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So ist das Leben. Zeit heilt alle Wunden.
So oder so ähnlich heißt es immer, wenn etwas passiert, was das Leben durcheinanderwirbelt.
Ist das wirklich so? Heißt das jetzt, darüber aufregen, darum weinen ist sinnlos, weil es das Leben sowieso vorschreibt?
Nein, ich denke, so einfach ist es nicht, denn jeder reagiert nun mal anders auf die Ereignisse in seinem Leben. Die einen können sich tatsächlich distanzieren, einen kühlen Kopf bewahren, für andere, und dazu zähle ich mich, bricht erst einmal eine Welt zusammen. Nichts ist mehr, wie es war. Sicher, mit der Zeit wird alles leichter, doch nie wird man das Gefühl los, dass etwas nicht so ist, wie es sein soll.

Mein Name ist Sabrina und bis zu meinem 26. Geburtstag gab es zwar durchaus auch Tiefen in meinem Leben, doch nichts davon hätte mich auf die nächsten sechs Jahre vorbereiten können. Manchmal frage ich mich schon, wie viel ein einzelner Mensch eigentlich verkraften kann. Zum Glück standen, und stehen mir gute Freunde beiseite. Es hilft, auch wenn man letztendlich mit sich allein ins Reine kommen muss.

Ich gebe euch mal eine kurze Zusammenfassung meiner ersten 26 Jahre.
Ich hatte in jungen Jahren eine große Klappe, sah aus wie ein Junge (und benahm mich gern auch mal so, kein Baum war vor mir sicher) und wurde schon mit fünf zur Schule geschickt. Die Ärztin, die die Einschulungsuntersuchung vornahm, sagte zu meiner Mutter nur: Schicken sie das Kind bloß zur Schule. Nun ja, man tut was man kann. Allerdings fiel in diese Zeit auch meine erste Kur (ich war ein Frühchen und hatte immer Probleme mit den Bronchien). So kam es, dass ich zwar eingeschult, jedoch schon am ersten Schultag im Zug an die Nordsee saß. Geschadet hat es mir nicht, ich konnte den Stoff, laut meinen Eltern, in zwei Wochen nachholen. Wenn es jedoch in der Schule mal nicht so klappte, brachte ich als Argument immer, dass ich ja die ersten sechs Wochen verpasst hätte.

Ach ja, die Schule. Lief eigentlich ganz gut. Und es wurde noch besser, als in der dritten Klasse sie zu uns kam. Renee. Wie genau wir uns kennengelernt haben, weiß ich ehrlich gesagt nicht mehr. Ich weiß nur noch, dass ich an ihrem ersten Tag nicht in der Schule war. Ich war krank. Allerdings hält unsere Freundschaft bis zum heutigen Tag an. Immerhin feiern wir jetzt, wie ich es nenne, silberne Freundschaft.
Renee ist immer für mich da, ihre Mutter war, bzw. ist, das muss ich leider gestehen, immer so etwas wie eine Zweitmama für mich. Versteht mich nicht falsch, ich habe meine Eltern immer geliebt, doch viel Zeit für mich hatten sie nie. Auch für meine Geschwister nicht, doch das ist ihre Geschichte und gehört nicht hierher.

Ab der 7. Klasse waren Renee und ich nicht mehr auf einer Schule, doch das tat unserer Freundschaft keinen Abbruch. 2002 jedoch bekam meine bis dahin recht heile Welt erste Risse. Renee lernte jemanden über das Internet kennen und reagierte, entgegen ihrem sonstigen Wesen, sehr spontan. Ruck zuck verbrachte sie Wochen bei ihrem Freund, und der wohnte nicht in unserer Stadt. Weihnachten 2002 war kein frohes Fest, denn zum neuen Jahr wollte Renee plötzlich wegziehen. Zu ihm. Natürlich freute ich mich für ihr Glück, doch ich kam mir auf einmal so allein vor. Ihr müsst verstehen, dass ich nie einen großen Freundeskreis hatte, mir reichten die paar, die ich hatte, denn die waren echte Freunde. Und irgendwie war Renee schon immer mein ein und alles gewesen. Und nun sollte sie plötzlich so weit weg sein.
Auch für Renee war es nicht einfach, denn sie machte kurzfristig einen Rückzieher. Sie blieb, zumindest bis Mai 2003. Dann packte sie doch ihre Sachen. Kurz nachdem sie weg war, begann sich mein Leben auf den Kopf zu stellen.

Renees Tante starb völlig überraschend. Da ihre Familie praktisch meine Familie ist, traf es mich genauso hart. Ich durfte sogar mal mit ihnen in den Urlaub fahren. Renees Tante und Onkel besaßen ein Grundstück mit Wohnwagen und Vorzelt. War ganz lustig dort. Und nun fehlte jemand. Zwar war sie nicht die erste Person, die ich bis dahin habe gehen lassen müssen, aber ich habe halt schöne Zeiten mir ihr verbracht. Und plötzlich wurde mir bewusst, wie kurz ein Leben sein kann. Es gibt kein unendlich.
Renee war natürlich am Boden zerstört. Gerade jetzt, wo sie nicht da war, musste so etwas Schreckliches geschehen. Aber da Schicksal hatte noch ganz anderes mit uns vor.
Die nächste Tragödie betraf meine Familie. Ich war im Ende 2002 zu Hause ausgezogen und im Sommer 2003 bekam ich einen Anruf. Mein Vater war ins Krankenhaus eingeliefert worden. Schlaganfall. Zu diesem Zeitpunkt benötigte meine Mutter auf Grund eines künstlichen Hüftgelenks einen Rolator zur Fortbewegung. Ich hatte gerade, aufgrund schlechter Auftragslage, meine Arbeitsstelle nach über fünf Jahren in der Firma, verloren. So kam es, dass ich mich um alles kümmerte. Ich besuchte meinen Vater ständig im Krankenhaus, machte Besorgungen für ihn und kümmerte mich um meine Mutter. Während des Schlaganfalls war mein Vater auf die Waschmaschine gestürzt und hatte sich am Rücken verletzt. In Folge dessen hatte er kein Gefühl mehr in den Füßen. Das bedeutete, dass er nach dem Krankenhausaufenthalt zur Reha musste. Zwölf Wochen lang. Auch dorthin fuhr ich einmal die Woche, denn die Klinik lag außerhalb unserer Stadt. Nebenher hatte ich noch einen anstrengenden Nebenjob zu erledigen.
Noch während mein Vater in der Rehaklinik darum kämpfte, wieder laufen zu können, kam der nächste Rückschlag. 2003 bescherte uns, wie ihr euch sicherlich erinnert, einen der heißesten Sommer seit keine Ahnung wie viel Jahren. Diese Hitze tat Renees Hund, der bei ihrer Mutter geblieben war, überhaupt nicht gut. Ihr müsst wissen, dass ihre Mutter zu dieser Zeit in einem Altbau wohnte, wo man den Dachboden zu Wohnungen ausgebaut hatte. Allerdings konnte man von einer guten Isolierung absolut nicht sprechen. Die Wärme dort oben war unerträglich. Da es dem Hund so schlecht ging, wollten wir sie zu mir bringen. Ich wohnte im Erdgeschoss und hatte es recht kühl. Leider kam es nicht mehr dazu. Am besagten Tag musste der Tierarzt geholt werden und ausgerechnet, als ich mit dem Tierarzt gerade allein in der Wohnung war, verlor der Hund den Kampf um ihr Leben. Ihr könnt mir glauben, ich werde bis heute die Bilder in meinem Kopf nicht los, wie der Tierarzt um sie kämpfte.
Ich selbst hatte nie wirklich ein Haustier und zum Hund hatte ich ein besonders gutes Verhältnis. Immer, wenn ich zu Besuch kam, spielte sie völlig verrückt. Der neuerliche Schicksalsschlag traf alle hart. Besonders Renee, da sie auch diesmal nicht bei ihrer Familie sein konnte.
Mein Vater konnte meine Trauer nicht wirklich nachvollziehen, er war schon immer das genaue Gegenteil von mir. Na ja, und außerdem hatte er ja mit seiner Reha genug zu tun. Als er schließlich nach Hause kam, saß er noch immer im Rollstuhl. Das hat sich leider auch nie geändert. Seine Rückenverletzung war einfach zu ausgeprägt, doch davon ließ er sich nicht beeindrucken. Er schmiss weiterhin den Haushalt und ging einkaufen und kümmerte sich um meine Mutter. So wenig wie möglich bat er andere um Hilfe, das war noch nie anders gewesen. Kurz, er meisterte sein Leben wirklich super.
Für mich gab es daher keine großen Bedenken, als ich mit Renee Pläne für meine Zukunft schmiedete. Zugegeben, anfangs nahmen wir das selbst nicht ernst, einfach nur was-wären-wenn, doch mit der Zeit wurde mir klar, dass ich genau das wollte. Ich bewarb mich um einen Job in Renees Nähe und im November dann unterzeichnete ich tatsächlich einen Vertrag. Meine Eltern kamen gut allein zurecht und ich brauchte einfach meine Freundin um mich herum. Da ich noch arbeitslos war, zahlte das Amt den Umzug. Echt praktisch.
Ein neuer Lebensabschnitt begann, doch wirklich einfacher wurde es nicht. Ich pendelte anfangs noch oft zwischen den Städten hin und her, da ich ja auch noch meine alte Wohnung renovieren musste. Zwei Freunde halfen mir dabei und ich möchte mich an dieser Stelle nochmals dafür bedanken.
Die neue Arbeit war ungewöhnlich, noch nie zuvor hatte ich in einem Call-Center gearbeitet. Es lief jedoch ganz gut, nur war ich ständig aufs Neue erkältet. Vielleicht war es einfach nur der Stress.
Die ersten Monate lebte ich mit Renee und ihrem Freund zusammen in einem Haus, in einer Kleinstadt, ca. 30 km von meiner Arbeitsstelle entfernt. Nicht immer ganz einfach, doch jeden Tag mit Renee auf der Terrasse zu sitzen und über den Tag zu quatschen zu können war Entschädigung genug.

Ihr kennt doch den Spruch: Zu gut, um wahr zu sein? Ja, da ist was dran. Fünf Monate, nachdem ich in eine andere Stadt gezogen war, klingelte das Telefon. Meine Schwester war dran und ihr erster Satz war: Setz dich bitte.
Was ich dann hörte, ließ mich langsam an meinem Verstand zweifeln. Ich meine, was sollte denn noch alles passieren?
Meine Mutter war in der Nacht im Wohnzimmer mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen. Mit einem Hubschrauber war sie ins Krankenhaus gebracht und in ein künstliches Koma gelegt worden. Sie hatte schwere Verbrennungen erlitten. Meinem Vater ging es, Gott sei Dank, bis auf eine Rauchvergiftung gut.
Die Wohnung war unbewohnbar, keiner wusste, wie es weiterging. Ich konnte zunächst nicht weiter arbeiten, ließ mich beurlauben. Eine Arbeitskollegin war so nett und erklärte sich bereit, mit mir nach Berlin zu fahren. Ich musste sowieso noch ein paar meiner Sachen bei einer ehemaligen Nachbarin abholen und so konnte ich zu meiner Mutter ins Krankenhaus eilen. Da ich keinen Führerschein habe, musste die Arbeitskollegin die ganze Strecke allein fahren. Ich danke ihr vom ganzen Herzen dafür.
Im Krankenhaus holte mich zunächst die zuständige Ärztin in ihr Büro und erklärte mir, wie es meiner Mutter ging. Ihr Zustand war schlecht. Wenn ich das noch richtig in Erinnerung habe, hing sie rund um die Uhr an einer Maschine, die ihr Blut reinigte, da die Nieren langsam versagten. Auch die Leber arbeitet nicht mehr richtig.
Ich weiß nicht mehr genau, wie lange ich bei meiner Mutter am Bett saß, doch ich weiß noch, was ich zu ihr sagte. Ich erzählt ihr von meiner neuen Arbeit, von dem Haus, wo ich lebte und dass, wenn sie wieder gesund war, sie mich ungedingt dort besuchen müsse. Wir würden spazieren gehen und Eis essen und uns endlich wieder näher kommen. Unser Verhältnis zueinander war nicht immer das Beste gewesen.
Unser Gespräch endete erst, als eine der Maschinen zu piepen begann. Ich weiß bis heute nicht, was genau los gewesen ist, doch ich musste das Zimmer verlassen. Anschließend hatte ich nicht mehr die Kraft, dorthin zurückzukehren, obwohl ich es hätte tun können.
Vor dem Krankenhaus wartete meine Arbeitskollegin und erst hier gestattete ich es mir, in Tränen auszubrechen. Am nächsten Tag fuhren wir wieder nach Hause zurück. Es war ein Sonntag. Wir mussten ja am nächsten Tag wieder arbeiten.
Drei Tage später versuchte man mich auf dem Handy zu erreichen. Ich überhörte zunächst das klingeln und rief dann die angegebene Nummer zurück. Allerdings war die Person, die mich versuchte zu erreichen, gerade selbst nicht anwesend. Ich verließ daher das Haus, um mich auf den Weg zur Arbeit zu machen. Unterwegs wurde ich dann zurückgerufen. Es war das Krankenhaus und man hatte die wohl schlechteste Nachricht für mich, die es geben konnte. Meine Mutter hatte es nicht geschafft. Ich glaube, dass es letztendlich so gekommen war, wie mir die Ärztin es schon mitgeteilt hatte. Ihre Organe waren zu angegriffen und hatten nach und nach alle versagt.
Da stand ich nun, mitten auf der Straße. Es schneite. Und ich hatte keinen Haustürschlüssel. Es war jedoch niemand da, der mir hätte aufmachen können. Ein Nachbar kam mit seinem Auto vorbei und fragte mich, ob er mich irgendwo hin mitnehmen könne. Was sollte ich schon tun, als tatsächlich zur Arbeit zu fahren?
Ich riss mich also zusammen und ließ mich hoch zum Bahnhof fahren. Ich weiß nicht, ob der Nachbar etwas bemerkte, doch wenn ja, ließ er es sich nicht anmerken.
Während ich noch auf den Zug wartete, musste ich meine Schwester und meinen Vater vom Tod meiner Mutter unterrichten. Keine Ahnung, wie ich das geschafft habe, ohne zusammenzubrechen.
In der Arbeit jedoch war es anders. Natürlich wusste man, dass meine Mutter im Krankenhaus lag und nun, da ich vor ihnen stand und sogleich in Tränen ausbrach, wusste man auch, was Sache war. Mein Teamleiter ging mit mir hinaus und sprach eine Weile mit mir. Er wusste, was es hieß, ein Familienmitglied zu verlieren und natürlich bekam ich umgehend frei.
Die nächsten Tage vergingen irgendwie und ich fragte mich, wie es jetzt weitergehen sollte. Um die Beerdigung kümmerte sich meine Schwester, doch was war mit der Wohnung? Wohin sollte mein Vater? Sein Bruder half ihm in der ersten Zeit. Nachdem mein Vater aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte, musste er zunächst in eine Pflegeeinrichtung ziehen, da noch keine neue Wohnung vorhanden war. Ihm wurde ein Rechtspflege zur Seite gestellt, der ihm alle Behördengänge abnahm. Im Juli schließlich konnte mein Vater eine neue Wohnung in einem Seniorenhaus beziehen. Er konnte sich dort selbst versorgen, jedoch auch mit den anderen im Speisesaal zu Mittag essen, wenn er wollte. Mein anderer Onkel besorgte ihm eine Putzfrau. Wie immer, ließ sich mein Vater nicht viel anmerken, doch jedes Mal, wenn ich zu Besuch kam, sprach er über die vergangenen Ereignisse. Er war, so schien es, wütend auf meine Mutter, da er ihr immer wieder gesagt hatte, sie solle nachts nicht aufstehen und eine rauchen gehen. Doch ich denke, dass er sie mehr vermisst hat, als er zugeben wollte. Meine Familie ist nicht immer die einfachste, doch wer kann das schon von sich behaupten?
Einige Monate nach dem Tod meiner Mutter löste sich unsere WG auf und ich zog in die Nähe meiner Arbeitsstelle. Renee zog mit ihrem Freund in ein anderes Dorf außerhalb und wir konnten uns leider nicht mehr so oft sehen. Die Bus- und Bahnverbindungen können jemanden, der aus einer Großstadt kommt, ganz schön zu schaffen machen. Alles fährt nur einmal die Stunde, oder alle halbe Stunde, und abends kommt man da gar nicht mehr weg. Jetzt wäre ein Führerschein samt Auto angebracht gewesen.
Nun ja, plötzlich wieder so allein zu sein, hat Vor- und Nachteile. Nachteile deshalb, weil gerade ich sehr sensibel gestrickt bin und mir oft alles einfach über den Kopf wuchs. Immer wieder saß ich weinend in meiner Wohnung und wünschte mir, die letzten Jahre wären einfach weg.
Kurz vor Weihnachten desselben Jahres kam die nächste Hiobsbotschaft. Eine meiner Weihnachtskarten kam postwendend zurück, mit dem Hinweis: Empfänger verstorben. Es handelte sich um die ehemalige Nachbarin meiner Eltern. Sie hatte mir, als ich zu Hause auszog, viel geholfen und ich hatte einen guten Draht zu ihr. Auch ihr Tod kam überraschend.
Das Weihnachtsfest konnte ich leider nicht mit meinem Vater verbringen, ich musste arbeiten.
Das neue Jahr fing genauso an, wie das alte geendet hatte. Als ich von der Nachtschicht nach Hause kam, fand ich einen meiner Wellensittiche am Boden sitzend vor. Er wackelte hin und her. Ich vermutete, dass er sich einen Flügel oder ein Beinchen gebrochen hatte und brachte ihn zum Tierarzt. Dort jedoch konnte man derartiges nicht feststellen. Wie es ausschaute, hatte er einen Tumor, der auf die Nerven drückte. Daher das wackeln. Es war Sonntag und die für Vögel zuständige Ärztin würde erst am nächsten Tag in der Praxis sein. Ich erklärte mich damit einverstanden, Eddie ein Medikament zur Stärkung geben zu lassen und fuhr wieder nach Hause. Sollte sich sein Zustand verschlechtern, sollte ich erneut in die Praxis kommen. Soweit kam es dann jedoch nicht. Ein paar Stunden später ist Eddie auf meiner Hand sitzend gestorben. Ich habe ihn dann bei meiner Freundin draußen auf dem Land beerdigt.
Ich hatte zu diesem Zeitpunkt nun, innerhalb von zwei Jahren, drei geliebte Menschen und, so gesehen, zwei Haustiere verloren und ich fragte mich, wann das Leid endlich ein Ende haben sollte.
Mit der Arbeit lief es ganz gut, auch wenn ich immer wieder das Projekt wechseln musste. So ist das wohl in einem so großen Call-Center. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen. Bei den Projekten wie auch bei den Mitarbeitern.
Ich weiß nicht mehr genau, ob es auch 2005 oder erst 2006 war, als eine weitere Tante meiner Freundin verstarb. Natürlich überraschend, wie sollte es anders sein.
Ansonsten kehrte etwas Ruhe ein, bis 2007.
Ohne Vorwarnung trennte sich der Freund von Renee von ihr und es folgten einige unschöne Wochen. Ich möchte nicht näher darauf eingehen, doch man kann durchaus von einem Rosenkrieg sprechen. Ich habe Renee selten so verzweifelt erlebt. Ich konnte nicht viel tun als einfach für sie da zu sein und sie zu unterstützen. Sie musste sich ganz plötzlich eine eigene Wohnung suchen, alles renovieren und Möbel kaufen. Ihre Eltern kamen angereist und halfen uns bei der Wohnung. Während sie bei ihrer Tochter waren, fuhr ich meinen Vater besuchen. Als ihre Eltern wieder abfuhren, kam ich zurück. Nie ließen wir Renee allein. War wohl auch besser so. Auch ihr großer Bruder kam und half bei der Renovierung. Gleichzeitig jedoch verlor Renee ihre Arbeit und sie hatte so langsam keine Motivation mehr, in Bayern zu bleiben. Sicher, das konnte ich verstehen. Auf der anderen Seite jedoch war ich ihr gefolgt und wenn sie jetzt ging…
Ich hatte hier neue Freunde gefunden und wollte eigentlich nicht weg, doch im November 2007 geschah etwas, was mich knapp zwei Monate später anders entscheiden ließ.
Typischerweise wurde die wohl größte Katastrophe in meinem Leben mal wieder von einem Telefonat eingeläutet. Ich war gerade auf Arbeit und ging schnell auf die Toilette, da wir im Großraumbüro nicht ans Handy gehen durften. Es war meine Schwester und wieder fielen die Worte: Setz dich bitte.
Tja, diese drei Worte stehen für mich nur für Unangenehmes.
Ich hielt mir das Handy ans Ohr und hörte nur noch die Worte: Papa ist tot.
War vielleicht ganz gut, das ich nicht in der Teeküche stand, denn dann hätte ich wohl das ganze Büro zusammengeschrien. Ich setzte mich einfach auf den Boden und heulte wie ein Schlosshund. Eine Arbeitskollegin, mit der ich privat befreundet war, fand mich dort vor. Ich konnte ihr nicht sagen, was passiert war, ich reichte ihr einfach das Handy weiter. Sie sprach mit meiner Schwester und brachte mich anschließend zum Projektmanager, dem sie dann die Situation erklärte. Diese informierte umgehend unsere Betriebsrätin. Man entschloss sich dazu, dass sie mich mit den Auto nach Hause fuhr, denn nun wollte man mich nicht allein lassen.
Zu Hause würde dann Renee sein, die schon seit ein paar Wochen bei mir wohnte. Sie hatte zwar noch ihre eigene Wohnung, jedoch hätte sie Heizöl kaufen müssen und das Geld dafür fehlte. Mich störte das nicht.
Sie kannte meinen Vater natürlich gut und nun musste ich ihr sagen, dass er nicht mehr lebte. Ich hatte das Gefühl, an einem Abgrund zu stehen. Ich hatte ihn dieses Jahr nur einmal besuchen können und fand es einfach nur ungerecht.
Jetzt musste ich mich um alles kümmern. Ich fuhr umgehend nach Berlin, die Bahn stand kurz vor einem Streik, und meldete mich bei der Polizei. Dort teilte man mir mit, dass mein Vater an Herzversagen verstorben war und man händigte mir die Wohnungsschlüssel aus. Ich erledigte alle Behördengänge, besprach mit dem Institut die Beerdigung und fuhr dann zurück. Mitte Dezember kehrte ich zusammen mit Renee nach Berlin zurück, denn sie begleitete mich zur Beerdigung.
Auch meine große Schwester war dort (ich hab ja zwei). Mit ihr hatte ich die letzten viereinhalb keinen Kontakt gehabt, doch der Tod meines Vaters brachte uns wieder zusammen. Zwischen Weihnachten und Neujahr wohnte ich bei ihr. Sie wohnt ebenfalls außerhalb der Stadt.
Anfang Januar, ein Bekannter meiner Schwester hatte mich wieder in die Stadt gefahren, stand ich auf dem Bahnsteig und wartete auf die U-Bahn. Es war der Bahnsteig, von wo ich früher, als ich noch bei meinen Eltern wohnte, immer abgefahren war und plötzlich kam mir ein Gedanke.
Ich will wieder dazugehören.
Nur dieser eine Gedanke, doch er sagte eigentlich alles. In Bayern hatte ich zwar Freunde gefunden, doch die Stadt war nie die meine geworden. Ich gehörte hierher, nach Berlin.
Natürlich fielen meine Freunde aus allen Wolken, als ich nach meinem Urlaub erklärte, dass ich in meine Heimatstadt zurückkehren würde. Ich kündigte die Wohnung und im Februar auch meine Arbeit. Im März dann stand der Umzug von mir und Renee zurück nach Berlin an. Ja, auch das taten wir gemeinsam. Ihre Brüder und ihr Vater halfen uns dabei. Es war nicht ganz einfach, in Berlin erwartete mich zunächst die Arbeitslosigkeit. Jedoch nur zwei Monate.
Leider passten im März nicht beide Haushalte in den LKW, so dass ich im Mai das ganze nochmals durchstehen musste. Ein ehemaliger Kollege und guter Freund zahlte zunächst den Umzugswagen und fuhr ihn auch. Stress pur, das kann ich euch sagen.
Am zweiten Tag zurück in Berlin, kam dann noch ein Schock hinzu. Ich musste eins meiner Meerschweinchen einschläfern lassen. Es hatte sich eine Lungenentzündung zugezogen.
Meine große Schwester musste ins Krankenhaus. Das Herz. Ich habe erst hinterher erfahren, wie schlimm es wirklich um sie stand, bzw. steht. Sie hatte einen Herzstillstand und musste wiederbelebt werden. Sie trägt nun einen Defibrillator und ist mittlerweile in Rente gegangen. Es geht ihr den Umständen entsprechend gut.
Nun, nach gut einem Jahr zurück in Berlin, sieht meine Situation wie folgt aus. Ich habe meine Arbeit nach einem Jahr wieder verloren, die Wirtschaftskrise machte auch vor mir nicht halt, doch ansonsten scheint das endlich mal mein Jahr zu sein. Ich muss mich nicht mehr alleine durchs Leben schlagen, ich habe das Singledasein endlich verlassen. Und ich werde im Oktober in den Urlaub fliegen.

Sicher, es gibt immer wieder Momente, in denen es mir nicht gut geht. Die wird es wohl immer geben, denn Zeit heilt nicht alle Wunden. Sie lässt sie nur weniger schmerzen.

Ich kann nur hoffen, dass mich das Schicksal ein wenig ausruhen lässt. Ich denke, verdient hab ich es mir.

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Tag der Veröffentlichung: 23.07.2009

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