Manchmal muss man sich im Leben entscheiden, jeder kennt das. Es gibt die Art von Entscheidungen, die so banal sind, dass wir sie nicht mal wahrnehmen. Und dann gibt es Entscheidungen, die man schweren Herzens trifft, die das komplette Leben verändern – und manche von ihnen, kann man nie wieder rückgängig machen.
„Ich will sofort zu meiner Tochter!“ Ich war völlig außer mir und mein ganzer Körper bebte. Das Krankenhaus in Wilmington hatte mich vor einer halben Stunde, während meiner Schicht im Supermarkt verständigt und mir mitgeteilt, dass meine elfjährige Tochter einen Unfall hatte. Ich war so schnell ich konnte in die Klinik gerast und nun wollten sie mich nicht zu ihr lassen!
„Ma´am, sie wird gerade operiert, Sie müssen auf den behandelnden Arzt warten!“ Die Schwester versuchte ruhig aber bestimmt auf mich einzuwirken, doch ich wollte mich nicht beruhigen lassen. Nicht bevor ich endlich wusste, was geschehen war und wie es um Tamara stand! Ich schluchzte unterdrückt und die Krankenschwester sah mich mitleidig an. „Sagen Sie mir doch wenigstens was passiert ist!“, flehte ich, während mir immer mehr Tränen über die Wangen liefen. „Ich weiß leider auch nichts Genaues. Die Sanitäter sagten etwas von einem Zusammenstoß mit einem Auto. Aber zu den Einzelheiten müssen Sie den Arzt befragen.“ Sie legte mir eine Hand auf die Schulter, „Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald ich etwas Neues erfahre. Holen Sie sich am besten einen Kaffee und warten Sie hier.“
Ich nickte wie in Trance und ließ mich langsam auf einem der Stühle nieder. Was um mich herum geschah, bekam ich nur wie durch eine dicke Wand aus Watte mit. In meinen Ohren summte Stimmengewirr, das aus dem Warteraum kam; doch es drang kein klares Wort an mein Ohr. Es war mir auch egal. Ich konnte nur an Tamara denken! Meine geliebte Tochter, das Einzige was mir in diesem Leben noch geblieben war. Ich würde es nicht ertragen sie auch noch zu verlieren. Warum tat mir das Leben so etwas an?! War es nicht schon genug, dass es mir meinem Mann genommen hatte?
Ich wusste nicht, wie lange ich in diesem Raum gewartet hatte. Ich saß einfach nur da und schreckte jedes Mal auf, wenn sich die Tür zum Operationsbereich öffnete. Leute kamen und gingen. Dann endlich, trat ein Arzt mit grüner Haube und Mundschutz auf mich zu. Ich versuchte in seinen Augen zu erkennen, was er mir wohl gleich mitteilen würde. Er blickte sehr ernst drein. Mit wackligen Knien stand ich auf und lief ihm entgegen.
„Mrs. Goldman?“, fragte er und zog sich die Maske über das Kinn hinunter. Ich nickte nur, unfähig etwas zu antworten. „Mein Name ist Dr. Wesley. Ihre Tochter hatte einen Zusammenstoß mit einem Auto. Sie war mit Inlineskates unterwegs und konnte wohl nicht mehr rechtzeitig bremsen. Es geht ihr den Umständen entsprechend, wir konnten sie etwas stabilisieren und auf die Intensivstation verlegen. Allerdings kann ich noch keine Entwarnung geben. Sie hatte einen Milzriss und mehrere Prellungen. Die Milz mussten wir entfernen, dabei hat sie sehr viel Blut verloren. Die nächsten Tage werden zeigen, ob ihr Körper sich erholt oder…“ Er sprach nicht weiter, weil mir schon wieder dumme Tränen aus den Augen traten. Ich hielt mir die Hand vor den Mund um nicht laut los zu schluchzen.
„Kann ich…kann ich zu ihr?“, flüsterte ich brüchig hinter meiner Hand hervor. Dr. Wesley nickte. „Natürlich, Schwester Mary wird Sie zu ihr bringen.“ Er wandte sich halb zu der Krankenschwester um, mit der ich vorhin gesprochen hatte. „Kommen Sie Mrs. Goldman.“ Schwester Mary trat auf mich zu und legte mir leicht eine Hand auf den Rücken, um mich aus der Tür zu bugsieren. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich unfähig, eigene Schritte zu machen. Sie führte mich auf die Intensivstation und blieb vor einem Zimmer mit großer Glasscheibe und gläserner Tür stehen. Ich erschrak, als ich Tamara in einem Bett liegend, von all den Apparaten umgeben sah. Es erinnerte mich sofort an die letzten Tage ihres Vaters. Ein kalter Schauer fuhr mir in die Glieder und meine Hände begannen zu zittern. „Die Ärzte haben Ihre Tochter in ein künstliches Koma versetzt. Sie hoffen, dass das ihrem Körper die nötige Ruhe gibt, um sich zu erholen“, erklärte Schwester Mary leise und half mir in einen grünen Kittel, den man als Besucher der Intensivstation tragen musste. Dann durfte ich endlich zu ihr.
Ich rückte einen Stuhl an das Bett heran und legte meine Hand auf ihre. Sie fühlte sich eiskalt an. „Tamara, Schatz ich bin es – Mom. Ich bin jetzt hier bei dir. Ich gehe nicht mehr weg, das verspreche ich dir.“ Mehr als ein Flüstern bekam ich nicht heraus. Meine Augen brannten von den vielen Tränen, doch ich streichelte unentwegt ihre Hand. Ich war mir sicher, sie konnte spüren, dass ich bei ihr war.
Irgendwann musste ich wohl eingeschlafen sein, denn plötzlich hörte ich eine Stimme: „Mrs. Goldman?“ Ich hob langsam den Kopf, der auf Tamaras Bett gesunken war und blinzelte. „Mrs. Goldman, ich bin Schwester Amy von der Nachtschicht. Wollen Sie nicht nach Hause gehen? Wir rufen Sie an, sobald sich Tamaras Zustand ändert.“
Doch ich schüttelte den Kopf. „Ich bleibe bei hier!“
„Seien Sie doch vernünftig Mrs. Goldman. Wann haben Sie denn zuletzt etwas gegessen? Sie können im Moment nichts für ihre Tochter tun. Fahren Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus.“ Die Nachtschwester redete so lange auf mich ein, bis ich mir eingestehen musste, dass ich nicht ewig ohne etwas zu Essen oder zu Trinken bei meiner Tochter sitzen konnte. Ich war direkt von der Arbeit losgefahren und hatte außer meiner Handtasche nichts bei mir. Schließlich nickte ich müde. „Ich schicke aber jemanden her, der bei ihr bleibt, während ich nicht da bin.“ Schwester Amy sah wohl die Entschlossenheit in meinem Gesicht und zuckte die Achseln. „Wie Sie möchten“, erwiderte sie und sah dann nach Tamara, die immer noch blass und völlig regungslos da lag. Nur ihr Brustkorb hob und senkte sich im Rhythmus des Beatmungsgerätes.
Ich erhob mich von dem kleinen Stuhl neben ihrem Bett und erst jetzt spürte ich meine steifen Glieder. Meine Beine kribbelten, als wieder Blut hinein strömte. Ich beugte mich zu meiner Tochter hinunter und flüsterte: „Keine Angst, ich bin bald wieder da!“ Dann strich ich ihr vorsichtig über die Wange und verkniff mir nur mit Mühe die Tränen, die wieder in mir aufstiegen.
Ich trat durch die Glastür, streifte den grünen Kittel ab und lief durch den langen Flur, Richtung Ausgang. Als ich auf dem Parkplatz mein Handy aus der Tasche holte, zeigte es eine neue Nachricht und drei verpasste Anrufe an.
Es war Alex, der versucht hatte mich zu erreichen. Er wohnte im Haus nebenan und stand uns sehr Nahe. Seine Frau hatte ihn vor fast zwei Jahren verlassen. Damals war ich für ihn da und als Tamaras Vater starb, half er mir wo er konnte. Ich wählte seine Nummer und setzte mich ins Auto. „Cordelia? Endlich, ich habe mir schon Sorgen gemacht! Ich dachte, vielleicht musst du länger arbeiten, aber dann ist mir aufgefallen, dass Tamara auch nicht da ist!“ Alex Stimme klang müde, aber sehr besorgt. Ich blickte auf die Uhr in meinem Armaturenbrett. Es war zwei Uhr morgens. „Tamara liegt im Krankenhaus! Sie hatte einen Unfall und es geht ihr sehr schlecht…“ Meine Stimme erstarb und ich musste weinen. Ich konnte es einfach nicht mehr unterdrücken. „Was?! Einen Unfall, du lieber Himmel was ist denn passiert? Was sagen die Ärzte? Kommt sie durch?“ Plötzlich klang er sehr aufgeregt und die Fragen sprudelten aus ihm heraus. Als ich mich wieder halbwegs beruhigt hatte, erzählte ich ihm mit kurzen Worten, was passiert war.
„Könntest du vielleicht bei ihr im Krankenhaus bleiben? Nur so für ein, zwei Stunden? Ich würde gern kurz duschen und etwas essen. Danach fahre ich wieder zu ihr“, bat ich ihn schniefend. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, nach Hause zu fahren und wäre am liebsten bei ihr geblieben. „Natürlich! Du solltest vielleicht auch ein bisschen schlafen. Du brauchst deine Kraft! Ich bleibe bei ihr und wenn etwas ist, rufe ich dich sofort an! Du kannst dich auf mich verlassen.“ Erleichtert atmete ich auf.
Irgendwie schaffte er es tatsächlich mich zu überreden, ein bisschen zu schlafen und dann wieder zu Tamara zu fahren. Er würde sich sofort auf den Weg machen, versprach er. Ich bedankte mich bei ihm, legte auf und fuhr nach Hause. Als ich in unsere Straße einbog sah ich, dass Alex schon gefahren war. Es beruhigte mich ein wenig, weil ich wusste, sie würde nicht allein sein.
Ich schloss die Tür auf und trat in das dunkle Haus. Ich schaltete das Licht ein und schlurfte in die Küche. Obwohl ich keinen Hunger hatte, zwang ich mich, ein paar Bissen zu essen. Dann ging ich ins Bad und stellte mich unter die Dusche. Während das warme Wasser über meinen Kopf lief, kamen mir tausend Gedanken. Was wäre, wenn Tamara es nicht schaffen würde? Sofort erfasste mich Panik! Nein, darüber wollte ich nicht nachdenken. Sie musste es einfach schaffen! Ich drehte das Wasser ab, stieg aus der Dusche und trocknete mich ab. Mir fiel auf, wie müde ich plötzlich war. Also schlüpfte ich in meinen Pyjama und kroch unter die Bettdecke. Ich schlief sofort ein und wurde vier Stunden später von dem Schrillen meines Weckers unsanft geweckt. Benommen tastete ich auf meinem Nachtkästchen danach und stellte ihn ab. Dann wurde mir schlagartig klar, was gestern passiert war, und mit einem Mal war ich hellwach!
Ich sprang aus dem Bett, machte mich in Windeseile fertig und fuhr ins Krankenhaus. Als ich die Treppe nach oben hetzte, weil der Fahrstuhl so lange auf sich warten ließ, überkam mich wieder die Angst.
Es ist alles gut!, redete ich mir ein. Alex hätte mich informiert, wenn sich Tamara´s Zustand verändert hätte. Keuchend trat ich an die Glasscheibe und sah Tamara in ihrem Bett liegen. Sie sah so zerbrechlich aus. Alex saß mit einem Kaffee in der Ecke des Zimmers. Er blickte zu mir hoch und an seiner Miene konnte ich erkennen, dass irgendetwas nicht stimmte. Ich schlüpfte in einen Kittel und betrat das Zimmer. Alex stand sofort auf und kam auf mich zu. „Wie geht es ihr?“, fragte ich flüsternd.
Er zögerte kurz und starrte auf seine Schuhe. „Sie … hatte einen Atemstillstand, aber die Ärzte haben es geschafft sie schnell wieder zu stabilisieren. Ich …“
„Was?! Wieso hast du mir nicht Bescheid gesagt?! Ich hatte dich ausdrücklich darum gebeten, dass du mich informierst, wenn etwas passiert!“, zischte ich, so leise es ging. Ich war wütend und hatte Mühe, mich zu kontrollieren. Alex sah mich an. „Ich hätte dich angerufen, aber es ging so schnell und dann war plötzlich wieder alles unter Kontrolle! Ich wollte dich nicht aufwecken. Du brauchst deinen Schlaf, wer weiß wie lange Tamara noch im Koma liegt.“ Ich wusste, dass er eigentlich Recht hatte und so versuchte ich, meine Wut hinunterzuschlucken.
„Ich muss jetzt zur Arbeit, soll ich dich dann heute Nachmittag ablösen?“ Alex sah mich unsicher an. Jetzt tat es mir leid, dass ich ihn so angefahren hatte. „Wenn du das für mich tun würdest, wäre ich dir sehr dankbar.“ Ich trat einen Schritt auf ihn zu und blickte zu ihm auf. „Danke für alles!“, flüsterte ich und hoffte, dass ich stark genug war, um nicht gleich wieder zu weinen. „Das ist doch das Mindeste, was ich für dich tun kann. Melde dich, wenn es Neuigkeiten gibt. Ich komme dann so gegen vier.“ Er lehnte sich nach vorne und nahm mich sanft in die Arme. „Kopf hoch!“, flüsterte er, dann wandte er sich ab und ging.
Ich beugte mich gerade über Tamara, als ich hörte, wie die Glastür sich wieder öffnete. Ich wandte mich um und erstarrte für einen kurzen Moment. Ein Pfleger, den ich noch nicht kannte, hatte den Raum betreten und kam auf uns zu.
Mir stockte der Atem! Er sah aus, als wäre er nicht von dieser Welt. Seine Augen waren smaragdgrün, seine Gesichtszüge perfekt geformt und seine Haut makellos glatt. Er wirkte sehr blass, aber selbst das stand ihm ausgezeichnet. Fast hätte ich bei seinem Anblick alles um mich herum vergessen. Doch dann holte mich die Wirklichkeit wieder ein, als einer der Apparate der mit Tamara verbunden war, anfing zu piepsen. Erschrocken blickte ich mich um.
„Keine Sorge, ihr Herz hat nur kurz etwas zu schnell geschlagen. Deswegen hat das Gerät Alarm geschlagen. Aber wie Sie sehen, ist jetzt wieder alles normal.“ Seine sanfte Stimme, ließ mich sofort ruhig werden. Er lächelte, während er mich eindringlich ansah. „Sie sind bestimmt Tamaras Mutter – ich bin Zac. Ich habe heute Nachmittag Dienst“, erzählte er in ruhigem Ton. Ich schielte auf die Spritze, gefüllt mit einer dunkelroten Flüssigkeit, die er in seiner rechten Hand hielt. Er bemerkte meinen irritierten Blick und hob sie hoch. „Tamara bekommt Antibiotika gespritzt, damit es zu keiner Infektion kommt. Das würde ihr geschwächter Körper nicht verkraften“, erklärte er mir freundlich und plötzlich spürte ich, wie mein ganzer Körper sich entspannte und ich mich trotz der ganzen Umstände, auf einmal sehr zuversichtlich fühlte. Zac schien mit seiner Gegenwart sehr beruhigend auf mich einzuwirken.
Er ging um das Bett herum, schraubte den Verschluss von der Kanüle die in Tamaras Hand steckte ab, und spritze ihr die Flüssigkeit. Dann verschloss er die Kanüle wieder und sah zu mir auf. „Sie wird wieder gesund. Glauben Sie mir Mrs. Goldman.“ Seine Worte hörten sich so klar und überzeugend in meinem Kopf an, dass ich unwillkürlich nickte. Er verabschiedete sich von mir und versprach, dass er so oft es ging, nach Tamara sehen würde.
Als Zac gegangen war, blieb ich noch eine Weile wie angewurzelt stehen. Ich konnte nicht sagen was es war, doch die Begegnung mit ihm, ließ mich fest daran glauben, dass sie bald aufwachen würde.
Ich verbrachte den Tag damit, etwas zu lesen und leise mit Tamara zu sprechen. Einmal ging ich kurz in die Cafeteria, um mir etwas zu Essen zu holen.
Die Zeit verging wie im Flug. Plötzlich war es Nachmittag und Alex kam. Ich fuhr nach Hause, diesmal mit ruhigem Gewissen. Heute würde ich nur duschen und mich umziehen, damit Alex sich richtig ausschlafen konnte. Ich hatte zum Glück Urlaub bekommen um mich um meine Tochter kümmern zu können. Mein Chef hatte selbst Familie und war sehr verständnisvoll, als ich ihm schilderte, was geschehen war.
Gerade war ich aus der Dusche gestiegen und hatte mich in ein Handtuch gewickelt, als mein Handy klingelte. Ich sah Alex´ Nummer auf dem Display und mit einem Mal, war die ruhige Stimmung komplett verflogen. Als ich abnahm, zitterte mein ganzer Körper.
„Cordelia, du musst sofort herkommen! Die Ärzte sagen es grenzt an ein Wunder, aber es sieht so aus, als würde Tamara aufwachen!“, rief er atemlos durch den Hörer. Ich stand einen kurzen Moment lang da, wie geschockt! Zac hatte recht behalten! Sie würde es tatsächlich schaffen! Vor Freude und Erleichterung liefen mir sofort Tränen über das Gesicht. Ich warf das Handtuch in die Ecke und zerrte hektisch etwas zum Anziehen aus dem Schrank. Dann sprang ich ins Auto und fuhr so schnell ich konnte ins Krankenhaus.
Schnaufend und bebend kam ich auf der Intensivstation an. Eine Krankenschwester nahm mich sofort in Empfang. „Kommen Sie!“, rief sie hastig und lief mit mir den Flur entlang, zu Tamaras Zimmer. Durch die Glastür sah ich Zac, der direkt neben ihrem Bett stand. Auf der anderen Seite befanden sich Dr. Wesley und Alex, der sich etwas abseits an die Wand gedrückt hatte. Während die Schwester mir den Kittel anzog, blickte ich durch die Scheibe zu Zac, der zu mir aufsah und engelsgleich lächelte.
Ich öffnete die Augen und blinzelte. Doch ich konnte nichts erkennen, alles war komplett verschwommen. Ich wollte etwas sagen, aber irgendetwas kratzte schmerzhaft in meinem Hals. Panisch versuchte ich mich aufzurichten, doch mein Körper gehorchte mir nicht! Ein stechender Schmerz durchfuhr meine Glieder. Matt sank ich zurück. Da erschien über mir ein Gesicht. Langsam wurden die Umrisse schärfer und ich konnte es erkennen.
Das Gesicht eines Engels.
Seine Haut war makellos glatt und blass. Fast schon ein bisschen zu blass. Aber das Schönste an ihm, waren seine Augen. Tiefe, geheimnisvolle Augen die so grün strahlten, als funkelten tausende, winzige Smaragde darin. Er beugte sich über mich und ich war mir sicher, dass ich gestorben war. So schöne Wesen konnten nur im Himmel wohnen.
„Mrs. Goldman, kommen Sie her! Sie hat gerade die Augen geöffnet!“ Der Engel verzog sein wunderschönes Gesicht zu einem Lächeln und sah sich zu jemandem um, der hinter ihm stand. Dann trat er zur Seite und als ich Mom sah, die ebenfalls lächelte und gleichzeitig weinte, war ich verwirrt. Was war passiert?
Erneut versuchte ich etwas zu sagen. Ich öffnete die Lippen, aber es kam kein Ton heraus. Stattdessen war da wieder dieses Kratzen in meinen Hals. Plötzlich beugte sich eine weitere Person über mich. Sie trug einen weißen Kittel – da dämmerte es mir langsam. Ich musste mich in einem Krankenhaus befinden, aber wieso? Angestrengt versuchte ich, mich zu erinnern, was geschehen war.
Vor meinem inneren Auge tauchten schemenhaft Bildfetzen auf:
Ich war mit meinen Inlineskates unterwegs nach Hause. Anscheinend fuhr ich zu schnell in eine Kurve, denn plötzlich sah ich ein Auto auf mich zu kommen. Das war das Letzte, woran ich mich erinnerte, dann wurde es dunkel um mich herum.
„Ich glaube, wir können den Beatmungsschlauch entfernen“, sagte der Mann im weißen Kittel zu dem Pfleger, den ich für einen Engel gehalten hatte. Dieser nickte und verschwand kurz. Als er wieder kam, lächelte er mich an und ich sah seine perfekten, weißen Zähne. „Das wird kurz etwas unangenehm, aber danach kannst du wieder sprechen“, erklärte er mir mit seiner glockenreinen Stimme. Im nächsten Moment spürte ich ein schmerzhaftes Rucken an meinem Hals. Ich biss die Zähne zusammen, doch da ließ der Schmerz zum Glück schon wieder nach. Der Pfleger klebte noch ein Pflaster über die Stelle, an der ein Schlauch in meinem Hals gesteckt hatte. Kaum war er von meinem Bett zurückgetreten, stand Mom wieder bei mir und strahlte mich überglücklich an. „Oh Schatz! Ich bin so froh das du wieder wach bist!“, flüsterte sie und schon liefen ihr wieder Tränen über die Wangen.
„Mom“, krächzte ich angestrengt. Mein Hals fühlte sich an, als hätte ich versucht Stacheldraht herunterzuschlucken.
Der geheimnisvolle Pfleger kam mit einer Tasse in der Hand zurück. „Hier ist etwas Tee, danach wird es deinem Hals bestimmt besser gehen“, sagte er sanft, „Ich bin übrigens Zac.“ Mit einem kurzen Zwinkern, hielt er mir eine dampfende Tasse unter die Nase.
Er schien bester Laune zu sein, denn er lächelte unentwegt. Ich nahm die Tasse und nickte dankbar. Ab diesem Moment ging es mir von Stunde zu Stunde besser. Zac sah jeden Tag nach mir, auch wenn er gar nicht arbeiten musste. Ich fragte mich, warum er sich so sehr um mich kümmerte. Schließlich war ich doch niemand Besonderes. Sicher gab es noch viele andere Patienten, denen es viel schlechter ging als mir. Doch ich fragte natürlich nicht nach. Dafür fehlte mir der Mut.
Ich erholte mich sehr schnell. Die Ärzte erklärten meiner Mutter, ich hätte wohl größtes Glück gehabt, als ich nach einer Woche schon nach Hause entlassen wurde. Alle waren erstaunt, wie schnell sich mein Körper regenerierte. Schließlich hatte man mir die Milz entfernt und dabei hatte ich wohl sehr viel Blut verloren. Doch anscheinend war tatsächlich alles wieder verheilt. Als man das Pflaster entfernte, um die Fäden zu begutachten war nur noch eine kleine Narbe zu sehen. Ich verließ das Bett und mein Körper funktionierte besser, als je zuvor. Bei meiner Entlassung war auch Zac dabei. Er und die Ärzte waren der Meinung, dass ich anscheinend über eine erstaunliche Selbstheilung verfügte. Das erklärte wohl auch, warum mein Körper sich in Rekordzeit erholt hatte.
Und obwohl ich mich blendend fühlte, bestanden sowohl Dr. Wesley, als auch meine Mutter darauf, dass ich mich noch zwei Wochen zuhause ausruhen und schonen sollte.
Doch dann kam der Tag, an dem ich wieder zur Schule gehen musste. Eine Tatsache, die meine Mutter zwar glücklich machte, mich aber nicht in Begeisterung versetzte. Das neue Schuljahr hatte schon angefangen und ich wusste genau, dass es nicht einfach werden würde, wieder Anschluss zu finden. Schon in meiner alten Klasse war ich als Außenseiterin bekannt gewesen. Irgendetwas hatte ich wohl damals schon an mir, mit dem manche meiner Mitmenschen nicht klar kamen.
9 Jahre später:
Auch wenn ich es nicht für möglich gehalten hatte, die Schuljahre waren vergangen und ich absolvierte meine Abschlussprüfung – durchschnittlich, wie konnte es auch anders sein. Für mehr war ich einfach nicht geboren. Meine Lehrer bestätigten mir in jedem meiner Zeugnisse, dass ich Probleme mit dem logischen Denken hätte. Doch nach dem erlösenden Ende der Schule schwor ich mir, dass von nun an alles anders werden sollte. Ich wollte nicht mehr die belächelte Außenseiterin sein und nahm mir fest vor, mit meinem Job in einem Versicherungsbüro in Brookhaven einen neuen, besseren Lebensabschnitt anzufangen. Damals ahnte ich noch nicht, dass alles ganz anders kommen würde.
Zuerst musste eine neue Haarfarbe her und so wurde ich von einer langweiligen Brünetten zur Blondine. Im Sommer feierte ich meinen neunzehnten Geburtstag und Mom überraschte mich mit einer Reise nach Europa, auf die Insel Malta.
„Wieso gerade Malta?“, fragte ich sie und war verwirrt. Ihre Augen begannen zu leuchten. „Weißt du, dein Vater und ich sind viel gereist, bevor du geboren wurdest. Von dieser Insel war er schon immer begeistert und er wollte unbedingt noch einmal dort hin. Aber dann ist er so schrecklich krank geworden und na ja ... ich verbinde mit dieser Insel so viele wundervolle Erinnerungen. Und weil er uns nicht mehr begleiten kann, dachte ich, dein Vater hätte sich bestimmt gefreut, wenn wir beide dort hin fliegen.“ Ihre Stimme stockte und sie senkte den Blick. Sie rang sehr mit sich, um nicht zu weinen. Ich strich schweigend über ihre Hand.
Es war zwar nun schon eine Weile, dass mein Vater gestorben war, aber Mom fiel es immer noch schwer, darüber zu sprechen. Schließlich blinzelte sie die Tränen weg und sah mich an. „Es sind nur zwei Wochen. Ich habe extra ein bisschen was gespart, damit wir noch mal zusammen verreisen können. Wer weiß, wann du das nächste Mal Zeit hast Urlaub zu machen, wenn du erstmal arbeitest.“ Sie klang betont heiter und klemmte sich eine störrische Haarsträhne hinter das Ohr.
„Oh Mom, Dankeschön! Das ist eine tolle Idee! Ich war noch nie in Europa. Ich freue mich wirklich sehr!“ Ich fiel ihr um den Hals, und auch in meinen Augen brannten die Tränen. Mir war bewusst, dass es eine enorme finanzielle Belastung für sie war, doch wenn ich erst mal eigenes Geld verdienen würde, wollte ich sie unterstützen.
Zwei Tage blieben noch zu packen. Typisch Mom, dachte ich, alles in letzter Minute zu organisieren.
Am Montagmorgen brachte uns Alex zum Flughafen, nach Philadelphia. Der Flug nach Paris dauerte zehn Stunden und nach weiteren zwei Stunden im Flugzeug, landeten wir endlich auf Malta.
Ich sah gespannt durch das winzige Fenster und wusste sofort, warum sich mein Vater in diese Insel verliebt hatte. Die Häuser und Gebäude bildeten eine Mischung aus barocker und moderner Bauweise und auf den Straßen fuhren uralte, quietschgelbe Busse. Genau so ein Bus brachte Mom und mich in unser Hotel direkt an der Küste, mit eigenem kleinem Sandstrand.
Während der schaukeligen Fahrt, bestaunte ich die schroffe Felsenküste, die direkt neben der Straße ins dunkelblaue Meer abfiel. Das Hotel war gigantisch und umgab einen großen Pool. Auf einer Seite war es zum Meer hin offen und man hatte einen atemberaubenden Ausblick.
Nach dem einchecken beschloss ich, auf Erkundungstour zu gehen. Die Reise war lang gewesen und ich wollte mir die Beine vertreten.
„Macht es dir etwas aus, wenn ich auf dem Zimmer bleibe? Ich bin so müde.“ Mom hatte dunkle Augenringe und gähnte fortwährend. „Natürlich nicht. Ruh dich aus, damit du zum Abendessen fit bist. Ich hole dich später ab“, erwiderte ich und schloss ihre Zimmertür. Ich betrat mein Zimmer, das direkt nebenan war, zog mir ein frisches T-Shirt an und kämmte mir die Haare. Dabei fragte ich mich, ob blond wohl die richtige Entscheidung gewesen war. Schnell putzte ich mir noch die Zähne und betrachtete mich im Spiegel. „Na dann wollen wir mal“, sagte ich zu meinem etwas müde dreinblickendem Spiegelbild. Ich schaltete das Licht aus und zog die Tür zu.
Die Flure waren lang und mit schwerem roten Teppich ausgelegt. An den Wänden hatte man Lüster befestigt, die alles in ein diffuses Licht tauchten.
Mit einem der Aufzüge fuhr ich in die Lobby. Der Speisesaal befand sich direkt neben den Fahrstühlen. Von dort gelangte man über eine Terrasse nach draußen, zur Poolanlage. Es war schon später Nachmittag, doch einige Leute lagen noch auf den weißen Liegen, die den Pool umgaben. Ich blieb kurz stehen und blickte auf das das dunkle Meer hinunter. Weil ich aber neugierig war, was es noch alles zu sehen gab, lief ich um das große Becken herum und entdeckte einen weiteren Eingang, der zurück ins Hotel führte. Innen befanden sich ein Schwimmbad und eine kleine Halle.
Ich blieb vor einer breiten, schwarzen Tür, mit der Aufschrift Night Club, stehen. Vorsichtig drückte ich die Türklinke herunter. Es war abgeschlossen. Ich war bestimmt schon eine knappe Stunde unterwegs und langsam knurrte mir der Magen. Weil mein Orientierungssinn gleich Null war, nahm ich vorsichtshalber denselben Weg zurück, um mich nicht zu verlaufen.
Mit dem Aufzug fuhr ich wieder in den dritten Stock und lief zu meinem Zimmer. Ich schloss die Tür auf und weil ich noch genug Zeit hatte, stieg ich unter die Dusche. Anschließend suchte ich ein schwarzes, knielanges Kleid und einen rosa Strickbolero aus meinem Koffer. Zum Schluss trug ich noch Make up und Wimperntusche auf und föhnte meine Haare. Ich nahm meinen Zimmerschlüssel, löschte das Licht und ging nach nebenan um Mom abzuholen.
„Ich hätte fast verschlafen.“ Keuchend öffnete sie die Tür. Sie hatte rote Flecken auf ihrem Dekolletee. Die bekam sie immer, wenn sie gestresst war. „Ganz ruhig, wir liegen doch gut in der Zeit. Man bekommt hier bis 22 Uhr etwas zu essen.“ Ich blickte auf meine Armbanduhr, es war gerade einmal halb acht.
„Na, dann geht es ja noch.“ Erleichterung machte sich auf ihrem Gesicht breit. „Also, wollen wir?“, fragte ich sie und hakte mich bei ihr ein.
„Oh ja, ich bin am verhungern. Na, hast du etwas Interessantes entdeckt?“
„Ja, es gibt einen Nachtclub. Hast du Lust, nach dem Essen noch auszugehen?“
„Oh Tamara, ich glaube du gehst besser allein. Die Reise steckt mir immer noch in den Knochen. Lass deine alte Mutter lieber schlafen.“ Sie lachte und ich stimmte in ihr Lachen mit ein.
Das Essen war einfach toll! Vor so einem riesigen Buffet hatte ich noch nie gestanden. Während ich mir meinen Teller munter auflud, ertönte hinter mir plötzlich eine sarkastische Stimme: „Und, wirst du den anderen Gästen auch noch etwas übrig lassen?“ Ärgerlich fuhr ich herum und wollte schon eine giftige Antwort geben, aber ich blickte in ein lächelndes Paar rehbrauner Augen, die zu einem gutaussehenden, jungen Mann gehörten und vergaß sofort, was ich sagen wollte. „Ich … ähm habe eine lange Reise hinter mir und bin eben ziemlich hungrig.“ Ich wurde rot.
„Schon gut. Eigentlich wollte ich dich nur ansprechen und wenn ich ehrlich bin, mir ist einfach nichts Besseres eingefallen.“ Er blickte ein wenig verschämt zu Boden.
„Hm … an deinen Anmachsprüchen musst du wirklich noch arbeiten.“
Er sah mich geknickt an, als ich ihm das erwiderte und ich musste schmunzeln. „Ich bin übrigens Tamara.“ Ich musterte sein Gesicht. Er war vielleicht drei, vier Jahre älter als ich, hatte braune Haare die mit Gel verstrubbelt waren und im Vergleich zu mir, war er gut gebräunt. Allerdings war das ist nicht weiter schwer, meine Oma hatte mich immer mit Schneewittchen verglichen. „Ähm … ich bin Dennis und entschuldige noch mal, ich wollte dich wirklich nicht in Verlegenheit bringen.“ Jetzt strahlte er mich an.
„Schon okay! Ich werd dann mal zu meiner Mom gehen, ich bin wirklich am verhungern.“ Ich deutete in Richtung unseres Tisches. Dann nahm ich all meinen Mut zusammen. „Aber vielleicht sehen wir uns ja nachher im Night Club?“ Fragend sah ich Dennis an und mein Herz klopfte plötzlich wie wild. „Gerne, dann bis nachher und guten Appetit.“ Dennis grinste.
Ich setzte mich zu Mom und schaufelte den Berg Essen in mich hinein. Ich war immer hungrig, doch zum Glück sah man mir das absolut nicht an. Trotz der großen Mengen die ich aß, hatte ich schon immer eine sehr schlanke Figur. „Man könnte meinen, du bekommst Zuhause nichts zu essen“, rügte Mom mich, doch dann grinste sie,
„Wer war denn der nette junge Mann, mit dem du dich unterhalten hast?“ Sie musterte mich neugierig.
„Er heißt Dennis, wir treffen uns nachher noch“, erwiderte ich kauend. Sie hob schmunzeld die Brauen, erwiderte jedoch nichts.
Nach dem Essen begleitete ich Mom zu ihrem Zimmer. „Gute Nacht. Weck mich morgen zum Frühstück.“
„Mach ich, viel Spaß noch.“ Sie gähnte und schlüpfte durch die Tür. Ich sah auf die Uhr - noch eine halbe Stunde Zeit. Also ging ich in mein Zimmer und putzte mir noch mal die Zähne - man konnte ja nie wissen. Als ich meine Locken zurechtgezupft und mich kritisch im Spiegel betrachtet hatte, fuhr ich schließlich mit dem Fahrstuhl ganz nach unten und lief den gleichen Weg wie am Nachmittag.
Von drinnen dröhnte schon Musik und mein Herz begann nervös zu flattern, als ich eintrat. Es war dunkel und der Raum wurde nur von flackerndem Discolicht beleuchtet. Ich steuerte direkt auf die Bar zu und setzte mich auf einen der Hocker. Es war noch nicht besonders viel los und so hatte ich von dort einen guten Überblick. „Was darf es denn sein?“ Der Barkeeper lächelte freundlich. „Ein Tonic Water bitte. Setzen Sie es auf die Rechnung von Zimmer Nummer 306.“ Ich rutschte auf dem Hocker herum, bis ich eine einigermaßen bequeme Position gefunden hatte.
Ich bekam mein Glas und nippte am Strohhalm. Wenigstens hatte ich jetzt etwas, woran ich mich festhalten konnte. Nach und nach kamen immer mehr Gäste und da erkannte ich Dennis´ Gesicht. Er sah sich kurz um, entdeckte mich an der Bar und kam lächelnd auf mich zu. „Na, bist du satt geworden?“ Ein Grinsen breitete sich über sein ganzes Gesicht aus. „Gerade so“, entgegnete ich trocken und grinste zurück. Ich war extrem nervös und versuchte das irgendwie zu verbergen.
Wir unterhielten uns eine Weile und die Stimmung wurde lockerer. „Willst du tanzen?“, fragte Dennis plötzlich.
Oh Gott, bloß nicht! „Das ist keine gute Idee - ich bin nicht besonders gut.“ Diese Peinlichkeit wollte ich ihm und mir ersparen. „Würde dir ein Spaziergang am Strand besser gefallen?“ Fragend blickte er mich an. Ich nickte dankbar. „Hört sich viel besser an.“
Plötzlich fühlte ich mich total aufgekratzt. Wir verließen die Diskothek und gingen am Schwimmbad vorbei, nach draußen. Hinter der Poolanlage führte eine kleine Treppe zum Strand hinunter. Man hörte nur das Rauschen der Wellen und der Himmel war sternenklar. Unten angekommen zog ich meine hohen Schuhe aus, um nicht zu versinken. Ich grub meine Zehen in den kühlen Sand.
Weil ich außer meinem Kleid und dem Bolero nichts trug, fröstelte ich. Dennis blickte zu mir, zog sofort seine Jacke aus und legte sie über meine Schultern. „Oh, ein Gentleman“, kicherte ich. Plötzlich war ich wieder nervös. Wir waren ganz allein und der Strand wurde nur schwach von den Lichtern des Hotels beleuchtet. „Wollen wir ein Stück gehen?“, wollte Dennis wissen und ich nickte.
„Bist du allein hier?“ Fragend sah ich zu ihm. Langsam fand ich meine Sprache wieder. „Ja, für ein paar Tage. Ich war schon als Kind jedes Jahr mit meinen Eltern hier. Als ich hörte dass das Hotel abgerissen werden soll, musste ich einfach noch mal herkommen. Ganz schön sentimental oder?“ Er lachte und sah mich prüfend an.
„Überhaupt nicht! Ich finde, dieses Hotel hat etwas Besonderes. Es ist … als wäre man hier in einer anderen Zeit.“ Ich musste lächeln.
„Und was hat dich hierher verschlagen? Deinem Akzent nach kommst du nicht aus Europa.“ Seine braunen Augen funkelten, als sich das fahle Licht darin spiegelte.
„Die Reise war ein Geburtstagsgeschenk von meiner Mutter. Ich fange in zwei Monaten an zu arbeiten und sie wollte, dass wir noch mal zusammen Urlaub machen.“ Mittlerweile waren wir den Strand einmal abgelaufen. Wir blieben vor der kleinen Treppe stehen und ich blickte auf das tiefschwarze, rauschende Meer. „Wunderschön“, murmelte ich. „Weißt du was ich noch wunderschön finde?“, flüsterte Dennis; er stand direkt vor mir und sein Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von Meinem entfernt.
Ich kam nicht dazu ihm zu antworten, denn er legte seine warme Hand an meine kühle Wange und zog mein Gesicht noch näher an seins heran. Wir sahen uns tief in die Augen und meine Knie begannen zu zittern. Seine warmen Lippen berührten meinen Mund. Ich schloss die Augen und gab mich ganz diesem wunderbaren Kuss hin. Die Zeit schien plötzlich keine Rolle mehr zu spielen und als er seine Lippen wieder von meinen löste, konnte ich nicht sagen, ob eine Stunde oder eine Minute vergangen war.
„Wollen wir wieder nach oben gehen? Ich glaube, dort ist es etwas wärmer.“ Er deutete die Stufen hinauf und da bemerkte ich, dass ich am ganzen Körper zitterte. „I-i-ist vielleicht eine gute Idee“, stammelte ich mit zusammengebissenen Zähnen. Auf der Terrasse des Hotels war es tatsächlich viel angenehmer. Mir war bei seinen warmen Küssen gar nicht aufgefallen, wie kühl die Meeresbrise war.
„Ich hoffe, ich habe dich nicht überrumpelt - aber vom ersten Moment an, als ich dich im Speisesaal sah, wollte ich nur das tun.“ Statt ihm zu antworten, zog ich ihn an mich heran und küsste ihn noch einmal. Wieder wurde mir schwindelig.
„Vielleicht sollte ich dich jetzt besser auf dein Zimmer bringen. Sonst muss deine Mom den Tag morgen ohne dich verbringen weil du nicht aus dem Bett kommst.“ Er grinste und sah auf die Uhr.
„Wie spät ist es?“ Ich hatte wirklich jedes Zeitgefühl verloren. „Fast vier Uhr morgens. In vier Stunden gibt es Frühstück.“ Noch immer grinste er. „Uff, dann sollte ich jetzt wirklich besser ins Bett gehen.“ Ich stöhnte.
Dennis öffnete die Terrassentür und wir liefen zu den Aufzügen. „Welches Stockwerk Ma´am?“, fragte er scherzend. „Drittes bitte“, erwiderte ich lachend und rieb meine kalten Hände aneinander. Schweigend gingen wir nebeneinander her; Dennis hatte einen Arm um meine Schulter gelegt. In mir tobte es, mein Herz schlug komplett gegen den Takt und mein Magen schien voller Schmetterlinge zu sein, die hektisch hin und her flatterten. Von all dem ließ ich mir natürlich nichts anmerken. Hoffentlich!
„Hier ist es.“ Ich zog seine Jacke aus und gab sie ihm zurück. „Vielen Dank, für diesen wunderschönen Abend.
Wir sehen uns dann nachher beim Frühstück.“ Sanft strich er mir noch mal über meine Wange. Bei dem Wort „nachher“ musste ich lachen. Mein Körper schien sich wieder ein bisschen zu beruhigen. „Ohne einen Gute-Nacht-Kuss kann ich aber sicher nicht schlafen.“ Er machte einen Schritt auf mich zu. Da war es wieder, dieses flaue Gefühl in meiner Magengrube.
Ich erstarrte, denn während wir uns küssten, fiel mir zum ersten Mal dieser wahnsinnig süße, durchdringende Geruch auf, der von ihm ausging. Ich klammerte mich an ihn und atmete diesen unglaublichen Duft ein, der mir fast die Sinne vernebelte. „Wenn wir jetzt nicht aufhören, brauchen wir gar nicht mehr ins Bett zu gehen.“ Dennis lächelte. Widerwillig löste ich mich aus seiner Umarmung und sah zu ihm auf. „Du hast recht, also bis später.“ Verlegen lächelte ich zurück und schloss meine Zimmertür auf. Ich warf ihm einen letzten Blick zu und schlüpfte durch die Tür.
Keuchend lehnte ich mich gegen die Wand und versuchte, wieder Herr über meine Sinne zu werden. Was war denn los mit mir? Er hatte mich doch nur geküsst. Mein Kopf fühlte sich an, als würde er jeden Moment platzen. Ich schob es darauf, dass ich seit über vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen hatte. Schnell zog ich mich aus, putzte mir halbherzig die Zähne und bürstete meine Haare. Danach suchte ich mein Nachthemd aus dem Koffer und schlüpfte unter die Decke. Mein Kopf surrte noch immer und mir war schwindelig. Doch dann übermannte mich die Müdigkeit und ich schlief ein.
Ich erwachte, als die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster fielen. Benommen öffnete ich die Augen. Ich fühlte mich total elend. Mir war Übel und ich hatte Mühe, meine Augen offen zu halten. Dabei hatte ich doch gestern gar keinen Alkohol getrunken!
Langsam setzte ich mich auf. Das Zimmer fing an sich zu drehen und ich brach in kalten Schweiß aus. Ich taumelte aus dem Bett und schleppte mich ins Bad. Beim Anblick meines Spiegelbilds erschrak ich. Mein Gesicht war kalkweiß und ich hatte tiefe, dunkle Ringe unter den Augen. Die Übelkeit stieg in mir auf und ich schaffte es gerade noch, den Toilettendeckel aufzuklappen, dann musste ich mich übergeben! Zitternd umklammerte ich die Kloschüssel.
Ich zog mich am Waschbecken hoch, spülte mir den Mund aus und ließ das kalte Wasser über meine Handgelenke laufen. Langsam bekam mein Gesicht wieder etwas Farbe und mein Körper wurde nicht mehr so heftig durchgeschüttelt. Mein Blick wanderte auf meine Armbanduhr. Ich hatte nur vier Stunden geschlafen, kein Wunder, dass ich mich so schrecklich fühlte. Ich beschloss zu duschen und putzte mir die Zähne. Danach versuchte ich, die Schatten unter meinen Augen so gut es ging mit Make up zu kaschieren, band mir die Haare zu einem Zopf und zog Jeans und ein lila T-Shirt an.
Ich war gerade fertig, da klopfte es an meiner Zimmertür. Ich öffnete und schaute in das schockierte Gesicht meiner Mutter. „Tamara, was ist denn mit dir passiert?! Hast du heute Nacht überhaupt geschlafen?“
„Ein wenig“, krächzte ich, „Lass uns frühstücken gehen. Mir ist ganz flau im Magen.“
„Das wird das Beste sein.“ Jetzt sah sie mich mitleidig an.
Im Speisesaal herrschte schon reger Betrieb. Ich holte mir ein Brötchen mit Marmelade und bestellte einen Kaffee. Der würde mich hoffentlich wieder auf die Beine bringen. Doch als ich vor meinem Frühstück saß, hatte ich plötzlich einen Kloß im Hals, und das flaue Gefühl machte sich wieder in meinem Magen breit. Ich starrte auf meinen Teller und konnte nur noch an den intensiven Geruch denken, der gestern von Dennis ausgegangen war. Der bloße Gedanke daran, schien meinen Verstand aussetzen zu lassen. Auf einmal erinnerte ich mich, dass ich so etwas schon einmal gerochen hatte. Es war schon Jahre her und ich hatte es wieder vergessen, doch langsam tauchte die Erinnerung daran wieder auf. Damals hatte ich ein Date mit einem Jungen, der in meine Parallelklasse ging.
Wir waren im Kino und als er mich nach Hause gebracht hatte, küsste er mich vor der Haustür. Nicht so wie Dennis gestern, der offensichtlich schon etwas mehr Übung darin hatte. Doch auch damals, hatte ich diesen durchdringenden Geruch in der Nase, der so intensiv war, dass ich ihn fast auf der Zunge schmecken konnte. Damals kam es mir vor, als ob ich jede Faser seines Körpers riechen konnte. Zwar hatte ich das verdrängt, aber jetzt konnte ich mich auch wieder daran erinnern, dass mein Körper drei Tage lang rebelliert hatte. Ich konnte keinen Bissen mehr essen und dachte nur an diesen Geruch, der sich in mein Hirn gebrannt hatte. Der Junge meldete sich nie wieder bei mir und nach ein paar Tagen, fühlte ich mich wieder gut. Ich schob die Übelkeit auf eine Magen-Darm-Grippe. Doch jetzt war dieses Gefühl wieder da...
„TAMARA! Hallo, hörst du mir überhaupt zu?“ Mom´s Stimme riss mich aprubt aus meinen Gedanken. „Na, bist du jetzt wieder anwesend? Möchtest du denn nichts essen?!“ Sie klang besorgt. „Ähm nein, mein Magen ist noch nicht so weit. Ich versuche es lieber mal mit Kaffee und Orangensaft. Ich glaube, der fehlende Schlaf macht mir wohl doch ziemlich zu schaffen.“ Ich lächelte entschuldigend.
„Guten Morgen Tamara, na bist du einigermaßen fit?“ Als Dennis´ Stimme hinter mir ertönte, zuckte ich zusammen.
„Ich glaube, Sie haben ein bisschen zu lange mit ihr gefeiert.“ Man konnte den vorwurfsvollen Unterton in Mom´s Stimme kaum überhören. „Schon okay Mom, es ist nicht Dennis´ Schuld“, murmelte ich und wich seinem Blick aus. „Setzen Sie sich doch zu uns Dennis, vielleicht erfahre ich ja etwas über die wilde Partynacht“, schlug sie vor und klang schon ein wenig versöhnlicher. „Vielen Dank“, antwortete Dennis höflich und setzte sich zwischen Mom und mich. Ich starrte vor mich hin, nippte an meinem Kaffee und bekam kaum mit, wie die beiden anfingen, sich zu unterhalten.
Da bemerkte ich ihn wieder - diesen Geruch. Er war so intensiv, dass ich kaum noch klar denken konnte. Ich klammerte mich an die Tischkante um nicht aufzuspringen und biss mir auf die Lippen bis es schmerzte.
„Tamara, geht es dir gut?“, wollte Mom wissen, und auch Dennis sah mich besorgt an. „Mein Magen rebelliert wieder, entschuldigt mich!“, presste ich hervor und sprang auf. Ich rannte zur Toilette neben den Aufzügen, riss die Tür auf und übergab mich direkt ins Waschbecken.
Ich keuchte, mein Herz pochte in einem irren Tempo und ich hatte Mühe, wieder die Kontrolle über meinen Körper zu erlangen.
Was tust du mir da an?!, schimpfte ich in Gedanken mit meinem Spiegelbild. Bebend wankte ich aus der Toilette, trat an den Rand des Speisesaals und winkte einen Kellner heran. „Sagen Sie Mrs. Goldman bitte, dass ich auf mein Zimmer gegangen bin.“
Er nickte und machte sich auf den Weg zu dem Tisch, an dem meine Mutter und Dennis saßen. Ich wusste, dass ich die Anwesenheit von Dennis nicht noch einmal ertragen konnte. Ich schleppte mich die Stufen nach oben, weil ich nicht auf den Fahrstuhl warten wollte, betrat mein Zimmer und ließ mich auf das Bett fallen.
Schluchzend rollte ich mich zusammen und zog mir die Decke über den Kopf. Was war denn nur los mit mir?!
Die Frage hämmerte förmlich in meinem Kopf. Ich konnte mir das alles nicht erklären!
Eine Viertelstunde später klopfte es. „Tamara, ich bin’s. Ist alles in Ordnung?“ Mom schien mittlerweile überaus besorgt, wegen meines Zustands. „Es ist offen“, murmelte ich unter meiner Decke hervor. Sie kam rein und setzte sich auf die Bettkante. „Ich glaube fast, du hat dir was eingefangen. Du siehst wirklich nicht gut aus“, stellte sie fest und strich mir eine Haarsträhne aus meinem verschwitzten Gesicht. „Vielleicht hast du recht“, log ich. Weil ich sie nicht weiter beunruhigen wollte, erzählte ich ihr nichts von dem, was mit mir passierte. „Du bleibst jetzt im Bett und ich werde dir erstmal Tee und Zwieback besorgen. Dennis würde gern nach dir sehen, er macht sich auch Sorgen. Vielleicht hatte ich einen falschen Eindruck von ihm, er scheint ein sehr höflich junger…“
„NEIN!“, unterbrach ich sie ungehalten und fuhr aus meinen Kissen hoch. Erschrocken sah Mom mich an, anscheinend war mein Tonfall eine Spur zu scharf. „Ähm ich meine … nein, das ist vielleicht keine gute Idee. Womöglich stecke ich ihn sonst noch an“, sagte ich schnell und sank zurück in die Kissen.
„Da hast du wohl recht. Jetzt hole ich dir mal einen Tee und sage Dennis Bescheid.“ Sie sprang auf und war schon zur Tür hinaus. Ich zog mir wieder die Decke über den Kopf und schloss die Augen.
Die nächsten Tage verließ ich mein Zimmer kaum und das Essen, das Mom mir brachte, landete meistens in der Toilette. Dann endlich, schien mein Körper langsam zur Ruhe zu kommen. Ausgerechnet die Spaghetti mit Meeresfrüchten, bei denen mir schon unter normalen Umständen Übel geworden wäre, konnte ich bei mir behalten. Obwohl ich mittlerweile aussah, wie eine lebende Tote ging es mir nach dem Essen schon etwas besser. „Na endlich, ich hatte schon Angst, wir müssen dich bald zwangsernähren.“ Auch unter den Augen meiner Mutter hatten sich dunkle Ringe gebildet. Sie hatte sich die letzten Tage um mich gekümmert und dabei selbst kaum gegessen und geschlafen. „Ich habe ein ganz schlechtes Gewissen. Jetzt ist unser Urlaub fast vorbei und eigentlich wollten wir uns doch ein bisschen erholen.“ Ich sah sie niedergeschlagen an.
„Ach Tamara, mach dir keine Gedanken. Ich bin einfach nur froh, dass es dir wieder besser geht. Alles andere ist unwichtig.“ Sie nahm mich in den Arm und ich versuchte gegen die aufsteigenden Tränen anzukämpfen. „Was hältst du von einem kleinen Strandspaziergang? Ein bisschen frische Luft würde dir bestimmt gut tun.“ Sie sah mich aufmunternd an.
„Okay.“ Ich zuckte mit den Schultern.
Etwas wackelig stieg ich aus dem Bett, ging ins Bad und kämmte mir die Haare. Ich setzte eine dunkle Sonnenbrille auf - den anderen Gästen konnte ich meinem Anblick unter keinen Umständen zumuten. „So, wir können los.“ Ich trat aus dem Badezimmer und nickte Mom zu.
Die milde Meeresluft fühlte sich wunderbar in meinen Lungen an - endlich raus aus diesem stickigen Zimmer. Die Sonnenstrahlen wärmten meine Haut und ich fühlte mich zum ersten Mal seit Tagen wieder wohl in meinem Körper. Wir liefen ein Stück, doch dann spürte ich, dass ich von den Strapazen der letzten Tage noch geschwächt war. Ich fing an zu zittern und mir wurde heiß und kalt. „Ich glaube, für heute reicht es mir. Lass uns doch eine Kleinigkeit essen gehen“, bat ich.
„Natürlich, du sollst dich ja noch nicht überanstrengen. Außerdem könnte ich jetzt auch ein Stück Kuchen vertragen.“ Mom lächelte. Sie schien sehr froh, dass ich wieder nach etwas zu essen verlangte. Also machten wir uns auf den Weg in den Speisesaal.
Es tat gut, sich wieder hinsetzen und ausruhen zu können. Ich bestellte mir ein Stück Schokokuchen und einen Pfefferminztee. Erleichtert stellte ich fest, dass der Kuchen toll schmeckte und mir nicht mehr übel davon wurde.
„Also, ich glaube, du bist über den Berg. Den Kuchen hast du ja in Rekordzeit verputzt.“ Mom lächelte und der sorgenvolle Ausdruck in ihrem Gesicht verschwand. Gerade wollte ich mir noch ein Stück holen, da lag wieder ein eiskalter Klumpen in meinem Magen. Mein Lächeln gefror, als Mom strahlte, sich umdrehte und in Richtung Ausgang winkte. „Sieh mal, da kommt Dennis. Er wird sich sicher freuen, dass es dir wieder besser geht.“
Ich rutschte nervös auf meinem Stuhl hin und her. Am liebsten hätte ich die Flucht ergriffen, aber dann wäre ich wahrscheinlich in Erklärungsnot geraten. Also biss ich die Zähne zusammen, holte tief Luft und lächelte. „Hallo Dennis.“
„Tamara, schön dich wieder zu sehen! Na Gott sei Dank, es scheint dir endlich besser zu gehen!“ Er blieb neben Mom´s Stuhl stehen und ich war froh, dass er mir nicht zu Nahe kam. Ich hatte Angst, mein Körper könnte wieder außer Kontrolle geraten, sobald ich ihn riechen würde.
„Ich wollte mich verabschieden. Heute Abend fliege ich nach Hause.“ Er lächelte, doch seine Augen waren eigenartig leer. Er schien traurig zu sein.
„Oh, na dann … wünsche ich dir eine gute Reise“, erwiderte ich mit tonloser Stimme. Ich wusste nicht, was ich sonst antworten sollte. Schließlich konnte ich ihm ja nicht sagen, dass ich unglaublich erleichtert war, ihm nicht mehr begegnen zu müssen. Andererseits stimmte es mich auch ein bisschen traurig. Er war ein netter Kerl und konnte nichts dafür, dass etwas nicht mit mir stimmte. „Danke! Schade, dass wir nichts mehr miteinander unternehmen konnten. Ich hoffe du erholst dich noch gut.“ Dann wandte er sich an Mom. „Passen Sie gut auf Tamara auf, sie ist etwas ganz Besonderes.“
Ich senkte den Blick und spürte die Röte in mein Gesicht steigen. „Das werde ich Dennis. Es war schön, Sie kennen zu lernen. Auf Wiedersehen und guten Flug.“ Mom schien auch ein wenig bedrückt über die Stimmung zu sein. „Auf Wiedersehen.“ Er lächelte mich noch ein letztes Mal an, dann drehte er sich um und ging.
Drei Tage später flogen Mom und ich zurück nach Philadelphia. Die letzten Tage hatten wir damit verbracht, am Pool zu entspannen und uns im Spa des Hotels verwöhnen zu lassen.
Alex wartete bereits am Flughafen auf uns, als die Maschine mit einer halben Stunde Verspätung landete. „Na Ladies, euer Urlaub scheint ja nicht sehr erholsam gewesen zu sein. Tamara sieht aus, als wäre sie unter die Untoten gegangen. Müsste man nach vierzehn Tagen Malta nicht wenigstens ein bisschen braun geworden sein?“ Er grinste.
„Lass Tamara in Ruhe, sie hatte einen schlimmen Magen-Darm-Virus und lag die meiste Zeit im Bett. Es ging ihr wirklich schlecht“, fuhr Mom ihn an und rollte mit den Augen. „Schon gut, es geht ja schon wieder“, murmelte ich und konnte ein Gähnen nicht mehr unterdrücken.
Nach gefühlten 48 Stunden unterwegs, kamen wir endlich Zuhause an. Es war bereits Abend. Gähnend stiegen Mom und ich aus Alex´ Auto. Er trug uns die Koffer zur Tür und verabschiedete sich. „Danke fürs fahren Alex, du hast etwas gut bei uns!“, rief Mom ihm noch hinterher, ehe sie die Haustür aufschloss. „Ich gehe ins Bett, meine Sachen packe ich morgen aus. Ich bin hundemüde, gute Nacht Mom.“ Steif streckte ich meinen Rücken durch. „Gute Nacht, ich werde wohl auch bald schlafen gehen.“ Meine Mutter zerrte matt ihren Koffer durch die Tür.
Ich ging ins Bad, putzte mir die Zähne und schielte zur Dusche. Nur noch ganz kurz heiß duschen? Aber eigentlich war ich viel zu müde. Schließlich siegte die Tatsache, dass wir eine lange Reise hinter uns hatten und ich mich einfach nur sauber fühlen wollte.
Ich drehte das Wasser auf und wartete, bis es warm genug war. Ich schloss die Augen und ließ mir den warmen Strahl über den Kopf laufen. Dabei tauchten plötzlich wieder die Bilder von Dennis in meinem Kopf auf, wie wir uns auf der Terrasse des Hotels küssten. Sofort musste ich an den Geruch denken, der von ihm ausgegangen war. Doch mir fiel noch etwas anderes auf. Anscheinend hatte ich damals nicht darauf geachtet, weil meine Sinne so vernebelt waren: Die pochende Schlagader an seinem Hals. Ich konnte seinen Puls deutlich hören! Erschrocken riss ich die Augen auf! NEIN! Das konnte einfach nicht sein!
Ich begann also tatsächlich durchzudrehen – na toll! Vielleicht hatten meine Mitschüler es schon immer geahnt, ich war also eine Verrückte, ein Freak! Obwohl ich unter der heißen Dusche stand, fing ich an zu zittern. Wenn ich nicht endlich herausfand was bei mir verkehrt lief, würde ich vermutlich bald den Verstand verlieren.
Ich drehte das Wasser ab, wickelte mich in ein Handtuch und schlich über den Flur in mein Zimmer. Die warme Dusche hatte bewirkt, dass ich meine Augen nur mit Mühe offen halten konnte. Ich beschloss, ins Bett zu gehen und morgen im Internet über diese absurden Symptome zu recherchieren, die mir so zusetzten. Kaum hatte ich meinen Kopf auf das Kissen gelegt, war ich auch schon eingeschlafen.
Als ich meine Augen öffnete, fand ich mich in einem Haus wieder, dass aussah wie eine alte Villa im viktorianischen Stil. Sie hatte einen wunderschönen Eingangsbereich mit einer Treppe aus Holz, die nach oben führte. An den Wänden hingen gold gerahmte Bilder, mit Gemälden aus einer früheren Zeit. Eine antike Kommode, aus dunkelbraunem Holz diente als Ablage für ein Telefon. Ich schien mich also in der Gegenwart zu befinden. Durch das antike Interieur des Hauses, war ich mir einen Moment lang nicht sicher gewesen. Plötzlich ertönte von oben eine Stimme. „Tamara … nun lernen wir uns endlich kennen. Ich habe so lange nach dir gesucht.“
Auf der Treppe erschien ein junger Mann, etwa Ende zwanzig, mit dunkelblonden Haaren, die sich zu kleinen Locken kräuselten. Er stieg langsam die Treppe hinunter und lächelte mich freundlich an. In seiner rechten Hand hielt er ein
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Texte: Tanja Rauch
Bildmaterialien: Coverdesign: Vivian Tan Ai Hua, Bildmaterial: © konradbak (48872197) - Fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 10.10.2012
ISBN: 978-3-95500-205-3
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