Cover

Prolog

Stephanie Niemeyer baute sich in der großen Pause plötzlich vor mir auf und brüllte mir direkt ins Gesicht: „Mila! Du bist nicht nur dumm, sondern auch unglaublich hässlich!“
Ich schluckte, blickte einfach durch sie hindurch und setzte meinen Weg über den Pausenhof fort. Mein Vater hatte mir immer das Gleiche geraten: „Ignorier sie einfach, dann wird ihnen irgendwann langweilig und sie lassen dich bestimmt in Ruhe.“ Mehr Zeit, sich um meine Probleme zu kümmern, ließ ihm sein Job als Unternehmensberater leider nicht. Er war immerzu beschäftigt und ich wusste zwar, dass er den Job natürlich auch angenommen hatte, damit es mir an nichts fehlte, aber dafür fehlte er mir sehr. 

Mila, das bin ich. Mein Vater hatte mir diesen Namen gegeben, in Erinnerung an meine Mutter; er ist slawischer Herkunft und bedeutet „die Liebe“. Meine Mutter hatte die Entbindung nicht überlebt und mein Leben konnte nur durch großen medizinischen Aufwand gerettet werden.
Paps, der mich alleine groß zog, erzählte mir immer, dass ich ein extrem ruhiges Baby war. Und auch in meiner Kindheit und der gesamten Schulzeit war ich immer zurückhaltend und in mich gekehrt. 

Leider war mein Verhalten auch gefundenes Fressen für meine Mitschüler. Für sie war ich eine verstörte Außenseiterin. Doch anstatt mich zu ignorieren, hatte es sich die gesamte Klasse zur Aufgabe gemacht, mich ständig zu provozieren, um mir wenigstens eine winzige Reaktion zu entlocken. Ich ertrug es stumm und mit geistiger Abwesenheit, wenn sie mir ihre neuesten Gemeinheiten an den Kopf warfen.
Anscheinend hatte meine Strategie aber genau die gegenteilige Wirkung. Denn an einem Montagvormittag, als unsere Mathestunde ausfiel und wir von einer Lehrerin beaufsichtigt wurden, die ihre Motivation wohl jeden Morgen am Eingang abgab, trieben meine Mitschüler ihre Quälereien auf die Spitze. 

Alles begann damit, dass Bastian, der aussah, wie eine Mischung aus einem Gnom und einem besonders hässlichen Troll, sich mein Halstuch schnappte, es triumphierend hoch hielt und breit über sein pickeliges Gesicht grinste. Wortlos stand ich auf, um es mir zurück zu holen. Doch Bastian warf das Tuch seinem Kumpel Marc zu, der das schmutzige Waschbecken im Klassenzimmer damit auswischte. Ich schluckte die aufsteigende Wut hinunter und wollte mich resigniert wieder auf meinen Platz setzen. Doch so weit kam ich nicht, denn zwei andere Mitschüler packten mich an den Armen und drückten mir den Tafelschwamm ins Gesicht. Angewidert presste ich meine Lippen aufeinander und versuchte, mich aus ihrem Griff zu winden. Die Lehrerin saß auf ihrem Stuhl und betrachtete die Szene, ohne die Miene zu verziehen, oder ein Wort zu sagen. Ich schwieg weiter und ertrug die Demütigung. Doch als Mischa mich plötzlich zu Boden stieß, sich auf mich legte und versuchte, mir die Hose herunter zu ziehen, schrie ich!

Ich schrie so laut ich konnte und schlug panisch mit meinen Händen um mich. Tränen brannten in meinen Augen und ich konnte kaum atmen. Alle aus der Klasse hatten sich mittlerweile um uns versammelt, johlten und feuerten Mischa an. Mein Körper hatte sich vor Angst komplett versteift und ich weinte, aus purer Verzweiflung!
Wo ist diese bescheuerte Lehrerin und warum unternimmt sie denn nichts?!

Da ertönte eine gelangweilte Stimme vom Lehrerpult: „Warum hörst du nicht auf zu schreien Mila, vielleicht lassen sie dich ja dann in Ruhe.“
Mir wurde übel und die Zimmerdecke über mir, begann sich zu drehen.
In diesem Moment klingelte es zum Ende der Stunde. Mischa kletterte von meinem erstarrten Körper, schnappte sich seine Schultasche und verließ nach einem High Five mit seinem besten Kumpel den Klassenraum.

Ich lag immer noch auf dem Boden. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und ich hielt mit eisernem Griff meinen schmutzigen Schal an die Brust gepresst. Noch nie war ich so froh gewesen, die Schulglocke zu hören. Mein Atem ging stoßweise und ich war unfähig, mich zu bewegen.
Jemand packte mich an der Schulter und rüttelte an mir. „Mila! Mila!“

Ich schlug die Augen auf und blickte in das Gesicht von Monika. Sie war die einzige Mitschülerin, die mich in Ruhe ließ. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie auch nicht besonders beliebt war. Trotzdem waren die Anderen nicht annähernd so gemein zu ihr, wie zu mir. Verwirrt blickte ich sie an. Monika hielt mir ihre Hand hin. Ich ergriff sie und sie zerrte mich auf die Beine. Wortlos packte ich meine Siebensachen zusammen und verließ fluchtartig das Schulgebäude. Es war mir egal, dass ich Monika einfach ohne ein Wort stehen gelassen hatte und es war mir auch egal, was die Lehrer sagen würden. Ich wollte nur noch nach Hause! Zu Hause, das war der einzige Ort, an dem ich mich sicher fühlte. 

Dafür musste ich aber noch etwa eineinhalb Kilometer quer durch die Stadt laufen. Ich nahm die Leute um mich herum nur als verschwommene Farbkleckse wahr, denn die Tränen strömten mir in Sturzbächen die Wangen hinunter. Was bildete sich Mischa eigentlich ein?! Dieser Vollidiot! Es war sein Hobby, die vermeintlich Schwächeren nieder zu machen. Ich schämte mich so sehr, für das, was heute passiert war und betete, dass ich einfach tot umfallen möge. Wenn ich tot wäre, musste ich nicht mehr zurück auf diese Schule, in diese grauenhafte Klasse! Nein, noch besser! Mischa sollte tot umfallen – als Strafe für das, war er mir angetan hatte. Ein hämisches Lächeln huschte über mein Gesicht. Ich war so vertieft in meine Rachegedanken, dass ich kaum wahrnahm, wie ich die Haustür aufsperrte und eintrat. 

Mein Vater war natürlich arbeiten und unsere Putzfrau Frau Lennart hatte ihre Arbeit für heute schon beendet. Das Haus war ordentlich und blank geputzt, so wie es Paps am liebsten hatte. Mein Zimmer, in dem meistens die Wäsche verstreut auf dem Boden lag, war die einzige Ausnahme. Ich hatte lange mit Papa diskutiert, als ich ihm endlich klar machen konnte, dass Frau Lennart mein Zimmer nicht aufzuräumen hatte. Schließlich zuckte er mit den Schultern und gab nach. Ich wollte nicht, dass ein fremder Mensch in meinen persönlichen Sachen wühlte.

Als ich mein Zimmer betrat, fühlte ich, wie das beengende Gefühl in meinem Brustkorb langsam nachließ. Seufzend ließ ich mich rückwärts aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Als ich jedoch die Augen schloss, spielten sich vor meinem inneren Auge die schrecklichen Szenen von heute Vormittag immer und immer wieder ab. Ich legte meine Hände auf die Augen und rieb so lange, bis es schmerzte. Ich wollte diese Bilder nicht sehen! Die Wut keimte erneut in mir auf. Büßen sollte Mischa für das, was er getan hat! Gab es denn keine Gerechtigkeit auf dieser Welt?!

Um mich abzulenken, schaltete ich meine Stereoanlage ein und legte meine Lieblings-CD ein. Die ersten Töne erklangen und ich summte leise mit, während ich aufstand, zu meinem Schreibtisch tänzelte und meinen Zeichenblock rauskramte. Das Zeichnen war so eine Art Seelentherapie für mich – meine Art, mich auszudrücken. Ich kritzelte drauf los, ohne zu wissen, was ich da überhaupt zeichnete. Als ich den Stift beiseite legte und auf das Blatt blickte, erstarrte ich. 

Auf dem Papier erkannte ich zwei Menschen. Einer stand auf einer Brücke und blickte auf die zweite Person, die sich unter der Brücke im Wasser befand. Der Gesichtsausdruck dieser Person zeugte von Todesangst. Doch die Gestalt auf der Brücke lächelte nur und macht keinerlei Anstalten, den Ertrinkenden aus dem Wasser zu ziehen. Ich fröstelte, denn obwohl diese Zeichnung von mir stammte, hatte ich keine Ahnung, wie ich darauf gekommen war, so etwas zu malen. Hektisch riss ich das Blatt aus dem Zeichenblock, zerknüllte es und warf es in auf den Boden. Gruselig! Verunsichert räumte ich meinen Bleistift und den Block beiseite und holte mir ein Buch aus dem Regal.

Ich legte mich seitlich aufs Bett und begann zu lesen. Irgendwann musste ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich erwachte, war es draußen schon fast dunkel. Ich rieb mir die Augen und setzte mich steif auf. Meine Arme kribbelten, anscheinend war ich in einer ziemlich unbequemen Position eingeschlafen.

Ich lauschte kurz, um zu hören, ob Papa schon zu Hause war. Von unten ertönte gedämpftes Stimmengewirr gemischt mit Musik, wahrscheinlich saß er schon vor dem Fernseher. Ich schwang die Beine über die Bettkante und stand auf. Einen kurzen Moment wurde mir schwindelig, doch das Gefühl verschwand genauso plötzlich, wie es gekommen war. An der Treppe blieb ich kurz stehen. Die Stimmen waren nun deutlicher zu hören und ich fragte mich, was das wohl für ein Film war. Es hörte sich an, als säßen lauter fremde Leute in unserem Wohnzimmer. Langsam stieg ich die Stufen nach unten und hielt mich am dunklen Holzgeländer fest. Ein schwacher Lichtschein fiel aus dem Wohnzimmer in den dunklen Flur. Je weiter ich nach unten kam, umso lauter wurden die Stimmen.

„Papa?“ Vorsichtig lugte ich um die Ecke. Mein Vater saß auf der Couch und starrte auf den flimmernden Bildschirm. Sein Gesicht wirkte müde, als er sich von seinem Film losriss und mich anlächelte. „Hallo Schatz. Ich habe gesehen, dass du tief schläfst und wollte dich nicht wecken. Wie war dein Tag?“
„Hmmh, okay.“, erwiderte ich nur. Was sollte ich ihm auch schon erzählen. Er würde es nur wieder runterspielen und mir einen unnützen Rat erteilen. „Ich bin müde – ich gehe wieder schlafen.“, sagte ich und gähnte, um meine Müdigkeit zu unterstreichen. „Alles klar, gute Nacht Schatz.“, antwortete er mir, aber sein Blick war schon wieder gebannt auf den Fernseher gerichtet. 

Fröstelnd tapste ich die Stufen hinauf, als mir auf der Mitte der Treppe noch etwas einfiel. Ich schlurfte zurück und stand wieder auf der Schwelle zum Wohnzimmer. „Ach…Paps?“
„Hm?“
„Nächste Woche ist die Abschlussfeier in meiner Schule“, teilte ich ihm mit. Er blickte noch mal zu mir rüber, ich war mir aber nicht sicher, ob die Information überhaupt bei ihm angekommen war. „Okay.“, sagte er nur und wendete sich erneut der Flimmerkiste zu. „Vergiss es bitte nicht“, flüsterte ich im Gehen, wusste aber, dass er das nicht mehr hörte.

 

Eine Woche später: 

Ich saß angespannt auf meinem Bett und strich die Falten meines Rocks glatt. Mein Vater hatte mir extra Geld gegeben, damit ich mir für die Abschlussfeier etwas Schönes zum Anziehen kaufen konnte. Nervös malte ich mit dem Finger das Muster meiner Bettdecke nach. Er wird schon gleich kommen!, versuchte ich mich zu beruhigen.
Ich sprang auf und trat vor den Spiegel. Der Tüll meines Rockes raschelte leise und mein Herz klopfte wie wild. Unsicher überprüfte ich mein Spiegelbild. Hatte ich doch zu viel Make up genommen? Stand mir die Frisur überhaupt? Mit klammen Fingern versuchte ich, mittels einer Haarklammer eine störrische Strähne zu bändigen. Dann atmete ich tief durch, warf mir noch einen letzten Blick zu und beschloss, unten auf Papa zu warten. Vielleicht würden wir ja dann doch noch pünktlich zu meiner Abschlussfeier kommen. 

Ich setzte mich auf den antiken Sessel, der am Fuß der Treppe stand und starrte zur Haustür. So als wollte ich sie beschwören und ihr sagen, dass sie sich doch nun bitte endlich öffnen sollte und mein Vater auf ihrer Schwelle stehen würde. Doch nichts geschah. Auch weitere fünfzehn Minuten später nicht. Und auch nach einer halben Stunde nicht. Ich zitterte und war den Tränen nahe. Die Küchenuhr, die man von hier aus sehen konnte, zeigte sieben Uhr. Die Abschlussfeier hatte soeben begonnen. Ohne mich!
Wütend sprang ich auf und riss mir die Klammern aus den Haaren. Die Tränen brannten in meinen Augen. Er hat es tatsächlich vergessen!

Während ich hoch ins Bad rannte, löste sich die Wimperntusche mittlerweile unter meinen Tränen auf. Trotzig riss ich Klopapier ab und rieb mir die schwarze Suppe aus den Augen. Ich drehte den Wasserhahn auf und wusch mir mein Kunstwerk aus dem Gesicht. Die Kleider zog ich aus und warf sie achtlos auf den Boden. Ich schnappte mir meinen Bademantel vom Haken, hüllte mich darin ein und ging auf direktem Weg ins Bett. Die Enttäuschung und Wut, die in mir tobten, drohten wie hohe Wellen über mir zusammenzuschlagen. Ich biss in mein Kissen und schrie erstickt, während ich auf meinen Plüschbären einprügelte!

Irgendwann schlief ich erschöpft und mit schwarzen Heulspuren auf meinen Kissen ein und bekam  nicht mit, wie mein Vater sich ins Haus schlich. Als ich am Morgen erwachte, war er bereits wieder weg. Am Kühlschrank fand ich eine Nachricht von ihm:
Guten Morgen mein Schatz!
Es tut mir so leid, wegen gestern. Ich bin in einem Meeting festgesteckt, das bis weit nach Mitternacht gedauert hat. Heute gehen die Verhandlungen weiter. Der Kunde hat sich als sehr hartnäckig erwiesen, deswegen wird es heute sicher wieder spä…. 

Noch bevor ich zu Ende gelesen hatte, dass mein Vater heute wohl wieder erst in der Nacht heimkommen würde, zerknüllte ich den Zettel und warf ihn zornig in den Mülleimer, der in der Ecke stand. Ich bereitete mir ein Müsli zum Frühstück und machte mich dann auf den Weg in die Schule, um mir im Sekretariat mein Abschlusszeugnis abzuholen.

 

Winterkälte

Vier Jahre später:

Ich war guter Dinge. Vor ein paar Monaten hatte ich erfolgreich die Abschlussprüfung bestanden und ich musste zugeben, im Vergleich zu meiner Schulzeit könnte ich auf meine Ausbildung positiv zurückblicken. Ich hatte mich für eine Lehre als Hotelfachfrau entschieden und nicht, wie mein Vater es gerne gesehen hätte, ein Studium begonnen. Zwar waren meine Noten immer gut, aber die Lernerei machte mir einfach keinen Spaß.
Mein Arbeitsplatz war abwechslungsreich und ich durfte mit vielen netten Kollegen zusammenarbeiten. Hätte ich geahnt, dass sich innerhalb eines Abends alles ändern sollte, wäre ich wahrscheinlich zu Hause geblieben. 

Aber als ich in ein Handtuch gewickelt im Bad stand und mir die Haare fönte, freute ich mich auf die Weihnachtsfeier, die heute stattfand. Es war der 12. Dezember und draußen hatte sich eine dünne Schneedecke über die Stadt gelegt. Paps hatte versprochen, an den Feiertagen mit mir nach Berlin zu fahren, um Oma zu besuchen. Seit wir in München wohnten, sah ich sie leider nicht mehr allzu oft. Ich drehte das Badradio auf und trällerte „Rockin´ around the christmas tree“ mit. 

Meine Haare waren trocken und meine Wimpern getuscht, als ich in Unterwäsche vor meinen großen Schrank trat und überlegte, was ich anziehen sollte. Ich entschied mich für ein schlichtes, schwarzes Kleid mit nicht zu aufreizendem Ausschnitt, das mir bis zu den Knien reichte. Schnell noch eine schwarze Strumpfhose drunter gezogen und in die Stiefel geschlüpft – fertig. Aus praktischen Gründen beschloss ich, die Pumps mitzunehmen und erst auf der Feier anzuziehen.
Ich warf einen letzten Blick in die Spiegel und war zufrieden, mit dem Anblick, der sich mir dort bot. Mein rotblondes Haar fiel mir glatt über die Schultern und das Kleid saß perfekt. Ich schaltete das Licht aus und huschte die Treppe hinunter. Schnell noch das Schminktäschen in der Handtasche verstaut und ich war starklar. Papa schreib ich einen Zettel:
Wird sicher später heute, warte nicht auf mich! Kuss, Mila 

Ich trat hinaus in den eisigen Abend und beeilte mich, zur U-Bahn zu kommen. Zwar hätte ich auch mit dem Auto fahren können, aber ich war in Feierlaune. Vor mir lagen drei Wochen Weihnachtsurlaub und ich wollte nicht komplett darauf verzichten, mit den anderen anzustoßen. Also ging ich lieber auf Nummer sicher. Die U-Bahn Station lag zum Glück gleich um die Ecke und so war ich innerhalb von drei Minuten am Bahnsteig, als die Bahn gerade einfuhr. Ich trat ein und wohlige Wärme empfing mich. Ich ließ mich auf einem der Sitze in der Nähe der Tür nieder, denn ich musste nur drei Haltestellen fahren. Mein Handy piepte und ich kramte es aus der Tasche.

Hey Süße, viel Spaß auf der Party! Hätte dich heute zwar lieber bei mir gehabt…deine Küsse geschmeckt und deinen Körper gespürt…aber vielleicht sehen wir uns ja morgen? Kuss D. 

Ich rollte verzückt mit den Augen und mein Herz machte einen kleinen Sprung. David verstand es, mich mit solchen SMS nervös zu machen. Ich musste unwillkürlich an seinen mehr als ansehnlichen Körper denken. Die starken Oberarme, sein trainierter Bauch und der knackige Po…. Ein warmes Kribbeln machte sich in meinem Schoß breit und ließ die Schmetterlinge in meinem Magen heftig tänzeln. Mit einem Lächeln auf den Lippen steckte ich mein Handy zurück in die Tasche und trat an die Tür. An der nächsten Haltestelle musste ich aussteigen.

Es hatte wieder angefangen leicht zu schneien und ich beeilte mich, das angemietete Gebäude zu erreichen, in dem die Feier stattfinden sollte. Ich drückte die Tür auf und sofort umfing mich angenehme Wärme. Ich schälte mich aus meinem Mantel und tauschte die Winterstiefel gegen schwarze Pumps. Meine Tasche, den Mantel und die Stiefel gab ich an der Garderobe ab, ehe ich mich auf die Suche nach Anna machte.
Anna arbeitete wie ich an der Rezeption und war in den letzten Jahren zu einer guten Freundin geworden. Noch vor vier Jahren hätte ich mir nie vorstellen können, jemals eine Person meinen Freund oder meine Freundin zu nennen. Doch ich hatte mich sehr verändert in den letzten Jahren. Begonnen hatte das mit einem extremen Haarfarbenwechsel von rot-schwarz zu rot-blond.
Eines sei an dieser Stelle erwähnt: Es ist nicht ratsam, zu versuchen, sich in Eigenregie die Haare von extrem dunkel auf blond zu färben. Zwei lange Wochen hatte der Frisör nämlich benötigt, um aus Pumuklfarben ein gesellschaftstaugliches Rotblond zu machen. Anscheinend hatte die extreme Veränderung von Haarfarbe und Umfeld auch so etwas wie Selbstbewusstsein aus den unergründlichen Tiefen meiner Seele gelockt. 

Ich erblickte Anna, die sich gerade mit unserem Vorgesetzten unterhielt. Sie wandte mir in diesem Augenblick den Kopf zu und winkte. Ich lächelte und lief auf sie zu. Plötzlich versperrte ein Silbertablett meinen Weg. Eine Kellnerin fragte, ob ich ein Glas Sekt wollte. Ich nickte und nahm mir eins, ehe ich meinen Weg zu Anna fortsetze. „Hey Mila!“ Anna begrüßte mich, als hätten wir uns tagelang nicht gesehen und drückte mir links und rechts einen Schmatzer auf die Backe. „Hi“, erwiderte ich ihre stürmische Begrüßung. „Die Party ist ja schon im vollen Gange“, stellte ich fest und Anna nickte. Alle unterhielten sich angeregt und schlürften dazu Sekt. Das schien bei einigen zusätzlich die Zunge zu lockern. „Ja, ich bin aber auch gerade erst gekommen“, erwiderte sie und hakte sich bei mir ein. „Komm, wir holen uns was vom Buffet.“ 

Drei Stunden später war mein Magen so voll, dass ich nicht mal mehr einen Löffel von der Mousse au Chocolat probieren mochte. Auch mein Sektglas schien an diesem Abend nie richtig leer geworden zu sein. Ich fühlte mich beschwingt und gut gelaunt. Auch Anna hatte einen sitzen, denn sie kicherte unentwegt. Langsam verließen die ersten Gäste die Feier. Hauptsächlich die ältere Generation, die meisten von ihnen Ehefrauen, oder Familienväter. Unser Vorgesetzter, Torben Hendriks schwirrte immer noch schwatzend und lachend durch die überschaubar werdende Menge aus Gästen, bis er schließlich bei uns landete. „Na die Damen, ich hoffe Sie hatten einen schönen Abend?“, fragte er mit ironischem Unterton, denn eigentlich duzte er uns. Anna und ich nickten einstimmig.
„Wir werden dann wohl auch so langsam losmachen“, erklärte Anna. Sie hatte mich überredet, nach der Weihnachtsfeier noch in die Nachtgalerie mitzugehen.
„Ja ja, die jungen Leute, immer zieht es sie noch in einen Club um weiter zu feiern.“ Er zwinkerte uns zu, doch ich glaubte, einen neidvollen Unterton aus seiner Stimme zu hören. Herr Hendriks war neununddreißig und verheiratet, vielleicht war das ein Anflug einer leichten Midlife Crisis. „Einen müsst ihr aber noch mit mir trinken, so zur Feier des Tages quasi. Schließlich hat Anna im Herbst ihre Ausbildung mit Auszeichnung beendet.“

Anna und ich blickten uns kurz ungläubig an. Mit unserem Chef noch schnell einen trinken? Wir befanden uns zwar auf einer Weihnachtsfeier – aber trotzdem, es fühlte sich befremdlich an. „Ach nun kommt schon, ist doch ein besonderer Tag heute!“, witzelte er weiter und lehnte sich etwas zu uns rüber. Ich konnte seinen alkoholgetränkten Atem fast an meiner Wange spüren. „Ach was soll’s!“, hörte ich da Annas Stimme neben mir, „Einen Schnaps und dann düsen wir los – komm.“ Sie zog mich mit sich, ehe ich protestieren konnte.
„Na also!“ Herr Hendriks lächelte zufrieden und führt uns an die Bar. „Was möchten die Damen?“
„Tequlia“, bestellte Anna.
„Ähm…ja ich auch“, stimmte ich zögernd zu. Die Bardame nickte freundlich und goss zwei Kurze ein. Herr Hendriks bestellte sich einen Jägermeister und als auch er sein Glas in den Händen hielt, prostete er uns zu. Ich leckte den Zimt von meinem Orangenschnitz und kippte den braunen Tequlia hinterher, ehe ich in die Orangescheibe biss. 

Anna unterhielt sich angeregt mit Herrn Hendriks und fast kam es mir so vor, als würde sie ihn ein bisschen anhimmeln. Das musste wohl am Alkohol liegen, erklärte ich mir die absurde Situation und bekam kurz darauf noch einen Schnaps in die Hand gedrückt. Anna strahlte mich auffordernd an, bevor ich etwas sagen konnte und auch unser Chef hielt bereits sein zweites Glas in der Hand. „Aber…“, setzte ich an, „ich dachte, wir wollten los?“ Verdutzt sah ich Anna an.
„Ja ja, gleich gehen wir“, erwiderte sie schnell, bevor sie sich lächelnd wieder Herrn Hendriks zuwandte. Ich runzelte ärgerlich die Brauen. Was sollte das denn jetzt werden? Ich lehnte mich gelangweilt gegen die Bar, als ich bemerkte, dass Anna und Herr Hendriks so sehr in ihr Gespräch vertieft waren, dass sie mich gar nicht mehr wahr nahmen. Na toll, und jetzt?!, schoss es mir durch den Kopf. 

Ich wollte noch nicht nach Hause, aber alleine in die Nachtgalerie? Nein, dazu hatte ich auch keine Lust. Um zu David zu kommen, hätte ich einmal quer durch München fahren müssen. Dafür war es mir jetzt zu spät. Automatisch nahm ich den Tequlia, den mir die Frau hinterm Tresen hingestellt hatte. Auch Anna und Herr Hendriks tranken schon den nächsten Kurzen. Ach was soll’s!, verärgert über die Situation trank ich einfach für mich allein, um mich bei Laune zu halten. Anna würde das Gequatsche von Hendriks schon irgendwann zu langweilig werden und dann konnten wir uns endlich auf den Weg in die Disko machen. 

„…könnten wir ja auch noch einen Abstecher zu mir machen.“, schwirrte mir ein Gesprächsfetzen plötzlich ans Ohr. Ich sah, wie Anna sich lasziv zu Herrn Hendriks rüber beugte und mit den Wimpern klimperte. Hendriks schien kurz zu überlegen, lehnte sich dann zurück, und grinste mich über Anna hinweg an. „Aber nur, wenn Mila auch mitkommt.“ Langsam verriet der lallende Unterton seiner Stimme, wie viel er schon getrunken hatte. Auch ich war schon etwas mehr als angetrunken, trotzdem reagierte ich absolut skeptisch. „Ich weiß nicht…halte das für keine so gute Idee“ nuschelte ich, weil ich hoffte, dass niemand diese Unterhaltung mitbekam. Aber außer der Barfrau und einer kleinen Gruppe von vier Personen, die sich am anderen Ende des Raumes  gerade voneinander verabschiedeten, waren nur noch wir übrig. Ich warf Anna einen eindeutigen Blick zu. Hör auf, mit dem Feuer zu spielen!, sollte er bedeuten. Doch von ihr erntete ich nur ein entnervtes Augenrollen als Antwort. Sie warf den Kopf in den Nacken und tat kurz so, als würde sie schmollen. „Na gut Torben…dann nehmen wir Mila eben mit.“, lautete ihre kurze, forsche Antwort.
Torben – na super, jetzt duzte sie ihn schon. Das konnte ja was werden! Um meine Freundin vor einem großen Fehler zu bewahren, beschloss ich, als Anstandswauwau mitzukommen. Auch wenn mir gar nicht wohl dabei war. 

Torben Hendriks zeigte sich von seiner spendablen Seite und bestellte ein Taxi. Anna und ich holten unsere Mäntel und warteten an der Garderobe auf ihn. „Also los…Ladies“, grinste er schief und versuchte sich bei uns einzuhaken. Ich zog schnell meinen Arm beiseite und hängte mir demonstrativ meine große Handtasche über die Schulter. Die war so ausladend, dass unser Chef nicht mehr an mich herankam. Anna ließ sich natürlich nur zu gern von ihm nach draußen führen. Das Taxi stand schon da und wir stiegen ein. Ich vorne, Anna und Herr Hendriks hinten. „Agnesstraße 3, bitte“, flötete Anna von der Rückbank. Dann war es plötzlich still, nur ab und zu war Annas Kichern zu vernehmen. Der Taxifahrer sparte sich seinen Kommentar, grinste nur in sich hinein und fuhr los. In irrem Tempo ging es nach Schwabing-West. Die Straßen waren wie leergefegt und wir kamen schnell voran. Zehn Minuten später kletterten wir aus dem Taxi und unser Chef drückte dem Taxifahrer mit einem Nicken einen Geldschein in die Hand. Anna winkte mit ihrem Haustürschlüssel. „Nun kommt schon, ich friere!“, rief sie ungeduldig. Sie sperrte auf und wir stiegen im Gänsemarsch die Stufen zu ihrer Wohnung im 1. Stock hoch. 

Ich war schon öfter in Annas Zwei-Zimmer-Apartment gewesen, das, typisch für München, ein halbes Vermögen an Miete kostete. Es war ein Altbau, mit hohen Decken und weißen Flügeltüren aus Holz. Die Einrichtung wirkte edel, modern und aufgeräumt. Weiß und grau waren die dominierenden Farben. So auch die Zweisitzer Couch und dem dazugehörigen Sessel, in den ich mich müde sinken ließ. Langsam zeigte der Alkohol seine volle Wirkung und die Wärme tat ihr übriges dazu. Ich wurde schläfrig und gähnte die ganze Zeit. Deshalb verneinte ich dankend, als Anna mit drei Gläsern und einer Flasche Rotwein aus der angrenzenden, kleinen Küche kam.

Unser Chef ließ sich jedoch gerne zu einem Glas überreden. Anna setzte sich zu ihm auf die Couch und redete ohne Unterlass. Ich starrte durch das Erkerfenster hinaus in die Nacht. Nach wie vor rieselte lautlos der Schnee auf die Erde. Die schwebenden Schneeflocken hatten etwas Hypnotisches und irgendwann klangen die beiden gedämpften Stimmen neben mir, als wären sie kilometerweit weg. Matt fielen mir die Augen zu. 

Ich riss erschreckt meine Lider auf, als ich ein Geräusch hörte. Verwirrt sah ich mich um. Mir war ein bisschen schwindelig und ich brauchte einen Moment, bis ich die Situation erfasst hatte. Ich lümmelte immer noch in Annas Sessel, draußen war es nach wie vor dunkel, aber von Anna und Herrn Hendriks, fehlte jede Spur. Anscheinend war ich einfach eingeschlafen. Steif streckte ich den Rücken durch und beschloss, mich auf die Couch zu legen und dort weiter zu schlafen. Ich tastete im Halbdunkel nach der weißen Plüschdecke, entledigte mich noch schnell meiner zwickenden Strumpfhose und kuschelte mich unter die weiche Decke. Mir fielen gerade wieder die Augen zu, als ich hörte, wie sich die Tür zu Annas Schlafzimmer leise öffnete. Eine große Gestalt schlich langsam in meine Richtung. War das Anna? Im fahlen Lichtschein erkannte ich, dass die Gestalt nicht meine Freundin war, sondern ein Mann – Torben Hendriks!
Oh mein Gott!, schoss es mir durch den Kopf, als mir bewusst wurde, dass er gerade tatsächlich aus Annas Schlafzimmer kam. 

Ich verharrte still und hatte mir instinktiv die Decke bis an das Kinn gezogen. Mein Chef näherte sich langsam und plötzlich spürte ich eine Hand auf der Decke unter der ich lag. Was sollte das denn werden?!
Vorsichtig tastete sich die Hand an den Rand der Decke und hob sie etwas an. Ich wagte es kaum zu atmen, bekam keinen Ton heraus und hatte das Gefühl, ich befand mich gerade in einem unwirklichen Albtraum. Plötzlich spürte ich warme Finger auf meiner Schulter, die sich langsam in Richtung meiner Brüste tasteten. Schließlich kreiste die Hand kurz um meine rechte Brust, fuhr an meinem Bauch entlang und verharrte einen Moment auf meinem Schamhügel. Ich hörte ihn erregt atmen und biss mir auf die Lippen, um nicht aufzuschreien. Mein Verstand überschlug sich! Spring auf! Tu doch irgendwas! 

Doch ich stellte mich weiter schlafend, trotz der Panik, die in mir aufstieg. Ich wollte einfach nicht glauben, was da gerade passierte. Die suchende Hand fuhr mir unter das Kleid und machte sich gerade am Bund meines Höschens zu schaffen, als ich Annas leise Stimme aus dem Schlafzimmer hörte. „Torben?“
Ruckartig zog sich die Hand zurück, die Gestalt meines Vorgesetzten sprang auf und lief mit hastigen Schritten zurück ins Schlafzimmer. „Wo warst du?“, hörte ich Anna verschlafen fragen.
„Nur auf der Toilette“, brummte die tiefe Stimme von Herrn Hendriks, als er sich wieder zu Anna ins Bett legte. 

Ich hatte die Augen weit aufgerissen und starrte an die Decke, mein Atem ging schnell und stoßweiße und ich musste mir die Hand auf den Mund pressen, um nicht laut los zu schluchzen! Doch irgendwie schaffte ich es zu warten, bis wieder einvernehmliches Schnarchen aus dem Schlafzimmer drang. Sofort sprang ich auf, zog mir so schnell es ging, die Strumpfhose an und schnappte mir meinen Mantel, der noch über dem Sessel hing. Die Pumps stopfte ich in die Handtasche, stieg in die Stiefel und zog eilig den Reißverschluss zu. Ohne zu überlegen, riss ich die Haustüre auf und eilte ins Treppenhaus. Ich polterte die Stufen hinunter und wollte nur eins – so schnell und so weit wie möglich weg! 

Weit weg von Anna, die mich da mit reingezogen hatte! Noch weiter weg von meinem Chef – diesem miesen Schwein! Erst jetzt kamen mir die Tränen. Warm kullerten sie meine Wangen hinunter, während ich total aufgelöst durch die schneidende Kälte lief. Ich wollte nur noch nach Hause! Zum Glück bekam ich durch meinen Tränenschleier gerade noch mit, wie ein paar Meter vor mir ein Taxi zum stehen kam. Eine junge Frau stieg aus und schlug die Tür zu. Ich hetzte los.
Gerade als der Wagen wieder ins Rollen kam, riss ich am kalten Türgriff und der Fahrer schaute mich entsetzt an, als er mich erblickte. „Warten Sie!“ keuchte ich und ließ mich auf die Rückbank fallen. „Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“ Irritiert und besorgt sah mich der Taxifahrer an.

Ich nickte nur schnell und nannte ihm bebend meine Adresse. Er merkte, dass ich nicht mit ihm sprechen wollte, drehte sich nach vorn und startete den Wagen. Ich versuchte die ganze Fahrt über, nicht los zu heulen und war unendlich erleichtert, als wir die Stadtvilla meines Vaters erreichten. Ich drückte dem Fahrer einen Zwanzig-Euro-Schein in die Hand und verließ fluchtartig sein Auto. Ohne mich umzudrehen eilte ich durch das schmiedeeiserne Tor und fummelte zitternd meinen Haustürschlüssel heraus. Heute hoffte ich ausnahmsweise einmal, dass mein Vater nicht zu Hause war.
Ich schloss die Haustür hinter mir und lauschte kurz. Alles war ruhig und die Villa lag im Halbdunkel der Straßenlaterne, die von draußen durch das Fenster im Flur schien. Ich ließ meine Tasche und den Mantel achtlos auf den Boden fallen. 

Ein lautes Schluchzen schlüpfte aus meinen Mund, ich konnte es nicht mehr unterdrücken! Ich rannte hoch ins Bad und hielt meine Handflächen unter kaltes Wasser. Mein Spiegelbild konnte ich kaum ertragen. Traurige, schwarz verschmierte Augen blickten mich an. Meine Haare standen nach allen Seiten ab. Langsam sank ich zu Boden und heulte. Die Tränen wollten nicht mehr versiegen. Zusammengerollt lag ich auf dem warmen Fliesenboden. Ich raufte mir die Haare und schrie! Dann schüttelte mich der nächste Tränenstrom durch. Meine Verzweiflung mischte sich langsam mit Wut. Auf Anna, auf mich, aber vor allem auf einen - diesen schmierigen Wichser!
Hysterisch zerrte ich mir die Kleider vom Leib und schmiss sie, ein Teil nach dem anderen, in die hinterste Ecke. Dann rutschte mit dem Rücken an der Wand wieder zu Boden. Ich starrte auf die stummen Zeugen aus Stoff, die als einzige von der widerlich grapschenden Hand mitbekommen hatten und nagte an meiner Unterlippe. Am liebsten hätte ich das Kleiderhäufchen einfach verbrannt. Ich würde sie sowieso nie wieder anziehen.
Warum?! Warum zum Teufel war ich bloß mitgegangen?!
Ich war weiß Gott kein Kind von Traurigkeit. Es war auch nicht so, dass Torben Hendriks kein attraktiver Mann wäre. Ich konnte auch Anna irgendwie verstehen, als sie sich betrunken an ihn rangemacht hatte. Aber die Art, wie er sich nahm, was er wollte - ohne auf irgendjemand Rücksicht zu nehmen - widerte mich an! 

Langsam, ganz langsam beruhigte ich mich ein bisschen. Schniefend zerrte ich ein Kosmetiktuch aus seiner Box und schnäuzte mir die Nase. Ich atmete tief durch und beschloss, unter die Dusche zu steigen. Ich wollte die Berührungen von ihm von meinem Körper waschen. Ich wünschte mir, dass der gesamte gestrige Abend einfach im Ausguss verschwand. Natürlich wusste ich, dass das nicht funktionieren würde, aber es war immerhin ein Anfang.
Ich drehte das heiße Wasser auf und wartete, bis es angenehm warm war. Zögernd trat ich unter den Duschstrahl und atmete auf, als mir der warme Strahl über den Körper lief. Ich ließ mir viel Zeit und als das Bad von einem nahezu undurchsichtigen Nebel aus Wasserdampf erfüllt war, stieg ich aus der Duschwanne und wickelte mich in ein Handtuch.

Ich beschloss, den gesamten Tag im Bett zu verbringen. Also tapste ich den Flur rüber, in mein Schlafzimmer. Zurzeit bewohnte ich fast allein die obere Etage, da mein Vater sein Bett meistens unberührt ließ. Oft war er sowieso auf Dienstreisen, oder er kam so spät nach Hause, dass er schon unten auf der Couch einschlief. Das vertraute Rascheln meiner Perkal-Bettwäsche ließ mich ein bisschen ruhiger werden. Die Decke umfing schützend meinen Körper und ich fühlte mich wohl und geborgen. Die kurze, aufwühlende Nacht, der Alkohol und die heiße Dusche zeigten schneller als gedacht ihre Wirkung. Ich wurde schläfrig und verfiel in eine Art Dämmerschlaf. Ich hatte eigenartige Träume, die mich zwar kurz aufschrecken, aber immer wieder in den Schlaf zurückfallen ließen.

 

Bittersüß

Es klopfte an meiner Zimmertür. Ich schlug irritiert die Augen auf. „Ja?“, kam es mir nur zögerlich über die Lippen. Die Klinke wurde heruntergedrückt und auf der Türschwelle erschien mein Vater. Er hielt ein Tablett in den Händen, von dem ein köstlicher Duft in mein Zimmer strömte und den ganzen Raum erfüllte. Ein verschmitztes Lächeln umspielte seine Lippen, als er an mein Bett trat. „Guten Morgen, Dornröschen. Ich dachte, du könntest nach deiner langen Nacht ein ordentliches Frühstück brauchen.“
Ich streckte meinen Rücken durch, setzte mich auf und fuhr mir durch die Haare. „Wie spät ist es?“ Fragend schaute ich ihn an, während er das Tablett auf der Bettkante abstellte. „Sechs Uhr abends“, erwiderte er lachend. „Du hast den ganzen Tag verschlafen. Ich bin heute Mittag nach Hause gekommen und habe dich tief schlafend vorgefunden.“ Ich stöhnte und sank zurück in die Kissen. 

„Wie war eure Weihnachtsfeier?“ Die unausweichliche Frage, traf mich wie eine Ohrfeige. Unwillkürlich versteifte sich mein ganzer Körper und das Lächeln gefror mir auf den Lippen. Ich wollte ihm nichts davon erzählen, denn ich hatte Angst, er würde mir nicht glauben. Niemanden würde ich es erzählen, ich fühlte mich zu sehr gedemütigt. „Ähm…ja…wie immer. War danach noch bei Anna“, gab ich eine frostige Antwort zurück und mein Vater zog argwöhnisch die Brauen nach oben. „Aha“, machte er nur. Dann sah er betreten auf seine Schuhe. Es war noch nie seine Stärke, Probleme mit mir zu besprechen. Darum hatte ich das stets mit mir selbst ausgemacht.
„Danke für das Frühstück“, versuchte ich meine Stimme wieder heiterer klingen zu lassen und spähte über den Rand des Tabletts.
„Gern, lass es dir schmecken. Ich bin im Arbeitszimmer“ Er wandte sich zum Gehen, blieb auf der Schwelle zum Flur aber noch mal stehen, drehte sich zu mir um und sah mich durchdringend an. „Ist wirklich alles in Ordnung?“ Seine Frage klang ernst und voller Furcht, es könnte tatsächlich nicht alles in Ordnung sein. „Doch doch!“ Ich nickte schnell und schob mir ein großes Stück Waffel in den Mund, um einer weiteren Konversation aus dem Weg zu gehen. „Dann ist´s ja gut.“ Sichtlich erleichtert trat er aus meinem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. 

Als er gegangen war, zog ich mir die Decke wieder bis ans Kinn und grübelte. Was sollte ich denn jetzt nur tun? Allein bei dem Gedanken, nach meinem Urlaub wieder zurück zu kehren, drehte sich mir der Magen um. Ich schaltete den Fernseher ein und ließ mich berieseln.
Irgendwann konnte ich nicht mehr liegen, sprang auf und schaltete meinen PC an. Irgendetwas sagte mir, dass ich schnell handeln musste. Ich war mir sicher, dass ich es nicht schaffen würde, in drei Wochen wieder zur Arbeit zu gehen, als wäre nichts gewesen. Wieder stieg die Wut in mir auf.
Weil mir nichts Besseres einfiel, suchte ich sämtliche Telefonnummern von Hotels in München raus. Das waren einige, aber sollte ich dort wirklich anrufen? Und wie sollte ich meine Situation erklären? Probleme mit dem Vorgesetzten - das klang einfach viel zu vage. 

Da fiel mir Lydia ein. Lydia war eine ehemalige Klassenkameradin und langjährige Freundin meines Vaters. Ich hatte sie schon immer sehr gemocht, sie war eine gutherzige, hilfsbereite Person. Lydia leitete ein Vier-Sterne-Hotel im Zentrum von München. Ob ich sie anrufen sollte? Oder würde sie dann alles meinem Vater erzählen?
Ich war hin und her gerissen.
Zitternd griff ich zum Hörer, es war fast so, als würde es automatisch geschehen. Wohl, weil ich auch wusste , dass Lydia mein einziger Ausweg aus dieser misslichen Lage war. 

Erst wollte man mich nicht zu ihr durchstellen – klar, da könnte ja jeder anrufen und einfach Frau Diedwich verlangen. Erst als ich erklärte, dass sie schon seit Jahrzehnten eine Bekannte von Herrn Dr. Schwarz (meinem Vater) ist, wurde ich mit einem „Oh, ach so…einen Moment bitte“, in ihr Büro verbunden.
Lydia freute sich über meinen Anruf, war aber auch verwundert. Natürlich, was hätte ich sonst auch für einen Grund gehabt, sie zu kontaktieren. Nachdem ich ihr erklärt hatte, dass es wirklich wichtig und dringend war, ich aber am Telefon nicht darüber sprechen wollte, bat sie mich für morgen Vormittag um zehn Uhr zu sich ins Hotel. 

Nach dem Telefonat fühlte ich mich schon etwas erleichtert. Vielleicht konnte Lydia mir wirklich helfen. Ich hatte sie zwar schon eine Weile nicht mehr gesehen, aber mein Vater stand seit über dreißig Jahren in regelmäßigen Kontakt zu ihr. Ich ließ mich aufs Bett fallen und schaltete mein Handy an. Kaum hatte es sich ins Handynetz eingewählt, blinkte und piepte es unaufhörlich. Meine Mailbox war voll und der Nachrichtenspeicher zeigte zehn neue SMS an. Ich begann damit, die Mailbox abzuhören. Schon bevor ich Annas Stimme hörte, wusste ich, was los war.
„Mila? Hier ist Anna. Wo bist du denn so schnell hin? Torben und ich wollten…“ Sofort hämmerte mein Zeigefinger auf die Löschtaste ein. Das wollte ich mir nicht weiter anhören!
Torben und ich wollten…bla…bla – ja, was Torben wollte, dass wusste ich ja bereits!

Wutschnaubend löschte ich alle Nachrichten der Mailbox, auf die Anna mir wohl noch fünf Mal draufgequatscht hatte. Ich wollte nicht mit ihr reden. Insgeheim war ich auch ein bisschen sauer auf sie. Ich wollte sie davor schützen, einen großen Fehler zu begehen – das war mein größter Fehler! Anna war alt genug, um zu wissen, was sie da tat. Aber jetzt war es eh schon zu spät.

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Tanja Rauch
Bildmaterialien: Tanja Rauch
Lektorat: Cornelia Horn
Tag der Veröffentlichung: 19.07.2013
ISBN: 978-3-7309-3780-8

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