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Lieber Wolfi,

am Freitag, meinen letzten Arbeitstag vor dem Urlaub, fing es an. Meine Gedanken kreisten und kreisten. Klar, Urlaubsvorfreude, könnte man meinen, doch das ist es nicht. Es ist wegen dem, was ich im Urlaub vorhabe. Ich schreibe dir das Stück für Stück, so wie es mir erging.

Meine Gefühle fahren Achterbahn mit mir. Telefoniere ich mit meiner besten Freundin, oder bin bei ihr, ist alles in Ordnung, doch sobald ich mal ne Minute allein bin …

Schon lange schiebe ich das vor mir her, eigentlich viel zu lange, doch ich bin nun mal, wie ich bin. Auch jetzt noch habe ich Angst vor dem, was kommt, doch es wird mit der Zeit nicht besser. Im Gegenteil.

John Miller, auf dem Weg nach oben. Musik war sein Leben und dieses ging gerade erst los. Wie habe ich mich gefreut, als es endlich hieß, der erste Plattenvertrag wäre da. Sicher, die Musik habe ich von Anfang an gemocht, kaum hatte ich das erste Stück gehört, doch so war es irgendwie – offiziell.
Auch als DJ konnte ich ihn erleben. Von einem dieser Events hab ich sogar noch ne CD zu Hause.
Als ich dann wieder nach Berlin zog, wurde der Kontakt weniger, riss aber nie ganz ab. John zog in eine eigene Bude und hatte kein Telefon, also gab es nur noch das Internet. Doch das reichte uns aus.
Ich erinnere mich gerade, das erste Lied, welches käuflich zu erwerben war, war noch aus der Zeit, als ich in Augsburg war. Das war noch vor dem richtigen Plattenvertrag. Und danach kamen immer mehr.
Man entdeckte durch Zufall das Gesangstalent und ich durfte zwei Stücke hören, bzw. bekommen, die es offiziell noch gar nicht gab, bzw. bis heute nicht gibt. Es macht mich stolz, dieses Vertrauen, denn es durfte auch keiner wissen, dass ich sie hatte.
Ich fand diese Fortschritte bemerkenswert, auch wenn das bedeutete, noch weniger Zeit für etwas anderes zu haben. Auch ich hatte so einiges um die Ohren, und als ich auf eine SMS keine Rückmeldung erhielt, war das nicht weiter verwunderlich. Die Arbeit ging halt vor. Jedoch werde ich wohl nie vergessen, wann ich diese Nachricht schrieb, denn es war der Tag, an dem eine andere Ära zu Ende ging. Obwohl von ihm nicht geliebt, verband ich dieses Megaevent mit einer anderen Veranstaltung, die er umso mehr mochte. Ich schrieb ihm die SMS am Tag der letzten Love-Parade und wurde daran erinnert, dass die Nature One bevorstand. Die letzten Jahre war er immer auf der Nature gewesen und so fragte ich nach, ob er auch dieses Jahr wieder hinfuhr. Eine Antwort bekam ich, wie gesagt, nicht.

Zwei Monate später hatte ich Urlaub und genügend Zeit für Recherchen. Was gab es Neues von John Miller? Ich googelte und fand – mich wieder in meinem persönlichen Albtraum.

Wir waren in England, meine beste Freundin, ihre Mutter, ihr Stiefvater und ich. Wir besuchten den Stiefonkel (so sagt man doch, oder?) und dessen Frau. Der Computer stand im Erdgeschoss, und als ich nun das Video auf dem Bildschirm sah, wusste ich, warum meine SMS unbeantwortet blieb. Ich rannte in den ersten Stock hinauf und weckte meine Freundin, nur um ihr, wieder einmal, eine Katastrophe meines Lebens mitzuteilen. John Miller würde mir nie wieder antworten, nie wieder einen neuen Song vorstellen, denn er war tot. Und ich hatte es herausgefunden, durch ein Video. Ein Tribut-Video.

Allein die Vorstellung, dass man sich fröhlich und nichts ahnend, in Urlaubslaune, an einen Rechner setzt und dann tatsächlich etwas über denjenigen findet, über den man sucht, nur um dann Worte wie Tribut und unvergesslich zu lesen, gleichzeitig aber seine Stimme hört, denn der Song ist ja von ihm, lässt einen an seinem Verstand zweifeln. Genauso ging es mir.
Ein schlechter Scherz, das musste es sein. Was anderes war gar nicht möglich. Eine Verwechslung, John Miller als Künstlername ist sicher nicht einmalig. Also weitersuchen – und einen Eintrag nach den nächsten finden, der das Video bestätigt. Horror pur.
Ich hätte schnell und einfach Gewissheit haben können, doch bei der Mutter anrufen und fragen? Was, wenn es doch ein schlechter, nicht zu sagen böser, Scherz war, e eine Verwechslung, was auch immer? Es dauerte nochmals gut einen Monat, bis ich dann endlich zum Telefon griff und seine Mutter anrief. Obwohl ich schon fast drei Jahre aus Augsburg weg war, wusste sie noch, wer ich bin.

Verdammt, es stimmte alles, was im Netz stand. Ich erfuhr die Hintergründe (es war kein Selbstmord, auch wenn einiges den Eindruck erweckte und es Stimmen im Netz gar, die das gern mal behaupteten) und ich versprach, sie im November zu besuchen, um gemeinsam auf den Friedhof zu gehen. Doch was soll ich sagen, es klappte nicht. Geld knapp, keine Unterkunft und, und, und. Jetzt, wo ich es doch nach Augsburg geschafft habe, frag ich mich allerdings, ob die wahren Gründe nicht woanders lagen. Auf den Friedhof zu gehen und am Grab zu stehen, hat so etwas Endgültiges. Um das zu verstehen, muss ich noch etwas erklären.

Dieser Tod kam so unerwartet, so plötzlich, so …
Ich weiß nicht, wie ich das Gefühl beschreiben soll, dass mich jedes Mal befällt. Es ist so unrealistisch und um damit fertig zu werden, flüchte ich mich manchmal in Vorstellungen, von denen ich zwar ganz genau weiß, dass sie absoluter Quatsch sind, die mich aber dennoch trösten. Wie zu Anfang der Gedanke, dass alles nur erfunden wurde, von jemand, der sich mit ihm verkracht hat und sich jetzt auf diese Art und Weise rächen wollte. Und dann plötzlich würde das Telefon klingeln und er wäre dran, um das ganze aufzulösen. Oder, noch schräger, er hat ein Verbrechen beobachtet und musste untertauchen. Und irgendwann, wenn die Bösen geschnappt und für immer weggesperrt sind, stände er plötzlich vor meiner Tür. Natürlich weiß ich, dass solche Geschichten nur Hollywood und nicht das Leben schreibt, doch diese Vorstellungen bewahren mich davor durchzudrehen, wenn mal wieder die Verzweiflung an meine Tür klopft.
Die erste Woche war die schlimmste und wurde vor allem von einem Gedanken beseelt. Wäre es nicht schön, einfach einzuschlafen und nie wieder aufzuwachen? Den ganzen Scheiß hinter mir zu lassen? Ist schließlich nicht meine erste Erfahrung mit dem Tod. Schon zu viele musste ich gehen lassen.

Nun aber versuche ich einen Abschluss zu finden. Ich habe mir eine Unterkunft und eine Mitfahrgelegenheit gesucht und sitze nun in Augsburg. Ich komme gerade vom Friedhof und noch kann ich nicht sagen, ob der Therapieversuch anschlägt. Im Moment fühle ich einfach nur müde und bringe meine Gedanken zu Papier. Ich versuche erst gar nicht, eine Struktur hineinzubringen, sondern schreibe so, wie es mir gerade einfällt.

Den Friedhof zu finden war ich schwer, das Grab auch nicht und schon etliche Meter davor brach ich in Tränen aus. Das war der Augenblick, vor dem ich mich am meisten gefürchtet hatte. Das Grab zu sehen, das Bild darauf und unwiderruflich Gewissheit zu haben, dass der beste Kumpel nicht mehr unter den Lebenden weilt. Ich habe diese Gewissheit erhalten. Leider.

Lieber Wolfi, lange Zeit hast du mich mit deiner Musik erfreut und dir als John Miller in der Szene einen Namen gemacht. Viel haben wir uns in all den Jahren anvertraut, du gabst mir Einblicke in dein Leben, einen Blick hinter die Kulissen sozusagen. Wir haben den Tag zur Nacht gemacht und waren richtig gute Freunde. Mit 27 Jahren bist du viel zu früh von uns gegangen, deine Karriere fing gerade erst an, sich zu entwickeln. Niemand kann wirklich sagen, wie du dich gefühlt hast, denn dein Leben war auch nicht immer leicht.

Ich hoffe, du hast deinen Frieden gefunden und ich glaube fest daran, dass wir uns eines Tages wiedersehen. Mein Herz ist noch immer schwer und es wird noch dauern, doch irgendwann werde ich ohne Schwermut auf unsere gemeinsame Zeit zurückblicken und sagen können: Schön, dass wir Freunde waren.

Ich werde dich nie vergessen.

In Liebe und Gedenken

Nici




Wenn ihr mich sucht,
sucht mich in euren Herzen.
Ich habe dort eine Bleibe gefunden
und bin immer bei euch.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 05.07.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Still missing

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