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Genervt strich sie die Locke zurück, die ihr ins Gesicht gefallen war. Ohne viele Umschweife schien dieser jedoch nichts mehr zu gefallen, als erneut vor die Augen ihrer Besitzerin zu springen und dort im gleichen Rhythmus zu tanzen, wie sich Morgan bewegte.
Die Frau streckte und richtete sich auf. Die Sonne schien ihr prall auf den Rücken und der Schweiß lief ihr sturzflutartig hinab. Wie sie diese Zeit hasste! Und noch mehr verfluchte sie ihren Bruder, der sie einfach hatte sitzen lassen. Was fiel ihm eigentlich ein? Sie waren nur gemeinsam in der Lage die Zeit zu besiegen! Und außerdem; wieso musste er sie ausgerechnet hier zurück lassen?
Morgans Haut war von der Sonne gebräunt und ihre Hände rissig von der harten Arbeit, die ihr hier das Überleben sicherte.
Sie spürte jeden Tag mehr, wie sehr dieses Leben an ihr zehrte und sie wünschte sich nichts sehnlicheres, als endlich wieder in den Komfort der Zukunft flüchten zu können.
Im Grunde verstand sie es nicht. Wieso sollte Julius sie einfach so zurück lassen? Die Beiden waren bereits seit zwei Jahrhunderten zusammen durch die Welt und die Zeit gezogen, hatten in diesem und jenem Jahrhundert Kleinigkeiten verändert um ihren Vater zu verärgern und sich dann immer wieder zur Mutter geflüchtet, die als einzige in der Lage gewesen war, den Zorn ihres Erzeugers aufzuhalten.
Morgan und Julius liebten sich. Vielleicht mehr als Geschwister sollten, immerhin hatten sie schon die ein oder andere Nacht gemeinsam verbracht, aber sie waren sowieso bereits so unnatürlich und fremdartig, dass diese Eigenheit nicht weiter ins Gewicht zu fallen schien.
Nein, je weiter Morgan darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher schien es ihr, dass ihr Bruder sie einfach von heute auf morgen verlassen würde. Das passte einfach nicht zu ihm.
Ja, sicher. Sie hatten auch schon Jahre in einer einzigen Epoche verbracht ohne sich zu sehen, aber sie hatten sich gegenseitig wenigstens immer wissen lassen, was sie gerade taten.
Während Julius beispielsweise mit Darwin um die Welt gesegelt und die ein oder andere Idee in dessen Geist verankert hatte, war Morgan mehr als beschäftigt damit gewesen, Leopold Georg Christian Friedrich zum ersten König Belgiens zu machen, was ihr in dem Jahr, als ihr Bruder mit Charles Darwin aufbrach, endlich geglückt war. Sie, die Unbekannte, war daraufhin diejenige gewesen, die ihm jahrelang gut zugeredet hatte und durch welche er immer wieder versucht hatte ein Gesetz durchzusetzen, das die Arbeit von Frauen und Kindern regeln sollte. Sie waren jedoch nicht fähig gewesen, die Mehrheit des Parlaments für sich zu gewinnen, weshalb Morgan dann irgendwann aufgab. Man konnte eben nicht alles so schnell ändern wie man es gerne wollte.
Jedenfalls waren sie bereits voneinander getrennt gewesen, doch sie hatten sich immer geschrieben, in einer Sprache die für die damalige Zeit unverständlich war und geradezu kryptisch wirkte. Tatsächlich jedoch benutzten sie nur gängiges Deutsch des 21. Jahrhunderts.

Morgan rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn. Ihre geschundenen Glieder schienen bei jeder Bewegung zu ächzen und die Frau spürte wie ihre Jugend ihr entglitt.
Bald würde ihr Bruder doch ebenfalls merken, dass sich ihre Körper veränderten! Selbst wenn er in Saus und Braus leben sollte und keinen Finger rühren müsste; auch er würde feststellen, dass er ohne sie nicht mehr jung sein konnte. Und dann würde er sich sicher auf den Weg machen sie zu suchen und sie auf Knien anflehen ihn wieder aufzunehmen.
Morgan tröstete sich mit diesem Gedanken über all jene Fragen hinweg, die sie so intensiv quälten.
Im Moment sah sie jedenfalls aus als sei sie vielleicht dreißig Jahre alt. Sie fühlte sich jünger, auch wenn sie rein theoretisch gesehen schon über 200 Jahre alt war. Wie alt genau vermochte sie nicht mehr zu sagen und es war auch nicht wichtig. Ihr Bruder jedenfalls war jünger als sie.
Murrend machte sie sich wieder an die Arbeit das Unkraut auszureißen, das sich auf dem Feld angehäuft hatte. Die Familie, bei der sie untergekommen war, behandelte sie so gut, als sei sie ein vollwertiges Mitglied, was wohl auch daran lag, dass Morgan ausgezeichnet unterhalten konnte und das auch gerne tat. In langen Winterabenden, wenn der Schnee die ruhenden Äcker bedeckte, dann sang sie für die Bauern. Es war von Vorteil die Tochter einer Harpyie zu sein, auch wenn nicht alle Merkmale an sie übergegangen waren.

Harpyien waren sehr zwiespältige Wesen.
Zum Einen konnten sie Menschen mit ihrem Gesang dazu bringen alles zu tun, was sie wollten, zum Anderen bedeutete das natürlich auch, dass sie sie zum Mord oder Selbstmord verleiten konnten. Wahre Harpyien waren nur weiblichen Geschlechts. Sie brauchten, um sich fortpflanzen zu können, einen Menschenmann. Dieser musste im Grunde nicht einmal einverstanden sein, doch Harpyien pflegten so lange zu warten, bis sie den perfekten Partner gefunden hatten. Das jedoch war auch ihre größte Schwäche, denn Harpyien waren unheimlich anfällig für Liebeskummer. Wenn sie sich in einen Menschenmann verliebten, dann wurden sie Furien wenn die Liebe in die Brüche ging. Und manche verstarben an gebrochenem Herzen indem sie sich so sehr wünschten tot zu sein, dass dieser Wunsch schließlich in Erfüllung ging. Das war auch der Grund, weshalb sich in den letzten Jahren immer mehr der seltenen Wesen soweit zurückgezogen hatten, dass sie nicht in Gefahr gelaufen waren, sich verlieben zu müssen.
Eine Harpyie zu töten war schwierig. Starb sie nicht daran, dass man die Wesen tötete, die sie liebte, so musste man sie anderweitig dazu bringen, ihren eigenen Tod herbei zu sehnen. Doch da man Harpyien sehr selten so verletzen konnte, dass sie sich aus vollem Herzen wünschten, Tod zu sein und somit wirklich starben, gab es kaum Erfolgsgeschichten.
Wahre Harpyien hielten stark an ihren Rollen fest. Sie waren loyale und treue Wesen, die, einmal einer Aufgabe zugewiesen, alles taten, um zu erfüllen, was sie versprochen hatten. Sie waren jedoch auch sehr stur, aufbrausend, energisch, stark eifersüchtig und sie übertrieben gerne.
Früher war es die Aufgabe der Harpyien gewesen, die Toten daran zu hindern ins Reich der Lebenden zurückzukehren und die Lebenden vom Reich der Toten fernzuhalten. Manche von ihnen, die jüngeren oder solche, die abgelöst worden waren, hatten sich auch mit vielem anderen beschäftigt. Beispielsweise waren es Harpyien gewesen, jedoch unter dem menschlichen Namen der Sirene, die Schiffsreisende dazu gebracht hatten, an Klippen zu steuern und die somit viele Menschenleben beendet hatten. Es war beinahe zu einer Art vor Sport geworden, das zu tun.
Harpyien waren jedoch mittlerweile so selten, dass der Glaube an sie und auch die Angst vor ihnen schon beinahe ausgelöscht worden waren.
Die Mutter Morgans, eine wunderschöne Harpyie mit Namen Arcadia, war eine jener Harpyien gewesen, die bereits geliebt hatten und deren Herzen stark genug waren, um die Rückschläge, die für andere Lebewesen viel leichter zu verkraften waren, einzustecken.
Ihre große Liebe, damals vor 1300 Jahren, war auf See umgekommen und beinahe wäre Arcadia das gleiche Schicksal ereilt, wie vielen ihrer Schwestern. Sie jedoch hatte ein Kind zu versorgen gehabt und sie war nicht in Kummer und Mitleid versunken, sondern hatte ihre Energie darauf gerichtet, dem Menschenkind, dem leiblichen Sohn ihres Geliebten, das beste Leben zu geben, das möglich war.
Heute noch gibt es Referenzen über ihren Ziehsohn; Saelred von Essex.
Als dieser König in hohem Alter starb, so hatte Arcadia wenigstens gewusst, dass sie die Liebe ihres Lebens stolz gemacht hätte und sie hatte die Kinder und Enkelkinder ihres Ziehsohnes ihre eigenen Wege gehen lassen, wobei sie nur selten einen Blick auf deren Wohlergehen gelegt hatte.
Knapp 1100 Jahre später hatte Arcadia Temteiu kennen gelernt. Ein Gott, wie die Menschen ihn wohl beschrieben hätten und eigentlich ein Wächter über die Zeit. Temteiu verliebte sich abgöttisch in Arcadia und wollte ihr alles zu Füßen legen, was er hatte. Jeder anderen Frau hätte er ewige Jugend geschenkt, doch Arcadia, die diese bereits durch ihre Abstammung besaß, verlangte anderes; endlich wollte auch sie Mutter sein.
Sie wusste, dass sie etwas tat, das für Hapyien mehr als ungewöhnlich war. Sie war sich nicht einmal sicher ob es überhaupt klappen konnte; immerhin ging es hier nicht um einen normalen Sterblichen.
Sie wurde jedoch trotz allem schwanger und Temteiu, der bis dahin noch überhaupt keine Kinder gezeugt hatte, zum Einen aus Angst vor der Macht eines möglichen Konkurrenten, zum Anderen aus Unwillen, war doch aufgeregt. Er liebte Arcadia und er liebte das ungeborene Kind.
Morgan wurde auf einer sehr besonderen Insel geboren.
Harpyien setzten alle Macht die sie hatten frei, wenn sie ein Kind gebaren. Es war gefährlich und Furcht erregend und jene, die das Unglück gehabt hatten, dabei zu sein und diese Erfahrung überlebt hatten, konnten von Stürmen und Lärm berichten, vom Krachen und Donnern, von Geschrei und gefühltem Schmerz.
Diese Geburt jedoch übertraf alles, was die Insel bisher gesehen hatte. Morgan, die Tochter einer Harpyie und eines Wächters der Zeit, hätte beinahe die gesamte Erdkruste aufgebrochen als sie geboren wurde. Soviel Macht war durch sie und die Mutter geströmt.
Temteiu war nicht dabei gewesen. Er hatte gewusst, dass Arcadia sich für die Geburt des Kindes würde alleine zurückziehen müssen, doch selbst er, der am Festland gewartet und die Insel von seinem Standort nicht einmal schemenhaft hatte erkennen können, spürte die irrsinnige Druckwelle, die aus der bestimmten Richtung kam.
Voller Angst war er an die Insel gefahren als sich die Stürme gelegt hatten. Er hatte eine komplett erschöpfte Arcadia und ein kleines Mädchen vorgefunden.
Voller Liebe hatte er das Kind gehalten und Arcadia umsorgt.
Doch die Harpyie hatte es nicht ertragen, ihre Tochter in den Armen Temteius zu sehen. Sie war komplett auf das Kind fixiert und beschloss, fortzugehen. Morgan war ihre Liebe, war ihr Leben.
Jahre später, wobei nicht sicher ist wie lange es wirklich her war, trafen die Beiden wieder auf einander. Morgan, deren Entwicklung durch das Blut, das durch ihre Adern floss, verlangsamt war, war noch immer ein kleines Kind und sie erkannte ihren Vater nicht, als sie ihn sah. Er war krampfhaft bemüht, Arcadia zum Bleiben zu bewegen, doch er, ein Wächter, konnte keine Harpyie festhalten.
Die Beiden verbrachten jedoch dennoch eine Nacht zusammen und das war die Entstehungsstunde Julius’.
Bis vor hundert Jahren, hatte Temteiu keine Ahnung gehabt, dass er Vater eines Sohnes geworden war.
Die Geburt des Buben, war anders verlaufen, als die des Mädchens. Es war eine stille, heimliche Geburt gewesen und obwohl auch sie auf der bestimmten Insel stattgefunden hatte, waren keine Stürme über die Klippen gefegt. Soweit Arcadia wusste, hatten bisher nur so wenig Herpyien Söhne zur Welt gebracht, dass ihre Sprösslinge gejagt und gleichzeitig gefürchtet waren. Doch sie wusste, dass sein Vater kein gewöhnlicher Sterblicher war und so tat sie etwas, das auch ihr das Leben hätte kosten können.
Sie stellte sich den anderen Harpyien und ließ sie entscheiden. Natürlich war es klar, dass sie kämpfen würde, wenn die Entscheidung negativ ausfallen würde, aber sie wollte zumindest erfahren, ob ihr Sohn in dieser Welt anerkannt war oder ob sie ihn, zu seinem eigenen Schutz, an seinen Vater übergeben würde müssen.
Es rettete ihn die Tatsache, dass er nicht von einem Menschen abstammte. Dadurch genoss er die Immunität der Wächter und, obwohl ein wenig verängstigt angesichts des anderen Geschlechtes, nahmen sie ihn in den Stamm der Harpyien auf.
Bald war klar, dass die Sorge unbegründet war. Julius war nicht zu mehr fähig als seine Schwester. Wenn überhaupt, dann war sie die Stärkere. Vor allem aber zeigte sich das im Wesen der Geschwister. Sie kam ganz nach einer Harpyie, war willensstark und kampfeslustig. Er hatte mehr von seinem Vater, eine ruhige Art und einen klugen Kopf, der Entscheidungen gerne zweimal überdachte; untypisch für Harpyien.
Natürlich aber bemerkte man, als sie in ihrer Entwicklung ungefähr den Stand menschlicher Teenager erreicht hatten, dass sie auch von ihrem Vater einige Eigenschaften mitbekommen hatten.
Doch dazu später.

Morgan war natürlich schneller als ihre menschlichen Arbeitskollegen. Es fiel ihr leicht, die Pflanzen vor Unkraut zu bewahren, doch sie merkte jeden Tag wie ihre Kräfte mehr und mehr denen der Menschen glichen. Das hatte auch etwas damit zu tun, dass ihr Bruder und sie getrennt waren. Wie nervtötend das doch war!
Irrwitzigerweise war es der Vater gewesen, der den Kindern diesen Nachteil angeeignet hatte. Er war es gewesen, der in einer Stunde des Zorns gemeint hatte: „Wenn ihr doch so gerne zusammen seid, dann seid es gefälligst immer!“
Daraufhin hatte sich die Mutter beschützend vor ihre Kinder gestellt, doch es war bereits zu spät gewesen.
Oh, wie sie mit ihm gestritten hatte! Sogar zu ihrem anderen Ich war sie geworden, sprich, sie war zu der Gestalt geworden, die die meisten Menschen als Harpyie bezeichnen würden; eine Art Vogel, doch kräftiger und mit einem Ansatz an menschlichem Körperbau.
Immerhin hatte das den Vater so eingeschüchtert, dass er den Fluch soweit gelöst hatte, dass sich die Beiden trennen konnten, wenn sie wollten, doch er hatte dabei ausgelassen, dass sie ihre vollen Kräfte nur dann benutzen konnten, wenn sie zusammen waren. Es hatte damit erreichen wollen, dass sie ihm nicht mehr so viele Streiche spielten, denn er hatte damit gerechnet, dass sie ohnehin nicht immer getrennt sein würden.
Jedenfalls verfluchte Morgan ihren Erzeuger in solchen Zeiten immer besonders gerne.

Irgendjemand rief ihren Namen. Die halbe Hapyie blickte auf und sah, dass Janosch auf sie zukam. Der Junge hatte ein strahlendes Lächeln, wenn ihm auch bereits jetzt schon der ein oder andere Zahn fehlte. Er wäre in der Zukunft sicher ein äußerst attraktiver junger Mann gewesen, doch in dieser Zeit musste jeder Abstriche machen.
„Morgan, Morgan!“
Er hatte eine kindliche Stimme, die hin und wieder brach und erahnen ließ, dass er einmal einen tiefen Bass hören lassen würde. Sollte er über sein 17. Lebensjahr hinwegkommen natürlich. Wahrscheinlicher jedoch war, dass der Lehnsherr ihn in seinen Streitkräften sehen wollen würde.
Jetzt war er jedoch noch der 15-jährige Junge des Hofes, der auffällig oft um Morgan herumschlich.
Sie mochte ihn gerne, auch wenn sie sich zwang nicht so menschlich zu werden, dass sie anfing, sich Sorgen um ihn zu machen. Er war nur ein Mensch, immerhin. Und sie war eine Harpyie.
„Morgan! Komm schnell! Da ist jemand der dich sehen will!!!“
Er war außer Atem und stützte sich auf seinen Beinen ab als er sprach. Anscheinend hatte er sich wirklich beeilt, um sie so schnell wie möglich zu erreichen. Das spitzbübische Lächeln jedoch, war nicht aus seinem Gesicht verschwunden.
„Ach?“ fragte Morgan und ihr Blick glitt über das Gebäude. Wer konnte etwas von ihr wollen?
Es kam ihr der Bruder in den Sinn. Sollte jener, über den sie gerade so sehr sinniert hatte, endlich eingesehen haben, dass er hier eine Schwester hatte, die ihm früher oder später eine ordentliche Tracht Prügel verpassen würde? Besser früher als später!
Sie lächelte Janosch an und trat dann mit ihm den Weg zum Hofe an, wobei sie die Zeit nutzte um sich zurechtzulegen, was sie diesem untreuen Kerl an den Kopf werfen würde. Er war immer schon schwächer gewesen als sie und sie wussten es beide.
Janosch sprang beinahe aufgeregt neben ihr her. Wie sehr sich die Jugendlichen doch voneinander unterschieden wenn sie nur ein Jahrhundert voneinander geboren worden waren!
„Wer ist es Janosch?“ fragte sie dann doch, denn sie merkte wie sehr er darauf brannte ihr etwas zu erzählen.
„Ein edler Herr, Morgan! Er hat ganz ausdrücklich nach dir verlangt! Er hat gesagt es sei dringend und dann hat er mit seinem Reisebegleiter gesprochen und...“ er stockte, „Ich wollte wirklich nicht lauschen!“ seine Mimik wurde ernst, „Ehrlich nicht, aber ich stand eben so da...“
„Ist schon gut Janosch. Sag mir was die Herren besprochen haben.“ Innerlich musste Morgan schmunzeln.
„Also, der edle Herr hat zu seinem Reisebegleiter gesagt, dass er ewig nach dir gesucht habe und dass er es nicht fassen könne, dich ausgerechnet hier gefunden zu haben. Ich denke nicht, dass das besonders schmeichelnd gewesen sein sollte.“ Er lachte sein kindliches Lachen und auch Morgan musste lächeln. Das sah ihrem Bruder wieder ähnlich!
Julius war immer schon ein wenig mehr jemand gewesen, der sich auch in der Vergangenheit mit hoch gestellten Persönlichkeiten umgab. Er mochte Armut nicht und interessierte sich auch nicht dafür, wie Menschen in den weniger hoch gestellten Schichten lebten. Anders als Morgan, die ihre Erfüllung immer mehr dort suchte, wo Menschen ihre Hilfe brauchten, die sie sich nicht leisten konnten. Sie empfand kein Mitleid, aber zumindest eine Art von Drang denen ein besseres Leben zu bescheren, die es charakterlich verdient hatten. Damit meinte sie jedoch nicht, jedem Landstreicher zu einer Krone zu verhelfen, sondern einfach nur alles zu tun, um ihnen ein halbwegs gutes Überleben zu sichern. So, wie sie es auch an diesem Hofe getan hatte.
„Wer könnte das wohl sein?“ fragte Janosch dann in die sich ausbreitende Stille. Er lächelte wieder, aber es wirkte ernster. Vielleicht machte er sich ja Sorgen, dass sie gehen würde?
Sie hatte immer gewusst, dass sie eines Tages aufbrechen würde. Aber je länger sie blieb, desto schwerer fiel es ihr, immer, die Menschen, die sie begleitet hatte, zu verlassen. Da hatte es Julius leichter, denn er ließ sich auf die Sterblichen niemals so ein wie sie.
„Ich weiß es nicht, Janosch. Vielleicht jemand der mich auf dem Markt gesehen hat und nun gerne heiraten möchte! Dann werde ich Prinzessin und all das gehört mir!“ sie lachte das glockenhelle Lachen, das den Harpyien zu Eigen war und Janosch grinste nur noch selig vor sich hin.
Die Beiden erreichten den Hof und Morgan konnte Maria, die kleine blonde Tochter der Magd, sehen, die aufgeregt die Zügel zweier Pferde hielt, die bereits von weitem nach Reichtum aussahen. Sie hatten schöne Halsbeugen und kräftige Beine. Die Hufe waren beschlagen und die Tiere hatten gesundes, glänzendes Fell. Sie wiesen auf den ersten Blick keinerlei Anzeichen einer Krankheit oder eines Unwohlseins auf. Es mussten einfach Pferde aus königlicher Zucht sein und somit sicherlich Julius gehören.
Morgan war sich bewusst, wie sie aussah. Sie hatte schon seit Tagen keine Gelegenheit gehabt sich ausführlich zu waschen und ihre Haare waren schon seit Wochen nur in einem Knoten nach hinten gebunden. Sie hatte erste Falten und raue Hände. Außerdem war ihre Haut knusprig braun gebrannt, was in dieser Zeit, anders als im 21. Jahrhundert, nicht als schön galt. Sie persönlich fand es nicht schlimm, aber sie wusste, dass ihr Bruder immer eher mit dem jeweiligen Strom schwamm, auch um sich besser anpassen zu können.
Die Bäuerin huschte gerade aus dem Haus, als sie abrupt stoppte und Morgan mit großen Augen ansah. Sie wich einige Schritte zurück und verbeugte sich vor ihr.
Genervt winkte Morgan ab. Ihr Bruder hatte es eindeutig übertrieben! Sie hatte keine Ahnung was er ihnen erzählt hatte, aber es sah so aus als sei ihre Zeit hier eindeutig zu Ende.
Morgan lächelte Janosch und die Bäuerin noch einmal knapp an und bückte sich dann um durch den niedrigen Türrahmen hindurch gehen zu können.
Beinahe stieß sie mit einem fremden Mann zusammen, der im Eingangsbereich stand. Er musste die Begleitperson sein und so nickte Morgan ihm knapp zu.
Er deutete auf den Essbereich und sie nickte nochmals und duckte sich um sich auch diesmal nicht zu stoßen.
Anstatt ihres Bruders jedoch, fiel ihr Blick auf einen jungen Mann in edlem Gewand. Er hatte verkrampft auf einem Stuhl gesessen und war sofort aufgestanden, als sie eingetreten war.
Sein Blick verriet, dass er nicht gewusst hatte, auf wen er treffen würde, und wahrscheinlich jemand anderen erwartet hätte.
„Morgan Fugal?“ fragte er dann zweifelnd in den stillen Raum, in dem sonst nur der Bauer gesessen hatte, der ebenfalls aufgestanden war, als er gesehen hatte, dass der Fremde das zu tun pflegte, wenn eine Frau den Raum betrat.
„Ja.“ Morgan nickte und zweifelte mittlerweile ein wenig daran, dass ihr Bruder diesen Mann geschickt haben könnte. Sicherlich hätte Julius ihn doch angewiesen, erst dann zu sprechen, wenn sie alleine waren. Immerhin hätte es doch sein können, dass Morgan einen ganz anderen Namen benutzte, seit sie hier lebte. Immerhin stimmte der genannte Nachname mit dem Codewort überein, das sie sich ausgemacht hatten, wenn sie Briefe schrieben oder Boten schickten.
„Ich wurde angewiesen, Euch diesen Brief zu übergeben!“ Der Mann überreichte ihr einen Umschlag mit einem königlich wirkenden Siegel. Wenn sie ehrlich war, so hatte sie nicht sehr aufgepasst, wer gerade an der Macht war, doch ihre Erfahrung hatte sie gelehrt, zu erkennen, dass eine bestimmte Form oder ein bestimmtes Tier eher königlichem Blute zuzuordnen war.
Morgan sah auf und versuchte die verkrampfte Haltung des Mannes zu deuten. Er sah ihr nicht ins Gesicht und seine Hände waren hinten verschränkt, womit er zu kompensieren versuchte, dass er Angst vor ihr hatte.
Morgan hob eine Augenbraue und brach das Siegel. Sie setzte sich und versuchte die geschriebenen Worte im Schein des Feuers zu entziffern. Auch so ein Nachteil dieser Zeit; kein elektrisches Licht.

„Morgana Arcadia Ilionora,“
Sie hielt inne. Wer konnte, außer ihrem Bruder, ihren ganzen Namen wissen?
„Wie Ihr wisst, ist Euer Bruder bereits seit Jahren abgängig. Wir, die Vereinigung der Wächter möchten unsere Mitglieder schützen und können doch mit diesem Anliegen nicht zu Eurem Vater gehen, der momentan dem Ruf eines anderen Wächters gefolgt war, einen Riss zu schließen. Noch mehr Unordnung in unseren Gefilden würde den Menschen jedoch auffallen, weshalb wir uns also an Euch wenden. Wir wissen, dass ihr nur die Hälfte der Kräfte benutzen könnt, die Euch zustehen. Diesem Zustand können wir zumindest in kleiner Form abhelfen.
Der junge Mann, der euch diese Nachricht überbracht hat, wird euch auch eine Halskette überreichen. Sie hebt, solange Ihr sie tragt, die Wirkung der Macht Eures Vaters auf.
Euer Bruder hat uns vor Jahren um eben eine solche Kette gebeten. Da wir nicht einverstanden mit dem Fluche Eures Vaters gewesen waren, haben wir ihm eine anfertigen lassen. Er bestellte eine Zweite für Euch und in der Zwischenzeit wollte er seine neue Freiheit genießen. Wir haben jahrelang auf seine Rückkehr gewartet, doch wir wussten, dass Ihr mittlerweile altern würdet und keine Chance hättet, in die Euch vertraute Zeit zurückzukehren. Deswegen haben wir uns entschieden, Euch auf eigene Kosten zu suchen und Euch zu geben, was wir auch Eurem Bruder anvertraut haben.
Nun bitten wir Euch, Euren Bruder zu suchen.
Wir, die wir Posten dieser Zeit sind, möchten Euch außerdem ansuchen, den jungen Mann mitzunehmen, den Ihr eben kennen gelernt habt.
Jean-Jacques Arnaud ist ein junger Mann höheren Adels, der uns von seinen Eltern anvertraut worden ist um uns zur Seite zu stehen, in dem er zu Papier bringt, was er an der Seite eines unseren Wächters sieht.
Wir wissen, dass Ihr, die Ihr von Arcadia abstammt, nicht das Wesen eines Wächters besitzt und auch keine Wächterin sein möchtet, doch Euer Bruder hatte sich bereit erklärt, für die Ketten zumindest hundert Jahre lang in unserem Dienste zu stehen. Ihr wisst wohl am Besten, dass er sich schlussendlich nicht vor dieser Verantwortung gedrückt hätte.
Wir sind in Sorge. Habt Ihr noch Fragen, so kann Jean-Jacques Arnaud diese wohl zumindest ansatzweise beantworten. Er steht seit Kindesbeinen an in unseren Diensten.
Mit den hoffnungsvollsten Grüßen,
Die Vereinigung der Wächter,
Armenelaaus“

Hätte sie nicht bereits gesessen, so hätte sich Morgan jetzt auf jeden Fall hinsetzen müssen.
Sie las den Anfang des Briefes dutzende Male.
„Wie Ihr wisst, ist Euer Bruder bereits seit Jahren abgängig... Wie Ihr wisst, ist Euer Bruder bereits seit Jahren abgängig... Wie Ihr wisst, ist Euer Bruder bereits seit Jahren abgängig...“
Nein, das hatte sie nicht gewusst. Wo war er, verdammt noch einmal!
Ihrer Miene war deutlich abzulesen, dass sie nicht wusste, was sie denken sollte. Sie war sogar so von den Gedanken an ihren verschwundenen Bruder abgelenkt, dass sie den Rest des Briefes nur undeutlich verstand.
Irgendwann jedoch ergaben mehr und mehr Worte einen Sinn. Kette? Was für eine Kette?
Morgan sah auf und blickte direkt in die Augen des jungen Jean-Jacques Arnaud. Oder zumindest des Mannes, den sie dafür hielt.
Er wirkte schüchtern und unsicher. Er senkte erneut so rasch er konnte seinen Blick, um dem ihren zu entgehen und auch der Bauer schien nicht zu wissen, wohin er zuerst blicken sollte.
Morgan überflog den Brief noch einmal und räusperte sich dann.
„Jean-Jacques Arnaud?“ fragte sie geradeaus. Der junge Mann atmete tief durch und hob dann den Kopf.
„Ja, Lady Fugal?“
Wie das klang! Beinahe hatte Morgana lachen müssen. Lady Fugal? Das musste ein schlechter Witz sein!
„Erstens, nenn mich Morgan und zweitens, hier steht etwas von einer Kette?“
Sie hatte den Jungen absichtlich mit Du angesprochen. Immerhin war sie doch um Etliches älter als er. Außerdem stand hier, dass sie ihn mitnehmen solle!? Sie hatte keine Ahnung wie sie so etwas anstellen sollte, doch wenn es wahr war, dann musste sie ihn wohl oder übel etwas länger in ihrer Nähe behalten und sie mochte es nicht, wenn sie die Menschen siezen musste, die sie täglich um sich hatte.
Der Junge fuchtelte aufgeregt an einer Tasche, die ihm unscheinbar am Gewand hing, herum. Der Bauer verfolgte diese Handbewegung mit aufflammendem Interesse. Er stand immer noch, doch war unbewusst etwas näher an den Fremden herangetreten. Es war etwas so menschliches, auf Angst zu vergessen, wenn es um etwas Wertvolles ging, dass Morgan sich ein Lachen verkneifen musste.
Jean schien von den gierigen Augen des Bauern nichts mitzubekommen und er zog endlich ein schwarzes Samtsäckchen heraus, dass er dann der Frau hinhielt, die wieder aufgestanden war und einen Schritt näher getreten war, wobei der Bauer sich eines Besseren besonnen hatte und zurückgewichen war.
Das Säckchen war schwarz und fühlte sich leicht an. Morgan öffnete es und eine goldene Kette fiel ihr in die Hand. Verzückt betrachtete sie den glänzenden Schmuck. Das Säckchen legte sie beiseite und sie musterte den Anhänger, der in Form eines Vogels war, der die Flügel gespreizt hatte und in den Krallen ein Stundenglas hielt. Doch trotzdem war er so zart und fein gemacht, dass man wohl Angst haben müsse ihn zu zerbrechen, wenn er nicht von Wächtern der Zeit geschmiedet worden wäre.
Beinahe ehrfürchtig öffnete Morgan das Schloss und sie wollte die Kette gerade umlegen, als ihr Jean zur Hilfe eilte, um diese Aufgabe zu übernehmen. Sie fand diese Höflichkeit sehr nett, auch wenn sie ihm in nächster Zeit wohl zeigen würde müssen, dass sie sehr gut auch auf sich selbst aufpassen konnte.
Sie spürt es sofort, als das Schloss zugemacht worden war. Sie konnte sich an das Gefühl des Verlustes erinnern, als ihr Vater ihr die Hälfte ihrer Kräfte geraubt hatte. Nun kehrten sie aus ihrem Innersten zurück und füllten sie aus. Es war unglaublich, wie frei sie plötzlich atmen konnte, wie sehr sie spürte, dass ihre Zellen zu altern aufhörten. Ihre Augen waren geschlossen und sie lächelte beinahe selig. Nichts ging über dieses Gefühl der Unsterblichkeit. Überhaupt nichts konnte jemals besser sein.
Morgan lachte und drehte sich im Kreis. Die Beschwerden in ihrem Rücken waren verschwunden und sie spürte wie ihre jugendliche Kraft zurückkehrte und ihre Haut sich mit jeder Sekunde jünger und gespannter anfühlte.
Es war immer so gewesen, wenn sich die Geschwister nach Jahren wieder in die Arme schließen hatten können, doch dann hatten sie es immer gemeinsam erlebt. Nun alleine zu sein und dennoch dieses Gefühl zu verspüren, war belebend und aufregend und so herrlich egozentrisch.
Morgan stoppte in ihrer Bewegung und öffnete, immer noch lächelnd die Augen. Jean sah sie flüchtig grinsend an, wandte sich jedoch ab als er ihren Blick bemerkte und der Bauer stand nur mit offenem Mund da.
Morgan blickte auf ihre Hände. Sie waren weich und geschmeidig, hell und ohne Schwielen. Ihr Blick fiel auf den großen Topf der über dem kleinen Feuer hing. Er war frisch poliert und spiegelte ein wenig. Morgan trat an ihn heran und bückte sich. Ihr Gesicht war, soweit sie es erkennen konnte, von jeder Falte befreit und auch die Narbe an ihrem Kinn, die sie sich vor drei Jahren bei der Arbeit zugezogen hatte, was verschwunden.
Ihre Haare waren außerdem wieder um etliches dunkler als sie es durch die tägliche Sonneneinwirkung gewesen waren.
An sich sah sie jung und gut aus. Glücklich richtete sie sich wieder auf.
Der Bauer hatte sich nicht von ihr abgewandt, aber sein Mund war immer noch offen vor Erstaunen und Ungläubigkeit.
Morgan wollte die Familie, die sie so offen aufgenommen hatte, nicht in diesem Zustand zurück lassen. Irgendwo hatte sie sie wohl wirklich in ihr Herz geschlossen.
Sie überlegte was sie sagen sollte, wie sie sie von der Tatsache abbringen konnte, dass sie gerade merklich um Jahre jünger geworden war.
Hinter ihr trat die Bäuerin aus dem Türrahmen. Sie musste ebenfalls mitbekommen haben, was eben geschehen war, doch im Gegensatz zu ihrem Ehemann, hatte sie ein Lächeln auf den Lippen. Sie musste sich gefangen haben und in ihr altes Wesen zurückgekehrt sein. Was sagte sie immer? Es war Gottes Wille, egal was geschah und sie mussten das Beste daraus machen. Menschen mit so standhaftem Glauben waren einerseits natürlich wunderbar anzusehen, doch dieser Glaube hatte auch seine Schattenseiten.
Nun jedenfalls verhalf er ihr dazu, dass sie eine Erklärung für sich gefunden hatte und augenscheinlich damit zufrieden war.
„Morgan, diese Kette sieht wirklich sehr gut aus! Bedank dich doch bei dem Herrn! Nun möchten wir unseren Gästen jedoch ländliche Gastfreundschaft nicht vorenthalten!“ Sie stockte und blickte auf ihren Mann.
„Albert! Mund zu! Janosch!“ Den Namen des Jungen hatte sie schon fast geschrieen, doch es wäre nicht nötig gewesen. Keine Sekunde später stolperte der Junge durch eine Tür hindurch und landete etwas unsanft auf seinen Händen. Schnell war er jedoch aufgesprungen und grinste sein unverwechselbares Lächeln.
„Zur Stelle Ma’am!“
„Sei nicht so wild Janosch!“ mahnte ihn die Bäuerin streng, „Nun, wir werden auftischen was wir haben um diesen hohen Besuch zu ehren. Hol alle die draußen noch arbeiten! Für heute soll kein Finger mehr gerührt werden!“
Morgan lächelte immer noch breit. Sie liebte diese Bäuerin beinahe. Die, die ihre Familie in so gutem Griff hatte, von deren Kindern vier überlebt hatten und die aufnahm, wer sich willig zu arbeiten zeigte. Sie war eine herzensgute Frau und der Grund gewesen, warum Morgan hier ihre Zelte aufgeschlagen hatte.
Jean räusperte sich hinter ihr. Sie drehte sich um und sah ihn freundlich an.
„Ich... Ich denke, wir sollten sobald wie möglich aufbrechen!“ sagte er dann so leise er konnte. Ihm war Respekt eingetrichtert worden. Vor jedem der die Zeit in der Hand hielt.
„Jean, Zeit spielt keine Rolle mehr! Vertrau mir!“ Sie sagte auch das leise. Immerhin konnte man nie wissen. Diese Gottesgläubigkeit und die Akzeptanz dieses „Wunders“ konnte schnell zu einem Glauben an Hexen werden und wer als Hexe galt, war, nun, nicht gerne gesehen.
Jean wirkte unglücklich. Sie hatte kurz Gelegenheit ihn sich anzusehen. Er war vielleicht 20 Jahre alt. Soweit sie feststellen konnte, hatte er noch alle Zähne und sah auch sonst gesund aus. Das wunderte sie allerdings nicht. Immerhin war in dem Brief gestanden, dass er seit Kindesbeinen an bei den Wächtern gelebt hatte. Wie konnte man bei jemandem aufwachsen, der im Prinzip alle Macht der Welt hatte und nicht gesund und munter sein?

Gerade wollte Morgan etwas zu ihm sagen, als beinahe die gesamte Belegschaft des Hofes in den Essbereich strömte. Einige von ihnen trugen bereits Tischtücher und Teller, doch sie konnten nicht aufdecken, solange der Bereich durch den Fremden und Morgan verstellt war.
Morgan erkannte das und geleitete Jean ohne Umschweife aus dem Weg. Neugierig sah er zu wie in rekordschnelle das Zimmer umgestaltet wurde um den Gast zu ehren.
Dafür, dass sie es hier mit einem mehr oder weniger einfachen Hofe zu tun hatten, waren die Zimmer klein und dunkel, doch der Essbereich wurde meist von allen gleichzeitig genutzt und war auch der Raum, der im tiefsten Winter als einziger genug Platz vor dem Kamin bot, damit alle es warm hatten. Es kam auch vor, dass die Mütter mit ihren Kindern hier schliefen. Einfach, weil es der wärmste Raum war.
Heute jedoch bot er fast nicht genug Platz um einen jeden unterzubringen, denn man wollte dem Gast so viel Platz wie möglich bieten und so versuchte man alle anderen auf engstem Raum zusammen zu setzen.
Morgan lächelte über so viel Emsigkeit. Das war etwas, das man niemals bekommen würde, wenn man sich immer nur mit den Hochgeborenen abgab.
Das brachte sie wieder zu ihrem Bruder und dem Brief zurück. Konnte es wirklich sein, dass sich die Gemeinschaft der Wächter Sorgen machte? Sie konnte sich das fast nicht vorstellen. Natürlich war es so, dass die Wächter bereits seit Jahrhunderten eine sehr weiche Seite an sich zeigten. Sie nahmen menschliche Kinder auf und erzogen sie in ihrem Sinne, sie übten Mitleid und waren dennoch nicht impulsiv. Sie machten sich wohl einfach schnell Sorgen wenn es um einen Nachfahren ging! Ja, so musste es sein.
Es kam ihr merkwürdig vor, dass sich die Gemeinschaft an sie wenden sollte. Sie schlug so sehr nach ihrer Mutter, dass es beinahe schon ein Wunder war, dass sie ihr ihre Kräfte nicht von sich aus genommen hatten. Eine Harpyie, die durch die Zeit springen konnte? Eigentlich nichts, was man freiwillig ermuntern sollte.
Julius war da anders. Er hatte sich schon früher für die Wächter interessiert und war ihnen ab und an gefolgt. Damals, als sie noch jeder für sich hatten reisen können.
Außerdem war er immer schon mehr derjenige gewesen, der ihre Streiche doppelt und dreifach durchdachte, bevor er zustimmte. Seiner Meinung nach durften keine Menschen zu Schaden kommen. Jedenfalls keine, die die Zukunft formen sollten. Dabei verstand er nicht, dass es die einfachen Menschen waren, die die Zukunft wirklich formten, nicht die wenigen Reichen.
Morgan war unbeschwerter. In ihrem Denken und in ihrem Handeln, doch je älter sie wurde, desto mehr wusste sie, dass sie ändern konnten was sie wollten. Im Grunde würden erstens die Wächter alles wieder so herum drehen, dass es war wie zuvor und zweitens konnten sie die Menschen nicht in ihrem Denken ändern, wenn gewisse Schritte nicht vollzogen waren. Aber, Morgan war sich zumindest soweit sicher, konnten sie einigen wenigen Menschen helfen zu überleben, solang sie die Harpyie aufnahmen und mit ihr Speis und Trank teilten. Dann sang Morgan gerne für sie, linderte Schmerzen und erfüllte, soweit es ihr möglich war, Wünsche.
Es versetzte ihr einen kleinen Stich als sie an all die Menschen dachte, denen sie nicht hatte helfen können, weil ihr Bruder weiterziehen wollte und es ohne sie nicht konnte.
Vielleicht hatte er ihr ja Zeit geben wollen und dabei selbst völlig vergessen, dass er schon jahrelang unterwegs war?
Morgan würde es wohl früher oder später herausfinden. Sie musste es einfach wissen! War ihr Bruder ohne ein Wort verschwunden, weil er eine Frau kennen gelernt hatte? Oder einen Mann? War er in einem Abenteuer, das unmöglich zu unterbrechen war? Oder war ihm etwas zugestoßen?
Es konnte natürlich so sein, dass er seine Kette verloren hatte und nichts anderes tun konnte, als zu hoffen und zu warten. Gestrandet... In irgendeiner Zeit? An irgendeinem Ort?
Der Gedanke war schrecklich!
Morgan hatte sich nie wirklich Sorgen um ihn gemacht. Sicher, damals, als er mit Darwin losgesegelt war und man nicht hatte sicher sein können, dass alle überlebten. Ja, da hatte sie sich Sorgen gemacht, aber sie hatte selbst genug zu tun gehabt und sie war außerdem damals noch jung genug gewesen, dass sie geglaubt hatten, sie seien unsterblich.
Mittlerweile war sie sich dessen nicht mehr ganz so sicher. Vielleicht waren sie eigentlich so sterblich wie jeder gewöhnliche Mensch? Vielleicht war es so, dass die Mischung zwischen Harpyie und Wächter eine tödlich menschliche war?
Morgan versuchte sich zusammen zu reißen. Wenn sie sich bisher keine Sorgen gemacht hatte, dann sollte sie sich auch jetzt nicht wahnsinnig machen.
Und außerdem war aufgedeckt worden und die Bäuerin hatte wohl alle Stricke gezogen um in der kurzen Zeit zu servieren, was sie finden konnte.

Das Essen war sehr gut und Morgan war stolz auf die Menschen, die sie in den letzten Jahren begleitet hatte.
Sie fühlte sich so jung und so berauscht von den Gedanken an das, was sie jetzt endlich tun konnte. Eine Dusche! Sie konnte ins 21. Jahrhundert zurück! Sie konnte Kleider tragen, die ihre Beine zeigten und T-Shirts, die bis zu ihrem Bauchnabel ausgeschnitten waren!
Morgan musste bei all den Gedanken, die sich um ihre Aufmerksamkeit zu streiten schienen, lächeln.
Doch was sollte sie mit Jean machen? Und nicht zu vergessen; wie sollte sie es mit ihrem Bruder regeln?
Noch hatte sie zu der Mission nicht Ja gesagt. Harpyien zu etwas zu zwingen, war so gut wie unmöglich, aber sobald sie von sich aus zugestimmt hatten, dann zogen sie es auch bis zum Ende durch.
Jean schien währenddessen lockerer zu werden, was wohl auch an dem Überfluss an Wein lag, den die Bäuerin aus des Bauern Privatvorrat hervorgeholt hatte. Dieser hatte nicht unbedingt viel zu sagen, vor allem wenn es um wichtigen Besuch ging.
Der junge Mann plauderte munter vor sich hin und die blonde Magd sah ihn mit offenen Augen bewundernd an. Morgan hob ein Glas an ihre Lippen und sah dem Spektakel zu. Wie menschlich!
Sie war in all den Jahren, die sie schon unter Menschen lebte, nie von den Eindrücken satt geworden. Immerhin war es wichtig, dass sie so menschlich wirkte wie nur irgend möglich und daher hatte sie versucht so schnell zu lernen wie möglich.
Zum Beispiel war ihr von Anfang an eingetrichtert worden, dass sie sich bewegen musste, auch wenn sie still sein sollte. Sie musste ihr Gewicht verlagern wenn sie stand, oder auch saß und sie musste sich ab und an durch die Haare fahren oder einen Juckreiz durch kratzen beseitigen. Das war wichtig, denn Menschen reagierten immer negativ, wenn sie sich unwohl fühlten. Oder bedroht. Oder beides.
Jean lächelte die Magd beinahe selig an. Morgan kam die Idee, dass der Junge zum ersten Mal neben einer hübschen jungen Frau saß. Sie würde ihn fragen, wenn sie losgezogen waren.
Morgan bemerkte, dass sich ihre Gedanken um die Mission zu winden begannen. Das war ein Teil ihres Harpyienselbst. Sie hatte wohl für sich bereits irgendwie zugesagt.
Das machte ihr keine Sorgen. Ihr konnte rein gar nichts passieren, solange sie die Kette trug, die ihr das volle Ausmaß ihrer Kräfte zurückgab.
Das Gewöhnen an diese Tatsache war auch sehr schnell passiert. Für Menschen wohl doch unverständlich und viel zu rasch, doch sie akzeptierte neue Tatsachen in atemberaubender Geschwindigkeit. Auch etwas, das sie von Menschen abgrenzte, deren Gehirne länger brauchten, um etwas so simples zu verarbeiten.
Morgan nickte dem Bauern zu und lächelte freundlich, als ihr ein weiteres Kompliment zu der Kette gemacht wurde. Beinahe tat es ihr Leid gehen zu müssen, aber Harpyien waren nicht dafür bekannt, Leid zu empfinden, weshalb sich Morgan zusammen riss und sich nur daran zu denken zwang, dass sie ihren Bruder suchen musste.
Nachdem sie einen Abstecher ins 21. Jahrhundert gemacht hatte natürlich! Außerdem hatte sie sicher einige Jahrzehnte verpasst und sie wollte sich ansehen, wie sich Internet und Telephonie entwickelt hatten.
Das war ein großer Nachteil des Zeitreisens; es ging nur in die Vergangenheit! Und je älter sie wurden, desto weiter konnten sie reisen. War sie also erst 100 Jahre alt und zum Beispiel im Jahre 1905 geboren worden, so konnte sie nur bis zum Jahre 2005 reisen, etc.
Das war eine Einschränkung, aber nichts Dramatisches. Mittlerweile war Morgan fast 12 Jahre hier gewesen und sie konnte es nicht erwarten zu sehen, wie es 2021 aussah.
Und ihre Mutter!
Ihre Mutter musste sich ebenfalls bereits Sorgen machen!
Natürlich war sie nie eine wirklich herzliche Harpyie gewesen, aber es ging hier trotzdem um Kinder, die mehr konnten, als die typischen Harpyientöchter. Und es ging auch um den einzigen Sohn einer Harpyie in aufgezeichneter Geschichte, der nicht gejagt wurde!
Nein, Morgan war nie eifersüchtig auf ihren Bruder gewesen. Dafür war sie die stärkere, schnellere und, ihrer Meinung nach, talentiertere der Geschwister. Dass sie weiblich war, sah sie dadurch nur als Vorteil, auch wenn es natürlich so war, dass sie sich in der menschlichen Welt den dominanten Männern unterordnen musste. Doch wieso auch nicht? Solange sie ihre eigenen Pläne verfolgen konnte, ohne gestört zu werden, machte es ihr nichts aus vor einem Mann die brave zarte Frau zu spielen. Wenn sie je erfahren würden, wer ihnen diesen oder jenen Brief zugespielt oder in ihre Pläne gefunkt hatte... Sie würden es ja doch nicht glauben.

Es wurde spät. Die Sonne war bereits untergegangen und die kleinen Kinder auf dem Schoss der Mütter eingeschlafen. Die blonde Magd hielt ihre Tochter in den Armen und wiegte sie hin und her, während sie immer noch mit Jean sprach. Sie hatte ihren Mann verloren, als sie schwanger gewesen war und sie sehnte sich wahrscheinlich nach männlicher Aufmerksamkeit, die sie vollkommen von Jean zu bekommen schien.
Morgan war nicht müde, doch sie wusste, dass sie und der junge Mann am nächsten Tag früh aufzubrechen hatten. Außerdem musste sie noch darüber nachdenken wie sie es bewerkstelligen sollte, einen Menschen mitzunehmen. Um ehrlich zu sein, hatte sie das noch nie versucht!
Sie wusste, dass es manche Wächter taten, um zukünftigen Königen die Auswirkungen zu zeigen, die ihre Regierungszeit hervorrufen könnte. Aber sie war keine ganze Wächterin! Wenn, dann würde sie es eher ihrem Bruder zutrauen als sich selbst.
Und das war eigentlich etwas sehr untypisches für sie.

Der neue Tag brachte den lang ersehnten Regen. Obwohl sich Morgan für die Bauern freute, die sich bereits Sorgen um ihre Ernte gemacht hatten, wäre sie doch lieber bei Sonnenschein gereist. Immerhin war sie sich immer noch nicht so sicher, wie ihr der Transport eines Menschen gelingen sollte.
Die Begleitperson Jeans war in der Nacht abgereist und hatte auch das zweite Pferd mitgenommen. Das ärgerte Morgan, denn sie hatte vorgehabt, es den Bauern als Abschiedsgeschenk zu hinterlassen.
Die Nacht war ruhig verlaufen. Morgan musste nicht mehr viel schlafen und war nach knapp zwei Stunden erholt aufgewacht. Harpyien waren dafür gemacht, lange Strecken zurückzulegen und stark und kräftig zu sein. Schlafen war ein Luxus, der ihnen in früheren Zeiten selten gegeben worden war. Bis heute waren sie die Wesen, die am wenigsten Schlaf brauchten. Manche der alten Wächter umgingen langen Schlaf auch, indem sie die Zeit anzuhalten vermochten.

Morgan hatte ihre Sachen gepackt und trug die Kleidung, die sie aus der Zukunft mitgebracht hatte. Das Kleid war aus einem schön verarbeiteten Stoff, der mit Nähmaschinen und nicht per Hand genäht worden war. Die Bäuerin war begeistert gewesen und hatte hunderte Male nach dem Schneider gefragt.
Unter diesem Kleid trug Morgan etwas Moderneres. Sie hatte keine große Lust noch viel länger diese schweren, stickigen Kleidungsstücke zu tragen. Vor allem nicht, wenn sie nicht musste.
Die junge Harpyie steckte den Brief der Wächter in die Tasche, die sie unter dem Kleid, aber über ihrer Jeans trug. Das war eine Sicherheitsmaßnahme. Wenn sie nämlich schlief, dann konnte man sie kaum aufwecken. Ihr Körper musste trotz allem aufholen, was er unter Tags an Energie verlor. Durch diese Tasche musste sie kaum befürchten, dass so wichtige Dinge wie ihr moderner Pass und ihr modernes Geld sowie nun auch der Brief und andere persönliche Dinge abhanden kommen würden.
Sie hatte Jean noch nicht gesagt wohin sie gehen wollte. Vielleicht hatten sie ja Glück und Julius war längst wieder in der Zukunft und wartete auf sie!? Dann würde er sich allerdings etwas anhören können!

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Tag der Veröffentlichung: 25.10.2009

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