Vorwort
Kennt ihr das? Ihr erfasst nur eine Sekunde lang eine Situation und ohne es zu wollen, formen eure Gedanken schon eine Geschichte? Also, mir passiert das oft. Manchmal reicht es, nur kurz etwas zu lesen, etwas, was man eigentlich sofort wieder beiseite schiebt. Zum Beispiel habe ich flüchtig etwas von einem Wettbewerb gelesen, „Wortspiel“, Thema Doppelgänger.
Ich hatte nicht vor daran teilzunehmen (hab ich auch tatsächlich nicht) und doch juckte es mir irgendwann in den Fingern und ich hab die folgende Geschichte zu Papier gebracht.
Ich oder wir
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich die Frau, misstrauisch, abwartend. Ich sah sie nicht zum ersten Mal, durchaus nicht, doch jedes Mal war es anders. Immer zur gleichen Zeit, wohlmöglich einer inneren Uhr folgend und pünktlich auf die Minute, geriet sie in mein Blickfeld. Heute sah sie jedoch sehr müde aus. Dunkle Ringe zeichneten sich unter ihren Augen ab, die mit trübem Blick ziellos in die Ferne starrten. Eine gewisse Unruhe lag darin und vielleicht Angst?
Ich vermochte es nicht zu deuten.
Jedoch gab es von ihr auch noch ganz andere Erscheinungsbilder.
Da war zum einen die Scheue, kaum den Blick hebend und doch so aufmerksam, wie ein Reh im Dickicht. Nichts schien ihr zu entgegen.
Dann kannte ich noch die Sanfte. Jedes Mal, wenn ihr Blick mich zufällig streifte, fühlte es sich an wie eine leichte Sommerbrise, die meine Seele streichelte.
Ganz anders dagegen die Wilde, Unbändige. Immer auf dem Sprung, spontan, ausgeflippt. Ihre Augen sprühten nur so vor Lebensfreude und sie strahlte mit dem tiefblauen Himmel um die Wette. Dazu passten die, meist schwarzen, Lederklamotten und die Cowboystiefel, mit denen sie selbstbewusst durch die Gegend stapfte. Dabei flog ihre wilde Lockenmähne nur so umher, doch gerade diese verwuschelte Frisur schmeichelte ihr.
In Gedanken versunken stand ich da. Es war ja nicht so, dass sich nur mein Gegenüber veränderte, auch meine Sichtweise war von mal zu mal verschieden.
Manchmal nahm ich die Gestalt nur wie durch einen Regenschleier war, seltsam unscharf und vernebelt. Oder wie durch einem Dunstschleier, grau und verwischt. Fleckig.
Unbewusst schaute ich auf und zuckte erschrocken zusammen. Sechs Augenpaare, scheu, sanft, wild, starrten mich an. Ich starrte zurück. Schließlich fingen meine mir Gegenüber an zu lächeln und die Person mit den wilden Augen sprach: „Was ist los mit dir? Du bist ja noch gar nicht fertig. Und du siehst so müde aus. Nun mal los, die Kerzen auf unserem Geburtstagskuchen brennen nicht ewig.“
Und schon zogen alle drei laut schwatzend von dannen. Ich seufzte lautlos. Eine von vier eineiigen Zwillingen zu sein, die dennoch so verschieden waren, war nicht immer einfach.
„Und morgen“, knurrte ich vor mich hin, während ich zum Putztuch griff, „kann eine von euch den Spiegel putzen.“
Ich schnitt meinem Spiegelbild eine Grimasse und begann die Schlieren und
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Tag der Veröffentlichung: 21.09.2009
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