Wie sieht die Welt von oben aus?
Kelly seufzte und dachte ein wenig wehmütig daran, wie oft sie sich in Kindertagen diese Frage selbst gestellt hatte. Heute wünschte sie sich nichts sehnlicher, als die Antwort gar nicht zu wissen.
Gut, zuzuschreiben hatte sie sich diese Situation allerdings selbst. Es war ihre alleinige Entscheidung gewesen und man hatte ihr durchaus Alternativen und eine ausreichende Bedenkzeit zur Verfügung gestellt. Doch wer schlug schon die Möglichkeit aus, die Erde von oben zu sehen?
Sie, Kelly, schon mal nicht.
Natürlich konnte sie sich noch gut an den Tag erinnern, als sie als erste Frau die neue Raumstation betrat. Sie war nervös, aufgeregt und ein wenig verängstigt.
Auch würde sie nie die Vorbereitungszeit in diesen neuen Lebensabschnitt vergessen.
Die bestanden hauptsächlich darin, sich auf ein Leben in hermetisch abgeriegelten Räumlichkeiten mit einer geringeren Schwerkraft als auf der Erde einzustellen. Der heutigen Technik sei Dank musste man auf Schwerkraft nicht völlig verzichten, um Ressourcen zu sparen, glich man die Werte auf der Raumstation jedoch nicht völlig der Erde an. Doch damit konnte man, nach einer gewissen Eingewöhnungszeit, ganz gut leben. Wichtig war es, sich nicht zu ruckartigen Bewegungen hinreißen zu lassen und, vor allem im Bezug auf ihre Arbeit, daran zu denken, dass alle Dinge ein anderes Gewicht besaßen als gewöhnlich. Für Alteingesessene war es kein ungewöhnlicher Anblick, wenn ein sogenannter Frischling mal wieder einem Gegenstand, z.B. seinem Besteck oder einem Stift nachjagte (und dann vorzugsweise ebenso den Boden unter den Füßen verlor. Buchstäblich).
Die Reise von der Erde zur Station war ebenfalls aufgrund fortgeschrittener Technik erheblich einfacher und weitaus kürzer geworden als früher. Zwar war man noch ein gutes Stück davon entfernt, den Weltraum als allgemeines Urlaubsziel zu nutzen, das konnten sich nach wie vor nur die richtig gut Betuchten leisten, doch eine Flugzeit von 2,5 Stunden zu einer Raumstation, die rund 500 km von der Erde entfernt im All stand, war nicht zu verachten. Auch gelang es mittlerweile die auf den Körper einwirkenden Kräfte während des Flugs konstant auf unter 1 g zu halten und ein moderner Raumanzug sorgte dafür, dass man sich weitgehend ungehindert bewegen konnte. Dennoch, die meisten zogen es vor, die Flugzeit auf bequemen Liegen im Halbschlaf zu verbringen. Sie war da keine Ausnahme gewesen. Erst zehn Minuten vor der Ankunft erhob Kelly sich von ihrer Liege und stellte sich an eines der kleinen runden Fenster.
Irgendwie majestätisch und erhaben stand die Erde schräg unter ihnen und wirkte einfach nur friedlich. Teilweise unter einer dichten Wolkendecke versteckt, konnte man trotzdem gut den europäischen Kontinent erkennen. Sie konnte sich kaum daran sattsehen. Natürlich hatte sich Kelly im Vorfeld auszumalen versucht, wie es aussehen würde und auch Bilder im Internet angeschaut, doch das ganze nun live zu erleben, sprengte alle Vorstellungskraft.
Nachdem der Transporter an der Station angedockt und die mitgebrachten Waren abgeladen waren, konnte auch die menschliche Fracht endlich von Bord. Jeweils zu viert betrat man eine Schleuse, die dafür sorgte, dass es im inneren der Station nicht zu einem Druckabfall oder Sauerstoffverlust kommen konnte. Innerhalb der Station war es daher nicht nötig, eine Maske oder gar einen Raumhelm zu tragen. Nun, die ersten Tage ertappte Kelly sich schon dabei, sich besorgt zu fragen, was denn im Fall eines Unfalls passieren würde. Jedoch, im Laufe der Zeit, wurden solche Gedanken seltener. Selbst wenn ein schwerwiegendes Problem auftreten würde, wäre sie wohl so schnell tot, dass es gar keine Rolle mehr spielte. Und nur eine Atemmaske könnte sie, ohne den für Außeneinsätze benötigten Raumanzug, ebenso wenig beschützen. Auch war es seit zwanzig Jahren zu keinem einzigen Vorfall mehr gekommen. Nein, irgendwann gewöhnte man sich einfach an die Umgebung und dachte nicht mehr so viel darüber nach.
Nachdem die Schleuse passiert worden war, wurde man auf die Quartiere verteilt. Da es außer ihr derzeit keine weiteren Frauen gab, hatte sie ihr Quartier für sich allein. Mit Verlaub, wirklich viel Platz gab es ohnehin nicht. Zwei Betten, zwei Schränke, ein Tisch, zwei Sitzgelegenheiten. In der Wand ein Bildschirm. Meistens liefen dort Dokumentationen, selten Unterhaltungsshows oder Filme, mit dem man sich ein wenig die Zeit vertreiben konnte. Wobei, Freizeit war etwas, was einem hier oben ohnehin nicht im Überfluss zur Verfügung stand. Die Arbeit stand eindeutig im Vordergrund. Die Wände der Quartiere bestanden, wie eigentlich die ganze Station, aus spezial-verdichtetem Kunststoff und die Farbe grau war vorherrschend. Steril, funktionell. Kurz, langweilig. Wer es sich leisten konnte, warf mit Hilfe eines einem Beamer nicht unähnlichen Gerätes bunte Bilder an die Wände, doch da diese Technik für den Hausgebrauch noch relativ neu war (die Geräte waren nicht größer als eine Streichholzschachtel, konnten aber Bilder erzeugen, die eine Wand von 15 m² bedeckten), waren sie auch noch dementsprechend teuer. Für Kelly unbezahlbar. Bedrucktes Papier dagegen war am aussterben. Also gab es für sie nur das einheitliche grau.
Wirklich viel Gepäck besaß sie ebenfalls nicht, daher waren ihre Habseligkeiten auch in fünf Minuten im Schrank verstaut. Anschließend setzte Kelly sich auf das Bett und wartete. Auf dem Monitor flimmerte gerade eine Werbesendung, die sie nicht im Mindesten interessierte, ein Radio gab es hier nicht. Man konnte sich eins besorgen, doch das musste warten.
Im Gegensatz zu ihr. Nach knapp zehn Minuten holte man sie ab und brachte sie in einen Raum, der wohl so etwas wie die Kantine war. Hier traf sie auch die anderen Mitreisenden wieder. Stumm wurde ihr ein Platz zugewiesen und dann hieß es wieder warten. Doch nur ein paar Minuten. Die nutzte Kelly, um sich auch hier umzuschauen. Viel Interessantes zu sehen gab es allerdings nicht. Wie das meiste hier auf der Station war auch die Kantine einzig zweckmäßig eingerichtet. Tische, Stühle, eine lange Theke, wo das Essen ausgeteilt wurde. Nichts unterbrach das eintönige Grau der Wände oder sah aus, als wäre es anders als funktionell zu verstehen. Gerade verdrückte sich Kelly ein Gähnen, als im hinteren Teil des Raumes eine Öffnung entstand und ein Mann eintrat. Er war von untersetzter Statur, unscheinbar, trug jedoch ein Gesichtsausdruck zur Schau, der einem Respekt einflößte. Er hatte hier das Sagen, das war Kelly sofort klar.
Der Mann stellte sich vor die Theke und stellte sich vor. Er besaß eine tiefe, klare Stimme, die seine autoritäre Mimik bestätigte. Sein Name war Edward Button, er leitete die Station vom ersten Tag an. Er hieß sie willkommen und verteilte ohne Umschweife die anfallenden Arbeiten. Kelly würde, aufgrund ihrer Ausbildung auf der Erde, dem Instandhalter der Lüftungsschächte zur Hand gehen und, wenn es dort nichts zu tun gab, im Lebensmittellager aushelfen. Es gab zwei Schichten zu je zwölf Stunden, doch das war ihr schon vorher bekannt gewesen und sie hatte sich bewusst für die Station entschieden.
Die ersten dreißig Tage vergingen wie im Flug, nach weiteren dreißig schlich sich langsam die Routine und damit die Langeweile ein. Es war halt doch nicht abendfüllend, denn ganzen Tag auf Knien durch Lüftungsschächte zu rutschen oder Kisten mit Obst und Gemüsen von A nach B zu stapeln. Mit den anderen Stationsbewohner gab es nur selten Kontakt, jeder war mit sich und seiner Arbeit oder seinen Problemen beschäftigt und Kelly hatte längst die Hoffnung aufgegeben, dass sie irgendwann auch mal eine zweite Frau finden ließ, die sich auf das Abenteuer Raumstation einließ. Na ja, mittlerweile verstand sie auch, warum.
Am Morgen des 180. Tages hatte Kelly keine Lust mehr aufzustehen, fand im Laufe des Tages jedoch ihre ausgeglichene Stimmung wieder. Nach ihrem ersten Jahr auf der Station hatte sich ihre Motivation jedoch endgültig verabschiedet und sie fing an, ihre Entscheidung zu bereuen. Und daran änderte weder der tolle Ausblick noch sonst irgend etwas.
An besonders langweiligen und frustrierten Tagen dachte sie mit Wehmut daran, dass eigentlich nur eine Sache schuld daran war, dass sie hier oben war. Eben jene Frage, wie sie wohl aussah, die Erde von oben.
Schön. Das ist die wohl kürzeste Antwort auf diese Frage. Oder auch atemberaubend. Beeindruckend. Sicher, auch Kelly konnte sich dem lange nicht entziehen, doch nach nunmehr 1460 Tagen in der Station beurteilte sie den Ausblick ganz anders. Und im Hinblick auf die noch 1825 ausstehenden Tage wohl erst recht nicht. Wieso nur hatte sie sich aufgrund einer einzigen Sache entschieden, der normal gültigen Zivilisation den Rücken zu kehren? Bis heute fand sie darauf keine Antwort, jedoch hatte sich ihre Meinung bezüglich der Aussicht weitgehend geändert.
Langweilig. Immer gleich. Surreal. So in etwa.
Ja, ein wenig von dem Schönen ist recht, doch eine Überdosis macht es auch irgendwann überdrüssig. Ein schöner Ausblick vermochte schließlich nicht darüber hinwegzutäuschen, dass man auf der Station regelrecht festsaß. Gefangen war.
Nun konnte sie schon die Schritte der Wächter hören, die sie, Kelly, als derzeit einzige weibliche Bewohnerin von Cage 9, unter strenger Bewachung ins Lager hinüber bringen würden, wo sie ihren nächsten Dienst antrat. Heute morgen waren neue Lebensmittel geliefert worden. Die galt es einzusortieren. Wie immer am Montag, im derzeit modernsten Gefängnis außerhalb der irdischen Atmosphäre.
Tag der Veröffentlichung: 29.09.2013
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