss ich tun, um die Mitte zu finden?“ „Wenn du im Palast bist, musst du dich ständig entscheiden – und du darfst die Orientierung nicht verlieren. Im Prinzip ist es einfach, der Palast ist ein Rundbau und die Mitte liegt eben genau in der Mitte des Kreises. Aber, wenn du hineingehst, wir dir alles anders vorkommen, dich erwartet ein Labyrinth mit vielen verschiedenen Räumen, die alle sehr faszinierend sind. Ich bin z. B. In einen Weinkeller geraten, wo es tollen Wein und lustige Gesellschaft gab, und in einen Raum, in dem himmlische Musik gemacht wurde. Dort ist man versucht zu glauben, man sei schon in der Mitte. Man ist ihr nahe, aber man muss noch weiter. Wichtig ist vielleicht, auf die innere Stimme zu hören. Du hast von deinem unsichtbaren Begleiter gesprochen. Vielleicht ist das deine Stimme, die dich führt. Aber das musst du selbst wissen. Letztlich muss man es selbst wissen, und wie gesagt, auch die anderen Räume sind sehr faszinierend. Ich glaube, ich habe einige interessante Räume gar nicht kennen gelernt. Es könnte auch eine

besondere Gnade sein, alle Räume zu sehen, findest du nicht?“ „Ich weiß nicht recht. Ich finde das sehr verwirrend. Geht man denn nicht in den Palast, um die Mitte zu finden?“ „Für dich kommt wohl nichts anderes in Frage. Aber ich kann dir nur noch mal raten, es gelassener zu sehen, dich nicht so zu fixieren.“ „Ich bin dir auf jeden Fall dankbar, dass du mir so viele wertvolle Tipps mitgibst. Das wird mir bestimmt helfen. Und ich werde mir auch die anderen Räume ansehen, wenn du meinst, dass es wichtig ist.“ „Wichtig ist, dass du das tust, was für dich richtig und gut ist.“ Es war schon spät geworden und die Einsiedlerin machte den Vorschlag, sich schlafen zu legen. Margarete merkte nun auch, wie müde sie war und erhob keine Einwände. In der Nacht hatte sie einen Albtraum. Sie träumte von einem Labyrinth, von Hunden, die die Tür zur Mitte bewachten, und von Verfolgern, die hinter irgendetwas her waren, das sie besaß. Sie erwachte völlig zerschlagen.

Beim Frühstück war Margarete müde und wortkarg. Die Einsiedlerin ermutigte sie, ihr ihre Träume zu erzählen. Als Margarete ihr von den Hunden erzählte, die die Tür zur Mitte bewachten, kam sie ganz von selbst auch auf das Monster zu sprechen, das sie in der Wüste immer wieder heimgesucht hatte. Die Einsiedlerin sagte: „Das Monster ist ein Teil von dir selbst.“ „Aber ich will es nicht haben, seine Einflüsterungen sind allesamt negativ und zielen darauf ab, nein zu mir selbst zu sagen. Es zerstört meine Hoffnungen und Träume.“ „Trotzdem musst du versuchen, es zu integrieren, es zu akzeptieren, dann wird es sich verwandeln. Überlege, welche Aufgabe es ursprünglich hatte. Die Hunde hüten die kostbare Mitte. Sie sind vielleicht nur Wächter. Genau wie dein Monster. Du kennst bestimmt die alten Geschichten von Drachen, die einen Schatz hüten.“ „Ja, aber mein Monster speilt sich auf, als gehöre der Schatz ihm und nicht mir. Ich würde das Biest am liebsten töten, wenn ich könnte. Es ist stärker als ich.“ „Das glaube ich nicht. Es wird nur aggressiv, weil du es töten willst. Du heißt Margarete. Diese Dame, nach der du benannt bist, war eine Drachenbändigerin. Sie machte es nicht wie der Heilige Georg, der den Drachen tötete, sie gewann ihn und seine Kraft für sich. Sie gehörte auch nicht zu den Prinzessinnen, die einen Ritter brauchten, der sie vor dem Drachen rettet, wie in vielen Märchen. Sie nahm ihre Sache selbst in die Hand und sie fand eine andere Lösung als die Männer, die immer nur das Töten im Sinn haben. Es reicht auch nicht, den Drachen nur zu bezwingen, man muss ihn zähmen, d. h., ihn sich zum Freund machen.“ „Ist das nicht ein bisschen viel verlangt? Ich fühle mich dazu nicht bereit. Der Drache verkörpert immerhin ein Nein zu mir und meinen Träumen. Sollte ich nicht Nein zu diesem Nein sagen?“ „Du denkst, Nein und Nein ergibt ein Ja, aber das ist nur mathematisch richtig oder manchmal auch grammatikalisch. Psychologisch gesehen potenziert es sich. Es kostet einfach sinnlose Kraft, immer dagegen anzukämpfen, sich dagegen zu stemmen. Es ist, wie wenn du eine Tür immer verschlossen halten willst – aber in einem unbedachten Moment vergisst du es – und das Biest ist draußen bzw. drinnen. Und es ist wütend, weil es eingesperrt war.“ „Wie kann man sich mit so einem widerlichen Biest anfreunden? Es ist einfach das, was mich nicht leben lässt, also will ich es auch nicht leben lassen.“ „Überlege doch mal, was für einen mächtigen Beschützer zu hättest, wenn du es dir zum Freund machen würdest? Wahrscheinlich hatte es ursprünglich diese Aufgabe, deinen inneren Schatz zu hüten, damit niemand ihn dir wegnehmen oder zerstören kann.“ „Ich empfinde mein Monster nicht so. Es erscheint meistens, wenn es mir schlecht geht, und hackt dann noch mehr auf mir herum. Da ist nichts Positives dabei. Es entmutigt mich, zerstört meinen Glauben, verhöhnt mich, wenn ich Wunschvorstellungen habe, manchmal ist es so gemein und schlüpft in die Rolle meines unsichtbaren Begleiters, nimmt dessen Züge an, so dass ich ganz verwirrt und verzweifelt bin.“ „Ja, es scheint, es hat sich zu einer Horrorfigur und zu einem Tyrannen entwickelt. Trotzdem bin ich der Meinung, dass die Lösung in der Akzeptanz liegt. Es gibt eine Legende von Franziskus, in der er einen Wolf zähmt, indem er ihn umarmt. Dieser Wolf war vorher sehr aggressiv und hat großen Schaden angerichtet. Der Wolf muss im Märchen ja immer als Symbol des Bösen herhalten, aber ist er in Wirklichkeit so? Neueste Forschungen haben ergeben, dass der Wolf selten oder nie Menschen angreift. Er ist eigentlich sehr scheu und er hat einen ausgeprägten Gemeinschaftssinn. Wölfe sorgen z. B. füreinander sehr gut. Es gibt nicht wenige Beispiele, wo Wölfe sogar ausgesetzte Menschenkinder versorgt haben, so dass sie überlebten. Auch darüber gibt es Legenden und Geschichten – von Romulus und Remus bis zu den so genannten Wolfskindern der letzten Jahrhunderte. Heute könnte das ja nicht mehr vorkommen, da es keine oder kaum noch Wölfe gibt. Was ich sagen will, ist dass dein Monster aufhört eines zu sein, wenn du es annimmst. Es verwandelt sich. Es sind deine negativen Projektionen und Gedanken, die es aggressiv machen.“ „Trotzdem, ich kann mich nicht überwinden, da sperrt sich alles in mir. Das klingt zu einfach.“
„Ich glaube, es ist die schwierigste Aufgabe, die ein Mensch hat. Sich mit sich selbst zu versöhnen, auch mit diesen Horroranteilen.“ Sie schwiegen eine Weile, dann fragte Margarete die Einsiedlerin nach dem Weg. „Ich habe mich für den langen Weg, der spiralförmig um den Berg verläuft, entschieden. Ich bin einfach keine Bergsteigerin. Ich glaube, eine Kletterpartie würde für mich tödlich enden. Ich bin für die bedächtigen Wege, obwohl ich eigentlich sehr ungeduldig bin – wie du ja auch schon bemerkt hast. Bei der Wüstenwanderung bin ich auch die Oasenroute gegangen, aber da gibt es, glaub ich niemand, der den direkten Weg durch die Wüste nimmt. Soviel Wasser kann man gar nicht tragen, wie man da bräuchte.“ „Also, ich habe gehört, dass es welche gibt, die den direkten Weg durch die Wüste gegangen sind. Ich glaube fast, sie werden mit einem besonderen Wissen geboren. Sie wissen einfach, wo sie mitten in der Wüste Wasser finden. Genaueres weiß ich darüber aber auch nicht. Zum Palast gibt es viele verschiedene Wege. Du hast dir den Weg ausgesucht, der für dich am passendsten ist. In großen Spiralen läuft er siebenmal um den Berg und endet genau vor dem Portal des Palastes. Er ist nicht sehr steil, aber dafür sehr lange. Es ist der richtige Weg für deine Ungeduld, durch diesen Weg wirst du vorbereitet für den Palast. Aber vergiss nicht, den Weg ein bisschen zu genießen. Die Aussichten nach unten, die gemütlichen Herbergen.“ Sie verabschiedeten sich und die Einsiedlerin fügte hinzu: „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass wir uns wiedersehen.“ „Ich bin jedenfalls froh, dass ich dir begegnet bin.“ Und Margarete nahm ihren Rucksack und machte sich wieder auf den Weg.

Sie empfand das ständige Aufwärtsgehen anstrengend, es war als müsse sie dauernd gegen einen Widerstand kämpfen. Es waren nur wenige Wanderer unterwegs und das wunderte sie manchmal. Es gab ab und zu Tage, an denen sie einen Weggefährten hatte, mit dem sie sich unterhalten konnte. Dann war sie etwas abgelenkt von der Mühe des Aufsteigens. Meist war sie jedoch tagelang allein und manchmal war ihr das auch recht, dann konnte sie die Pausen und die Wegstrecken nach eigenen Bedürfnissen einteilen, ohne auf jemanden Rücksicht nehmen zu müssen. Ein Wanderer, der einen schnelleren Schritt hatte, und deshalb nur kurz mit ihr wanderte, erzählte ihr von einer Abkürzung, die man an der nächsten Weggabelung nehmen könne. „Es spart einem mindestens fünf Stunden.“ „Abkürzungen im Gebirge sind Umwege“ , antwortete sie. Er lachte und entfernte sich mit einem erstaunlich schnellen Tempo. Als Margarete an die Weggabelung kam, wusste sie jedoch nicht, welche die Abkürzung und der normale Weg war. Sie entschied sich für die linke Abzweigung. Nachdem sie fast drei Stunden auf einem ziemlich steilen Pfad hinaufgekraxelt war, merkte sie, dass er nicht weiterging, er endete an einer tiefen, steilen Schlucht. Anstatt gleich zurückzugehen, suchte sie in ihrem Eigensinn nach einer Möglichkeit, die Schlucht zu überwinden. Vielleicht hab es irgendwo eine Brücke, die sie von ihrem Standpunkt aus nicht sehen konnte. Während sie noch an der Schlucht auf und ab ging, brach die Dämmerung herein und sie musste sich einen Platz zum Schlafen suchen. Etwas unterhalb fand sie einen Felsvorsprung, fast eine Höhle. Dort richtete sich sich einen Schlafplatz her, legte sich hin und fiel alsbald in einen unruhigen Schlaf. Sie träumte, wie sie eine provisorische Hängebrücke über die Schlucht baute. Sie verhedderte sich in den Seilen und als sie die Brücke ausprobieren wollte, rissen diese. Sie konnte sich nur mit Mühe retten. Dann hört sie von der anderen Seite der Schlucht eine Stimme: „Lerne fliegen.“ Sie war nicht spöttisch, sondern ganz ernsthaft. Aber sie fühlte sich viel zu schwer und glaubte nicht, dass sie es jemals schaffen würde, so leicht zu sein, um fliegen zu können. Sie war verzweifelt und setzte sich weinend an der Schlucht nieder. Da hört sie ganz nahe die Stimme: „Ich habe die Schlucht längst überwunden. Ich bin direkt neben dir.“ Als sie erwachte, konnte sie sich an den Traum sehr deutlich erinnern. Aber sie musste nun den ganzen Weg zurückgehen und den anderen Weg weiterwandern. Am nächsten Tag sah sie einen Wegweiser: Zum Gipfel – 10 km.


IV. Der Palast

Nachdem sie die schier endlose Wüste mit unzähligen Durststrecken und Entbehrungen hinter sich gebracht und sich den Berg hinaufgekämpft hatte, immer wieder bedroht von der Versuchung aufzugeben, stand sie nun vor dem Palast. Ihr Atem ging noch heftig von der Anstrengung des letzten Aufstiegs. Sie warf erst einmal den drückenden Rucksack ab. Der Weg endete tatsächlich genau vor einem riesigen Portal, das nur einen kleinen Knauf besaß. Sie überlegte, ob sie nicht zuerst eine längere Rast einlegen sollte. Nach Aussage der Einsiedlerin erwarteten sie nun neue Aufgaben und Strapazen. Sie hatte gesagt, dass der Palast den Grundriss eines Kreises habe, man sich also eigentlich nicht verlaufen könne. Aber – und das war das Entscheidende – wenn man die Pforte hinter sich gelassen hatte, wirke das Innere wie ein Labyrinth: Alles war eckig und kantig und man musste auf viele Überraschungen und Versuchungen gefasst sein. Trotzdem sei es wichtig, die Orientierung nicht zu verlieren, denn dann war es einfach: Man musste zum Mittelpunkt gelangen. Dort war das allerhöchste Ziel, der Traum aller Träume, Erfüllung der Sehnsucht, der Schlüssel zur Seligkeit. Das, was sie unter so viel Mühen gesucht hatte, lag in greifbarer Nähe. Sie musste nur dieses Tor öffnen und zum Mittelpunkt gehen. So nah. Sie stärkte sich aus ihrer Wasserflasche, nachdem sie sich auf einem Stein niedergelassen hatte, und beschloss, nicht länger zu warten. Eine Regel besage, auch das wusste sie von der Einsiedlerin, dass man alles zurücklassen musste, wenn man den Palast betrat. Sie musste sich von ihrem Rucksack, von ihren Habseligkeiten trennen. Aber was macht das schon, wenn man dabei ist, in den Himmel einzugehen? Von außen war der Palast unscheinbar, rechts und links des Portales sah man ein Stück Mauer, die dann von Büschen und Bäumen verdeckt wurde. Die Mauer war etwa fünf Meter hoch, darüber wölbte sich eine riesige Glaskuppel.

Die Ausdehnungen des Palastes waren schwer einzuschätzen, er schien jedoch ziemlich groß zu sein, sie schätzte etwa 200 Meter im Durchmesser. Sie holte tief Luft, ging auf das Tor zu und öffnete es. Als sie einen Schritt nach drinnen getan hatte, fiel es lautlos hinter ihr zu. Sie befand sich in einem gekrümmten Gang, dem sie entweder nach links oder nach rechts folgen konnte. Sie vermutete, dass er eine Art Umlauf bildete, den äußeren Rand sozusagen. Sie wandte sich nach rechts und stand bald vor einer offenen Tür zu ihrer Linken. Ein zauberhaftes Licht drang aus dem Raum dahinter und als sie eintrat, sah sie in der Mitte des Raumes eine Vitrine mit den wundervollsten Edelsteinen. Licht fiel durch die gläserne Kuppel und die Edelsteine fingen es auf, so dass sie wie von innen her zu leuchten und zu funkeln schienen. Margarete verlor sich im Anblick der Steine. Als sie den Blick hob und im Raum umherwandern ließ, sah sie die faszinierendsten Bilder und Skulpturen aus allen erdenklichen Kulturen. Da hing van Gogh neben afrikanischen Holzmasken, Klimt neben Zeichnungen australischer Aborigines, Rembrandt neben Picasso. Die Anordnung war immer faszinierend und irgendwie treffend, so dass ein Werk das andere hervorhob. Margarete blieb lange in diesem Raum, sie hatte die Zeit und alles um sich herum vergessen. Starke Gefühle nahmen sie gefangen, sie war begeistert von dem, was sie hier sah. Ihre Orientierung und ihr Zeitgefühl waren nun leicht durcheinander geraten, sie musste lange nachdenken, wie sie hereingekommen war und wie sie nun sinnvollerweise weitergehen musste. Sie gelangte in einen Raum, in dem eine riesige Bibliothek untergebracht war. Nach einigem Stöbern war Margarete überzeugt, dass hier das gesamte Wissen der Menschheit zusammengetragen war. Es gab auch einen Computer mit Internet-Anschluss. Margarete hatte das Gefühl, hier Jahre verbringen zu wollen, da sie das Bedürfnis hatte, alles zu wissen und alles zu durchdenken. Sie las sich durch einige Bände der Weltliteratur und der Theologie, dann las sie Werke der Philosophie und Naturwissenschaft. Sie hätte gerne die Einsiedlerin bei sich gehabt, um mit ihr zu diskutieren und sich mit ihr auszutauschen. Aber diese hatte gar nichts erzählt von diesen Räumen, sie hatte nicht erwähnt, dass sie durch eine Bibliothek gekommen war. Sie hatte von Versuchungen des oberflächlichen Spaßes gesprochen, von Partystimmung und Weingenuss. Nachdem sie weitere Bücher gelesen hatte, schreckte sie plötzlich hoch. War sie deshalb in den Palast gekommen? War dies das Ziel? Abrupt beschloss sie, nicht länger zu bleiben, denn sie spürte deutlich: Auch die Summe aller menschlichen Erkenntnisse war noch nicht das höchste Ziel, das sie erreichen wollte. Vielleicht führte es dorthin, vielleicht war es eine Vorstufe. Margarete wurde ganz aufgeregt, denn plötzlich hatte sie das Gefühl, dem Ziel sehr nahe zu sein, sie brauchte bloß weiterzugehen. Warum hatte sie hier so lange verweilt? Nach ihrem Orientierungssinn musste der Mittelpunkt nun links von der Bibliothek liegen, aber der Weg führte nur geradeaus weiter in die Richtung, die sie bisher eingeschlagen hatte. Dann kam sie an eine Kreuzung, und sie dachte sich, dass sie sich nun nach links wenden müsse. Als sie in den Gang spähte, sah sie, dass er sehr dunkel war und vermutete, dass sie noch ein Stück weiter musste und dann erst nach links abbiegen. Sie ging also weiter geradeaus und kam in den nächsten Raum. Berauschend sanfte, einschmeichelnde Musik und ein betörender Duft empfingen sie. Nun merkte sie plötzlich, wie müde sie war. Und genau dazu passend stand vor ihr ein Sofa. Sie legte sich hin, machte es sich bequem und überließ sich dem Zauber der Musik. Sie schlummerte ein und versank augenblicklich in den schönsten und angenehmsten Träumen. Alles, was sie je in ihrem Leben vermisst hatte, war da. Erlesene Speisen, köstlicher Wein, sprühende Lebensfreude, die Zärtlichkeit eines geliebten Menschen, Palmenstrände, Sonnenuntergänge, wogende Blumenwiesen, stille Seen, rauschende Meere. Sie glaubte, noch nie so glücklich gewesen zu sein. Sie war so entspannt und entrückt, dass sie schließlich fest einschlief.

Nach einiger Zeit erwachte sie und war völlig verwirrt. Es war dunkel. Sie fühlte sich benommen. Irgendein undefinierbarer Duft hing im Raum. Nach einiger Zeit meldete sich ihr unsichtbarer Begleiter ganz deutlich. Er mahnte zum Aufbruch. Noch immer benommen versuchte sie sich erneut zu orientieren. Das war schwierig, da es völlig dunkel war. Sie tastete sich an den Wänden entlang und gelangte schließlich zu einer Tür, ging hinaus und kam an eine Kreuzung. Vage dachte sie: Links, ich muss nach links. Das war ihr noch im Gedächtnis, dass sie nach links wollte. Der Gang führte in eine große Halle, in deren Mitte ein riesiger Springbrunnen war, der in allen Farben leuchtete. In den vier Ecken des Saales waren Tische aufgestellt, an denen erlesene Speisen aus aller Herren Länder aufgetischt wurden. Margarete merkte nun auch, dass sie schon lange nichts mehr gegessen hatte, begab sich nach kurzer Überlegung in die chinesische Ecke und ließ sich sich knusprigen Entenbraten servieren. Nachdem sie ausgiebig getafelt hatte, fühlte sie sich gestärkt und machte sich erneut auf den Weg. Ohne nachzudenken wählte sie wieder den Weg nach links. Nach einem etwa zehn Meter langen Gang gelangte sie in ein Schlafzimmer, das sehr gemütlich eingerichtet und mit einigen erotischen Bildern geschmückt war. Auch hier wurde ihr bewusst, wie lange sie Zärtlichkeit und Sex entbehrt hatte und wie groß ihr Hunger danach war. Sie sage sich, dass sie immer nur durch die Welt gerannt war, mit hängender Zunge nach dem großen Ziel, ohne auf die Annehmlichkeiten am Wegrand zu achten. Auch deshalb war ihr das Leben zur Wüste geworden bzw. die Wüste des Lebens so unerträglich geworden. Sexualität war ihr immer etwas suspekt gewesen, vor allem weil sie glaubte, sie befriedige nur für einen kurzen Moment und danach wäre die Bedürftigkeit wieder da. Und ihre Sehnsucht sei so geartet, dass sie mit Sex nicht zu stillen war. Möglicherweise hatte sie das richtig erkannt, zumindest war ihre Sehnsucht nicht mit Sex allein zu stillen. Allerdings hatte es ihr auch an einem passenden Partner gemangelt, und das war das eigentliche Problem: die Einsamkeit. Sie hatte sich selten von einem Menschen verstanden gefühlt, von Männern schon gar nicht. Sie hatte zwar einige Partnerschaften gehabt, aber diese Episoden waren ausnahmslos Enttäuschungen gewesen, die sie mit quälenden Verlustgefühlen und unstillbarer Sehnsucht zurückgelassen hatten. Keiner dieser Männer war fähig gewesen, sie auch nur annähernd zu verstehen. So war ihr einfach niemand über den Weg gelaufen, der zu ihr gepasst hätte – oder hatte sie ihn übersehen? Ihre Augen waren immer auf das letzte große, erhabene Ziel ausgerichtet gewesen, da übersieht man vieles, das am Wegrand liegt. Aber sie war nun einmal mit dieser großen Sehnsucht nach dem Unnennbaren geboren worden. Jetzt war sie in diesen Raum geraten. Was sollte sie mit dieser Chance anfangen? Ihre Phantasie konnte sich nun den idealen Liebhaber erdenken, mit diesem konnte sie Küsse und Zärtlichkeiten austauschen und genießen, tiefsinnige Gespräche führen, schweigen, ihm in die Augen sehen, sich mit ihm seelisch und körperlich vereinigen. Es war ein Traum, aber er war sehr schön.

Auch hier war sie versucht, länger zu verweilen, aber sie machte sich alsbald wieder auf den Weg. Sie kam in einen längeren, etwas nach innen gekrümmten Gang und sie sagte sich: Wenn das der äußere Gang ist, dann muss das Zentrum immer noch links liegen. Und sie bog bei der nächsten Gelegenheit wieder nach links ab. Sie durchschritt erneut einen Gang, bevor sie in den nächsten Raum kam. Der Gang war vom Licht kleiner Kerzen matt erhellt, der anschließende Raum jedoch von Hunderten von Kandelabern erleuchtet und es erklang das „Gloria“ von Vivaldi. Margarete erkannte es sofort und erschauerte. Die Musik drückte eine süße, innige Verehrung aus, die sie ganz erfüllte. Sie lauschte ergriffen. Sie war fast versucht zu glauben, dass sie die Mitte gefunden habe. Doch dann erinnerte sie sich an die Worte der Einsiedlerin. Sie war offensichtlich auch in diesem Raum gewesen. Sie hatte gesagt: „Man ist der Mitte sehr nahe, aber man muss noch weitergehen.“ Als das „Gloria“ verklungen war, wollte sie in Richtung der Mitte weitergehen, sie war überzeugt, dass nur eine dünne Wand sie davon trennte. Aber es gab hier keinen Zugang. Es blieb ihr nichts anderes übrig als zurückzugehen; es gab keine andere Tür als die, durch die sie gekommen war. Dem Ziel so nahe gekommen zu sein und umkehren zu müssen frustrierte sie so sehr, dass sie wütend und traurig vor sich hin fluchte. So schnell wendete sich das Blatt! Das Gefühl, das sich ihrer bemächtigte, kannte sie nur zu gut. Es war dieses Tantalusgefühl. Tantalus, eine Gestalt der griechischen Sage, wurde für ein Vergehen damit bestraft, dass er angebunden an einen Baum bis zu den Hüften im Wasser stand, aber immer, wenn er trinken wollte, wich es zurück. Ebenso hing ihm eine Rebe mit Trauben vor der Nase, aber wenn er zugreifen wollte, entzog sich die Rebe. Genau so fühlte sie sich während der Wüstenwanderung oft: Wie eine Fata Morgana schwebten die verlockendsten Versprechungen vor ihrer Nase, aber das, was sie sich wünschte, entzog sich immer, wenn sie danach greifen wollte. So war es jetzt hier auch: Das Ziel, ihr Traumziel, war zum Greifen nahe – und entzog sich zugleich. Warum konnte sie jetzt nicht endlich diese Mitte finden, warum stolperte sie schon stundenlang in diesem Labyrinth herum? (Sie wusste nicht, dass inzwischen in Wirklichkeit schon mehrere Monate vergangen waren. Allein in der Bibliothek hatte sie sechs Wochen verbracht.) Ihre Frustration steigerte sich noch, als die nächste Abzweigung wieder zurück zum äußeren Gang führte. Alle Misserfolge ihres gesamten Lebens, alle Erfahrungen der Vergeblichkeit, alle Entbehrungen schienen sich plötzlich in ihrem Kopf zu versammeln und raubten ihr jede Zuversicht. Sie fühlte sich richtiggehend betrogen und hintergangen. Irgendein böser Dämon wollte nicht, dass sie ihr Ziel fand und glücklich wurde. Da war es wieder, dieses Monster mit den düsteren Einflüsterungen: „Du hast es noch immer nicht begriffen. Du musst dich ja immer betören lassen von irgendwelchen Versprechungen und Sehnsüchten. Diese Mitte – falls es sie überhaupt gibt – ist unerreichbar. Irgendjemand macht dir den Mund wässerig, aber wie du siehst, entzieht sich die Erfüllung ständig. Dein Traum ist nur eine Seifenblase und nun ist sie zerplatzt. Gib es auf! Du siehst ja, was bei dieser Suche herauskommt.“ Margarete kochte vor Wut und Enttäuschung. Sie war während ihrer üblen Gedanken weitergegangen, bei der nächsten Gelegenheit links abgebogen und landete in einem Weinkeller. Zum ersten Mal sah sie her auch andere Leute. Sie saßen in unterschiedlichem Grade betrunken an einem Tisch und tranken aus großen Bechern. Hier haben sich wohl alle Frustrierten versammelt, dachte sie, alle, die auf üble Weise ernüchtert feststellen mussten, dass sie auf der Suche nach dem großen Ziel an der Nase herumgeführt wurden. Aber wie sollte sie diese Ernüchterung aushalten? Sie war immer noch so wütend, dass sie am liebsten den ganzen Palast zerstört hätte. Als die anderen sie sahen, riefen sie ihr zu „Komm, lass dich nieder, hier gibt's genug Wein für alle.“ Sie setzte sich dazu und trank. Dann – sie konnte doch noch nicht ganz aufgeben – versuchte sie ihre Saufkumpane nach der Mitte auszufragen. Einige sagten, sie seien erst kurz da und es gefalle ihnen im Weinkeller ganz gut. Die Mitte würde ja nicht davonlaufen. Viele hielten das für einen Scherz und lachten sich halbtot. Andere sagten, dass sie nun schon Jahre in diesem Labyrinth umherirrten, aber eine Mitte hätten sie nicht gefunden. Vermutlich gäbe es sie gar nicht. Sie sei wohl eine Art Fata Morgana oder ein Märchen. Wie sie überhaupt darauf komme, dass es diese Mitte tatsächlich gebe. „Wir wissen von einem tollen Disco-Raum, von einem erlesenen Speiselokal und“, hierbei senkten sie die Stimme, „es gibt auch einen Raum, in dem man härtere Drogen erhält, falls du darauf aus bist.“ Sie ließ das Thema fallen und sich mit Wein volllaufen. Später torkelte sie mit einigen Kumpanen durch schummrige Gänge und gelangte in besagten Disco-Raum. Hier war die wildeste Techno-Party im Gange. Alle waren fröhlich und gut gelaunt. Es wurde so richtig abgetanzt. Sie war aber schon zu betrunken, um mittanzen zu können. So torkelte sie weiter, kam wieder in schummrige Gänge. In einer Ecke, in der es einigermaßen ruhig war, schlief sie ihren Rausch aus.

Sie erwachte mit Übelkeit und einem Brummschädel. Der Gang, in dem sie sich befand, hatte die Form eines Dreiecks, das fand sie heraus, nachdem sie ein paarmal herumgelaufen war, ziellos, ohne Idee, was sie tun sollte. In der entferntesten Ecke des Dreiecks gewahrte sie ein Wasserbecken mit einem Wasserhahn. Sie trank und erfrischte sich das Gesicht. Sie kam wieder ein wenig zu sich und überlegte, was sie jetzt tun sollte. Ihre Zweifel hatten sich nicht gelegt. Sie glaubte nach wie vor, dass sie an der Nase herumgeführt
worden war. Ob es die Mitte nun gab oder nicht, war fast schon egal. Wenn sie sie nicht finden, nicht erreichen konnte, dann war das ja fast gleichbedeutend mit ihrem Nichtvorhandensein. Hätte sie genug Mut und Zuversicht gehabt, so wäre sie vielleicht noch einmal ganz zurückgegangen, um so überprüfen, ob sie etwas übersehen hatte, oder sie hätte ganz einfach einen zweiten Versuch gewagt. Aber so dachte sie sich, es sei ja doch vergeblich. Sie hatte alles versucht, ihr Ziel so nahe vor Augen gehabt und es nicht erreicht. Sie gab auf. Allerdings wusste sie nicht, wo der Ausgang war. Sie irrte umher, gelangte in eine Krypta, wo sie ihre Träume begrub, irrte weiter, kam zu einem Gang, der in eine Sackgasse führte, kehrte um, fand eine Tür zum äußeren Wandelgang und gelangte schließlich zum Ausgang. Einen kurzen Moment zögerte sie noch bei dem Gedanken an einen weiteren Versuch, doch dann trat sie hinaus ins Freie. Das Portal schloss sich hinter ihr, der Wind wehte ihr ins Gesicht. Sie hatte ihr Ziel verfehlt. Ja, so sehr, dass sie nicht mehr daran glaubte. Es gab dieses Ziel gar nicht. Man hatte sie betrogen. Sie war darauf hereingefallen. Alle Mühen waren vergeblich gewesen. Es gab nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte, alles war sinnlos.

Sie wusste nicht wie, aber sie stand plötzlich an einem Steilhang und blickte nach unten. Jetzt springen, dachte sie, einfach Schluss machen. Das Leben war die Mühen und Strapazen nicht wert, die man sich machte. Da sah sie plötzlich eine Hand, die am Rande des Felsens auftauchte, kurz darauf eine zweite. Mit großer Anstrengung zog sich der Kletterer auf das Plateau, atmete kurz durch und wandte sich dann um, einem zweiten Kletterer, der an einem Seil mit ihm verbunden war, hinaufzuhelfen. Dann folgte noch ein dritter, der zu der Seilschaft gehörte. Sie klopften einander auf die Schulter, lachten, holten aus ihrem Rucksack eine Thermoskanne mit Tee und tranken gemeinsam aus dem gleichen Becher. Margarete war zurückgetreten, als sie die Hände gesehen hatte, und beobachtete die drei Männer. Sie erinnerte sich, dass es auch diese Kletterroute auf den Berg gab, eine ziemlich steile und direkte Tour, die zum Gipfel führte. Erfolgsmenschen, dachte sie, tüchtig, gradlinig, optimistisch. Die schaffen alles. Die haben bestimmt nur ein paar Stunden gebraucht, während sie sich zwei Wochen gequält hatte, den Berg zu erklimmen. Bestimmt sehen sämtliche Türen des Palastes schon offen, um sie einzulassen. Inzwischen hatten die Männer Margarete bemerkt und wandten sich ihr zu. „Bist du alleine hier hochgekommen?“, fragten sie. „Ja“, entgegnete sie, „aber nicht über diese Wand. Ich wollte eigentlich da hinunter.“ Ob sie dafür ausgerüstet sei, fragten sie kritisch. Sie zuckte die Achseln und meinte zynisch: „Runter geht's doch von alleine, oder?“ Die drei wurden nicht schlau aus ihr, fragten allerdings nicht weiter. Solche Gemüter kommen nicht auf die Idee, dass man sich umbringen könnte, dachte Margarete. „Willst du in den Palast?“ „War schon drin.“ „O, dann kannst du uns bestimmt ein paar Tipps geben.“ „Zum Weinkeller geht's links herum am schnellsten.“ Sie lachten. „Wenn ihr was Besonderes sucht, könnt ihr euch den Palast schenken.“ „Wir wollen zur Mitte“ „Alle drei auf einmal?“ „Nein, einer nach dem anderen.“ „Die Mitte gibt's nicht, aber ein paar schöne Überraschungen, macht's gut.“ Sie ließ die drei stehen und ging. Jahre später dachte sie manchmal, das es vielleicht drei Schutzengel gewesen waren, denn irgendwie schaffte sie es nun nicht mehr, einfach den Felsen hinunterzuspringen. Allerdings wusste sie überhaupt nicht, was sie mit sich anstellen sollte.

Etwa zur gleichen Zeit wurde „Eine göttliche Botschaft“ in ein Briefkuvert gesteckt und einem reitenden Boten übergeben. Sie kam aus einer Zeit, als es das Internet noch nicht gab. Es gab noch keine Telefone, keine Radios, keine Faxgeräte. Sie war alt, aber noch gut erhalten. Sie wurde allerdings zum Schutz in einen neuen Briefumschlag gesteckt. Der alte war zerfetzt, so lange war diese Botschaft schon unterwegs, von einem reitenden Boten zum anderen. Von einem Stern zum anderen, durch galaktische Weiten. Immerhin war sie auf dem Planeten Erde, der sich ganz am Rande der Galaxie drehte, schon angekommen, schon vor langer Zeit. Aber würde sie genau zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein? Würde sie den Adressaten erreichen? Wusste der Bote, wohin er den Brief bringen musste? Die Adresse hatte man von dem alten Briefumschlag abgeschrieben, aber sie war kaum noch lesbar gewesen. Hatte man sie vollständig entziffern können? Und wenn ja, stimmte die Adresse noch? Menschen pflegen in ihrem Leben öfter mal umzuziehen. Manche sind ruhelos und ständig auf Wanderschaft. Und was, wenn der Bote überfallen und der Brief geraubt wird? Was, wenn er ihn verliert oder aus Unachtsamkeit liegen lässt? Immerhin, der reitende Bote macht sich auf den Weg, den Brief in einer Umhängetasche an seinem Körper.


V. Der Abstieg

Ohne eine bewusste Entscheidung getroffen zu haben, befand Margarete sich auf dem Abstieg vom Berg der Erfüllung. Die Schönheit der Landschaft berührte sie nicht. Nach einiger Zeit verspürte sie Hunger. Dieser Hunger riss sie aus ihrer Gleichgültigkeit und ließ sie Ausschau halten nach einer Herberge oder einem Gasthaus. Sie gewahrte Wegmarkierungen, die ihr wenig sagten, und Hinweisschilder, aus denen sie nicht klug wurde. Bis sie an ein Schild kam, auf dem stand: „Herberge 5 km“. Sie ging in diese Richtung und kam auch bald bei einer Hütte an, die sehr windschief und wenig vertrauenerweckend aussah. Sie klopfte an und trat in einen dunklen, verräucherten Raum, in dem einige Gestalten um einen Tisch herum saßen und Karten spielten. Sie fragte nach dem Wirt. Der kam aus dem hinteren Teil der Hütte angeschlurft und fragte mürrisch, was sie wolle. Margarete fragte, ob sie etwas zu essen und auch einen Schlafplatz haben könne. „Nur gegen Bares“, antwortete der Wirt. Margarete kramte in ihrem Rucksack nach ihrer Geldbörse. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal Geld gebraucht hätte. In ihrer Geldbörse waren noch genügend Münzen, wie sie feststellte. Als der Wirt das Geld sah, wurde er etwas freundlicher. Er brachte Margarete einen recht guten Eintopf mit Brot. Margarete bestellte auch Bier dazu. Nach dem Essen zeigte der Wirt ihr eine winzige Kammer, in der sie schlafen konnte. Sie legte sich gleich hin, da sie sehr müde war. Kaum hatte sie sich hingelegt, überfiel sie ein Schwarm Fliegen. Als hätten sie in den Ritzen der Wände nur auf sie gelauert, umschwirrten sie brummend ihr Bett. Die halbe Nacht verbrachte sie
damit, eine nach der anderen zu töten. Aber es war wie in einem Albtraum: Hatte man zwei getötet, waren vier neue da. Sie erwachte schweißgebadet. Es war tatsächlich ein Albtraum gewesen und es war mitten in der Nacht. Nun konnte sie nicht mehr einschlafen und ähnlich wie die Fliegen verfolgten sie nun Gedanken und Grübeleien, die sich nicht verscheuchen ließen. Mal machte sie sich Vorwürfe, dass sie im Palast versagt hatte, mal beschimpfte sie sich, dass sie nicht in die Tiefe gesprungen war. Dann wieder haderte sie mit ihrem unsichtbaren Begleiter: „Warum hast du mich, als es darauf ankam, im Stich gelassen? Warum hast du mich im Palast nicht geführt oder mir einen Wink gegeben? Überhaupt scheint es, dass du mich verlassen hast. Ich bin auf so furchtbare Art und Weise gescheitert und du hilfst mir nicht, bis nicht mal da, um mich zu trösten.“ Und sie brach in Tränen aus. Sie sehnte sich nach Trost, konnte in ihrem Herzen aber keinen Schimmer davon finden. Als es hell zu werden begann, sank sie ein einen unruhigen Schlaf und träumte von einem Mann auf einem Pferd, der sie verfolgte. Immer wieder konnte sie ihm nur mit knapper Not entkommen. Sie erwachte völlig zerschlagen. Trotzdem machte sie sich später am Morgen wieder auf den Weg. Was blieb ihr anderes übrig? Sie fühlte sich sehr matt und niedergeschlagen und fragte sich erneut, warum sie nicht den Steilhang hinuntergesprungen war. Nach zwei Tagen kam sie aus dem eher felsigen Gebirgsmassiv in einen bewaldeten Teil, der sich auch in der Ebene noch weiter ausbreitete, das hatte sie von oben gesehen. Es wirkte etwas lindernd auf ihre Seele, in den Fichtenwald einzutauchen. Es war, als lege sich etwas schützend um ihre Schultern. Allerdings war die Orientierung hier schwieriger und sie musste sich mit den Symbolen der Wegmarkierungen befassen, die ihr jedoch immer noch nichts sagten. Bisher war sie einfach immer abwärts gegangen. Ein Dorf oder eine Stadt hatte sie von oben nicht ausmachen können. Also wohin sollte sie sich wenden? Sie hoffte, dass sie weiterhin auf Herbergen oder Gasthäuser stieß. Eine Wegmarkierung war ein gelbes X, eine andere sah aus wie ein chinesisches Schriftzeichen und hatte eine rote Farbe, eine dritte bestand aus einem blauen Punkt. Diese Markierungen hatte sie immer wieder zufällig gesehen. Sie entschied sich aufs Geratewohl für das gelbe X und hielt nun immer wieder Ausschau danach. Die Wegsuche beschäftigte ihren Kopf und lenkte sie ein wenig von ihren düsteren Gedanken und Grübeleien ab. Als es dunkel zu werden begann, fasste sie ins Auge, sich einen geschützten Platz zum Übernachten zu suchen, denn eine Herberge war nicht in Sicht. Sie wich ein wenig vom Weg ab und fand einen kleinen Steinbruch, in dem große Felsbrocken lagen. So konnte sie es sich in einer Felsnische bequem machen. Im schwindenden Abendlicht suche sie sich Zweige und Laub zusammen und breitete ihren Schlafsack darauf aus. Sie konnte lange nicht einschlafen, da es im Wald viele ungewohnte Geräusche gab. Schließlich kam der Schlaf doch über sie, da sie sehr erschöpft war. Sie träumte wieder von einem Reiter, der sie verfolgte. Am nächsten Morgen, als sie über den Traum nachdachte, wunderte sie sich, wie sie dem Reiter immer wieder entkommen konnte, da er doch eigentlich viel schneller war als sie zu Fuß. „Traumlogik“, dachte sie und schälte sich aus ihrem Schlafsack. Sie fror und hätte gern ein Feuer gemacht, um sich zu wärmen und einen Tee zu kochen. Dafür brauchte sie allerdings auch Wasser. Sie erinnerte sich, gestern Abend an einem kleinen Bach vorbeigekommen zu sein. Sie nahm ihre Wasserflasche und machte sich auf die Suche. Sie fand den Bach und füllte ihre Flasche. Danach sammelte sie Holz, und bald flackerte ein kleines Feuer, auf dem sie das Wasser erhitzte. Sie kramte einen Teebeutel und einen Becher aus ihrem Rucksack und goss das siedende Wasser in den Becher. Die Flasche aus Aluminium war allerdings nun rußgeschwärzt. Ihr wurde bewusst, wie viel Mühe sie darauf verwandt hatte, einen kleinen Tee zu kochen, und musste wider Willen lachen. So unbedeutend diese auch war, sie war ganz bei der Sache gewesen, ganz konzentriert auf das, was sie tat. Dabei hatte sie ganz vergessen, wie verzweifelt sie doch war. Mit ein paar Keksen war es ein ganz passables Frühstück. Sie brach bald auf und nachdem sie etwa drei Stunden gelaufen war, stieß sie auf eine etwas versteckte Hütte. Sie war unverschlossen und innen auf dem Tisch lag eine Art Benutzeranleitung. Diese Hütte stand Wanderern zur Verfügung und wurde von Zeit zu Zeit hergerichtet und mit den notwendigsten Lebensmitteln ausgestattet. Margarete beschloss sofort, hier einige Tage zu rasten. Sie verschaffte sich schnell einen Überblick über die vorhandenen Vorräte und kam zu dem Schluss, dass sie allemal eine Woche reichen würden. Einen Brunnen gab es vor der Hütte auch. In den folgenden Tagen ging sie ganz darin auf, es sich gemütlich zu machen, für Essen und Feuer zu sorgen und im Wald herumzustreifen. Viele Beeren waren gerade reif und sie kam nie zurück ohne Heidelbeeren oder Himbeeren. Sie wurde innerlich etwas ruhiger, jedoch musste sie sich zwingen, nicht über ihren Misserfolg nachzudenken. Es war wie eine Wunde, die sich nur schwer schließen wollte. Und wie ein verletztes Tier hatte sie sich hier zurückgezogen, um ihre Wunde zu lecken. Ehe sie es sich versah, war eine ganze Woche verstrichen, die Vorräte gingen zur Neige und sie musste nun daran denken weiterzuwandern. In der Nacht, bevor sie aufbrechen wollte, träumte sie erneut von dem Reiter. Diesmal holte er sie ein und sie erkannte, dass es ein Bote war. Er wollte ihr etwas übereichen – aber da wachte sie auf. Sie war ganz verwirrt, der Traum hatte ein merkwürdiges Gefühl bei ihr hinterlassen. Ihr war, als würde ihre Seele sich einen Spalt weit öffnen, um einen kleinen Lichtstrahl einzulassen, aber ehe sie es sich versah, war diese Stimmung verflogen. Sie ließ ihr letztes Geld in der Hütte als Entgelt für die Lebensmittel und wanderte weiter.
Unversehens war das Wetter schlechter geworden, es war kühl und so neblig, dass sie kaum noch etwas vom Weg erkennen konnte. Trotzdem stapfte sie weiter und weiter. Das Wegzeichen hatte sie lange nicht mehr gesehen. Sie hatte sich wohl verirrt, doch es blieb ihr nichts anderes übrig, als weiterzugehen und zu hoffen, dass der Nebel sich lichtet, sie die Wegmarkierung wiederfand oder auf eine Herberge stieß. Stattdessen kam sie an eine Ruine. „Das passt ja ausgezeichnet“, dachte sie „fast wie in einem Schauerroman: Nebel und Ruinen, jetzt fehlen noch Fledermäuse, Nebelkrähen und schaurige Geräusche.“ Die Ruine war wohl einmal eine Waldkapelle gewesen, sie hatte Fenster und Spitzbögen und hier und da waren noch Ornamente zu erkennen. Sogar eine Wandmalerei schien erhalten zu sein. Das Licht war aber so trübe, dass Margarete nichts erkennen konnte. Obwohl es kein Dach mehr gab, bot die Ruine einen gewissen Schutz zum Übernachten. Margarete machte ein Feuer, wachte aber nachts ein paarmal auf, weil sie fror, und legte noch etwas Holz in die Glut. In dieser Nacht träumte sie, dass sei einem Gottesdienst in der noch intakten Kapelle beiwohnte. Als sie erwachte, hatte sie noch eine ganz bestimmte Musik im Ohr, die ihr irgendwie sehr bekannt vorkam., aber sie konnte sich nicht entsinnen, was es war. In der Kapelle waren viele Leute gewesen, sie war von Kerzen erhellt und vorne am Altar lag ein aufgebahrter Leichnam unter vielen Blumen und Kränzen. Sie stand auf, es war nicht mehr sehr früh am Morgen. Zaghaft brach die Sonne durch den Nebel und tauche Wald und Kapelle in ein zauberhaftes Licht. Jetzt erkannte Margarete auch die blassen Umrisse der Wandmalerei. Ein Mann in Ritterrüstung saß auf einem Pferd, seine Lanze durchbohrte den Drachen.

Beim Weiterlaufen ging Margarete der Traum nicht aus dem Sinn. Wer war der Tote? Was bedeutete die Zeremonie? Plötzlich machte es „klick“ und sie wusste, woher sie die Musik aus dem Traum kannte. Es war ein Teil des Requiems von Mozart. Sie erinnerte sich sogar an die lateinischen Worte: „Confutatis maledictis. Flammis acribus addictis: Voca me cum benedictis.“ Es war eine sehr dramatische bewegte Musik, als höre man die Flammen gewaltig schlagen, und dann folgte überraschend ein ganz zarter, fast sphärischer Gesang: ein Blick in die Hölle und dann ins Paradies. „Die Musik ist phantastisch“, dachte sie, „aber der Inhalt des Textes? Ewige Verdammnis, Feuer der Hölle? Dennoch, durch den Kontrast bekam das „Voca me“ seine überirdische Verklärung. Die Höllenfeuer waren der Hintergrund, vor dem sich Rettung und Seligkeit umso stärker abhoben und die Dankbarkeit, der Gefahr entronnen zu sein, umso größer war. War es nicht so, dass die Kontraste sich wechselseitig verstärkten? Je unglücklicher eine Seele sein kann, umso mehr Glück kann sie auch empfinden – und will man mehr Glück haben, so muss man es mit entsprechend mehr Schmerz erkaufen. Margarete leuchtete diese Erkenntnis ein, es war ihre Erfahrung, aber sie war weit entfernt davon, sie auch zu akzeptieren.

Sie seufzte und war wieder einmal völlig ratlos. Wohin sollte sie gehen? Sie hatte überhaupt keine Vorstellung mehr davon, warum sie weitergehen, welches Ziel sie verfolgen und weiterleben sollte. Sie ging nur weiter, weil sie es gewohnt war immer zu wandern und einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ob es ein Vorwärtsgehen, ein Rückwärtsgehen oder ein Gehen im Kreis war, konnte sie nicht erkennen. Sie ging, weil ihr nicht anderes übrig blieb. Vielleicht hatte der Traum ihr zeigen wollen, dass sie sich selbst und ihr bisheriges Leben begraben wollte oder musste. Aber welche Bedeutung hatte der Traum mit dem reitenden Boten, welche Botschaft wollte er überbringen? Sie konnte es nicht erraten. Als sie tiefbekümmert aufschaute, sah sie nach langer Zeit wieder einmal das gelbe X. „Komisch“, dachte sie, „dass ich irgendwie doch auf dem richtigen Weg zu sein scheine. Zumindest auf dem, für den ich mich zufällig mal entschieden habe.“ Da fiel ihr ein, dass sie nun weder etwas zu essen noch einen Pfennig Geld hatte. Was sollte nun werden? Der Winter stand bevor und sie wusste nicht, wo sie bleiben sollte. „Mein Leben ist zu Ende, ich kann genauso gut auch tot sein. Keine Freude, kein Ziel, keine Hoffnung, kein Plan...“ So liefen ihre Gedanken im Gleichschritt mit ihren Füßen, die sich wieder einmal selbständig gemacht hatten und einfach weitermarschierten. Sie fand noch ein paar Beeren, Wasser gab es aus kleinen Bächen, nachts schlief sie im Unterholz oder an einer geschützten Stelle. So ging es mehrere Tage, der Wald schien kein Ende zu nehmen. Sie traf auf keinen Menschen, selten auf ein wildes Tier, erst recht auf keine Herberge oder Hütte. Plötzlich merkte sie, dass ihr Weg schon seit einer Weile sanft anstieg, und es wollte ihr scheinen, als käme ihr die Gegend bekannt vor. Sie tat das aber als Einbildung ab, bis sie an einen kleinen See kam, an dessen Ufer eine Hütte stand. Sie erschrak, obwohl es doch ein Grund gewesen wäre, sich zu freuen. Sie war völlig verwirrt. Denn das war die Hütte der Einsiedlerin! Es war früher Nachmittag, aber schon fast dunkel, da der Tag sehr trübe war. Aus der Hütte drang kein Lichtschein und auch kein Laut. Sie fühlte sich so verwildert, ausgestoßen und scheu, dass sie sich überwinden musste, anzuklopfen. Wie lange schon hatte sie keine Menschenseele mehr gesehen. Niemand meldete sich. Sie drückte die Türe vorsichtig auf, sie war nicht verschlossen, und trat ein. Die Einsiedlerin war offensichtlich nicht zu Hause, aber alles war an dem gewohnten Platz, einfach und übersichtlich. Margarete merkte, dass sie völlig erschöpft war, und ließ sich auf die schmale Holzbank fallen. Im Ofen brannte ein Feuer und die ungewohnte Wärme war so wohltuend, dass sie trotz ihrer unbequemen Stellung einnickte. Sie schreckte hoch, als die Einsiedlerin eintrat und die Tür hinter sich schloss. „Da bist du ja endlich“, sagte sie. Margarete schaute sie verständnislos an. Die Einsiedlerin lachte und sagte: „Du kannst hierbleiben, solange du möchtest. Es ist etwas eng, aber wie finden schon eine Lösung.“ Als Margarete immer noch nichts sagte, fragte sie, ob sie ihre Sprache verloren hätte. Margarete stotterte: „Danke, ich bin über deine Gastfreundschaft sehr froh: ich irre schon lange allein umher ohne Sinn und Ziel.“ „Nun, nun, das wird sich schon alles wieder finden. Jetzt bekommst du erst einmal einen heißen Tee und etwas zu essen. Heute Nacht schläfst du in meinem Bett und morgens sehen wir weiter.“ Während sie aßen, fragte Margarete die Einsiedlerin, woher sie gewusst habe, dass sie komme. Sie habe das nämlich selbst nicht gewusst, bis sie plötzlich zufällig vor ihrer Hütte gestanden habe. „War das beim ersten Mal nicht auch so? Was sind Zufälle?“ Aber Margarete war zu müde, darauf einzugehen. Als sie in dem verhältnismäßig komfortablen Bett der Einsiedlerin lag, fiel sie bald in einen traumlosen Schlaf. Als sie am Morgen noch schlaftrunken vor die Hütte trat, sah sie, dass die Einsiedlerin trotz der kühlen Temperatur im See badete. „Das solltest du auch machen, aber vielleicht nicht gleich heute, ich habe warmes Wasser auf dem Ofen, mit dem du dich waschen kannst, ich glaube, du hast es nötig“, sagte sie beim Zurückkommen, während sie sich abtrocknete. Margarete wusch sich gründlich mit dem erwärmten Wasser und die Einsiedlerin gab ihr auch saubere Kleider. Nach dem Frühstück inspizierten sie zusammen den Holzschuppen und Sybille meinte: „Hier können wir noch ein Bett für dich herrichten.“ Mit einigen Brettern und Decken setzten sie den Plan in die Tat um. Dann wuschen sie die Kleider Margaretes, sammelten Pilze und Kräuter, kochten Essen – und der Tag verging. Die Einsiedlerin schien nicht neugierig zu sein und fragte Margarete nicht aus. Margarete fragte: „Wovon sollen wir leben? Woher bekommen wir Nahrungsmittel?“ „Ich habe einige Vorräte und ab und zu müssen wir ins Dorf, um etwas einzutauschen. Ich mache Handarbeiten und male Bilder. Auch im Wald findet sich immer etwas, bis es wirklich strengen Frost gibt. Wenn es gar nicht anders geht, lege ich Schlingen für Hasen und Kaninchen. Fleisch und Felle können wir gut gebrauchen. Entweder für uns selbst oder zum Verkaufen.“ Am Abend, als alle Arbeit getan war, heizte Sybille den Ofen tüchtig ein, so dass es schön warm wurde in der Hütte. Margarete saß in sich gekehrt und sehr traurig auf der Holzbank und trank Tee. „Nun erzähl schon“, drängte die Einsiedlerin, „was ist passiert? Ich kann es mir zwar fast denken, aber vielleicht hilft es dir ja, dir alles von der Seele zu reden.“ Margarete seufzte und begann, ihr von ihren Erfahrungen im Palast zu erzählen. Als sie darüber berichtete, dass sie sich am liebsten umgebracht hätte, brach sie in Tränen aus. Ein unhaltbarer Strom tiefen Kummers ergoss sich aus ihren Augen, sie schluchzte und ihr ganzer Körper wurde vom Weinen geschüttelt. Die Einsiedlerin legte ihr sanft eine Hand auf den Rücken und ermutigte sie, ihrem Kummer freien Lauf zu geben. Danach fühlte sich Margarete ganz leer und müde.

Erst am nächsten Morgen war sie fähig weiterzureden. Die Einsiedlerin sagte: „Ich verstehe nicht, dass du nicht weitergesucht hast im Palast. Wenn ich dich recht verstanden habe, warst du ziemlich nahe dran. Einige Räume, die du beschreibst, habe ich nicht betreten. Ich bin nach links gegangen und du nach rechts. Pass auf, wir versuchen eine Skizze zu machen, indem wir unsere Erinnerungen und Erfahrungen zusammentun.“ Und sie beugten sich eifrig über ein Blatt Papier, zeichneten und verwarfen, bis sie endlich zufrieden waren. „So, nun hast du einen Plan des Labyrinthes, der müsste ziemlich genau stimmen.“ Margarete, die während des Austüftelns ihren Kummer kurzzeitig vergessen hatte, fiel in die alte Schwermut zurück und klagte: „Was soll das bringen? Die Sache ist gelaufen.“ „Wer sagt das? Du gehst einfach nochmal hinein und dann klappt es bestimmt. Ich verstehe sowieso nicht, warum du so schnell resigniert hast.“ „Ich glaube, ich bin in mein altes Muster gefallen. Erinnerst du dich, dass ich dir von dem Wüstenmonster erzählt habe? In Krisensituationen reagiere ich einfach so. Es schwappt über mich und ich komme nicht mehr da raus. Im Gegenteil, ich steigere mich hinein. Diese Vorstellung, dem Ziel so nahe gekommen zu sein und es nicht erreicht zu haben, macht mich ganz krank. Ich könnte immer noch vor Wut platzen. Es ist, als ob mich jemand übel hereingelegt hätte.“ „Aber da war niemand, der dich irregeführt hat, nicht einmal du selber. Kannst du nicht erkennen, dass du wichtige und schöne Erfahrungen gemacht hast im Palast? Gut, du hast die ersehnte Mitte nicht gefunden, aber deine Erfahrungen in der Bibliothek oder im Musikraum waren doch ergreifend und lehrreich.“ Margarete seufzte. „Ja, irgendwie hast du Recht. Vom Verstand her kann ich das einsehen, aber vom Gefühl her nicht akzeptieren. Ich kann mich nicht darüber freuen. Es ist, als ob alles in mir zugeschnürt wäre. Dazu kommt, dass ich mich von meinem unsichtbaren Begleiter verlassen fühle. Er hat mir in dieser wichtigen Situation nicht geholfen. Aber ich mache ja alle diese Erfahrungen nicht zum ersten Mal. O, diese Strapazen in der Wüste – jahrelang – und dann dieser mühevolle Aufstieg auf den Berg. Das hat mich alle Kraft gekostet, ich kann nicht mehr und ich will nicht mehr.“ „Eigentlich ist es nur deine Bewertung, die die


Die Skizze des Labyrinthes





Dinge so schwierig macht. Gut, ich will nicht leugnen, dass das Leben manchmal hart und ungerecht ist, aber du bewertest alles negativ. Das Leben ist halt ein Auf und Ab, das muss man akzeptieren.“ „Du hast Recht. Ich empfinde das Negative als übermächtig, alles drückt mich zu Boden. Und das Schöne, das es vielleicht gibt, berührt mich nicht.“ „Weil du dein Herz nicht öffnen kannst. Es gab aber in deinem Leben doch auch Situationen, in denen du glücklich warst! Das hast du doch selbst erzählt.“
„Aber, das hilft mir jetzt nicht. Ich sehe weder Sinn noch Ziel in meinem Leben.“ „Warum glaubst du nicht an einen Neuanfang, an eine zweite Chance?“ Ratlos begann Margarete von ihren Träumen zu erzählen, in denen ein reitender Bote vorkam. „Es geht um eine Nachricht, die mich nicht erreicht“, sagte sie. „So wie alle guten Gedanken und Gefühle“, ergänzte die Einsiedlerin.

Margarete verbrachte die folgenden anderthalb Jahre bei der Einsiedlerin. Gelegentlich versuchte sie sich im Malen. Manchmal konnte sie sogar ein Bild verkaufen. Sibylle meinte, sie sei sehr begabt. Wenn Margarete das Gespräch auf ihre vergebliche Suche brachte, erntete sie immer weniger Verständnis. Sibylle war der Meinung, sie solle endlich mit diesen endlosen Klagen aufhören und es akzeptieren, was ihr widerfahren sei. Nur so könne sie die Wunden der Vergangenheit heilen lassen. „Du fühlst, wie du denkst. Denkst du immer negativ, kannst du dich auch nicht gut fühlen. Also löse dich davon.“ Margarete entgegnete: „Ich habe schlimme Erfahrungen und negative Gefühle, deshalb denke ich negativ.“ „Mach einen Schnitt, trenne dich von der Vergangenheit, mach dir positive Gedanken, nur dann wird das sich ändern.“ Nach einer Weile des Trotzes versuchte Margarete zaghaft, diesen Rat in die Tat umzusetzen. Manchmal empfand sie Erleichterung, indem sie diesem Prinzip folgte. Aber häufig erlebte sie Rückfälle in Apathie und Traurigkeit.

Eines Tages näherte sich ein junger Mann der Hütte. Sibylle und Margarete sahen ihn den Weg durch die Sträucher herankommen. Er hatte eine rote Stofftasche über der Schulter. Margarete und Sibylle traten aus der Hütte und empfingen ihn. Der junge Mann lächelte. Er sah aus, wie man sich den Götterboten Hermes vorstellt, allerdings hatte er statt eines antiken griechischen Gewandes Jeans und T-Shirt an. „Ich habe eine Botschaft für eine gewisse Margarete. Wer von euch ist das?“ Sibylle sah Margarete an und dann den Boten. Margarete trat vor: „Das bin ich. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wer etwas von mir wollen könnte.“ „Davon kann auch keine Rede sein. Eher umgekehrt. An der großen Reichsstraße, die die Wüstenfahrer überqueren, um zum Sambua - Bergmassiv hinaufzugelangen, traf ich einen Reiter, der staub- bedeckt und völlig erschöpft zu sein schien. Er fragte mich, ob ich eine Wüstenfahrerin mit Namen Margarete kenne. Ich sagte, dass ich einige Wüstenfahrer getroffen hätte, aber mich nicht sicher an eine Margarete erinnern könne. Im Verlauf des Gespräches erinnerte ich mich aber an eine Frau, die einige Zeit in der Lapis-Oase gelebt hatte, auf die die Beschreibung zutreffen könnte. Dadurch waren wir aber immer noch nicht weitergekommen. Wir beide suchten und recherchierten eine Weile, bis ich im Dorf ein Aquarell der Lapis- Oase entdeckte, das mich auf die Spur brachte.“ Der Bote öffnete seine Tasche und entnahm ihr einen bräunlichen Briefumschlag mit der Aufschrift „Margarete“, sonst nichts. „Und er ist wirklich für mich?“, fragte Margarete zweifelnd. „Ja, da bin ich mir sicher.“ „Warum ist der Reiter nicht selbst gekommen?“ „Er hatte noch andere wichtige Botschaften zu überbringen und musste weiter.“ „Von wem kommt aber dieser Brief? Es ist kein Absender angegeben.“ „Das weiß ich nicht. Ich überbringe ihn nur.“ Sibylle bot dem jungen Mann etwas zu trinken an. Danach verabschiedete sich dieser und ging eilig davon. „Willst du nicht wissen, was drin steht?“, fragte Sibylle. Margarete drehte den Brief immer noch unschlüssig in der Hand hin und her. Dann ging sie ein Stück in den Wald hinein, öffnete den Umschlag und zog die Botschaft heraus. Es war ein uraltes Pergamentblatt, fleckig und brüchig. Darauf stand „Komm zum Palast. Ich erwarte dich dort sehnsüchtig.“ Margarete brach in Tränen aus, von widerstreitenden Gefühlen erfüllt. Sie drehte das Blatt um, auf der Rückseite stand: „Du findest mich innen und außen, oben und unten.“ Sie fühlte, wie sich tief in ihr etwas ganz vorsichtig zu öffnen begann. Aber als sie ihre Aufmerksamkeit dort hin richtete, war es, als fiele eine Tür ins Schloss. Das war etwas Vertrautes, das kannte sie schon, viele Male war das geschehen, ohne dass sie es verhindern konnte, so dachte sie.

Margarete erzählte Sibylle von der Botschaft: „Jemand will mich im Palast treffen. So, wie das Pergament aussieht, wollte dieser Jemand das schon vor Jahrhunderten, nur dass ich da noch gar nicht unterwegs war.“ Sibylle sagte: „Ja, die Botschaft ist sehr alt, trotzdem bist du gemeint. Sonst hätte der Bote sie niemals aus der Hand gegeben. Erinnerst du dich nicht an den Traum? Hast du mir nicht erzählt, dass ein reitender Bote dich verfolgte?“ „Ja, das stimmt“, sagte Margarete nachdenklich, „es ist, als wollte ich immer davor wegrennen .Unverständlicherweise. Vielleicht sollte mich dieser Brief schon viel früher erreichen, dann wäre meine Suche im Palast nicht vergeblich gewesen...“ Sibylle antwortete: „Das kann ich mir nicht vorstellen. Aber nun nimm das doch als eine zweite Chance. Was ich schon immer gesagt habe: Warum gehst du nicht noch mal hin?“


V I. Die Mitte

Nach dem zweiten Aufstieg, der ihr erstaunlich leicht gefallen war, stand sie erneut vor der Tür des Palastes. Ihr war ganz leicht ums Herz. Sie wusste in ihrem Innern, dass sie es diesmal schaffen würde. Sie öffnete das Portal und wandte sich nach rechts. Sie beschloss, erst einmal dem äußeren Gang zu folgen. Die erste Abzweigung nach links führte in den faszinierenden Saal, der voller Kunstgegenstände, Bilder und Edelsteine war. Sie warf nur einen kurzen Blick in den Raum und seufzte. Sie wollte sich diesmal nicht ablenken lassen, so schön das alles auch war. Sie wusste, dass sie von dort in die „Weltbibliothek“ gelangen würde, in der sie sich das erste Mal so lange aufgehalten hatte. Wie die Einsiedlerin gesagt hatte, war die Erfahrung wichtig für ihre Entwicklung gewesen, aber nun wollte sie all das überspringen. Sie nahm den Plan aus der Tasche, den sie mit der Einsiedlerin erstellt hatte. Sie wusste nicht, ob er stimmte. Sie hatte ihr Wissen mit dem der Einsiedlerin zusammengetan. Jene war nach links gegangen, Margarete nach rechts, und so konnten sie doch mit einiger Sicherheit das gesamte Labyrinth rekonstruieren. Bei der zweiten Abzweigung nach links war sie sich nicht sicher, wohin sie führen würde; sie beschloss, erst beim dritten Mal nach links zu gehen. Sie kam in den großen Raum mit dem Springbrunnen, wo es das köstliche Essen gab. Aber auch hier verweilte sie diesmal nicht. Laut Plan müsste sie einfach durch den Raum hindurch und dann geradeaus weitergehen. Das tat sie und gelangte in einen düsteren Gang, von dem bald rechts und links ein lichtschimmernder Weg abzweigte. Der Weg geradeaus war pechschwarz. Sie stand quasi mitten auf einer Kreuzung. Links von ihr musste die Weltbibliothek liegen, rechts war der „Traumraum“, in dem sie so angenehme Träume gehabt hatte. „Vor mir liegt der Weg, den ich beim ersten Mal verpasst habe. Wahrscheinlich hat es mich abgeschreckt, dass er so dunkel ist. Ich hätte mir eine Kerze mitnehmen sollen, denn wie soll ich mich nun orientieren in dieser Dunkelheit?“ Sie tastete sich an der Wand entlang in den den dunklen Gang hinein. Plötzlich griffen ihre Hände ins Leere. Sowohl rechts als auch links schien eine Abzweigung zu sein. Sie ging geradeaus weiter und stieß gegen eine stark nach innen gekrümmte Wand. „Dahinter muss es sein“, dachte sie, „gehe ich nun nach rechts oder nach links? Egal, ich muss auf jeden Fall auf den Eingang stoßen.“ Sie wandte sich nach rechts und tastete sich weiterhin an der Wand entlang. Es wurde ein wenig heller und bald stand Margarete an der Tür zur innersten Mitte. Von oben drang gleißendes Sonnenlicht durch eine gläserne Kuppel, so dass Margarete geblendet in der Tür stehen blieb. Das war auch gut so, denn zu ihren Füßen begann eine Wendeltreppe, die steil nach unten führte. Sie war einen Moment lang verwirrt. Aber dann erinnerte sie sich an die Worte der Einsiedlerin: „Wenn du in den mittleren Raum kommst, erwartet dich eine große Überraschung. Bedenke, dass du zum Innersten des Innersten gelangen willst. Verliere dieses Ziel nicht aus den Augen.“ Sie dachte nicht nach, sie ging einfach weiter, Stufe für Stufe nach unten. Es war, als würde sie in die Tiefe, in das Innerste des Berges hinabsteigen. Erst war sie auf den Gipfel des Berges gestiegen, nun ging sie im Inneren des Berges wieder nach unten. Je weiter sie nach unten kam, desto schwächer wurde das Licht, das durch die Kuppel fiel. Schließlich endete die Treppe und es war ihr, als weite sich der unterirdische Raum um sie herum in einem überirdischen Licht. Es umfingen sie vollkommene Stille und wohltuende Leere. Sie waren wie Wasser, klar wie Kristall, perlend, aus sich heraus leuchtend. Margarete tauchte darin unter, oszillierende Farben umspielten ihre Gestalt, farbige Lichtblitze, vornehmlich blau, schimmerten auf. Die Leere hatte nicht die Qualität der Abwesenheit, sondern sie war Anwesenheit, eine Gegenwart, die ihre Leere erfüllte. Der Durst ihrer Seele wurde gestillt. Alle Mühen und Schmerzen waren verschwunden, sogar die Erinnerung daran. Sie konnte nicht verstehen, dass sie jemals unglücklich gewesen war, so sehr erfüllte sie eine beglückende Gegenwart. Diese Anwesenheit hatte zugleich etwas Einhüllendes. Sie war geborgen und geschützt. Sie ging darin auf, ohne verloren zu gehen. Sie wollte nichts mehr festhalten, sie ließ sich fallen und doch war sie nie so aufgehoben, nie so im Zentrum ihrer selbst. Die Leere war die Negation alles Dunklen und Schweren. Sie wurde selbst wie Kristall, der aus sich heraus leuchtet; dieses Leuchten hatte sie schon immer in sich getragen. Nun fiel alles ab, was das Leuchten verdeckt hatte und sie wurde sehr leicht. Nun war sie angekommen.


Biographische Angaben

1952 in Dernbach/ Westerwald geboren, Studium der Germanistik und katholischen Theologie in Bonn, von 1981 bis 2008 Lehrerin am Gymnasium in Walldorf bei Heidelberg
Veröffentlichung von Gedichten, Erzählungen und Märchen





Impressum

Texte: Copyright Juni 2006 by Epla-Verlag sowie bei der Autorin ISBN 978-3-925580-66-6
Tag der Veröffentlichung: 29.09.2008

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